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German Pages 1007 [1008] Year 2012
Hauke Reich Rezensionen und Reaktionen zu Nietzsches Werken
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Günter Abel (Berlin) · Werner Stegmaier (Greifswald)
Band 60
De Gruyter
Hauke Reich
Rezensionen und Reaktionen zu Nietzsches Werken 1872−1889
De Gruyter
ISBN 978-3-11-029724-9 e-ISBN 978-3-11-029727-0 ISSN 1862-1260 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Dank Mein Dank gilt den çffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken und ihrem Personal, sowie den Firmen und Organisationen mit ihren Angestellten, die Computer, Textverarbeitungs- und Texterkennungsprogramme herstellen und verbessern oder das Internet und moderne Kommunikationsformen wie EMails betreiben. Ohne sie wre dieser Band nicht entstanden. Dank auch dem Walter DeGruyter Verlag und dem betreuenden Personal fr die Datenbank Nietzsche Online, die ich whrend der letzten Bearbeitungsstufe des Manuskripts nutzen konnte. Fr die Aufnahme in die Reihe „Materialien und Texte zur Nietzscheforschung“ danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Gnter Abel und Prof. Dr. Werner Stegmaier, der zudem mit seiner Fachkenntnis und Korrekturen die Fertigstellung befçrderte. Mein persçnlicher Dank gilt auch Christoph Schirmer und Jens Lindenhain vom Verlag De Gruyter, die sehr zum Zustandekommen und zur Perfektionierung des vorliegenden Bandes beigetragen haben, sowie Dr. David Marc Hoffmann, der die Idee zu diesem Werk ber lange Jahre gut geheißen und in Gesprchen untersttzt hat. Danken mçchte ich auch Andreas Lang, 2006 Praktikant im Schwabe Verlag, der bei vielen Schweizer Rezensionen behilflich war, sowie meiner Tochter Jola Vollmer fr sehr ntzliche Zuarbeiten.
Editorisches Als Vorlage fr die hier abgedruckten Texte wurden die Erstdrucke verwendet.1 Smtliche Texte sind in Originalschreibung wiedergegeben. Die Rechtschreibung war im 19. Jahrhundert noch nicht so normiert, wie wir es heute gewohnt sind. Die Texte geben diese Vielfalt wieder. Druckfehler der Originale sind mit einem [sic] gekennzeichnet, Ergnzungen zu Abkrzungen oder Kommentare sowie Auslassungen […] in eckige Klammern gestellt. Zitate stehen in doppelten Anfhrungszeichen („ “), weitere Anfhrungen in den Zitaten in einfachen Anfhrungszeichen (, ‘). Finden sich hier weitere Zitate, stehen sie wieder in doppelten Anfhrungszeichen. Die meisten Rezensionen sind in Fraktur abgedruckt worden, die damals bliche Schreibung von Fremdwçrtern in Antiqua wurde nicht bernommen. Andere Hervorhebungen wie Fettdruck, Kursiv oder der im 19. Jahrhundert meist bliche gesperrte Satz sind hier kursiv gesetzt. Die Briefe von und an Nietzsche, von Briefpartnern an Dritte oder Erinnerungen sind nach der Kritischen Gesamtausgabe der Briefe von und an Nietzsche (KGB) wiedergegeben. War das nicht mçglich, ist die genutzte Quelle ausgewiesen. Textstellen aus Werken Nietzsches oder aus nachgelassenen Aufzeichnungen werden nach der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches (KGW) zitiert.
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War dies nicht mçglich, wie im Fall von Rohdes zurckgewiesener Anzeige fr das Literarische Centralblatt, wurde auf die Abdrucke in der KGB zurckgegriffen.
Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Editorisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zum Aufbau des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 ber die Verfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die Schweizer Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Nietzsches Stellung zu den Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I
Das Florentinische Tractat ber Homer und Hesiod . . . . . . . . . . . . . 14 – Flach, Hans: Der Florentinische Tractat ber Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf, von F. Nietzsche. In: Jahresbericht ber die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaften. Berlin, Bd. 1, Ende September/Anfang Oktober 1873, S. 613–620 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
II
Certamen quod dicitur Homeri et Hesiodi e codice Florentino post Henricum Stephanum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 – Anonym [Schçll, Rudolf]: Kleinigkeiten. In: Hermes. Zeitschrift fr classische Philologie. Berlin, Bd. 7, 1873, S. 231–235 . . . . . . . . . . 20 – Flach, Hans: R. Schçll, Kleinigkeiten. In: Jahresbericht ber die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaften. Berlin, Bd. 1, Ende September/Anfang Oktober 1873, S. 620–621 . . . . . . . . . . . 23
III
Beitrge zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes . . . . . . 25
IV
ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 – D., F.: Akademische Vorlesung von Hrn. Prof. Nietzsche ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. In: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel, Nr. 19 vom 23. 1. 1872 . . . . . . . . . . . . . . 26 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
VIII V
Inhalt
Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Rohde, Erwin: Die Geburt der Tragoedie aus dem Geiste der Musik. [Zurckgewiesene] Anzeige fr das Literarische Centralblatt fr Deutschland, Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: L’origine della tragedia dallo spirito della musica. In: La Rivista Europea. Florenz, Bd. 3, Nr. 2 vom April 1872, S. 402 . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Rohde, Erwin: Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik. In: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Sonntagsbeilage der Nr. 21 vom 26. Mai 1872, S. 1 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Zukunftsphilologie. eine erwidrung auf Friedrich Nietzsches geburt der tragçdie. Berlin, 1872 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Wagner, Richard: An Friedrich Nietzsche, ordentl. Professor der klassischen Philologie an der Universitt Basel. Offener Brief. In: Norddeutsche Allgemeine Zeitung. Berlin, Sonntagsbeilage vom 23. Juni 1872 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Rohde, Erwin: Afterphilologie. Zur Beleuchtung des von Dr. phil. Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff herausgegebenen Pamphlets: „Zukunftsphilologie!“ Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner. Leipzig, 1872 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Dt. Festspiele in Bayreuth. II. Redaction Juli 1872. Anruf des Akademischen Wagner-Vereins. Beilage zum Musikalischen Wochenblatt vom 26. 7. 1872 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Zukunftsphilologie! Zweites Stck. eine erwidrung auf die rettungsversuche fr Fr. Nietzsches „geburt der tragçdie“. Berlin, 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – (Gl.): Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff Dr. phil. Zukunftsphilologie! Eine Erwidrung auf Friedrich Nietzsche’s Geburt der Tragçdie. In: Allgemeiner literarischer Anzeiger fr das evangelische Deutschland. Gtersloh, Bd. 11, Januar – Juni 1873, S. 64 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28 28 40 45 45 46 46 55 56 77
81 86
88 121 124 124 141
141
Inhalt
Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Musikalische Kannegiesserei. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 4., Nr. 11 vom 14. 3. 1873, S. 173 . . . . – Anonym [vmtl. Zimmermann, Robert]: Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 24, Nr. 7 vom 15. 2. 1873, Sp. 194 f. Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – -l- [vmtl. Leutsch, Ernst von]: Die Geburt der Tragçdie. In: Philologischer Anzeiger. Gçttingen, Bd. 5, Nr. 3, Mrz 1873, S. 134–139 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Seemann, O[tto]. S.: Die Geburt der Tragçdie. In: Magazin fr die Litteratur des Auslandes. Berlin, Bd. Bd. 42, Nr. 16 & 17 vom 19. und 26. 4. 1873, S. 233–235, 250–251 . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Tappert, Wilhelm: Der dritte deutsche Musikertag in Leipzig. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 4, Nr. 23 vom 6. 6. 1873, S. 341 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Drseke, Johannes: Beitrge zur Wagner-Frage. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 4, Nr. 30ff vom 25.7., 1. und 8. 8. 1873, S. 438ff, 453ff, 470 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Falckenberg, Richard: Nietzsche und Schletterer. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 4, Nr. 40 vom 3. 10. 1873, S. 580 f. . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Meyer, Bruno: Beitrge zur Wagnerfrage. In eigener Sache. In: Deutsche Warte. Umschau ber das Leben. Leipzig, Bd. 5, Nr. 11, November 1873, S. 641–673 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Guhrauer, Heinrich: Die Geburt der Tragçdie. In: Jahrbcher fr classische Philologie. Leipzig, Bd. 20, Nr. 1, 1874, S. 49–63 . . . . . – Fuchs, Carl: Gedanken aus und zu Grillparzer’s Aesthetischen Studien. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 5, Nr. 9 vom 27. 2. 1874, S. 105–107, Nr. 11, 13. 3. 1874, S. 129–131, Nr. 12, 20. 3. 1874, S. 145–147, Nr. 13, 27. 3. 1874, S. 161–164 . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Drseke, Johannes: Beitrge zur Wagner-Frage. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 5, Nr. 33, 34, und 36 vom 14., 21.8. und 4. 9. 1874, S. 403ff, 418ff, 438 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX 142 143 144 145 145 149 149 158 159 175 175 179 179 217 217
231 232 234
X
Inhalt
– Volkelt, Johannes: Der entfesselte Prometheus [von Siegfried Lipiner]. Eine Studie. In: Die Wage. Wochenblatt fr Politik und Literatur. Berlin, Bd. 5, Nr 38 f vom 2. und 28. 9. 1877, S. 602–607, 617–624 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Lindner, Albert: Die Musik als Mutter der Tragçdie. In: Nationalzeitung. Berlin, Nr. 523, 525 vom 6. 11. 1878, S. 1–3, 7. 11. 1878, S. 1–3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Siebenlist, August: Schopenhauer’s Philosophie der Tragçdie. Pressburg, 1880, S. 5 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Fçrster, Bernhard: Die neuesten Entdeckungen Heinrich Schliemanns. In: Deutsches Tageblatt. Berlin, Nr. 247 vom 10. 12. 1881, S. 1 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Riemann, Hugo: Musik-Lexikon. Leipzig, 2. Aufl. 1884, S. 633 – Seidl, Arthur: Richard Wagner und Bayreuth. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 17, Nr. 23, 24/25, 28 vom 4., 17.6. und 8. 7. 1886, S. 285–287, 301–303, 345 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI
David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym [vmtl. Fritzsch, Ernst Wilhelm]: Vom „Bildungsphilister“. In: Musikalisches Wochenblatt. Augustbeilage des Litteraturblattes. Leipzig, 1873, S. 35–37 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Nietzsches David Strauss. In: Mannheimer Journal, 8. 9. 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Deutsche Kultur. In: Schweizerischer Volksfreund. Anzeigeblatt der Stadt Basel. Organ der Liberalen Basels, Nr. 217 vom 13. 9. 1873, S. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – §.: David Strauss und sein neuester Kritiker. In: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel, Nr. 218 f vom 15. und 16. 9. 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Hillebrand, Karl: Nietzsche gegen Strauß. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg, Nr. 265 f vom 22. und 23. 9. 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller. In: Basler Nachrichten, Beilage der Nr. 226 vom 24. 9. 1873 . . . . . . . . . . . . . – )( : Friedrich Nietzsche und sein neuster Kritiker. In: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel, Nr. 227 vom 25. 9. 1873
258 259 271 272 273 273 273 274 275 275 276 283 283 286 292 302 305 309
Inhalt
Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – §.: David Strauß und sein neuester Kritiker II. In: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel, Nr. 234 vom 3. 10. 1873 – Wilhelm Vischer-Heusler: Literarisches. David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller. In: Allgemeine Schweizer Zeitung. Basel, Nr. 5f vom 6. und 7.10. 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Eingesandt. In: Schweizerischer Volksfreund. Anzeigeblatt der Stadt Basel. Organ der Liberalen Basels, Nr. 239 vom 9. 10. 1873, S. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – F., B. [vmtl. Fçrster, Bernhard]: Herr Friedrich Nietzsche und die deutsche Cultur. In: Die Grenzboten. Leipzig, Bd. 32, Nr. 42 vom 17. 10. 1873, S. 104–110 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Erklrung der Redaktion. In: Die Grenzboten. Leipzig, Bd. 32, Nr. 46 vom 14. 11. 1873, S. 280 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Hoffmann, Franz: Zur Kritik von David Strauß. In: Allgemeiner literarischer Anzeiger fr das evangelische Deutschland. Gtersloh, Bd. 12, 1873, S. 321–336 (November) und S. 401–407 (Dezember) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Unser Trost. In: Schweizerischer Volksfreund. Anzeigeblatt der Stadt Basel. Organ der Liberalen Basels, Nr. 265 vom 8. 11. 1873, S. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Binder, Gustav: Herr Nietzsche. In: Die Gegenwart. Wochenschrift. Berlin, Bd. 4, Nr. 49–52 vom 6., 13., 20., 27. 12. 1873, S. 362 f, 375ff, 402ff, 420 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Lang, Heinrich: Zwei seltsame Kuze. In: Reform. Zeitstimmen aus der Schweizer Kirche. Bern, Bd. 2, Nr. 25 vom 13. 12. 1873, S. 451–455 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Dryander, Ernst von: Anti-Strauß. In: Neue evangelische Kirchenzeitung. Berlin, Bd. 16, Nr. 1 vom 3. 1. 1874, Spalte 14–16 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Fuchs, Carl: Gedanken aus und zu Grillparzer’s Aesthetischen Studien. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 5, Nr. 9 vom 27. 2. 1874, S. 105–107, Nr. 11, 13. 3. 1874, S. 129–131, Nr. 12, 20. 3. 1874, S. 145–147, Nr. 13, 27. 3. 1874, S. 161–164 . . . . . . .
XI 311 312 316 320 321 322 322 328 329
331 363 363 366 367 391 392 396 397 401
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XII
Inhalt
Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller. In: Theologischer Jahresbericht. Wiesbaden, Bd. 9, Nr. 7, 1874, S. 306 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Richter, Dr. Arthur: Unzeitgemße Betrachtungen von Dr. Friedrich Nietzsche. In: Zeitschrift fr Philosophie und philosophische Kritik. Leipzig, Bd. 64, 1874, S. 153–158 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – x.: David Friedrich Strauß. In: Litarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 25, Nr. 19 vom 9. 5. 1874, Spalte 618–622 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym [Monod, Gabriel?]: David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller. In: Revue critique d’histoire et de littrature. Paris, Bd. 8, Nr. 39 vom 26. September 1874, S. 206 . . . . . . . . . . . . . . . – E., H. [Ewald, Heinrich Georg August]: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. In: Gçttingische Gelehrte Anzeigen. Nr. 4 vom 27. 1. 1875, S. 119–121 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: David Friedrich Strauss. In: Zeitschrift fr exacte Philosophie im Sinne des neueren Realismus. Leipzig, Bd. 11, 1875, S. 65–76 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Rmelin, Gustav: Reden und Aufstze. Tbingen, 1875 . . . . . . . . – Kuh, Emil: Professor Friedrich Nietzsche und David Friedrich Strauß. Eine kritische Studie. In: Literaturblatt. Wochenschrift fr das geistige Leben der Gegenwart. Wien, Bd. 2, Nr. 19–22, September bis Oktober 1878 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Bauer, Bruno: Zur Orientirung ber die Bismarck’sche ra. Chemnitz, 1880, S. 287 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben. Zweite unzeitgemße Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben. In: Der Literaturfreund. Ein Fhrer fr Buchliebhaber und Bcherfreunde. Stuttgart, Bd. 1, Nr. 2, Okt. 1872 – Sept. 1873, S. 154 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Carl Fuchs: Georg Riemenschneider. Composition fr Orchester. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 5, Nr. 23ff vom 5.,12., und 16. 6. 1874, S. 278 f, 292 f, 306 f. . . . . . . . . . . . . . . .
403 403 407 411 412 413 414 414 421
422 453 455 456 457 457
458 459
Inhalt
– Hillebrand, Karl: Ueber historisches Wissen und historischen Sinn. In: Neue freie Presse. Wien, Morgenbltter Nr. 3542 und 3544 vom 7. und 9. 7. 1874 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Sturzenegger, Bartholomus: ber den Werth der Geschichte nach Nietzsche. In: Reform: Zeitstimmen aus der Schweizer Kirche. Bern, Bd. 4, Nr. 16 vom 7. 8. 1875, S. 275–279 . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Zdekauer, Ludwig: Lavori sulla storia medioevale d’ Italia. In: Archivio storico italiano. Florenz, Bd. 5, Nr. 164, 167, 1888, S. 401–416, S. 204–220 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII
Schopenhauer als Erzieher. Dritte Unzeitgemße Betrachtung . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Hillebrand, Karl: Schopenhauer und das deutsche Publikum. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg, Beilage der Nr. 352 vom 18. 12. 1874 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym [Monod, Gabriel]: Schopenhauer als Erzieher. In: Revue critique d’histoire et de litterature. Paris, Bd. 9, Nr. 4 vom 23. 1. 1875, S. 63–64 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Aus der philosophischen Literatur. In: Neue Evangelische Kirchenzeitung. Berlin, Nr. 21 vom 22. Mai 1875, Spalte 335 . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Langen, Heinrich: Schopenhauer. In: Theologisches Literaturblatt. Bonn, Bd. 10, Nr. 14 vom 4. 7. 1875, Sp. 328–330 . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Asher, David: Eine neue Stimme ber Schopenhauer. In: Bltter fr litterarische Unterhaltung. Leipzig, Nr. 28, Juli 1875, S. 443 ff. Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Schopenhauer als Erzieher. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 27, Nr. 25 vom 17. 6. 1876 . . . . . . . – Schlemm, Oscar: Ueber gymnasiale Erziehung. In: Bayreuther Bltter. Bd. 8, Nr. 4–6, 1883, S. 157–187 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII
460 473 475 479 479 480 482 482 483 490 492 493 494 494 495 497 498 502 503 504
XIV IX
X
Inhalt
Richard Wagner in Bayreuth. Vierte Unzeitgemße Betrachtung . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Richard Wagner in Bayreuth. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 27, Nr. 44 vom 28. 10. 1876, Spalte 1467 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Falckenberg, Richard: Richard Wagner in Bayreuth. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 7, Nr. 48 f vom 10. und 17.11. 1876, S. 639 f, 655 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Falckenberg, Richard: Carl Fr. Glasenapp: Richard Wagner’s Leben und Wirken. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 9, Nr. 18 f vom 26.4. und 3. 5. 1878, S. 223 f, S. 231 f. . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Ral: (d.i. Lequime, Leon): Richard Wagner a Bayreuth. In: L‘Artiste. Courrier hebdomadaire. Artistique – Littraire – Musical. Brssel, Bd. 3, Nr. 42 vom 21. 12. 1878, S. 331 . . . . . . . . . . . . . . . – Hanslick, Eduard: Musikalische Stationen. Neue Folge der „Modernen Oper“. Berlin, 1880 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Nohl, Ludwig: Wagner. Leipzig, 1883, S. 94–96 (Musiker Biographien Bd. 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Kulke, Eduard: Richard Wagner, seine Anhnger und seine Gegner. Prag, Leipzig, 1884 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
505 505
ber mehrere Unzeitgemße Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Hoffmann, Franz: Unzeitgemsse Betrachtungen von Friedrich Nietzsche. In: Psychische Studien. Monatliche Zeitschrift, vorzglich der Untersuchung der wenig gekannten Phnomene des Seelenlebens gewidmet. Leipzig, Bd. 1, Nr. 12, Dezember 1874, S. 563–569 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Contemporary Literature. Theology and Philosophy. In: Westminster Review and Foreign Quarterly Review. London, Bd. 47, Nr. 2 vom 1. 4. 1875, S. 501ff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Wundt, Wilhelm: Philosophy in Germany. In: Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy. London, Bd. 2, 1877, S. 493–518 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Mnz, Sigmund: Karl Hillebrand. Ein deutscher Schriftsteller. In: Frankfurter Zeitung. Bd. 29, Morgenblatt Nr. 306 vom 1. 11. 1884 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
522
506 507 513 514 514 515 517 519 520 520
522 527 530 531 532 534 534
Inhalt
XI
XII
Menschliches, Allzumenschliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Schmeitzner, Ernst: Ein neues Werk von Friedr. Nietzsche. Bçrsenblatt fr den deutschen Buchhandel. Leipzig, Nr. 87 vom 13. April 1878, S. 1493 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Wagner, Richard: Publikum und Popularitt. In: Bayreuther Bltter. Bd. 3, Nr. 8, August 1878, S. 213–222 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Menschliches, Allzumenschliches. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 29, Nr. 42 vom 19. 10. 1878, Sp. 1370 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Hillebrand, Karl: Halbbildung und Gymnasialreform. Ein Appell an die Unzufriedenen. In: Deutsche Rundschau. Berlin, Bd. 5, Nr. 6 vom Mrz 1879, S. 422–451 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Graue, Georg Heinrich: Darwinismus und Sittlichkeit. Berlin 1879 (Deutsche Zeit- und Streitfragen. Flugschriften zur Kenntnis der Gegenwart. Bd. 8, Nr. 124/125) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Herrig, Hans: Ein moderner „Freigeist“. In: Die Gegenwart. Wochenschrift. Berlin, Bd. 18, Nr. 32 vom 7. 8. 1880, S. 85–87 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Laban, Ferdinand: Die Schopenhauer-Literatur. Leipzig, 1880, S. 18 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Luthardt, Christoph Ernst: Die modernen Weltanschauungen und ihre praktischen Konsequenzen. Vortrge ber Fragen der Gegenwart aus Kirche, Schule, Staat und Gesellschaft im Winter 1880 zu Leipzig gehalten. Leipzig, 1880, S. 258 . . . . . . . . . . . . . . – Conrad, Michael Georg: Madame Lutetia! Neue Pariser Studien. Leipzig, 1883, S. 289 f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Wirth, Moritz: Die Zukunft der Reminiscenz. Variationen ber Themen von Friedrich Nietzsche. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 18, Nr. 37 vom 8. 9. 1887, S. 441–443 . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XV 536 536 536 539 540 541 542 543 546 550 551 557 557
558 558 559 559 565
Morgenroethe. Gedanken ber die moralischen Vorurtheile . . . . . . . 567 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 – Anonym [Lanzky, Paul]: Morgenroethe. Gedanken ueber die moralischen Vorurtheile. In: La Rivista Europea. Florenz, Bd. 26, Nr. 4 vom November 1881, S. 636–638 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568
XVI
Inhalt
– Spatzier, Dr. Hans: Kritische Rundschau. Morgenrçthe. Gedanken ber die moralischen Vorurtheile. In: Literarischer Merkur. Mitteilungen aus dem geistigen Leben der Gegenwart und Nachrichten fr Bcherfreunde ber empfehlenswerte Neuigkeiten des In- und Auslandes. Leipzig, Bd. 2, Nr. 4–6 vom 15. 11. 1881, S. 5 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Morgenrçthe. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 33, Nr. 12 vom 18. 3. 1882, Spalte 387 f. Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – f., b. [vmtl. Fçrster, Bernhard]: Der bekannte Philosoph und Schriftsteller Friedrich Nietsche [sic]. In: Deutsches Tageblatt. Berlin, Nr. 59 vom 28. 11. 1882, S. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII
XIV
Die frçhliche Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Wagner, Ernst: Friedrich Nietzsche’s neuestes Buch: „Die frçhliche Wissenschaft“. In: Schmeitzners Internationale Monatsschrift. Chemnitz, November 1882, S. 685–695 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – D., H.: Friedrich Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft. In: Die Gegenwart. Wochenschrift. Berlin, Bd. 23, Nr. 3 vom Januar 1883, S. 46 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Die frçhliche Wissenschaft. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 34, Nr. 19 vom 5. 5. 1883, Spalte 644 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Also sprach Zarathustra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Also sprach Zarathustra. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 36, Nr. 12 vom 14. 3. 1885, Spalte 378 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Lanzky, Paul: Also sprach Zarathustra. In: Das Magazin fr die Literatur des In- und Auslandes. Leipzig, Bd. 54, Nr. 21, 1885, S. 328 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Widemann, Paul: Erkennen und Sein. Lçsung des Problems des Idealen und Realen, zugleich eine Erçrterung des richtigen Ausgangspunktes und der Principien der Philosophie. Karlsruhe und Leipzig, 1885, S. 239 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
571 572 573 574 574 575 575 577 585 586 587 587 588 589 589 594 595 595
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Inhalt
XVII
Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Druskowitz, Helene: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886, S. 43–59 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – I., H.: Leserbrief in der Antisemitischen Correspondenz mit Erwhnung Zarathustras. In: Antisemitische Correspondenz, und Sprechsaal fr innere Partei-Angelegenheiten. Leipzig, Nr. 7, September 1886, S. 7 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Stoltheim, Roderich F. [d.i. Fritsch, Theodor]: Leserbrief. In: Antisemitische Correspondenz, und Sprechsaal fr innere Partei-Angelegenbeiten. Leipzig, Nr. 8, November 1886, S. 8 . . . . – Busse, Otto: Leserbrief. In: Antisemitische Correspondenz, und Sprechsaal fr innere Partei-Angelegenbeiten. Leipzig, Nr. 9, Januar 1887, S. 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV
Jenseits von Gut und Bçse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Ein neues Werk von Friedrich Nietzsche. In: Bçrsenblatt fr den Deutschen Buchhandel. Leipzig, Nr. 182 vom 9. 8. 1886, S. 4251 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Jenseits von Gut und Bçse. In: Das Magazin fr die Litteratur des In- und Auslandes. Leipzig, Bd. 55, Nr. 37 vom 11. 9. 1886, S. 587 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Widmann, Josef Victor: Nietzsche’s gefhrliches Buch. In: Der Bund. Bern, Bd. 37, Nr. 256 f vom 16. und 17. 9. 1886 . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Glogau, Gustav: Jenseits von Gut und Bçse. In: Deutsche Litteraturzeitung. Bd. 7, Nr. 44 vom 30. 10. 1886, Sp. 1555 f. . . . – H., E. [Hanslick, Eduard?]: Jenseits von Gut und Bçse. In: Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung. Berlin, Sonntagsbeilage der Nr. 44 vom 31. 10. 1886 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Hermann, Conrad: Neuere philosophische Literatur. 3. Jenseits von Gut und Bçse. In: Bltter fr literarische Unterhaltung. Leipzig, Dezember 1886, S. 715 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Michaelis, P.[aul]: Jenseits von Gut und Bçse. In: Nationalzeitung. Berlin, Bd. 39, Nr. 672 vom 4. 12. 1886, S. 1 f. . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Welti, Heinrich: Litteraturbriefe IV. In: Neue Zrcher Zeitung, Bd. 66, Nr. 346 vom 13. 12. 1886 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
597 598 606
607 608 610 611 614 614 614 615 618 623 630 632 633 634 634 639 641
XVIII
Inhalt
Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Schlaf, Johannes: Jenseits von Gut und Bçse. In: Allgemeine Deutsche Universittszeitung. Berlin, Bd. 1, Nr. 2 vom 8. 1. 1887, S. 22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – mk: Jenseits von Gut und Bçse. In: Nord und Sd. Breslau, Bd. 41, Mai 1887, S. 31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Gizycki, Georg von: Briefe ber die neuere philosophische Literatur. In: Deutsche Rundschau. Berlin, Bd. 13, Nr. 11, 1887, S. 305–317 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – K., A.: Jenseits von Gut und Bçse. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Nr. 38 vom 17. 11.1887, Spalte 1291 f. . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Frey, Thomas [d.i. Fritsch, Theodor]: Der Antisemitismus im Spiegel eines „Zukunfts-Philosophen“. In: Antisemitische Correspondenz, und Sprechsaal fr innere Partei-Angelegenheiten. Leipzig, Nr. 19 f., November/Dezember 1887, S. 10–15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI
Zur Genealogie der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – dv.: Zur Genealogie der Moral. In: Deutsche Rundschau. Berlin, Bd. 54, Mrz 1888, S. 479 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Sch., O.: Zur Genealogie der Moral. In: Kunstwart. Dresden, Bd. 1, Nr. 11 vom 5. Mrz 1888, S. 146 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Michaelis, P.[aul]: Zur Genealogie der Moral. In: Nationalzeitung. Berlin, Bd. 41, Morgenausgabe Nr. 164 vom 11. 3. 1888, S. 1–3 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Conrad, M.[ichael] G.[eorg]: Zur Genealogie der Moral. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift. Mnchen, Nr. 12 von Dezember 1888, S. 1156 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Druskowitz, Helene: Zur Genealogie der Moral. In: Eugen Dhring. Eine Studie zu seiner Wrdigung. Heidelberg, 1889, S. 61 f. . . . . – Glogau, Gustav: Zur Genealogie der Moral. In: Deutsche Litteraturzeitung. Berlin, Bd. 8, Nr. 23 vom 8. 6. 1889 . . . . . . . . .
645 646 647 648 649 650 651 652 653
654 667 668 668 669 670 676 676 679 680
XVII Der Fall Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 – W., M.: Der Fall Wagner. In: Kunstwart. Dresden, Bd. 2, Nr. 2 vom Oktober 1888, S. 20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682
Inhalt
– Anonym: Erklrung der Redaktion. In: Kunstwart. Dresden, Bd. 2, Nr. 3 vom Oktober 1888, S. 20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Der Fall Wagner. In: Hamburger Nachrichten. Belletristisch-litterarische Beilage der Morgenausgabe Nr. 238 vom 6. 10. 1888 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Sittard, J.[oseph]: Wagneriana. In: Hamburgischer Correspondent, Nr. 283 vom 11. 10. 1888. S. 1 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Pohl, Richard: Der Fall Nietzsche. Ein psychologisches Problem. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 19, Nr. 44 vom 25. 10. 1888, S. 517–520 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Der Fall Wagner. In: Das Magazin fr die Literatur des Inund Auslandes. Dresden, Bd. 57, Nr. 44 vom 27. 10. 1888, S. 694 f. – H[anslick], Ed[uard]: Neue Werke ber Musik. In: Neue Freie Presse. Wien, Morgenblatt Nr. 8696 vom 8. 11. 1888, S. 4 . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Der Fall Wagner. In: Nouvelle Revue. Paris, ca. 8. 11. 1888 – Spitteler, Carl: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. In: Der Bund. Bern, Bd. 39, Nr. 309 vom 8. 11. 1888 . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Widmann, Josef Victor: Nietzsches Abfall von Wagner. In: Der Bund. Bern, Bd. 39, Nr. 321 f vom 20. und 21.11. 1888 . . . – S., Ed. [Steiger, Edgar?]: Der Fall Wagner. In: Frankfurter Zeitung, Bd. 33, Abendblatt Nr. 329 vom 24. 11. 1888 . . . . . . . . . . . . . . . . – Gast, Peter [d.i. Kçselitz, Heinrich]: Nietzsche-Wagner. In: Kunstwart. Dresden, Bd. 2, Nr. 4 vom November 1888, S. 52–55 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Helm, Dr. Theodor: Der Fall Wagner. In: Deutsche Zeitung. Wien, Abendblatt Nr. 6105 vom 28. 12. 1888, S. 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Der Fall Wagner. In: Hamburger Signale. Allgemeine Musik-Zeitung, Nr. 6 von Dezember 1888, S. 60 f. . . . . . . . . . . . . – Stahl, Erich [d.i. Conrad, Michael Georg]: Ein Musikanten-Problem. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift. Mnchen, Bd. 5, Nr. 1, Januar 1889, S. 85–92 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Concertberichte Wien. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 20, Nr. 6 vom 31. 1. 1889, S. 66 . . . . . . . . . . . . . . . . – Wirth, Moritz: Friedrich Nietzsches Musikanten-Problem und seine Auflçsung. In: Centralblatt fr Musik. Leipzig, Bd. 2, Nr. 5/6, 1889, S. 41–45 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIX 685 685 685 688 688 694 695 696 698 698 699 702 704 711 712 722 722 724 728 734 734 734
XX
Inhalt
– Anonym [Portig, Gustav]: Der Fall Wagner. In: Bltter fr literarische Unterhaltung. Leipzig, Nr. 6 vom 7. 2. 1889. S. 89 f. . . . . . . . . . . . – Anonym: Der Fall Wagner. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte. Braunschweig, Bd. 33, Nr. 391 vom April 1889, S. 135 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Friedrich Nietzsche. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 20, Nr. 20 vom 9. 5. 1889, S. 250 . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Der Fall Nietzsche. In: Kçlnische Zeitung. Nr. 152 vom 2. 6. 1889, S. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – M., E. [vmtl. Mhly, Ernst]: Der Fall Wagner. Gçtzendmmerung. In: Deutsche Worte. Monatshefte. Wien, Bd. 9, Nr. 9, September 1889, S. 321 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVIII Gçtzendmmerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Die Gçtzendmmerung. In: Basler Nachrichten, Bd. 45, Nr. 34 vom 4. 2. 1889 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym [vmtl. Mhly, Jacob]: Die Gçtzendmmerung. In: Allgemeine Schweizer Zeitung. Basel, Nr. 34 vom 9. 2. 1889 . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – H., E. [Hanslick, Eduard?]: Gçtzen-Dmmerung. In: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung. Berlin, 1. Beilage der Morgenausgabe Nr. 105 vom 3. 3. 1889 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – W[idmann] J.[osef] V.[ictor]: Aus Friedrich Nietzsches letztem Buche: „Gçtzendmmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophirt“. In: Der Bund. Bern, Bd. 40, Nr. 65 vom 7. 3. 1889 – Anonym: Gçtzendmmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert. In: Magazin fr die Literatur des In- und Auslandes. Dresden, Bd. 58, Nr. 11 vom 9. 3. 1889, S. 171 f. . . . . . . . . . . . . . – Michaelis, P.[aul]: Hammerphilosophie. In: Nationalzeitung. Berlin, Bd. 42, Morgenausgabe Nr. 167 vom 14. 3. 1889 . . . . . . . . . . . . . – Brakl, Franz Jos[eph]: Gçtzendmmerung. In: Neues Mnchener Tageblatt, Nr. 90 vom 30. 3. 1889, S. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Hammer, Fritz [d. i. Conrad, Michael Georg]: Gçtzendmmerung. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift. Mnchen, Nr. 4, April 1889, S. 581 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Anonym: Gçtzendmmerung. In: Bltter fr literarische Unterhaltung. Leipzig, Nr. 15 vom 11. 4. 1889, S. 239 . . . . . . . . .
738 740 740 741 746 747 747 748 749 749 750 751 754 755 761 762 763 763
Inhalt
XXI
– Anonym [vmtl. Berg, Leo]: Der Fall Wagner. Gçtzendmmerung. In: Deutsche litterarische Volkshefte. Berlin, Nr. 2 vom Mai 1889, S. 32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 – M[hl]y, J[acob]: Das letzte Buch von Friedrich Nietzsche. In: Allgemeine Zeitung. Mnchen, Beilage der Nr. 121 vom 2. 5. 1889 764 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 XIX
Gesamtwrdigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Lehmann, Rudolf: Friedrich Nietzsche. Eine Studie. In: Schmeitzners Internationale Monatsschrift. Chemnitz, Nr. 1, 1882, S. 253–261, 306–322 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Lanzky, Paul: Essay ber Nietzsche, in ungarischem Winkelblatt, angegebener Name der Zeitschrift: Westeuropischer Courier, Dezember 1884 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Falckenberg, Richard: Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart. Leipzig, 1886, S. 422 f. . . . – Spitteler, Carl: Friedrich Nietzsche aus seinen Werken. In: Der Bund. Bern, Bd. 39, Sonntagsbeiblatt zur Nr. 1, vom 1. 1. 1888, S. 3–7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Brandes, Georg: Indtryk fra Rusland [Eindrcke aus Russland]. Kopenhagen, 1888 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bersetzung nach KGB III/7,3,2, Bf. 68, S. 1046 . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Brasch, Moritz: Die Philosophie der Gegenwart. Ihre Richtungen und ihre Hauptvertreter. Leipzig, 1888, S. 671–674 . . . . . . . . . . . – Brandes, Georg: Aristokratisk Radikalisme. En Afhandling om Friedrich Nietzsche. In: Tilskueren. Maanedsskrift for Literatur, Samfundsspørgsmaal og almenfattelige videnskabelige Skildringer. Kopenhagen, Bd. 7, August 1889, S. 565–613 . . . . . . . . . . . . . . . . – Mhly, J[acob]: Friedrich Nietzsche. In: Die Gegenwart. Monatschrift. Berlin, Bd. 29, Nr. 36 vom 7. 9. 1889, S. 148 ff. . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Berg, Leo: Friedrich Nietzsche. Studie. In: Deutschland. Wochenschrift fr Kunst, Litteratur, Wissenschaft und soziales Leben. Berlin, Nr. 9 und 10, 1889, S. 148 f, 168 ff. . . . . . . . . . . . – Hansson, Ola: Nietzscheanismus in Skandinavien. In: Neue Freie Presse. Wien, Nr. 9031 vom 15. 10. 1889, S. 1 ff. . . . . . . . . . . . . .
770 770 772 792 792 794 795 806 809 809 810 811
814 853 861 861 872
XXII
Inhalt
– Hansson, Ola: Friedrich Nietzsche. Die Umrisslinien seines Systems und seiner Persçnlichkeit. Kritischer Entwurf. In: Unsere Zeit. Leipzig, Bd. 2, Nr. 11, 1889, S. 400–418 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Brandes, Georg: Aristokratischer Radikalismus. Eine Abhandlung ber Friedrich Nietzsche. In: Deutsche Rundschau. Berlin, Bd.16, Nr. 7, April 1890, S. 52–89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
878 899 901 942
ber die Rezensenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 944 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971 Literatur mit Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 972 Register Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975 Zeitschriftenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984
Einleitung Der vorliegende Band soll der Nietzscheforschung als Volltext-Sammlung der deutsch- und fremdsprachigen Zeitungs- und Zeitschriftenrezeption sowie der Erwhnungen in Einzelverçffentlichungen von Nietzsches Werken zu seinen Lebzeiten dienen. Als Volltexte waren diese Rezensionen bisher nur teilweise zugnglich, viele der vorliegenden Texte werden hier das erste Mal wiederabgedruckt. Richard Frank Krummels monumentales mehrbndiges Werk Nietzsche und der deutsche Geist 1 bietet eine kommentierte Bibliographie der deutschsprachigen Rezeption von Nietzsches Werken, aber nur kurze wertende Zusammenfassungen vieler deutschsprachiger Texte. Bruno Hillebrand legt in seiner zweibndigen Verçffentlichung Nietzsche und die deutsche Literatur 2 den Fokus auf die literarische Rezeption Nietzsches, Rezensionen von Schriftstellern bietet er nur in Auszgen. Schabergs Nietzsches Werke 3 konzentriert sich auf die Publikationsgeschichte der einzelnen Bcher Nietzsches und liefert dafr wertvolles Material, bietet aber wenig zur çffentlichen Rezeption. Fr die nicht-deutschsprachigen Rezensionen findet sich keine eigenstndige Publikation. Karlfried Grnders Textsammlung Der Streit um Nietzsches Geburt der Tragçdie 4 versammelte nur die Schriften Rohdes, Wagners und Wilamowitz’, die KGB bringt in den Nachberichtsbnden einige Rezensionen, jeweils nach den behandelten Jahren der Bnde, vor allem zu JGB, GD und zum WA. Manche Rezensionen galten als unauffindbar, wie Lequimes Artikel ber die franzçsische bersetzung der UB IV im Brsseler Artiste vom 12. 12. 1878, andere waren gnzlich unbekannt wie die anonyme Rezension ber Nietzsches UB I in der Revue critique d’histoire et de littrature vom 26. 9. 1874 oder fanden sich fernab der Nietzscheforschung wieder abgedruckt, wie Spatziers Rezension zur M.5 Die vorliegende Sammlung von Rezensionen und Reaktionen entstand in einem Zeitraum von etwas mehr als 12 Jahren. Whrend meiner Mitarbeit an der Nietzsche-Ausstellung in Weimar anlsslich des 100. Todestages begann mich zu interessieren, wie Nietzsches Zeitgenossen die Werke des Philosophen aufgenommen hatten, bevor nach seiner Umnachtung das Interesse ab 1890 geradezu sprunghaft anstieg. Ausgehend von Richard Frank Krummels Stan1 2 3 4 5
Krummel (1998 – 2006), Bd. I-IV Hillebrand, Bruno (1978) Schaberg, William H. (2002) Grnder, Karlfried (1970) Wiederabgedruckt in Kreuzer, Helmut (Hrsg.) (2006), S. 407 f
2
Einleitung
dardwerk Nietzsche und der deutsche Geist, begann ich die Suche nach den Originalrezensionen. In den Briefen von und an Nietzsche fanden sich Reaktionen auf die in Krummels Buch genannten Rezensionen. Weitere Hinweise boten die Nachberichtsbnde der KGB. Es gab aber auch viele private Reaktionen von Briefpartnern oder dritten Personen, die auch weitere, in Krummel nicht aufgefhrte Artikel nannten. Viele dieser Hinweise fhrten zum Ziel, doch einige Rezensionen bleiben unauffindbar. Diese sind in die vorliegende Sammlung als Eintrag aufgenommen. Falls Reaktionen Nietzsches darauf existieren, geben sie Hinweise auf den Inhalt, wie im Fall von Paul Lanzkys Essay in einem „ungarischen Winkelblatt“, benannt als Westeuropischer Kurier 6, der als unauffindbar gilt. Die Durchsicht des mçglicherweise gemeinten Westungarischen Grenzboten brachte kein Ergebnis. Im Fall der kurzen Meldung ber Nietzsches Schreibmaschine von Bernhard Fçrster war es Nietzsche selbst, der in seinem Brief das Berliner Tageblatt 7 als Quelle nannte, damit auf eine falsche Fhrte lockte und lange verhinderte, dass der Artikel zugeordnet werden konnte. Tatschlich erschien die Meldung im Deutschen Tageblatt, Berlin. Insgesamt handelt es sich um 152 Rezensionen aus 73 verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften sowie 15 Erwhnungen in Einzelverçffentlichungen zu Nietzsches Werken. Alle sind bis auf die deutsche Gesamtwrdigung von Georg Brandes vor oder im Jahr des geistigen Zusammenbruch Nietzsches erschienen. Brandes Gesamtwrdigung wurde zum einen als bersetzung seines bereits im August 1889 erschienenen dnischen Artikels aufgenommen. Zum anderen gilt der Artikel als die Rezension, die Nietzsche in Deutschland erstmals einem breiten Publikum bekannt machte, hatte die Deutsche Rundschau doch eine Auflage von 10.000 Exemplaren. Brandes vernderte den Aufsatz an mehreren Stellen fr den Wiederabdruck in seinen spter erschienenen Werken. Diese berarbeiteten Fassungen, nicht der hier verwendete Erstabdruck in der Deutschen Rundschau, waren die Grundlage fr bisherige Wiederabdrucke. Die meisten Rezensionen erhielten vier Werke Nietzsches: GT, UB I, UB IV und WA. Der Grund liegt wohl weniger darin, dass diese Werke als besonders 6
7
„Nach ,Menschliches, Allzumenschliches‘ las ich die ,Vermischten Meinungen und Sprche‘, dann die ,Morgenrçte‘ und die ,Frçhliche Wissenschaft‘, welche letzteren ich im ,Magazin fr die Literatur des Aus- und Inlandes‘ und in der ,Rivista Europea‘ besprach. 1883 veranlassten mich die beiden ersten Teile von ,Also sprach Zarathustra‘ in brieflichen Verkehr mit dem Denker zu treten, der damals im Begriff stand, von Genua nach Villefranche zu gehen, das er bald mit Nizza vertauschte, wohin er mich zu sich lud. Seiner Einladung konnte ich erst im nchsten Jahr Folge leisten. Inzwischen las ich den ,Wanderer und sein Schatten‘, die vier Teile der ,Unzeitgemßen Betrachtungen‘ und die ,Geburt der Tragçdie‘, und verçffentlichte eine Gesamtwrdigung des Denkers im ,Westeuropischen Courier‘“, Paul Lanzky in: Friedrich Nietzsche. In: Sphinx, Bd. 18, Heft 99, 1894, S. 333 – 340, S. 334. KGB III/1, Bf. 210, S. 180
Zum Aufbau des Bandes
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herausragend galten, sondern dass sie zu jener Zeit aktuelle und polarisierende Themen behandeln. Wagner spaltete die Musikwelt im 19. Jahrhundert in Wagneranhnger und Wagnergegner, David Friedrich Strauss Buch behandelte das im letzten Drittel des 19. Jahrhundert virulente Thema der Religiositt, dem Nietzsche mit seinem vielzitierten Satz „Gott ist todt“ im Aphorismus 125 der FW8 eine neue Spitze gab. Um Nietzsches GT entwickelte sich ein in Zeitungen und Zeitschriften ausgetragener, kurzer und heftiger Streit, den Erwin Rohde, Richard Wagner und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf als Protagonisten austrugen, begleitet von vielen kleineren Rezensionen, die sich oft auf die Artikel der drei genannten bezogen. Zum einen war es ein Streit unter Philologen, den Anhngern zweier philologischer Schulen, der von Ritschl und Jahn. Zum anderen war es ein Buch zur Untersttzung Richard Wagners und damit Streitpunkt fr seine Anhnger und Gegner. Dass Nietzsches UB I so viel Aufsehen, vor allem auch in der Schweiz, erregte, lag daran, dass sich ein frisch berufener, dazu noch sehr junger Professor zu einem berhmten Autor zu Wort meldete, der sich kritisch ber die Schweizer geußert hatte.9 Anstoß erregte dagegen sowohl unter Befrwortern als auch unter Kritikern der Ton der Schrift, in dem Nietzsche Strauss angriff. Den Themenkreis Richard Wagner bedienten auch die UB IV und die Abrechnung mit Wagner in WA. Letztere rief vor allem durch die Abkehr des als treuer Anhnger Wagners geltenden Nietzsche große Aufmerksamkeit hervor.
Zum Aufbau des Bandes Der Band ist thematisch-chronologisch geordnet. Er ist unterteilt in Kapitel, denen die einzelnen Werke Nietzsches in der Reihenfolge ihres Erscheinens zugeordnet sind. Die Rezensionen und Erwhnungen sind wiederum chronologisch geordnet innerhalb der Werke, deren Besprechung sie gelten, die direkten Reaktionen auf die Rezensionen stehen am Ende der Artikel. Außerhalb der Chronologie stehen nur die Rezensionen, die mehrere Unzeitgemße Betrachtungen zum Thema haben, sowie die zeitlich meist erst sehr spt erschienenen Wrdigungen von Nietzsches Gesamtwerk. Gerade in den Rezensionen zu den UB wird gelegentlich eine andere Betrachtung erwhnt, diese stehen aber trotzdem im Kapitel des hauptschlich besprochenen Werkes. 8 9
KGW V/2, S. 159 Strauß hatte nach Auffassung nicht nur der Schweizer Kritiker in seinem Buch die schweizerische Geistesbildung als eine „banausische, grob-realistische, prosaisch-nchterne“ bezeichnet. Vgl. u. a. den anonymen Artikel „Deutsche Kultur“ im Schweizerischen Volksfreund vom 13. 9. 1873.
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Einleitung
Vor der ersten Rezension steht meist ein Unterkapitel mit privaten, vor allem brieflichen Reaktionen, die einen berblick ber die Aufnahme des jeweiligen Werkes unter Nietzsches Freunden, Bekannten oder anderen Briefpartnern geben. Diese Reaktionen auf Nietzsches Werken zu seinen Lebzeiten reichen von bewundernder Zustimmung ber Unverstndnis bis zu vçlliger Ablehnung. Sie spiegeln damit auch die Bandbreite der Rezensionen zu Nietzsches Werken, die besonders gut in den Artikeln zur GT und zu Nietzsches UB I zu verfolgen ist, wurde dieses Werk doch nahezu Stadtgesprch in Basel mit insgesamt neun Rezensionen in schneller Folge, die sich mehrfach aufeinander beziehen, hnlich wie die Artikel zur GT, die aufeinander antworten. Schon allein aus Grnden des Umfangs des vorliegenden Bandes sind nicht alle Reaktionen jedes Briefpartners aufgenommen worden.
ber die Verfasser Soweit mçglich sind die Rezensionen Verfassern zugeordnet. Dies war selbstverstndlich, wo sie namentlich genannt sind, schon weniger einfach, wo Pseudonyme oder nur Krzel die Autorschaft przisieren und schwierig, wo der Verfasser anonym blieb. Textvergleiche brachten manchmal eindeutige Zuordnungen. Die Hinweise aus Richard Frank Krummels Nietzsche und der deutsche Geist sind hier eingearbeitet, unsichere Autorschaft ist mit einem Fragezeichen, wahrscheinliche mit einem [vmtl.] gekennzeichnet. Ein Rezensentenverzeichnis gibt Kurzbiographien der Autoren der Rezensionen und Erwhnungen, die Briefpartner sind nicht extra verzeichnet, sind sie namentlich doch vielen, die sich mit Nietzsche beschftigen, bekannt. Einige unbekanntere Briefpartner werden an der ersten Stelle, wo sie genannt werden, in einer Fußnote kurz eingefhrt. Bei weiterem Interesse an einzelnen Personen lohnt sich meist ein Blick in das 2004 von mir verçffentlichte Nietzsche-Zeitgenossenlexikon, das knapp 1000 Verwandte und Vorfahren, Freunde und Feinde, Verehrer und Kritiker verzeichnet.10 Einige Rezensenten haben mehrere Werke von Nietzsche besprochen und Nietzsches Schaffen ber einen lngeren Zeitraum verfolgt, wie Michael Georg Conrad, Richard Falckenberg, Eduard Hanslick, Karl Hillebrand, Jacob Mhly, Paul Michaelis und Moritz Wirth, die jeweils drei oder vier Rezensionen verçffentlichten. Bei Michael Georg Conrad, Karl Hillebrand und Jacob Mhly lassen sich persçnliche oder briefliche Kontakte nachweisen, persçnliche Beziehungen spielten sicher auch eine wichtige Rolle fr Helene Druskowitz, Bernhard Fçrster, Carl 10 Reich, Hauke (2004): Nietzsche-Zeitgenossenlexikon. Verwandte und Vorfahren, Freunde und Feinde, Verehrer und Kritiker von Friedrich Nietzsche. Basel.
ber die Verfasser
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Fuchs, Heinrich Kçselitz, Paul Lanzky, Erwin Rohde, Bartholomus Sturzenegger, Wilhelm Vischer-Heusler und Richard Wagner, die Werke Nietzsches rezensierten oder in Bchern bewerteten. Insgesamt gehen 54 Rezensionen und Erwhnungen auf 22 Autoren zurck, die mehrere Artikel verfassten. Namentlich bekannt sind 73 Autoren. Unter den anonymen Rezensenten verbergen sich sicherlich noch einige, die mit noch zu findenden Hinweisen den namentlich bekannten Verfassern zuzuordnen wren. So ist zu vermuten, dass beide Artikel in der Revue critique d’histoire et de littrature von 1874 und 1875 von Gabriel Monod stammen, sowie eine oder mehrere anonyme Rezensionen von Nietzsches treuem Freund Heinrich Kçselitz geschrieben wurden, der auch die Texte fr das Buchhndler-Bçrsenblatt verfasste. Er versprach Nietzsche brieflich mehrfach Rezensionen, allerdings ohne Erfolgsmeldung, außer der Rezension im Kunstwart. Im Falle Paul Lanzkys ist bekannt, dass er in seinen Erinnerungen eine unauffindbare Rezension nennt. Namentlich gekennzeichnet sind von allen Rezensionen in Schweizer Zeitungen und -zeitschriften zu Nietzsches UB I nur die von Bartholomus Sturzenegger und Heinrich Lang aus der Reform. Zeitstimmen aus der Schweizer Kirche sowie der Artikel von Wilhelm Vischer-Heusler in der Allgemeinen Schweizer Zeitung. Sturzenegger war ein ehemaliger Schler Nietzsches am Pdagogium, Vischer-Heusler und Nietzsche waren in Basel in geselligem Umgang. Nur bei Lang lsst sich kein persçnlicher Kontakt nachweisen, als Herausgeber der Reform leiteten ihn wohl auch berufliche Interessen. Der Artikel „ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ ist mit F.D. gekennzeichnet, Spekulationen ber den Verfasser gab es nicht, auch geben die Initialen keinen Anhaltspunkt. Fr den mçglichen Verfasser des Artikels „Friedrich Nietzsche und sein neuster Kritiker“ in der Schweizer Grenzpost vom 25. 9. 1873 hlt Krummel Theodor Opitz11. Die Besprechung ist eine recht scharfe Erwiderung auf „David Strauß und sein neuester Kritiker“ in demselben Blatt am 15. und 16. 9. 1873. Bis auf die positive Einstellung gegenber Nietzsches Werken und einem Opitz durchaus hnlichen Stil gibt es keine weiteren Hinweise auf Opitz Autorschaft. Die anonyme Rezension der GD in der Allgemeinen Schweizer Zeitung vom 9. 2. 1889 wurde durch Janz Arnold Joneli, dem Redakteur und Herausgeber des Blattes zugeschrieben12. Das zweifelte schon Krummel an.13 Vergleiche der Rezension mit den Artikeln Jacob Mhlys in der Gegenwart vom 7. 9. 1889 und der Allgemeinen Zeitung, Mnchen vom 2. 5. 1889 ber GD zeigen verblffende
11 Krummel (1998), Bd. 1, S. 47 12 Janz (1979), Bd. 3, S. 65 13 Krummel (1998), Bd. 1, S. 165
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Einleitung
Textbereinstimmungen.14 Auch Stil und Wortwahl der Artikel sind sehr hnlich. Auf Mhly als Verfasser deutet auch die biographisch bekannte Tatsache der engeren Bekanntschaft von Nietzsche und Mhly, wird der Verfasser des Artikels doch von der Redaktion einleitend als „Freund des Philosophen“ bezeichnet. Auch die intimen Kenntnisse der Erkrankung Nietzsches und die erwhnte erbliche Herkunft der Krankheit weisen in diese Richtung. Denkbar wre zwar auch, dass ein intimer Kenner von Nietzsches Leben und Werken den Artikel verfasste, der zudem die beiden Rezensionen Mhlys kannte, doch auf wie viele Baseler trfe dies zu? Die Zuschreibung an Joneli scheint jedenfalls hinfllig. Die Verfasserfrage des mit b. f. unterschriebenen Artikels in den Leipziger Grenzboten gilt als ungeklrt. Stil und Rhetorik des Artikels weisen auf Bernhard Fçrster. Ihn rechnete schon Krummel15 unter die mutmaßlichen Verfasser, zu denen er auch den Redakteur der Grenzboten, Hans Blum, und dessen Duzfreund und Mitarbeiter seit 1871, Friedrich Bçttcher zhlte. Auch Gustav Freytag wurde, laut Krummel, von Ronald Hayman ins Spiel gebracht.16 In dessen Buch wird zwar einer der letzten Stze des Artikels Gustav Freytag zugeschrieben: „Wann ist Deutschland jemals grçßer, gesnder, des Namens eines Kulturvolkes wrdiger gewesen als heutzutage?“. Es findet sich allerdings keine nhere Begrndung, die Freytags Verfasserschaft erklrt, auch nicht fr die Diskrepanz zwischen Freytags Initialen und dem Verfasserkrzel. Auch ist der Literaturverweis unvollstndig, er lautet „Grenzboten XXXII, no. 4, 1873“. Der mit b. f. gekennzeichnete Artikel erschien aber in Heft 42 des 32. Jahrgangs der Grenzboten vom 17. 10. 1873. Zudem hatte Gustav Freytag nach einem Zerwrfnis mit dem Verleger Grunow seine Mitarbeit an den Grenzboten bereits 1870 beendet, von 1871 bis 1873 arbeitete er fr die nationalliberale Zeitschrift Im neuen Reich. Im Falle Bernhard Fçrsters kçnnten die im Artikel genannten Kenntnisse ber Nietzsches Berufung „durch ein Kunststck Ritschl’s“ aus den Kreisen der Leipziger Studenten oder der Bekanntschaft der Familien Fçrster und Nietzsche in Naumburg stammen. Letztere ist erst ab 1875 wirklich belegt, muss aber schon frher bestanden haben. Fçrsters Vater war Superintendent in Delitzsch und dieser Superintendent Fçrster hatte 1838 Nietzsches Onkel David Ernst 14 Vgl. etwa „die Nacht unheilbaren Wahnsinns“ (Gegenwart) und die „Nacht des Wahnsinns“ (Allgemeine Schweizer Zeitung), „Welch schçner Geist ist hier zerstçrt“ (Allgemeine Zeitung, Mnchen) und „Welch edler Geist ist hier zerstçrt“ (Allgemeine Schweizer Zeitung). Siehe auch Mhlys Artikel „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche“ in der Gegenwart, 1900, S. 250: „Wie lange Nietzsche im Gedchtnis der Nachwelt fortleben wird, ob diese bei den bekannten Worten in Shakespeares Hamlet: „welch edler Geist ist hier zerstçrt“, sich auch seiner erinnern wird, wie eines Lenau und Hçlderlin – wer vermçchte es zu sagen?„ 15 Krummel (1998), Bd.1, S. 33 16 S. Hayman (1980), S. 161 f, 372.
ber die Verfasser
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Oehler beurteilt.17 Bernhards Vater, der Superintendent Fçrster, starb 1875. Im gleichen Jahr besuchte Bernhard Fçrster, um den 6. 7. 1875, Nietzsche in Basel, und nicht wie lange angenommen sein Bruder Paul Fçrster.18 Inzwischen wird auch davon ausgegangen, dass Bernhard Fçrster der von Gersdorff in einem Brief vom 28. 9. 1873 erwhnte Fçrster ist und eine Bekanntschaft auch mit Nietzsche schon damals bestand. Aber mit den sprlichen Erwhnungen der Fçrsters im Briefwechsel der Familie Nietzsche lsst sich nicht viel belegen.19 Ernst Jckh ging 1909 der Verfasserproblematik nach und befragte den Grenzbotenverlag. Die Redaktion gab an, dass im Honorarbuch Hans Blum als Verfasser angegeben war, dieser aber nie mit b. f. zeichnete. Jckh sprach auch mit Hans Blum, der die Verfasserschaft verneinte. Er hielt es fr wahrscheinlich, dass ein Leipziger Universittsangehçriger ihm den Artikel persçnlich bergeben htte. Die Universitt hatte zu jener Zeit aber niemanden mit diesen Initialen, wie eine damalige Anfrage Jckhs ergab und das historische Dozentenverzeichnis der Universitt Leipzig besttigt. Auch Elisabeth Fçrster-Nietzsche und den damaligen Herausgeber Heinrich Kçselitz konnte Jckh noch mit der Problematik konfrontieren. Beide hielten eine angedeutete Verfasserschaft Bernhard Fçrsters fr unwahrscheinlich, konnten sie aber auch nicht „mit Sicherheit verneinen“20. Elisabeth Nietzsche behauptete, obwohl sie Fçrster nach eigenen Angaben zu der Zeit noch gar nicht gekannt hatte, er wre 1873 ein begeisterter Anhnger der Schriften Nietzsches gewesen. Andere Quellen gehen aber davon aus, dass er erst nach der Lektre der UB II 1874 zu einem solchen wurde.21 Auch Bernhard Fçrsters Bruder Paul Fçrster hielt es fr „nahezu ausgeschlossen“, dass Bernhard Fçrster der Autor des Artikels war, konnte aber auch keine Beweise fr diese Ansicht beibringen. Jckh glaubte, dass der Text hinreichend bewies, dass der Autor „akademischer Dozent“22 sei. Bernhard Fçrster hatte 1869 ber Platon promoviert. Wenn der von Carl von Gersdorff in einem Brief an Nietzsche vom 28. 9. 1873 erwhnte Dr. Fçrster mit Bernhard Fçrster identisch ist, wovon Thomas Mittmann ausgeht, war dieser schon 1873 journalistisch aktiv.23 Gersdorff beschrieb ein Zusammentreffen mit Eduard von Hartmann und einem Dr. Fçrster, der einen sehr lobenden Zeitungsaufsatz ber 17 Janz (1979), Bd. 1, S. 38 f., zur Freundschaft s. a. Ross, Werner (1980), S. 28, s.a. Zumbini, Massimo Ferrari (2003), S. 436 18 Rosmiarek, Ralf (2005), S. 347 19 KGB II/4, Bf. 460, S. 296 f 20 Jckh, Ernst (1909), S. 237 21 Mittmann, Thomas (2006), S. 65 22 Alle Angaben nach Jckh, Ernst (1909) 23 Mittmann, Thomas (2006), S. 66. Die KGB nennt im Index Paul Fçrster als den im Brief erwhnten Dr. Fçrster, allerdings ohne weitere Begrndung und stichhaltige Anhaltspunkte.
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Hartmann geschrieben habe24. Hier schlçsse sich der Kreis, ußerte Hartmann doch 1874: „Das erste Heft von Nietzsches ,Unzeitgemßen Betrachtungen‘ liefert gleichfalls einige treffende Beitrge [zur Kritik an Strauss], schießt aber im Allgemeinen ber das Ziel hinweg, und ist zugleich unerquicklich in formeller Hinsicht“25. Fçrster, den Gersdorff als „illustrirten Zeitungs-Panegyriker von E. Hartmann“26 bezeichnet, htte mit diesem Grundtenor den Artikel schreiben und in Leipzig der Redaktion des Grenzboten anbieten kçnnen, hatte er doch vermutlich gute Kontakte in der Stadt, entweder ber seinen Vater, der Superintendent im nahen Delitzsch gewesen war,27 oder ber seine Berliner Bekanntschaften, wie Eduard von Hartmann oder Hans Herrig, der spter auch im Deutschen Tageblatt schrieb.28 Der Artikel zeigt auch inhaltliche und strukturelle Parallelen zu anderen bekannten Artikeln Fçrsters.29 Es finden sich bereits starke nationalistische Tendenzen wie im letzten Abschnitt des Artikels im Grenzboten: „Wann ist Deutschland jemals grçßer, gesnder, des Namens eines Kulturvolkes wrdiger gewesen als heutzutage?“ und die Technik, Argumentationen aus kurzen Geschichten zu entwickeln, wie in der einleitenden Heine-Anekdote des Grenzbotenartikels oder der Gnsefabel in Bernhard Fçrsters Artikel „Unsere Arbeit, unsere Ziele“30. Bernhard Fçrsters publizistische Ttigkeit ist wenig bekannt, seine von 1880 bis 1888 in den Bayreuther Blttern geschriebenen Beitrge sind weitgehend unbeachtet, genauso wie die Artikel im Deutschen Tageblatt in den Jahren 1881/1882, seine anonymen Artikel in der Deutschen Wacht 1880/81 und sein 1880 erschienener Artikel in den Preußischen Jahrbchern.31 Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass es Bernhard Fçrster war, der 1873 den Grenzbotenartikel schrieb und mit b. f. zeichnete. Ein weiteres Indiz fr Bernhard Fçrster ist trotz der neun Jahre Unterschied zu der Rezension in den Grenzboten ein mit dem Krzel b.f. gezeichneter, kurzer Zeitungsartikel ber Nietzsches Augenleiden und seine Schreibmaschine. Er findet sich im Deutschen Tageblatt, Berlin, Nr. 59, vom 28. 2. 1882.32 In der 24 25 26 27 28 29 30 31 32
KGB II/4, Bf. 460, S. 296 f Hartmann, Eduard von (1874), zitiert nach Wolff, Jean Claude (2006) KGB II/4, Bf. 460, S. 297 Mittmann, Thomas (2006) Schneidewin, Max: Ein Stck aus meinen Lebenserinnerungen. In: Preußische Jahrbcher Bd. 121, 1905, S. 321 Siehe auch den Artikel Bernhard Fçrsters: Der deutsche Prosastil in unseren Tagen in: Preußische Jahrbcher, Bd. 46, 1880, S. 109 – 125 KGB III/7, 3, 2, Bf. 13, S. 889 S. Hein, Anette (1996), S. 85, 220 f Der Artikel findet sich auch im Goethe und Schiller Archiv, ist undatiert und handschriftlich irrtmlich dem Berliner Tageblatt zugeordnet, abgedruckt in: Benders, Raymond/Oettermann, Stephan (Hrsg.) (2000). S. 506. Interessanterweise hat die zweite Spalte nicht Eingang gefunden: „Indessen glauben wir, dass der edle und denkende Gelehrte sich noch zu einer neuen Wandelung seiner philosophischen Auffassung ent-
Die Schweizer Rezensionen
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antisemitisch ausgerichteten Tageszeitung schrieb Fçrster Ende des Jahres 1881 bis Ende 1882 mehrere Artikel, gezeichnet mit B. Fçrster, b.f. und B.F.33 Fçrster lebte 1881/82 in Berlin und war Vorsitzender des neuen Berliner WagnerVereins.34 Er hatte durch seine sptere Frau Elisabeth Nietzsche intime Kenntnisse ber Details aus Nietzsches privatem Leben, wie etwa ber die Schreibmaschine Nietzsches, ein damals seltenes Hilfsmittel. Zudem erwhnte Fçrster in seinen çffentlichen Vortrgen Nietzsche, wie dieser am 17. 3. 1882 an Franz Overbeck berichtete: „denke dir, dass der Dr. B. Fçrster in seinen çffentlichen Vortrgen mich in sehr emphatischen Ausdrcken seinen Zuhçrern prsentirt.“35
Die Schweizer Rezensionen War von den Schweizer Rezensionen zu Nietzsches Werken in der Forschungsliteratur die Rede, handelte es sich um die großen Namen der Schweizer Literatur: Gottfried Keller, Carl Spitteler und Josef Victor Widmann. Ging es um die privaten, brieflichen Reaktionen auf die Bcher Nietzsches, so wurde meist auf den bekannten Jacob Burckhardt verwiesen. Schon einer der ersten Nietzscheforscher, Carl Albrecht Bernoulli, widmete 1908 der „schweizerischen Kritik an Nietzsche“36 zehn Seiten, weitgehend gleich aufgeteilt unter Burckhardt, Keller, Spitteler und Widmann.37 Heinrich Weltis Rezension in der Neuen Zrcher Zeitung fand eine kurze Erwhnung. Dieser Gewohnheit blieben nachfolgende Forscher treu. Janz druckte die Rezensionen von Spitteler (8. 11. 1888) und Widmann aus dem Bund (16./17. 9. 1886, 20./21. 11. 1888) im Wortlaut ab, dazu die anonyme Rezension der GD aus der Allgemeinen
33
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schließen wird. In seinem Alter – er steht Mitte der Dreißiger – pflegt der Deutsche noch nicht ,abgeschlossen‘ zu haben.“ Gerade diese Meinung drfte N amsiert haben, wie er Franz Overbeck am 17. 3. 1882 schrieb: „Ein Bericht des Berliner Tageblattes ber meine Genueser Existenz hat mir Spaass gemacht – sogar die Schreibmaschine war nicht vergessen.“ KGB III/1, Bf. 210, S. 180 Vgl. Fçrster, Bernhard: Die neuesten Entdeckungen Heinrich Schliemanns. Deutsches Tageblatt, Berlin, Nr. 247 vom 10. 12. 1881, S. 1 f. mit Erwhnung Nietzsches: „An die Erreichung dieses schçnen Zieles, die Geburtszeit und Sttte der griechischen Kunst und Kultur zu erkennen, hat sich seit Otfried Mllers vorzglichen Arbeiten manche tchtige Kraft gewagt: ich nenne zwei der edelsten und lesenswerthesten Autoren aus den letzten zwei Jahrzehnten: Gottfried Semper und Friedrich Nietsche [sic].“ Weitere Artikel ber die Reichstagsentwrfe am 4. 7. 1882, ber ein olympisches Museum am 5. 7. 1882 und ber Thierqulerei am 11. 7. 1882. Laut Meldung im Deutschen Tageblatt, Berlin, Nr. 219 vom 12. 11. 1881, S. 2 KGB III/1, Bf. 210, S. 180 Bernoulli, Carl Albrecht (1908), S. 99 – 108 Spittelers Artikel findet sich auch in seinen Gesammelten Werken, Bd. 9, Zrich, 1950
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Schweizer Zeitung vom 9. 2. 188938, vor allem wegen des Hinweises auf die mçglicherweise erblich bedingte Erkrankung Nietzsches. Der Ausstellungsbegleitband Nietzsche und die Schweiz39 beschrnkte sich auf die Thematisierung der Beziehungen Nietzsches zu den berhmten Schweizern Keller, Spitteler und Widmann sowie den privaten Kontakten zu Jacob Burckhardt, Franz Overbeck und Meta von Salis. Abgedruckt sind dort Kellers Briefwechsel mit Nietzsche im Wortlaut, Spittelers Gesamtwrdigung Nietzsches im verkleinerten Faksimile sowie der Artikel Widmanns ber Nietzsches JGB im Faksimile. Die Kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken verçffentlichte erstmals 2003 in einem Nachberichtsband zur dritten Abteilung im Wortlaut mehrere Rezensionen zu Nietzsches JGB, GD und WA. Hier finden sich, geschuldet der zeitlichen Orientierung der Abteilung, die schon mehrfach verçffentlichten Artikel Spittelers und Widmanns aus dem Berner Bund sowie die Besprechung Heinrich Weltis aus der Neuen Zrcher Zeitung40. Die Rezensionen in den Schweizer Tageszeitungen dagegen fanden in der Nietzscheforschung kaum Beachtung. Nur der Artikel ber Nietzsches ZA aus der Schweizer Grenzpost wurde in der BA abgedruckt und wiederum in der KGW von 1998.41 Der zweite zugngliche Artikel ist die schon erwhnte Rezension der GD aus der Allgemeinen Schweizer Zeitung, erstmals wiederabgedruckt in Janz.42 Alle anderen 12 Artikel aus dem Schweizerischen Volksfreund, der Schweizer Grenzpost, den Basler Nachrichten, der Allgemeinen Schweizer Zeitung und der Reform. Zeitstimmen aus der Schweizer Kirche finden sich zwar als Literaturangabe mit einer kurzen wertenden Inhaltsangabe versehen in Krummel43, wiederabgedruckt wurden sie aber nicht. Nietzsche nennt die Anzahl von fnf und neun Artikeln in seinen Briefen fr die im September und Oktober 1873 erschienenen Basler Artikel ber die UB I. Diese Zahlen sind nicht ohne weiteres mit den aufgefundenen Rezensionen in Einklang zu bringen. Am 27. 9. 1873 berichtet Nietzsche seinem Freund Carl von Gersdorff von fnf Rezensionen. In dem Zeitraum erschienen in den Schweizer Zeitungen aber nur vier, eine davon allerdings zweiteilig an zwei aufeinander folgenden Tagen. Nietzsche rechnete wohl die Anzahl der Zeitungen zusammen und zhlte die in zwei Nummern erschienene Rezension vom 15. und 16. 9. 1873 als zwei Artikel. Dies wiederholt sich auch in der Angabe von neun Artikeln am 18. 10. 1873. Diese Zahl lsst sich auch nur
38 39 40 41 42 43
Janz, Curt Paul (1979), hier Folgeauflage 1994, Bd. 3, S. 257, 277, 282, 309 Hoffmannn, David Marc (Hrsg.) (1994), S. 103ff, 123ff, 138 f KGB III/7,3,2, S. 871ff, S. 961ff, S. 1038ff, S. 1048ff HKGW, Bd. 3, S. 460, KGB II/7,1, S. 648 f Janz, Curt Paul (1979), Bd. 3, S. 309 Krummel, Richard Frank (1998), Bd. 1
Nietzsches Stellung zu den Rezensionen
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durch den in zwei Nummern aufgeteilten Artikel vom 6. und 7. 10. 1873 erreichen.44
Nietzsches Stellung zu den Rezensionen Noch vor Verçffentlichung der GT ahnte Nietzsche, dass es seine Schrift schwer haben kçnnte: „Ich frchte immer, dass die Philologen es der Musik wegen, die Musiker der Philologie wegen, die Philosophen der Musik und Philologie wegen nicht lesen wollen und bekomme dann fr meinen guten Fritzsch [den Verleger] Angst und Mitleid“45, schrieb er am 23. 11. 1871 an seinen Freund Erwin Rohde. Die Befrchtungen waren nicht unbegrndet. Eine scharfe und unerbittliche Rezension des Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf vom 30. 5. 1872 ließ das Werk in Fachkreisen in Misskredit geraten. Erwin Rohdes heftige Erwiderung und die gut gemeinte, aber insgesamt eher ungeschickte Verteidigung Richard Wagners am 23. 6. 1872 in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung verschrften die Fronten nur noch. Nach dem çffentlichen Schlagabtausch wurde das Buch weitgehend ignoriert.46 Sogar Nietzsches Ansehen als Universittslehrer litt unter der Debatte. Im Wintersemester 1872/73 hçrten nur zwei Studenten seine Vorlesungen. Geprgt von diesen Erfahrungen wirkt Nietzsches Umgang mit den Rezensionen zur UB I eher vorsichtig, aber er berichtete doch recht stolz von der Anzahl der Zeitungsartikel in Basel. Vielleicht hoffte er anfangs noch auf einen Publikumserfolg seiner von Wagner motivierten Schrift gegen den angesehenen und liberalen Theologen David Friedrich Strauss,47 dessen Buch Der alte und der neue Glaube einen reißenden Absatz erlebt hatte und im Jahr der Verçffentlichung sechs Neuauflagen erreichte. Doch die meisten Rezensenten reagierten kritisch auf Nietzsches Werk, der Artikel in den Grenzboten vom 17. 10. 1873 zeitigte wiederum recht direkte Auswirkungen und wurde zum Tagesgesprch in der Basler Universitt. Die Benennung als „Winkeluniversitt“ machte die Runde. Nietzsche wurde auf Konferenzen und bei zuflligen Treffen angesprochen und hatte nach eigenem Bekunden Mhe, die Basler zu beruhigen und von „Schritten“48 abzuhalten. Nietzsches anfnglicher Stolz ber çffentliche Rezensionen seiner Bcher wich im Laufe der Jahre einer zunehmenden Ernchterung durch eine Vielzahl kritischer Artikel, nicht nur in der Schweiz. Einige Kritiker wie Wilamowitz 44 Nicht gnzlich ausschließen lsst sich allerdings auch die Mçglichkeit nicht aufgefundener Artikel. 45 KGB II/1, Bf. 170, S. 248 46 Vgl. auch Schaberg, William H. (2002), S. 46ff 47 Vgl. Bollinger, Andrea/Trenkle, Franziska (2000), S. 40 48 KGW VI/3, S. 315
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oder der mit b.f. zeichnende Verfasser des Grenzbotenartikels schreckten vor drastischen Aussagen nicht zurck, die Nietzsche durchaus krnkten. Aufgrund dieser Erfahrungen reagierte er auf die Artikel immer desillusionierter. Er scheute die inhaltliche Auseinandersetzung, genauso wie er dazu neigte, die Reaktionen der Freunde zu seinen Gunsten auszulegen. Besonders deutlich zeigt sich dies an den Reaktionen Jacob Burckhardts, der seine Meinungen ber Nietzsches Bcher schçnfrberisch umschrieb, um den ihn verehrenden Nietzsche nicht zu brskieren. Am Ende fhlte sich Burckhardt nicht nur verlegen ber die immer wieder zugesandten neu erschienenen Werke mit verehrenden Begleitschreiben, sondern geqult von Nietzsches Schriften, wie sein Lieblingsschler Heinrich Wçlfflin berichtete.49 Erst als der von Nietzsche geschtzte Journalist Josef Victor Widmann 1886 JGB in spektakulrer Art im berregionalen Berner Bund besprach, zeigte sich Nietzsche wieder begeistert und kokettierte in vielen Briefen mit den mçglichen Folgen der Rezension. Wie schon bei den Artikeln zur GT und UB I geschehen, befrchtet er, mehr oder weniger ironisch, direkte Auswirkungen auf seine Lebensumstnde: „Ein Aufsatz des Dr. Widmann im Bund (vom 16. und 17. Sept., lies ihn!) gab mir die Besorgniß, dass das Auge aller Art Polizei auf mich vorzeitig gelenkt werde; der Titel des Aufsatzes war ,Nietzsches gefhrliches Buch‘“.50 Doch Nietzsches anfngliche Begeisterung ber den Artikel verebbte schnell, und er brachte sein Fazit ber die Rezensionen in einem Brief an Heinrich Kçselitz vom 7. 3. 1887 zum Ausdruck: „Ich habe es noch nicht einmal zu Widersachern gebracht; seit 15 Jahren ist berhaupt ber keines meiner Bcher eine tief gemeinte, grndliche, sach- und fachgemße Recension erschienen“.51 Daran ndern auch weitere Artikel nichts. Am 10. 10. 1887, ein gutes halbes Jahr spter, schrieb er an seine Mutter: „Ich fand hier beieinander, was in den deutschen Zeitschriften Alles ber mein letztes Buch gedruckt worden ist: ein haarstrubendes Kunterbunt von Unklarheit und Abneigung.“52 Auch die 1888 erschienene Gesamtbesprechung durch Carl Spitteler, wiederum im Berner Bund, fand nur anfangs Nietzsches Zustimmung. Im Oktober 1888 bewertete er die Rezensionen von Widmann und Spitteler in seinem letzten Werk EH geringschtzig: „Zuletzt war es nicht Deutschland, sondern die Schweiz, die die zwei extremen Flle geliefert hat. Ein Aufsatz des Dr. V. Widmann im ,Bund‘, ber ,Jenseits von Gut und Bçse‘, unter dem Titel ,Nietzsche’s gefhrliches Buch‘, und ein Gesammt-Bericht ber meine Bcher berhaupt seitens des Herrn Karl Spitteler, gleichfalls im ,Bund‘, sind ein 49 50 51 52
Rattner, Josef (2000), S. 255 KGB III/3, Bf. 761, S. 264 KGB III/5, Bf. 814, S. 40 KGB III/5, Bf. 924, S. 165
Nietzsches Stellung zu den Rezensionen
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Maximum in meinem Leben – ich hte mich zu sagen wovon … Letzterer behandelte zum Beispiel meinen Zarathustra als hçhere Stilbung, mit dem Wunsche, ich mçchte spter doch auch fr Inhalt sorgen; Dr. Widmann drckte mir seine Achtung vor dem Muth aus, mit dem ich mich um die Abschaffung aller anstndigen Gefhle bemhe. Durch eine kleine Tcke von Zufall war hier jeder Satz, mit einer Folgerichtigkeit, die ich bewundert habe, eine auf den Kopf gestellte Wahrheit: man hatte im Grunde Nichts zu thun, als alle ,Werthe umzuwerthen‘ um, auf eine sogar bemerkenswerthe Weise, ber mich den Nagel auf den Kopf zu treffen – statt meinen Kopf mit einem Nagel zu treffen.“53 Den Ton des letzten Werkes, genauso wie die Briefe Nietzsches kurz vor seinem Zusammenbruch in Turin, bezeichnet Schaberg als „fiebrig“, der Freund Heinrich Kçselitz hielt die Schrift ohne Krzungen fr nicht verçffentlichungswrdig.54 All diese kritischen Stimmen waren aber bald nicht mehr entscheidend, sondern eine „huflattichartig wuchernde“55 Nietzscheliteratur bestimmte bald nach dem Bekanntwerden von Nietzsches Zusammenbruch 1890 die çffentliche Meinung ber den Philosophen. Jacob Mhlys Prophezeiung am Ende seines Artikels in der Gegenwart vom 7. 9. 1889 bewahrheitete sich nun: „Die Erinnerung an ihn wird aber nicht so bald in Nacht versinken; wenn sie, als Geschichte, die Thaten und Werke der Menschen bucht, wird sie am ,Fall Nietzsche‘ nicht stumm vorber gehen“.
53 KGW VI/3, S. 298 54 Schaberg, William H. (2002), S. 250. Hoffmann, David Marc/Peter, Niklaus/Salfinger, Theo (Hrsg.) (1998), S. 241 55 Franz Overbeck an Heinrich Kçselitz am 18. 9. 1893. In: Hoffmann, David Marc/Peter, Niklaus/Salfinger, Theo (Hrsg.) (1998), S. 380
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Das Florentinische Tractat ber Homer und Hesiod
Flach, Hans: Der Florentinische Tractat ber Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf, von F. Nietzsche. In: Jahresbericht ber die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaften. Berlin, Bd. 1, Ende September/Anfang Oktober 1873, S. 613–620. Der Florentinische Tractat ber Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf, von F. Nietzsche. Rhein. Museum 1870 S. 528 – 540, 1873 S. 211 – 249. Der Verfasser, der die Ehre hatte, Ritschl’s Acta Societatis Philol. Lipsiensis 1871 mit einer neuen Ausgabe des Certamen, die genau nach nochmaliger Collation der Florentiner Handschrift veranstaltet war, zu erçffnen, giebt in diesen beiden Artikeln kritische Aufschlsse ber die Form des Wettkampfs, ber den Rhetor Alkidamas als Urheber des Wettkampfs, ber das Museum dieses Rhetors, ber die Resultate, die daraus fr das Leben Hesiod’s zu gewinnen sind, und ber die Ueberlieferung des Textes. Nietzsche beweist also zunchst, dass die Form des Wettkampfs, wie sie in unserm Tractat vorliegt, Spuren einer excerpirenden Thtigkeit zeigt, dass es also eine vollstndigere Form desselben gegeben haben muss. Ausserdem wird als Beweis fr das c]mor Jsi|dou von Joh. Tzetzes angefhrt, das bei der Schilderung des Wettkampfs (S. 47 Westermann, S. 17 Gaisford) eine Quelle hatte (vermuthlich dieselbe, wie der Verfasser des Certamen), in der „eine weit grçssere Zahl von Versen als das Schçnste der homerischen und hesiodischen Poesie hervorgehoben war, etwas was gewiss an sich natrlicher und wahrscheinlicher ist als die Darstellung im Florentinischen Tractat“. Der Tractat aber bietet einen Anhaltepunkt fr dieses Excerpiren, da in der citirten homerischen Stelle von II. XIII, 133 auf 339 gesprungen wird, in der hesiodischen aber die nothwendigen Schlussverse Opp. 392 – 395 gar nicht citirt werden, so dass die Vermuthung nahe liegt, dass im vollstndigen Wettkampf II. XIII. 126 – 344 angefhrt war „die Aufreizung der beiden Aias durch Poseidon und das darauf folgende Schlachtenbild“, von Hesiod aber mindestens Opp. 383 – 694, d. h. die Vorschriften ber Landbau und Schifffahrt. Abgesehen von dieser Unvollstndigkeit enthlt aber der Tractat die ausfhrlichste Schilderung jenes Wettkampfs. Vortrefflich ist die Behandlung der abweichenden Schilderung des Wettkampfs im Pseudoplut. Conviv. Sept. Sapientum. „Jedenfalls erkennen wir in seiner Erzhlung entweder eine willkrliche oder unwillkrliche Entstellung und Verdre-
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hung jener einzigen Urform, deren deutlichstes Bild wir im Florentinischen Tractat erkennen“ und so neigt Nietzsche Cap. 10 zu Bergk’s Verbesserung der Stelle ja· pqo¼bakom b l³m LoOsa u.s.w., statt der Ueberlieferung ja· pqoub\kolem, ¦r vgsi K]swgr oder andern weniger wahrscheinlichen Conjecturen zu folgen. – Was den zweiten Punkt anbetrifft, so wird zuerst gezeigt, dass der Verfasser unseres Tractats, der nach Hadrian’s Zeit gelebt hat, nicht Dichter des Wettkampfs ist, sondern Referent, „der im ersten Abschnitt (ber Heimath, Eltern und Zeit) kurz die verschiedensten Ansichten neben einander stellt, alles Folgende aber nach einer einzigen Quelle erzhlt (nur bei dem Tode Hesiod’s wird eine abweichende Version berichtet)“. So stellt sich Nietzsche in diametralen Gegensatz zu den bisherigen Kritikern des Certamens, „die Selbstndigkeit liegt in dem Nebeneinanderstellen von gelehrten Ansichten in der Einleitung, das Folgende ist einfach abgeschrieben (doch in verkrzter Form)“. Die Selbstthtigkeit des Autors zeigt sich bei der Schilderung vom Tode Hesiod’s, wo ein gelehrtes Zeugniss angefhrt wird, und zwar )kjid\lar 1m Louse_\, und als Gegenzeugniss 9qatos¢]mgr 1m Jsi|d\. Der Verfasser nimmt weiter an, dass Alkidamas nicht nur als Quelle fr den Tod Hesiod’s citirt wird, sondern dass er Urheber der grossen eingeschobenen Doppelvita (die ihren Kernpunkt in der Erzhlung des !c~m hat) ist, und dass dies richtig ist, beweist das Citat des Stobaeus flor. ecl. 120, wo 1n )kjid\lamtor Louse_ou zwei Verse citirt werden, die auch im Tractat vorkommen. Aus der Eigenschaft des Improvisirens, welche der Rhetor Alkidamas so stark gegen Isokrates betont, wird nun der natrliche Schluss gezogen, dass der erstgenannte Rhetor wirklich Verfasser des Wettkampfs gewesen ist, dessen Pointe etwa darin wurzelte, dass „der Nichtstegreifredner nur durch Ungerechtigkeit siegen kann“. Nietzsche erkennt daher in unserm Machwerk nicht nur den Typus der Gorgianischen Beredsamkeit, sondern auch Gorgianische Form, Ausdrcke und den naiv-ethischen Charakter seiner Philosophie. Nach einer glcklichen Widerlegung Ernst’s v. Leutsch, welcher, Philologus 30 S. 202 ff., bestritten hatte, dass die beiden von Stobaeus citirten Verse im Museum des Alkidamas gestanden haben, wendet sich der Verfasser zu der Erklrung des louse?om, wobei ihm als Hauptbeweis fr den vollstndigen Titel der Schrift des Alkidamas dient Arist. Rhetor. III c. 3. Dort werden die Worte ja· oqw_ louse?om !kk± t¹ t/r v}seyr paqakab½m louse?om gegen Vahlen’s Deutung so erklrt, dass paqakab~m Wort des Aristoteles ist und abhngig von oq c±q Bd}slati wq/tai ()kjid\lar), d. h. Alkidamas sagt nicht louse?om sondern t¹ t/r v}seyr louse?om „Schule des Talents“ (wobei aber nach meiner Meinung im Text des Aristoteles wenigstens eine Umstellung der Worte paqakab~m und louse?om nothwendig ist), Die Bedeutung louse?om = Schule wird durch Beispiele der gleichzeitigen Litteratur bewiesen. Hier ist eine Schule der Rede gemeint. „Es ist jener Wettkampf das grosse Einleitungsstck im Lehrbuch des Alkidamas, in dem durch das berhmteste mythische Exempel
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das Wesen der Gorgianischen Beredsamkeit als uralt dargestellt werden sollte. Der grçsste und weiseste Dichter, Homer, wird als Zeuge und Reprsentant jener Kunst des Extemperirens swedi\feim, der Redemanieren di± bqawut\tym, di± cmyl_m di’ aQmicl\tym u.s.w. vorgefhrt, nach der auch sonst blichen Sitte der grossen griechischen Neuerer und Entdecker, sich durch Homer gleichsam sanktioniren zu lassen“. – „Die ganze Anordnung nach rhetorisch-sophistischer Manier zeigt, wie frei Alkidamas hier erfunden hat. Zuerst die Frage: was ist fr Sterbliche das Beste und was gilt ihnen dafr? Dann die Lçsung von !poq_ai, dann die !lv_bokoi cm_lai dann das Rechenexempel, wie viele Griechen waren bei Troja? durch ein neues Multiplikationsexempel beantwortet, dann Probleme ethischer Art di± bqawut\tym gelçst, endlich t¹ j\kkistom 1n t_m Qd_ym poigl\tym alles Zeugnisse fr die Geistesgegenwart des Improvisators Homer – diese ganze Anordnung verrth die Nachwirkung des Gorgias – und nichts drfte unwahrscheinlicher sein, als dass dies alles ein Auszug aus einem alten epischen Gedichte sei, wie dies Bergk einmal angenommen hat“. Diese Hypothese Nietzsche’s ber die Urheberschaft des !c¾m ist ebenso geistreich wie khn und hat ausserdem vor den andern ausgesprochenen Vermuthungen Sauppe’s, Vahlen’s und Bergk’s das eine voraus, dass sie zweifellos die grçsste Wahrscheinlichkeit enthlt; ich habe daher keinen Augenblick Bedenken getragen, sie fr erwiesen anzunehmen. Ausgezeichnet scheint mir auch die Vermuthung, dass Diog. Laert. VIII 56 fr )kjid\lar d’ 1m t` vusij` zu lesen sei 1m t` v}seyr louse_\. Weniger gelungen, weil in den Einzelheiten grçssere Zweifel erregend, erscheint uns der folgende Abschnitt ber den Tod Hesiod’s nach der Darstellung des Alkidamas. Der Verfasser geht von der gewiss richtigen Thatsache aus, dass aus der ganzen Rolle, welche dem Hesiod im Wettkampf zugetheilt ist, sich die grosse Abneigung des Rhetors gegen den Dichter ergiebt, der es auch zuzuschreiben ist, dass nach seiner Darstellung die Brder der geschndeten Ktimene mit ihrem Verdacht im Rechte waren. Nach Alkidamas, den Aristoteles 1m t0 iqwolem_ym pokite_ô benutzt, war Stesichoros ein Sohn des Hesiod, nach andern, z. B. Cicero de rep. 2, 10, ein Enkel, d. h. Sohn der Chariepe (wie schol. Opp. 268 zu verstehen ist), der Tochter der verfhrten Ktimene. „Es scheint demnach, dass alle Ueberlieferungen in Betreff des Vaters des Stesichoros (oder der Mutter) an Hesiod anknpfen, entweder direkt, insofern sie Hesiod geradezu als seinen Vater bezeichnen, oder mit gemildertem Anachronismus, indem sie Hesiod zum Grossvater des Stesichoros machen. Der Name des dazwischen stehenden Hesiodkindes schwankt; aber alle Varianten umschreiben den Begriff ,Snger‘, der als der wohl redende, anmuthig sprechende, schçn tçnende, Ruhm verleihende charakterisirt wird“. Gegen diese Darstellung Nietzsche’s hat F. Susemihl in Fleckeisen’s Jahrbchern 1874 S. 660 ff. mit Recht Protest erhoben. „Nietzsche’s Bemerkung, Rose scheine zu glauben, dass unter Stesichoros, dem Sohne Hesiod’s, ein beliebiger anderer Stesichoros zu verstehen sei, nur nicht der
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Meliker, den doch das ganze Alterthum meinte, ist ein gewaltiger Missgriff; oder weiss uns Nietzsche etwa zu sagen, welche bestimmte historische Personen denn unter Mnaseas, Euepes, Archiepes u.s.w. oder der Archiepe oder Ghariepe zu verstehen seien, die doch mit Stesichoros ganz auf einer Linie stehen? Soll etwa Mnaseas der lokrische Dichter dieses Namens sein?“ Gerade Nietzsche hat treffend bemerkt, dass es ja erst eine spte Umdeutung sei, die den Euepes oder Eukleides u.s.w. zum Vater oder die Archiepe oder Ghariepe zur Mutter des Stesichoros, den Hesiodos aber erst zu seinem Grossvater machte, um den Anachronismus zu verkleinern. Dieser Anachronismus entstand aber eben erst, indem man die Sache genau auf den berhmten Lyriker Stesichoros bezog. Folglich haben wir hier ursprnglich keine historische Sage und keine auch nur sagenhaften Persçnlichkeiten, sondern eine etymologische litteraturgeschichtliche Allegorie und deren abstracte Personificationen vor uns, wie sie uns in den Nachrichten ber griechische Dichter und Schriftsteller so zahlreich begegnen. Der „Dichter“ hat denjenigen zum Sohn, der seine Dichtungen irgendwie zum Vortrag bringt, den „gedchnisstarken“, den „wohlredenden“ oder „schçnsingenden“, den „Chorsteller“. Bei der weiteren Darstellung Nietzsche’s scheint mir das Motiv, warum Alkidamas die Mçrder Hesiod’s, nmlich die Brder der Ktimene, nach Kreta entkommen lsst – „dort wrde ihre That gebilligt worden sein, dort in dem sittenstrengen Kreta, dem Heerde der Frauenverehrung“ – weit hergeholt und unwahrscheinlich. Ich habe in dem genannten Aufsatz, Hermes VIII S. 465, diese Flucht einfacher und natrlicher in Zusammenhang gebracht mit dem Ariadnefest, bei welchem der Mord begangen wurde, wie ich berhaupt den Nachweis zu fuhren versucht habe, dass alle Undeutlichkeiten und Widersprche in dem letzten Theil der Biographie Hesiod’s darauf zurckzufhren sind, dass zwei Sagen existirten und vermengt wurden, eine opuntische und eine ozoliche. Auch die Verbesserungen Nietzsche’s habe ich ausfhrlicher besprochen und mit Anerkennung der meisten, die eine 1p· t0 pqoeiqgl]m, aQt_ô !mek|mtar (fr !mek¢|mtar) zurckgewiesen. – Einen entschiedenen Gegensatz zur Schilderung des Alkidamas bildete die Darstellung des Eratosthenes in seinem Gedicht Js_odor C )mteqim}r (fr welchen Titel brigens im Certamen O. Schneider in den Jahrbchern fr class. Philologie 1873 S. 220 verlangt 1m 1piwgde_\ sc. Js_odou d. h. nicht einen Titel; sondern Inhaltsangabe); „hier ist alle Schuld vom Dichter genommen, dagegen die Frevelthat der Mçrder, sammt ihrer Bestrafung, nach dem Vorbilde der Kraniche des Ibykus, und mit der gleichen moralischen Absicht in den Vordergrund gerckt. Es war desshalb von dem Urheber unseres Certamen (oder seiner Quelle) recht gethan, neben die Erzhlung des Alkidamas, in der Hesiod so schlimm bedacht war, die rektifizirende Darstellung des Eratosthenes zu setzen“. Wenn Nietzsche aber betont, dass der Verfasser des Convivium sept. sapientium – gleichviel ob Plutarch oder ein anderer – Eratosthenes und ihn allein als Quelle fr seine Erzhlung kennt,
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und dass nicht die geringste Diskrepanz zwischen jenem Bericht und unserm im Certamen erhaltenen brig bleibt, so hat Susemihl a.a.O. mit Rcksicht auf Hiller, Eratosthenis carminum reliquiae S. 85 mit Recht gezeigt, dass solche Differenzen doch vorhanden sind, da nach Plutarch die Mçrder lebendig in’s Meer gestrzt, nach Eratosthenes vom Seher Eurykles den gastlichen Gçttern geopfert worden. Die grçsste Verschiedenheit zwischen der Darstellung des Alkidamas und des Eratosthenes erkennt Nietzsche darin, dass dort die Mçrder Amphiphanes und Garnyktor Sçhne des Phegeus sind, hier Etimenos und Antiphos, Sçhne des Ganyktor, wonach der Hesiod des Eratosthenes ungefhr dreissig Jahre spter als der des Alkidamas gelebt haben muss, Ausfhrlich ist die folgende Besprechung der Ereignisse nach dem Morde, ber die geographische Bestimmung des Ortes bei Naopaktos an der Mndung des Mornopotamos und ber die Episode mit des Dichters Hund, wobei jedoch wieder die unwahrscheinliche und von mir a.a.O. S. 464 ausfhrlich besprochene Conjektur gemacht wird, dass der korinthische Meerbusen im Certamen genannt war t¹ letan» t/r Boiyt_ar (fr Eqbo¸ar) ja· t/r Kowq_dor p]kacor. Die Thesen, welche Nietzsche am Schluss dieses Abschnittes aufstellt, sind folgende: 1) Der Erzhlung des Alkidamas ist durchaus Aristoteles gefolgt, der in der pokite_a iqwolem_ym Tod und Begrbniss Hesiod’s nach dem Museum des Alkidamas referirte. 2) Gar nichts mit Aristoteles und Alkidamas hat der Bericht im Convivium zu thun: dieser ist vielmehr der Dichtung des Eratosthenes nacherzhlt und kann also sammt Plutarch De sollert. anim. und Pollux benutzt werden, um das Bild jener Dichtung wiederzugewinnen. 3) Der Verfasser des Certamen hat das Convivium sept. sap. nicht benutzt (whrend Rose behauptet, das Convivium sei die wesentliche Quelle fr den auctor certaminis). 4) Job. Tzetzes schçpft nicht direct aus unserem Certamen, sondern hat mit ihm eine verloren gegangene Schrift, beispielsweise etwa die _stoq_ai des Pergameners Charax, gemeinsam benutzt. Im letzten Theile der Abhandlung wird zuerst die durch V. Rose wiederentdeckte Handschrift – codex Laurentianus, plut. LVI c. 1, – die Michael Apostolios nach Italien brachte und H. Stephanus wahrscheinlich im Jahre 1553 benutzte, genauer beschrieben. Dann wendet sich der Verfasser zu der eigenhndigen Abschrift des H. Stephanus, die sich in Leyden befindet, und bei welcher er zwei Tinten unterscheidet, die eine des Textes, die andere in den Randnoten. Diese eigenhndige Abschrift ist fr die editio princeps in der Druckerei benutzt worden; sie erschien in Genf 1573. Die Ausgabe Nietzsche’s an der oben angefhrten Stelle hat den von jetzt ab massgebenden Apparat, d. h. die E. Rohde’sche Collation des Florentinus; und um die Geschichte des Textes, insbesondere die Leistungen Stephanus’, in’s Licht zu setzen, ist soviel aus dem apographum Leidense (S) und der editio princeps (E) aufgenommen, um Versehen des Stephanus als Versehen, Conjekturen als Conjekturen erkennen zu lassen. Dann kommen nachtrgliche Verbesserungen und Erklrungen jener
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Ausgabe und einzelner Stellen, welche gleich vortrefflich sind, und wir kçnnen dem Verfasser nur beistimmen, wenn er sagt: „Ueberhaupt sind mehrere litterarhistorisch bedeutsame Angaben des Certamen und insbesondere der Begriff und die Geschichte der ganzen Wettkampf-Vorstellung noch werth, ernstlich berlegt zu werden; wozu freilich frher, so lange das Vorurtheil gegen dies Schriftchen herrschte, nichts auffordern mochte. Wir scheiden von der Abhandlung, die eine bedeutende Stellung in der Hesiodlitteratur einnimmt, mit der Hoffnung, dass der begabte Verfasser seine am Schluss ausgesprochenen Plne in Betreff einer Auseinandersetzung der hesiodisch – homerischen Verwandtschaftslisten recht bald realisiren und seiner jetzigen Zukunftsmusik und Zukunftsphilologie den Rcken kehren mçchte.
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Certamen quod dicitur Homeri et Hesiodi e codice Florentino post Henricum Stephanum
Anonym [Schçll, Rudolf ]: Kleinigkeiten. In: Hermes. Zeitschrift fr classische Philologie. Berlin, Bd. 7, 1873, S. 231–235. Kleinigkeiten. 2. Was eine Variante ist, scheint bei den Fortschritten unserer philologischkritischen Routine eine nicht aufzuwerfende Frage: dennoch berechtigt manches neuere und neueste Beispiel kritischer Apparatsammlung zu der Bitte an die Herausgeber, sich jene Frage vor der Verçffentlichung mçglichst bestimmt zu beantworten. Im ersten Heft der von Ritschl edirten „Acta Societatis philol. Lipsiensis“ hat F. Nietzsche die Schrift peq· jl^qou ja· Jsi|dou ect. mit stattlichen Varianten neu herausgegeben. Der Apparat besteht 1) aus der Florentiner Handschrif t (F), der einzigen, welche den Tractat berliefert, 2) aus der jetzt in Leiden bef indlichen Abschrif t dieser Handschrift (S), welche H. Stephanus angefertigt hat, 3) aus dem Abdruck dieser Abschrif t (E) in der Genfer Ausgabe des Stephanus von 1573. Warum nicht noch 4) der Gçttlingsche Wiederabdruck dieses Abdrucks verzeichnet ist, darf billig Wunder nehmen: indess ersieht man aus Angaben wie Z. 88 ‘¢us_air] apud Gçttlingium excidit’ mit Beruhigung, dass der Herausgeber sich auch dieses kritische Hilfsmittel nicht hat entgehen lassen. Mit seltener Gewissenhaftigkeit notirt nun Nietzsche die Varianten seiner Quellen. Man lese gleich den Titel ‘F peq· bl^qou ja· Bsi|dou (ou correctum ex y) ja· toO c]mour ja· !c_mor aqt_m. S peq· jl^qou ja· Jsi|dou ja· toO c]mour ja· !c_mor aqt_m : idem rubr. in marg. et primis quidem quattuor vocibus litteris maiusculis expressis. In marg. infra legitur a la 3* P%QC TOU˜ )CYMOC jL4 …. . , a la 2* P%QC jL4QOU JAC J C IbDOU . E ut S : ultima tantum quattuor verba litteris minusculis expressa sunt’. Oder weiter allerlei berechtigte Eigenthmlichkeiten aus Stephanus Apographum, wie Z. 242 ‘ -sjqg j S +sgjqg , rubr. %sjqg’, oder
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299 ‘eQr W_om \ F 1r w_om, S 1sw_om, in marg. 1r w_om’; F. 35 ‘1stim \ S K, supra scr. rubr. 1stim’, 29 ‘Verbis oR pgqo· jakoOmtai in S explicit f. 190, jakoOmtai incipit f. 191’ und Aehnliches mehr. Auch den Consensus von FSE constatirt der Herausgeber regelmssig, wohl nach dem guten alten Satz, dass drei Zeugen mehr sagen als einer. So, um beliebig herauszugreifen, 215 ‘fsom j fsgm FSE et Gçttlingius’. 219 ‘OQm|gm j FSE OQm|gm. OQm e _ ma Westermannus mavult’. 154 ’Versus deest in F . . . . Qui vulgo hic legitur, eumoum eWmai …. , per se minime aptus ( ? ) Stephani manu hunc locum obtinuit. In S versus ut in F omittitur, sed in marg. asteriscus extat et iuxta Stephani nota „hic ponendus versus eumoum“. Etiam in E versus hic interpositus legitur’. 201 ‘ paq± t¹ pqos/jom j F p% t¹ pqos/jom et sic S: rarius compendium paq± praepositionis’ (!) Bemerkenswerth auch 128 ‘ to?sim j S to?si , in F to?siû . Vielleicht war es der Entsagung eines Editors zu viel zugemuthet, die von ihm selbst gefertigte Collation einer Abschrift nur deshalb zu unterdrcken, weil diese neben dem noch vorhandenen Original werthlos ist. Vielleicht meinte er auch, die Copie behalte neben der an manchen Stellen beschdigten Urschrift doch eine secundre Geltung ? Indessen lsst sich gerade von den beschdigten Stellen aus viel mehr der Nachweis fhren, dass H. Stephanus die Handschrift F in genau demselben Zustand vor sich hatte, wie wir sie heute finden. In der Notiz ber den Vater Homers (Z. 18 f.), las Stephanus im Codex : :kk\mijor l³m c±q ja· Jke\m¢gr b_oma k]cousim, und nderte den Namen willkrlich B_yma. Auch Nietzsche giebt b_oma als Lesart des Florentinus an nach einer neuen von E. Rohde besorgten Vergleichung. Allein der erste erkennbare Buchstabe ist kein u (= b ), wofr man ihn bei flchtiger Ansicht nehmen kann, sondern ein noch deutliches a, vor demselben aber ist am Zeilenanfang (denn mit diesem Namen beginnt f. 16 der Handschrift) ein Buchstabe jetzt ganz verwischt. Man darf also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass das richtige la_oma, welches zuerst Sturz hergestellt hat, schon in der Handschrift stand. Auch die folgenden Namen sind theilweise zerstçrt. In Eqca_ym war der dritte verlçschte Buchstabe wahrscheinlich j , kaum c , sicher kein l , wie Stephanus setzte. Nach Jakkijk/r d³ giebt St. l . sarºq , Nietzsche l . t (oder j oder i) a . oq . an. Im Fiorentinus steht lasac|q noch hinreichend lesbar bis auf den zweiten Buchstaben, der aber nur a gewesen sein kann; also Lasac|qam (Dlasac|qam wollte Barnes). Dass vor Tqoif¶mior ein Buchstabe zerstçrt scheint, wohl b, habe ich ebenfalls angemerkt. Nocqallat]a in der folgenden Zeile (ohne den ersten ganz abgeriebenen Buchstaben) notirte schon Stephanus. Auch die entsprechenden Stellen der Rckseite f. 16 v. haben gelitten : u. A. ist der erste Strich des p von pamo_dgr (nicht tamo_dgr !) Z. 66 mit der zweiten Silbe des vorhergehenden
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aqt_m zerstçrt, was die irrthmliche Schreibung des Stephanus camo_dgr
veranlasst hat. Aehnlich erklren sich Versehen der Abschrift, wie 235 ¢lo?r und weiter ¢eslo?r fr ¢( e ) o?r des Codex, 282 !s¸gm fr !s_(m)gm aus zuflliger Beschdigung des Originals. Die Angaben Nietzsche’s zu Z. 92 und 113 sind incorrect und gar nicht zu verstehen. An diesen Stellen ist der Rand berklebt, so dass Z. 113 von bio?o das letzte o unsichtbar ist, Z. 92 jetzt mit pqº schliesst. Ursprnglich scheint hier nur pq|t’ oder pq| te gestanden zu haben ; fr 1|mta reicht der Platz nicht mehr. Dies Wort konnte am Versende ausfallen, hnlich wie die Worte jamaw¶poder Vppoi drei Zeilen weiter, wo nach t}lbyi zur Andeutung des Versschlusses ein wenig Raum gelassen ist (keineswegs das von N. gesuchte Zeichen einer Lcke): vielleicht waren im Archetypus die Verse gebrochen, und die bergeschriebenen Endworte liess der Abschreiber aus Versehen weg. Das Vorstehende lsst bereits beurtheilen, in wie weit die neue Ausgabe des sog. )c~m ein klares und treues Bild der so einfachen Ueberlieferung zu geben geeignet ist. – Flle des Apparats ist nicht immer auch Vollstndigkeit desselben. Diesen Beweis liefert die Ausgabe auch bei der Ausnutzung derjenigen Handschrift, welche allein fr den Tractat in Betracht kommt. Zwar hat N. nicht versumt, an ein paar Stellen zu notiren, dass der Flor. d] fr d’ biete – wenn er auf dergleichen berhaupt Werth legte, so war vielmehr zu sagen, dass die Elision bei d] (abgesehen von den Dichterstellen) mit einer einzigen Ausnahme Z. 222 durchgngig unterblieben ist ; ebenso bei paq\ und rp| Z. 220. 235. Auch Abweichungen in Accent Spiritus etc. sind angegeben1, – freilich gebot dann die Consequenz auch Z. 12 w_oi, 23 eqcmg¢_, 130 ne_moi und l^d] tir, 188 out] j’, 192 vako?si, 283 A_om\r te, 82 paqad³, 141 eqq_sjetai, ferner 35 1sti fr 1stim, 63 sumej\kese, 86 ovty fr ovtyr, 53 NaxydoOmta u. a. dgl. nicht zu bergehen. Daneben wird aber eine Anzahl bemerkenswertherer Varianten von F in dem Apparat vermisst. Da schwerlich so bald Jemand sich wieder an dem Tractat versuchen wird, will ich das Fehlende aus einer von mir im Jahre 1868 vorgenommenen Collation des Florentinus mit dem Abdruck in Westermanns Biocq\voi an dieser Stelle nachtragen. F. 6 oqd] j d] in Rasur. jj 21 adus]yr \ 22 Helist~ j ¢el_stgm (nicht ¢el_tgm ) jj 27 jupq_ym \ jqupq_ym F pr. jj 36 Mestoq]g \ mestoq_g j 54 artoO \ aqtoO j[ 59 Cam¼jtyq j camm}jtyq jj 90 !pºqym j !p^qym j 111 wqus]gm j wqus/m jj 119 Silo]mtiom \ siloo}mtiom (nicht Silo}mtiom, sondern t¹ Silo}mtiom verm. Barnes) j 122 !qist/er ;j !q_st¶ jj 124 c_mysjom jj 136 1r j eQr jj 148 po¢]y j ¢]y jj 153 5w¢iotom j 5w¢is˚ t (so) jj 176 %qwes¢’ !lgto?o , nicht %qwes¢ai 1
Ja mitunter ist hier wohl des Guten zu viel geschehen. Wenigstens scheinen mir die Angaben zu Z. 2 ’F kec]o¢ai’ und 25 ’F meot|qor’ auf einem Missverstndniss zu beruhen.
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!lgtoO j 181 oV t ’ j oV d ’ jj 184 culm|m t’ !l\eim j culm|s (corr. culmo}s) ¢’ (nicht t’) "l\eim jj 189 jqim¢]mter j jqi¢]mter j 215 d ’ Etoi j d^ toi jj 234 Cam}jtoqor j camm}jtoqor jj 256 die Worte ja· poie? ovtyr sind erst am Rand nachgetragen jj 258 d]mdqea \ das erste d und (das zweite e in Rasur·j 275 eQm j1im (so) j 284 aUcim\m te l\sgt\ te j 286 Tude_dgr \ tud^dgr pr. F jj 295 1mdonotatou j 1mdon2t\tou (so) j 299 t/r j t±r ·pr. j 316 Gq’ 5wol]m ti jj 218 fss’ 6kolem kip|le¢a fs’ (nicht kip|les¢a fr) oqw 6kolem veq|le¢a (nicht veq|les¢a) j 323 artoO j aqtoO. – V. 216 ist allerdings j\kkilom aus j\kkirom corrigirt.
Flach, Hans: R. Schçll, Kleinigkeiten. In: Jahresbericht ber die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaften. Berlin, Bd. 1, Ende September/Anfang Oktober 1873, S. 620–621. Kleinigkeiten. Eine Besprechung der eben angefhrten Ausgabe Nietzsche’s in den Acta Societatis philologae Lipsiensis hat Schçll an der genannten Stelle vorgenommen und diese Besprechung mit den sachgemssen Worten eingeleitet: „Was eine Variante ist, scheint bei den Fortschritten unserer philologisch-kritischen Routine eine nicht aufzuwerfende Frage: dennoch berechtigt manches neuere und neueste Beispiel kritischer Apparatsammlung zu der Bitte an die Herausgeber, sich jene Frage vor der Verçffentlichung mçglichst bestimmt zu beantworten“. Mit Recht polemisirt Schçll, indem er die grosse Gewissenhaftigkeit Nietzsche’s in der Angabe der Varianten und der Uebereinstimmung unserer drei Quellen des Certamen lobend hervorhebt, gegen die Richtung der philologischen Herausgeber, (die, wie es scheint noch immer im Zunehmen begriffen ist) bei welcher Flle des Apparats fr Vollstndigkeit angesehen, ferner der einfachste Schreib- oder Accentfehler als Variante angefhrt wird, ohne dass der Herausgeber sich die Mhe giebt in das Wesen dieses Fehlers einzudringen. So constatirt Schçll; dass, wenn kleine Abweichungen in Accenten und Spiritus als Varianten aufgezhlt werden sollten, Nietzsche den Apparat aus dem Florentiner Codex noch betrchtlich vermehren, auch einiges mit Unrecht Gesetzte fortlassen konnte. Andererseits fehlt in Nietzsche’s Apparat eine Anzahl bemerkenswerther Varianten der Handschrift, und desshalb giebt Schçll schliesslich das Fehlende aus einer 1868 gemachten Collation des Florentinus mit dem Abdruck in Westermann’s Biocq\voi, im Ganzen 28 Varianten. Wir lassen dahingestellt, bis ein neuer Herausgeber des Tractats erscheint; ob auch diese Varianten alle bemerkenswerth sind; in jedem Fall geht aus diesem Bericht hervor, dass die Ausgabe Nietzsche’s nicht in allen Stcken ein treues Bild von
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II Certamen quod dicitur Homeri et Hesiodi e codice Florentino
der Ueberlieferung giebt und dass desshalb die diplomatische Arbeit in dem Certamen als durchaus nicht abgeschlossen betrachtet werden muss. Wir kçnnen aber die Hoffnung aussprechen, dass der Rath Schçll’s beherzigt werde und dass man von Seiten der Philologen philologische Kritik und Fhigkeit des Abschreibens aufhçren mçchte zu identificiren. Und wenn Lehrs bei seinem Jubilum unter den zehn philologischen Geboten das eine angefhrt hat: „Du sollst nicht vor Handschriften niederfallen“, so vervollstndigen wir es dahin: „Du sollst nicht die Ausgaben mit unntzem Apparat von gleichgltigen Varianten und Schreibfehlern anfllen“.
III Beitrge zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes Eduard Zeller2 an N, 22. 5. 1870: „Geehrter Herr Professor! Fr das freundliche Geschenk Ihres Programms [Beitrge zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes, in: Gratulationsschrift des Pdagogiums zu Basel, Franz Dorotheus Gerlach zur Feier seiner fnfzigjhrigen Lehrttigkeit am Pdagogium zu Basel gewidmet, Basel 1870] spreche ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank aus. Diese Untersuchungen ber die Quellen des Diogenes sind gewiß vom hçchsten Werthe; und das Ergebniß, welches sich mir schon nach Ihrer frheren Abhandlung empfohlen hatte, daß Diokles die Hauptquelle gewesen sei, ist durch die gegenwrtige noch weiter besttigt worden. Es ist aber auf diesem Gebiet freilich noch so großes Dunkel, daß sich bei jedem Aufhellungsversuch auch wieder neue Fragen aufdrngen. Eine oder zwei erlaube ich mir Ihnen vorzulegen. Sie setzen Diokles um 50 n. Chr., was mit meinem Ergebniß in Betreff Sotion’s (Phil[osophie] d. Gr[iechen] III, a 694,3) gut stimmt. Außer ihm vermuthen Sie Favorinus und einen Skeptiker, etwa Theodosius, als Quelle des Laertius. Nun citirt dieser aber nicht blos Achaikus (VI, 99) und Plutarch, sondern auch Epiktet (X, 6), Numenius (VI, 68), und die Skeptiker Menodotus (II, 104) und Sextus (IX, 87) an Stellen, von denen wenigstens die erste von dem vielleicht aus Theodosius entlehnten (IX, 115) weit abliegt. Sollte dieß nicht doch auf etwas mehr eigene Belesenheit des Diog. weisen, als Sie ihm zutrauen? Und wre nicht am Ende auch das p¹ ak¸cou prooem. 21 selbst bei ihm zu gedankenlos, wenn wir annehmen, es sei von einem 200 Jahre lteren Schriftsteller einfach herbergenommen? Wenn es dieß aber nicht ist, wrde man Potamo doch wohl spter setzen mssen, als unser Suidastext, welchen letztern man dann so erklren mçchte, wie Phil. d. Gr. III, a, 743 geschehen ist. Sie werden vielleicht in einer Fortsetzung Ihrer Laertianischen Forschungen auch diese Fragen zu beantworten Gelegenheit finden.“ KGB II/2, Nr. 102, S. 212
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Eduard Zeller (1814 – 1908), der Theologe und Philosoph studierte in Tbingen, wo er sich mit David Friedrich Strauss und Friedrich Theodor Vischer anfreundete. Nach der Habilitation war er Professor in Bern, Marburg, Heidelberg, Berlin.
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ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten
D., F.: Akademische Vorlesung von Hrn. Prof. Nietzsche ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. In: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel, Nr. 19 vom 23. 1. 1872. Akademische Vorlesung von Hrn. Prof. Nietzsche ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten Der Vortragende, eine wohl den meisten Zuhçrern noch wenig bekannte Kraft unsrer philosophischen Facultt, hatte sich der anerkennenswerthen Aufgabe unterzogen, in einer Reihe von Vortrgen einen Gegenstand zu besprechen, der ganz geeignet ist, das Interesse jedes Gebildeten in hohem Grade in Anspruch zu nehmen. Die wissenschaftlichen sowohl wie die socialen Fragen, welche sich an denselben knpfen, erschließen ein Reich von Gegenstzen in sich, welche, theils offen, theils schlummernd einer befriedigenden Lçsung harren, zu der beizutragen und darber ernst nachzudenken auch wir, die lebende Generation, die Aufgabe haben. Kein Wunder daher, dass die Aula beinahe vollstndig gefllt war von aufmerksamen Zuhçrern, welche an sich selbst wohl auch die Worte gerichtet haben mçgen, mit welchen der Redner begann: „Wenn irgend jemand, der ber den vorliegenden Gegenstand nachgedacht, oder die Produkte des Nachdenkens Anderer sich zu eigen gemacht, zu mir ber denselben sprechen wollte, so mçchte ich ihn mit vollem Interesse anhçren“. Und in der That, war schon die Einleitung geeignet unsere Aufmerksamkeit zu fesseln durch die schçne Form und gewhlte Diction, mit welcher wir in eine Episode des deutschen Studentenlebens eingefhrt werden, welche, vom Vortragenden selbst miterlebt, wie es scheint von weitgehendem Einflusse geworden ist fr den uns in den folgenden Vortrgen vorgefhrten culturgeschichtlichen Ideengang. Doch, siehe da, mitten aus dem Zauberkreise jubelnder Frçhlichkeit malerischer Ruinen und Fernblicke vom Waldessaum werden wir eingefhrt in die Hallen der Philosophie und befinden uns an der Schwelle eines antiken philosophischen Collegiums. Eben sind die geistigen Gestalten der beiden Sprecher im Begriffe sich uns zu enthllen und uns die Gegenstze vorzufhren, welche in den modernen Culturbestrebungen sich geltend machen und welche wir vielleicht in zwei Worten als Intensitt und Extensitt der Bildung andeuten kçnnen, als die zugemessene Zeit verflossen und der Zuhçrer mit seinen Gedanken allein gelassen wurde, um vielleicht in der nchsten Vorlesung zu vernehmen, wie dem drohenden Verlust der Bildungsgrndlichkeit vorgebeugt werden
IV ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten
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kçnne, ohne der vielfach angestrebten Bildungsverallgemeinerung entgegentreten zu mssen. Reaktionen N an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 24. 1. 1872: „Anbei sende ich ein ganz dummes Referat ber meinen ersten Beitrag aus der Grenzpost – alles, alles ist falsch verstanden – das ist das Amsante daran.“ KGB II/1, Bf. 191, S. 278 Elisabeth Nietzsche an N, 28. 1. 1872: „Was hat mich der gedruckte Bericht ber die Vorlesungen amsiert, er zeigte uns trotz seiner merkwrdigen Unverstndlichkeit doch auf jeden Fall in welchem hohen Ansehen ,die noch wenig bekannte Kraft‘ steht. Wie glcklich wrde ich sein, drfte ich nchsten Dienstag mitzuhçren.“ KGB II/2, Bf. 271, S. 520 N an Erwin Rohde, 28. 1. 1872: „Hier halte ich jetzt Vortrge ,ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten‘ und habe es bis zur ,Sensation‘, hier und da zum Enthusiasmus gebracht.“ KGB II/1, Bf. 192, S. 279 N an Erwin Rohde, 15. 3. 1872: „Mit der hier erzielten Wirkung bin ich außerordentlich zufrieden, ich habe die ernsthaftesten und ergebensten Zuhçrer, Mnnlein und Weiblein und so ziemlich die ganze Studentenschaft besseren Schlags.“ KGB II/1, Bf. 202, S. 296 Jacob Burckhardt an Arnold von Salis3, 21. 4. 1872: „ber Nietzsche’s Vortrge wird Ihnen Hr. Beck4 das Genaueste mittheilen; den letzten, von welchem wir einige Lçsung der so keck und groß aufgeworfenen Fragen und Klagen erwarten, ist er uns noch schuldig, hat sich aber einstweilen zur Erholung auf 10 Tage ins Waadtland begeben. Sie htten die Sachen hçren sollen! Es war stellenweise ganz entzckend, aber dann hçrte man wieder eine tiefe Trauer heraus, und wie sich die Auditores humanissimi die Sache eigentlich trçstlich zu rechte legen sollten, sehe ich noch nicht. Eins hatte man sicher: den Menschen von hoher Anlage, der Alles aus erster Hand hat und weitergibt.“ Burckhardt, Jacob (1963): Briefe. Bd. 5. Basel: Schwabe, S. 112.
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Salis, Arnold von (1847 – 1923) Pfarrer in Braunau im Kanton Thurgau, Verfasser theologischer und geschichtlicher Schriften. Beck, August, (1844 – 1911), nach dem Theologiestudium war der Freund und Studiengenosse von Arnold von Salis Lehrer fr Deutsch und klassische Sprachen am Basler Gymnasium. N und Beck trafen sich 1873/74 in Basel u. a. zum Abendessen.
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Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik Reaktionen
Cosima Wagner, 7. 4. 1871: „Pr N liest mir aus einer Arbeit vor (Ursprung und Ziel der gr. Tragçdie), die er R widmen will; große Freude daran; man sieht hier einen sehr begabten Menschen von R’s Gedanken auf eigene Weise durchdrungen.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In: Borchmeyer, Dieter/ Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 2, S. 1149ff, 7. 4. 1871. Franz Overbeck an Heinrich von Treitschke, 23. 6. 1871: „Wenn ich mich auch nicht selbst fr die Jahrbcher melde, ich bringe dafr einen Ersatzmann, und zwar einen, der, meine ich, mehr als das ist, meinen Kollegen Nietzsche. Ich habe heute, sozusagen, die Vorstellung bernommen. Als Du im Herbst hier warst, lag Nietzsche, der als freiwilliger Krankenpfleger sich an unsere Truppen angeschlossen hatte, selbst krank im Erlanger Lazarett. Du wirst wohl vor 2 1/2 Jahren von dem Leipziger Studenten gehçrt haben, der noch als solcher hierher zum außerordentlichen Professor der Philologie berufen wurde. Dies eben ist Nietzsche, den ein freundlicher Stern zu meinem Hausgenossen gemacht hat. Der tgliche Umgang mit ihm seit vorigem Winter ist das erste, was mich, seit wir beide getrennt sind, an die in Leipzig gemeinschaftlich verlebten Tage erinnert hat. Vor allem wurde er mir immer mehr wert, bei meiner sonstigen ziemlichen Vereinsamung hier, whrend des Kriegssturms. Da Nietzsche Deutscher ist – aus der Provinz Sachsen – ließ sich diese Hauptsache zusammen erleben. Oft genug freilich waren wir in unseren Gesprchen weit von den gewaltigen Ereignissen des Augenblicks. Nietzsche ist der erste Philologe, der mir begegnet ist, mit dem man als Nichtphilologe ber das Altertum reden kann. Er hat eine Auffassung davon und eine Begeisterung dafr, wie sie sonst oft heutzutage wie erloschen scheinen. Er ist berhaupt gewiß ein ganz ungewçhnlich begabter Mensch, und ebenso liebenswrdig als geistvoll. Kurz, ich habe ihn liebgewonnen und bewundern gelernt, muß aber nun doch zur eigentlichen Sache kommen. Nietzsche hat einen sthetischen Aufsatz ausgearbeitet: Musik und Tragçdie doch bis auf die Oper der Neuzeit herabgefhrt. Whrend sich Verhandlungen mit einem Leipziger Buchhndler durch zufllige Umstnde in die Lnge zogen kamen zwischen uns verschiedene andere Publicationsplne zur Sprache, auch die preussischen Jahrbcher, fr die ich nun besonders gesprochen. Dafr hat sich auch N. entschieden, und will Dir das Manuscript einsenden, das er sich von Leipzig zurckschicken lsst, sobald es
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wieder in seinen Hnden ist. Einstweilen stellt er sich Dir vor mit beiliegender Broschre, die er eben auf eigene Kosten in nur dreissig Exemplaren zur Vertheilung unter Freunden hat drucken lassen. Dieser Zweck erklrt den fast mystischen Ton des Ganzen und manches sonst. Stosse dich nicht an etwaigen Mysterien des Anfangs, namentlich an denen des Gegensatzes des Dionysischen und Apollinischen. Gerade dieser Punkt wird in dem Aufsatz: Musik und Tragçdie ausfhrlicher und klarer entwickelt. Ich selbst kenne die griechische Tragçdie nicht grndlich genug um eben alles im Anfang gesagte zu kosten und habe am durchgngigsten meine Rechnung in den Socratespartien gefunden, das Ganze aber, das ich freilich zum Theil habe entstehen sehen und oft besprochen, mit freudiger Spannung gelesen. Meinst du nun, dass etwas der Art, wie es eben auch der Aufsatz ber Musik und Tragçdie ist, fr die Jahrbcher passen wrde? Du wrdest mir und N. große Freude machen, wenn Du ihm darber schriebest. Willst Du auch so gut sein, das zweite besonders eingeschlagene Exemplar gelegentlich bei Zeller abgeben zu lassen? Bitte die Exemplare, von denen jedes seine Inschrift hat, nicht verwechseln.“ Overbeck, Franz (2008): Werke und Nachlaß. Briefe. Bd. 8. Weimar, S. 82. Heinrich von Treitschke an Franz Overbeck, 4. 7. 1871: „Was ich fr deinen Freund auf dem Herzen habe, will ich lieber dir schreiben. Ich muß mit jeder Minute geizen. Ich danke ihm aufrichtig fr seine Gabe. Er gehçrt, das sieht man auf den ersten Blick, zu den Naturen, die ein Recht haben ihres eigenen Weges zu gehen, und es kann mir, dem Laien, nicht in den Sinn kommen ein Urtheil zu fllen. Nur glaube ich, so neue, selbstndige Ansichten, wie er sie aufstellt, bedrfen einer breiteren Ausfhrung um verstanden zu werden. Mir ist Manches, namentlich in der ersten Hlfte, nicht ganz faßlich gewesen, und die Mehrzahl der Jahrbcherleser versteht vom griechischen Drama noch weit weniger als ich. Wenn also die Arbeit ber Musik und Tragçdie sich dem Fassungsvermçgen des großen Publicums etwas mehr anschmiegt, so soll sie mir herzlich willkommen sein.“ KGB II/7,1, Bf. 35, S. 635 Friedrich Ritschl erhielt am 31. 12. 1871 ein Exemplar der Geburt der Tragçdie. Darauf vertraute er seinem Tagebuch an: „Buch von N. Geburt der Tragçdie (=geistreiche Schwiemelei).“ KGB II/7,1, Bf. 21, S. 620 Elisabeth von Krockow an Cosima Wagner in Tribschen (Anfang Januar 1872): „Thanks many thanks for the mention you made of the Geburt der Tragoedie – it is not merely geistreich but it is quite sublime. I am delighted with it as a book, and still more delighted to know that a young man lives who has written it. Do you know – can you fancy of whom it reminds me? Of Daniel, of our dear Daniel [Cosima Wagners Bruder Daniel Liszt 1839-l859] – the same traits of thought if he had lived a few years longer and had been given time to do
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something, he might have written just such a book. I fancy I hear him speak as I read the book and I am so grateful to you for recommanding it. And how many passages remind me of you – for instance Seite 35 unto the end of the 7th division in the description of your inner life – it is as if you had written it.“ KGB II/7,1, Bf. 46, S. 648 Cosima Wagner, 3. 1. 1872: „[…] zu Mittag treffe ich R sehr auf- und angeregt durch Pr Nietzsche’s Buch, er ist glcklich, dies erlebt zu haben, er sagt nach mir kme N und dann Lenbach […] Abends lesen wir in der Nietzsche’schen Schrift, die wirklich herrlich ist.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In: Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 2, S. 1149ff, 3. 1. 1872 Cosima Wagner, 4. 1. 1872: „Abends wieder in der Nietzsche’schen Schrift gelesen, von der R immer befriedigter ist, wir fragen uns aber, welches Publikum hierfr sich finden wird.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In: In: Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 2, S. 1149ff, 4. 1. 1872 Cosima Wagner, 6. 1. 1872: „Das Buch von Professor Nietzsche abends vollendet; ,das ist das Buch, was ich mir ersehnt habe‘ sagt Richard.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In: In: Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 2, S. 1149ff, 6. 1. 1872 N an Carl von Gersdorff, 6. 1. 1872: „Wagner schrieb mir: ,Schçneres als Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen! Alles ist herrlich!‘ Nun schreibe ich Ihnen schnell, weil die Lektre mich bermßig aufregt und ich erst Vernunft abwarten muß, um es ordentlich zu lesen.“ KGB II/1, Bf. 186, S. 273 f Cosima Wagner an Elisabeth Nietzsche, 9. 1. 1872: „Das Buch dass er so eben herausgebracht hat, legt ein hohes Zeugniss fr ihn ab, und ich mußte gestern mit Lachen einsehen, dass alle Briefe, die ich seit der Lektre dieser außerordentlichen Schrift, abgesendet, ohne Ausnahme dem Eindrucke dieser Lektre gewidmet waren.“ KGB II/7,1, Bf. 42, S. 640 Cosima Wagner an N, 18. 1. 1872: „Sie haben in diesem Buche Geister gebannt von denen ich glaubte daß sie einzig dem Meister dienstpflichtig seien.“ KGB II/2, Bf. 265, S. 510 Richard Wagner an Clemens Brockhaus, 18. 1. 1872: „Mein lieber Clemens!
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Ich habe nicht viel Zeit darauf zu verwenden, und mçchte Dir doch etwas in Betreff des Nietzsche’schen Buches sagen. Nimm es also wie es kommt! Mir ist es, als ließest Du dem, seinem Buche vorangehenden, Verdienste dieses jungen Gelehrten nicht die gerechtige Wrdigung zu Theil werden. Als erster und rechter klassischer Philologe gewann N. im jugendlichsten Alter in einem so bedeutenden Grade die Anerkennung und Bevorzugung der Meister seiner Fachwissenschaft, daß ihm hieraus eine Stellung erwuchs, wie sie anderen sehr beneidenswerth erscheinen mußte. In dieser Stellung bewhrt er sich nun nicht nur durch seinen eminenten wissenschaftlichen Geist, sondern namentlich auch durch den aufopferungsvollen Eifer mit welchem er sich auf das spezifisch pdagogische Fach warf. Namentlich durch diese letztere Thtigkeit hat er sich am Orte seiner Wirksamkeit die wirklich verehrungsvolle Hochachtung der bedeutendsten Mnner seiner Umgebung gewonnen. Mit diesem ist es ihm nmlich tiefer Ernst. Soll nun seinem Buche eine spezifische Fach-Tendenz zu eigen sein, so ist ausgesprochener Maaßen in einem auf die Neubelebung der philologischen Pdagogik zielenden Gedanken diese Tendenz zu suchen. Nietzsche ist dazu gelangt, die jmmerliche Vertrocknung und Unfruchtbarkeit dieses Zweiges unserer humanen Bildung mit lebensvoller Empfindung und deutlicher Erkenntnis inne zu werden. Ihm sind die klassischen Studien nach einem tieferen Sinne aufgegangen, als den unglcklichen Wesen, welche heute nach dem unfruchtbarsten Schema ihr Brod mit der Behandlung des Classicismus verdienen. Er hat in Wahrheit ber Winckelmann und Lessing hinweg in das Wesen der griechischen Kunst Einsicht gewonnen. Und diese Einsicht ist ihm aus dem Geiste der Musik erwachsen. Du, lieber Clemens, hast mir verrathen, daß auch Dir dieser Geist nicht fremd geblieben ist, und deshalb fhre ich Dir zu Gemthe, was damit gesagt ist, wenn ein Mensch wie Nietzsche, in seiner frhsten Jugend so tief von diesem Geiste erfaßt war, daß er die Sehnsucht, gnzlich sich der Musik zu widmen, weil er sich nicht die hçchste produktive Kraft fr sie zutrauen durfte, gewaltsam unterdrcken mußte, und nun dagegen mit solch treuer Energie auf die philologische Wissenschaft sich warf, daß er in ihr sehr schnell zur allerbedeutendsten Beachtung gelangte. Wenn diesem jungen Manne aus der Periode seines Kampfes wegen seiner Bestimmung ein unruhiges Moment des Schwankens und der Beklemmung verblieb, welches ihm zu Zeiten selbst meiner verwunderungsvoll ironischen Beurtheilung aussetzte, so hatte er dagegen mir neuerdings nur das von ihm gratis verfertigte Registerheft zu Band 1–24 der neuen Folge des Rheinischen Museums fr Philologie zuzuschicken, um mich wegen jedes ber ihn ausgelassenen Scherzes zu beschmen. Ich bitte Dich, sieh Dir dieses Registerheft an, es lohnt sich der Mhe, und zwar nach vielen Seiten hin, von denen ich nur zweie hier auswhle: nmlich die, welche sich uns durch einen Blick auf die schauderhafte Nichtigkeit dieses heutigen philologischen Unwesens erçffnet (,Der Menschheit ganzer Jammer faßt uns an!‘) und dann die, welche sich uns durch die Be-
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trachtung des Abfassers einer solchen, unvergleichlich widerwrtigen Arbeit aufdrngt. Ich meine, wer solch eine Arbeit demthig lieferte, der hat sich auch das Recht erworben, anderseits seinen Freunden zu sagen, was er von dem heutigen Geiste der Philologie halte. Es ist ein wahrhaft gçttlicher Gedanke, daß diesem Kopfe die tiefsinnigste Wiedergeburt der Kunst unter dem Einflusse des deutschen Geistes sich zugleich als die, bisher stets nur noch annherungsweise gesuchte, nun aber wahrhaft gefundene Erkenntnis des, alle von ihm ausgegangenen Kulturelemente in sich schließend, griechischen Kunstwesens dargestellt hat. Hat ihn mein Einfluß hierbei geleitet, so kann Niemand besser als ich beurtheilen, wie tief innerlich mein Gedanke das Eigenthum dieses wissenschaftlich, mit allem dem, was ich in mir ungepflegt lassen mußte, so ernsthaft und tchtig ausgersteten Mannes geworden ist. Sein Buch ist mir das einzig Hoffnung gebende Zeugniß fr die wahrhafte Begabung des deutschen Geistes, auf dessen Dokumentationen ich bisher vergebens harrte. Weil ich Dich liebe, bester Clemens, theile ich Dir dies mit. Mit Dir, wie mit Fritz, den ich ungemein schtzen gelernt und wahrhaft lieb gewonnen habe, machte ich ber dieses Buch und ber diesen Menschen, der mit seiner Abfassung und Verçffentlichung ein wahres Heldenstck vollbracht hat, durchaus einig sein. Vielleicht fllt es Euch schwer? Desto mehr muß ich Euch darum angehen, diese Sache recht genau zu nehmen. Herzliche Grße von Deinem Richard W.“ Thierbach, Erhart (Hrsg.) (1940): Die Briefe Cosima Wagners an Friedrich Nietzsche. 1. Teil 1871–1877, Weimar, S. 94–96. N an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 24. 1. 1872: „In Betreff meines Buches steht alles auf dem Kopf, glcklicherweise die meisten, von denen ich hçre, vor Entzcken, andre vor Wuth. – Ja man muß einen Sohn und einen Bruder haben, die solche Sachen schreiben – dann lohnt sich’s, dchte ich, einen Bruder und einen Sohn zu haben. Nun, ich scherze – aber wie soll ich ernst von einem solchen Ereignisse reden, das durchaus nur mit Erschtterungen begriffen werden kann! Ich war in den ersten Wochen des neuen Jahres demnach und aus vielen Grnden erstaunlich angegriffen und hatte Angst vor einer Rckkehr des vorjhrigen Zustandes.“ KGB II/1, Bf. 191, S. 277 Hans von Blow an N, 27. 1. 1872: „Meister Liszt hatte mich schon vor Kurzem bei unsrem Wiedersehen in Pesth auf die Ehre vorbereitet, die Sie, verehrter Herr, mir durch das Geschenk Ihres neuen Werkes erweisen wollten, welches ich gestern durch Herrn Musikverleger Fritzsch in Leipzig empfangen habe. Den Dank, welchen diese Auszeichnung beansprucht, vermag ich Ihnen heute natrlich nur in sehr trivialer, unvollstndiger Weise auszusprechen. Sie haben mich wrdig erachtet, Ihr Werk zu studieren – hierzu werde ich die materielle Mçglichkeit erst beim Eintritte der schçnen Jahreszeit, zusammentreffend mit der einer lngeren Ruhepause in meinem jetzigen Virtuosenwan-
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derleben, finden – ich frchte mich gleichsam, das Buch auf der Reise anzublttern, da ich bei meinem eingefleischten Hasse gegen Oberflchlichkeit zum Grundsatze angenommen habe, mich nach Krften vor hnlichen Vergehen gegen den „Geist“ zu bewahren.“ KGB II/2, Bf. 270, S. 519 N an Erwin Rohde, 28. 1. 1872: „Was ich ber mein Buch habe hçren mssen, ist ganz unglaubwrdig: weshalb ich auch darber nichts schreibe – Was denkst Du darber?“ KGB II/1, Bf. 192, S. 279 f N an Friedrich Ritschl, [entgegen seinen Gepflogenheiten antwortete Ritschl nicht sofort auf die Zusendung der GT, so daß N sich bei ihm beklagte] am 30. 1. 1872: „Sie werden mir mein Erstaunen nicht verargen, dass ich von Ihnen auch kein Wçrtchen ber mein jngst erschienenes Buch zu hçren bekomme […] Denn dieses Buch ist doch etwas von der Art eines Manifestes und fordert doch am wenigsten zum Schweigen auf. […] ich dachte, wenn Ihnen irgend etwas Hoffnungsvolles in Ihrem Leben begegnet sei, so mçchte es dieses Buch sein, hoffnungsvoll fr unsere Alterthumswissenschaft, hoffnungsvoll fr das deutsche Wesen, wenn auch eine Anzahl Individuen daran zu Grunde gehen sollte. […] Mir liegt vor allem daran, mich der jngeren Generation der Philologen zu bemchtigen und ich hielte es fr ein schmhliches Zeichen, wenn mir dies nicht gelnge.“ KGB II/1, Bf. 194, S. 281 f Nachdem Ritschl den Brief erhalten hatte, schrieb er in sein Tagebuch: „Fabelhafter Br[ief ] von Nietzsche (=Grçßenwahnsinn).“ KGB II/7,1, S. 226 Hermann Hagen5 an N, 1. 2. 1872: „Unter dem Eindruck einer gewaltigen Empfindung richte ich diese Zeilen an Sie: ich komme von der Lesung Ihres Buches: Geburt der Tragçdie. Nicht als ob ich dessen Inhalt schon ganz in mich htte aufnehmen kçnnen! Wie wre dies auch mçglich bei einem Werke, das man die Frucht eines ganzen langen vielerfahrenen Lebens zu nennen befugt wre, wenn nicht der feurige jubelnde Dithyrambenton, der durch das Ganze sich hindurchzieht und den Leser mchtig packt und fortreißt, den Beweis lieferte, daß der Sprecher noch in der Mitte des Lebens steht […]. Erst nach siebenstndiger fortgesetzter Vertiefung in dieses prchtige Werk vermochte ich mich davon zu trennen mit der Ueberzeugung, daß es fortan mein Lieblingsbuch sein wird. Welche Menge von neuen, bahnbrechenden Anschauungen!“ KGB II/2, Bf. 277, S. 529 f 5
Hermann Hagen (1844 – 1898), Sohn des Geschichtswissenschaftlers Karl Hagen. Studierte in Heidelberg und Bern, seit 1873 a.o., seit 1878 ord. Professor der Klassischen Philologie an der Berner Hochschule.
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Friedrich Ritschl an Wilhelm Vischer-Bilfinger, 2. 2. 1872: „Aber unser Nietzsche! – ja das ist wirklich ein recht betrbtes Kapitel, wie ja doch auch Sie – trotz alles Wohlwollens fr den trefflichen Mann – in ihrem Briefe es auffassen. Es ist wundersam wie in dem Manne geradezu zwei Seelen nebeneinander leben. Einerseits die strengste Methode geschulter wissenschaftlicher Forschung […] andererseits die phantastisch-berschwngliche, bergeistreich ins Unverstehbare berschlagende, Wagner-Schopenhauerische Kunstmysterienreligionsschwrmerei!“ KSA 15/46 f Friedrich Ritschl an N, 14. 2. 18726 : „Da Sie mir, lieber Herr Professor, Ihr Buch nur durch den Verleger, ohne eine persçnliche Begleitzeile, zukommen zu lassen so freundlich waren, so habe ich wirklich auch nicht geglaubt, daß Sie meinerseits sogleich eine persçnliche Rckußerung erwarteten. Darum mich denn das ,Erstaunen‘, dem Sie in Ihrem neulichen Briefe Ausdruck geben, allerdings berrascht hat. Wenn ich nun aber, trotz Ihres Wunsches, zu einer eingehenden Besprechung Ihrer Schrift, die fr Sie irgend einen Werth haben kçnnte, mich auch jetzt noch außer Stande fhle und wohl auch weiterhin außer Stande fhlen werde, so mssen Sie bedenken, daß ich zu alt bin, um mich noch nach ganz neuen Lebens- und Geisteswegen umzuschauen. Meiner ganzen Natur nach gehçre ich, was die Hauptsache ist, der historischen Richtung und historischen Betrachtung der menschlichen Dinge so entschieden an, daß mir nie die Erlçsung der Welt in einem oder dem andern philosophischen System gefunden zu sein schien. […]. Die Welt ist jedem ein anderes […], so wird sich in der großen Lebensçkonomie auch jedes Volk seinen Anlagen und seiner besondern Mission gemß ausleben mssen. Das sind so einige allgemeine Gedanken, wie sie mir die flchtige Durchsicht Ihrer Schrift eingegeben hat.“ KGB II/2, Bf. 285, S. 541ff N an Erwin Rohde, Mitte Februar 1872: „Soeben werde ich durch einen Brief Ritschl’s sehr berrascht und im Grunde recht angenehm: er hat gegen mich nichts von seiner freundschaftlichen Milde verloren und schreibt ohne jede Gereiztheit: was ich ihm hoch anrechne.“ KGB II/1, Bf. 201, S. 295 Max von Baligand an N, 15. 2. 1872: „Was mssen Sie nur von mir denken, daß ich Ihre unendlich lieben Zeilen, welchen sehr bald die angekndigte Schrift folgte, nicht umgehend beantwortet habe?! doch darf ich mildere Beurtheilung und Verzeihung hoffen, wenn ich Ihnen sage, daß ich seither mehrmals in Bayreuther Angelegenheiten im deutschen Vaterlande herumgefahren bin und Ihnen erst nachdem ich Ihr unbertreffliches Meisterwerk ganz gelesen, nein, 6
Mit der Antwort ließ sich Ritschl zwei Wochen Zeit, zudem konzipierte seine Frau den Brief: „concipirt von Mama“.
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richtiger gesagt, studirt habe, meinen herzlichsten Dank fr die freundschaftliche Zusendung und meine hçchste Bewunderung ber den geistigen Reichthum, die tiefe Forschung und Ergrndung des gçttlichen Funkens auszudrcken vermag. – Lassen Sie Sich umarmen, verehrtester Freund, Sie haben mich mit Ihrem Werke hoch beglckt und eine Flle von Gedanken wachgerufen, welche – wenn sie mir auch alle aus tiefster Seele gesprochen und auf den dankbarsten Boden gefallen sind, – gewiß aus mir und Millionen anderer Kçpfe nicht zur Reife gekommen und Gemeingut des deutschen Denker-Volkes geworden wren; die Originalitt Ihrer genialen Abhandlung steht einzig in der neuen Litteratur da, und wenn Sie nicht von Allen verstanden werden, so trçsten Sie Sich mit Wagner und Goethe.“ KGB II/2, Bf. 286, S. 544 Heinrich Romundt an N, 16. 2. 1872: „Lange gehindert durch Arbeit und allerlei Ungemach, Krankheit und Todesfall in der Familie, in der ich lebe, komme ich erst jetzt dazu, Dir zu danken fr die bersendung Deiner herrlichen Abhandlung. Endlich habe ich sie mit Muße lesen und wieder lesen kçnnen und ich habe mich dadurch erquickt und gehoben gefhlt, wie schon lange nicht mehr durch ein Buch. Ich kann Dir nicht genug sagen, mein lieber Freund, wie sehr mich Deine Worte im Innersten ergriffen haben; man sprt das Walten des Dionysischen, das Du zum ersten Mal so herrlich als allmchtigen Kunsttrieb erkannt und geschildert hast, im Fluge und in der aus der Tiefe strçmenden Flle der Gedanken, in dem Rthselhaften, Geheimnißvollen und Unerschçpflichen der Ausdrucksweise – und doch ist wiederum alles getaucht in apollinische Klarheit und Bestimmtheit, so daß der Eindruck des Ganzen ein wunderbar zwiespltiger ist, fast dem einer Landschaft in heller klarer Mondnacht vergleichbar: alle einzelnen Gegenstnde erscheinen uns deutlich bestimmt und doch rthselhaft unausmeßbar gegenber den ganz enthllten Erscheinungen des Tages. […] Ich kenne kein Buch, das so wie Deins selbst eine Objectivation der darin vorgetragenen Einsichten und Gedanken, des Geistes der darin mitgetheilten Lehre ist. Und wie vortrefflich und bedeutungsvoll sind diese Gedanken. Es scheint mir in der That, lieber Freund, daß in Deinem Buche zum ersten Mal der Quell alles Kunstschaffens und alles Kunstgenusses klar aufgedeckt ist. […] – Den inneren Zusammenhang zwischen sthetik Metaphysik Ethik hast Du so deutlich, so eindringlich dargelegt, daß ich dem nichts zu vergleichen vermag; der ganze Mensch wird aufgerttelt durch Deine Betrachtungsweise und alle Tiefen unseres Wesens werden im Vorbeigehen wie durch rasche Blitze hell erleuchtet. Die Gestalten des Dionysus besonders und auch des fremderen, klteren Apollo haben neues Leben durch Dich fr uns gewonnen und stehen ferner nicht mehr als blutlose Schatten vor uns, sondern als die alten wirklichen Gçtter, an die wir zu glauben vermçgen. […] berall blickt die metaphysische Einsicht ins Wesen der Dinge durch, an der diese
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Erscheinungen gemessen werden und bei diesem Lichte erblicken wir als den gewaltigen Sieger Dionysus. Daß er und seine Weisheit, seine Kunst siegen werden, wie er einst gesiegt hat in der griechischen Tragçdie vor Euripides, das ist die feste und freudige berzeugung, die jeder gewinnt, der Dein Buch bis zu Ende gelesen hat. Mein lieber Freund, Du hast uns allen, die wir lange suchten und tappten auf dem Wege sei es der dionysischen Weisheit, sei es der dionysischen Kunst, den Schleier vor den Augen weggenommen und wir erkennen mit einmal wo wir waren und was wir wollen. Habe Dank, lieber bester Freund. – Mich besonders hast Du nicht bloß jetzt erleuchtet ber meinen Weg, Du hast mich ja auch zuerst eingefhrt in die dionysische Weisheit, in das Reich des Dionysus. Das Beste, was ich jetzt besitze und wessen ich mich am meisten getrçste, verdanke ich Deiner Fhrung.“ KGB II/2, Bf. 288, S. 548ff Franz Liszt an N, 29. 2. 1872: „Indess habe ich Ihr fesselndes Buch: ,die Geburt der Tragçdie‘ zweimal gelesen. Darin braust und flammt ein gewaltiger Geist der mich innigst ergriff. Zwar muss ich gestehen dass mir die Vorbereitungen und Kenntnisse zur vollkommenen Wrdigung Ihres Werkes fehlen; das Griechenthum und die Abgçtterei welche damit die Gelehrten betreiben, sind mir ziemlich fremd geblieben […].“ KGB II/2, Bf. 292, S. 557 Gustav Krug an N, 8. 3. 1872: „Zunchst, liebster Freund, nahe ich Dir als ein um Verzeihung Flehender. Es lastet in der That schwer auf mir, nachdem ich so Herrliches von Dir empfangen, jetzt erst nach beinahe 2 Monaten mich zu regen und dadurch mich der Gefahr auszusetzen, als ein gefhlloser und hçchst undankbarer Mensch zu erscheinen. Wie Du nun schon so manchmal solche Erfahrungen mit mir gemacht und mir verziehen hast, so hoffe ich, daß Du auch diesmal Gnade fr Recht ergehen lssest. Nachdem ich nun mein Gewissen durch das Schuldbekenntniß etwas wenigstens entlastet fhle, sage ich Dir zuerst meinen innigsten Dank fr die Uebersendung Deines Buches. Was fr Gedanken, Gefhle und Empfindungen es in mir erweckt hat, hoffe ich Dir zu Ostern hier ausfhrlicher mittheilen zu kçnnen und besser, denn sie wollen sich nicht recht auf das Papier bannen lassen. Jetzt nur so viel: beim Lesen war es mir oft, als ob ich trumte, und ich sah deutlich eine mir unbekannte Welt, deren inniger Zusammenhang mit unserm ganzen Wesen mir unmittelbar anschaulich wurde: ,Der Schleier der Maja war zerrissen und flatterte nur noch in Fetzen vor dem geheimnißvollen Ur-Einen herum.‘ Wieviel Unerklrtes und Dunkles ist mir erst durch Dein Buch klar und hell geworden! Wie viele freilich werden so wie ich denken! Wilhelm, der es mit großem Interesse gelesen, meinte, es wre ihm vieles unverstndlich, was nur fr einen Knstler verstndlich sein kçnnte. Kritiken habe ich leider noch nicht zu Gesichte bekommen; ich bin im
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hçchsten Grade gespannt, was unsere auf hohen Thronen sitzenden Aesthetiker resp. Philologen sagen; ich denke mir, sie sind noch sprachlos vor Staunen. Dir wird diese Zeit, was Dein Buch betrifft, zwar gewiß viel Freude, aber auch viel rger gebracht haben. Ich bin indessen fest berzeugt, daß Du Dich dadurch nicht im Geringsten stçren lassen wirst; kann man ja doch fr unsere genußschtige, allem Hçhern abgewandte Gegenwart sagen: Gesegnet sei der, durch welchen Aergerniß kommt!“ KGB II/2, Bf. 294, S. 561 f N an Erwin Rohde, 15. 3. 1872: „Was habe ich nun erlebt? Sehr gute Briefe und mindestens sehr merkwrdige ber mein Buch zB. von Romundt; freilich sehr metaphysisch […] von Franz Liszt (hçchst berraschend!), von Hans von Blow, von Hauptmann von Baligand, von Gustav Krug, von Dr Hagen aus Bern, dann habe ich mehrere Berichte durch die Tribschener Freu[n]de, woraus ich weiß, daß das Buch von Moskau bis Florenz sich ausgebreitet hat und berall sehr ernst und begeistert verstanden wird. Kurz, es bildet sich fr dasselbe eine kleine Gemeinde – nur von den wackeren Philologen hçre ich nichts – stumpf – dumpf – Mum! Mum! Wie es in den Shakespearbersetzungen heißt.“ KGB II/1, Bf. 202, S. 296 f Marie von Schleinitz7 an N, 13. 3. 1872: „Durch Ihr Werk [GT] ist mir einen neue, wunderbar reiche Welt aufgegangen, die mir die grçßte Erquickung gewhrt.“ KGB II/2, Bf. 297, S. 569 N an Erwin Rohde, 11. 4. 1872: „Zu deinem Sendschreiben an W. wnsche ich Dir frohes und glckliches Gelingen. Denke, ich bitte Dich, daran, in welcher Zeit Du W. das erweist: spter kann ich Dir einmal deutlich machen, in wie fern es einer der complizirtesten und aufregendsten Momente war, in dem jedes wahre Zeichen von Verstndniß und Theilnahme lindernder Balsam ist. Ich lege eine Anzahl von Briefen bei, von Romundt, von v. Baligand (Kammerherr des K [çnigs] v B[ayern]) von Franz Liszt, von Gustav Krug, von Prof. Hagen in Bern, von Schur in Florenz, von der Grfin Krokow, von Fr. Mathilde M[aier].8 Dann kçnnte ich noch erzhlen von einem sehr liebenswrdigen Briefe der Ministerin von Schleinitz aus Berlin, von Fr. von Meysenbuch in Florenz usw. Hans von Blow, den ich noch gar nicht kannte, hat mich hier besucht und bei mir angefragt, ob er mir seine bersetzung von Leopardi […] widmen drfte. Der ist so begeistert von meinem Buche, daß er mit zahlreichen Exemplaren herumreist, um sie zu verschenken. Es giebt bald eine zweite Auflage. brigens 7 8
Marie von Schleinitz (1842 – 1912), Freundin Cosima Wagners, Mittelpunkt eines bismarckfeindlichen und wagnerfçrdernden Gesellschaftskreises. Die Briefe von Mathilde Meyer und Edouard Schur sind nicht berliefert, vgl. KGB II/ 7,1, S. 239.
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giebt es noch keine çffentliche Anzeige, nicht einmal eine Buchhndleranzeige. – es ist ein Erfolg im Schooß der Familie. Dohm, der Redakteur des Kladderadatsch ist auch ein ,Begeisterter‘ und wird darber schreiben – vielleicht der erste: was sich rhrend und ridikl ausnehmen wrde. – Nur unsere verrckten Philologen schweigen – der Brief von Ritschl war doch sehr wenig aufrichtig und dazu recht unbedeutend.“ KGB II/1, Bf. 207, S. 305 f Malwida von Meysenbug: „Im Jahre 1872 in Florenz lebend, wurde ich von Frau Cosima Wagner auf eine Schrift [GT] aufmerksam gemacht […]. Es befand sich gerade damals ein kleiner Kreis bedeutender Menschen um mich. Wir lasen diese Schrift zusammen und waren Alle gleich davon begeistert. […] Was uns aber Alle aber noch mehr anzog als die Gelehrsamkeit des grndlich mit dem Alterthum Vertrauten, war die Geistesflle und Poesie in der Auffassung, das errathende Auge des dichterischen Menschen, welcher die innere Wahrheit der Dinge mit seherischen Blicke begreift, da, wo der pedantische Buchstabengelehrte nur die ussere Schale faßt und fr das wesentliche hlt.“ Meysenbug, Malwida von (1902): Individualitten. Berlin, S. 2 f Malwida von Meysenbug an N, 26. 7. 1872: „Daß sie auch Ihnen freundlich nachklingen, ist mir eine große wahrhaftige Freude, denn wenn ich mich auch des von Ihnen bezeichneten Fehlers der meisten Leser, sich den Autor nach seinem Buch zu construiren, nicht schuldig gemacht hatte und nur mit dem wrmsten Interesse dem persçnlichen Eindruck entgegen sah, so hat sich der doch nun auf das Schçnste mit dem Eindruck des Buches [Geburt der Tragçdie] verbunden und ein recht tiefes mtterliches Gefhl erzeugt auf das Sie nun unter allen Umstnden bauen mçgen.“ KGB II/4, Bf. 348, S. 55 Heinrich Romundt an N, 12. 10. 1872: „Der Ascher schrieb mir brigens auch, daß er Dein Buch [GT] sehr gut kenne, (warum schreibt er dann nicht ’mal darber?) aber er meint sehr naseweis, Du habest Dich in eine verkehrte Richtung verrannt; und das will Vertreter der Schopenhauerschen Musikauffassung sein?“ KGB II/4, Bf. 365, S. 85 N an Richard Wagner, 15. 10. 1872: „Nun, meinen Lohn habe ich dahin, denn die Nationalzeitung9 soll mich neulich einmal als den einzigen aus dem ,Tross Ihrer litterarischen Lakaien‘ bezeichnet haben, der einen akademischen Lehrstuhl inne hat. Mit diesem neuen harmlosen Titel versehen nehme ich heute, geliebter Meister, von Ihnen Abschied.“ KGB II/3, Bf. 260, S. 63
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Quelle nicht zu ermitteln, vgl. Krummel, Richard Frank (2006), Bd. IV, S. 6.
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Heinrich Kçselitz: „Eines Tages [wurde ich] von meinem Freund Widemann auf ein Buch hingewiesen, das ihn in hçchstes Verzcken versetzt hatte. Es war Nietzsche’s Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik. Auch auf mich machte das Buch einen Eindruck ohne Gleichen. Mit einem solchem Blick, fhlten wir, war noch nie in die Tiefen des griechischen Wesens geschaut worden […].“ Gast, Peter [Kçselitz, Heinrich] (Hrsg.) (1908): Friedrich Nietzsche. Briefe an Peter Gast. Leipzig, S. XV – XVI Cosima Wagner, 28. 9. 1873, anlßlich unbedachter ußerungen von Ottilie Brockhaus ber N: „[…] sie ist dermaßen im Universittswesen verfangen, daß sie ber das Buch ,Die Geburt der Tragçdie‘ spricht, ohne zu bedenken, daß Nietzsche fr ihren Bruder seine Karriere auf das Spiel gesetzt hat und daß eine Roheit darin liegt, uns in solcher Weise die verachtenden und verfemenden Urteile der hohen Gelehrten mitzuteilen; wie selbst das beste Herz aufhçrt warm zu werden, wenn die Macht unaufhçrlich ihm gegenbersteht, ersehe ich aus diesen Empfindungen von Wagner’s Schwester gegen den treusten Anhnger ihres Bruders.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In: In: Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 2, S. 1149ff, 28. 9. 1873
Erwin Rohde an Friedrich Zarncke, 10. 1. 1872: „Sehr geehrter Herr Professor! In der ersten Woche des Dezember v. J. habe ich Ihnen die Anzeige der mir zur Besprechung im Centralblatte zugeschickten Bcher von Ranke und Teuffel zugesendet, die hoffentlich richtig in Ihre Hnde gekommen ist; heute erlaube ich mir, Sie um Zulassung einer anderen Anzeige in Ihrer Zeitschrift zu ersuchen. Mein Freund Nietzsche hat mit Anfang des Jahres (bei E. W. Fritzsch in Leipzig) eine Schrift, des Titels ,Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik‘ erscheinen lassen. Ich mçchte Sie um die besondere Gunst ersuchen, diese Schrift unsres gemeinsamen Freundes im Centralblatt anzeigen zu drfen. Es ist nicht allein die genaueste Freundschaftsverbindung, die mich an allen wissenschaftlichen Arbeiten N’s und im besonderen an dieser seiner ersten separat erscheinenden Schrift den innigsten Antheil nehmen lßt, sondern wohl mehr noch die tiefste berzeugung von der hohen Bedeutung, die dieses Buch, richtig verstanden, fr die Lçsung der ernstlichsten aesthetischen Probleme, vor Allem auch fr eine ganz neue Beseelung der Alterthumsstudien gewinnen mßte. Dieser berzeugung einen kurzen und prgnanten Ausdruck zu geben, drngt mich das reinste Gefhl. Sollten Sie also, geehrter Herr Professor, meinem Wunsche nichts entgegensetzen, so wrde ich dann baldmçglichst die betreffende Anzeige einsenden.
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Mit der Hoffnung auf einige Zeilen zusagender Antwort verbleibe ich mit der vorzglichsten Hochachtung Ihr ganz ergebner Erwin Rohde Dr. (Kiel, Brunswiekerstraße 10 b)“ KGB II/7,1, Bf. 43, S. 640 f Erwin Rohde an Friedrich Zarncke, 29. 1. 1872: „Geehrter Herr Professor! An demselben Tage, wo mir durch Ihre Gte meine Anzeigen des Teuffelschen und des Rankeschen Buches (die letztere, wie ich sehe, durch einige Zustze erweitert) gedruckt zugehen, erlaube ich mir, Ihnen mit beiliegendem die Anzeige der Nietzscheschen Schrift zuzuschicken, deren Aufnahme in Ihr Centralblatt Sie so gtig waren mir zuzusagen. Trotz aller Bemhungen die ich vornehmlich auf eine starke Zusammendrngung des zu sagenden verwendet habe, hat mich die Schwierigkeit der Materie und die Art der Behandlung, die gewiß fr viele Leser etwas befremdlich Neues haben wird, zu einer mehr recapitulirenden Art der Anzeige gençthigt, die mich denn, frchte ich, ein klein wenig ber die Grenzen der blichen zwei Spalten hinausgetrieben hat. Wie ich Sie dies gtigst zu entschuldigen bitte, so wage ich noch eine Bitte vorzutragen, deren Mißdeutung ich nicht frchten darf. Wahrlich nicht in meinem Interesse, aber in demjenigen meines Freundes, der, wie ich mir vorstelle, mit einiger Ungeduld auf die erste çffentliche Stimme ber sein ihm sehr wichtiges Erstlingswerk warten mag, erlaube ich mir, Ihnen die Bitte ans Herz zu legen, diese Anzeige sobald zum Abdrucke zu bringen, als sich ohne irgend welche Stçrung aller sonst etwa schon getroffenen Anordnungen des Stoffes und Platzes thun lßt. Ich hoffe, wie gesagt, daß Sie mir diese Bitte nicht als Unbescheidenheit auslegen werden, und wrde anderseits durch die Erfllung Ihnen, geehrter Herr Professor, zu ganz besonderem Danke verpflichtet sein. Hochachtungsvoll ergebenst E. Rohde Dr.“ KGB II/7,1, Bf. 49, S. 651
Rohde, Erwin: Die Geburt der Tragoedie aus dem Geiste der Musik. [Zurckgewiesene] Anzeige fr das Literarische Centralblatt fr Deutschland, Leipzig. Friedrich Nietzsche (ordentl. Professor der klassischen Philologie an der Universitt Basel) Die Geburt der Tragoedie aus dem Geiste der Musik. Leipzig 1872. E. W. Fritzsch. (IV, 143 S. gr. 8.) Den nchsten Zweck dieses Buches spricht sein Titel mit klarer Bestimmtheit aus. Es will einen neuen Weg erçffnen zum Verstndniß des tiefsten aesthetischen Geheimnisses: die Wandergebilde der tragischen Kunst, die, als fertige Gestaltungen gleichsam von Außen betrachtet, bisher zahllosen trivialen und tiefsinnigen Deutungsversuchen gegenber in sprçder Unergrndlichkeit verharrten, sollen hier zu innigstem Verstndniß wie von innen heraus durch-
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leuchtet werden; was sie in ihrem wahren Wesen sind, sollen wir erfahren, indem wir betrachten wie sie es wurden. Der Weg der Untersuchung ist also ein historischer, aber der jener chten Kunsthistorie, die, statt mit den drftigen Notizen der Chronik und Poetik wie mit tauben Nssen ein kindisches Spiel zu treiben, des Rthsels letzte Lçsung den Kunstwerken selber mit andchtiger Vertiefung zu entfragen weiß. Nur diese hçchste Art der geschichtlichen Betrachtung bewhrt ihre Verwandtschaft mit der Kunst darin, daß ihre Erkenntnisse zugleich ber das ewige Wesen menschlichen Wollens und Vermçgens allgemein gltige Belehrung geben. Und so drfte man den Sinn des Verfassers wohl zu treffen hoffen, wenn man das von ihm zunchst an der geschichtlichen Entwicklung des griechischen Kunstgenius erkannte und dargestellte Wesen menschlichen Dichtungsvermçgens etwa folgender Maaßen in allgemeinerer Form aussprche. Der Mensch, in eine Welt der Qualen gestellt, und selbst von endlos fluthendem schmerzlichen Sehnen bewegt, wre hlflos ewigem Leiden preisgegeben, um so hlfloser, je tiefer er Leid und Mitleiden in menschlich zarter Seele empfnde und je entschiedener er den gebrechlichen Zustand dieser Welt hinwegzuklgeln ehrlich verschmhte. Aber ihm ist im eignen Innern eine Heilkraft bereitet, jene wunderbare Kraft, die ihn aus dem verworrenen Material der Sinnesempfindungen eine außer ihm liegende, in Zeit und Raum nach dem Gesetze der Causalitt stetig sich entwickelnde Bilderreihe hervorzuzaubern zwingt. Im Anschauen dieser Bilder fhlt er sich unmittelbar beglckt, oder vielmehr er fhlt sich dem Bereiche gnzlich entrckt fr welches Glck und Unglck die Leitsterne sind. Diese trçstlichen Bilder begleiten ihn berall, er wiederholt sie im Traume, und ganz von ihrer Herrlichkeit erfllt fhlt er sich gedrngt und befhigt, im Epos in verdichteter Deutlichkeit die Bilder dieser wundervollen Welt des Scheines zu dauerndem Genusse festzubannen. Das epische Kunstwerk bt im hçchsten Grade jene Macht, von der Gewalt des allbewegenden Willens loszulçsen: wir sehen alles Liebliche und Furchtbare dieser Welt in langen Bilderreihen an uns vorberziehen, aber wir fhlen nicht Freude noch Entsetzen, nicht Verlangen noch Furcht; wir sehen weiten Auges die herrlich bewegten Gestalten, und begehren nichts mehr. Wie nun aber der Mensch in dieses vertiefte Beschauen der reichen Bilder individuellen Lebens ganz verloren ist, berkommt ihn wohl plçtzlich, mitten im andchtigsten Betrachten, eine blitzartig schnelle Erleuchtung ganz andrer Art. Fhlte er sich bisher im Besitz des Allerrealsten, dieser sichern Welt der Wirklichkeit, geborgen, so zerfließt dies alles nun wie ein Nebelschleier, die Tuschung der Individuation verlsst ihn, er wird hinabgeschlungen in die purpurne Finsterniß der Tiefe, wo das Eine ewig bewegte Leben fluthet, dessen glitzernde Oberflche mit ihren rastlos sinkenden und steigenden Wellen er frher fr das Wirkliche und Seiende hielt. Nun empfindet er entsetzt, daß all die Millionen Wellen nichts sind, das ewig Nichtseiende, und furchtbares
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Grausen packt ihn bei dieser bermenschlichen Erkenntniß. Doch wechselnd durchdringt ihn ein glhendes Entzcken: denn er fhlt sich, dem entfesselten Prometheus gleich, aller hemmenden Bande seines engen Individuums los, in schrankenlos gewaltiger Freiheit bewegt, im Sturme nie empfundner Gewalten der Freude und des Schmerzes dahinfahrend. Und nun bricht sich diese ungeheuer gesteigerte Erregung einen Weg nach Außen, aller Jubel, alle Qual des Weltalls gewinnt in seinem Innern eine Stimme, und ergießt sich in schrecklich erhabenen Melodien. Nun wogt die Musik daher wie eine entfesselte Elementarkraft – ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer! Ist’s Lieb? ists Haß? die glhend uns umwinden, mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer? Dies Flammenbermaß droht, wie in einem Weltbrande, das Individuum zu zerstçren; doch nun offenbart sich die hçchste rettende Schçpferkraft der Kunst. Wie durch die Musik der Knstler das tiefste Wesen der Welt in ungeheurer Allgemeinheit gleichnißartig aussprach, so strahlt nun aus dem bewegten Meere der Musik ein zweites Gleichnißbild empor, das in einem Vorgang des menschlich individuellen Lebens das berwltigend Große der Musik wie in millionenfacher Verjngung wiederholt und menschlicher Auffassung ertrglich macht. In ungeheurem Ringen gebiert die Musik den Mythus das Gleichnißbild der allmchtigen Weltkrfte. Nie wird es gelingen, in begrifflicher Erkenntniß zu verfolgen, durch welche wirkenden Krfte die zeit- und raumlose Allgewalt sich im Werke des Knstlers zur Erscheinung emporringe, zuerst nur in der Form der Zeit erkennbar werde, und aus der Musik das in Zeit und Raum zugleich bewegte Gleichnißbild entsteigen lasse. Wer dies vermçchte, htte auch das Rthsel der Welt gelçst. Aber von der Existenz dieser dmonischen Fhigkeiten giebt uns das hçchste Kunstwerk feurige Gewißheit, wie es vor uns steht als die aus der Musik geborene mythische Tragoedie. Den hier kurz angedeuteten knstlerischen Vorgang hat nun der Verfasser, wie gesagt, nicht als unmittelbare Erfahrung hingestellt, sondern ihn vielmehr aus der Entwicklung des hellenischen Kunstvermçgens historisch gewonnen. Die Griechen selbst hatten die ganz verschiedenen Kunsttriebe der epischen Beschaulichkeit und der dramatischen Innerlichkeit sehr wohl geschieden, indem sie zu jenem durch den Schçnheitsfreund Phçbus Apollo, zu diesem durch den Gott der gewaltigsten Naturkrfte, den Dionysus, sich begeistert fhlten. Wie nun im homerischen Epos der apollinische Trieb sich am herrlichsten offenbare, darnach aber ein mchtig hereinstrçmender dionysischer Enthusiasmus ganz Hellas aufs Tiefste erregte, in der dionysischen Musik sein glhendes Leben knstlerisch aussprach, in der lyrischen Dichtung das weit ber alle individuelle Leidenschaft erhabne Wesen dieser Musik wie in einzelnen Situationsbildern wiederspiegelte, und endlich in der Tragoedie durch den aus der Musik geborenen Mythus des Lebens und der Musik tiefste Bedeutung in gleichnißartigen Bildern dem ahnenden Verstndniß leibhaftig vorzufhren
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vermochte: – dies alles in der durch Tiefe und Klarheit gleich berzeugenden Darstellung des Verfassers sich darlegen zu lassen, mçchte diese Anzeige die Leser auffordern. Den Philologen und den Aesthetiker muß es gleichmßig interessiren, hier durch eine glckliche Verbindung historischer und aesthetischer Betrachtung so befremdliche Probleme gelçst zu sehen, wie das Hervorwachsen der Tragoedie aus dem Tanzliede des dionysischen Chors, die oft hervorgehobene Verbindung lyrischer und epischer Elemente in der Tragoedie, die von jedem Leser empfundene unergrndliche Bedeutungstiefe der doch zugleich so klaren Handlung der Tragoedie sind. Wenn man bisher, in der Regel, durch Aufsprung eines sogenannten „Grundgedankens“ die Tragoedie eigentlich doch zu einer colossalen aesopischen Fabel herabwrdigte, so ist, was zu solchen Versuchen wenigstens den richtigen Impuls gab, hier in einer ganz andern Tiefe und Kraft fr die Einsicht gerechtfertigt. Aber der Verf. schreitet von der historischen Betrachtung fernen Alterthums durch die Weite der Zeiten bis zu unsrer Gegenwart herab. Er schildert den Tod der griechischen Tragoedie nach kurzer Blthe. Ihre knstlerische Kraft, die von den letzten Geheimnissen des Weltzusammenhanges in mythischen Bildern zu reden vermochte, zerging vor dem Bestreben einer unmittelbaren begrifflich wissenschaftlichen Erkenntniß eben dieses Weltzusammenhanges in seiner ganzen Tiefe und Breite, ein Bestreben das zuerst, mit der dmonischen Gewalt des Instinctes, in Sokrates hervorbrach, und von da an alle Krfte des langen Herbstes und Winters hellenischer Cultur in Thtigkeit hielt. Als dann, zur Zeit der Wiedergeburt einer freieren Bildung, Europa zu den einzig wrdigen Lehrmeistern, den Griechen, sich zurckwandte, da knpfte es an diesen sokratisch-alexandrinischen Weltergrndungstrieb unmittelbar an, und seitdem wurzeln gerade unsre besten Bestrebungen in einem freilich gewaltig gesteigerten Alexandrinismus. Nun aber stellt der Verf. dar, wie diese ausschließlich herrschende Richtung, edel in sich, doch die tiefsten Fhigkeiten menschlicher Kraft ganz berwuchert habe, wie sie durch die tiefsinnige Wahnvorstellung, als ob sie mit der Kette der Logik alle Abgrnde zu ermessen vermçchte, uns nur immer im Kreise umtreibe, wie sie endlich, unsre ganze Cultur beherrschend, ihren von Sokrates ererbten theoretischen Optimismus in praktischen Eudmonismus verwandle, der allmhlich, zur gellenden Forderung geworden, auf diese morsche Cultur eine ganze Hçlle zerstçrender Gewalten loszulassen droht. Hier aber beseelt ihn eine trçstliche Hoffnung: daß, vom Alexandrinismus aufwrts steigend, wir endlich noch von den Griechen das Hçchste lernen, die dionysisch-apollinische Kunst der Tragoedie neu erwecken, und damit eine neue Cultur verheißungsvoll inauguriren mçchten. Unserm aus langem Schlafe jngst erwachten deutschen Volke aber scheint diese herrliche Entwicklung zu einer seinen innersten Fhigkeiten einzig wrdig entsprechenden Bildung aufbehalten zu sein; denn in unserm Volke ist jene angemaßte Allgewalt der logischen Erkenntniß in ihren auf die Erscheinung begrenzten Machtumfang
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siegreich zurckgewiesen worden durch den Kant’schen Kriticismus, und aus dieser hçchsten That wissenschaftlicher Selbsterkenntniß ist schon einmal eine schmerzlich kurze Blthe edelster Bestrebungen zu einer wahrhaft knstlerischen Cultur entsprungen. Verheißungsvoller noch ist die aus unsrer heutigen Bildung in keiner Weise erklrliche Erscheinung, wie in alles Tosen dieser wild erregten Zeit, gleich einer Offenbarung einer andern Weit, die gewaltigen Klnge der deutschen Musik hereintçnen. Und sollte denn nicht dieser unsrer eigensten Kunst die Kraft innewohnen, uns eine eigenste Bildung harmonisch zu gestalten, so gut wie den Romanen ihre Weise der Kunstentwicklung eine ihnen angemessene Cultur geschaffen hat? Dieser vertieften Bildung mçchte dann als herrlichste Blthe das erhabenste Kunstwerk entsprießen, die aus der deutschen Musik geborne Tragoedie. Ja, schon empfindet die hçchsten Entzckungen solcher edelsten Kunst, wer mit gleich andchtiger Hingabe, wie der Verf., die Kunstschçpfungen des großen Meisters in sich aufzunehmen vermag, dem diese Schrift, als einem Gleichgesinnten, gewidmet ist: Richard Wagner. Wie alle reinsten und innigsten berzeugungen dieses seines Freundes, so theilt der Verf. auch die Grundanschauung der Musik als einer (platonischen) Idee der Welt, wie sie Richard Wagner – in jener Festschrift ber Beethoven, die bei Weitem nicht den Dank gefunden hat, wie er einer solchen Selbstoffenbarung der geheimnisvollsten Kunst durch den Mund eines genialen Knstlers wahrlich gebhrt – vertritt, in besttigendem Anschluß an jene einzig gengende Deutung der Musik die Arthur Schopenhauer aus den Tiefen seiner Welterkenntniß gewonnen hat. Zu diesen beiden Meistern, Wagner und Schopenhauer, bekennt sich der Verf. berall mit freudiger Treue: und so mçchte man auch die reinste Wirkung dieses Buches bei denjenigen Lesern erwarten, die, von der herben Wahrhaftigkeit Schopenhauers erschttert, in keiner schaalen Vergnglichkeitstheorie auch nur einen Augenblick Trost und Genge finden kçnnen. Ihnen wird, als den wahrhaft Sehnschtigen, dieses Buch wie eine frohe Botschaft kommen, die ihnen etwas von jenem metaphysischen Troste bringen mçchte, mit dem die dionysische Tragoedie den ernsten Hçrer entlsst; als welche uns, in seliger Verzckung, ahnen lsst, wie uns, die in diese arme Individuation gebannten, zugleich das allgewaltig Lebende erfllt, wie wir selbst das ewig Eine sind, das in dem endlos fluthenden Wellenspiel der Welt zur Erscheinung drngt, und wie allen Schmerz dieses Weltwahnes die ungeheure Wonne dieses Spiels mit sich selber aufwiegt, dessen schmerzliche Lust die tragische Kunst, als sein verklrtes Abbild, den aesthetischen Zuschauer empfinden lassen will. Zu aesthetischen Lesern dieses ernsten Buches mçchten wir alle wahrhaft ernst gesinnten werben. Der (leider wohl zahlreichen) Classe jener Klugen aber, die auf das nichtig Ephemere eine klgliche Ernsthaftigkeit zu wenden gewohnt, nur eben fr das wirklich Edle und Innige keine Andacht brig haben, dieser Classe wird, so darf man hoffen, das Buch recht herzlich anstçßig sein. Sie mçgen auch immerhin versichern, daß sie von allem was unser
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Verf. hçrt’ und sah „nichts mit ihm empfunden“ haben; nur darf man sie wohl bitten zu glauben, daß es gar manches Herrliche giebt, das darum noch nicht zu existiren aufhçrt, weil sie es nicht zu fassen und zu tasten vermçgen. Reaktionen N an Erwin Rohde, 30. 4. 1872: „Ich habe dagegen Anzeigen davon, daß ich den eigentlichen Fachgenossen jetzt bereits lcherlich vorkomme, lcherlich und unmçglich, weshalb mir zB. brieflich nicht mehr die bliche Hçflichkeit angethan wird. Jetzt ist ja auch der Index des rhein. Mus. erschienen – denke Dir daß weder Ritschl noch Klette mir ein Wçrtchen des Dankes fr diese Gratisund Hundearbeit gesagt haben! Schon mein Homeraufsatz (obschon nicht publiziert) hat die ußerung hervorgerufen – ,noch so ein Schritt und er ist ruinirt!‘ Da geziemt es sich freilich, dem allmhlich immer frecher werdenden Vçlkchen die Zhne zu zeigen und sie snftiglich mit der Nase auf die Dinge zu stoßen, die sie mit ihren blçden Augen nicht sehen mçgen.“ KGB II/1, Bf. 212, S. 313
Anonym: L’origine della tragedia dallo spirito della musica. In: La Rivista Europea. Florenz, Bd. 3, Nr. 2 vom April 1872, S. 402. Da Lipsia, elegantemente stampato per cura dell’ editore E. W. Fritzsch (direttore ed editore del giornale: Musikalisches Wochenblatt, ossia foglio settimanale musicale; ne escono, 16 pagine alla settimana, e costa in Germania, due talleri all’ anno; gli ultimi numeri che abbiamo sotto gli occhi dal 30 dicembre al 17 febbraio, contengono fra gli altri scritti una estesa biografia di Riccardo Wagner) ci perviene un lavoro notevolissimo di Federico Nietzsche, professore ordinario di filologica classica all’ universit di Basilea, intitolato: L’origine della tragedia dallo spirito della musica. L’autore, che un ammiratore della musica di Riccardo Wagner, al quale l’opera dedicata, studia la tragedia greca nelle sue prime origini tra le feste religiose, come complemento della musica, prima manifestazione dell’ideale ellenico, per arrivare infine a conchiudere sulla necessit di far procedere ancora unito con la musica il mito tragico. In queste pagine vi forse, per dire il vero pi metafisica che storia; e noi temiamo che abbia concesso troppo all’illusione il Nietzsche nel rappresentarsi il culto Dionisiaco e il culto Apollineo, che possono essere decomposti in elementi molto pi materiali di quelli supposti dal dotto professore filosofo di Basilea; ma ci
non toglie, anzi per un certo ordine di lettori pu accrescere pregio a questi
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scrittura, che in ogni modo ci sembra degna di fermar l’attenzione degli studiosi, per una certa novit di vedute e di applicazioni. Reaktionen Cosima Wagner an N, 24. 4. 1872: „Sie vergassen ihre Vortrge; ich schicke sie mit der Polemik, und einer italienischen Revue; an letzteres ist mir nur das Merkwrdige dass das erste Wort ber Ihr Buch ein Italienisches sein musste!“ KGB II/2, Bf. 310, S. 591 N an Ernst Wilhelm Fritzsch, 29. 4. 1872: „Die erste Anzeige der Geburt der Tragçdie ist brigens erschienen – aber wo! In der italienischen Rivista Europea, zugleich mit einer empfehlenden Bemerkung ber ihre Musikzeitung.“ KGB II/ 1, Bf. 211, S. 312 N an Erwin Rohde, 30. 4. 1872: „Die erste Anzeige meines Buches ist auch erschienen und sehr gut ausgefallen – aber wo! In der italinischen Rivista Europea! Das ist hbsch und symbolisch!“ KGB II/1, Bf. 212, S. 313 N an Carl von Gersdorff, 1. 5. 1872: „Die erste Anzeige meines Buches ist nun auch erschienen aber wo! In der italinischen Rivista Europea!“ KGB II/1, Bf. 214, S. 316 N an Elisabeth Nietzsche, 2. 5. 1872: „Die erste Anzeige meines Buches ist auch erschienen, hbsch und gut – aber wo? In einer italinischen Zeitschrift Rivista Europea.“ KGB II/1, Bf. 216, S. 320 N an Wilhelm Vischer-Bilfinger 31. 5. 1872: „Hier empfangen Sie die erste ausfhrliche Rezension, die meine Schrift ber die Geburt der Tragçdie bis jetzt erfahren hat. Sie ist von Prof. Rohde in Kiel und wird seinetwegen Ihnen vielleicht lesenswerth erscheinen. Die allererste, aber krzere Anzeige brachte die italinische Rivista Europea.“ KGB II/3, Bf. 225, S. 5
Rohde, Erwin: Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik. In: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Sonntagsbeilage der Nr. 21 vom 26. Mai 1872, S. 1 f. Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik von Friedrich Nietzsche. Leipzig 1872.
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Wer ber die eigenthmlichen Schicksale der Bcher noch nicht hinreichend unterrichtet wre, der kçnnte wohl einigermaassen verwundert sein, dieses hçchst bemerkenswerthe Buch von der berufenen und sonst ja in ihrem Beruf so geschftigen litterarischen Kritik nun schon seit mehreren Monaten vçllig ignorirt zu sehen. Ohne im brigen die vielleicht zum Theil recht lehrreichen Grnde dieses befremdlichen Stillschweigens zu untersuchen, glaubt der gegenwrtige Recensent nur jedenfalls zur Ehre der Herren vom hohen Stuhl annehmen zu mssen, dass nicht etwa die Einbildung eines hçheren Standpunktes ihnen hinderlich war, ihre Blicke bis zu dem hier Vorgetragenen herabsinken zu lassen. Denn er wenigstens, der freilich statt eines gewichtigen Namens nur das Gewicht einer innigen Ueberzeugung einzusetzen hat, fhlt eben darum die moralische Verpflichtung, endlich einmal die çffentliche Aufmerksamkeit, so weit es mçglich, auf dieses Buch zu richten, weil er im Gebiete philosophischer Kunstbetrachtung etwas an Tiefe und eindringlicher Kraft der Einsicht diesem Buche Gleiches in allen Weiten der Litteratur nur sehr selten, und in neuerer Litteratur berhaupt nirgends angetroffen hat. Wre nun auch nur die ernste Wissenschaft der Aesthetik durch dieses Werk bereichert, so gebhrte dem Verfasser wohl wahrlich ein lauter Dank: aber sein Verdienst ist ein weiteres. Es gab wohl eine Zeit, wo der philosophische Aesthetiker es liebte, in allen Himmeln abgezogenster Allgemeinheiten herumzujagen, und sich fern der irdischen Wirklichkeit ein spekulatives Wolkenkukuksheim zu erbauen, von wo aus sich dann die empirische Kunstwelt da drunten recht wunderlich ausnahm. Solcher Hochflug ist nun nicht mehr Sitte; man ist auf den festen Boden der Geschichte herabgestiegen, die Aesthetik ist fast eine historische Disciplin geworden. Aber nun ist sie aus ihrem frheren Hochmuth in eine schier unwrdige Bescheidenheit verfallen: mit einigen durch Alter bewhrten Einsichten des gesundesten Menschenverstandes ausgerstet, lsst sie die ganze unendliche Reihe der Kunstgenossen an sich vorberziehen, giebt jedem sein Sprchlein mit, und meint ihr Werk gethan. Aber wie die Kunst, die sie zu deuten hat, ist die Aesthetik gçttlichen Gebltes, und es ziemt ihr nicht, in den Niederungen der Alltglichkeit Frohndienste zu thun; auf den Berghçhen der Betrachtung soll sie weilen, den Blick freilich nicht auf die unendliche Leere der philosophischen Abstraktion gerichtet, sondern auf die ewigen Sternbilder griechischer Kunst, wie sie, ber allem barbarischen Wirrsal der Zeiten, in Stunden der Sammlung immer wieder zu begeistertem Aufblick einladen. Sie mag, wie eine hlfreiche Schwester, der klassischen Philologie das wieder ins Gedchtniss rufen, was diese zu lange schon vergessen hat: dass ihren Hnden das kostbarste Gut anvertraut ist, welches eine gtige Natur dem Menschengeschlecht zu ewiger Erbauung geschenkt hat; nicht damit sie es zu andern hottentottischen und pfahlbauerischen Antiquitten in eine grosse Kuriosittensammlung stelle, sondern auf dass sie an diesen reinsten Werken menschlichen Kunstvermçgens
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den sptern Barbaren mahnend erkennen lasse, wohin auch ihn seine hçchste Bestimmung rufe. In solchem Schwesterbunde treten nun in diesem Buche die Kunde des hellenischen Alterthums und die philosophische Kunstbetrachtung vor den Leser: eben darum aber sind die Ergebnisse seiner historischen Untersuchungen zugleich Bereicherungen der allgemeinen Kunstlehre, und die aus der philosophisch-historischen Ergrndung des hçchsten hellenischen Kunstvermçgens gewonnenen Einsichten werden fr alle Zeiten zu dauernden Gesetzen und zu mahnenden Aufforderungen. Um nun eine Andeutung von dem Inhalte des Buches zu geben, wollen wir versuchen, nicht gerade der Anordnung des Einzelnen aber dem Zusammenhang des Ganzen folgend, das Grundgewebe der hier vereinigten Gedanken aufzudecken. Der reiche Blthenbaum menschlicher Kunst entspringt, so lehrt der Verf., als aus einer doppelten Wurzel, aus dem zwiefachen Verhltniss des Menschen zu der umgebenden Erscheinungswelt. Der ursprnglichste Kunsttrieb wurzelt in jener mchtigen Nçthigung, die Vielheit der Dinge als eine in Zeit und Raum nach dem Rhythmus stetigen Causalzusammenhanges bewegte Mannigfaltigkeit zu sehen. Wie den Menschen die Vertiefung in die Beschauung dieser umgebenden Herrlichkeit der bangen Spannung seiner persçnlichen Zwecke entreisst, so vermag er, um die friedliche Wonne solcher Betrachtung festzuhalten, diese Schçnheit der Erscheinung, eben weil sie als solche doch erst sein, des Beschauers Werk ist, zu dauerndem Genusse in ihrem Abbilde, dem Epos und der bildenden Kunst zu fesseln. Hier redet denn die leibhafte Herrlichkeit edel bewegter Gestalten, vor unserm Auge oder der zur Produktion angeregten Einbildungskraft sich regend, von der tiefen Schçnheit des verbreiteten Lebens der Erscheinung. Den Griechen aber vermochte dieser Kunsttrieb, wie er im homerischen Epos sich ausspricht, die ganze Welt zu verklren: er schuf sich, ber die wechselnden Erscheinungen des Erdenlebens hinaus, die olympischen Gottheiten, die, von dem Untergrunde leidender Bedrftigkeit losgelçst, in ewig strahlender Lebensflle die in allem Wechsel und Untergang unvernderliche Schçnheit der Erscheinungswelt verkçrperten. – Wie aber neben dem hellen Sonnentage die dunkle Nacht, die schwrmerische, steht, die den Menschen aus den finster gewordenen Schattenthlern der kleinen Erde zum Aufflug in die geheimnissvoll schimmernden Hçhen, der umgebenden Unendlichkeit begeistert, so versinkt in Stunden der Abkehr vom erfreulichen Licht die Seele in das tiefe purpurne Dunkel, aus dem die in schwankendem Glanze bewegte Welt der Erscheinung nur wie ein tuschendes Lichtbild aufsteigt. Was sonst so herrlich dnkte, die in ewigen Fluthen sich drngende Flle der Gestalten, zeigt sich nun als die gnzliche Nichtigkeit eines fortwhrend auf- und abwallenden Wellenspiels. Mit tiefem Grausen scheint sich der Mensch ins Nichts, in einen bodenlosen Abgrund versunken; doch aber
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erregt ihn das hçchste Gefhl einer ganz neuen magisch krftigen Wonne. Die Sonne sinkt hinab; nun aber schwebt das weite Heer der Sterne herauf: so ist ihm die Flle des Tageslebens wie ein Rauch verflackert, aber er fhlt das allgebrende Feuer in sich wallen, er selbst empfindet sich als das Eine, Ewige, das in allem Leben der Erde und in den Sonnenfernen der Unendlichkeit sich tglich neue Schçnheitsreiche erbaut. – Weckt ihn nun das Leben aus diesem Zustande tiefster Versenkung, so kehrt er aus der Tiefe zurck wie die Eingeweiheten aus der Hçhle des Trophonius; das frohe Lachen liess er dahinten, die armselige Welt der werdenden Erscheinungen scheint ihn wie mit blassen Gespenstermienen anzusehen; gengstigt und geqult sehnt er sich aus dem Reiche des Streites und der vergnglichen Unseligkeit zurck nach den Entzckungen, die ihn in den Schooss des alten Vaters der Dinge, des uranfnglichen Chaos aufnahmen, der ihm in der steten Selbstzerstçrung der Vielheit wie in krampfhaften Zuckungen sich zu verzehren scheint. Dieser Drang, zu einem brennenden Heimweh geworden, kann, das ganze Leben beherrschend, zu einer philosophisch religiçsen Mystik sich gestalten. Wer darf es wagen, den tiefen Ernst orientalischer und occidentaler Asketen zu tadeln, die aus solcher weltberwindenden Inbrunst die schwere Kunst des Sterbens zu erringen lernten. Aber freilich, die herbe Begeisterung solcher Mystiker zerstçrt, in ihrer ganzen dmonischen Kraft ausbrechend, Welt und Leben, Kunst und Geschichte, und wenn sie die Menge in ihre Kreise zieht, so wird sie diese, die, zur nahrunggebenden Erde gebckt, solches, alle Einzelbestrebungen weit berfliegenden Ernstes gar nicht fhig ist, zu stupiden Heuchlern machen, oder sie zu einem fanatischen Taumel fortreissen, der sie in einen Abgrund des Grsslichen treibt. Den Griechen waren nun diese tiefen Erregungen einer pantheistischen Begeisterung keineswegs fremd: nach der homerischen Zeit ergoss sie, vom Osten kommend, sich in gewaltigen Wellen ber das hellenische Land, unter dem tosenden Jauchzen der Diener des Dionysus. Aber vor jenem Ueberschwang der Weltverneinung bewahrte sie dieselbe ihnen eingeborene Gottnatur, die sie vor der nicht geringeren Gefahr beschtzte, ihre klare Schrfe der Auffassung usserer Dinge zu einer blossen Maschine im Dienste gieriger Lebensdmonen zu erniedrigen. Es gelang ihnen, den brausenden Strudel, der sie in seine Tiefen zu ziehen drohte, durch das Zauberwort der Kunst zu bannen. Wie das geheimnissvolle Entzcken der plastisch-epischen Kunst darauf beruht, dass sie, die begehrenden Willenskrfte zu trumender Meeresstille einschlfernd, die anschauenden Fhigkeiten unserer Natur zur Einsaugung der hçchsten Herrlichkeit der Erscheinung reizt, so vollbringt wiederum das menschliche Kunstvermçgen das Wunder, auch diese tiefste Erregung aller Willensgewalten, die uns mit dem Einen Weltwillen verbinden, aus der grausenden Wonne mystischer Verzckung zu begeisternder, erlçsender Erhebung zu gestalten, indem sie eben dieses so gewaltsam waltende Weltenfeuer zum Bilde formt, es objectiv macht in der Musik. In der Musik bricht wie mit wogendem
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Flammenschwalle sich aus dem Herzen des Menschen der gewaltige Weltwille eine Bahn, jener Wille, der sich alle Welten organischen und unorganischen Lebens gestaltet hat, er findet in den rhythmisch bewegten Klngen der geheimnissvollsten Kunst seine hçchste, knstlerisch abbildende Verklrung. In dieser Erkenntniss, die in der That der Aesthetik eine ganz neue Bahn vorzeichnet, schliesst sich unser Verfasser dem grossen Denker an, zu dessen Anschauungen er sich berall bekennt: Arthur Schopenhauer. Freilich waren auch unter den griechischen Denkern Einige von dieser Einsicht nicht fern, wie aus manchen Aeusserungen des Aristoteles im achten Buch der Politik hervorgeht, und namentlich aus jener tiefsinnigen Meinung einiger Pythagoreer, dass die menschliche Seele nichts sei als musikalische Harmonie, und daher z. B. durch harmonische Musik von Krankheiten geheilt werden kçnne. – Wird nun aber, je brausender sich dieser Weltenstrom der Musik ergiesst, nicht das Herz des Hçrers desto heisser aufgeregt werden, in gewaltsam begeisterter Selbstvergessenheit sich hinabtragen zu lassen in die Tiefe der uralten Nacht, zu welcher der Strom jauchzend hinunterbraust? Das war wenigstens die Empfindung der Griechen gegenber der enthusiastischen Flçtenmusik der Asiaten; es ist dieselbe Empfindung des Entsetzens vor dem Uebermaass mehr als menschlicher Entzckung, die den Goetheschen Faust (im Prolog des zweiten Theils) von der majesttischen Weltensonne sich zum „farbigen Abglanz“ des sonnenfunkelnden Wasserfalls zu wenden zwingt. Nicht also die Griechen: ihnen erwuchs gerade aus dieser tiefsten Erregung durch die Musik die Kraft, aus dem Zwiespalt ungeheurer Bedrngnisse sich emporzuringen an das rettende Licht der Erscheinung, und wenn ihnen in der Musik das innerste Wesen der Welt in furchtbarer Allgemeinheit ertçnte so durchdrang sie nun gewissermaassen der in der Musik lebende Weltwille mit seiner schaffenden Kraft; so gelang es ihnen, aus der Musik das verjngte Gleichnissbild des tragischen Mythus hervorbrechen zu lassen. Indem also die Dionysische Kraft der Musik mit einer in gewissem Sinne kosmogonisch zu nennenden Gewalt sich den Mythus erzeugt, kehrt sie nach gewaltigem Ringen an das freundliche Licht der Menschenwelt zurck; hier reicht Dionysus seinem gçttlichen Bruder, dem Apoll, dem olympischen Gotte der Erscheinung, die Hand; die Schrecken des Abgrundes sind gebannt, aber im Zwiegesang des Dionys und Apoll ertçnt nicht mehr das prangende Festlied von der Schçnheit der Erscheinung; sie singen von den tiefsten Krften der Welt, die nicht in tndelnder Heiterkeit, sondern in feierlichem Ernst sich das Reich der wechselnden Erscheinungen gestalten und im flchtigen Wechsel von Leid und Lust, ja in Tod und Untergang selbst des Edelsten und Erhabensten sich eine schmerzliche Befriedigung erringen, von deren geheimnissvollem Wesen uns eben das rthselhafte Gleichnissbild der mythischen Tragçdie eine bedeutende Ahnung geben will. Niemals noch haben Begriffe und Worte ausgereicht, diese in der That mehr als menschliche Lust an Schmerz und Untergang im Anschauen der tragischen Bilder dem Verstande vçllig zu de-
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monstriren; gleichwohl empfindet sie vor jeder echten Tragçdie jedes menschlich verstehende Gemth. Auf moralischem Wege – den doch in der That sogar auch Schopenhauer hier eingeschlagen hatte – werden wir dem Ziele dieser schwierigsten Einsicht nie nahe kommen; so weit man mit der Fackel aesthetischen Verstndnisses diese Abgrnde erleuchten kann, so weit ist es sicher unserem Verfasser, und ihm zuerst, gelungen. Was hier nur in dunkler Krze angedeutet werden konnte, das hat er, dem klaren (und stumpfer Kurzsichtigkeit gleichwohl verborgenen) Entwickelungsgange der griechischen Kunst folgend, mit der energischesten Deutlichkeit als das Grundgesetz der Entwickelung menschlichen Kunstvermçgens nachgewiesen. Wenn aber die von jedem aesthetischen Hçrer tief empfundene Dionysische Weisheit der mythischen Tragçdie mit Worten, d. h. mit Begriffen, auch nur anzudeuten so schwierig, zu ergrnden ganz unmçglich ist, so liegt der Grund eben darin, dass hier von den tiefsten Geheimnissen der Welt in einer Sprache geredet wird, die weit hçher ist, als alle Vernunft und als deren Ausdruck, die Wortsprache. Wenn diese dahin strebt, die ganze Welt der Dinge in abgezogenen Begriffen zu umspannen, so beruht der Mythus, indem er in seine dichterischen Gestalten die Allgegenwart der Natur zu bannen versteht, auf jenem so viel reicheren und inhaltvolleren Verstndniss der weltbildenden Krfte, das, in der gottgeliebten Urzeit der Vçlker wurzelnd, diesen geradezu die abstrakte Auffassung der Dinge ersetzte. Der Mythus liegt vor der Abstraktion; er fllte in jener reichen Entfaltung, wie er uns bei den Griechen entgegentritt, die ganze Weite der Welt aus; neben ihm ist fr jene unpersçnlichen Hlsen der Dinge, die abstrakten Begriffe, gar kein Raum. Es bedarf fr uns Sptlinge ernstlicher Versenkung, um auch nur historisch zu verstehen, wie eine solche Mythenwelt, deren Herrlichkeit wir doch ahnend empfinden, wie namentlich die hçchste Beseelung der tiefsinnigsten Mythen in der mythischen Tragçdie, den Alten wie eine, das ganze Leben mit ihrem Glanze erfllende Offenbarung ber die letzten und ernstesten Dinge das Dasein weit heller erleuchten konnte, als uns alle Weisheit unsrer klugen Gedanken. Auch den Griechen kam der Tag, wo ihnen das mythische Verstndniss der Welt entschwand, wo sie ihre eigne Jugend nicht mehr verstanden, er kam freilich, als ihr Mannesalter von ihnen Abschied nahm. Man weiss, wie aus den immer noch in mythischer Deutung gebundenen Versuchen der ionischen Philosophen das abstrakte Denken der Griechen in wechselnden Phasen sich allmlig zu siegreicher Klarheit durchrang, wie es in Sokrates sich selbst und seine Absichten deutlich erfasste, und wie es sich nun mit einer fast bermthigen Begeisterung des ganzen Lebens bemchtigte. Nie aber ist mit hnlicher Festigkeit und lichtbringender Einsicht, wie bei unserm Verfasser, dargestellt worden, wie die von ihm mit Recht so genannte sokratische Tendenz der abstrakten Erkenntniss es war, welche die alte mythische Weltbetrachtung zerstçrte, und mit ihr die, als aus einem gemeinsamen Mutterboden aus ihr erwachsene Kunst, Leben und Sitte der Griechen.
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Man soll nicht klagen, wo die Geschichte ihrer grausamen Folgerichtigkeit genug thut; aber es liegt freilich in dieser Folgerichtigkeit, dass vor der abstrakten Weltbetrachtung die Kunst, so weit sie als ihre hçchste Aufgabe eine deutende Verbildlichung dieser rthselhaften Welt betrachtet, erblassen und zergehen muss. Wie kann auch eine souveraine Logik, die in ihrer frohen Zuversicht ihr hçchstes Ziel, das der Erklrung und begrifflichen Enthllung aller Weltenrthsel, als sehr wohl erreichbar betrachten muss, wie kann sie fr die Kunst einen andern Platz brig haben, als den einer anmuthigen Gauklerin fr die Stunden satter Ermdung von abstrakter Gedankenarbeit? Was soll das tiefsinnigste Gleichnissbild, wenn das strahlende Licht der Vernunft alles Dunkle in seiner wirklichen Gestalt hervortreten lsst? – Den Griechen nun fristete der lebendige Trieb nach erkennendem Umfassen der Welt noch auf lange Jahrhunderte ihr hinschwindendes Leben; sie fhlten es wohl, und P1utarch hat es gelegentlich in schçnen Worten ausgesprochen, dass das Leben nur ertrglich sei um der Erkenntniss willen, der Tod eben darum so schrecklich, weil er Unwissenheit bringt, Vergessen und Finsterniss. Es kam die Finsterniss: und endlich ein neuer Tag, wo wiederum die Griechen, wie schon einst, die fremden Barbaren zum Licht der Menschlichkeit zu bilden begannen. Wir hatten viel zu lernen, und mit Begeisterung ergab man sich den hellen Lehren der griechischen Meister. Seitdem erst entwickelte die Wissenschaft, wie ein Riese aus dem Schlaf erwacht, ihre Gewaltigen Glieder; und wer auch nur an einem kleinen Theil ihres Riesenbaues als Geselle zugreifen durfte, kann wohl nur bewundernd die Summe der Kraft, moralischer und geistiger, berdenken, mit der seit Jahrhunderten viele Geschlechter der Menschen hier im Bauen und Abtragen und wieder Bauen ihr Bestes dahin gegeben haben. Ist es ein Wunder, dass im Bewusstsein solcher, mit gewaltiger Energie errungener Erfolge die hçchste Gçttin aller Wissenschaft, die Logik, allmhlich alles Reich auf Erden und im Kopfe des Menschen fr ihren Besitz erklrt hat? Sie herrscht als oberste Gebieterin nicht nur in der Wissenschaft, sie schreibt dem Leben, der Ethik die hçchsten Gesetze, sie kann dem Ehrgeiz nicht entsagen, dem tiefen, unabweisbaren Bedrfnisse des Menschen nach metaphysischer Erkenntniss aus ihren Mitteln gengen zu wollen, ja eben diese Erklrung der Welt muss am hçchsten Ziel der Preis ihrer Mhen sein sollen. Die knstlerische Anschauung kann ihr dabei nicht helfen, ihre Thtigkeit ist auf eine ergçtzliche Tndelei, ein zierliches Schattenspiel beschrnkt. Aber das Senkblei der Logik ist kurz: wird sie die unergrndlichen Tiefen jener Welt der allerrealsten Dinge leugnen, fr welche die Gesetze der Causalitt, das Handwerkzeug der Logik, nicht gelten? In der That sehen wir schon die Frchte einer rein logischen Ethik reifen, die uns den Vandalismus socialistischer Barbaren bringen; wir sehen, wie der zuversichtliche Optimismus, der im Wesen der absoluten Logik liegt, die Welt zu jener fieberhaften Jagd nach dem „Glck“ aufgeregt hat, die von der gewaltigen Energie dieser Zeiten den bergrossen Theil fr ihre dmonischen Zwecke verzehrt.
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Und wie kann wohl an die Wahrheit der so siegesgewiss gegebenen Verheissung einer endgltigen Lçsung aller Weltrthsel glauben, wer von dem ehrlichsten aller Forscher, von Kant, gelernt hat, dass eben das dichte Gewebe der Causalzusammenhnge in der Erscheinung das wahre Wesen der Dinge der an logische Schlussketten gebundenen wissenschaftlichen Untersuchung auf immer verschleiert. So soll denn aus dem drren Sande der Baum der Erkenntniss erwachsen, der uns Schatten und Erquickung gebe in der Gluth des Lebenstages! – Und doch, welcher Einzelne wre so vermessen, das gewaltige Schwungrad dieser unaufhaltsam dahin wirbelnden Bewegung zurckwenden, wer so thçricht, die Krankheit der Zeit mit den Palliativmitteln der Glaubensformeln vergangener Jahrhunderte heilen zu wollen? Wahrlich, die tglich zusammenschmelzende Gemeinde Solcher, die auf dieses Treiben und seinen trgerischen Glanz mit Besorgniss sehen, mag sich vorkommen, wie jene Griechen am fernen Pontus, von denen der Rhetor Dio Chrysostomus erzhlt, dass sie, unter feindlichen Scythenstmmen vereinzelt wohnend und selbst in Tracht und Sitte halb barbarisirt, sich aufrichteten an den uralten Bildern lngst verschwundener dichterischer Herrlichkeit in den ewigen Versen des Homer, im Uebrigen in schmerzlicher Entsagung die Schuld ihrer spten Geburt trugen. Hier aber ruft der Verfasser alle, die also in der Diaspora leben, der alten Zeiten trauernd eingedenk, zu erneuter Hoffnung auf. Zwar die alte Mythenwelt ist todt, aber in edler Kunst lebt noch heute die Fhigkeit, in mythischer Wiederspiegelung die geheimen Zge der grossen Weltgçttin vor das entzckte Auge zu stellen. Zwar die wrden irren, die (etwa wie seiner Zeit Fr. Schlegel) in falscher Deutung der Mythen befangen, eine galvanische Wiederbelebung des erstorbenen Glaubens an tiefsinnig allegorische Sagen in dem Sinne fr mçglich halten, wie man an historische Begebenheiten glaubt. In diesem Sinne glaubten aber auch die Griechen niemals an ihre Mythen. Viel hçher stehend, den allersichersten Wahrheiten viel nher als phantastische Dichtertrume, forderten sie dennoch einen ganz anders gearteten Glauben als die Ueberlieferungen der Geschichte. Wie wre es sonst auch verstndlich, dass von eben jenen Mythen, die doch den besten Schatz des griechischen Glaubens ausmachten, ihnen ganz klar bewusst war, dass Homer und Hesiod sie gebildet, erfunden hatten? Wie konnte es sonst ihren Glauben nicht stçren, wenn sie dieselben Mythen von gottbegabten Dichtern nach ihren verschiedenen Absichten so mannigfach gestalten sahen, ja von einem und demselben Dichter zu verschiedenen Zeiten verschieden? Es muss in dem Bewusstsein der edelsten Griechen sich eine Erinnerung an die gleichnissartige (aber darum noch lange nicht durch eine allegorische Deutung in begriffliche Erkenntniss aufzulçsende) Natur der Mythen, vereinigt haben mit der beglckenden Ueberzeugung von der Fhigkeit genialer Naturen, in solchen bildlichen Offenbarungen das verborgene Wesen der Welt zu verstehen und den Hçrern zu deuten, tiefer und
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voller, als alle begriffliche Ueberlegung vermçchte. In solchen Offenbarungen aber redet auch zu uns noch die Kunst, nicht zwar jene tndelnde Kunst, die ein Bild des Erscheinungsbildes zu geben sich gengen lsst, sondern die gewaltige, unserer bisherigen Aesthetik so unverstndlich ernst gegenbertretende Kunst der deutschen Musik. In ihrem „mchtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner“ folgt der Verf. freudigen Blickes dieser deutschen Kunst. An Richard Wagner’s dramatischen Kunstwerken empfindet er die wunderbare Gewalt jenes harmonischen Zwiegesanges dionysisch-apollinischer hçchster Kunst, in ihm sieht er den Beginn einer neuen, aus den Tiefen knstlerischen Weltverstndnisses aufsteigenden deutschen Cultur, zu ihm und seinen Werken zu stehen will er alle diejenigen aufrufen, die fr die grçsste Culturbestrebung der Zeit ein Verstndniss haben. Wir kçnnen ihm nur aus wrmstem Herzen Erfolg wnschen. Man sieht wohl, dass dieses hervorragende Buch zunchst denjenigen am zugnglichsten sein wird, die sich mit Schopenhauers und Wagners so wunderbar harmonischen Gedanken durchdrungen haben. Wenn eine Philosophie, nicht minder als an der Tiefe und Klarheit ihrer Welterkenntnis sich an der Mçglichkeit erproben kann, die sie fr eine wahrhaft sthetische Ergrndung der tiefsten Kunstprobleme – als welche mit den letzten Rthseln der Welt eine nhere Verwandtschaft haben als man gemeinhin glaubt – bietet, so hat in diesem Buche die Schopenhauersche Philosophie sich glnzend bewhrt. Die Anhnger des grossen Denkers werden, wenn sie das Buch mit Ernst studiren, leicht verstehen, in welchem Sinne ich diesem Buche sogar fr die Erklrung und Rechtfertigung der Erscheinung eine analoge Bedeutung zusprechen mçchte, wie Schopenhauers eigenem Hauptwerke fr die Ergrndung des unter allen Erscheinungen sich regenden Wesens der Dinge. Alle wahrhaft ernst Gesinnten aber mçchte ich auffordern, in dieses Buch sich versenkend, einmal sich den tiefen Genuss einer vçlligen Sammlung ihrer in der rastlosen Jagd des heutigen Lebens so leicht in alle Winde zerflatternden Gedanken zu bereiten. Es mag sie entlassen, wie etwa eine Halle voll der erhabensten Werke alter Bildnerkunst, in ernstem Sinnen ber die eigentliche Bedeutung dieses an tausend Dmonen des Glcks und der Laune dahin gegebenen Lebens. So wird das Werk, das drfen wir hoffen, im deutschen Volke wirken, und im Wirken wachsen zugleich mit jener grossen Wirksamkeit edelster Kunstbegeisterung, die sich eben in diesen Tagen in Bayreuth den festen Grund legt zu einem Ehrentempel deutscher Nation.
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Reaktionen Elisabeth Nietzsche an N, ca. 8. 5. 1872: „Am Sonntag habe ich auch Rohde’s Recension gelesen, sie ist doch wunderschçn! Es war zu amsant, wie sich hier die Referendare auch dafr interessierten, zwei haben mir dieselbe zugeschickt.“ KGB II/4, Bf. 323, S. 3 Erwin Rohde an N, 26. 5. 1872: „Hier, mein lieber Freund, sind Deine Briefe zurck und zugleich mit ihnen eine Anzeige Deines Buches in der Nord [deutschen] Allg[emeinen], die freilich, ,ihren Beruf verfehlt‘ hat, denn ihr wesentlicher Zweck war nur der, fr die Bayreuther Festtage ein Freundschaftszeichen zu seyn: dazu wurde es zu spt.“ KGB II/4, Bf. 324, S. 4 N an Erwin Rohde, 27. 5. 1872: „Freund, Freund, Freund, was hast Du gemacht! So ein E. R. ist nicht ein zweites Mal zu erleben. Ich tauchte, ohne diese Buchstaben zu sehen, langsam, immer erstaunter lesend, in den Bayreuther Empfindungsabgrund und endlich hçre ich, dass die Stimme die so feierlich und tief tçnt, die des Freundes ist. Ach liebster Freund, das hast Du mir gethan! Ich schreibe nchtlings und eilig, um Dich zu bitten, dass ich mir von dieser Deiner herrlichen! Anzeige einen Abdruck machen darf, schçn und ppig, Du sollst zufrieden sein, Papier und Druck wie bei meiner Schrift. Dann darf ich doch wohl Exemplare nach Belieben an unsere Freunde versenden, wie ich es frher (bei ,Socrates und die Tragçdie‘) gethan habe? […] Ich zerschmelze. Kampf, Kampf, Kampf! Ich brauche den Krieg!“ KGB II/3, Bf. 223, S. 4 N an Ernst Wilhelm Fritzsch, 27. 5. 1872: „Sie werden wohl schon die herrliche und ganz ausgedehnte Anzeige unseres Buches in dem letzten Sonntagsbeiblatt der Norddeutschen Allgem. gesehen haben. Sie ist von Professor Dr. Rohde in Kiel.“ KGB II/3, Bf. 224, S. 5 N an Wilhelm Vischer-Bilfinger 31. 5. 1872: „Hier empfangen Sie die erste ausfhrliche Rezension, die meine Schrift ber die Geburt der Tragçdie bis jetzt erfahren hat. Sie ist von Prof. Rohde in Kiel und wird seinetwegen Ihnen vielleicht lesenswerth erscheinen. Die allererste, aber krzere Anzeige brachte die italinische Rivista Europea.“ KGB II/3, Bf. 225, S. 5 Friedrich Ritschl an N ber Rohdes Anzeige, 2. 7. 1872: „Gewiß bin ich der Meinung, daß eine streng wissenschaftliche Zurechtweisung des Wilamowitz’schen Pamphlets das einzig Wrdige sei; aber es mßte ihr nicht durch die Anrede an R[ichard] W[agner] der Charakter einer Feindschaft gegen die Philologie aufgedrckt werden. Wenigstens mssen Sie selbst einsehen, lieber Freund, daß ein alter Philolog wie ich – ein solcher ,hartgesottener Snder‘ fr
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R[ichard] W[agner] – dabei nicht Pathenstelle vertreten kann.“ KGB II/4, Bf. 335, S. 33 N an Erwin Rohde, 7. 7. 1872: „Hast Du denn ein paar Abzge Deiner herrlichen Anzeige erhalten? Sie ist sehr verbreitet worden – auch die ,Bçsen‘ habe ich, aus Hohn, damit bedacht. Niemand weiß daß die Versendung von mir ausgeht, denn Gersdorff hat alles, von Tegernsee aus, besorgt. Haupt, Curtius, Zarncke etc. – alle v¸ktatoi sind bedacht! Gott segne sie!“ KGB II/3, Bf. 236, S. 20 Anonym: Hinweis auf Rohdes Rezension der Geburt der Tragçdie. In: Philologischer Anzeiger. Gçttingen, Bd. 4, Nr. 2, November 1872, S. 572. Es geht uns auf einem besondern bogen eine art anzeige des buches zu : „die geburt der tragçdie aus dem geiste der musik.“ Von Fr. Nietzsche. 8. Leipzig. Fritzsche. 1872: es beginnt zunchst mit der klage, dem vorwurf, dass das buch noch nicht besprochen sei und legt dann die grundgedanken desselben in begeisterter sprache dar: dabei giebt der vrf. sich als verehrer der philosophie A. Schopenhauer’s und der musik R. Wagner’s zu erkennen: er steht also mit Nietzsche auf gleicher grundlage. Der im anfange erwhnte vorwurf ist brigens ungerecht: derartige bcher wollen studirt sein und ausserdem ist es jetzt ungemein schwer, gerade fr derartige erscheinungen gelehrte und unparteiische beurtheiler zu finden.
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Zukunftsphilologie. eine erwidrung auf Friedrich Nietzsches geburt der tragçdie. Berlin, 1872. Zukunftsphilologie eine erwidrung auf Friedrich Nietzsches ord. professors der classischen philologie zu Basel „geburt der tragçdie“ von Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff Dr.phil inyt± sikviyt± bokb¹r to}tkiom rp|tqilla ¢q?om 1cj]vakom aq_camom jatapucos}mg taOt’ 1st· pq¹r jq´ar l]ca.
Aristophanes. Alter 17.
Wie verndert sich plçtzlich die wildniss unsrer ermdeten cultur, wenn sie der dionysische zauber berhrt! ein sturmwind packt alles abgelebte, morsche, zerbrochene, verkmmerte, hllt es wirbelnd in eine rote staubwolke (rot?) und
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trgt es, wie ein geier (wie ist das?) in die lfte. verwirrt suchen unsre blicke nach dem entschwundenen: denn was wir sehen, ist wie aus einer versenkung ans goldne licht gestiegen, so voll und grn, so ppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermesslich. die tragçdie sitzt inmitten dieses berflusses an leben leid und lust, in erhabener entzckung, sie horcht einem fernen schwermtigen gesange (wer singt?) er erzhlt von den mttern des seins, deren namen lauten: wahn, wille, wehe – ja meine freunde, glaubt mit mir an das dionysische leben und an die wiedergeburt der tragçdie, die zeit des sokratischen menschen ist vorber. diese sonderbare species unserer gattung heisst auch theoretischer mensch, kritiker, optimist, nichtmystiker – und das sind alles gar grulige dinge. es gehçrt aber dazu mit ausnahme der zukunftsmusiker seit Sokrates alles, was an hellenischer cultur teil hat. denn seit jenem besteht die „alexandrinische cultur“, die sich (104)10 am schrfsten als cultur der oper bezeichnen lsst. krnzt euch mit epheu, nehmt den thyrsusstab zur hand und wundert euch nicht, wenn tiger und panther sich zu euren knieen niederlegen. jetzt sollt ihr tragische menschen werden! (oder auch buddhistische, das ist dasselbe 100, 108) nirvna natrlich nicht als das, was es historisch betrachtet ist, sondern wie es im metaphysischen dunstkreis scheint, genommen ihr sollt den dionysischen festzug von Indien nach Griechenland geleiten. rstet euch zu hartem streite, aber, glaubt an die wunder eures gottes (117). Dies zur probe und zum vorschmack von ton und tendenz des buches; wohl drfte beides sich selbst richten; trotzdem glaube ich, indem ich es kritisiere und, so viel an mir ist, davor warne, nichts berflssiges zu tun; mir selbst war es bedrfniss, da ich es gelesen, dem verfasser den schuldigen dank abzustatten. in der tat liegt der hauptanstoss des buches in ton und tendenz. herr Nietzsche tritt ja nicht als wissenschaftlicher forscher auf: auf dem wege der intuition erlangte weisheit wird teils im kanzelstil, teils in einem raisonnement dargeboten, welches dem journalisten, dem „papiernen sclaven des tages“ (115) nur zu verwandt ist. hr. N. verkndet als epopt seines gottes wunder, getane und zuknftige: den glubigen „freunden“ ohne zweifel hçchst erbaulich. das bliche anathema jedes allein selig machen wollenden glaubens fehlt natrlich bei dem „evangelium der weltenharmonie“ (5) auch nicht. wer jetzt, nachdem durch R. Wagner, hrn. N. „erhabenen vorkmpfer“, dem das buch gewidmet ist, die tragçdie und der tragische mythos wieder geboren ist; (Euripides hat sie umgebracht; Shakespeare, Goethe, Schiller scheinen nach 64 nur dramatisierte epen geschrieben zu haben; andre vçllig naturwchsige dramatik, wie die des Kalidasa und des Calderon wird – verschwiegen) wer jetzt, wo „Dionysos die sprache des Apollon, Apollon schliesslich die des Dionysos redet“,11 wer jetzt 10 Die zahlen im text geben die seiten des Nietzscheschen Buches. 11 Dies ist eine dankenswerte weisung. so erklrt sich in der Wagnerschen s. g. poesie nicht bloss constructionslosigkeit der stze und nach gemeiner kritik und logik sinnlosigkeit
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„nach diesen herlichen erfahrungen (129) bei der betrachtung der tragçdie sich ber den pathologisch moralischen process nicht hinausgehoben fhlt, der mag an seiner aesthetischen natur verzweifeln.“ natrlich; Aristoteles und Lessing verstanden das drama nicht. hr. N. tuts; hrn. N. war ja (87) „ein so befremdlich eigentmlicher blick in das hellenische vergçnnt, dass es ihm scheinen muste, als ob unsere so stolz sich geberdende classisch-hellenische wissenschaft in der hauptsache sich bis jetzt, (d. h. bis hr. N.) nur an schattenspielen und usserlichkeiten zu ernhren gewusst habe“. hr. N. ist ja aber auch, wie er wohl andeutet, (112) „ein im schosse des schçnen gebildetes und verwçhntes lieblingskind der natur“ – mit der hieran sich schliessenden schmhung gegen Otto Jahn brauche ich mich nicht zu beschmutzen: von selbst fllt der kot, der gegen die sonne geworfen wird, auf des werfenden haupt zurck. dass ich aber dem dionysischen fluche verfalle, weiss ich, und gern wol mçchte ich des schimpfworts „sokratischer mensch“ wrdig sein, gern wenigstens das, ein „gesunder“ (5) zu sein, verdienen. rcia_meim l³m %qistom !mdq· ¢mat`. ich will auch mit dem metaphysiker und apostel N. nichts zu tun haben. wre er nur das, ich wrde schwerlich als neuer Lykurgos, gegen den dionysischen propheten aufgetreten sein, denn ich htte dann wohl kaum von seinen offenbarungen kunde erhalten. hr. N. ist aber auch professor der classischen philologie, behandelt eine reihe der wichtigsten fragen der griechischen literaturgeschichte, bildet sich ein, (41), durch ihn habe die orchestra aufgehçrt ein rtsel zu sein; bildet sich ein (93) „ihm rede die entstehung der tragçdie mit lichtvoller klarheit“, bringt eine vçllig neue auffassung des Archilochos, Euripides u. dgl. welterschtternde entdeckungen mehr. das will ich beleuchten; und leicht ist der beweis, dass auch hier ertrumte genialitt und frechheit in der aufstellung von behauptungen genau im verhltniss steht zu unwissenheit und mangel an wahrheitsliebe. Beruhend auf metaphysischen glaubensstzen, „denen zur bekrftigung ihrer ewigen wahrheit R. Wagner seinen stempel aufgedrckt“ (84) bedarf, so gesteht hr. N. zu (83) das ungewçhnliche seiner behauptung einer gegenberstellung der erscheinungen der gegenwart: ja dies war seiner „herlichen erfahrungen“ ursprung. ist es mçglich, ein pq_tom xeOdor naiver einzugestehen? also weil R. Wagner die von Schopenhauer gefundene exceptionelle stellung der musik gegenber den anderen knsten „durch seinen stempel als ewig wahr bekrftigt“, muste dieselbe erkenntniss in der antiken tragçdie gefunden werden. dass dies der grade gegensatz sei zu dem wege der forschung, welchen die heroen unserer und schliesslich jeder wirklichen wissenschaft gewandelt, unbeirrt von einer (z.b. bei dem 127 citierten) sondern selbst die wortungetme, die modernen vkatto¢q\t, das sprichwçrtliche wigala weia. denn in ’dionysischer verzckung verlernt der mensch geben und sprechen’, zum ersatz reden die tiere und zu den meisselschlgen des dionysischen weltknstlers tçnt der eleusinische mysterienruf, ’ihr strzt nieder millionen’ (6) bersetzt hr. N. etwa so j|cn elpan ? wenigstens steht der Aglaophamus auf dem index der dionysischen curie.
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prsumption ber das endresultat, der wahrheit allein die ehre gebend von erkenntniss zu erkenntniss fort zu schreiten, jede geschichtlich gewordene erscheinung allein aus den voraussetzungen der zeit, in der sie sich entwickelt, zu begreifen, ihre rechtfertigung in ihrer geschichtlichen notwendigkeit zu sehen: dass, sag ich, diese wenigstens im princip wissenschaftliches gemeingut gewordne historisch-kritische methode der grade gegensatz einer betrachtungsweise sei, welche an dogmen gebunden die besttigung derselben allzeit finden muss: das konte auch hrn. N. nicht entgehn. Sein ausweg ist, die historisch-kritische methode zu schmhn (133) auf jede von ihm abweichende aesthetische ansicht zu schimpfen, (128) dem zeitalter, wo die philologie in Deutschland vor allem durch Gottfried Hermann und Karl Lachmann auf eine nie geahnte hçhe gehoben wurde, „gnzliches verkennen der altertumsstudien“ bei zu legen (115). doch die auch auf dem hrtesten menschenschdel leicht wandelnde Ate, F p\mtar %atai, ereilt auch ihn. unter die welche von den Griechen zu lernen am krftigsten gerungen, im gegensatz zu denen, welche „das altertum verkennen“ zhlt hr. N. ausser Schiller und Goethe12 nur noch Winckelmann. er schreibt wol nur fr die, welche, wie er, Winckelmann nie gelesen. wer von Winckelmann gelernt, das wesen der hellenischen kunst allein im schçnen zu sehen, wird sich mit widerwillen von der „weltsymbolik des urschmerzes des ureinen“, der freude an der vernichtung des individuums, der „freude an der dissonanz“ abwenden. wer von Winckelmann gelernt, historisch das wesen der schçnheit, wie sie sich zu verschiednen zeiten verschieden offenbart, zu begreifen, vor allem jener doppelten schçnheit ihr recht zu geben, die Winckelmann so meisterlich entwickelt13 : der wird nie von einer aufflligen degeneration des hellenischen geistes, von einem unknstlerischen wesen in einer zeit reden, wo Zeuxis und Apelles, Praxiteles und Lysippos eine schçnheit, eine andre freilich als Pheidias und Polygnotos, meinthalb eine schçnheit ohne G¢or erschufen, ungeahnt der vorzeit, bewundert und bewundernswert in ewigkeit. und ein ganz analoger, wenn auch nicht so scharfer gegensatz scheidet die kunst des Euripides und Menandros von Aischylos und Aristophanes. ist es endlich denn nicht grade Winckelmann, der an einem unvergnglichen beispiel gezeigt, wie die allgemeinen regeln wissenschaftlicher kritik auch fr die geschichte der kunst, ja fr 12 Selbst ein ganz harmloser ’optimist’, selbst solch ’seltsames quidproquo’ wie es 129 geschildert wird, drfte hier Lessing genannt erwarten. ein minder nachsichtiger wrde aus dem fehlen Lessings vielleicht wenig schmeichelhafte rckschlsse machen – wenn nicht hr. N. selbst 81 ber den verfasser des Antigoeze den stab brche: er ist ihm der ’ehrlichste theoretische mensch’ denn er zog das streben nach wahrheit ihrem besitze vor. damit kann sich hr. N. begreiflicherweise nicht einverstanden erklren; in der tat scheint auch schon der glaube, die wahrheit zu besitzen, wahres streben nach wahrheit auszuschliessen. 13 Ich wrde von einem ’stilgegensatz’ des hohen und des schçnen stils reden, htte das wort nicht hier eine dionysische prgung erhalten.
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das verstndniss jedes einzelnen kunstwerks nçtig seien, wie auch die sthetische wrdigung allein aus den anschauungen der zeit, in welcher das kunstwerk entstand, aus dem geiste des volkes, das es hervorbrachte, mçglich sei? wagt aber hr. N. zu behaupten, er kenne Winckelmann? er, der eine wahrhaft kindische unwissenheit an den tag legt, so bald er etwas archologisches berhrt; er, der die satyrn, seine „tumben menschen“ (42) mit bocksbeinen beglckt, der weder Pan noch Seilen noch satyr auseinander zu halten weiss14, der Apollon statt der aegis das medusenhaupt schwingen lsst, (8) der, als er „titanenhaft und barbarisch“ genug sich anschickt, „die apollinische15 cultur stein auf stein ab zutragen, die olympischen gçttergestalten auf dach und giebel stehend findet, und ihre taten in weitleuchtenden reliefs dargestellt fries und wnde schmcken sieht.“ da kann man nur den schulknaben des pastors von Laublingen citieren. allein – den knstlerischen geschmack des hrn. N. zu erfassen gengt ein blick auf die vignette, das symbol des „wieder erstandnen mythos“, bei deren anblick R. Wagner „sofort berzeugt ist, dass der verfasser etwas ernstes und eindringliches zu sagen hat“ auf jenen heros der pessimistischen tragçdie, Prometheus in der „glorie der activitt“ und jenen vogel, ber den, wenn er dereinst „vor dem untrglichen richter Dionysos erscheint der kunstgott“ wieder rufen muss Edg pot( 1m lajq` wq|m\ mujt¹r digcq}pmgsa t¹m nou¢¹m Rppakejtqu|ma fgt_m t_r 1stim eqmir.
Von diesen exhortativen tçnen zu der stimmung zurckgleitend, die dem beschaulichen geziemt, will ich zunchst betrachten, wie es um die „ewigen wahrheiten des apollinischen und dionysischen“ steht. an diese beiden „kunstgottheiten“ knpft sich nmlich die Nietzschische weisheit von dem „stilgegensatz in der griechischen kunst“. „die beiden kunsttriebe (Apollon und Dionysos, denen traum und rausch entsprechen) stehen zumeist im gegensatz, reizen sich zu immer krftigeren geburten, endlich im bltenmoment des hellenischen willens verschmelzen sie sich zur geburt der tragçdie“. da kommt aber der bçse Euripides, angestachelt vom bçsen Sokrates, der bringt die tragoedie um. Dionysos „flchtet sich in die fluten des geheimcults“ und so fort bis auf den „befremdlich eigenthmlichen Blick“ der dem hrn. N. in das hellenische vergçnnt ist. es leuchtet ein, dass, wenn sich die ewigen wahrheiten als hçchst vergngliche dunstgebilde herausstellen, der ganze auf ihnen beruhende bau in die lfte verweht wird. auch ich wol darf den Mephistopheles, der „nach den holden Lamien greift“, citieren, „zwar bei ungewissem schimmer scheint ihr 14 Das prdicat ’weise und begeistert’ welches 41 der satyr erhlt, komt auf rechnung des Seilenos, welchen kçnig Midas fieng; nach hrn. N. eine ’alte sage’ die gar vorhomerisch sein soll. schade, dass der gesamte dionysische thiasos dem volksepos fremd ist, diese sage sich kaum vor dem fnften jahrhundert (Bakchyl. 2) finden drfte. 15 d. h. dorisch, so viel hat hr. N. stellenweise von O. Mller gelernt, dessen auffassung dorisch-appollinischen wesens er denn auch 18 sich zuschreibt.
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schçne frauenzimmer“, wie er aber zugreift platzt der bovist entzwei. nun und wenn man zugreift, was ist Apollons „kunstwelt?“ der traum. Apollon traumgott! war es prophetie des „drachen“ Euripides, also zu singen? da Apollon vom delphischen orakel besitz genommen, m}wia w¢½m 1tejm~sato v\slat’ ame_qym oT p|kesim leq|pym t\te pq_ta t\ t’ 5pei¢’·fs’ 5lekke tuwe?m vpmou jat± dmoveq±r eqm±r vq\fom… 1p· d’ 5seisem jol±m (Fe¼r) paOsem muw_our ame_qour !p| ka¢os}mam mujtyp¹m 1ne?kem bqot_m ja· til±r p\kim ¢/je Kon_ô16 es gehçrte freilich eine gewaltige „tapferkeit“ dazu, aus Apollon, der „seiner wurzel nach der scheinende ist“. (5) auf dem wege des kalauers „den gott des scheins“ d. h. des scheins des scheins, „der hçhern wahrheit des traumes gegenber der lckenhaft verstndlichen tageswirklichkeit“ zu machen!17 aber allerdings vor dem, fstir t± sic_mt’ amºlat’ oWde dail|mym, steht Apollon als der verklrende genius des principii individuationis’ (86)18 dieser Apollon „hat die olympische welt geboren; er darf fr ihren vater gelten“. D?mor basike}ei toO Di¹r te¢mgj|tor. also aus des Schopenhauerschen begriffes grauer theorie soll der hellenischen gçtterwelt goldner baum erwachsen sein. diese s. g. apollinische cultur hat den griechen, der „die schrecken und entsetzlichkeiten des daseins empfand“ jenes „zum leiden so einzig befhigte volk“ durch „krftige wahnvorspiegelungen und lustvolle illusionen“, nmlich durch die homerischen gçtter, die „nichts sind, als alles vorhandenen vergçttlichung,“ ber eine 16 Ka¢os}ma mujtyp|r war eben dem Hellenen stts der traum. nach hrn. N. drfen wir ’zwar nur vermutungsweise aber doch mit ziemlicher sicherheit fr die griechischen trume eine logische causalitt der linien und umrisse, farben und gruppen, eine ihren besten reliefs hnelnde folge der scenen (die besten reliefs sind doch unstreitig die, welche eine, nicht mehrere handlungen haben) voraussetzen’. hrn. N. ist Homer ein trumender Grieche; der Grieche ein trumender Homer. letzteres ist einfach nonsense. sonst kçnnte man ja, wenn man z.b. ’die berechtigung htte’ hrn. N. einen trumenden professor zu nennen, den rckschluss machen, dass ein professor ein trumender Nietzsche sei. um aber das andere behaupten zu kçnnen, muss man sich die ’traumliteratur’ vom halse schaffen. das tut hr. N. mit der eleganz dessen, der Artemidor nie gesehen; bei ihm htte er tausende von trumen berichtet gefunden, freilich so abgeschmackt als ich nur etwas sah. von einem scenenwechsel, von einem trumen mit ’logischer causalitt’ nirgend eine spur, von dem sentimentalen genuss des bewussten selbstbetrugs, der hrn. N., wenn er trumt, den vers eingiebt ’es ist ein traum. ich will ihn weiter trumen’ natrlich eben so wenig, wohl aber fasste die alte welt am traum besonders die ’krankhaften und pathologischen wirkungen’ auf, welche hr. N. abweist. das zeigt die bekannte stelle des Lucretius IV 960-1029. will hr. N. aber behaupten, dass man zu Homers zeit anders getrumt, als zu Lucretius (und leider trumt man bei Homer oft, aber ohne ’logische causalitt’ und zumeist nach Artemidor 1m}pmia, nicht ame_qour) gut; affirmanti incumbit probatio. 17 Ein ander mal hat Sophokles sprache ’apollinische helligkeit’. (44) Loxias! 18 Schade, dass hr. N. zu wenig bewandert in der griechischen literatur ist, um die pythagoreische ableitung !-pokkym zu ehren zu bringen.
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schreckliche tiefe der weltbetrachtung und reizbarste leidensfhigkeit zum sieger gemacht.“ dass jene „schçnheitsspiegelungen und illusionen“ in wahrheit halb unbewusst gezeugte und als leibhaft wahr geltende wesen sind, erwachsen, wie schon Aristoteles19 und zwar treffender als die meisten neueren, sagt, aus den let]yqa und den peq· t^m xuwμm sulba_momta ; erwachsen, wenigstens in ihren ersten trieben, zu einer zeit, wo das hellenische volk sich von seinen geschwistern noch nicht getrennt hatte, also in der frhesten kindheit des menschengeschlechts; dass dem homerischen Griechen seine gçtter volle realitt hatten, vollere selbst als dem Dionysosglubigen zukunftsphilologen die wunder seines gottes, dass der Apollon der homerischen zeit kaum die keime zu der religiçs-politischen macht in sich trug, welche er vom achten jahrhundert ab besitzt: all dies kann hr. N. nicht wissen, weil er den Homer nicht kennt, wenigstens hçchstens als den blinden bettler des !c½m jl^qou ja· Jsi|dou20 denn kennte er ihn, wie wollte er wol jener jugendfrischen, im berschwang des wonnigen lebensgenusses jauchzenden, eben durch ihre jugend und natrlichkeit jedes unverdorbne herz erquickenden homerischen welt, dem frhling des volkes, das wahrlich des lebens traum am schçnsten getrumt, pessimistische sentimentalitt, greisenhafte sehnsucht nach dem nichtsein, bewusstes selbstbetrgen zuschreiben. und was sind seine beweise fr die leiden, die, nun gar in jener zeit, die griechen, die ewigen kinder, die harmlos und ahnungslos des schçnen lichts sich freuenden gelitten, nein genossen, in impotenter wollust genossen haben sollen? „jene ber allen erkentnissen thronende Moira, jener geier des grossen menschenfreundes Prometheus, jenes schreckensloos des weisen Oedipus, jener geschlechtsfluch des Atriden, jene Gorgonen und Medusen kurz jene ganze philosophie des waldgottes, an der die schwermtigen Etrurier zu grunde gegangen sind.“ welch nest voll blçdsinn! die schwermtigen Etrusker, nun, man lese Athenaeus, XII. 517. Gorgonen und Medusen! wq/sem su l\jtqam eQ d³ bo}kei j\qdopom. und der geschlechtsfluch der Atreiden u. s. w. soll homerisch, ja vorhomerisch sein! welche schande hr. N. machen Sie der mutter Pforte! muss es doch scheinen, als htte man Ihnen nie Ilias B 101 oder die bezgliche stelle in Lessings Laokoon zu lesen gegeben; und Schneidewins einleitung zu Sophokles kçnig Oidipus ist doch auch eine weisheit, die der Pfçrtner primaner im ersten halbjahr in sich aufnimmt. Sie werden sich herausreden, Sie htten sich bloss um ein paar hundert jahre verrechnet, und zahlen seien etwas gemein mathematisches: nun, seit Platon steht doch ber der philosophie pforten trotz Schopenhauer lgde·r !ceyl]tqgtor 1m¢\d’ eQs_ty.
19 Bei Sext.- Empir. adv. dogm. III 2o. Arist. peq· vikosov_ar 12 Rose. 20 Die ’philosophie des waldgottes’ dass nie geboren zu sein das beste sei, welche hr. N. fr vorhomerisch hlt, fhrt dort wenigstens Homer im munde.
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und ich wollte nur, man htte in Pforte an dem spruche wenigstens in der fassung 1m¢]md’ 1n_ty fest gehalten. – und noch eins im hellenischen glauben zur zeit der volksepik gehçrt zu den charakterismen eines vorangegangenen „tiefen blicks in die schrecknisse der natur“: das „titanenreich“, welches die gçtter um Zeus resp. den Nietzschischen Ur-apollon zu strzen haben, allein es darf als ausgemacht gelten, dass die titanomachie, nun gar die hesiodischen dynastieen und genealogien dem hellenischen bewustsein teils ferner liegen, teils erweislich jnger sind, als der olympische gçtterkreis Homers;21 geschweige, dass es je eine zeit gegeben htte, wo ein Hellene unbekannt mit Zeus Athena Apollon einem Uranos oder Kronos oder gar Erikapaios und Phanes geopfert htte: und doch wird 18 solche „erzene kunstperiode“ angenommen. derartige abstractionen und allegorien haben eben erst fr dogmatisierende theosophie, wie die hesiodische pherekydeische orphische wert. Allein die unbekanntschaft des hrn. N. mit Homer zeigt sich wo mçglich noch schlagender in seiner anschauung von der ltesten griechischen literaturgeschichte: Homer ist ihm „als einzelner“ ein „in sich versunkener trumer“ ein „apollinischer, naiver knstler, von Archilochos soll die griechische geschichte berichten, dass er das volkslied in die literatur eingefhrt habe.“ das erste eine wahnschaffene, das zweite eine unwahre behauptung; denn selbst der glaubensstrkste einheitshirte22 wird doch nicht leugnen wollen, dass die beiden unvergleichlichen gedichte ihren hintergrund an einer beraus fruchtbaren rhapsodik haben, die jahrhunderte lang vor und nach ihrem verfasser geblht (man denke doch nur an die homerischen hymnen, deren kritik seit G. Hermann freilich keinen schritt vorwrts getan hat) dass Homer als „einzelner“ selber nur auf dem boden einer hçchst ausgedehnten liederpoesie erwachsen konnte. und wer wolte, wofern ihm die analogen erscheinungen bei andern vçlkern nicht ganz unbekannt sind (und hr. N. hat doch schon als secundaner gelegenheit gehabt die zwanzig lieder von der Nibelunge not zu lesen) wer wolte da das wesen der naiven kunst, wie es Schiller dargelegt, mit der Nietzschischen trumerei und schçnheitspiegelei vertauschen: wo denn Serbe und Finne, da er „mit schneidendem blick mitten in das vernichtungstreiben der sogenannten weltgeschichte wie in die grausamkeit der natur geschaut hat“ sich mit einem „farbenprchtigen gaukelspiel“ ber die sehnsucht nach dem nirvna hinweg 21 Die mnner, denen vor allem ein wirkliches verstndniss Homers verdankt wird, Aristarchos und Lachmann, haben wol erkannt, dass die stcke, wo eine hnliche auffassung der himmlischen dinge hervortritt, z.b. das fnfte und dreizehnte lied, zumal die theomachie dem wahrhaft homerischem fremd, meist jnger gegenber stehen. ich weiss nicht, ob nicht auch A 4oo die verhltnissmssige jugend der zweiten fortsetzung des ersten liedes zeigt. 22 Solte sich jemand wundern, wie hr. N. zum glauben an die persçnlichkeit Homers komme, so ist zu bemerken, dass der reaction gegen die Wolfschen erkentnisse Schopenhauer ’den stempel der ewigen wahrheit aufgedrckt hat’.
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hilft. wie man freilich die behauptung ber Archilochos bezeichnen solle, ist man zunchst ratlos; das merkt man ja sofort, dass, falls Archilochos so aufgefasst wird, wie wirklich „die griechische geschichte von ihm erzhlt“, es mit hrn. N. auffassung der lyrik vorbei ist, kann aber solche ersichtlich falsche behauptung auch nur mit einem schimmer von wahrscheinlichkeit auf rechnung eines irrtums geschoben werden? so unglaublich es klingt, hr. N. wagt es, die Archilochische poesie mit den volksliedern (brigens zum teil ja recht hybriden) aus des knaben wunderhorn zu vergleichen: mit so zu sagen autorloser poesie die dichtungen des mannes, der eben nur von sich und seinen leidenschaften und erlebnissen dichtet, mit einer solchen offenheit und persçnlichkeit, dass einem Kritias, doch auch keinem verchtlichen und ebenfalls recht subjectiven und leidenschaftlichen dichter, unheimlich dabei ward,23 diese behauptung war allerdings notwendig, wenn der lyriker, dem nach gemeiner ansicht die leidenschaft sein lied eingibt, „seine subjectivitt im dionysischen process aufgegeben hat, zunchst einen bild- und begrifflosen wiederschein des urschmerzes in der musik und darauf eine zweite spiegelung als einzelnes gleichniss oder exempel erzeugt“, welches dann das lied ist; allerdings wenn dem so ist, dann singt Archilochos nicht von seiner liebe und spter (hr. N. sagt sinnlos „zugleich“) von seinem hass gegen Neobule, sondern „von der einzigen berhaupt seienden ewig im grunde der dinge ruhenden ichheit.“ fr die behauptung, dass der text des liedes nach der melodie entstehe, dass die lyrik „nachahmende effulguration der musik in bildern und begriffen“ sei, war es nçtig dem Archilochos strophische lyrik und eine vorwiegend musikalische rolle zu geben, d. h. war es nçtig Archilochos wie die geschichte der griechischen musik grçblich zu verkennen. ich dchte, Platon redete deutlich genug tμm "qlom_am ja· Nu¢l¹m !jokou¢e?m de? t` k|c\24 und hat man auch berechtigung die epodischen verse, die Archilochos erfand, rythmische strophen zu nennen, so sind es doch sicherlich keine musikalischen, denn dieser wesen ist die wiederkehr derselben melodie bei verndertem texte, wie in der chorischen lyrik, jene aber schliessen schon durch ihren umfang die mçglichkeit solcher vortragsweise aus, grade so gut wie das elegische distichon und vielleicht ursprnglich selbst der heroische 23 Aelian. V. H, X. 13. 24 Rep. III. 398D unter die dort ausgenommnen ¢q/moi und aduqlo_ rechnet doch wol selbst hr. N. nicht die iamben. htte er doch einmal jene ganze stelle gelesen, ehe er den stilo rappresentativo wegen desselben schmht, was hier Platon von der gesammten hellenischen musik aussagt – denn, mag Platon auch befangner urtheilen als hr. N., sintemal er vom argen Sokrates verdorben war, wenigstens gehçrt er nicht unter die kategorie von menschen, welche mit frecher stirn sinnlose einflle fr allgemein giltige wahrheiten hinstellen. ist er aber mit seinen angaben in betreff der alten musik im recht, wer darf dann fragen: was wird aus den ewigen wahrheiten des apollinischen und dionysischen bei einer solchen stilvermischung, wo die musik als diener, das textwort als herr betrachtet wird?’ mag wieder der ’drache’ antworten: t¹ lgd³m eQr oqd³m N]pei.
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hexameter doch auch eine rythmische strophe ist. an ein eigentliches singen der iamben des Archilochos ist ja aber gar kein gedanke, man braucht dafr schon bloss an die berlieferung von der paqajatakoc^ zu erinnern,25 allein klarer als alles andre beweist die unbestimtheit des altersverhltnisses zwischen Terpandros und Archilochos, dass er unabhngig von der ersten jat\stasir ist. ein wort aber, das jedem, welcher von dem ltesten zeitalter der hellenischen lyrik handelt, auf der zunge liegen muss, hat hr. N. berall geschickt zurckgehalten. es lsst ja auf einmal die ganze fabelei von der entstehung der lyrik aus der musik, von dem Nietzschischen volkslied, von dem Nietzschischen „abguss der welt in der musik“ zerstieben: elegie. sie ist die lteste hellenische lyrik, sie ist, sei nun Archilochos ihr s. g. erfinder oder nicht, in ihrem ganzen wesen des iambos schwester26 sie umfasst alle seiten dessen, was wir jetzt lyrik nennen, liebe und wein, kriegslied und spottlied, gnomik und didaktik: und sie ward nicht gesungen. Mimnermos und Tyrtaios, Phokylides und Theognis waren keine musiker, denn ihrer entstehung gemss lehnt sich die elegie wie in stil und sprache, so auch in der vortragsweise an das volksepos an; zudem berwiegt bei den meistern der ersten jat\stasir noch das wort, und erst mit der zweiten kommt instrumentalmusik auf, whrend doch die Nietzschesche auffassung damit unvereinbar wre. doch das ist nicht so kurz zu fassen und, zumal wir schon in das gebiet des zweiten „kunstgottes“ hinberspielen, kann ich wol, dessen aufgabe hier ja keine positive ist, hrn. N. folgen und in einem eleganten satze ber die scheidewnde mehrerer jahrhunderte alle ferneren dichter und musiker berspringen um bloss noch geburt und grab der tragçdie zu betrachten. Auf eine so kurze formel wie Apollon ist Dionysos nicht gebracht. man kçnnte im Nietzschischen sinne weiter abstrahierend ihn den genius der zukunftsmusik, des zukunftsevangelii nennen; so wrde sich der „stilgegensatz“ zugleich der gegensatz gegen alles wahrhaft hellenische, hoffentlich auch gegen alles wahrhaft deutsche, sofort klar stellen. „unter Dionysos mystischem jubelruf wird der bann der individuation gesprengt (also das apollinische aufgehoben) und der weg zu den mttern des seins geçffnet“. (86) „das dionysische mit seiner selbst am schmerz participierten urlust ist der gemeinsame mutterschoss der musik und des tragischen mythos“ (140) wir wundern uns wohl jetzt nicht mehr, dass hr. N. erst gar nicht die frage aufwirft, in wie weit die alten diese jetzt doch hçchst neuen anschauungen von der musik geteilt haben, ob ein Grieche 25 Die notiz aus Herakleitos bei Diog. Laert. IX. I. ist mir nicht unbekannt; allein sie kann eben so wenig, wie etwa das olympische siegesliedchen oder der vieldeutige ausdruck Ãdeim die vortragsart des iambos in frage stellen. und dem gegenber treten die melischen, meist dactylischen dem elegeion eng verwandten masse doch vçllig zurck. 26 Archilochos selbst wird einmal (peq· vxour 33,5) dem Eratosthenes entgegengestellt, also als elegiker aufgefasst; Simonides von Amorgos dichtet neben iamben auch elegien, Solon neben elegien auch iamben u. dgl. m.
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selbst im traume oder im rausche so weit gekommen sei, eine kunst als die sprache des absolut unaesthetischen, zu betrachten. denn das tut hr. N. der 90 die musik die sprache des willens, 28 den willen das absolut unaesthetische nennt. Oder ist der schluss, wenn zwei grçssen einer dritten gleich sind u.s.w. zu mathematisch? das analogon der dionysischen kunstwelt ist, wie schon mehrfach erwhnt, der rausch, „in dessen schauern sich die kunstgewalt der ganzen natur zur hçchsten wonnebefriedigung des ureinen offenbart.“ nach Hellas ist die dionysische religion wie es scheint aus dem orient gekommen, nur dass dort durch dieselbe „der mensch den rckschritt zum tiger und affen tat, whrend die dionysischen orgien der griechen die bedeutung von welterlçsungsfesten und verklrungstagen haben“. freilich hat Apollon zuerst „gegen das andringende dionysische das medusenhaupt geschwungen“, denn „es erschien ja das dionysische dem apollinischen Griechen titanenhaft und barbarisch“, schliesslich haben sich aber die beiden gegner versçhnt „mit scharfer bestimmung ihrer einzuhaltenden grenzlinien und periodischer bersendung von ehrengeschenken“, (8) oder wie es ein ander mal heisst, (19) sie haben ein geheimnissvolles ehebndniss geschlossen. Apollon und Dionysos als Nero und Pythagoras! Es ist ja allerdings bekannt, dass die einfhrung der phrygischen auletik bei den „apollinischen Griechen“ auf widerstand stiess. der woldenkende, „gesunde“ mensch graute sich eben vor den dionysischen orgien, wie vor denen der gçttermutter, des Sabazios, der Bendis und Kotytto, denn sie hatten auch in Hellas entsittlichung im gefolge. es lag auch in der natur der sache, dass grade das cht hellenische wesen in seinem streben nach dem mass in allen dingen sich gegen die excentrische, alle schranken brechende orgiastische mystik, wie die gesunde geistesklarheit gegen das transcendentale muckertum mit allen krften wehrte. natrlich vermochten sie dieselben nicht aus zu rotten, denn so abscheulich dies gemisch von absurditt und wollust ist, eben weil es das tierische im menschen entfesselt, ist es gefhrlich und untergrbt mit der zeit die ganze wahre cultur eines volkes. nun mag man meinthalben in Hellas all diese verschiedenen strçme auf einen urquell zurckfhren, mag, zumal wenn man das specifisch hellenische apollinisch nennt, auch meinthalb diesen urquell das dionysische nennen: nur identificiere man damit nicht alles, was auch auf den namen dionysisch anspruch hat, insbesondere nicht das cht-hellenische in der gestalt des Dionysos selbst, als geber des weines, und in den ursprnglichsten wesen seiner umgebung, Seilenos, satyrn, nymphen27; und grade an hieraus entsprungnen im 27 Hr. N. kennt die Musen in der begleitung des Dionysos! sie sitzen nmlich mit ihm ’am waldrand’ (5) wozu mçgen sie da wol sitzen? man erfhrts spter: um zu schlafen. als berauschte schwrmer ’den schlaf auf hoher alpentrift, in der mittagssonne, wie ihn Euripides beschreibt’ (21) – ja, mein hr. N., er wre der elende dichter, zu dem Sie ihn stempeln wollen, wenn er solche dummheiten dichtete. merken Sie sich, wer schlafen will, der legt sich nicht in die mittagssonne, sondern in den schatten. das beschreibt
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ursprnglichsten lndlichen naturcult beruhenden festen und bruchen, an der weinlese, dem keltern, dem jubelnden genusse des neuen begeisternden trankes,28 hat das dionystische festspiel, tragçdie wie komçdie, seinen ausgangspunkt. auf der anderen seite darf man aber in das dionysische so frher zeit wahrlich nicht all den blçdsinn mystischer dftelei und cruden synkretismus hineintragen, mit dem es sptere belastet haben – ich dchte, die zeit lge hinter uns, wo in der archologischen erklrung mit nonnischen wesen, gar Aion und Eniautos, spuk getrieben ward. wer aber, wofern er es mit unserer wissenschaft ernst meint, muss es nicht „schmachvoll oder lcherlich“ finden, dass heute noch in Saint-Croix-Creuzerscher weise geredet wird von wundervollen mythen in den mysterien, vom brausenden jubelgesang der epopten, von einer dionysischen weltbetrachtung, die sich vor den kritischen barbaren, Euripides und Sokrates, in die mystischen fluten des geheimcults flchtet, und in den wunderbarsten metamorphosen und entartungen nicht aufhçrt, ernstere naturen an sich zu ziehen (53. 69. 94) also Schopenhauersche philosophie, Wagnersche musik, wo mçglich Nietzschische philologie ist jetzt einmal des hierophanten mystische weisheit! ferner darf auch der gegensatz apollinischer und dionysischer musik nicht zu stark betont werden. schon zur zeit des Thaletas, ja vor ihm, hat die hellenische musik die vorderasiatischen tonarten adoptiert; seit man die Pythien zhlt, ertçnt an ihnen des Olympos erfindung, der m|lor pokuj]vakor,29 gibt es einen auletischen agon,30 die flçte begleitet ebenso wie das spartiatische embaterion auch den paian31; ja es komt so weit, dass das bakchische hyporchem die flçte abweist32 und seinen reigen einen dorischen nennt, dass selbst Dithyrambos, als satyr gebildet, die kithara fhren kann33. und dem gegenber lsst hr. N. erst die tragçdie, „die frucht der aussçhnung der beiden widerstrebenden kunstgottheiten“ sein, in der lyrik aber eigentlich allein Dionysos d. h. die musik regieren, so dass er die instrumentalmusik gar die sprache der dorischen lyrik beeinflussen lsst (27). schliesslich hat man aber auch schwerlich das recht den „volkskrankheiten dionysischer verzckungen in so frher zeit (sechstes und fnftes jahrhundert) die ausdehnung zu geben, in welcher wir sie spter die ganze bevçlkerung bis zum sinnlosen taumel ergreifen
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Euripides. lesen Sie nach, Bakch. 677. 684. und gestehen Sie, die stelle nicht verstanden zu haben. wir trçsten uns mit Mephistopheles ’es ist die erste nicht’. Von dem sollen 4 ’alle ursprnglichen vçlker in hymnen sprechen’ die Griechen, Italiker, Germanen nun wol nicht. aber ich wette, hr. N. hat einmal von den hymnen Indiens und Baktriens gehçrt, die sich auf das Somaopfer beziehen, vielleicht auch von dem trank, an welchem sich Odhin bei Gunnlçdh berauschte Hawamal 12 bei Simrock (Edd. Sm. 12b. ich citiere nach Grimm Mythologie 1086) wer wird aber so genau nachfragen! Schol. Pind. Pyth. XII. [Plut.] de nus. 7. Schon an den ersten Pythien siegte Sakadas. Paus. X. 7, Plut, 1, 1 Heych. s. v. Saj\diom. Archiloch. 78. Pratinas I. Welcker. A. D. III. 125.
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sehen34 mir sind sie wenigstens aus jener zeit nicht bekannt. ja selbst das rein dionysische chorlied, der dithyrambos, steht in der bezeichneten blteperiode der hellenischen lyrik keinesweges in irgend einem schroffen gegensatz zu den anderen formen der chorischen poesie. ist auch bei ihm das mimische besonders bedeutsam, wie es denn den anlass zur entstehung des dramas gab,35 So schliessen doch auch die anderen dies keinesweges aus, sind also keine „steigerung des apollinischen einzelsngers“ (man denke nur an korybantiasten, karyatiden, pyrrhichisten) und der dithyrambos ist keinesweges, wie hr. N. zu glauben scheint, stets von einem satyrchor gesungen worden36 ; wer die bruchstcke, vor allem Pindar 53 gelesen hat, wird eben nicht so ins gelache hinein reden. wenn uns aber unter demselben namen bei Philoxenos eine so ganz andere art von poesie erscheint, so ist die erklrung wahrlich nicht so schwierig. es fehlen uns eben alle mittelglieder. wie viele hundert gedichte waren fr die so beraus beliebten kyklischen chçre erforderlich, ein wie kleiner teil ward berhaupt erhalten, und welch millionstel ist uns einmal trmmerhaft durch zufall erhalten, da ja namentlich die grammatik aber eigentlich die gesamte sptere zeit37 diese dichtungen vor der klassischen melik vçllig vernachlssigte. dazu komt, dass die form der musik, welche in Hellas dauernd blieb, grade den grossen dithyrambikern ihren ursprung und ihre pflege verdankte; und die bedeutsamkeit der neuerungen ergibt sich schon aus der heftigkeit der polemik wie der bewunderung, vornehmlich natrlich aus dem erfolge auf musikalischem gebiet.38 diese leistungen zu beurteilen sind wir eben ausser stande; es zu wollen, ist schon frivolitt: wie gross aber erst ist die frivolitt, die gattung zu schmhen, die man nicht kennt; und hrn. N. heisst diese musik „aufregungsoder erinnerungsmusik. d. h. entweder ein stimulanzmittel fr stumpfe und verbrauchte nerven oder tonmalerei“. freilich seine unwissenheit – dabei stehn zu bleiben – erlaubte ihm die behauptung (119) „die tragçdie habe die musik zur vollendung gebracht“ wo doch keines tragikers hauptfeld die musik ist39 wie etwa bei Phrynis oder Timotheos. doch er weiss 75 zu sagen, dass die tragçdie alle frheren kunstgattungen aufgesaugt habe, whrend doch in Athen ausser 34 z.b. Plut. Anton. 24. Philostr. vit. Apoll. IV. 2. 21. Dion. Halik. Arch. VII. 72. 35 Darauf hat ja Aristoteles schon zur genge hingewiesen, und wo wir etwas weniger brockenhaft unterrichtet sind, wie zufllig ber die erscheinungen, welche die komçdie vorbereiten, besttigt sich natrlich sein urteil. die sonst noch einschlagenden gebruche, namentlich des cultus findet man bekanntlich bei Lobeck, z.b. Agl. 174 u. o. den ich nicht ausschreiben mag. 36 Nicht einmal ursprnglich. klar und glaubwrdig redet Philochoros bei Athen. XIV 628. A. 37 Eine ausnahme macht Philodemos, der sie auffallend hufig citiert. 38 Noch im zweiten jahrhundert vor Christo leben Timotheos und Polyidos gesnge in der praxis. C. I. G. 3053. 39 Phrynichos, an den man etwa denken kçnnte, war orchestischer meister. vgl. das brigens wol apokryphe epigramm Plut. Qu. Symp. VIII. 9.
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dem dithyrambos auch die elegie blhte, und der iambos doch wol von der komçdie aufgesaugt“ war.40 Steht es nun so um die eltern, welche im geheimnissvollen ehebndniss’ die tragçdie erzeugen, verherlicht in diesem kinde, das Antigone und Kasandra zugleich ist,41 (19) so darf es als berflssig erscheinen, all das dtail, welches von dem act der geburt mitgetheilt wird, zu prfen. nur ein paar blicke wollen wir auf einzelnheiten werfen, da hier der einzige punkt ist, wo ein freilich schwacher versuch historischer und philologischer begrndung gemacht wird. dass die voraussetzungen schon mehr als problematisch sind, lsst sich erwarten. da wird gleich immerfort von einem „tragischen dithyrambos“ geredet; ich muss meine unbekanntschaft mit dieser gattung eingestehen: solte es nicht ein verwandter der verewigten lyrischen tragçdie sein? als wesentliche sttze wird angenommen, es habe einmal eine schauspielerlose tragçdie existiert: vor Thespis wol. ja auch eine, welche bloss von p\¢g toO Diom}sou handelte: vor Thespis wol.42 was hat die erklrung des aischyleischen dramas mit solchen hallucinationen ber den mutmasslichen zustand einer mutmasslichen vorstufe zu mutmasslicher zeit zu schaffen? und wie reimt sich die behauptung eines dramas ohne schauspieler mit der eben so sichren behauptung, der chor bei Aischylos bestehe nur aus „niedrigen dienenden wesen(41)?“ o ja es reimt sich wol, aber mit der „freude am urwiderspruch.“ hr. N. kennt eben auch die tragçdie nicht. der aischyleische chor also war uns bisher ein rtsel, „da er nur aus niedrigen dienenden wesen zusammengesetzt ist“ und was sind die Eumeniden, Schutzflehenden, Danaiden, Phorkiden, wo er hauptperson ist? und noch mehr: „eben so unanfechtbar, wie dass lngere zeit Dionysos der einzige held des griechischen dramas war, ist es (51) dass niemals bis auf Euripides Dionysos aufgehçrt hat der tragische held zu sein.“ hr. N. hat als vorlesung fr diesen sommer die erklrung der Choephoren angekndigt: ob er sie wol einmal gelesen hat? denn wer ist darin, wer ist in Schutzflehenden Eumeniden Persern, wer ist in Aias Elektra Philoktetes tragischer avatra des Dionysos Zagreus? so sind die vorkentnisse; dies sind die voraussetzungen, welche hrn. N. einen so befremdlich tiefen blick in das wesen der antiken tragçdie gestatteten, da komt es natrlich zu einer auffassung des chors, von der zu verwundern wre, dass sie 40 Dass der komiker Hermippos auch iamben schrieb, besttigt nur diese aristotelische auffassung. 41 Wer diese letzten worte, auf die Mephistopheles wort vom hexeneinmaleins passt, erklrt, erhlt von mir eine angemessene Belohnung. Davos sum non Oedipus. 42 Ist es auch mehr als wahrscheinlich, dass gar keine tragçdie von Thespis erhalten war, so ist es erstens doch zweifelhaft, ob die titel bei Suidas uncht sind: jedenfalls wre aber dann doch die mçglichkeit, zu wissen, was sie fr inhalt und form gehabt, abgeschnitten. und was die tragçdie vor Thespis betrifft, so gengt wol jedem anderen als dem zukunftsphilologen die dissertation upon the epistles of Phalaris.
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nicht noch abstruser ist, wre sie von der Schlegelschen im grunde verschieden43. der chor ist „die vision der dionysischen masse, wie wiederum die welt der bhne eine vision des satyrchors ist.“ herlich geistvoll neu. neuer geistvoller herlicher die vergleichung: „die form des theaters erinnert an ein einsames gebirgstal: die architektur der skene erscheint wie ein leuchtendes wolkenbild, welches die im gebirge herumschwrmenden Bakchen (denen also wol die im theater sitzenden zuschauer entsprechen) von der hçhe aus erblicken.“ es gehçrt schon ein starker reflex des urwiderspruches dazu, die wolken im tale leuchten zu lassen. die krone dieser ganzen partie aber ist die rolle, welche dem satyrchor zufllt, der stillschweigend dem chor berhaupt gleichgestellt wird. und warum nicht? ist Xerxes Dionysos, kann auch der rat der getreuen aus satyrn bestehen. denn der Satyr oqtidam¹r ja· !lgwam|eqcor hat es einmal hrn. N. angetan. erst wird er mit ein paar bocksbeinen beglckt, jetzt, schrumpft (35) vor ihm, dem hinter aller cultur unvertilgbar lebenden naturwesen der culturmensch (auch hr. N.?) zur lgenhaften caricatur zusammen.“der satyr ist ein waldmensch, doch kein aff,44 der urmensch, doch nicht culturfhig: er ist zugleich „der“ begeisterte schwrmer, der weisheitsverknder aus der tiefen brust der natur“. wenn der satyrchor auftritt Nax\lemor sj}timom ja¢e_lemom 1qu¢q¹m 1n %jqou paw» to?r paid_or Tm’ × c]kyr,
so ist der phallos kein phallos: nein die „unverkmmert grossartigen schriftzge der natur“, die griechen, die ewigen kinder, lachen auch nicht ber die grotesken obscenitten: nein, der grieche ist ja gewohnt die geschlechtliche allgewalt der natur mit ehrfrchtigem staunen zu betrachten.45 ohe jam satis est.
Rasch zu einem ernsteren bild „zum Tod“ der tragçdie durch die hand des Euripides. diesen bedruet hr. N. (54) also: was woltest du frevelnder Euripides, da du den sterbenden tragischen mythos noch einmal zu deinem frohndienst zu 43 Dass es im grund einerlei sei, ob man im chor den idealisierten zuschauer, oder ’zwischen publicum und chor eigentlich keinen unterschied’ sieht, dmmert 38 hrn. N. sacht auf: und doch, wie herb wird A. W. Schlegel 31 gescholten, und doch, wo bleibt dann die ’rtselhaftigkeit der orchestra bis auf hrn. N.’? 44 Will hr. N. sich hier gegen den Darwinismus verwahren? (und warum solte nicht mit gleichem rechte auch einmal diese weltanschauung fr die geheimlehre der mysterien ausgegeben werden?) sonst ist doch kaum zu begreifen, weshalb er erst notificieren muss, dass er an Pausanias euemeristische albernheiten nicht glaube. 45 Ist es auch wol an sich verzeihlich, wenn ich fr die schilderung des satyrcostums worte der komçdie brauche, so bin ich hrn. N. gegenber vçllig im recht. nach ihm bestimt ja (57) ’der halbgott und der betrunkene Satyr die sprache der komçdie’. eins der wenigen male, wo er diese zwillingsschwester der tragçdie erwhnt, in wahrhaft goldnen worten! wer wolte, kçnte zur aufdeckung der tollheit der Nietzschischen idiosynkrasieen von der komçdie ausgehn, indem er die fr die tragçdie gegebenen lehren auf sie anwendete.
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zwingen suchtest? (nur nicht zu hitzig, der leser kommt auch einmal an seite 97, wo er hçrt, der Sophokles habe den tragischen mythos schon ins joch gespannt) er starb unter deinen gewaltsamen hnden, und jetzt brauchst du einen nachgeahmten maskirten mythos …dir starb auch der genius der musik … und weil du Dionysos verlassen, verliess dich auch Apollon … auch deine helden haben nur nachgeahmte maskirte leidenschaften und fhren nachgeahmte maskirte reden. (wieder so hitzig! zehn seiten drauf heissen die affecte derselben personen hçchst real und naturwahr.) am ende ist Euripides selbst maske. (83) aus ihm redet der neue gott, Sokrates. in dem alten abgedroschenen mrchen von dem verkehre dieser beiden mnner glaubt hr. N. die lçsung fr das vielfach rtselhafte zu haben, welches unserern urteile die poesie, noch mehr die person des Euripides bietet. der eigentliche grund, aus welchem hr. N. beide mnner verbindet, liegt in dem glhenden hasse, mit dem er gegen sie erfllt ist. ber die mittel, seinen hass auszulassen, ist er so wenig verlegen, als ihm darin irgend ein mass gengt. Euripides, der dichter, welcher nchst Homer dem gesamten altertum teuer und vertraut war, hat ja einen grossen teil seines ruhmes einbssen mssen, teils mit recht, teils weil unserem auge seine fehler weit offner liegen als seine vorzge. manch herbes urteil ist namentlich nach A. W. Schlegel ber ihn gefllt, aber mit welcher stirn kann hr. N. behaupten, dass Euripides „von allen kunstrichtern zum drachen gemacht sei?“ sind Aristoteles und Quintilian, Lessing, Goethe und Tieck keine kunstrichter? hrn. N. freilich ist das noch zu mild verfahren: seine waffen aber sind geflissentliche entstellungen, wie die eben angefhrte; da mag der erfolg lehren, wen sie verwunden. ist es etwa keine geflissentliche entstellung, wenn von Euripides behauptet wird, er habe seine hofnungen auf die „brgerliche mittelmssigkeit“ gesetzt, und des dichters worte lauten tqi_m d³ loiq_m B ’m l]s\ s~fei p|kim46
wenn bei Philemon sich jemand aufhngen mçchte, um den Euripides zu sehn, eQ ta?r !kg¢e_aisim oR te¢mgj|ter aUs¢gsim eWwom47 so wird mit knstlicher zweideutigkeit bersetzt „wenn der verstorbne berhaupt noch bei verstande wre“. habe ich ein zu hartes wort gebraucht? doch zurck zu der maske des Sokrates, diese verbindung, beruhend auf ein paar komikerversen, die absolut 46 Eur. Schutzfl. 244. zur erklrung vgl. Phoin, 535 ffg. es war ehrenwerth und natrlich, brigens keinesweg specifisch euripideisch, dem fhigen brgerstand, dem mittel zwischen der gassendemokratie und dem stets hochverrterischen adel, zu trauen. brigens sind die Schutzflehenden aus einer zeit, wo der herbe finstere dichter von der genialitt des ’jungen lçwen’ sich hatte fortreissen lassen – bitter getuscht zu werden, wie ganz Hellas. das verhltniss, usserst fruchtbar fr Euripides, ist wert, genauer verfolgt zu werden. 47 Philemon. frgm. inc. 40a.
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nichts beweisen,48 einer tradition, die eigentlich nur aus anekdoten besteht, wie sie ausser fr die literarhistoriker des klatsches durchaus wertlos den ganzen boden der personalberlieferung des altertums berwuchert haben,49 schliesslich ein mçglichst albern erfundener orakelspruch50 – nun es ist nicht zu verwundern, dass, so viel ich weiss, noch niemand sich die mhe genommen, diese verbindung ausfhrlich zu widerlegen. es war ja so natrlich, den sophistischen tragiker mit dem grossen sophisten zu verbinden51; der nachwelt lag es nahe, die beiden populrsten gestalten jener zeit, da sie einer stadt angehçrten, auch in persçnlichen verkehr zu setzen, nun gar, da ihr die komiker-tradition ein zeugniss schien. den irrtum einzusehen ist aber nicht weniger leicht. war doch Sokrates vierzehn jahr alt, als Euripides sein erstes stck gab, und die reste der Peliaden zeigen wenigstens so viel, dass sein stil damals dem der Medeia mindestens so verwandt war, wie der der Medeia den Phoinissen ist. eine bedeutung des Sokrates lsst sich vor dem tode des Perikles nicht erweisen52 ; des Euripides bedeutsamste und tiefste schçpfungen, Medeia und Hippolytos, Aiolos und Bellerophontes, Ino und Telephos liegen vorher. denn es lsst sich nachweisen, dass die abnahme der sorgfalt im versbau, die lngst bemerkt ist, sich auch auf die ganze anlage und selbst die stellung der aufgabe erstreckte. ferner msten, wre an dem verhltniss, nun gar an dem orakel etwas, die Sokratiker davon etwas wissen. aber Platon sowol als Xenophon ignorieren den Euripides fast, oder reden nur in der ganz gng und geben weise von ihm. und der gelehrige schler der sophisten konte in ihrem herbsten feinde, der melancholische resignierte dichter in dem Homer der philophie keine teilnahme erwecken.53 was aber die hauptsache ist, es msten sich doch bei Euripides sokratische einflsse in seiner lebensanschauung finden, wie dies fr anaxagoreische und protagoreische lehren nachgewiesen ist, und wie sich reminiscenzen der lectre bei dem 48 Aristophanes Wolken I, Telekleides, Kallias, in der interpolation bei Diog. Laert. II. 18. 49 Am vollsten bei Aelian. II. 13. mehr stellen in jeder vita Euripidis. 50 Oder sprach der delphische Apollon im fnften jahrhundert in iamben mit einem anapst in zweiter stelle und der form Sovojk/r ? ich kann augenblicklich brigens nicht angeben, ob sich das orakel weiter als beim scholiasten der platonischen apologie findet. mit orakeln hat hr. N. eigentmliches unglck. auch des Archilochos ’apollinisches wesen’ muss ihm ein delphischer spruch, der gegen seinen mçrder, bekrftigen. sieht man die stellen, die Wyttenbach im comment. zu Plut. de ser. num. vind. pg. 81 zusammenstellt, an, so springt die jugend der erfindung sofort in die augen; zudem hat Oinomaos einen andern namen fr den mçrder als die brigen zeugen. 51 Wie des ohne eine persçnliche verbindung derselben z.b. Aristophanes Wolken II 1367 tut. 52 Dass einzelne dialoge, wie Platons Protagoras, frher spielen, beweist natrlich nichts. 53 platon redet gemeiniglich nur kalt von ihm als einem grossen tragiker z.b. Phaidros 268c einmal Rep. VIII. 568 A erkennt er ihm die besondere sov_a zu, grad wie Dionysos in den Frçschen das allgemeine urteil ausspricht (1413).
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ersten sammler von bchern noch mehr bemerken lassen.54 dem ist aber nicht so. hr. N. freilich behauptet keck, Euripides bekenne sich zu dem sokratischen grundsatz: tugend ist wissen. aber hr. N. kennt den Euripides nicht. denn wenn dieser auch einmal, wie ja Protagoras, die lehrbarkeit der tugend als axiom aufstellt55, so brgt die hufigkeit der auslassungen in dem sinne, auch die des grossen tragischen dichters wrdigere auffassung dafr, dass er eine in ihrem grunde unverrckbare naturanlage annahm, die jeder mensch fest gezeichnet in die welt mit bringe56 ; und aus den collisionen dieser man mçchte sagen persçnlichen praedestination der charactere entwickeln sich mit nothwendigkeit die tragischen handlungen; ebenso erklrt sie von selbst, das ihm das streben und fehlen, das irren und bssen der menschheit so hoffnungslos und trostlos erschien. was aber, den sokratischen satz betrifft, so spricht Euripides den directen widerspruch aus. nach tiefen grbeln, sagt aus seinem sinne Phaidra, schien ihr das elend dieser welt daher zu kommen, dass man das rechte wol erkenne, aber nicht tue57 also genau das christliche, „der geist ist willig, aber das fleisch ist schwach.“ man darf wol sagen, dass es eben diese gestçrte harmonie zwischen wollen und vollbringen war, die er in gestalten, nur zu wahren gestalten auf die bhne brachte, mochten sie nun in wildem ausbruche der leidenschaften, der liebe wie des hasses, jede grenze zu durchbrechen streben, um schliesslich doch die erfolglosigkeit zu erkennen oder daran zu vergehen, mochten sie den gleich hoffnungslosen, gleich vernichtenden kampf des individuums gegen die grundgesetze der natur und sitte, namentlich im verhltniss der geschlechter zu einander, kmpfen. ja, wer weiter gehen wollte, kçnnte wol sich versucht fhlen, in der disharmonie zwischen wollen und vollbringen den eigentlichen kern, aber auch den wurm am kerne, erkennen zu wollen fr die gesamten dichternatur des Euripides selber, gegenber der selbst all das, was der dichter gewollt und gewusst, berragenden aischyleischen herlichkeit, der ewig heitren, sich selbst, der ganzen welt harmonischen liebenswrdigkeit des Sophokles. – doch ich will ja nicht Euripides verstndlich machen; ich will zeigen, dass hr. N. ihn nicht versteht, noch sich ihn zu verstehen mhe gegeben. das ist leichter. Pentheus heist ihm „der verstndigste gegner“ des Dionysos. htte er doch beherzigt
54 So ist Autolykos 34 sicherlich nicht ohne einwirkung von Xenophanes 2 geschrieben, Helen. 1617 bezieht sich auf den bekannten epicharmisches spruch, einzelnes richtige hat auch der frhe schriftsteller peq· jkop_m im sechsten buch der Stromateis des Klemens, und leicht liesse die liste sich stark vermehren. 55 Schutzfl. 917. 56 Elektr. 367, wo parallelstellen hinein interpoliert sind, Hekab. 596. Hipp 961, Phoinix 807. fgm. 1050. 1053. 57 Hipp. 374. vgl. Chrysipp. 838 und das wol eben daher stammende fgm. 912.
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lgd’ Cm doj0r l³m B d³ d|na sou mose? vqome?m d|jei ti58
Euripides grundsatz soll sein „alles muss bewusst sein um schçn zu sein“ whrend er, wie aus obigem folgt, oft genug auch bewusst schlechte handlungen anerkennt, welche Sokrates bekanntlich leugnet59 er soll den mythos getçdtet haben, whrend er, wie kein anderer, die form des mythos fr die folgezeit fixiert hat, ja eine ganze reihe der bekantesten und ergreifendsten mythen durch ihn gradezu erst in die literatur und das allgemeine volksbewusstsein gekommen sind60 sein streben soll auf poetische gerechtigkeit gerichtet gewesen sein, wo ihm doch ein grundzug dieser welt und ihrer gebrechlichkeit die herschaft der ungerechtigkeit ist: Medeia, Herakleiden, Andromache, Phoinikerinnen wie mit hohn diese ungerechtigkeit manifestieren. ihm wird das Sophokleische drama entgegengehalten, und zwar der Oidipus auf Kolonos, der vier jahre nach seinem tode auf die bhne kam. es wird von der khnheit geredet, mit welcher er in den Bakchen das publikum, das er sich erzogen, missachte: und er schrieb sie in und fr Makedonien. an seinem lebensende soll das publicum zu seinen fssen gelegen haben; so heisst es in einem atem damit, dass Sophokles bis an sein lebensende, ja weit darber hinaus sich der volksgunst erfreut habe: und Sophokles berlebte den Euripides – o, ich bin es mde des herren professor Nietzsche exercitium zu corrigiren. Tμm l³m c±q 1namtkoOlem B d’ 1peisq]ei. und wenn ich tausend zungen htte und einen tausendfachen mund, ich wrde nicht fertig, wolte ich ihm auf all seinen labyrinthischen pfaden resp. luql^jym !tqapo?r folgen. da ist Sokrates der „despotische logiker“ mit dem „grossen cyclopenauge“ da ist Platon der „typische hellenische jngling“ der „erfinder des romans“. die prdicate sprechen fr sich allein. da er Sokrates wegen seines nicht-mysticismus so grimmig hasst, so giebt er – und das ist zu heiter, als dass ich es nicht erwhnen solte – mit ernster miene den Athenern die nachtrgliche weisung, was sie mit ihm htten anfangen sollen: „als etwas durchaus rtselhaftes unrubricierbares unaufklrbares htte man ihn ber die grenze bringen sollen“ (73) da war Sokrates aber zu schlau; der wusste es geschickt so einzurichten, dass sie ihn zum tode verurteilten: so ward er, das neue ideal der hellenischen jugend, ich enthalte mich auch hier jedes urteils. meinem auge, dem es versagt ist „in die dionysischen abgrnde mit wolgefallen zu schauen, gelingt es hier eben nicht eine durch superfçtation excessiv entwickelte weisheit, zu entdecken“ und corrigieren ohne aussicht auf verstndigung ist eine 58 Bakch. 311. vgl. 324. 332. 359. 480. 1302. – !wak_mym stol\tym am|lou t’ !vqos}mar t¹ t]kor dustuw_a ein spruch, der hoffentlich noch nichts von seiner wahrheit verloren hat. 59 z.b. Medeia 274 Iph. Aul. 924. u. ç. 60 Protesilaos Stheneboia Bellerophontes Aiolos Phaidra Herakles Merope Iphigeneia Auge Antiope u. s. w.
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Oknosarbeit. so will ich hrn. N. sich ruhig an Menandros vergewaltigen lassen: je ein blick auf die „prometheischen tragiker“, und es sei genug. Es ist nmlich eine zu ergçtzliche weise, wie hr. N. mit Sophokles umgeht. er wagt es doch nicht, ihn zu verdammen, und wie wenig er ihm passe, weiss er auch nicht zu bergen. dass Sophokles den ersten schritt zur vernichtung des chors getan, wird wol einmal zugestanden. (77) sonst muss die uns nun auch schon bekannte kunst des verschweigens aushelfen,61 z. B. wenn die charakteristik Odysseus bei Euripides scharf getadelt wird, die wo mçglich noch ungnstigere in welcher er im Philoktetes erscheint, aber ignoriert wird. der glanzpunkt im verstndniss des Sophokles aber ist die auffassung des Oidipus. den soll Sophokles verstanden haben als den beraus weisen und edlen menschen, der eben durch ein bermass von weisheit zu grunde geht. b lgd³m eQd½r OQd_pour, dem Teiresias vorwirft s» ja· d]doqjar joq bk]peir Tm’ eW jajoO ! ja Oidipus dnkt sich weise, allein es zeigt sich grade die unzulnglichkeit unserer natur darin, dass eben dieser wahn ihn strzt. an seinem selbstbewusstsein geht er zu grunde, darum predigt er in Kolonos 1m t` la¢o?m 5mestim grk\beia t_m poioul]mym da er sich als b p÷si jkeim¹r OQd_pour jako}lemor vorkomt, strzt er unaufhaltsam frei ins willenlose netz: da ihn leiden zeit ja· t¹ cemma_om tq_tom st]qceim did\sjei ist er arm hçchst reich, verbannt hçchst wert, verachtet hçchst geliebt. redete auch nur der mythos von „dionysischer weisheit“ htte er im rtsel der sphinx ein „rtsel der natur gelçst“, so konnte nicht in einem paralellmythos eine ker getçtet werden von einem Koroibos.62 Aber Aischylos, der denn doch dem kanon einer „metaphysisch trçstenden“ tragçdie entsprechen muss, ber den hr. N. collegien liest, den wird er doch kennen und verstehen. o ja! wem die oben gegebene probe nicht gengt, der sehe sich die „pessimistische tragçdie“ an. Prometheus charakter soll von Goethe enthllt sein in den worten: ich forme menschen nach meinem bilde. Prometheus formt sie aber nicht. er soll „der in das titanische gesteigerte mensch sein.“ Der aischyleische ist aber gott so gut wie Zeus, l_m t\de ke}sseir va_dil’ )wikkeO . . Q^jopom oq pek\¢eir 1p’ !qyc\m und die aischyleische weltbetrachtung, fr die er (d}o soi j|py AQsw}ke to}ty) den untergrund seines metaphysischen denkens in den mysterien hatte „soll lehren, dass die Moira als ewige gerechtigkeit ber den gçttern thront.“
61 Dieselbe wolfeile kunst bt hr. N. am selben orte an Aristoteles; denn der billigt ja eben (poetik 1456a 27) Sophokles chorbehandlung. berhaupt aber ist die polemik gegen Aristoteles latent. die ’freunde’ mçchten doch wol etwas mistrauisch werden, shen sie den gegensatz ihres mystagogen zu dem philosophen, dessen poetik einem Lessing die zwingende beweiskraft euklidischer stze hatte. wer noch lust hat, sich an hrn. N. zu erbauen, dem empfehle ich die sprnge zu verfolgen, die er mit der katharsis macht. 62 Die ausleger zu Ovid. Ibis 575. Anth. Pal. VII. 154
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Prometheus die „dionysische maske“ lehrt „alles vorhandene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt.“ tq_tor AQsw}ke soi j|por oxtor. das ist eine welt, das ist deine welt! triumphirt hr. N. er ahnt nicht, dass so Faust in bittrer ironie fragt:64 also selbst Goethe nicht verstanden? o, als tgkauc³r pqºsypom erscheint ihm gleich auf den ersten seiten die traumwelt als „die ganze gçttliche comçdie des daseins mit dem inferno“ wahrlich dies zeugniss fr das verstndniss Dantes ruft jedem verstand suchenden leser zu: lasciate ogni speranza voi ch’entrate.
aber gar erst das verstndniss Hamlets, der nebenbei gesagt auch Dionysos ist: seite 35 tçtet die erkenntniss sein handeln, weil es ihn ekelt, die weisheit der Seilen erkannt zu haben: 93 redet er unbedeutender als er handelt! hier scheint allerdings manches aus den fugen zu sein; gott sei dank, dass ich nicht in die welt es einzurichten kam. Ich glaube der beweis fr die schweren vorwrfe der unwissenheit und des mangels an wahrheitsliebe ist gegeben. und dennoch frchte ich, ich tat hrn. N. unrecht. wenn er mir nun entgegnet, er wolle ja eben nichts von historie und kritik, von „so genanter weltgeschichte“ wissen, er wolle ein dionysisch-apollinisches kunstwerk, „ein metaphysisches trostmittel“ schaffen, seine behauptungen htten zwar nicht die gemeine tageswirklichkeit, aber die „hçhere realitt der traumwelt“ – ja dann revociere und depreciere ich in bester form. dann will ich gern sein evangelium gewhren lassen, dann treffen es meine waffen nicht. freilich, ich bin eben kein mystiker, kein tragischer mensch, mir wird es immer nur „ein lustiges nebenbei, ein recht wol zu missendes schellengeklingel am ernst des daseins“, auch am ernst der wissenschaft sein kçnnen: eines berauschten traum oder eines trumers rausch. eins aber fordere ich: halte hr. N. wort, ergreife er den thyrsos, ziehe er von Indien nach Griechenland aber steige er herab vom katheder, auf welchem er wissenschaft lehren soll; sammle er tiger und panther zu seinen knieen, aber nicht Deutschlands philologische jugend, die in der askese selbstverlugnender arbeit lernen soll, berall allein die wahrheit zu suchen, durch williges ergeben ihr urteil zu befreien, auf dass ihr das classische altertum jenes einzig unvergngliche gewhre, welches die gunst der Musen verheisst, und in dieser flle und reinheit allein das classische altertum gewhren kann
63 Vgl. auch das bruchstck der Heliaden bei Nauck unter Euphorion. 64 Bekanntlich ist auch das in der stelle, die anm. 2 angefhrt ist, unglcklich angewandte citat aus dem lied an die freude fragend.
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den gehalt in ihrem busen und die form in ihrem geist.
Reaktionen Carl von Gersdorff an N, 31. 5. 1872: „Nachdem inzwischen Rohdes vortreffliche Besprechung in der Norddeutschen erschienen ist, habe ich soeben von Ulrich v. Wilamowitz unserm Schulkameraden eine ,erwidrung‘ in die Hnde und zu lesen bekommen. Die alte Schulkameradschaft mit dem Verfasser erweckte mein Interesse und das Bedrfniß dieses Schriftchen kennen zu lernen. Ich muß mein Bedauern fr den Verfasser aussprechen, nachdem ich es nicht ohne Erregung gelesen habe. Ich sehe diesen jungen mit Verstand und Kenntnissen begabten Menschen auf dem besten Wege – nein, bereits mitten unter dem Berliner litterarischen Judenthum. Ich bedaure, daß ein von guter Adelsfamilie abstammender Jngling der sich gewiß aus Wissensdrang der Wissenschaft hingegeben, Standesvorurtheile verlugnet hat und von der gewçhnlichen Bahn junger Edelleute abgewichen ist, sich so frhzeitig von jenem Strome hat mitreißen lassen, der heute unser Bildungswesen beherrscht.“ KGB II/4, Bf. 326, S. 10 f Erwin Rohde an N, 5. 6. 1872: „Da wre ja der Scandal, in widerwrtigster Judenppigkeit! Du hast wohl das Pamphlet schon gesehen. Jedenfalls wirst Du es nun unter Deiner Wrde halten, darauf zu antworten. Und so meine ich daß nun gerade der Zeitpunkt gekommen wre, wo ich mich an Deine Seite stelle und den Buben abweisen msste. Ich wrde dann, in mçglichst kurzer Zeit in Form eines Schreibens an Wagner, des Scandals gedenken, den Menschen mit kaltverachtender Grobheit abthun und einiges Positive zur philologisch-historischen Begrndung Deiner Ansichten, als Hauptsache, beibringen. Die Form der Anrede an W[agner] wrde ich eben darum whlen, um das Positive als Hauptsache behandeln und den Herrn Kritiker nur in Krze zchtigen zu kçnnen: denn mehr verdient solche Gemeinheit nicht. Schreibe mir nun, was Du dazu meinst: und zwar recht bald!“ KGB II/4, Bf. 327, S. 11 f N an Carl von Gersdorff, 3. 6. 1872: „Mein lieber Freund, habe nur keine Besorgnis meinet wegen: das Sichervorauszusehende findet mich gerstet. Nie werde ich mich in eine Polemik einlassen. Es ist Schade daß es gerade Willamowitz ist. Du weißt vielleicht daß er mich noch im vorigen Herbste freundlicher Weise besuchte. Ich dachte mir damals, der sollte nur in richtiger Umgebung und unter gutem Einflusse stehen, dann wrde er, bei seiner Begabung, bei seinem reinen Eifer, auch vielleicht fr den Bildungsgrad reif
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werden, den nun allerdings mein Buch voraussetzt, und den es jetzt bei ihm nicht antrifft. Ich bitte Dich mir das Schriftchen recht schnell zuzuschicken: unsre Buchhndler sind zu langsam.“ KGB II/3, Bf. 226, S. 5 f N an Erwin Rohde, 8. 6. 1872: „Die Recension ist nur ein unverschmtes Vorspiel, von ungebter knabenhafter Hand gespielt – wir ahnen erst die ,Weise‘, die uns aus dem Kreise der ,Hçheren‘ einmal entgegen klingen wird – […] Gersdorff benachrichtigte mich ber den ungefhren Inhalt jenes Pamphlets: so nur halb belehrt und ber die Form unsicher, war auch ich etwas nervçs erregt; seit gestern habe ich die Schrift in den Hnden und bin ganz ruhig. Ich bin weder so unwisssend, wie mich der Verfasser darstellt, noch so bar der Wahrheitsliebe: die rmliche Gelehrsamkeit, die er prunkend aufzeigt, muß man freilich etwas an den Schuhen abgelaufen haben, ehe man ber solche Probleme mitreden darf. Nur durch die frechsten Interpretationen erreicht er was er will. Dabei hat er mich schlecht gelesen, denn er versteht mich weder im Ganzen noch im Einzelnen. Er muß noch sehr unreif sein – offenbar hat man ihn benutzt, stimulirt, aufgehetzt – alles athmet Berlin. […] Es hilft nichts, man muß ihn schlachten, obwohl das Brschchen gewiß nur verfhrt ist. Aber es ist wegen des bçsen Beispiels u. wegen des voraussichtlich enormen Einflusses einer solchen Lug- und Trugbroschre nçthig. Zum Dank dafr, daß Du ihn schlachtest, wird er dann irgendwo eine Professur bekommen und glcklich sein.“ KGB II/3, Bf. 227, S. 7 f Cosima Wagner, 9. 6. 1872: „Brief [nicht berliefert] von Pr N, der das Pamphlet des H von Wilamowitz gegen ihn schickt. Betrachtungen, die sich an diese neue Gemeinheit knpfen; R erkennt den jetzigen Zustand der Welt als einen trostlosen.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In: Borchmeyer, Dieter/ Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 2, S. 1149ff, 9. 6. 1872 N an Carl von Gersdorff, 10. 6. 1872: „[…] damit Du ganz ber mich beruhigt bist und nicht etwa glaubst, daß ich in irgendwelcher Erregung meinen Tag verbringe, schreibe ich Dir, daß ich das Pamphlet gelesen habe und sofort gnzlich beruhigt war. Da trifft mich ja kein Wçrtchen. Alles ist bis ins Kleinste hinein, Verdrehung, Unverstand und Bosheit. Freilich verdient das Brschchen eine Zchtigung, und in welcher Form sie erfolgen wird, soll Dir der mitfolgende Rohdesche Brief sagen. Mir thut es herzlich leid um den jungen bethçrten Menschen, und ich empfinde wie Du ein wahres Leidwesen, wenn ich an seinen guten Namen denke. Es hilft nichts! Er muß çffentlich bestraft werden: wir unter uns wollen aber nicht vergessen, daß das die Frucht der jetzigen Jugenderziehung und der jetzigen
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Philologie ist: und wenn Wilamowitz bis an sein Ende ein Brandmal davon trgt, so soll ihn das immer daran erinnern, wie schmhlich er mißleitet, verfhrt, aufgereizt, wie schlecht er unterrichtet worden ist.“ KGB II/3, Bf. 228, S. 8f N an Gustav Krug, 24. 7. 1872: „In Blde erscheint eine Gegenschrift gegen das philologische Pamphlet; hast Du den Wilamo-Wisch (oder Wilam Ohne witz) gelesen? Welch bermtig jdisch-angekrnkeltes Brschchen! Es bekommt aber Prgelchen! Ist nicht zu hindern! Natrlich habe ich mit dieser Zchtigung nichts zu thun.“ KGB II/3, Bf. 242, S. 30 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1928: „Erfrischend und belehrend war der Verkehr mit Rudolf Schçll, der damals in Berlin Privatdozent war, um bald auf kurze Zeit als Professor nach Greifswald zu gehen. Er trieb mich aber zu vorschnellem Hervortreten an die ffentlichkeit; von selbst wre ich darauf nicht verfallen. Nietzsches Geburt der Tragçdie erschien und versetzte mich in hellen Zorn. So traf mich Schçll, der mehr zu Spott geneigt war, und forderte mich auf, eine Rezension zu schreiben, die er in die Gçttinger Anzeigen befçrdern kçnnte. Ich ließ mich verleiten und schrieb die Zukunftsphilologie in Markowitz, fast ganz ohne Bcher. Schçll war mehr als befriedigt, fr die Anzeigen passe es freilich nicht, aber gedruckt msse es werden. Ich fand rasch einen Verleger und trug die Kosten, die der Absatz auch fr das zweite Stck einbrachte, zu dem mich Rohdes Afterphilologie zwang, als ich schon in Rom war, in einer anderen, reineren Welt. Nietzsche hatte meinen moralischen Ingrimm durch einen frechen Ausfall auf Otto Jahn besonders erregt. berhaupt schien mir alles herabgewrdigt, was ich von Pforte als etwas unantastbar Heiliges mitgenommen hatte. Das durfte ein Pfçrtner nicht antasten. Nietzsche hatte fr etwas Besonderes, wenn auch Absonderliches gegolten, zu dem wir wenig Jngeren emporsahen. Nicht ganz ohne Einschrnkung; es hieß, daß Paul Deussen dem Autorittsfreunde, was Nietzsche ihm immer geblieben ist, von seinem Griechisch, in dem er alle andern schlug, und vor allem seiner Mathematik abgeben mßte, fr die jener notorisch unempfnglich war. Er war Ritschl von Bonn nach Leipzig gefolgt (daher der Angriff auf Jahn), und bekam durch diesen die Baseler Professur und den Ehrendoktor. Ich begreife nicht, wie jemand diesen Nepotismus entschuldigen kann, eine unerhçrte Bevorzugung eines Anfngers, die das, was das Rheinische Museum von Nietzsche brachte, keineswegs rechtfertigen konnte, Dinge, die des Richtigen nicht eben viel enthielten, also nur einer sehr guten Doktordissertation entsprachen. Das konnte ich damals nicht beurteilen, Usener hatte es im Seminar hoch gepriesen, zunchst also war man stolz auf den Erfolg des Mitschlers. Als ich gleich nach dem Kriege meinen alten Rektor besuchte, machte ich auch dem Baseler Professor in Naumburg meine Reverenz. Wenige
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Monate darauf erschien die Geburt der Tragçdie. Die Vergewaltigung der historischen Tatsachen und aller philologischen Methode lag offen zutage und trieb mich zum Kampfe fr meine bedrohte Wissenschaft. Das war verzweifelt naiv. Hier war ja gar keine wissenschaftliche Erkenntnis beabsichtigt; es handelte sich gar nicht wirklich um die attische Tragçdie, sondern um Wagners Musikdrama, von dem ich meinerseits keinen Hochschein hatte. Wieder einmal sollten die Griechen als das absolut vorbildliche Volk der Kunst erlebt, gefhlt, geschaffen haben, was die moderne Theorie als absolut vollkommen erweisen wollte. Apollinisch und dionysisch sind sthetische Abstraktionen wie naive und sentimentalische Dichtung bei Schiller, und die alten Gçtter lieferten nur klangvolle Namen fr einen Gegensatz, in dem etwas Wahres steckt, so viele triviale Dummheiten auch nachschwatzende Halbbildung mit den Wçrtern auftischt. Apollon, nicht Dionysos, begeistert den Seher und die Sibylle zu hellseherischem Wahnsinn, und die Ekstase weckende Flçtenmusik, nicht die Kithara des Gottes, herrscht in seinem delphischen Kultus. ber Dionysos hatte Nietzsche einiges bei Erwin Rohde gelernt, denn ein Hauptverdienst dieses hervorragenden Gelehrten ist die Erkenntnis, daß mit dem fremden Gotte eine neue, dem alten Gottesdienste der Hellenen fremde Form des religiçsen Fhlens und Handelns eingedrungen ist. Auch das wird zutreffen, daß in den hinreißenden Dichtungen, zu denen Nietzsche sich spter erhoben hat, ein dionysischer Geist weht. Eben darum ist er dem spezifisch Hellenischen immer nicht nur fremd, sondern feindlich gewesen. So viel Knabenhaftes in meiner Schrift steckt, mit dem Endergebnis schoß ich ins Schwarze. Er hat getan, wozu ich ihn aufforderte, hat Lehramt und Wissenschaft aufgegeben und ist Prophet geworden, fr eine irreligiçse Religion und eine unphilosophische Philosophie. Dazu hat ihm sein Dmon das Recht gegeben; er hatte den Geist und die Kraft dazu. Ob ihm die Selbstvergçtterung und die Blasphemien gegen Sokratik und Christentum den Sieg verleihen werden, lehre die Zukunft. Meine Schrift htte nicht gedruckt werden sollen. Schon die abgeschmackte Orthographie, in die ich mich von Jakob Grimm ausgehend verrannt hatte, mußte fratzenhaft erscheinen. Und die Leser mußten einen ganz falschen Begriff von meiner Keckheit bekommen. Ich war ein tumber Knabe, der sich seines anmaßlichen Auftretens gar nicht bewußt war. Aber zur Reue habe ich keine Veranlassung, denn ich folgte meinem Dmon: ehrlich und mutig fhrte ich ,im Myrtenreise das Schwert‘, wie unser Bonner Vereinsspruch gefordert hatte, fr meine Wissenschaft, die ich in Gefahr glaubte. Die Folgen mußte ich tragen. Zum Glck verschwand ich im Sden und merkte nicht allzuviel von der Hetze, die hinter mir her war. Sie hat auch nachher nicht aufgehçrt; ich ließ sie gewhren.“ Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von (1928): Erinnerungen 1848–1914. Leipzig, S. 128–130
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Cosima Wagner, 10. 6. 1872: „R liest das Pamphlet des Herrn von Wilamowitz und wird dadurch bestimmt, an Pr Nietzsche einen çffentlichen Brief zu schreiben, den er mir abends vorliest.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In: Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 2, S. 1149ff, 10. 6. 1872.
Wagner, Richard: An Friedrich Nietzsche, ordentl. Professor der klassischen Philologie an der Universitt Basel. Offener Brief. In: Norddeutsche Allgemeine Zeitung. Berlin, Sonntagsbeilage vom 23. Juni 1872.65 An Friedrich Nietzsche, ordentl. Professor der klassischen Philologie an der Universitt Basel. Werther Freund! Ich habe soeben das Pamphlet des Dr. phil. Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff, welches Sie mir zuschickten, gelesen, und aus dieser „Erwiderung“ auf Ihre „Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ gewisse Eindrcke gewonnen, deren ich mich in der Form verschiedener, vielleicht befremdlicher Fragen an Sie entledigen mçchte, und zwar in der Hoffnung, Sie durch Ihre Beantwortung zu einer ebenso ergiebigen Auskunftserklrung, wie dieß im Betreff der griechischen Tragçdie der Fall war, zu bewegen. Vor Allem mçchte ich durch Sie ein an mir selbst wahrgenommenes Bildungsphnomen mir erklrt wissen. Ich glaube nicht, daß es einen fr das klassische Alterthum begeisterteren Knaben und Jngling gegeben haben kann, als mich, zu der Zeit, wo ich in Dresden die Kreuzschule besuchte; fesselten mich vor Allem griechische Mythologie und Geschichte, so war es doch gerade auch das Studium der griechischen Sprache, zu welchem ich mit, fast disziplinwidrigem, mçglichsten Umgehen des Lateinischen, mich hingezogen fhlte. In wie weit ich hierin regelmßig verfuhr, kann ich nicht beurtheilen; doch darf ich mich auf die durch meinen feurigen Drang mir erworbene besondere Zuneigung des, hoffentlich jetzt noch lebenden Dr. Sillig, meines Lieblingslehrers in der Kreuzschule, berufen, welcher mit Bestimmtheit mir die Philologie als Fach zuwies. Wie es nun meinen spteren Lehrern an der Nikolai- und Thomasschule in Leipzig mçglich wurde, diese Anlagen und Neigungen gnzlich in mir auszurotten, dieß ist mir zwar erinnerlich, auch wohl aus dem Gebahren jener Herren erklrlich; dennoch mußte ich mit der Zeit in Zweifel darber gerathen, ob jene Anlagen und Neigungen wirklich tiefer begrndet sein konnten, da sie so gar bald in ihr volles Gegentheil bei mir auszuarten schienen. 65 Auch in Wagner, Richard: Smtliche Schriften und Dichtungen. Bd. IX. Leipzig 1873, S. 492 ff.
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Nur im weiteren Gange meiner Entwickelung kam an dem steten Wiederaufkommen wenigstens jener Neigungen es mir zum Bewußtsein, daß unter einer tçdtlich falschen Zucht wirklich Etwas in mir unterdrckt worden war. Unter den aufregungsvollsten Mhen eines von jenen Studien gnzlich ablenkenden Lebens, ward es mir immer wieder zur einzig befreienden Wohlthat, in die antike Welt mich zu versenken, so beschwerlich mir jetzt auch das fast gnzliche Abhandenkommen der sprachlichen Hilfsmittel hierfr geworden war. Dagegen mußte ich, wenn ich nun Mendelssohn seiner fertigen Philologie willen beneidete, mich wiederum nur darber wundern, daß diese seine Philologie ihn nicht davon abhielt, zu Sophokleischen Dramen gerade seine Musik zu schreiben, da ich trotz meiner Unfertigkeit doch mehr Achtung vor dem Geiste der Antike hatte, als er sie hierbei zu verrathen schien. Auch noch andere Musiker habe ich kennen gelernt, welche fertige Griechen geblieben waren, bei ihrem Kapellmeistern, Komponiren und Musiziren dennoch gar nichts damit anzufangen wußten, whrend ich (sonderbarer Weise!) aus der so schwer mir zugnglichen Antike ein Ideal fr meine musische Kunstanschauung mir herausarbeitete. Dem sei nun wie ihm wolle: in mir entstand das dumpfe Gefhl davon, daß der Geist der Antike am Ende ebenso wenig in der Sphre unserer griechischen Sprachlehrer liege, als z. B. das Verstndniß der franzçsischen Kultur und Geschichte bei unseren franzçsischen Sprachlehrern als nçthige Beigabe vorausgesetzt sein kann. Dagegen behauptet nun aber der Dr. phil. U. W. von Mçllendorff, daß es ganz ernstlich der Zweck der philologischen Wissenschaft sei, Deutschlands Jugend dahin abzurichten, „daß ihr das klassische Alterthum jenes einzig Unvergngliche gewhre, welches die Gunst der Musen verheißt, und in dieser Flle und Reinheit allein das klassische Alterthum geben kann, den Gehalt in ihrem Busen und die Form in ihrem Geist“. Von diesen herrlichen Schlußworten seines Pamphlets noch ganz entzckt, blickte ich mich nun im neuerstandenen deutschen Reiche nach dem unzweifelhaft offen daliegenden Erfolge der segensreichen Wirksamkeit der Pflege dieser philologischen Wissenschaft um, welche, so vollstndig ungestçrt und unnahbar in sich abgeschlossen, nach ihren von nirgendsher bestrittenen Maximen die deutsche Jugend bisher anleiten durfte. Zuerst dnkte es mich nun auffallend, daß Alles, was bei uns von der Gunst der Musen als abhngig sich kundgiebt, also unsere gesammte Knstler- und Dichterschaft, ganz ohne alle Philologie sich behilft. Jedenfalls scheint der Geist grndlicher Sprachkenntniß berhaupt, wie er doch von der Philologie als Grundlage aller klassischen Studien ausgehen soll, sich nicht auf die Behandlung der deutschen Muttersprache erstreckt zu haben, da man durch den immer ppiger anwachsenden Jargon, welcher aus unseren Zeitungen sich bis in die Bcher unserer Kunstund Litteratur-Geschichtsschreiber ausbreitet, bald bei jedem zu schreibenden Worte in die Lage kommen wird, sich erst mhsam besinnen zu mssen, ob dieses Wort einer wirklichen deutschen Sprachbildung angehçre, oder nicht
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etwa einem Wiskonsiner Bçrsenblatte entnommen sei. – Doch, wenn es auf dem schçngeistigen Felde bedenklich aussieht, kçnnte man sich immer sagen, damit habe die Philologie nichts zu thun, indem sie unter den Musen weniger den knstlerischen als den wissenschaftlichen sich zum Dienst verpflichtet wisse. Jedenfalls mßten wir dann bei den Fakultten unserer Hochschulen ihre Wirksamkeit antreffen? Theologen, Juristen und Mediziner lugnen aber, mit ihr zu thun zu haben. Somit sind es also wohl nur die Philologen selbst, welche sich gegenseitig instruiren, und vermuthlich einzig zu dem Zwecke, immer wieder nur Philologen abzurichten, d. h. also doch wohl nur Gymnasiallehrer und Universittsprofessoren, welche dann wieder Gymnasiallehrer und Universittsprofessoren herauszubilden haben? Ich kann das begreifen; es heißt da, die Reinheit der Wissenschaft aufrecht, und vor dieser Wissenschaft den Staat immer so in Respekt zu erhalten, daß bedeutende Besoldungen fr philologische Professoren u.s.w. ihm stets zur Gewissenspflicht gemacht bleiben. Aber nein! Dr. phil. U. W. v. M. behauptet ausdrcklich, es handle sich darum, die deutsche Jugend durch allerhand „asketische“ Prozeduren fr „jenes einzig Unvergngliche“ fertig zu machen, welches „die Gunst der Musen“ verheißt. Also muß doch in der Philologie die Tendenz einer hçheren, das ist: wirklich produktiven Bildung liegen? Sehr vermuthlich, – so denke ich mir! Nur daß durch einen sonderbaren Prozeß, in welchen ihre Disziplin gerathen ist, diese Tendenz einer vçlligen Zersetzung verfallen zu sein scheint. Denn so viel ist ersichtlich, daß die heutige Philologie auf den allgemeinen Stand der deutschen Bildung gar keinen Einfluß ausbt; whrend die theologische Fakultt uns Pfarrer und Konsistorialrthe, die juristische Richter und Anwlte, die medizinische rzte liefert, lauter praktisch ntzliche Brger, liefert die Philologie immer nur wieder Philologen, welche rein nur sich unter sich selbst von Nutzen werden. Man sieht, die indischen Brahmanen waren nicht erhabener gestellt, und darf man daher von ihnen wohl dann und wann ein Gotteswort erwarten. Und wirklich erwarten wir dieß: wir erwarten nmlich, daß einmal aus dieser wundervollen Sphre ein Mensch heraustrete, um ohne Gelehrtensprache und grßliche Citate uns zu sagen, was denn die Eingeweihten unter der Hlle ihrer uns Laien so unbegreiflichen Forschungen gewahr werden, und ob dieses der Mhe der Unterhaltung einer so kostbaren Kaste werth sei. Aber das mßte dann etwas Rechtes, Großes und weithin Bildendes sein, nicht dieses elegante Schellengeklingel, mit dem wir ab und zu in den beliebten Vorlesungen vor „gemischter“ Zuhçrerschaft abgefertigt werden. Dieses Große, Rechte, was wir erwarten, scheint nun aber sehr schwer auszusprechen zu sein: hier muß eine sonderbare, fast unheimliche Scheu herrschen, als ob man befrchte, gestehen zu mssen, daß, wenn man einmal ohne alle die geheimnißvollen Attribute der philologischen Wichtigkeit, ohne alle Citate, Noten und gehçrigen gegenseitigen Bekomplimentirungen großer und kleiner Fachgenossen, einfach den Inhalt
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aller dieser Zurstung an den Tag legen wollte, eine betrbende Armseligkeit der ganzen Wissenschaft, wie sie ihr etwa zu eigen geworden wre, aufgedeckt werden mßte. Ich kann mir denken, daß fr Den, der so etwas unternehmen wrde, nichts brig bleiben drfte, als aus dem rein philologischen Fache in bedeutender Weise hinauszugreifen, um Belebung ihres unergiebigen Inhaltes aus den Quellen menschlicher Erkenntniß herbeizuholen, welche bisher vergebens wiederum auf Befruchtung durch die Philologie warteten. Vermuthlich wrde es nun aber einem Philologen, der sich zu solcher That entschlçsse, etwa so ergehen, wie es Ihnen, werther Freund, jetzt ergeht, nachdem Sie sich zu der Verçffentlichung Ihrer tiefsinnigen Abhandlung ber die Herkunft der Tragçdie entschlossen haben. Auf den ersten Blick ersahen wir hier, daß wir es mit einem Philologen zu thun hatten, der zu uns, nicht aber zu den Philologen spreche; deßwegen ging uns denn auch einmal das Herz auf und wir faßten einen Muth, welchen wir durch die Lektre der gewçhnlichen, so citatenreichen und so tçdtlich inhaltsarmen philologischen Abhandlungen, z. B. ber Homer, die Tragiker u. dgl., bereits gnzlich verloren hatten. Dießmal hatten wir Text, aber keine Noten; wir blickten von der Bergeshçhe in die weiten Ebenen hinaus, ohne von dem Geprgel der Bauern in der Schenke unter uns gestçrt zu werden. Aber es scheint, nachtrglich soll uns nichts geschenkt sein: die Philologie bleibt dabei, Sie stnden auf ihrem Boden, seien daher keinesweges ein Emanzipirter, sondern nur ein Abtrnniger, und die Notenprgel seien Ihnen, wie uns, nicht zu erlassen. Wirklich ist der Hagel hereingebrochen: ein Dr. phil. hat zu dem gehçrigen philologischen Donnerkeile gegriffen. Doch leben wir jetzt in der Jahreszeit, wo solch’ ein Unwetter bald vorbergeht: so lange es wthet, bleibt ein Vernnftiger wohl ruhig zu Hause; dem losgelassenen Stiere weicht man aus, und hlt es, mit Sokrates, fr absurd, den Huftritt des Esels mit einem menschlichen Fußtritte erwidern zu wollen. Doch uns, die wir dem Vorgange nur zuschauten, bleibt etwas zur Erklrung brig, da wir nicht Alles an ihm verstanden. Deßhalb wende auch ich mich eben mit Fragen an Sie. Wir haben nicht geglaubt, daß es im „Dienste der Musen“ so grob hergehe, und daß ihre „Gunst“ eine solche Ungebildetheit zurcklasse, wie wir sie hier an einem „jenes einzig Unvergngliche“ Besitzenden wahrnehmen mußten. Ein klassischer Sprachgelehrter, der einem „meinthalben“ in demselben Satze noch ein „meinthalb“ nachschickt, erscheint uns noch fast wie ein vom Biere zum Schnaps taumelnder Berliner Eckensteher aus der alten Zeit: genau dieses giebt uns aber der Dr. phil. U. W. v. M., pag. 18 seines Pamphlets zum Besten. Wer nun nichts von Philologie versteht, wie wir, weicht allerdings ehrfurchtsvoll den Behauptungen eines solchen Herren aus, wenn sie sich auf ungeheuere Citate aus dem Dokumenten-Archive der Zunft sttzen; aber wir gerathen in den vollsten Zweifel, nicht etwa an der Unabsichtlichkeit des Nichtverstndnisses Ihrer Schrift Seitens jenes Gelehrten, sondern an seiner einfachsten Befhigung,
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nur berhaupt das Allerklarste zu verstehen, wenn er z. B. den Sinn Ihres Goethe’schen Citates: „Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!“ dahin auffaßt, als fhrten Sie diese Worte im optimistischen Sinne an, und Ihnen deßhalb (mit Entrstung darber, daß Sie nicht einmal Goethe verstehen kçnnten!) erklren zu mssen glaubt, daß „Faust so in bitterer Ironie frage“. Wie soll man so etwas nennen? Eine auf çffentlichem, litterarischem Wege vielleicht schwer zu beantwortende Frage! Mir, fr mein Theil, thut eine solche Erfahrung, wie ich sie an dem vorliegenden Falle mache, herzlich leid. Sie wissen, mit welchem Ernste ich noch in meiner Abhandlung ber „Deutsche Kunst und Deutsche Politik“ vor einigen Jahren fr die Pflege der klassischen Studien mich ereiferte, und einer immer beleren Wendung unserer nationalen Bildung aus der zunehmenden Vernachlssigung derselben von Seiten unserer Knstler und Litteraten entgegensehen zu mssen glaubte. Was ntzt es aber nun, wenn man sich auf dem Felde der Philologie Mhe giebt? Dem Studium J. Grimm’s entnahm ich einmal ein altdeutsches „Heilawac“, formte es mir, um fr meinen Zweck es noch geschmeidiger zu machen, zu einem „Weiawaga“ (einer Form, welche wir heute noch in „Weihwasser“ wiedererkennen), leitete hiervon in die verwandten Sprachwurzeln „wogen“ und „wiegen“, endlich „wellen“ und „wallen“ ber, und bildete mir so, nach der Analogie des „Eia popeia“ unserer Kinderstubenlieder, eine wurzelhaft sylabische Melodie fr meine Wassermdchen. Was begegnet mir? Von unserer journalistischen Straßenjugend werde ich bis in die „Augsburger Allgemeine“ hinein verhçhnt, und es begrndet nun ein Dr. phil. auf dieses ihm sprichwçrtlich gewordene „wigala weia“ – wie er es anfhrt – seine Verachtung vor meiner „s. g. Poesie“! Und dieß geschieht alles mit der urdeutschen Orthographie seines Pamphlets, whrend andererseits kein affektirtes Theaterstckmachen unserer Modelitteraten fade und leicht genug ist, um z. B. von philologischen Erklrern des Nibelungenmythus’ (wie ich dieß krzlich antraf ) nicht fr bewundernswerthe Abschlsse der alten Volkspoesie angesehen zu werden. In Wahrheit, mein Freund, Sie sind uns hierber einige Aufklrungen schuldig. Sie treffen in Denen, welche ich wir nenne, nmlich auf Solche, die von der schwrzesten Sorge fr die deutsche Bildung erfllt sind. Was diese Sorge vermehrt, liegt in dem sonderbar gnstigen Rufe, in welchem diese Bildung bei den, mit ihrem einstigen Blthenansatze spt erst bekannt gewordenen Auslndern steht, und der auf uns wie mit narkotischer Betubung, bis zu welcher wir uns gegenseitig beruchern, zurckwirkt. Gewiß hat jedes Volk einen Keim zur Kretisinirung in sich: bei den Franzosen sehen wir, daß der Absinth jetzt dort fertig bringt, was die Akademie eingeleitet hat, nmlich, daß ber alles Unverstandene, und deßhalb von dieser Akademie aus der nationalen Bildung ausgeschiedene, endlich wie von albernen Kindern nur noch gelacht wird. Nun hat zwar unsere Philologie noch nicht die Macht jener Akademie, auch ist unser
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Bier nicht in der Weise gefhrlich wie der Absinth; dennoch drften andere Eigenschaften des Deutschen hinzutreten, die, wie seine Scheelsucht und dieser entsprechende hmische Begeiferungslust, verbunden mit einer um so verderblicheren Unwahrhaftigkeit, als ihr aus alten Zeiten der Anschein von Biederkeit anhaftet, so sehr bedenklicher Natur sind, daß die uns abgehenden Gifte durch sie nicht unleicht sich ersetzen drften. Wie steht es um unsere deutschen Bildungsanstalten? Darnach fragen wir gerade Sie, der Sie so jung berufen und von einem ausgezeichneten Meister der Philologie vor Vielen bevorzugt wurden, den Lehrstuhl einzunehmen, und hier sich schnell ein so bedeutendes Vertrauen erwarben, daß Sie es wagen konnten, mit khner Festigkeit aus einem vitiosen Zusammenhange herauszutreten, um mit schçpferischer Hand auf seine Schden zu deuten. Wir geben Ihnen hierzu Zeit. Nichts drngt Sie, am wenigsten wohl jener Dr. phil., welcher Sie einldt, von Ihrem Lehrstuhle herabzusteigen, was Sie gewiß selbst aus Geflligkeit gegen diesen Herren nicht thun wrden, weil voraussichtlich wohl gerade Er dort, wo Sie gewirkt, nicht zum Nachfolger erwhlt werden drfte. Was wir von Ihnen erwarten, kann nur die Aufgabe eines ganzen Lebens sein, und zwar des Lebens eines Mannes, wie er uns auf das Hçchste noththut, und als welchen Sie allen Denen sich ankndigen, welche aus dem edelsten Quelle des deutschen Geistes, dem tief innigen Ernste in Allem, wohin er sich versenkt, Aufschluß und Weisung darber verlangen, welcher Art die deutsche Bildung sein msse, wenn sie der wiedererstandenen Nation zu ihren edelsten Zielen verhelfen soll. Von Herzen grßt sie der Ihrige Richard Wagner. Bayreuth, 12. Juni 1872. Reaktionen Cosima Wagner an N, 14. 6. 1872: „Der Meister hat das Pamphlet empfangen, gelesen und beantwortet, letzteres durch einen Brief an Sie, lieber Herr Professor, den Sie in diesen Tagen erhalten werden. Ich htte das Ding nicht mit der Zange anrhren mçgen, und war sehr befriedigt durch ihre Entschlossenheit auf derlei nicht zu achten; nicht zu lesen wre vielleicht noch besser […].“ KGB II/ 4, Bf. 329, S. 21
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N an Richard Wagner, 24. 6. 1872: „Ja, geliebter Meister, mit wahrem Wohlgefhl scheide ich von diesem Johannistage, der mir Ihren herrlichen und lange in mir fortklingenden Brief gebracht hat. Wie glnzend habe ich einen solchen Tag in meinem Leben zu verzeichnen, der mich an seinem Schlusse nur mahnt, dankbar um mich zu blicken, mich nicht einsam zu wissen und mit frohem Gefhle das zu bewundern, was mir das gnstigste Geschick zu erleben gab: das unverdiente reine Wohlwollen und die krftig schirmende Liebe des mchtigen Geistes.“ KGB II/3, Bf. 233, S. 15 Erwin Rohde an N, 12. 7. 1872: „Mittlerweile habe ich die Abfertigung des Wilamowitz begonnen, an Wagner geschrieben und dessen Zustimmung zu der Ansprache an ihn erhalten. Ich habe augenblicklich mancherlei um die Ohren, denke aber doch in etwa 14 Tagen fertig zu sein. Fritzsch wird ja wohl den Druck bernehmen: soll ich mich direct an ihn wenden, oder willst Du es thun?“ KGB II/4, Bf. 339, S. 39 N an Erwin Rohde, 16. 7. 1872: „Hier mein lieber guter Freund, ist der Titel, die mit Jubel und Hohngeschrei begrßte Erfindung meines Hausgenossen Prof. Overbeck: Die Afterphilologie“ KGB II/3, Bf. 239, S. 22 N an Erwin Rohde, 25. 7. 1872: „Was ich Dir das letzte Mal ber die Wilamowitzelei schrieb, waren rechte Lumpereien und gar nichts Principielleres. Aber – Gott sei Dank, wenn Du fertig bist; dann fllt von mir eine wahre Last – nmlich Dich mit jenem Wilamo-Wisch beschftigt zu wissen.“ KGB II/3, Bf. 244, S. 35 Erwin Rohde an N, 27. 9. 1872: „der Anti-Wilamowitz hing mir endlich zum Halse heraus daß ich mich gar nicht wieder an Dich wenden mochte, ehe die Revision dieses unerfreulichen Schriftstckes nicht ganz beendet wre. Ich finde daß Fritzschius sich nicht bermßig beeilt hat; indessen ist nun doch die Correctur ganz fertig und das Opusculum kann erscheinen.“ KGB II/4, Bf. 360, S. 76
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Rohde, Erwin: Afterphilologie. Zur Beleuchtung des von Dr. phil. Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff herausgegebenen Pamphlets: „Zukunftsphilologie!“ Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner. Leipzig, 1872. Verehrter Meister! Nachdem Sie selbst in dem offenen Briefe an Friedrich Nietzsche, welcher in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 23. Juni abgedruckt ist, der gegen das Buch unsres Freundes ber die Geburt der Tragçdie gerichteten „Erwiderung“ des Dr. phil. Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff mit der gebhrenden Verachtung gedacht haben, kçnnte es beinahe berflssig erscheinen, auf jenes Pasquill noch einmal zurckzukommen. Denn vergebliche Mhe wre es in der That, wenn man, jener Schmhschrift gegenber, den Scharfblick, die tiefe Einsicht, den seelenvollen Ernst unsres Freundes ausfhrlich erweisen wollte. Wer sein Buch selbst zu verstehen im Stande ist, der wird sich ohne fremde Nachhlfe eben von diesen Eigenschaften desselben am innigsten ergriffen fhlen; jenem Pasquillanten aber den von ihm mit solcher Heftigkeit gelsterten, ja als „ertrumt“ bezeichneten Geist des angefeindeten Autors klar machen zu wollen, wre eben so thçricht, als wenn Einer dem Fuchse der Fabel die Sssigkeit der diesem unerreichbaren und darum von ihm sauer gescholtenen Trauben zu demonstriren unternhme. Offenbar nmlich haben wir es hier mit einem Exemplar jenes seltsamen Genus von „Kritikern“ zu thun, denen ein fr ihren Verstand durchaus nicht berechnetes Buch in die Hnde gefallen ist, und die nun, da sie von dessen Inhalt nicht das Mindeste begriffen haben, auch – bei der Drftigkeit ihrer Anlagen – nie das Mindeste zu begreifen im Stande sein werden, eben aus diesem vçlligen Nichtverstehen den einzigen Grund entnehmen, um sich zum „Kritiker“ jenes Buches aufzuwerfen. Dass mçglicher Weise der Autor es nur verschmht habe, zu der Niedrigkeit ihres Standpunktes zu condescendiren, fllt solchen, nur gegen sich selbst nicht kritisch gestimmten Geschçpfen natrlich niemals ein; kaum mçchten sie, auf dem hohen Pferde eigner Werthschtzung, auch nur den Sinn der Frage verstehen, welche der alte Lichtenberg an einen aus ihrem Orden richtete: „Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstossen, und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?“ Genug, diese Gestrengen constatiren mit Entrstung, dass es ihnen wieder einmal hohl geklungen habe. So denn auch dieser Dr. phil.; ihm mçge aber der von ihm so feurig verehrte Euripides die Wahrheit noch directer andeuten: „Dem Thoren scheint, wer Weises redet, selbst verkehrt“. Verwundern wird uns nun aber eine solche Dreistigkeit in der Verurtheilung des tief Gedachten und warm Empfundenen weiter nicht, in unsrer Zeit, wo als die wahre Legitimation zum Berufe des kritisch wachsamen Gesundheitsrathes der Litteratur die sorgfltig ausgebildete absolute Unfhigkeit gilt, irgend etwas zu
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verstehen, das ber den Zustand des plattesten Behagens hinaus fhren kçnnte. Diese bei ihm ganz herrlich entwickelte Unfhigkeit nennt der Dr. phil. von Wilamowitz: „gesunde Geistesklarheit“. Die Griechen wrden sie wohl weniger euphemistisch !mais¢gs_a, zu deutsch: drftige Empfindungsarmuth genannt haben. Auch bei ihnen drngten sich mit den ersten Regungen allwissend ignoranter „Kritik“ solche Leute hervor, von denen Aristoxenus sagt, dass sie tiefer Verstehenden ihre Einsichten mit dem einzigen Argument ihrer eignen !mais¢gs_a bestritten, „als ob alles, was ihnen und ihren armseligen Fhigkeiten entgeht, auch berhaupt gar nicht vorhanden und jedenfalls durchaus verwerflich sei“. Selbst der giftige Ingrimm, die Schmhungen, Verlumdungen, Verdchtigungen, mit denen in dem Pasquill des Herrn Dr. die kritische Unfhigkeit sich Luft macht, wird uns nicht in Erstaunen setzen: wer htte nicht an zahlreichen widrigen Beispielen beobachtet, dass geistige Ueberlegenheit, wenn sie mit Ernst und stolzer Unbefangenheit eine tiefsinnige Einsicht aussprach, zu allen Zeiten von jenen Geistern, die eine tiefere Wahrheit weder selbst zu erkennen, noch ihre Erkenntniss an andern zu schtzen vermçgen, wie eine persçnliche Beleidigung empfunden, und in den heftigsten Ausbrchen ihrer schon durch die blosse Existenz des Edlen verletzten Selbstliebe abgewehrt wurde ! Nun, unser Freund wird ohne Zweifel, mit dem griechischen Spruche, denken: besser beneidet als beklagt, und seinen Weg mit Festigkeit weiter gehen. Wer aber einen solchen Kritiker, in gutmthigem Wahne, als ob es demselben auf ein ihm brigens ja unerreichbares Verstndniss berhaupt ernstlich ankme, eines Bessern zu belehren versuchte, der wrde wahrlich seine Krfte verschwenden. Wo die eindringliche Beredtsamkeit unsres Freundes so ganz wirkungslos blieb, da muss man doch in Wahrheit glauben, es mit einem Vertreter der dritten jener von Machiavell beschriebenen drei generazioni di cervelli zu thun zu haben; welche dritte Art nmlich non intende n per s stessa n per dimostrazione d’ altri. Man braucht in der That nur einige der „Erwiderungen“ des Dr. phil. auf Aeusserungen unsres Freundes zu lesen, um hier „alle Hoffnung fahren“ zu lassen. Da wird z. B. gegen die Behauptung, dass „niemals, bis auf Euripides, Dionysus aufgehçrt habe, der tragische Held zu sein“, auf die Choephoren, Schutzflehenden, Perser, Aias, Elektra, Philoktet triumphirend hingewiesen; der Ausfhrung unsres Freundes, dass Euripides den Mythus getçdtet habe, wird entgegnet, dass doch „eine ganze Reihe der bekanntesten und ergreifendsten Mythen durch ihn erst in die Litteratur und das allgemeine Volksbewusstsein gekommen“ seien; wenn unser Freund sagt, dass den Sinn des Aeschyleischen Prometheus als des Heros der Activitt der jugendliche Goethe in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enthllen gewusst habe: „hier sitz’ ich, forme Menschen“ u.s.w., so erwidert der Dr. flugs: „Prometheus formt sie aber nicht“. Zu solchen Exhibitionen gesunder Geistesklarheit kann man doch nur die Achseln zucken. Oder wenn der Pasquillant unsern Freund, mit der ihm sehr gelufigen Kunst einer kleinen Entstellung seiner Worte, sagen lsst: So-
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phokles habe den Oedipus als den beraus weisen und edlen Menschen verstanden, der eben durch ein Uebermaass von Weisheit zu Grunde geht, und darauf nun, „erwidernd“, sich selber folgendermaassen auslsst : „ja Oidipus66 dnkt sich weise, allein es zeigt sich grade die Unzulnglichkeit unsrer Natur darin, dass eben dieser Wahn ihn strzt“ u.s.w. u.s.w. – so kann man aus dieser tiefsinnig neuen Offenbarung wohl nichts weiter entnehmen als die Beruhigung, dass dieser Dr. jedenfalls nicht an bermssiger Weisheit zu Grunde gehen werde. Das merkwrdigste Zeugniss aber fr seine Fhigkeit, ernsthaft bedeutende Dinge und Personen durch Trivialisirung seiner eignen Fassungskraft anzunhern, legt der Dr. phil. durch die hçchst schtzbaren Aufschlsse ab, die er uns ber die knstlerische Natur des Euripides giebt. Sieht man nmlich den Eifer, mit welchem er sich dieses Dichters annimmt, so kommt man allerdings in Gefahr, nicht nur an der dichterischen Tiefe sondern auch an der geistigen Energie und dem leidenschaftlichen Erkenntnissdurst des von einem solchen Advocaten in Schutz Genommenen irre zu werden. Denn wahr bleibt doch jedenfalls, was Aristoteles ausspricht: dass einem Jeden das Wohlgefallen errege, was ihm von Natur verwandt ist. Aus dieser Besorgniss fr Geist und Charakter des Dichters reisst uns nun plçtzlich die geistreiche Deutung der „gesammten Dichternatur“ des Euripides, die uns der Dr. phil. auf Seite 28 als schçnste Frucht seiner Studien darbietet. Wir erfahren dort, dass der „eigentliche Kern“ dieser Natur „die Disharmonie zwischen Wollen und Vollbringen“ sei. Frwahr, ein schçnes Compliment fr einen Knstler, das uns aber in heiterster Weise darber aufklrt, was eigentlich diesen Pasquillanten antrieb, das Phantom, das er Euripides nennt, mit einer so wahrhaft verwandtschaftlichen Liebe zu umfassen. Das also ist der „Kritiker“ unsres Freundes! Nun, von einem solchen Leser wirklich verstanden zu werden, kçnnte offenbar fr einen ernsthaften Schriftsteller nur compromittirend sein: eine Unannehmlichkeit, die denn auch keinem der von dem Pasquillanten so zahlreich citirten Autoren begegnet ist. So denke ich denn auch gar nicht daran, unsern Freund deswegen zu rechtfertigen, weil er mit dem Dr. phil. und seines Gleichen nicht die geringste Aehnlichkeit hat: denn darauf luft ja doch im Wesentlichen der Aerger des „Kritikers“ hinaus. Nun mochte der Dr. phil. auch wohl selbst dunkel empfinden, dass ein wirklicher Versuch von seiner Seite, den eigentlichen Inhalt des Nietzsche’schen Buches auch nur anzugreifen, etwas durchaus lcherliches haben msse. Im Ganzen also begngt er sich hier mit Schmhungen, und scheut es sogar nicht, zum Schluss ausdrcklich seine Unfhigkeit, in den Ernst solcher Kunstbe66 Recht urgriechisch; anders thut es dieser Hochgelehrte nicht; so wie er auch seinen „hochmodernen“ Zeitungsjargon in ein pedantisches Jckchen affectirt altdeutscher Rechtschreibung gezwngt hat.
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trachtung einzudringen, recht behaglich zu bekennen, indem er, mit den Worten der Vorrede unsres Freundes, eingesteht, dass ihm die Kunst immer nur „ein lustiges Nebenbei, ein recht wohl zu entbehrendes Schellengeklingel am Ernst des Daseins“ sein werde. Also ganz wie der Goethesche Philister: „der mag wohl zu entbehren sein, der bunte Trug, der leere Schein“; und so mçge denn der Herr Dr. die Antwort der Iris auf jene gesunde Philisterweisheit auch sich gesagt sein lassen. Da er nun doch daran verzweifelt, durch einen ehrlichen Kampf gegen den eigentlichen geistigen Gehalt des Buches dem Credit unsres Freundes nach Wunsch schaden zu kçnnen, so richtet er seinen Angriff vornehmlich gegen eine Seite des Buches, wo er hoffen durfte, sich harmlosen Lesern gegenber einen Anschein von Competenz geben zu kçnnen. Ein gebildeter Leser, der aber nicht gerade zunftmssiger Philolog ist, wird sich, so klar er im Uebrigen die vçllige Inferioritt dieses „Kritikers“ erkennt, doch beugen mssen, wenn dieser sich in seiner Eigenschaft als Dr. phil. introducirt, und durch einen Haufen gelehrt aussehender griechischer Citate zu zeigen unternimmt, dass alle die geistreichen Gedanken des Autors auf einer fast unbegreiflichen, weil selbst von einem beliebigen Dr. phil. aufzudeckenden Ignoranz, verbunden mit einer selbst durch diesen Dr. phil. nicht zu berbietenden Neigung zur Unwahrheit beruhen. Das Unternehmen gemuthet Einen freilich etwa, als ob ein armseliger Schuster, der allenfalls ein Paar Schuhe nothdrftig zu flicken und zu versohlen verstehen mag, das eherne Bildwerk eines Knstlers censiren zu kçnnen meinte, weil dieses Bild ja doch auch Schuhe trgt ; gleichwohl ist es seiner Wirkung nach ganz wohl berechnet. Es speculirt nmlich auf die grosse Mehrzahl unsrer philologischen Berufsgenossen, denen durch eine solche wissenschaftlich schillernde Scandalschrift, selbst wenn sie von ihr nur nach Hçrensagen wissen, die Meinung beigebracht wird, als ob in dem also verlumdeten Buche hçchst bedenkliche, fr die „gesunde Geistesklarheit“ durchaus nicht zutrgliche Irrlehren mit der Naivett eines gnzlich Ignoranten, dilettirenden Kunstlitteraten auf das Alterthum bertragen wrden. Die Lectre der Nietzsche’schen Schrift selber wird ihnen danach zum Wenigsten ganz unntz, die tiefen und fruchtbaren Gedanken, die in ihr, fr dunkle Probleme unsrer Wissenschaft lichtbringend, dargeboten werden, keiner Beachtung werth erscheinen; und so wre denn die bedeutende Wirkung gnzlich verhindert, die man erwarten durfte von einem solchen aus ernstem und innigem Herzen geschçpften und gewiss nicht ohne Selbstberwindung an das kalte Licht unsrer Oeffentlichkeit gegebnen Buche eines jener wenigen Philologen, die noch mit allen Fhigkeiten einer hoch gestimmten Seele sich der Betrachtung alter Kunst ergeben, und aus der vertieften Beschauung dieser ewig klaren, ewig rthselhaften Wunderbilder Norm und sichre Belehrung ber die unsicher schwankenden Erscheinungen neuerer Zeit gewinnen kçnnen. Eine solche Wirkung will eben der Pasquillant verhten; und dazu hat er, mit wenig beneidenswerthem Instinct,
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seine Mittel nicht ungeschickt gewhlt. Denn in der That : wenn unser Freund sein Werk auf einem so morschen Grunde der Ignoranz und Lgenkunst errichtet htte, wenn er wirklich zu jener wunderlichen Secte sogenannter Litteraten gehçrte, die da ernten zu kçnnen meinen, wo sie nicht geset haben, – so wre sein Buch der Beachtung eines Philologen nicht werth. Nun ist zwar fr einen seiner eignen Wissenschaft nicht vçllig unkundigen Philologen nichts leichter einzusehen, als die vçllige Nichtigkeit der von dem Pasquillanten zum Beweis jener Beschuldigungen vorgebrachten Grnde. Es ist daher auch nicht im Mindesten zu befrchten, dass irgend ein ernsthafter Gelehrter, bei eingehender Prfung, sich durch den Hagel von Citaten, an der ausgefahrenen Landstrasse der gewçhnlichsten Hlfsbcher aufgelesen, mit dem der Dr. phil. dem wissenschaftlichen Credit unsres Freundes den Garaus zu machen sucht, darber tuschen lasse, dass nur die eigne Unreife dem Angreifer hinderlich war, die Grnde der Behauptungen zu erkennen, die unser Freund, nach dem Plane seines Buches, ohne gelehrten Beweis hinstellen musste. Mit Recht aber rechnet der Pasquillant darauf, dass die Meisten sich auf eine eingehende Prfung nicht einlassen, sondern hçchstens von seiner Schmhschrift flchtige Kenntniss nehmen werden; denn so ist, zu Gunsten der Verlumder, der Lauf der Welt. Da wird denn die unerhçrte Dreistigkeit, mit der dort die unreifste Unwissenheit ihren Kram auslegt und den Gegner lstert, Viele bestimmen, auch an die philologische Verwerflichkeit eines so grimmig angefeindeten Autors zu glauben, der ihnen freilich, selbst wenn ihnen sein Buch wirklich bekannt wre, aus andern Grnden mannichfach bedenklich erscheinen msste. Der grossen Mehrzahl heutiger Philologen wird es nmlich schon vçllig paradox erscheinen, dass berhaupt ein Schriftsteller den ernstlichen Versuch machen kçnne, die philologische Wissenschaft zu mehr als einer blossen Uebung des Scharfsinnes und des Gedchtnisses zu verwenden, vielmehr ber diese schtzbaren und unentbehrlichen Fhigkeiten hinaus an hçhere Erkenntnissvermçgen zu appelliren, und schliesslich denn auch – nach dem Worte des Gorgias – nicht um die Mgde, sondern um die erlauchte Penelope selbst zu werben, nmlich um den hçchsten Preis der Alterthumsstudien, ein Verstndniss der edelsten Kunstwerke, das selbst wieder zu einem knstlerischen Dasein fruchtbar anleiten kçnne. Wie wird ihnen aber vollends zu Muthe werden, wenn sie von dem Pasquillanten erfahren, dass unser Freund seine Einsichten in das Wesen der Musik und der tragischen Kunst aus den Lehren Arthur Schopenhauer’s gewonnen habe ? Man braucht nur diesen Namen zu nennen, um bei der grossen Majoritt der „Gebildeten“ sofort die Erinnerung an gewisse auffallende Extravaganzen wach zu rufen, die man, verkehrt genug, als den Kern der Schopenhauerschen Lehre zu betrachten gewohnt ist, und auf die man halb mit einem Grauen des Abscheus, halb mit dem wohlthuenden Gefhl des selbstgerechten Pharisers hinblickt, da man ja, Gott sei Dank, selber zu den „bessern Menschen“ gehçrt. Auf diese, ihm sehr gelufigen
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Gefhle der Menge speculirend, bricht denn der Pasquillant auch gleich auf der ersten Seite die Gelegenheit vom Zaune, Schopenhauer zu insultiren. Unser Freund preist die tragische Kunst als die Erlçserin von buddhistischer Willensverneinung, und hat diesen, sein ganzes Buch durchziehenden Gedanken auf p. 118. 119 ausdrcklich und selbst fr einen ganz verkrppelten Verstand deutlich genug ausgesprochen. Dennoch findet es der Dr. phil. angemessen, mit vollstndiger Umkehrung der Wahrheit, den „tragischen Menschen“ fr identisch mit dem buddhistischen zu erklren, und an diese Unwahrheit folgende Bemerkung zu knpfen: „Nirvana natrlich nicht als das, was es historisch betrachtet ist, sondern wie es im metaphysischen Dunstkreis scheint, genommen“. Entweder sind diese Worte gnzlich in den Wind geredet, oder sie richten sich gegen Schopenhauer’s, jedenfalls von unserm Freunde getheilte Meinung, dass das buddhistische Nirvana keineswegs ein absolutes Nichts bezeichne, sondern nur ein relatives, eine Negation aller Eigenschaften der Erscheinungswelt. Die erste Mçglichkeit wre freilich ganz der Art dieses kritischen Windbeutels entsprechend; indessen lsst doch auch die Ausdrucksweise jene Bemerkung als gegen Schopenhauer gerichtet erscheinen, als welche vçllig in dem wegwerfenden Ton gehalten ist, den gegen diesen Einen unter den grossen Denkern jeder gedankenlose Tropf sich herausnehmen zu drfen glaubt. Der Herr Dr. mag in irgend einem Handbuche aufgelesen haben, dass nach heutiger buddhistischer Lehre Nirvana allerdings das absolute Nichts bezeichne: gar zu vorschnell aber benutzt er die Gelegenheit, diese wohlfeile Weisheit mit einer Insulte gegen Schopenhauer zu verbinden. Denn wenn man die Bedeutung von Nirvana wirklich „historisch betrachtet“, so stellt sich vielmehr heraus, dass es im Munde des Gotama Buddha selbst, ganz wie Schopenhauer annimmt, ein relatives Nichts bezeichnet, und erst durch sptere Grbler zu einem absoluten Nichts fortgebildet wurde: worber der Dr. phil. seine anmaassende Unwissenheit durch Max Mller Buddha’s Dhammapada p. XXXIX – XLVII belehren lassen mag. Ich habe dieses Beispiel hervorgehoben, weil es Ihnen, gleich am Eingnge, als eine Probe dienen kann fr die Weise, in der sich in dem ganzen Pasquill Unwissenheit, geflissentliche Verlumdungskunst und Speculation auf blinde Abneigungen des grossen Publicums zu einem anmuthigen Ganzen verschlingen. Wenn man nun aber auch unserm Freunde die verpçnte Schopenhauersche Philosophie zu seinem Privatgebrauche allenfalls verstatten mçchte, so werden doch nicht nur so vçllig urtheilslose Leute wie der Dr. phil., sondern auch ernsthaft gebildete Philologen die Anwendung der von dorther gewonnenen Gedanken auf die Betrachtung des Alterthums, als der Objectivitt einer rein historischen Wissenschaft unzutrglich, verwerfen. In Wahrheit aber kçnnte nur die Aufrichtigkeit, mit der unser Freund sich als einen Schler und Anhnger Schopenhauers dankbar bekennt, ungewçhnlich erscheinen, gegenber der naiven Unklarheit, mit der ein Jeder, ohne immer deutliches Bewusstsein,
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seine eignen Lieblingsvorstellungen auf das Alterthum bertrgt. Denn eine solche Objectivitt, die selbst in der Ergrndung des geheimsten Wesens antiker Kunst nur auf „Zeugnisse“ sich zu sttzen vorgiebt, ist im Grunde rein illusorisch. Wir stehen dieser zertrmmerten Wunderwelt alterthmlicher Herrlichkeit nicht anders gegenber als der gesammten Natur der Dinge: hier wie dort drngt sich uns eine unverbundene Unendlichkeit einzelner Gegenstnde auf, fr die wir uns innerlichst angetrieben fhlen, eine Einheit zu suchen, die wir doch wiederum nur aus einer, in uns selbst entstandenen Einheitlichkeit der anschauenden Erkenntniss gewinnen kçnnen. Man kann auf diese zerstreuten Bruchstcke antiker Tradition anwenden, was Montaigne trefflich sagt: II est impossible, de ranger les pices, qui n’a une forme du total en sa teste. Daher denn die zahlreichen Versuche, aus den verschiedensten Weltanschauungen jene hçchste Cultur des alten Hellas zu begreifen, der man sich denn doch mit ganzer Seele nahen mçchte. Wenn nun aber, bei einem ernsten Versuch einer wirklichen Anschauung dieser fremden Welt, Niemand das angeborne und durch Nachdenken ausgebildete innerste Wesen seiner ganzen Geistesart verlugnen kann, so wird die Quelle seiner allgemeinsten Vorstellungen in wirklicher oder affectirter Gedankenlosigkeit zu verheimlichen jedenfalls derjenige am Wenigsten verpflichtet sein, der, in der gegenwrtigen Verwilderung der Gedanken und Meinungen, sich noch Kraft genug bewahrt hat, um einem jener wenigen grossen Geister, durch die allein, nach Schiller, die Menschheit sich fortpflanzt, auf die einsame Hçhe seiner weitumschauenden Weltbetrachtung folgen zu kçnnen. Denn mag man auch zugeben, dass in der immer lebendig erhaltenen Nçthigung zu einer hçchst mannichfaltigen Betrachtung jener vorbildlichen Kunstwelt des hellenischen Alterthums vielleicht gerade das eigentlich Bildende fr so viele Generationen der Menschen liege, so wre es doch absurd zu glauben, dass jede der vielen mçglichen Betrachtungsweisen mit gleichem Rechte behaupten drfe, sich dem innersten Sinne der Griechen wirklich genhert zu haben. Vielmehr, darf nur derjenige sicher sein, von jenem antiken Geiste, durch den die alternde Menschheit immer wieder eine Belebung ihrer gesunkenen Fhigkeiten erwartet, einen Hauch versprt zu haben, welcher in der eignen Auffassung aller tiefsten Weltrthsel Motive zu finden vermag, aus denen ihm vor Allem die Entstehung der wunderbarsten, den Griechen allein eigenthmlichen Kunstart wirklich begreiflich und fr sein Verstndniss ehrlich gerechtfertigt wird. Hier sind offenbar diejenigen gnzlich abzuweisen, die wie der Dr. phil. mit dem gesinnungstchtigen Hochgefhl des fortschrittlichen Biedermannes der „Jetztzeit“ auf diese guten alten Griechen hinsehen. Gerade sie, die sich fr vçllig neutrale Spiegel des wahren Alterthums halten mçchten, sehen wahrlich die rohe Empfindungsarmuth, die schaale Leere ihres eignen Innern, die banausische Beschrnktheit ihrer Gesinnungen erst in das Alterthum hinein; und der sittig muntre Schker, als welchen sie uns die Griechen der besten Zeit darzustellen lieben, hat in Wirklichkeit mit dem Urbild eines
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Zeitgenossen des Aeschylus nicht mehr Aehnlichkeit als der Affe mit Herakles, ja, weniger noch, etwa so viel Aehnlichkeit als der Dr. phil. von Wilamowitz mit dem Typus des „sokratischen Menschen“, den unser Freund als den „erlauchtesten Gegner“ einer knstlerischen Cultur bezeichnet, und mit welchem, spasshafter Weise, der Dr. phil. sich und seines Gleichen bezeichnet meint. In Wirklichkeit hat die Art eines solchen trocknen Gesellen, der wohl gar noch seine gedankenlose Unwissenheit als eine besondre Gunst des Himmels preisen mçchte, mit einer wahren, seelenvollen Alterthumskunde so wenig zu thun, dass man sie, zu Ehren unsrer Wissenschaft, berhaupt gar nicht als Philologie, der Gegenwart oder der Zukunft, sondern nur als eine Parodie auf alle chte Philologie, ein hssliches Zerrbild einsichtiger Kritik, eine wahre Afterphilologie zu bezeichnen hat. Einem solchen „Heitern“ mag denn freilich alles „selbstverstndlich“ sein, gleichermaassen das Wesen und Weben dieser unergrndlich geheimnissvollen Welt, wie die Entstehung der hochgepriesenen tragischen Kunst, die, in einem Schwesterbunde aller hçchsten musischen und mechanischen Knste, in leibhaft bewegten Bildern des tiefsten Jammers, Leidens und Unterganges des Edelsten, fr diese Welt viel zu Grossen und Reinen, dem unwiderstehlich ergriffenen Hçrer eine unverstndlich gewaltige Lust der Schmerzen erweckt. Schon den Alten aber schien das Wesen dieser wunderbaren tragischen Lust hçchst dunkel und geheimnissvoll (wie namentlich der Platonische Philebus zeigt), und wer, einmal selbst von ihr ergriffen, sich vergebens nach der verborgenen Art dieser despotisch in ihre Kreise zwingenden widerspruchsvollen Kunst gefragt hat, der wird wohl wahrlich den verlachen, der, nach einer Aufzhlung der drren Notizen, die uns ein karges Schicksal gegçnnt hat, die Entstehung dieser tragischen Kunst unter dem ja bekanntlich so harmlos heiter und vergnglich dahin vegetirenden Griechenvolke fr erklrt hlt. Einen wirklichen Aufschluss wird er nur von demjenigen erwarten, dem es gelnge, in die ursprnglichen, tieferregenden Bewegungen, aus denen zu einer ganz bestimmten Zeit zum ersten Male diese unerklrliche Kunst der Schmerzensfreude in Griechenland, zum Heil der Welt, erstand, mit sympathischer Empfindung einzudringen. Whrend man nun ehrlicher Weise gestehen muss, dass dazu die bisherige Philologie gar keinen ernstlichen Versuch gemacht hat, gewinnt eben hierfr unser Freund die Mçglichkeit aus jenen tiefen Einsichten Schopenhauers in das innerste Wesen der Musik. Niemand kann leugnen, dass Alles, was wir ber die geschichtlichen Anfnge der Tragçdie wissen, gebieterisch dazu auffordert, sich den innerlichen Zusammenhang des Dramas mit dieser seiner Mutter, der Musik, klar zu machen; nur der Unverstand aber wird fordern, dass man bei einem Versuch, diese Entstehung der Tragçdie aus der Musik durch die Schopenhauer’sche Theorie vom Wesen der musikalischen Kunst begreiflich zu machen, „Zeugnisse“ beibringe, dass auch den Griechen die Bedeutung und innere Art der Musik in derselben Weise klar geworden sei, wie sie von Schopenhauer’s genialem Tiefblick erkannt wurden. Ist denn die Musik
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selbst durch Schopenhauer’s Erkenntniss eine andre geworden? Ist nicht ihr ewiges, unvernderliches Wesen ber allem Wechsel ihrer historischen Entwickelung erhaben? Wenn uns also die Griechen nur berichten, ihre Tragçdie sei aus der Musik, aus lyrischen Ergssen des Dionysusdienstes hervorgegangen, und alle Zeit mit der Musik im engsten Bunde geblieben: so kçnnten sie daran sogar jene tiefsinnig weisen Betrachtungen ber das Wesen dieser Musik knpfen, die man uns heutzutage als Aufschlsse ber das „musikalisch Schçne“ darbietet, und uns bliebe trotzdem das Recht, jene musikalisch-schçnen Theoreme abzuweisen und mit Hlfe der Schopenhauer’schen Einsichten ein tieferes Verstndniss der Musik und im Besonderen ihrer Fhigkeit zur Erzeugung der Tragçdie uns zu erringen. Hier hilft also jenes, zur Abwehr einer unbequemen Wahrheit so trefflich geeignete, scheinbar so sehr „wissenschaftliche“ Rufen nach Zeugnissen gar nichts: gegen die Schopenhauer’schen Erkenntnisse selbst msste sich der Angriff richten. Die aber werden wohl so leicht nicht umzustossen sein, seitdem Sie selber, verehrter Meister, ihrer bleibenden Wahrheit das allergltigste Zeugniss ausgestellt haben. Schade ist es, dass hierbei der Herr Dr. von Wilamowitz nicht befragt worden ist; aber trotz seiner Verwunderung, sich also bergangen zu sehen, wird es fr Einsichtige doch dabei bleiben mssen, dass bei der Frage nach dem Wesen der geheimnissvollsten Kunst neben dem philosophischen Genius allein dem grossartig schçpferischen, seiner Kunst mit tiefstem Liebesverstndniss zugewandten Knstler eine entscheidende Stimme gebhrt, und dass eine Einstimmigkeit dieser Beiden allerdings die also gefundene Einsicht zu einer „ewigen Wahrheit“ macht, die nicht einmal von einer ganzen Verschwçrung musikalischer Schçnheitskrmer, geschweige von irgend einem beliebigen dissentirenden Pasquillanten beseitigt werden kann. So ist denn auch fr den eigentlichen Entstehungsprocess des dramatischen Kunstwerkes unendlich aufklrender als alle kahlen Betrachtungen draussenstehender Moralsthetiker die einzige, von unserm Freunde hervorgehobne kurze Andeutung Schiller’s von der musikalischen Stimmung, die bei ihm der poetischen Idee vorauszugehen pflege67. Nur demjenigen werden die stummen Zeugnisse von den Incunabeln der tragischen Kunst zu beredten Zeugen werden, der vor Allem jenen seltnen Offenbarungen philosophischer Genien und grosser Knstler ber das ewige Wesen der Kunst nachgesonnen hat. Wenn ich nun, dem ganz frivolen Angriff des Dr. phil. gegenber, nachweisen will, dass unser Freund keineswegs, von seinen philosophischen Vor67 Ich erinnere mich, irgendwo ein ganz hnliches Selbstbekenntniss des Dramatikers Otto Ludwig gelesen zu haben. Und der edle Vittorio Alfieri schreibt (Vita cap. 5): Quasi tutte le mie tragedie sono state ideate da me o nell’ atto del sentir musica o poche ore dopo. Eine verwandte Aeusserung des grossen Tragikers H. v. Kleist steht bei Blow, K’s. Leben u. Briefe S. 64.
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aussetzungen fortgerissen, die historische Grundlage seiner Untersuchungen vernachlssigt habe, so geschieht dies im Wesentlichen darum, weil ich den Philologen wenigstens diesen Einen Grund oder Vorwand, sich der Wirkung des Buches zu entziehen, nehmen mçchte. Ich durfte mich zu einer solchen Abwehr fr berechtigt, ja fr verpflichtet halten, nicht nur durch mein philologisches Bewusstsein von der festen Begrndung der Nietzsche’schen Ansichten, sondern ganz besonders noch durch den kmmerlichen Spott, mit dem der Pasquillant gelegentlich auf die in dem Buche wiederholt angeredeten Freunde des Autors hinzublicken sich erlaubt hat. Ich bin stolz und glcklich, mich zu diesen Freunden zhlen zu drfen, und denke meinerseits einem solchen Freunde Treue zu halten trotz aller scheelschtigen Verlumder. In Wahrheit mssen durch einen solchen Angriff auch die Freunde des Autors sich mitbeleidigt fhlen, falls man nicht unter Freundschaft jene lauwarmen, klug temperirten Empfindungen versteht, die sich so oft wohl gar fr die „wahre“ Freundschaft ausgeben mçchten. Und so wird es auch fr Ihr Gefhl keiner weitluftigen Rechtfertigung bedrfen, wenn ich diese philologische Vertheidigung unsres Freundes zunchst an Sie, verehrter Meister, richte. Denn wenn derselbe, im richtigen Bewusstsein, nicht fr Alle und Jeden des unterschiedslos gemischten Publicums gleich verstndlich zu sein, diese Gedanken seiner tiefsten Seele, ber die Kçpfe lauernder Kritiker hinweg, einem Freundeskreise zu mitverstehendem Genusse vorlegte, so gehçren sie doch vor allen Andern Ihnen in jedem Sinne an. Mssen also auch Sie in einer bçswilligen Verkennung des Freundes sich mitverletzt fhlen, so darf sich sicher eine Vertheidigung, die eben nur die Seite schtzen kann auf die der Angriff stattgefunden hat, Ihrer freundlichen Theilnahme empfehlen. Ein wenig darf ich auch wohl immerhin auf die Reste philologischen Interesses zhlen, die Ihnen Ihre Leipziger Schulmeister brig gelassen und im spteren Leben eine in dieser Zeiten Barbarei immer neu erwachende Sehnsucht krftiger genhrt hat: und so getroste ich mich denn gnstigen Bescheides, wenn ich Sie auffordere, einmal mit mir einen Ritt in’s alte, etwas staubig trockne Land der philologischen Erudition zu thun. Sie werden danach desto lieber zu den reicher blhenden Gedanken im Buche unsres Freundes zurckkehren. Wenn wir uns nun anschicken, das von dem Pasquillanten Vorgebrachte im Einzelnen zu prfen, so sind Sie doch gewiss mit mir darin einverstanden, dass wir die Buffonerien und platten Armseligkeiten kurzweg bei Seite schieben, die er an vielen Stellen, wie wichtige Entdeckungen, mit prtentiçser Feierlichkeit ore rotundo vortrgt: z. B. ber das Wesen der „historisch-kritischen Methode“, ber Winckelmann’s Kunstbetrachtung und eine „Schçnheit meinthalb ohne Ethos“68, ber den „meinthalb dionysischen Urquell“, ber das Wesen der 68 Die „Schçnheit ohne Ethos“ gehçrt dem Aristoteles an; nur das herrliche „meinthalb“ hat der kritische Doctor aus eignem Vorrath gespendet.
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griechischen Gçtter, die „harmlosen und ahnungslosen“ Heiterkeitsgriechen, zu denen auch der immer fidele Sophokles, der Dichter der so vergnglich heitern Antigone und des Kçnig Oedipus gezhlt wird u.s.w. Alle diese weisen Betrachtungen, freigiebig gespendete hors d’oeuvre, wollen wir unberhrt denjenigen berlassen, die etwa Lust htten, sich ein wohlversehenes Trivialittencabinet anzulegen. Auch an dem, was der Pasquillant ber das Wesen des Traumes vorbringt, wollen wir uns nicht vergreifen. Er leugnet die Verwandtschaft des Traumes mit der geistigen Thtigkeit des epischen und plastischen Knstlers, und wir wollen mit ihm darber nicht rechten: was soll auch dem Blinden der Spiegel, fragt Epicharm. Die Alten aber mssen doch nicht ganz der Meinung des Herrn Dr. gewesen sein: wie wren sie sonst darauf verfallen, Hesiod, Callimachus69, Ennius im Traume zu Dichtern werden zu lassen? Was mag nur der dumme Parrhasius gedacht haben, als er in einem noch erhaltenen Epigramm aussprach, dass er die Gestalt des Herakles so gemalt habe, wie sie ihm oft im Traume erschienen sei? Gewiss hielt er, mit Euripides und seinem Dr., die Traumbilder fr „nachtugige Vergessenheit“70. Gewiss war dies auch die Meinung der Glubigen, die in Troezen auf Einem Altar den Musen und dem Schlafe opferten, „weil der Schlaf den Musen am meisten Freund sei“71. Wenden wir uns aber zu den rein historischen Bemerkungen des Dr. phil., so tritt uns gleich am Anfang die unehrliche Unwissenheit entgegen, deren er sich mit Vorliebe als Kampfmittels bedient. Unser Freund hatte, um den frohen Glanz der homerischen Welt als einen nicht ber Nacht vom Himmel gefallenen sondern als einen schwer errungenen Sieg ber ganz anders geartete, schrecklich finstere Vorstellungen alter Vorzeiten zu erweisen, unter anderm auch auf die Sagen von den, vor dem Regiment des Zeus liegenden furchtbaren Titanenkmpfen hingewiesen. Der Pasquillant erwidert: „Es darf als ausgemacht gelten, dass die Titanomachie, nun gar die hesiodischen Dynastien und Genealogien dem hellenischen Bewusstsein theils ferner liegen, theils erweislich jnger sind, als der olympische Gçtterkreis Homers: geschweige, dass es je eine Zeit gegeben htte, wo ein Hellene, unbekannt mit Zeus Athena Apollon, einem Uranos oder Kronos oder gar Erikapaios und Phanes geopfert htte“. Scheiden wir die, mit bewusster Unredlichkeit eingeschmuggelten, dieser Frage ganz fremden hesiodischen Dynastien und die orphischen Monstra Ericapaeus und Phanes aus, so bleibt die artige Behauptung brig, dass die Titanomachie „erweislich jnger“ sei „als der olympische Gçtterkreis Homers“. Es giebt nichts 69 Vgl. Dilthey, Callim. Cyd. 15. 70 Diese „Vergessenheit“ ka¢oa}ma setzt der historisch-philologische Musterkritiker nicht ganz ohne Tendenz in der von ihm citirten Stelle des Euripides (Iphig. Taur. 1279) wieder in ihre alten Rechte ein, da die ganz offenbar richtige, nur von Einem der neueren Herausgeber nicht aufgenommene Lesart lamtoa}mam muwtyp|m „nachtugige Wahrsagekunst“ ihm ein viel zu schmeichelhaftes Beiwort dnkte. 71 Pausanias II 31, 3; sinnreich ausgelegt von Welcker, Griech. Gçtterlehre III 102.
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Unwahreres als diese Behauptung; indess der Dr. phil. weiss sich selbst noch zu berbieten, in der zum Beweis dieser Behauptung angefgten Anmerkung. Dort heisst es: Aristarch und Lachmann „haben wohl erkannt, dass die Stcke, wo eine hnliche Auffassung der himmlischen Dinge hervortritt, z. B. das fnfte und dreizehnte Lied, zumal die Theomachie dem wahrhaft Homerischen fremd, meist jnger gegenberstehen“. Auch hier jene plumpe Verwirrung der Fragen. Das 13. Buch der Ilias hat sowenig wie das 20. (die Theomachie) mit der Frage nach dem Alter des Titanenmythus das Geringste zu thun, denn in beiden findet sich nicht die leiseste Hindeutung auf den Titanenkampf. Dieser wird dagegen auf das Unzweideutigste, erwhnt im 5., 8., 14., 15. Buche. Aber Aristarch soll ja „erkannt“ haben, dass (von Buch 8, 14, 15 abgesehen) wenigstens das fnfte Buch „dem wahrhaft Homerischen fremd gegenbersteht“. Die fraudulente Unbestimmtheit dieser Ausdrcke soll offenbar die unsgliche Dreistigkeit einer solchen, vollstndig aus der Luft gegriffenen Behauptung verhllen; aber selbst wenn wir dieses „fremd“ im laxesten Sinne auffassen, so suchen wir doch in den Homerscholien und sonstigen Resten alexandrinischer Erudition vergeblich auch nur nach der entferntesten Andeutung dafr, dass der grosse und besonnene Kritiker jemals eine solche leichtfertige und zudem so einfltige Ansicht geussert habe. Was halten Sie aber von einer Polemik, die von solchen saubern Erdichtungen leben muss? Was dieser Pasquillant im Uebrigen fr „ausgemacht“ halten mag, darf uns gar nicht kmmern; ber das vorhomerische Alter des Titanenmythus aber lassen die Untersuchungen wirklich competenter Richter, so genauer und tiefer Kenner der griechischen Mythologie wie Schçmann, Preller und Welcker einem Vernnftigen nicht den leisesten Zweifel. Es wird uns nun nicht weiter verwundern, dass der Pasquillant, mit offenbarer Flschung, unsern Freund die Sage vom Geschlechtsfluch der Atriden fr vorhomerisch ausgeben lsst: warum sollte es ihm besser ergehen, als dem Aristarch? Auch das ist ja so natrlich, dass der Ausdruck „die schwermthigen Etrusker“ die Unwissenheit des Pasquillanten zu dem verwunderten Ausrufe hinreisst: „die schwermthigen Etrusker! nun, man lese Athenaeus XII 517“. Dort wird ein Bericht des Theopomp mitgetheilt, der den Etruskern die ausgelassenste Schwelgerei in allen erdenklichen Lsten nachsagt. Wir wollen es der Schlerweisheit des Dr. phil. nachsehen, dass er nicht wusste, wie dieser Bericht von Niebuhr, Dennis und Anderen gerade darum fr einen verlumderischen erklrt worden ist, weil sein Inhalt allem, was wir im Uebrigen von den Sitten der Etrusker wissen, vçllig widerspricht. Man kçnnte, mit gleichem Rechte und gleich profunder Ignoranz, demjenigen, der etwa von der erhabenen Seele des Demosthenes redete, erwidern: „die erhabene Seele des Demosthenes! nun, man lese Athenaeus XIII 592 F“. Es gab eben im Alterthum wie heutzutage genug niedrig Gesinnte, denen solche Verlumdungen fortzupflanzen besondres Behagen gewhrte. Wer aber, wie dieser Dr. phil., bei solcher Unreife der Bildung,
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auf Lobeck’s, trotz aller Einseitigkeit seines sprçden Rationalismus auf immer bewundernswerthen Aglaophamus sich wiederholt zu berufen die Verwegenheit hat, der sollte sich doch auch gesagt sein lassen, was dort auf S. 1025 ber den unglaublichen Leichtsinn bemerkt ist, mit dem schwatzhafte Graeculi den Verdacht eines schwelgerisch unsittlichen Lebens ungerechtfertigter Weise auszusprechen pflegten. „Schwermthig“ brigens darf man ja wohl ein Volk nennen, das in seiner Religion auf den traurigen und bedrohlichen Seiten des Daseins mit beharrlicher Vorliebe verweilte, und auch von den Griechen (worauf unser Freund anspielt) gerade nur die finstersten Bilder einer nchtigen Todesphantasie entlehnt hat. Was der Pasquillant ber die Dichtungsweise des Archilochus bemerkt, ist berhaupt nur zu verstehen, wenn man es als das Elaborat eines von seinen Hlfsbchern verlassenen, der unmittelbaren Quellen ganz unkundigen Anfngers betrachtet. Zunchst stçsst er sich daran, dass unser Freund behauptet hat, durch Archilochus sei das Volkslied in die Litteratur eingefhrt worden. Natrlich steht nun das nicht mit drren Worten in den antiken Berichten zu lesen: jeder Andre als der Herr Dr. phil. wrde aber sich wohl selbst gesagt haben, dass dieser Satz auf Leser berechnet sei, die genug sale in zucca haben, um ihn cum grano salis zu verstehen, also gewiss nicht auf einen Ignoranten. der sich zudem noch besonders geistreich vorkommt, wenn er sich die „so zu sagen autorlose Poesie“ der Volkslieder, ohne Thtigkeit eines menschlichen Individuums, wie den Salat aus der Erde hervorgewachsen denkt. Dass nun, gegenber der feierlichen Sacraldichtung des Terpander und seiner Nachfolger, durch Archilochus zuerst die, ganz zutreffend mit unserm Liede zu vergleichende Dichtung des Volkes kunstmssige Entwicklung gefunden habe, ist denn doch eine Thatsache, die namentlich nach Welcker’s Forschungen einem halbwegs gebildeten Philologen nicht so ganz fremd sein sollte, und die der Pasquillant wohl etwas weniger unbegreiflich gefunden haben wrde, wenn ihm Rudolf Westphals Geschichte der alten und mittelalterlichen Musik bekannt gewesen wre, in der auf S. 116 gerade diese Einfhrung des Volksliedes in die Kunstdichtung, mit richtiger Einsicht, dem Archilochus zugeschrieben wird. Ebenderselbe treffliche Kenner alter Musenkunst erlaubt sich auch darin von dem gelehrten Dr. phil. abzuweichen, dass er eine strophische Gliederung der Archilocheischen Gedichte annimmt (S. 130), und natrlich wurde er dazu bewogen durch die ganz entschiedene Ueberlieferung von einer musikalischen Vortragsweise dieser Gedichte. Von dieser weiss nun freilich der Pasquillant gar nichts; aber soll denn unser Freund dafr aufkommen, dass irgend ein anmaassender Ignorant die Plutarchische Schrift ber die Musik nicht gelesen hat? In dieser wichtigsten Urkunde fr die Geschichte der griechischen Musik nimmt Archilochus einen bedeutenden Platz ein, da er doch darin gar nichts zu suchen hatte, wenn er nicht vor Allem in der Entwicklung der Musik eine wichtige Thtigkeit entfaltet hatte. Aus dem 28. Capitel jener Schrift konnte der Dr. phil. unter anderm lernen, dass Archilochus zuerst eine Instrumentalbegleitung
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anwendete, die von den Tçnen des Gesanges abwich; und vielleicht wird sogar dieser Dr. einsehen, dass eine solche Notiz sinnlos ist, wenn die Gedichte selbst nicht zum musikalischen Vortrag bestimmt waren. Im 10. Capitel derselben Schrift erzhlt Plutarch, dass Thaletas, der Begrnder der zweiten musikalischen Schule (Katastasis) zu Sparta die Compositionen72 des Archilochus nachgeahmt habe: womit sich die ber alle Maassen einfltige und verkehrte Behauptung des Dr. phil.: „erst mit der zweiten musikalischen Katastasis kommt Instrumentalmusik auf“, doch vielleicht nicht vçllig reimen will. Diese Eine Behauptung lsst in einen ganzen Abgrund des Unverstandes und falschen Wissens blicken. Oder wollte uns der Pasquillant etwa eines Bessern belehren, gegenber unsern vortrefflichen Quellen, die uns melden, dass nicht nur Archilochus, sondern schon Terpander und Klonas – von noch Frheren zu schweigen – ihre Gesnge mit Instrumentalbegleitung vorgetragen haben? Er leugnet aber speciell die musikalische Vortragsweise der Jamben des Archilochus. Wie nun die Behauptung des Dr. phil. unwahr ist, dass neben den Gedichten in iambischem Maasse die anders gestalteten Metra in den Resten der Archilocheischen Poesie „vçllig zurcktreten“, so ist auch die allerdings weit verbreitete, und aus den gangbarsten Handbchern denn auch dem Pasquillanten zugekommene Meinung, dass die Jamben nicht musikalisch vorgetragen worden seien, durchaus unbegrndet. Denn dass allerdings, nach Aristoteles, „von allen Metren das iambische am meisten der gesprochenen Rede verwandt ist“, beweist eben so wenig als unser Gefhl von dem, fr musikalischen Vortrag nicht immer geeigneten Inhalt der iambischen Ueberreste des Archilochus; haben uns doch scharfsinnige Untersuchungen erst neulich belehrt, dass noch in den Komçdien des Plautus ganz nchtern hausbackene Scenen in trochaeischen Septenaren als cantica, also zum Mindesten melodramatisch vorgetragen wurden. Nun nennt aber Pindar jenes auch von dem Pasquillanten angezogene, in Jamben geschriebene „olympische Siegesliedchen“ des Archilochus ein „tçnendes Lied“, wonach denn doch wohl dessen musikalischer Vortrag „nicht in Frage gestellt“ sein drfte. Und was wir von der s. g. Parakataloge als einer besondern Vortragsart der Jamben erfahren, die Archilochus erfunden haben soll, dessen konnte sich freilich der Pasquillant nicht „erinnern“, da er es gewiss nie gewusst hat; genau betrachtet, spricht aber auch diese Ueberlieferung fr einen wesentlich musikalischen Vortrag der Jamben. Plutarch (ber die Musik c. 28) berichtet, dass Archilochus zuerst gelehrt habe, von iambischen Compositionen einiges zur Begleitung sprechend vorzutragen, andres zu singen, worin ihm die Tragiker und Krexos, der Dithyrambendichter, gefolgt seien. Dass hiermit eben die Parakataloge beschrieben wird, geht aus der scharfsinnigen Combination von West72 t± l]kg, ein schwer zu bersetzender Terminus, dessen genaue, namentlich in jener Plutarchischen Schrift festgehaltene Bedeutung: Gesnge mit vollstndiger Tonsetzung, Ritschl, Opusc. I 247 ff. festgestellt hat.
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phal (Gesch. d. alt. Mus. 117) mit Sicherheit hervor. Hier ist nun aber ganz klrlich nicht etwa von einem recitativartigen Vortrag die Rede (wie G. Hermann meinte), noch weniger von einem in wunderlicher Weise unrhythmischen Vortrage des Sprechenden (woran Burette dachte), sondern offenbar von einem Wechsel zwischen eigentlichem Gesang und melodramatischem Vortrage (s. Westphal, Gesch. d. Mus. 132 f. Griech. Metrik I 18): ein Wechsel, der nach Aristoteles (Probl. 19, 6) in derTragçdie nur beim hçchsten Uebermaass schmerzlicher Leidenschaft angewendet wurde, und dann ganz ungemein „tragisch“ wirkte, eben durch jene Ungleichmssigkeit des Vortrags. Sicher war dies ein in der Tragçdie und auch bei Archilochus nur sehr selten verwendetes Mittel, dessen erschtternde Wirkung wir uns etwa durch jenen analogen Effect eines plçtzlichen Herausstrzens des Vortrages aus dem Gesang in die Wortsprache vergegenwrtigen mçgen, den Sie selbst, verehrter Meister, nach einer merkwrdigen Erfahrung, in Ihrer Schrift ber die Bestimmung der Oper uns geschildert haben. Das aber muss Jeder einsehen, dass ein solcher Wechsel und seine wunderbare Wirkung nur denkbar ist, wenn der gewçhnliche Vortrag jener iambischen Gedichte ein vollkommen musikalischer, d. h. ein Gesang zur Instrumentalbegleitung war. – Diesen Zeugnissen gegenber giebt es nun kein einziges fr einen nicht musikalischen Vortrag der Jamben. Nach solchen Proben gedankenlosester Unwissenheit des Dr. phil. kann es sich gewiss nur lcherlich ausnehmen, wenn er unsern Freund auffordert, Plato’s Republik B. III S. 398 D zu lesen, um in dieser schon so vielfach und bis zum Ueberdruss gebrauchten, meist missbrauchten Stelle etwas zu finden, was dort gar nicht steht. Es ist wahr, Plato sagt, in einer Composition msse Rhythmus und Harmonie dem zu componirenden Wortinhalte folgen, ihm gefgig sein. Dasselbe spricht er alsbald auf S. 400 A und D noch einmal aus: wer aber daraus einen stilo rappresentativo der griechischen Musik herausliest, der muss eben kein Griechisch verstehen. Richtig verstanden sagt jene Forderung Plato’s nichts aus, als was auch der reichste Componist poetischer Texte billig unterschreiben sollte, nmlich dass die Musik dem Texte einen seinem Inhalte entsprechenden musikalischen Ausdruck zu geben, nicht aber, ohne den Text zu bercksichtigen, auf eigne Hand in rein sinnlich musikalischen Effecten zu schwelgen habe. Was das besagen will, kçnnen wir heutzutage, an Beispielen beider Arten belehrt, wahrlich sehr wohl verstehen. Auch Plato brigens spricht diese Forderung offenbar nur aus, weil sie auch zu seiner Zeit, wo die einzelnen Knste bereits sich egoistisch zu sondern begannen, nicht mehr berall befolgt wurde. – Was freilich von dem Dr. phil. in der Erklrung des Plato zu erwarten sei, zeigt gleich die Fortsetzung der Aufforderung zur Lesung jener abgenutzten Stelle der Republik. Er meint, die Trauer- und Klagelieder nehme Plato von dem Gesetz einer Unterordnung der Musik unter das Wort aus. Was sagt aber Plato ? Harmonie und Rhythmus mssen sich der Rede fgen. Klagen und Jammer aber haben wir vorhin aus den Reden (der Wchter) als unntz
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ausgeschlossen. Folglich mssen auch die fr Trauer und Klage ziemenden Harmonien ausgeschlossen sein. Ist es nun glaublich, dass ein Mensch so einsichtslos sein kçnne, nicht zu bemerken, dass diese drei Stze die drei Glieder einer logischen Schlussfolgerung bilden, und dass gerade darum klagende Harmonien verboten werden, weil in den Reden, die nothwendiger Weise ber jene klagenden Harmonien herrschen mssten73, Klagen und Jammern verboten ist? Und gerade nur solche Klagelieder soll Plato von jener Herrschaft der Rede ber die Musik ausgenommen haben? Das ist vermuthlich auch eine Probe der herrlichen Geistesklarheit dieses „Gesunden“, der sich fr einen Sokratiker zu halten geneigt ist. Zum Schluss dieser Partie meint der Pasquillant nun gar, Nietzsche’s Erklrung des Ursprunges lyrischer Dichtung durch eine blosse Erwhnung des Wortes: Elegie! umstossen zu kçnnen, welches Wort er wie ein Medusenhaupt74 unserm armen Freunde entgegenhlt. Es will aber keine rechte Wirkung thun, weil es wieder einmal eitel Blendwerk ist. Htte unser Freund ein Hlfsbchlein zur Belehrung wissenschaftlich Unmndiger schreiben wollen, so wrde er gewiss auch den Dr. phil. ber das Wesen der Elegie aufzuklren gesucht haben. Er wrde dann zwar sicher nicht, wie dieser, mit der Unwahrheit begonnen haben, dass die Elegie die lteste hellenische Lyrik sei, dagegen htte er, zu der Unkenntniss selbst der ersten Elemente sich herablassend, dem Dr. wohl die Belehrung gegçnnt, dass keine lyrische Gattung sicherer aus der Musik entsprungen ist, als gerade die Elegie; als welche aus dem asiatischen, stets von Flçtenspiel begleiteten Klagelied, genannt Elegos, hervorgegangen ist. Wenn nun auch spter, bei dem so mannichfaltigen Gebrauch elegischer Verse, gewiss mancher Elegiker an Composition seiner Gedichte so wenig dachte, als bei uns mancher Dichter von Liedern, so hat doch der Pasquillant wiederum die Meinung seiner Hlfsbcher gar zu eifrig fortgepflanzt, wenn er so kurzweg behauptet: die Elegie ward nicht gesungen. Fr diese allerdings weit verbreitete Meinung muss vorzglich eine Stelle des Athenus zeugen, in der zu lesen steht, dass Xenophanes, Solon, Theognis, Phocylides, Periander ihre Gedichte nicht in Musik gesetzt haben (XIV 632 D). Was nun allerdings eine unbillige Forderung an den Dr. phil. wre, der, wie wir eben gesehen, sogar mit dem Verstndniss der Sprache und der einfachsten logischen Zusam73 Denn reine Instrumentalmusik verwirft Platon, so gut wie eine Poesie ohne Mithlfe der andern Musenknste. (Gesetze II S. 669 D. E.) 74 Bei dieser Gelegenheit wollen wir dem Dr. phil. doch das Geheimniss anvertrauen, dass an der Aegis sich das Medusenhaupt befindet, und dass also Apollo, wenn er – wie in der Statue des Belvedere, auf die unser Freund S. 8 natrlich anspielt – sich einmal der Aegis zur Abwehr seiner Feinde bedient, allerdings diesen das Medusenhaupt, als welches allein die versteinernde Wirkung hat, entgegenhlt, wenn er es auch nicht gerade „schwingt“, wie der Pasquillant (S. 9 und 18), sogar mit Anfhrungszeichen, unsern Freund mit beliebter Flschung seiner Worte sagen lsst.
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menhnge noch in bedenklichen Conflicten liegt, das darf doch von jedem in der litterarhistorischen Quellenkritik einigermaassen Gebten erwartet werden, dass er nmlich leicht erkenne, dass jene Stelle des Athenus einem Excerpte aus der Schrift irgend eines spten und unzuverlssigen, durch die Praxis der alexandrinischen Elegiker zu seiner ungenauen Behauptung verfhrten Metrikers angehçrt. Von den vier bei dem Dr. phil. genannten, angeblich nicht musikalischen Elegikern: Mimnermus, Tyrtaeus, Phocylides und Theognis kçnnte man hçchstens den Letzten als einen solchen wirklich gelten lassen. Dass die Gedichte des Mimnermus und Phocylides componirt waren, bezeugt ausdrcklich der trefflich unterrichtete Peripatetiker Chamleon bei Athenus XIV 620 C, von Mimnermus besttigt dieses auch Plutarch (ber d. Mus. 8); von den Elegien des Tyrtus wird berall so geredet, als ob sie fr musikalischen Vortrag bestimmt gewesen wren; zudem heisst er „Flçtenblser“ bei Suidas, eben so wie Mimnermus bei Strabo. Und trotzdem war er, wie uns der Dr. phil. belehrt, „kein Musiker“! Das sind also die gelehrten Grundlagen, auf denen der Pasquillant seine kecken Behauptungen erbaut. Schliesslich aber kommt es hier nur darauf an, dass an der Entstehung der Elegie aus der Musik kein Kundiger je gezweifelt hat ; und wenn unser Freund diese Besttigung seiner Ansicht nicht benutzt hat, so wird das wohl besondre Grnde haben, die ich dem unvergleichlichen Scharfsinn des Dr. phil. zu errathen berlasse. Wie nun die durch Apollo und Dionysus mythisch verkçrperten Kunsttriebe sich, nach anfnglichem Kampfe, allmhlich versçhnten und verbndeten, das hat unser Freund nur kurz berhrt, um sofort zu ihrem vollen Bndniss in der Tragçdie zu eilen. Hier war natrlich fr den Dr. phil. eine herrliche Gelegenheit, diese scheinbare Lcke mit den Lumpen und Lappen seiner Bettelcitate zu verstopfen: und so giebt er denn auch richtig auf S. 20 und 21 eine ganze Fluth unverdauter Notizenbrocken von sich, bei deren Anblick man nur, neben dem Ekel ber diese wste Studentenweisheit, sich erstaunt fragt, wozu diese ganze Bescheerung dienen soll. Damit man den Gegensatz apollinischer und dionysischer Musik „nicht zu stark betone“, belehrt uns der Dr. phil., mit der ihm eigenthmlichen Prcision des Ausdruckes. Die meisten Stcke seines Notizenkrams beweisen nun leider gar nichts: denn dass, auch vor dem Eindringen dionysischer Religion in das eigentliche Griechenland, der Aulos dort bekannt, auch der apollinischen Religion und namentlich dem Pan keineswegs fremd, dass berhaupt eine gewisse, nur von der dionysischen sicherlich stark verschiedene Art dieser „Blasemusik“ altgriechisch sei, konnte doch selbst der Dr. phil. wissen. Wiederum aus jener ntzlichen Schrift des Plutarch ber die Musik – aus der er hier selbst eine Stelle citirt – konnte er erfahren, dass Manchen Apoll sogar als „Erfinder“ nicht nur der Saiteninstrumente, sondern auch der Flçtenmusik galt (Cap. 14). Was aber aus jenem Haufen trivialer Citate wirklich hierher gehçrt, beweist eben nichts weiter, als was ja auch unser
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Freund behauptet, dass nmlich im Laufe der Zeit apollinische und dionysische Kunst sich aussçhnte. Der Pasquillant hat irgendwoher auch ein Citat aus Welcker’s Alten Denkmlern abgeschrieben: wre ihm dieses Werk wirklich bekannt, so htte er fr diese Vereinigung des Apoll und Dionysus noch viel schçnere Citate zusammenschreiben kçnnen. Im ersten Bande der Denkmler handelt Welcker (S. 151 ff.) von den beiden Giebelfeldern des delphischen Tempels, in welchen Apollo mit den Musen und Dionysus mit drei Bakchen einander gegenber standen, und fhrt bei dieser Gelegenheit zahlreiche Beweise einer innigen Verknpfung dionysischer und apollinischer Religion an. Gerade das delphische Apolloheiligthum begnstigte, einmal dafr gewonnen, den Dienst des Dionysus so sehr, dass auf seine Empfehlung derselbe in Attika und anderswo eingefhrt wurde. Zu den ganz ungemein zahlreichen schriftlich und bildlich75 berlieferten Anzeichen fr dieses immer enger sich gestaltende, so folgenreiche Bndniss der beiden Kunstgottheiten gehçrt denn auch die Verbindung, in der wir Dionysus zuweilen mit den Musen treffen. Von diesen hatten dem Dr. phil. seine Hlfsbcher nichts gemeldet, und so ruft denn dieser tief gelehrte Archolog mit sittlicher Entrstung: „Herr Nietzsche kennt die Musen in der Begleitung des Dionysus!“ Nach meiner bescheidenen Ansicht ist es „Herrn Nietzsche“ wohl allenfalls zu verzeihen, dass er mancherlei kennt, was zu dem Pasquillanten noch nicht gedrungen ist; aber es ist freilich nicht schçn von ihm, dass er auf den Standpunkt eines schlecht vorbereiteten Secundaners so gar keine Rcksicht nahm, sondern die tiefe Gelehrsamkeit eines Primaners voraussetzte, der in der Lectre der Antigone des „ewig heitern“ Sophokles bis zum vierten Stasimon vorgedrungen ist, und dort (v. 695) allerdings die Musen „in der Begleitung des Dionysus“ erwhnt gefunden hat. Und zwar werden sie dort gerade in jenem Mythus von der Verfolgung des Dionys durch Lycurg76 erwhnt, auf den unser Freund (S. 5) in der fr die Ignoranz des Dr. phil. so anstçssigen Stelle angespielt hatte. Somit wusste denn auch der geniale Genelli sehr wohl, was er that, als er den Dionys inmitten der Musen darstellte auf einem schçnen Aquarellbilde, das ich einst in Ihrem Hause, verehrter Meister, bewundern durfte. Diese Zusammenstellung hat einen tiefen Sinn: Sie sehen nun aber auch, mit wie richtigem Vorgefhl unser Freund die freche Zudringlichkeit des biedern Meister Zettel von dieser erlauchten Vereinigung abwehren zu mssen glaubte. Unser Freund, dem diese Thatsachen gewiss sehr wohl bekannt waren, begngt sich, die innige Verschmelzung beider Kunsttriebe in dem durch 75 Unter den bildlichen Zeugnissen leuchtet namentlich ein schçnes Vasenbild vor, auf welchem die freundschaftliche Begegnung der beiden Gçtter am heiligen Erdnabel zu Delphi dargestellt ist (publicirt von Stephani, Comptes rendus de la commiss. impr. archol. de St. Petersb. pour 1861 Taf. 4). 76 Aehnlich auf einem Sarkophagrelief: Zoega, Abhandl. S. 13.
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Archilochus in die Litteratur eingefhrten Volksliede nachzuweisen, in dem der Dr. phil., den klaren Worten unsres Freundes zuwider, „eigentlich“ nur Dionys regieren lsst, was „eigentlich“ doch eine Unwahrheit zu nennen ist. Wir nhern uns dem wichtigsten Problem, der allmhlichen Entwicklung der Tragçdie aus dem dithyrambischen Chorliede. Hatte nun hier unser Freund den wesentlichen Unterschied dieses dionysischen Liedes von jeder andern hellenischen Chorlyrik darin erkannt, dass in den Sngern des Dithyrambus eine Schaar von Verwandelten, zu Dienern des Gottes Verzauberten vor uns stehe, whrend jede andre Chorlyrik nur eine ungeheure Steigerung des, seiner sterblichen Person sich klar bewussten, apollinischen Einzelsngers sei, so setzt der gelehrte Dr. dem entgegen: auch andre Formen der chorischen Poesie schliessen das Mimische keineswegs aus: „man denke nur an Korybantiasten, Karyatiden, Pyrrhichisten“. Das Denken will eben bei diesem Dr. offenbar nicht recht von Statten gehen; sonst wrde er ja wohl bedacht haben, dass es keine pyrrhichistische oder gar karyatidische Poesie giebt, und dass weder die zu Ehren der Artemis Karyatis tanzenden Jungfrauen, noch die Tnzer der so mannichfach gestalteten, bald ernste Waffenspiele darstellenden, bald mit dem lebhaft bewegten Hyporchem verbundenen77, auch wohl einmal in der Tragçdie verwendeten78 Pyrrhiche, fglich „Chorsnger“ genannt werden kçnnen. Man kçnnte ebensogut an die Tnzer der Emmeleia, der Sikinnis, des Kordax, oder des Geranos, Skops, Morphasmos und so vieler andrer, von Pollux – auf den ich doch den Herrn Dr. zur Strkung seines Denkvermçgens verweisen mçchte – im vierten Buche seines Onomastikon zusammen mit der Pyrrhiche und den Karyatiden aufgefhrten mimischen Tnze „denken“, wenn es berhaupt mçglich wre, zugleich zu denken und ganz gedankenlos Chorpoesie und mimische, zur Erluterung des Gesungenen aufgefhrte Tnze ohne Weiteres zusammenzuwerfen. Uebrigens scheinen dem Dr. phil. die Quellen nicht zu gengen: er bereichert sie durch eine bisher unbekannte, besonders von ihm erfundene Species von Chorsngern oder Tnzern, genannt „Korybantiasten“. Man sage noch, dass in diesem Dr. die historisch-kritische Methode nicht productiv werde! Einige unklare Vorstellungen von Korybanten, mit einem unermesslichen Vorrath gesunder Unwissenheit in Einem Kopf beisammen, erzeugen natrlich eine starke historisch-kritische Ghrung, und: „ein herrlich Werk ist gleich zu Stand gebracht“, der „Korybantiast“ steht vor uns. – Es wird also doch wohl dabei zu bleiben haben, dass der Dithyramb (dem man hçchstens das, brigens ja zuweilen auch dem Dionysus geweihte, durchaus mimische Hyporchema an die Seite stellen kçnnte) den anderen Gattungen der Chorpoesie, den Hymnen, Paeanen, Prosodien, Epinikien u.s.w., gegenber 77 Schol. Pindar. Pyth. IV 127. Vgl. Aristot. fr. 471 R. Bçckh, de metr. Pind. 270. 78 von Phrynichus, nach Aelian v. h. III 8. Vgl. Lobeck zu Soph. Aj.694.
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eine ganz besondre Stellung einnimmt, deren Charakter man gar nicht treffender bezeichnen kann, als unser Freund es gethan hat. Indem ich nun ber unsres Freundes Auffassung eines wesentlichen Punktes in der nchsten Vorgeschichte der Tragçdie einige Worte zu sagen mich anschicke, freut es mich besonders, hierbei der so wenig wnschenswerthen Gesellschaft des Pasquillanten ganz berhoben zu sein. Denn hier hat dieser sich selbst ein solennes Unfhigkeitszeugniss auszustellen fr gut befunden. Dem Urtheile, dass zur Erklrung des Wesens der aeschyleischen Tragçdie Muthmaassungen ber die Vorstufen der Entwicklung der Tragçdie ganz entbehrlich seien, diesem fr einen ber die Ursprnge der Tragçdie schreibenden „Kritiker“ ungemein einsichtsvollen Urtheile, fgt der Dr. phil. noch folgenden Trumpf hinzu: „was die Tragçdie vor Thespis betrifft, so gengt wohl jedem andern als dem Zukunftsphilologen die dissertation upon the epistles of Phalaris“. Gengen wird heutzutage diese scharfsinnige Schrift Bentley’s denn doch wohl nur demjenigen, dessen philologische Studien und Kenntnisse noch so tief in den Windeln liegen, wie die dieses historisch-kritischen Afterphilologen; jeder Andre wird nicht eher ber diese schwierigen Fragen mitzureden wagen, als er nicht, ausser so manchen sonstigen Untersuchungen, vor Allem ein Werk grndlich studirt hat, das freilich einem wirklich so zu nennenden Philologen der Gegenwart und Zukunft nicht mehr so gnzlich unbekannt sein drfte, dessen vollen Titel ich aber hersetzen will, weil er in den Hlfsbchern nicht vorgekommen zu sein scheint, aus welchen der Pasquillant den Titel des Bentley’schen Buches abgeschrieben hat. Dieses Werk nennt sich: „Nachtrag zu der Schrift ber die Aeschylische Trilogie, nebst einer Abhandlung ber das Satyrspiel; von Friedrich Gottlieb Welcker (Frankfurt a. M. 1826)“. Welche Naivett nun aber, nicht nur die eigene Unkenntniss der wesentlichsten Hlfsmittel zu einem Urtheil ber diese so hçchst problematischen Verhltnisse freiwillig, mit gesunder Harmlosigkeit zu bekennen, sondern auch Andern noch den gleichen Standpunkt einer kindischen Unwissenheit zuzumuthen! Freilich, Welcker zhlt ja auch nicht zu den Mnnern, die, nach der Meinung des Pasquillanten, in unserm Jahrhundert die Philologie auf jene „nie geahnte Hçhe“ gehoben haben, auf deren strahlendstem Gipfel ohne Zweifel dieses kritischmethodische Mustergewchs sich selbst zu stehen scheint. Dass der Dr. phil. unter den Befçrderern unsrer Wissenschaft nur G. Hermann und Lachmann zu nennen weiss, mag weniger einer in tendenziçsem Sectengeist befangenen Einseitigkeit als seiner ganz unbefangnen Unkenntniss zuzuschreiben sein, die es wirklich nicht besser weiss. Glaubt man aber wohl das Andenken dieser edlen und hochverdienten Mnner zu ehren, indem man sich fr ihren Anhnger ausgiebt durch ein Pasquill, in welchem von ihrem hellleuchtenden Verstande gar nichts, und von ihrer treuen Wahrheitsliebe weniger als nichts zu spren ist? Lassen wir also den Pasquillanten auf seiner Schulbank, und betrachten die sprlichen und doch so wichtigen Nachrichten, die uns von der Vorgeschichte
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der Tragçdie Kunde geben, so drngt sich uns immer eine Hauptschwierigkeit auf, die, wie mir scheint, von unserm Freunde zuerst als solche prcise erfasst und ihrer Lçsung zugefhrt worden ist. Es wird von den Alten bereinstimmend berichtet, dass in ihren frhesten Anfngen die Tragçdie nichts war als ein Chorgesang zu Ehren des Dionysus, dass von den Vorsngern dieses dithyrambischen Chorliedes die Tragçdie ausging, und dass die Mitglieder dieses ltesten dithyrambischen Chores Satyrn vorstellten79. Die Gegenstnde dieses Chorliedes waren, wie es in der Natur der Verhltnisse nothwendig liegt, ausschliesslich die Erlebnisse des Dionysus80. Nun ist man aber vor eine bedenkliche Alternative gestellt. Entweder man nimmt, mit Bentley (Phalar. S. 305 d. Uebers. v. Ribbeck), Welcker u. A. an, dass die alten dithyrambischen Satyrchçre den Charakter heitern, scherzenden Frohsinnes trugen, und erst durch Thespis (oder, wie Bentley meint, noch spter), nach Abstreifung des satyresken Elementes, einen ernsthaft traurigen Inhalt und Ton erhielten. Dann versteht man aber gar nicht, wie solche ausgelassene Lustbarkeiten als die frhesten Anfnge der Tragçdie gelten konnten, da ja der erste wirkliche Tragçde, Thespis oder wer sonst, geradezu Alles, das Chorpersonal, die Gegenstnde der Chorpoesie, den ganzen Charakter der Lieder gendert, also doch wahrlich die lteren Anfnge nicht entwickelt, sondern einfach von vorne angefangen haben msste.
79 Dieses Letzte steht zu lesen bei Aristot. Poet. 4 p. 1449a, 20; Photius und Suidas s.: oqd³m pq¹r t¹m Di|musom, wo die ltesten Anfnge der Tragçdie ausdrcklich Satuqiw\ genannt werden; und nach der durchaus glaubwrdigen Notiz des Etymolog. Magn. 764, 5 ff. hiessen die Spiele zu Ehren des Dionysus eben darum Tragçdien, d. h. Bocksgesnge, „weil die Chçre zumeist aus Satyrn bestanden, die man Bçcke nannte“. S. Welcker, Nachtr. 240. Dies die deutlichen Zeugnisse. Setzt es uns nun auch nicht mehr in Erstaunen, den Pasquillanten, mit einfacher Unwahrheit, unserm Freunde die Behauptung zuschieben zu sehen, dass der Dithyrambus „stets von einem Satyrchor gesungen worden sei“ – was unser Freund natrlich weder glaubt, noch auch nur „zu glauben scheint“ – so bleibt man doch verwundert vor der ganz zwecklosen Thorheit der hinzugefgten Note stehen. Dort heisst es (S. 21): „Nicht einmal ursprnglich [wurde der Dith. von einem Satyrchor gesungen]. Klar und glaubwrdig redet Philochorus bei Athen. XIV 628 A“. Was sagt aber Philochorus? „Dass die Alten, wenn sie ein Trankopfer darbringen, nicht immer sich dithyrambischer Lust berlassen (di¢uqalboOsim), sondern dass, wenn sie Trankopfer darbringen, sie den Dionysus zwar unter Weingenuss und Trunkenheit, den Apoll aber mit Ruhe und Wrde besingen (p]kpousim mit G. Hermann; l]kpomter ; die Handschrift).“ Was in aller Welt sagen diese Worte ber die Zusammensetzung des ltesten dithyrambischen Chorpersonals aus? was gar, das den oben angefhrten, dem Dr. phil. natrlich unbekannten Zeugnissen widersprche? Man mag sich ber die Entstehung eines solchen Vexircitates die sonderbarsten Gedanken machen: schmeichelhaft fr den Verstand und die wissenschaftliche Ehrlichkeit des Dr. phil. werden sie unter keinen Umstnden ausfallen. 80 S. zudem Suidas, Photius s. oqd³m pq. t. D. Zenobius, prov. 5, 40. Apostol. 15, 13.
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Fhlt man sich aber durch solche Betrachtungen gedrngt, auch diese ersten Anfnge des ernsten Spieles der Tragçdie sich als ernst, klagend, um die Leiden und Drangsale des grossen Gottes trauernd zu denken – wie z. B. O. Mller, Griech. Litt.-Gesch. 2, 30 thut –, so sieht man sich einer andern Schwierigkeit gegenbergestellt. Zwar die Ueberlieferung spricht durchaus fr diese Auffassung des „dramatischen Dithyrambus“81 als eines Klageliedes. Am deutlichsten redet die auch von Mller hervorgehobne, bekannte Erzhlung des Herodot (5, 67) von dem Tyrannen Klisthenes von Sikyon, der die tragischen Chçre, mit denen die Bewohner jener Stadt die Leiden des Heros Adrastos feierten, dem Dionysus, als welchem sie eigentlich gebhrten, zurckgab. Es gab also dithyrambische Lieder, welche, anders als der spter bliche Dithyrambus, die Leiden des Gottes in wilder Trauer feierten. Auf einen solchen Trauerdithyrambus, der sich weiterhin zum dramatischen Trauerspiel entwickelte und von der dann noch selbstndig weiterlebenden ganz verschiednen Gattung dithyrambischer Festlieder zu scheiden ist, weist auch die merkwrdige Notiz des Suidas82 ber den am Anfang des sechsten Jahrhunderts in Korinth thtigen Dithyrambendichter Arion hin. Von diesem heisst es: „er soll auch der Erfinder der tragischen Weise (tqaciwoO tq|pou) gewesen sein“. Diese Worte fasst man in der Regel nicht so scharf, wie sie, nach ihrer technischen Bedeutung, gefasst sein wollen. Die alten Musiker unterscheiden drei „Weisen“ der Composition, die nomische (bei der Composition der Nomoi neuerer Art verwendete), die dithyrambische und die tragische. Je nach der Art, in der diese drei „Weisen“ das Gemth des Hçrers erregen, entsprechen ihnen drei Arten des Ethos der Composition: das unruhig bewegte, systaltische, das ruhig getragene, hesychastische, endlich das diastaltische. Durch dieses letzte „wird bezeichnet ein feierlicher Schwung und eine mnnliche Erhebung des Gemthes; es drckt Heldenthaten und diesen entsprechende Leiden und Affecte (p\¢g) aus; es bedient sich seiner hauptschlich die Tragçdie und was von den brigen Dichtungsarten verwandten Charakter hat“ (Euclid. introduct. harmon. p. 21 Meib.83). Der Dithyrambus spterer Zeit, eine keineswegs orgiastisch erregende, sondern vielmehr zu freudigem 81 So, und nicht – wie der Dr. phil. mit gewohnheitsmssiger Flschung sagt – „tragischen Dithyrambus“ nennt unser Freund S. 19, 21 jenes Chorlied, aus dem die Tragçdie hervorging; und das mit dem einleuchtendsten Rechte. Allerdings ist diese Art des „dramatischen Dithyrambus“ nahe verwandt mit jener besondern Art dramatischer Lyrik des Xenophanes, Simonides und Pindar, die Bçckh gar nicht unpassend „lyrische Tragçdie“ nannte und ber die der Pasquillant (S. 22) nicht so in’s Blaue hinein faseln wrde, wenn er im Stande wre Welcker’s hçchst besonnene, die bertriebene Skepsis Hermann’s und Lobeck’s abweisende Erçrterung in den Griech. Tragçdien S. 1289 – 1295 zu verstehen. 82 Suidas schçpft seine Kunde vermuthlich aus einem Buche des gelehrten Aristokles von Rhodus: s. Val. Rose Aristot. pseudepigr. 620. 83 Ueber die Weisen und das Ethos der Compositionsarten handelt Westphal, Griech. Metrik I 376 – 383, II 315 ff.
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Genuss auffordernde Dichtungsart, gehçrte nun durchaus dem hesychastischen Ethos an: wenn also von dem Dithyrambendichter Arion ausdrcklich berichtet wird, dass er die tragische Weise erfunden habe, so denke ich, dass dieses, genau verstanden, eben besagen will, dass dieser alte Dithyrambus des Arion in Weise und Ethos der Composition mit dem spteren, hesychastischen Dithyrambus nichts gemein hatte, sondern, in diastaltischem Ethos bewegt, Thaten und Leiden heroisch gewaltiger Charaktere darstellte, und also nach Stoff und dichterisch-musikalischem Grundcharakter vielmehr mit der spteren Tragçdie verwandt war. Gab es nun also schon frhzeitig eine Gattung ernster, trauernder Dithyramben, so kann man nicht zweifeln, dass gerade aus diesen allein die Tragçdie hervorgehen konnte. Nun aber stellt sich eine grosse Bedenklichkeit ein. Wie ist es mçglich, dass ein ernstes, zu klagendem Weh erregendes Trauerlied von einem Chor jener wohlbekannten Satyrn gesungen wurde, deren scurrile Lustigkeit sonst ja den vollsten Gegensatz zu tragischem Ernst bildet, und deren groteske Unflthigkeit nicht nur im Alterthum Kinder und Sklaven vergngte, sondern noch im Jahre 1872 einem Dr. phil. frçhlich jauchzende Zustimmung abgewinnt? Satyrn aber, sahen wir, sangen jene Dithyramben, Satyrn, „die in Versen redeten“, soll auch Arion, der Erfinder der tragischen Weise, verwendet haben. Hier kann man sich aus heilloser Verwirrung nur retten, wenn man, keine der eben vorgefhrten Thatsachen wegwerfend oder beliebig verdrehend, sich von unserm Freunde zu einer freilich sehr ungewohnten Auffassung der ursprnglichen Bedeutung des Satyrtypus anleiten lsst, zu jener Auffassung des brtigen Dionysusdieners als des vor aller Cultur fessellos umher schwrmenden Urmenschen, die der Dr. phil. nur mit plumpen Obscçnitten zu beantworten vermag84. Ich kann ber diese, durch die Thatsachen selbst erforderte Auffassung nichts sagen, was unser Freund nicht (auf S. 34 und 36 seiner Schrift) energischer und bestimmter gesagt htte. Zweierlei nur will ich hinzusetzen. Wir drfen uns, um die krftig unbedenkliche Versinnlichung solcher Urwesen zu verstehen, durchaus nicht unsern zrtlichen Geschmack zum Maassstab nehmen. Die Griechen haben sich nicht gescheut, mit alterthmlicher Symbolik die ursprngliche Kraft solcher Naturwesen sogar durch halb thierische Bildung zu
84 Derartige wohlriechende Blumen seines anmuthigen Ingeniums hat uns der scherzhafte Herr Dr. in seinem Pasquill noch mehrere darreichen wollen; ja schon auf dem Titelblatt hat er unmittelbar unter seinen eignen werthen Namen, als seinen Wahlspruch, eine stattliche griechische Zote gesetzt. Vermuthlich meint er in solchen Auswchsen altgriechischer Frechheit „das einzig Unvergngliche, welches die Gunst der Musen verheisst“ zu besitzen. Sollten aber die Musen sich lieber in der Gesellschaft des Priap aufhalten, als in derjenigen des Dionysus, die ihnen der gestrenge Herr Dr. nicht gçnnt?
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versinnlichen85. Wem wrde heutzutage nicht die Gestalt des rossleibigen Chiron, des „gçttlichen Thieres“, wie ihn Pindar nennt, anstçssig sein, als die Verkçrperung uralt erhabner Weisheit, tiefer Naturkenntniss, als die ehrwrdige Gestalt des Lehrers der Heroen, des Jason, Achill, Asklepius? Zweitens aber drfen wir uns nicht durch die sptere Darstellung dieser Satyrn als ausgelassen frecher, bermthig lustiger Gesellen beirren lassen. Der Cultus des Dionysus hatte stets zwei Gesichter, er bewegte sich in grellen Gegenstzen ausschweifender Lust und Trauer; so wie man auch die dem Dionys nahe verbundne Ariadne auf Naxos in so schroffem Wechsel jubelnder Lust und finstrer Klage feierte, dass die Gescheidten der spteren Zeit an zwei ganz verschiedne Ariadnen dachten (Plut Thes. 20). So verbildlichen denn auch die Satyrn ursprnglich beide Extreme dionysischer Empfindungen in Einer Figur; denn Lust und Klage feierten gleichermaassen den Einen Gott, den „Lçser“, den „Befreier“, wie die Glubigen ihn nannten, gewiss nicht (wie man wohl meint) als einen demokratischen Gleichmacher, sondern als den grossen Heilbringer, unter dessen Zauber eins und einig wird, „was die Mode frech getheilt“. Wie nun aber von dieser zwiespltigen Empfindung die Tragçdie nur die Eine Seite rein ergriff, und den Ueberschwang leidenschaftlicher Trauer aus einer epidemischen Verzckung86 zu knstlerischem Entzcken zu bilden verstand, so fand jene Satyrlust im geistreichen Spiele des Satyrdrama ihre knstlerische Ausbildung. Als dann die Tragçdie, ber den Kreis dionysischer Mythen hinausgehend, den Satyrchor aufgab, blieb dieser den sptern Griechen eben nur in der tollen Lust dmonischer Karikaturen gegenwrtig, wie sie aus den Satyrspielen bekannt war; und in dem mannichfaltigsten Phantasiespiele mit diesem Typus entfaltet die sptere Kunst die unerschçpflichste Laune. Wie aber in der Person des Satyrs allerdings von jeher, neben ernsterer Symbolik, auch diese thierisch ausgelassene Lust gelegen haben muss – in einer uns schwer verstndlichen Mischung – : so konnte umgekehrt die sptere Kunst unmçglich, neben den seltsamsten Fratzen, doch auch jene edlen und jugendlich schçnen Satyrfiguren ausbilden, von denen schon Winckelmann im fnften Buch der Kunstgeschichte ausfhrlich handelt, wenn nicht ein Bewusstsein von der Doppelnatur des Satyrwesens sich, aus ltester Ueberlieferung, lebendig erhalten hatte. Ganz eben so geht es dem Silen, dessen Bilder von den lcherlichsten Verzerrungen zu jener krftig edlen Stattlichkeit des weisen Zechers aufsteigen, die wir an der 85 Sogar Bocksbeine geben den Satyrn manche unter den Alten; wenn also unser Freund von bocksbeinigen Satyrn spricht, so verwechselt er keines wegs Pan und Satyrn wie der Dr. phil. sich einbildet, sondern denkt an die capripedes Satyri des Lucrez und Horaz (c. II 19, 4), den aQcip|dgr S\tuqor ; (Jacobs anthol. Graec. IV S. 205 n. 412) u. dgl. S. Voss, Mythol. Briefe II 293 f. 86 Von dieser kennt der Pasquillant S. 20 keine polizeilichen Berichte aus der Zeit des Eindringens dionysischer Culte. Ich auch nicht, aber ich verstehe, was uns die Mythen von Pentheus, Lykurg, Ikarius u. s. w. in ihrer Weise erzhlen wollen.
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herrlichen mnchener Figur des Silen mit dem Bacchuskinde bewundern. Und wie deutlich spricht nicht fr eine von der gewçhnlichen ganz abweichende Auffassung des Silen jene, von unserm Freunde mit Recht als hçchst bedeutsam hervorgehobene alte Sage87 von der Unterredung des Midas mit dem gefangenen Silen. Die schwermthig tiefe Weisheit dieses Silen zeugt auch fr das richtige Verstndniss seiner Genossen, der Satyrn, mit: denn nur ein vollendeter Ignorant, wie der Dr. phil., hat auf seiner „nie geahnten Hçhe“ nie etwas davon geahnt, dass Silen und Satyrn aufs Engste verwandt sind, und dass (wie gelegentlich von unserm Freunde) gerade der Silen des Midas bei Xenophon und Andern ein Satyr genannt wird. Wie nun in der ganzen Anschauung unsres Freundes von dem Wesen und der Aufgabe der dionysischen Kunst der Musik dieses richtig verstandene Wesen des Satyr ein sehr wesentliches Moment ausmache, dieses auch nur zu berhren liegt ganz ausserhalb meiner gegenwrtigen Aufgabe. Die, wie ich gezeigt habe, ganz wohl zu erkennenden philologischen Grnde seiner scheinbar so phantastischen Auffassung konnte nun freilich, bei der Beschaffenheit seiner philologischen Qualitten, der Dr. phil. auch nicht von ferne ahnen. Weniger noch wird man von seinen sonstigen Fhigkeiten erwarten drfen, und so ist es nur ganz in der Ordnung, dass unsres Freundes Vergleichung der Form des griechischen Theaters mit einem einsamen Gebirgsthale seiner drftigen Phantasie hçchst curios vorkommt. Zufllig trifft es sich, dass gerade diese Vergleichung Dio Chrysostomus in seiner lieblichen Idylle „der Jger“ einem auf Eubça einsam lebenden Landmanne in den Mund legt, als dieser, zum ersten Male in die Stadt gezogen, mit der kindlichen Verwunderung eines Naturmenschen das wunderlich geschftige Treiben der civilisirten Menschheit im Theater betrachtet88. Ich fge nichts zur Charakterisirung der geistvollen Alterthumskenntniss des Herrn Dr. hinzu. Wie nun aus dem Chorliede des Dithyrambus das Drama allmhlich erwuchs, brauchen wir hier nicht zu verfolgen. Nur ber die Entwicklung der Musik im Drama einige kurze Andeutungen. Whrend vor der vollen Ausbildung der Tragçdie namentlich die Dithyrambendichter die Musik zu den hçchsten Leistungen immer krftiger befhigten und vor Allen Lasus von 87 Dass dieses eine alte Sage sei, will der Pasquillant nicht glauben, obwohl doch Aristoteles (fr. 37) ausdrcklich sagt, dass der Spruch des Silen „seit alter Zeit“ immer wiederholt werde. In metrischer Form findet sich derselbe zuerst bei Theognis, der indessen, wenn nicht die im homerischen Wettkampf erhaltnen Verse: !qwμm l³m lμ vOmai – , so doch jedenfalls einen alten, im Volke verbreiteten Weisheitsspruch nur nachahmte. S. v. Leutsch, Philologus XXX 202–206. 88 Orat. VII § 24 p. 229 R. „das Theater aber ist – so erzhlt der Naive dem gebildeten Gastfreund – wie ein Gebirgsthal, tief gehçhlt, aber an beiden Seiten nicht lang gestreckt; sondern im Halbkreis gerundet, nicht natrlich, sondern aus Steinen knstlich erbaut.“
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Hermione (ein Lehrer des Pindar) sich um eine Entwickelung der unendlichen Fhigkeiten dieser Kunst die reichsten Verdienste erwarb89, bernahm spter das hçchste Gesammtkunstwerk der attischen Tragçdie auch die Weiterbildung der musikalischen Kunst so vollkommen, dass von dem tiefsten Kenner alterthmlicher Musik, dem Aristoxenus, die Tragiker Phrynichus und Aeschylus wiederholt als Beispiele der hçchsten Entwicklung edler Musik genannt werden. Wie sehr unser Freund ein Recht hatte, zu behaupten, dass in Hellas „die Tragçdie die Musik zur Vollendung gebracht habe“, zeigt sich dann aber weiter noch darin, dass selbst in ihrem allmhlichen Verfall doch die dramatische Musik die musikalische Kunstbung so vollstndig beherrschte, dass, nach der Aussage desselben Aristoxenus, „Alle, die sich berhaupt mit Musik befassten, sich der theatralischen Muse zuwendeten“ (bei Plutarch, b. d. Mus. 27). Der von Pherekrates, Aristophanes, Plato, Aristoxenus so lebhaft beklagte Verfall der musikalischen Kunst trat aber darin hervor, dass sich die Musik von der Dichtung immer freier ablçste, und, bei solcher Trennung, das Drama schliesslich in ein unorganisches Conglomerat nchtern verstandesgemsser Reden und tndelnder Arien, deren Wirkung einzig eine rein sinnlich musikalische gewesen sein kann, sich zersetzte. Sehr bedeutsam ist nun, dass auf diesen Verderb der dramatischen Musik, wie er namentlich dem Euripides vorgeworfen wird, das neben dem Drama selbstndig weiterentwickelte Kunstgenre des dithyrambischen Chorliedes bestimmenden Einfluss bte. Dieses hatte sich, seit Melanippides, unter den Hnden des Kinesias, Phrynis, Timotheus, Philoxenus u. A. immer mehr zu einer rein musikalischen Kunstschaustellung ausgebildet, in der die Dichtung, welche frher auch im Dithyrambus „die erste Rolle gespielt“ hatte (nach Plutarch a. O. cap. 30), nur noch einen Vorwand fr eine absolute Tonschwelgerei bot. Davon erzhlen uns zahlreiche Klagen der Freunde alter Kunst. Wenn unter diesen uns namentlich Aristophanes ber den Charakter dieser, von unserm Freunde sehr zutreffend als „Aufregungsmusik“ bezeichneten entarteten Kunstbung keinen Zweifel lsst, so bezeichnet eine zweite ihrer charakteristischen Eigenthmlichkeiten unser Freund sehr angemessen als Tonmalerei, deren Wesen, nach Schopenhauers Ausdruck, in einer absichtlich bewussten, durch Begriffe vermittelten Nachahmung einzelner Erscheinungsbilder besteht. Genau dieses ist es, was Aristoteles (problem. 19, 15) ausdrcken will, wenn er die Musik dieses neuattischen Dithyrambus eine „mimetische“ nennt; genau diese ganz unmusikalische Tonmalerei verspottet Aristophanes im Plutus, wenn er, einen Dithyrambus des Philoxenus parodirend, seinen Chor wie die Schafe und Ziegen des Cyklopen blçken und meckern lsst; und wenn Timotheus, im Nauplius, einen Sturm musikalisch darstellte90, so wird er sicher nicht hinter den nachahmenden Knsten seines 89 Plut. mus. 29, und dazu Westphal, Metr. II 292. 90 Athen. VIII 338 A.
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Vorgngers zurckgeblieben sein91. Dieses zur Antwort auf das verwirrte Gerede des Dr. phil. auf S. 21. 22 seiner Schmhschrift, das zugleich von seiner stupenden Unwissenheit und einer unsglichen Rohheit der Vorstellungen zeugt, welche sich namentlich in den Worten, dass „doch keines Tragikers Hauptfeld die Musik sei“, hçchst unbefangen manifestirt. Nach den satyresken Sprngen auf S. 24 wendet sich der Dr. phil. dem Euripides zu, der ihm als angebliches Vorbild anmaassender Unfhigkeit, wie wir oben sahen, besonders theuer ist. Bei seinen stmperhaften Versuchen einer Kritik der Nachrichten von einem genauen Verkehr des Euripides mit Sokrates wollen wir uns nicht aufhalten. Es glaubte an dieses „Mhrchen“ bekanntlich Lessing, derselbe Lessing, den der Pasquillant, lcherlich genug, gegen unsern Freund vertheidigen zu mssen meint. Es glaubt auch noch in der jngst erschienenen dritten Bearbeitung seiner Griechischen Litteraturgeschichte Bernhardy daran, der doch auch wohl ein wenig Uebung in litterarhistorischer Kritik haben drfte. Beide wussten natrlich eben so gut wie der Dr. phil., dass die Aussagen selbst der gleichzeitigen Komiker nicht wie historische Zeugnisse verstanden sein wollen: aber dass eine Thatsache schwach bezeugt und dennoch wahr sein kçnne, und dass zudem in der gegenwrtigen Frage viel weniger die historische Gewissheit als die innern Grnde in Betracht kommen, aus denen an so zahlreichen Stellen Sokrates und Euripides als Freunde und Gesinnungsgenossen dargestellt werden92, das sind allerdings Erwgungen, denen auch wohl 91 Sehr einleuchtend ist mir, nach all diesem, die Vermuthung K. O. Mller’s, Griech. Litteraturg. 2, 289, dass Plato, wo er von der Nachahmung wiehernder Pferde, brllender Stiere, tosender Strçme, des brausenden Meeres, des Donners u. dgl. spricht (Rep. III 396 B. 397 A. vgl. auch Ges. II 669 D), auf die musikalischen Knste des neueren Dithyrambus ziele. 92 Dasselbe gilt fr jenen delphischen Spruch: sov¹r Sovojk/r, sov~teqor d’ Eqqip_dgr u.s.w. Der Dr. phil. ist so naiv, zu meinen, dass vor ihm Niemand an der Form dieses Orakels Anstoss genommen habe. Er meint freilich auch, dasselbe finde sich nur bei dem spten Scholiasten zu Plat. Apol. 21 A: was giebt ihm aber bei solcher Ignoranz ein Recht, ber diesen Gegenstand zu reden? Das Orakel wird sehr oft citirt; die Stellen hat am Vollstndigsten G. Wolff, De Porphyrii ex orac. philos. p. 76. 77 gesammelt. Ein Scholion zu Aristoph. Wolken 144 theilt nun mit, dass schon Apollonius Molon die Aechtheit des Spruches bestritt, der also damals, d. h. im ersten Jahrhundert v. Chr., mit Verlaub des Herrn Dr. doch schon existirt haben muss. Sollte man nun schon damals keine griechischen Trimeter zu machen verstanden haben? Allerdings weiss auch ein metrischer ABCschtze schon, dass ein Anapaest wie Sovojk/r im zweiten Fuss des tragischen Trimeters nicht der gewçhnlichen Regel entspricht; und gerade soweit reicht des Pasquillanten Weisheit. Wie konnte er auch wissen, was freilich, seit Porson, wirklichen Philologen gerade kein Geheimniss ist, dass anapaestische Eigennamen stets unter gewissen Bedingungen, und seit den um Olymp. 89 angenommenen laxeren Grundstzen des Versbaues unbedingt auch im zweiten und vierten Fusse des tragischen Trimeters zugelassen werden! Die Form Sovojk/r ; ist brigens mindestens eben so gut erlaubt, als ein Jqajk/ bei Sophokles Trach. 476. Liesse man aber auch die Aechtheit
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der geringste Verstand zugnglich sein msste; aber die Abwesenheit selbst jenes gewçhnlichsten Urtheilsvermçgens scheint ja gerade das wesentlichste Erforderniss fr einen „Kritiker“ eines durchaus unverstandnen Buches zu sein. Worin unser Freund die tiefe Gemeinsamkeit der Bestrebungen des Sokrates und Euripides erkannt habe, das zu verstehen, wollen wir sicherlich von diesem „Kritiker“ nicht verlangen. Aber man kann sich, selbst nach so vielen Proben der allerunbedenklichsten Entstellung der Wahrheit, doch einer flchtigen Anwandlung des Erstaunens nicht enthalten, wenn man, unter einer ganzen Reihe fader Nichtssglichkeiten, plçtzlich den Pasquillanten die Behauptung aussprechen hçrt: „Herr N. behauptet keck, Euripides bekenne sich zu dem sokratischen Grundsatz: Tugend ist Wissen“, und ihn nun gegen diese angebliche Meinung unsres Freundes einen ganzen Sack schiefer Halbwahrheiten auskramen sieht. Vergeblich sehe ich mich danach um, wo unser Freund dies oder etwas dem hnliches behauptet habe. Meinte denn aber der Pasquillant, dass die Unwahrheit seiner Behauptung keiner seiner Leser merken wrde? Oder auf welche eigenthmliche Connivenz derselben zu den ihm selbst fr seine Absichten dienlich dnkenden Mitteln rechnete er? Sollte indessen eine solche Kurzsichtigkeit boshafter List denn doch ber menschliches Vermçgen gehen, und sollte wirklich ein ungeheuerliches Missverstndniss dieser gnzlich unwahren Insinuation zu Grunde liegen, so bliebe nichts brig, als an eine missdeutende Verdrehung des bei unserm Freunde zweimal (S. 66 und 68) wiederholten Satzes zu denken: fr Euripides bilde das oberste Gesetz seiner Dichtung der Grundsatz: alles muss bewusst sein um schçn zu sein, als Parallelsatz zu dem sokratischen: nur der Wissende ist tugendhaft. Diesem Satze stellt der Dr. phil. spter (S. 29), in vollkommener Gedankenzerrttung, die Bemerkung entgegen, dass ja doch Euripides „oft genug auch bewusst schlechte Handlungen anerkenne“. Dass diese „Erwiderung“ die Behauptung unsres Freundes gar nicht treffe, da dieser von einer bewussten Schçnheit, nicht von einer bewussten Tugend redet, muss, wer dergleichen, wie im Traume, auf das Papier bringen konnte, nicht zu begreifen im Stande gewesen sein; hier aber wird man in der That den Anlass zu jener falschen Beschuldigung unsres Freundes zu suchen haben93. Bei dem Anblick dieses also verwickelten Gewebes von unverzeihlicher Flchtigkeit und absolutem Unverstndniss einfachster wenigstens dieses ersten, jedenfalls wenig eleganten Verses des Orakels fallen, so bliebe doch ganz unverstndlich, wie man darauf verfallen konnte, einen solchen Spruch einer so gewichtigen Autoritt in den Mund zu legen, wenn man nicht eine tief empfundene Zusammengehçrigkeit der beiden „Weisen“ auch im allgemeinen Bewusstsein anerkannt wusste. 93 Es bleibt, nach dieser handgreiflichen Missdeutung jenes Satzes, dem Pasquillanten nicht einmal die Ausflucht offen, dass er auf S. 27 an die Worte unsres Freundes auf S. 76 seines Buches: „Man vergegenwrtige sich“ u. s. w. gedacht habe; welche Worte freilich auch nur ein vçllig Gedankenloser, in „nachtugiger Vergessenheit“ Taumelnder auf Euripides beziehen kçnnte.
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Stze kann ich nur aufs Neue ausrufen: das ist der „Kritiker“, der unsres Freundes tiefsinniges Buch nicht nur zu verstehen, sondern zu bersehen meinen darf! Nur noch zwei Bemerkungen, und wir sind mit dem Pasquillanten fertig. Die Belehrungen desselben ber Sophokles (auf S. 30 f.) seien unberhrt der staunenden Nachwelt berliefert; nur eine ganz besondre Kriegslist, die er anzuwenden fr nçthig gehalten hat, wollen wir doch nicht unbemerkt lassen. Weil unser Freund, nicht fr Schulknaben schreibend, manches Bekannteste eben als bekannt voraussetzte, macht ihm der Pasquillant (S. 30) den Vorwurf einer absichtlichen „Kunst des Verschweigens“. In einer Anmerkung setzt er hinzu „dieselbe wohlfeile Kunst bt Herr N. am selben Orte [auf S. 77, welche Seite oben richtig citirt, also auch vom Pasquillanten gelesen ist] an Aristoteles. Denn der billigt ja eben (Poetik 1456 a, 27) Sophokles [von unserm Freunde getadelte] Chorbehandlung“. Es muss, ein besondrer Fehler meiner Natur sein. dass ich mich noch immer nicht an die heitre Unbefangenheit einer Polemik gewçhnen kann, die immer wieder dem Leser schwarz fr weiss verkauft. Denn „am selben Orte“ S. 77 sagt ja gerade unser Freund ausdrcklich: Sophokles habe das Wesen des Chors zerstçrt, „mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chores seine Beistimmung geben“, und weist also genau auf diejenige Stelle des 18. Capitels der Aristotelischen Poetik hin, die der Pasquillant als verschwiegen bezeichnet! Neu ist nun diese Kunst, in der sichern Rechnung auf flchtige Leser dem Gegner mit Emphase eben dasjenige als unterlassen vorzurcken, was dieser mit vollster Deutlichkeit selbst vorgebracht hatte – neu ist diese ble Kunst nicht, aber wer sich mit solchen Mitteln befleckt, ldt doch immer aufs Neue die Schuld der Anwendung unsittlichster Rabulistenkniffe auf sich. Wenn im Uebrigen unser Freund es vorgezogen hat, sich in seiner sthetischen Betrachtung nicht berall ngstlich an Aristoteles, wie das Kind an die Schrze der Mutter, anzuklammern, so ist der Dr. phil. nicht der Mann, der dagegen zu deklamiren das Recht htte. Denn abgesehen davon, dass die Poetik des unsterblichen Denkers, bei ihrer fragmentarischen Gestalt, vielfach nicht weniger einer immer problematischen Deutung bedarf, als die uns erhaltenen Kunstwerke selbst, so ist es ja auch wohl erlaubt, an der unbedingten Autoritt selbst dieses klaren und tiefen Kunstlehrers zu zweifeln, wenn man z. B. sieht, dass derselbe die volle Wirkung einer Tragçdie auch ohne deutlichste Kundgebung an alle Sinne, ohne Auffhrung und Schauspieler, also bei blosser Lectre fr erreicht hlt94. Man darf, ohne sonderliche Vermessenheit, sagen, dass hiermit das Wesentliche der dramatischen Kunst, gegenber der auf eine blosse Anregung der selbstndig productiven Phantasie willig beschrnkten epischen Kunst, nmlich ihre Kraft einer vçllig sicher bestimmenden Mitthei94 Poetik 6 p. 1450 b, 16 ff.: 26 p. 1462 a, 10 – 12.
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lung an das gesammte Empfindungsvermçgen des Hçrers, verkannt und eine bedenkliche Lcke in der Auffassung der Wirkung eines tragischen Kunstwerkes angedeutet ist. Darf ich nicht auf Ihre sichere Zustimmung zhlen, hochverehrter Meister, wenn ich als das hçchste Vorrecht des dramatischen Dichters die Fhigkeit betrachte, in der unentrinnbaren Klarheit leibhafter, sicher bewegter Gestalten, den Schauenden mitschauen zu lassen, was er geschaut, mithçren was er gehçrt hat, und vor sein entzcktes Auge die Gestalten seiner Knstlerseele zu stellen „so urgemss dem gçttlichen Gedanken, in Form und Maass, in Sait’ und Klang“? Wenn nun aber erst in dieser vollen Verkçrperung der dichterischen Idee die hçchste Knstlerschaft ihre gltigste Probe zu bestehen hat, so beruht andrerseits auf der eben damit ermçglichten Aufnahme des Hçrers in alle Wonnen des Knstlers selbst die mit nichts auf der Welt zu vergleichende Wirkung des dramatischen Kunstwerkes, die man sicher nur mit einer argen Verkennung ihres eigensten Wesens schon durch eine stille Lectre erreicht glauben kann. Wenn also unser Freund auch die vielumstrittene „Katharsis“ nicht als bestimmendes Moment in seine Betrachtung aufgenommen hat, so hatte er dafr gewiss seine gltigen Grnde. Es sei aber vergçnnt, mit zwei Worten darauf hinzuweisen, wie selbst aus diesem einzigen und so sehr beachtenswerthen Zeugniss von der Wirkung der antiken Tragçdie eine wesentliche Untersttzung der Anschauungen unsres Freundes gewonnen werden kçnne. Trotz aller Gegenreden scheint mir die von Bernays festgestellte Deutung jener schwierigen Stelle des sechsten Capitels der Poetik die einzig zutreffende, wonach die Meinung des Aristoteles folgende ist: „die Tragçdie bewirkt durch Erregung von Mitleid und Furcht die erleichternde Entladung solcher (mitleidiger und furchtsamer) Gemthsaffectionen“. Soweit nun im Uebrigen die Meinungen der Erklrer dieser bedenklichen Worte auseinandergehen, so sind sie doch darin alle einmthig, dass ein nheres Verstndniss jener „Entladung“, Katharsis, aus einer Stelle im achten Buche der Aristotelischen Politik zu gewinnen sei. Dort wird unter den verschiedenartigen Wirkungen der Musik auch diejenige aufgezhlt, die aus den „heiligen Liedern“, d. h. den enthusiastischen Flçtenweisen des Olympus, den durch Anhçrung solcher Musik zu begeisterter Verzckung Hingerissenen sich mittheile. Durch solche Lieder berauscht, gingen nachtrglich die also Ergriffenen in einen Zustand der Beruhigung ber „als htten sie rztliche Cur und Katharsis erfahren“. Hier scheint mir nun sehr bemerkenswerth, dass Aristoteles dieselbe „kathartische“ Wirkung, die er selbst (wie vor ihm namentlich die Pythagoreer) als von gewissen Arten der Musik ausgehend schildert, auch der Tragçdie zuschreibt, und dass er, durch weitere Anwendung jenes, aus einem pathologischen Vorgange auf die Musik bertragenen Ausdruckes auf die Tragçdie seinen Lesern zumuthet, sich eben von diesen musikalischen Empfindungen aus der eigentlichen tragischen Stimmung zu nhern. Was liegt in diesem Verfahren anders als das Zugestndniss, dass diese beiden
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Empfindungen ihrer innersten Art nach verwandt seien? und ich mçchte wohl wissen, wie man diese, somit von Aristoteles bezeugte Verwandtschaft tiefer verstehen lernen kçnne, als aus dem Buche unsres Freundes. Was endlich der Pasquillant ber Aeschylus vorbringt, ist so platt, dass es keiner Widerlegung bedarf. Zur schliesslichen Kennzeichnung seiner Auffassungsweise nur noch ein einziges Beispiel. Der, bei Gelegenheit des Aeschyleischen Prometheus ausgesprochenen Behauptung unsres Freundes, dass die ber Gçttern und Menschen als ewige Gerechtigkeit thronende Moira den Mittelpunkt der aeschyleischen Weltbetrachtung bilde, – setzt der Dr. phil. eine Stelle des Agamemnon entgegen, in welcher, in vorsichtig bedingter Weise, ausgesprochen wird, dass dem Zeus nichts zu vergleichen sei, als er selbst. Der Gute ahnt offenbar gar nicht, dass er mit ungeschickten Fssen in eine oft und mhsam erçrterte95 bedenkliche Frage ber den Glauben des Aeschylus hineinstolpert. Er konnte, namentlich aus den Schutzflehenden, noch viel krftigere Zeugnisse fr die hçchste Herrschergewalt des Zeus anfhren; und doch wre damit folgendes Zwiegesprch des Okeanidenchors und des Prometheus nicht beseitigt (v. 517 ff.): „Chor: Wer lenkt des Schicksals Ruder denn in seiner Hand? Prom.: Die Moiren und die allgedenken Erinyen. Chor: Und Zeus ist selbst ohnmchtig gegen ihre Macht? Prom.: Dem verhngten Loose kann er nimmermehr entfliehn.“ Nur daraus, dass auch ber dem Haupte des Zeus ein von dessen Willkr unabhngiges Schicksal schwebt, ist ja berhaupt der Aufbau der Prometheustrilogie zu verstehen. Wenn in den brigen Dramen Zeus mit der Moira einig erscheint, so ist er ihr damit keineswegs bergeordnet; sondern er hat ihre Beschlsse in seinen Willen aufgenommen, sie aber ist es, die auch da noch die verschlungenen Geschicke der Welt bestimmt. – Hat nun der Pasquillant, da er von diesem allen keine Ahnung hat, den Aeschylus nie gelesen? Das mçchte ich nicht behaupten; denn Aeschylus msste nicht der tiefsinnig erhabene Dichter sein, der er ist, wenn es einem Solchen gelingen kçnnte, selbst bei hufiger Lectre ihn auch nur im rmsten Wortsinne zu verstehen, geschweige von seinem hohen Geiste eine Ahnung zu verspren. Nun aber genug und bergenug von dieser unerquicklichen Widerlegung des Pasquillanten. Ich musste, unsern Freund rechtfertigend, die angemaassten Ansprche des Dr. phil. auf besseres Wissen als das erweisen, was sie wirklich sind, nmlich die Gedankenlosigkeit, Unwissenheit und Unredlichkeit nicht eines urtheilsfahigen, methodischen Philologen, sondern eines vollkommenen Zerrbildes kritischer Methode, eines wirklichen Afterphilologen. Habe ich dabei noch kaum die Hlfte der Missverstndnisse, absichtlichen Missdeutungen und entstellenden Insinuationen berhren kçnnen, die derselbe, neben den sachlichen, von mir als nichtig erwiesenen „Erwiderungen“, durch seine ganze Schmhschrift in ununterbrochenem Flusse heraussprudelt, so will ich mich 95 Sehr eingehend z. B. von Dronke im vierten Supplementbande der Jahrb. f. Philol.
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schliesslich auch nicht lange bei der Verwunderung darber aufhalten, was nur diesen Dr. phil. bewegen konnte, so vçllig ohne Noth eine freiwillige Ausstellung seiner eignen Drftigkeit und Unwissenheit zu veranstalten. Zu der naiven Eitelkeit zuversichtlicher Ignoranz scheint noch ein besondrer Antrieb hinzugekommen zu sein, den uns seine schliessliche Aufforderung an unsern Freund enthllt, doch geflligst von dem ihm anvertrauten Lehrstuhle herabzusteigen, nachdem er den Beifall des Dr. phil. von Wilamowitz so vçllig verscherzt habe. Ich berlasse einem Jeden die moralische Qualificirung einer so freundlichen Zumuthung; wir, die Freunde, werden sicherlich nur lcheln ber die Naivett, mit der in ihr die denunciatorische Beflissenheit des strebsamen Dr. phil. ihre eigentlichen Motive selbst aufdeckt. Wir wollen uns aber erlauben, demselben, als Gegengeschenk, ebenfalls einen guten Rath zu geben. Es hat ja den Anschein, als ob ihm sein Elaborat nicht ganz ohne Rath und Antrieb gewisser guter Freunde gelungen sei. Falls er nun ein andres Mal sich wieder aufgefordert sehen sollte, durch eine Ausstellung seiner historisch-kritischen Ignoranz die „wahre Wissenschaft“ zu retten, so drfte es doch gerathen sein, wenn er, vor der Herausgabe solcher „Rettung“, sich recht sorgfltig mit irgend einem jener Freunde beriethe, der wenigstens die ersten Kinderschuhe philologischer Kenntnisse ausgetreten hat. Wenn sich ihm nicht etwa, in einer erleuchteten Stunde, der Rath des weisen Heraklit, als ganz besonders fr seinen Fall geeignet, vor allen andern empfehlen sollte: „besser ist es, die eigne Unwissenheit zu verbergen, als sie prunkend zur Schau zu stellen“. Bedarf ich nun, verehrter Meister, zum Schluss noch einer Entschuldigung dafr, dass ich Sie so lange bei den blossen Werkstcken aufgehalten habe, aus denen unser Freund seinen wohlgefgten Bau so stattlich errichtet hat? Ich hoffe nicht; denn von seinen hçheren knstlerischen Eigenschaften redet dieser Bau ja selber deutlich genug, und so durfte man, nach meinem Gefhl, gerade nur demjenigen so ausfhrlich von den historischen Vorbedingungen des Buches reden, dem man von Geist und Seele desselben nichts sagen kçnnte, was er nicht schon selbst reiner und tiefer empfunden htte. Unser Freund konnte, auf die Gefahr hin, feindseliger Verlumdung eine erwnschte Handhabe zu bieten, diese philologischen Vorbedingungen unberhrt lassen, da er sich eine ganz andre Aufgabe gestellt hatte, mit welcher er doch keineswegs aus dem Kreise der hçchsten Absichten philologischer Wissenschaft herausgetreten zu sein glauben durfte. Unsre Wissenschaft besitzt vor mancher andern einen hohen Vorzug: sie kann ihren eingebornen Adel nie so weit verlugnen, dass es ihr gelnge, mit einigem Schein der Wahrheit sich als „praktisch verwendbar“, d. h. zum Dienste der Hast und Gier materieller Lebenszwecke geschickt darzustellen. So verfolgt sie denn, mitten in dem Taumel einer berall die Mittel zu einem „menschenwrdigen Dasein“ mit den letzten Zwecken verwechselnden glcksgierigen Welt, ihr friedliches Werk, der alternden Menschheit das Gedchtniss an die
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reichste Zeit ihrer freudigen Jugend wach und klar zu erhalten. Sie thut damit eine edle Arbeit: denn was sollte diese sorgsame Bemhung um grosse und geringste Reste einer lngst verklungenen Zeit, wenn ihr nicht der Glaube an die Eine, unsterbliche Menschheit zu Grunde lge, in deren Leben kein Tag, und selbst kein glckseliger Morgentraum der Jugend demjenigen gleichgltig und nach kurzem Dasein in’s Nichts verflattert erscheinen wird, der in dieser Einheit die hçchste Darstellung einer urgewaltigen, zur reichsten Bethtigung ringenden Kraft verehrt? Wie manchen zarter Empfindenden mag diese stille Wissenschaft aus dem Drngen und Stçssen anmaassend lauter „Tagesinteressen“ in die reinen Kreise allgemeinerer Betrachtung, wie in heiter unbewegten Aether aus trbe wogendem Brodem erhoben haben. Das ist unzweifelhaft eine unermessliche Wohlthat; aber hat damit die classische Philologie ihre hçchste Bestimmung erfllt? Es gab eine Zeit, wo sie nicht ohne Grund den Namen der „classischen“ sich zu tragen schien, wo sie in dem wundervollen Wesen und Wirken des griechischen Volkes ein in allem Wechsel historisch merkwrdiger Verkleidung unvernderliches, reines Menschliche zu erkennen meinte, und den muthigen Glauben nhrte, dass von dort aus auch fr uns die Anleitung zu einer freieren und edleren Menschlichkeit zu gewinnen sei. Das war die Zeit, wo sie sich wohl bewusst war, warum gerade ihr, in den Gymnasien, die edelste Jugend nicht zur Belehrung allein in allerlei brauchbarer Kenntniss, sondern zur Bildung anvertraut sei; es war die Zeit unsrer grçssten geistigen Erhebung, wo E. A. Wolf in seiner berhmten „Darstellung der Alterthumswissenschaft“ der hochgepriesenen „Civilisation“ als ein viel hçheres Gut eine „Cultur“ entgegen stellte, die durch alle Civilisirung hçchstens vorbereitet wird. Ich denke, wir verstehen gegenwrtig, durch wachsende Noth belehrt, sehr tief den ernsthaften Sinn dieser Gegenberstellung. Die Civilisation erhlt sich und fhrt ihr unbegreiflich knstliches Dasein nur vermittelst einer immer vollstndigeren Isolirung jeder Kraft des Geistes und Gemthes; von ihrer raffinirten Barbarei kann uns nur eine Cultur erretten, welche in ihr Leben die harmonische Bethtigung aller hçchsten menschlichen Fhigkeiten im Kunstwerk aufnhme, nicht als einen frivolen Luxus trger Uebersttigung, sondern als die hçchste Weihe eines durchaus edlen Daseins. Zu solchen Culturbestrebungen erwartete, in seinen Briefen ber die sthetische Erziehung, der heutzutage oft so klglich missverstandene Schiller – auch von der Betrachtung griechischer Menschlichkeit reiche Fçrderung. Die Weisen unsrer Tage lcheln nun freilich, da alle Kraft der Menschheit in viel realeren, an sich hçchst unverwerflichen Bestrebungen beschftigt scheint, ber solche idealistische Chimren; und man versteht es wohl, wenn aus der Rede gerade der tiefer Empfindenden, vom Lrm des Tages nicht Betubten unter unsern Fachgenossen oft eine gewisse Resignation hervorklingt. Denn wirklich, selbst gegenber der reichsten Vergangenheit hat die Gegenwart stets das sicherste Recht, ihre besondre Art zu behaupten. Sie kann auch gar nicht anders. Was sollen wir also thun? Sollen auch wir jener bermthigen
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Civilisation Beifall rufen, innnerhalb deren auch unsre Wissenschaft hçchstens als ein unschuldiger Luxus eine Stelle finden kann? Nein, wahrlich nicht, so lange im deutschen Lande aus dem Toben des Marktes und den Sirenenklngen ppiger Luxusknste die herzbewegenden Tçne einer innigsten Sehnsucht nach der Erlçsung unsres Volkes von dieser bedenklichen Civilisation zu einer edleren Cultur machtvoll hervorklingen. Wenn solchen durchaus gegenwrtig lebendigen, von ganzem Herzen deutschen Bestrebungen eines viel verkannten grossen Knstlers unser Freund sich freudig zugesellte, so durfte er glauben, damit keineswegs seine altgriechische, historische Wissenschaft aufgegeben, sondern ihr tiefstes Leben in sich aufgenommen zu haben. Es gehçrte Muth und Vertrauen auf eine gute Sache dazu, sich durch die Herausgabe eines solchen Buches mit Bewusstsein absichtlich und unabsichtlich ungerechter Beurtheilung der nchsten Fachgenossen auszusetzen. Unser Freund schçpfte dieses Vertrauen vor allem, verehrter Meister, aus Ihrer grossherzigen, unentwegten Hoffnung, aus Ihrem, von solcher hoffnungsvollen Zuversicht ber allen „Widerstand der stumpfen Welt“ zu herrlichem Vollbringen fortgetragnen Wirken. In diesem Vertrauen, dass aus den edelsten Bestrebungen der Gegenwart die Zukunft ein gedeihliches Leben erwarten drfe, wird er wohl auch lchelnd die Bosheit des Verlumders, die ihm mit dem Schlagwort „Zukunftsphilologie!“ ein rechtes Leid anzuthun gedachte, in ein glckliches Omen verkehren. Wer kennt das Kommende? wnschen aber und hoffen drfen wir ohne Anmaassung, dass unser Freund, in unbeirrtem Weiterschreiten, und gerade als ein chter Philologe, wirklich sein mçge „ein Brger derer, welche kommen werden“. Und somit rufe ich Ihnen, hochverehrter Meister, in herzlicher Ergebenheit fr dieses Mal einen freudigen Scheidegruss zu. Reaktionen N an Erwin Rohde, 25. 10. 1872: „Endlich, lieber Freund, ist die erste Erregung berwunden […]. Nun sitze ich recht behaglich-nachmittaglich in meinem warmen Zimmer und freue mich wie ein Kind ber die Bescheerung, immer von Neuem wieder an ihr herumschnuppernd und -knuppernd. […] In Leipzig ist eine Stimme ber meine Schrift: wie sie lautet, hat der brave und von mir sehr geachtete Usener in Bonn, vor seinen Studenten, die ihn gefragt haben, verrathen „es sei der baare Unsinn, mit dem rein gar nichts anzufangen sei: jemand der so etwas geschrieben habe, sei wissenschaftlich todt.“ Es ist als ob ich ein Verbrechen begangen htte; man hat 10 Monate jetzt geschwiegen, weil wirklich alles glaubt, so gnzlich ber meine Schrift hinaus zu sein, daß kein Wort darber zu verlieren ist. So schildert mir Overbeck den Eindruck aus Leipzig. Alle Parteien sind darin eins: damit aber die barocke Ausnahme nicht fehlt, erschien vorgestern ein Brief von E. Leutsch im ,Altweiberton‘ und verrth
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Neigungen! […] Nun Deine Schrift, in ihrer Großherzigkeit und khnen Kriegsgenossenschaft, mitten in das gackernde Vçlkchen hineinfallend – welches Schauspiel! […] Welche herrlichen Erfahrungen habe ich doch in diesem Jahre gemacht! Und wie zerstiebt an ihnen alles etwa von anderswoher auf mich losstrzende Ungemach! Auch aus Wagners Seele heraus bin ich stolz und glcklich – denn Deine Schrift bezeichnet einen merkwrdigen Wendepunkt in seiner Stellung zu den wissenschaftlichen Kreisen Deutschlands. Krzlich soll die Nationalzeitung96 so frech gewesen sein, mich unter die ,litterarischen Lakaien W’s‘ einzurechnen; welches Erstaunen, wenn auch Du Dich zu ihm bekennst! Das ist wohl etwas wichtiger noch, als daß Du an meine Seite trittst? Nicht wahr, alter Freund? Und das, gerade das, macht den heutigen Tag mir zu dem glcklichsten, den ich lange erlebt, ich sehe, was Du, in Deiner Freundesthat fr mich, fr Wagner gethan hast!“ KGB II/3, Bf. 265, S. 72 Carl von Gersdorff an N, 25. 10. 1872: „Als mir der gute Rohde sein Exemplar zugeschickt hatte, bevor noch die Auflage publiciert war, und ich die ersten 15 Seiten gelesen hatte, bin ich in einen Zustand freudetaumelnder Erregung gerathen, der mich lebhaft bedauern ließ, daß ich keine Seele hatte, der ich davon etwas mittheilen, oder keinen Wilamowitz, den ich htte prgeln und schinden kçnnen. Das ist ja ein Meisterwerk der Polemik, ganz einzig; Verachtung, verchtliche Grobheit, feine Ironie, scharfe Kritik, umfassende, tiefe Alterthumskenntniß und eine glaubensstarke Ueberzeugung auf der Basis einer erhabenen ernsten Weltanschauung alles das vereinigt und in einer kçstlichen Sprache geschrieben, daß man sich umsehen kann, wo etwas zu finden sei, was dem gleichkommt.“ KGB II/ 4, Bf. 373, S. 106 f N an Elisabeth Nietzsche, 26. 10. 1872: „Auch ich habe heute Gutes zu melden, nmlich das Erscheinen von Rohdes herrlicher Schrift gegen den WilamoWisch. Ich kann sie nicht schicken, Ihr mßt sie euch schon kuflich zulegen […].“ KGB II/3, Bf. 266, S. 73 Richard Wagner an Erwin Rohde, 29. 10. 1872: „Ich finde dass ich mit und durch Nietzsche in recht gute Gesellschaft gekommen bin. Das kçnnen Sie nicht wissen, was das heisst, sein langes Leben ber in schlechter, oder wenigstens alberner Gesellschaft verbracht zu haben. […] Aber diese Wendung beginnt auch wirklich erst mit Nietzsche: vorher schwang sich meine Sphre nicht hçher, als bis zu Pohl, Nohl und Porges […]. Unsere Freude ber Ihre Schrift war gross: sie ist das wrdige Seitenstck und Complement der ,Geburt‘ selbst. Die Hauptsache fr uns war, aus dieser Abfertigung wieder etwas lernen 96 Quelle nicht zu ermitteln, vgl. Krummel, Richard Frank (2006), Bd. IV, S. 6.
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zu kçnnen, und ausserdem den ,ganzen Mann‘ so recht achten und lieben zu lernen.“ Crusius, Otto (1902): Erwin Rohde. Tbingen, S. 61, Anm. N an Richard Wagner, 7. 11. 1872: „Ein von mir sehr geachteter Philosophieprofessor in Bonn hat seine Studenten einfach damit beschieden, mein Buch sei ,baarer Unsinn‘, mit dem rein gar nichts anfangen kçnne; jemand der so schreibe, sei ,wissenschaftlich todt.‘ So ist mir denn auch von einem Studenten berichtet worden, der erst nach Basel kommen wollte, dann in Bonn zurckgehalten wurde und nun an einen Baseler Verwandten schrieb, er danke Gott dafr, nicht an eine Universitt gegangen zu sein, wo ich Lehrer sei.“ KGB II/3, Bf. 274, S. 89 f Cosima Wagner, 9. 11. 1872: „An R Brief von Pr Nietzsche, welcher meldet, daß seine smtlichen Studenten fr dieses Semester ausgeblieben sind! Also ist der Bann seines Buches wegen auf ihn gelegt, wir sind tief davon affiziert, denn es ist sehr stark und macht die Stellung unsres Freundes unmçglich! – Wir ergehen uns in Plnen, Gedanken, Studenten nach Basel schicken; von Bismarck eine Berufung nach Berlin erzwingen, allerlei Unmçgliches.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In: Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 2, S. 1149ff, 9. 11. 1872. Erwin Rohde an N, 14. 11. 1872: „Von ußerungen der ,Andern‘ ber meine Schrift ist Eine sehr merkwrdige zu registriren. Ich verhandelte krzlich mit einem Stud. Gçtz, senior der societas Ritschel[iana] ber ein (dummes) Album das R[itschl] geschenkt werden soll. Auf Einsendung meines eUdykom erwiderte der Gute mir, am Schluß seines Briefes: er erlaube sich, mir fr meine ,treffliche Abfertigung eines Dr. phil. im Namen so mancher guten Freunde Nietzsches herzlich zu danken‘.“ KGB II/4, Bf. 379, S. 125 Friedrich Ritschl an N, 19. 11. 1872: „Herzliche Grße und zugleich aufrichtigste Glckwnsche dem tapfern Dioskurenpaare zu der siegreichen Vernichtung frechsten und zugleich hohlsten bermuthes!“ KGB II/4, Bf. 382, S. 132 N an Erwin Rohde, 7. 12. 1872: „Eigentlich soll ich Dir vieles noch erzhlen, besonders ber den außerordentlichen Eindruck, den W. und Frau von Deiner Schrift hatten (ebenso wie die Grfin Muchanoff ), wie Beide meinten, mit einem solchem polemischen Meisterstck kçnne man in Frankreich berhmt mit einem Schlage werden […]. Theilnehmende Briefbemerkungen habe ich ber Deine Schrift neuerdings von Frl von Meysenbug, von Gustav Krug, von meiner Mutter und besonders mehrfach von meiner Schwester erhalten. […] Mein Buch ist thatschlich in Leipzig vergriffen.“ KGB II/3, Bf. 227, S. 97
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Mathilde Maier97 an N, 10. 12. 1872: „Ihre Freundlichkeit, mir einen Gruß zu senden, gibt mir den Muth, Ihnen nicht nur dafr, sondern auch hauptschlich fr die große, seltne Freude, welche mir ,Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik‘ bereitet, von ganzem Herzen zu danken! – Es wrde mir wohl kaum mçglich sein Ihnen einen Begriff zu geben, was alles ich Ihrem herrlichen Buche verdanke! Vor allem habe ich den großen Trost daraus gewonnen, nach einer bedeutenden Richtung hin nicht so ganz unfhig zu sein, wie ich seither befrchtet!“ KGB II/4, Bf. 391, S. 149 f
Dt. Festspiele in Bayreuth. II. Redaction Juli 1872. Anruf des Akademischen Wagner-Vereins. Beilage zum Musikalischen Wochenblatt vom 26. 7. 1872. Indem wir diese 11. Redaction unseres Materials unter Mitgliedern bersenden, wollen wir nicht unterlassen, dieselben noch auf das ungemein bedeutende und geistvoll geschriebene Werk des Prof. Fr. Nietzsche „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ aufmerksam zu machen. Wir befinden uns in jedem Punkte im Einklang mit den darin ausgesprochenen Ansichten und halten die geistig ungemein bedeutende Behandlung und Lçsung der schwebenden Fragen ber die neue Kunst fr die allein richtige. Das Werk ist von R. Wagner selbst besonders empfohlen.
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Zukunftsphilologie! Zweites Stck. eine erwidrung auf die rettungsversuche fr Fr. Nietzsches „geburt der tragçdie“. Berlin, 1873. Zukunftsphilologie! Zweites Stck. eine erwidrung auf die rettungsversuche fr Fr. Nietzsches „geburt der tragçdie“ von Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorf Dr. phil. Qui est donc que l’on trompe ici? Beaumarchais 97 Mathilde Maier (1833 – 1910), Freundin Richard und Cosima Wagners, Empfngerin von Freiexemplaren der GT und MA.
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Nicht von dem wonnig lockenden rufe des dionysischen vogels, der uns den weg in die lngst verlorene heimat zeigt, hab’ ich heut zu reden; wir tun einen ritt ins staubig trockene land der philologischen erudition. doch ich denke mir auch nicht dionysische Vçgel als publicum, sondern philologen, die zwar aus dem borne der ewigen jugend zu trinken gewohnt sind, aber wol wissen, dasz man dorthin nicht im Ikarosfluge gelangt, sondern, in mhseligem wandern, nicht ohne „die askese selbstverlugnender arbeit“. wenn ich da verspreche, jeden unntzen aufenthalt zu vermeiden, kann ichs wol wagen; fr etliche erfrischende aufheiterung sorgen schon die zukunftsphilologen; ich bin kein redner, wie es Brutus ist, dafr unterbreite ich aber meine worte auch keiner infalliblen autoritt zur stempelung als ewige wahrheit: so kann ich schlecht und recht mit der narratio beginnen. Drei monde schon war der welt das evangelium gepredigt, und niemand achtete sein. das wurmte. und helltçnend schmetterte ein freund – E. R. unterzeichnete er sich – des freundes lob. das dionysische organ ist die sonntagsbeilage der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung; somit schien die reclame auf philologen kaum berechnet. aber gescholten wurden sie darin recht ernstlich, dasz sie von den offenbarungen keine notiz genommen htten. das hatte sich freilich gleichzeitig gendert. Zwar kein o. oder ao. professor, ein philologe ohne namen in der wissenschaft nahm sich die freiheit, der welt zu zeigen, der so stattlich errichtete wolgefgte bau ruhe auf so unsolidem fundamente, dasz ein beliebiger dr. phil. ihn ber den haufen werfen kçnne: dasz „ertrumte genialitt und frechheit in der aufstellung von behauptungen genau im verhltnisz stehe zu unwissenheit und mangel an wahrheitsliebe“. was die philologen zu diesem nachweis gesagt haben, weisz ich nicht; vermutlich dasz es seiner nicht erst bedurft htte. allein wenn die zukunftsphilologen mit grund befrchten, ich mçchte viele bestimmen an die philologische verwerflichkeit der Nietzscheschen traum-rausch-weisheit zu glauben (wodurch bliebe billich disputabel) so wre das mehr, als ich erwarte. die schier ungebrdige wut aber, in welche die herren geraten sind, die zappelnde verfolgungshast, all das, zwar nicht furcht, aber mitleid erregende spiel von vergçtterung unter sich und verketzerung gegen die andersdenkenden gibt mir die genugtuung, dasz meine streiche gesessen haben. Vor der hand gebot man drben ber wenig mittel. denn wenn man den E. R. hymnus fein suberlich abdrucken liesz und aus einem bairischen bergdorfe anonym an alle freunde, oder vielmehr alle, welche man gern zu freunden gehabt htte, herumschickte, so konnte solch mittel doch bei allen, die mit der neuen lehre nichts zu tun hatten, oder nichts zu tun haben wollten, nur als beweis gelten, fr wie nçtig man einen auch noch so provisorischen schutz hielt; und wenn der bannstral, den ich mir prophezeit hatte, wirklich geschleudert wurde, so muszte man doch wissen, wie zweischneidig eine waffe ist, deren wirkung nur so weit, als die autoritt des schleudernden, reicht, im brigen, wie
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jede uszerung arroganter ohnmacht, verlacht wird. in einem brigens ist R. Wagner mit mir zusammen getroffen: in dem ergebnisz der Nietzscheschen entdeckungen fr den entdecker selbst. denn wenn ich ihm rate, statt den philologischen docenten zu spielen, lieber den dionysischen pilgerstab zu ergreifen, was ist es anders, als wenn sein meister ihn belobt, weil er es gewagt, mit khner festigkeit aus einem vitiosen zusammenhange herauszutreten, um mit schçpferischer hand auf seine schden zu deuten? wenn er nichtsdestoweniger eben deshalb auf mich losschlgt, und hr. E. Rohde mir gemeine motive unterzuschieben sucht, so erklrt sich das hinreichend aus zukunftslogik und zukunftsmoral. im brigen warten wir ab. wer kennt das kommende? aber auch sonst noch fhle ich mich – und schwerlich ich allein – . trotz seinem bullenstil, der ebenso in jeder gebildeten gesellschaft unerhçrt, wie bei ihm gewçhnlich ist, hrn. R. Wagner zu danke verpflichtet. selten ist es uns vergçnnt, in des genius werkstatt zu blicken; meist verhllt ein dichter schleier profanem auge das geheimniszvolle ehebndnisz des Apollon und Dionysos: hier çffnet, selbstlos wie er ist, der meister den schrein seines busens, in dem das kleinod ruhet, wagala weia. was ntzt es, klagt er, wenn man sich auf dem felde der philologie mhe gibt? dem studium J. Grimms entnahm ich einmal ein altdeutsches heilawac, formte es mir um fr meinen zweck es noch geschmeidiger zu machen zu einem weiawaga (einer form die wir noch heute in weihwasser wieder erkennen) leitete hiervon in die verwandten sprachwurzeln wogen und wigen, endlich wellen und wallen ber, und bildete mir so, nach der analogie des eia popeia unserer kinderstubenlieder eine wurzelhafte syllabische melodie fr meine wassermdchen. geduld, verehrter meister, der classische sprachgelehrte, der Berliner eckensteher sagt kein wort mehr: er kann ja nicht vor lachen. Doch das waren nur die notwlle, die man in erster hast gegen den ansturm des kritischen barbaren errichtete. jetzt, nach vier monaten, ist man mit dem groszen werke zu stande gekommen, welches nicht nur die geschlagnen breschen ausfllen sondern den belagerer vçllig vernichten: ja sogar etwa mangelnde substructionen dem wolgefgten baue unterstellen soll98. Afterphilologie, sendschreiben eines philologen an R. Wagner, nennt sich, bezeichnend genug, diese rettung; als verfasser bekennt sich Erwin Rohde ao. professor der classischen philologie, und drei volle bogen hat er mit den versicherungen erfllt, wie ich doch so grenzenlos dumm und so grenzenlos verlogen sei. dieses sendschreiben ist es, von dessen lectre ich gewisse eindrcke gewonnen habe, deren ich mich in der form der vielleicht befremdlichen frage entledigen mçchte, qui est ce donc que l’on trompe ici. denn dasz man fr mich die zarte frsorge hege, mir ein x fr ein u zu machen, ist doch unglaublich. das grosze publicum aber hlt inhalt und 98 Ein vierter streich, eine erneute reclame fr die geburt der tragçdie, im philologischen anzeiger, ist, wie man mir mitteilt, an der weigerung der redaction, dieselbe aufzunehmen, gescheitert.
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form, die philologen jene methode ab, die dem sszen wahne huldigt, „man kçnne durch position einen gedanken an das brett der realitt nageln“. nein, sich selbst will man teuschen, in sich selbst will man das unbehagliche gefhl der blamage ersticken, nicht bloss durch gegenseitige berucherung bis zur narkotischen betubung, vornehmlich durch die nervçsen wutausflle gegen den, dem man das grosze fiasco, das man gemacht, gern zuschreiben mçchte. mein ist gewisz zum geringsten teil das verdienst, dasz die Nietzscheschen offenbarungen so grndlich abgefallen sind; aber eben um dieser erkenntnisz sich verschlieszen zu kçnnen, musz man sich ein opfer erlesen, an dem man seinen ingrimm auslasse: deshalb musz ich um jeden preis tot gemacht werden, deshalb zieht man mit allen waffen, von den nadelspitzen des klatsches bis zur keule des bannfluchs gegen mich zu felde. seis drum. die wissenschaft kennt kein ansehen der person; die neue lehre wrde also der Wahrheit doch um kein haarbreit nher kommen, selbst wenn meine person im kampfe unterlge. doch befinde ich mich bis dahin noch beraus wol, und der fieberhaften wut, mit der man mich anfllt, wird meine gesunde \maishga_a, wie die herren sagen, schon stand halten. An hrn. E. R.99 musz ich zunchst anerkennen, dasz ihm das sacrificium intellectus, das seine neue religion von ihm forderte, nicht leicht geworden ist. man sprt deutlich, dasz er unter dem seelenzwang seufzt, alles an seinem freunde wahr und schçn, an mir falsch und schlecht zu finden. leider verfhrt ihn aber diese das urteil schon im voraus bindende verpflichtung, da er ja den schein wissenschaftlicher freiheit wahren will, mehr als einmal dazu, noch hçheres als bloss die einsicht zu opfern. ein beispiel: er nennt es vollstndige umkehr der wahrheit dasz ich N. die gleichsetzung von tragisch und buddhistisch vorwerfe. aber die von mir citirte Stelle sieht er nicht an. da steht ja (geb. d. tr. 100) wir haben eine vorzugsweise sokratische oder knstlerische oder tragische cultur: oder wenn man historische exemplificationen erlauben will: es gibt entweder eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine buddhistische cultur. gesetzt auch, die stelle, auf die hr. R. verweist, gbe eine andre auffaszung: musz er da nicht ehrlicherweise den widerspruch seines freundes mit sich selbst constatieren? allein jene selbst fr einen verkrppelten verstand deutliche stelle (l. 1. 118. 9) ist in sich voll widersprche: vom orgiasmus fhrt fr ein volk nur ein weg, der zum buddhismus. das stimmt mit dem obigen. nachher sollen die Griechen aber doch etwas andres gefunden haben; und doch nichts andres, denn was fr ein unterschied ist zwischen dem metaphysischen hocuspocus, mit dem die Hellenen im rausch sich ber die sehnsucht nach nirvna hinwegteuschen und den ber zeit, raum und individuum erhebenden ekstatischen zustnden der buddhisten? ich entschuldige das. nach dem rausch der exhortativen tçne 117 (der stelle, 99 Ich rede immer nur von dem ao. prof. Erwin Rohde, von E. R. dem hymnologen kann ich keine weitre notiz nehmen; ich besitze den hymnus nicht.
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mit welcher das erste stck der „zukunftsphilologie“ beginnt) muste naturgemsz der zustand eintreten, den Perser bidamag buden nennen, und der sich an den traum-rausch-weisen rcht, weil in ihrer metaphysik fr diese notwendige ergnzung des rausches kein platz gelassen ist. ich wrde auch hrn. R. einen besuch dieses, auch nach dem rauschendsten welterlçsungstage die sehnsucht nach nirvna haarstrubend weckenden dmons in aussicht stellen – wenn ihm bei seinem feldzug gegen den unglubigen berhaupt recht wol geworden wre. allein sein chauffement ist ein gar zu forciertes; er giebt N. nach, wie Faust dem Mephistopheles „und du hast recht, vorzglich, weil ich musz“. im herzen teilte er gewisz meine ansicht, dasz es unbeschreiblich albern sei, die im theater sitzenden zuschauer mit schwrmenden bakchen, die gestalten der skene mit einem im tale leuchtenden wolkenbild zu vergleichen. allein weil so albern sein freund gewesen war, lszt er mich lieber die vergleichung des theaters mit einem bergtal curios finden, damit er mir vorhalten kçnne nicht dasz die meisten griechischen theater in der tat tler sind, so weit reicht des hrn. ao. prof. geistvolle altertumskenntnisz nicht, doch „wo begriffe fehlen, stellt das citat zur rechten zeit sich ein“ – dasz Dion von Prusa einmal solche vergleichung gebraucht. wenn man eine selbstgemachte strohpuppe von der welt als einen wirklichen feind betrachtet wissen will, so ists doch recht unpolitisch mit einem holzschwerte dagegen los zu gehen. fr eben so absurd als ich hielt hr. R. gewisz auch die behauptung, die Griechen htten eine andere sorte trume als wir und zwar mit logischer causalitt und reliefhnlicher scenenfolge gehabt. doch davon nur ja nichts merken lassen, lieber gegen mich polemisieren, weil ich – die verwandtschaft des traums mit der ttigkeit des epischen und plastischen knstlers geleugnet. und womit polemisieren? dasz Kallimachos in den aitia (auch ein epiker!) sich im traum auf den Helikon versetzt und Ennius dies nachgeahmt; dasz Nikomachos100, den Herakles des Parrhasios (auch ein plastiker!) zu loben, sagte, er habe ihn gemalt, wie er ihn oft im traume gesehen – warum nicht auch, dasz dem Raffael die madonna im traum erschienen, und Heine im traum geweint, seine braut zum altare gehn gesehn, gott weisz was alles getrieben hat? dasz Hesiodos die dichterweihe im schlafe empfangen, und die Troizenier den schlaf fr der Musen freund hielten – warum nicht auch, dasz Pindar einem alten weibe eine ode im Traum vorgesagt, und „die nacht des tages schçnere hlfte ist“? solche polemik kann wirklich bedauern lassen, dasz man das, wogegen sie sich richtet, gar nicht behauptet hat. Doch nicht nur in kleinigkeiten, auch in cardinalpunkten ist hr. R. noch weit von dem dionysischen schwindel seines freundes entfernt, so dasz man billich gespannt sein darf, wie bald die beiden zukunftsphilologen sich untereinander in die haare geraten werden. es ist in hohem grade achtungswert, dasz 100 Ich corrigiere den hrn. ao. prof. stillschweigend nach O. Jahn. ber. d. schs. ges. 1854, 284.
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hr. R. keinen versuch macht, sich der mysterienbegeisterung, des traum-Apollon, des vaters der homerischen gçtterwelt anzunehmen. dafr musz ichs ihm schon hingehen lassen, dasz ich mit bewuszter flschung, N. den geschlechtsfluch der Atreiden fr vorhomerisch halten lasse, und mit bewuszter unredlichkeit die hesiodischen genealogien in seine vorolympische gçtterwelt einschmuggle. wies darum steht, sieht man, sobald man die von mir citierte stelle aufschlgt. dort fixiert N. als epochen der griechischen kunstgeschichte erstens ein erzenes zeitalter mit seinen titanenkmpfen und seiner herben volksphilosophie. das ist eben der geschlechtsfluch der Atreiden, der spruch des Seilenos101 und der andere von mir sattsam beleuchtete unsinn. zweitens die aus dem apollinischen schçnheitstriebe entwickelte homerische welt u. s. f. magst du auch so weit im recht sein, wird mir nun ein leser der afterphilologie sagen, hast du denn nicht die titanenkmpfe, die doch gleicher wurzel sind wie Indras kampf gegen die Maruts, Thors gegen die Hrimthursen, fr nachhomerisch mithin speciell hellenisch erklrt; das sagt doch hr R.? ja, erwidre ich, aber hr. R. gelangt dazu vermittelst eines schlusses, den die form x + a = bc, also x = b versinnbildliche. ich leugne ein titanenreich, eine zeit, wo die finstern naturgewalten vor dem auftreten ihrer besieger, der menschenfreundlichen naturmchte regieren. dasz solche zeit, welche ihr religiçses bedrfnisz nur an jenen befriedigte, nie existiert hat, mithin eine revolution des glaubens, der jene verbannte und ihren sturz im eigenen glauben durch einen himmlischen thronwechsel symbolisierte, eben so wenig: das lehrt der gesunde menschenverstand, lehrt natrlich auch die mythenforschung, z.b. Welcker bekanntlich, den – posteri negabitis – ein zukunftsphilolog mir gegenber erheben zu mszen glaubt. wenn N. nun aber, und zwar ersichtlich im hinblick auf die theogonischen speculationen, die olympische gçtterordnung, der freude durch den apollinischen schçnheitstrieb aus der ursprnglichen titanischen gçtterordnung des schreckens hervorgehen liesz, so war das zwar grundfalsch, aber einen unterschied zwischen titanenreich und titanenkmpfen brauchte e r nicht zu machen. hr. R. freilich, der die verkehrtheit der annahme des erzenen zeitalters anerkennt, macht ihn, nur nicht çffentlich, um den damit 101 Es ist rein willkrlich, den spruch, nicht geboren zu sein ist das beste u. s. w. mit der sage vom Seilenos des Midas so zu verbinden, dasz eins das andere voraussetze. die sage also existierte zuerst, wie ich gesagt, bei Bakchylides. brigens liegt Kelainai in Phrygien; und die methode, das wesen des hellenischen Satyr aus einem fremden gotte, den die Griechen ihrem Seilenos oder Satyr oder Marsyas identificierten, abzuleiten, ist grade so logisch, als ob man Athena aus Neith, Mercurius aus Wuotan erklren wollte. Die Verbindung des Dionysos mit den Musen will ich dagegen, wo es sich um das drama handelt, geme gestatten, daher stammen alle einschlagenden antiken berlieferungen, die Creuzer symb. VII. 171 gesammelt und Welcker, wie natrlich, richtig beurteilt. dasz ursprnglich diese apollonischen wesen mit Dionysos nichts zu tun haben, bedarf keines beweises. was die verehrung des Dionysos neben Apollon in Delphoi bei dieser Frage soll, – nic scios nic scire laboro, an beweiskraft steht sie einem Genellischen bilde wo mçglich noch nach.
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gegen seinen freund gerichteten streich auf mich fallen zu lassen. wenn ich ferner, im hinblick auf mannigfache notizen in den Iliasscholien (z.b. ber Stentor, den katalog der geliebten des Zeus, Okeanos, Ares verhltnisz zu Aphrodite) und die von neuren genommenen anstçsze, die fremdartigkeit resp. jugend der betreffenden partieen der Ilias hervorhob, so tat ich unrecht, ich gesteh es, dasz ich den gewaltigen zwei vorkmpfern in der Homerkritik selbst diese beobachtungen zuschrieb. das mag mir denn hr. R. immerhin vorhalten – mich verfhrte es, dasz eben diese bemerkungen so recht in ihrem geiste waren; wie weit hr. R. den zu fassen vermçge, berlege er sich einmal, wenn er sieht, dasz die erwhnungen der titanen in N und O eben die selben sind, wie die im dreizehenten liede, deszen ich erwhnung tat102 : er also ein buch und ein lied der Ilias nicht auseinander zu halten vermag! und da hat er die stirn, mir vçllig aus der luft gegriffne behauptungen vorzuhalten. ob ihm wol jetzt die schamrçte in die wangen steigt? Doch der wesentliche differenzpunkt zwischen den beiden zukunftsphilologen steht noch zurck: die anschauung vom wesen der lyrik. N. tut sich bekanntlich viel darauf zu gute, das verstndnisz der entstehung und bedeutung der lyrik selbst ber Schopenhauer hinaus erschloszen zu haben. ihm ist sie nachahmende effulguration der musik in bildern und begriffen, ist sie eben so abhngig vom geiste der musik, als die musik selbst in ihrer vçlligen unumschrnktheit das bild und den begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich ertrgt. dagegen ist es laienhaft unmusicalische rohheit, wenn das textwort ber den contrapunkt wie der herr ber den diener herscht. ich wandte dagegen ein, die griechen htten von diesem verhltnisz keine ahnung gehabt, im gegenteil bezeuge Platon, dasz bei ihnen harmonie und rhythmus dem textwort gefolgt sei. dagegen polemisiert zwar hr. R., wie er es musz, allein ihm scheint Platons forderung ganz billich, dasz die musik dem text einen seinem inhalte entsprechenden musicalischen ausdruck zu geben, nicht aber ohne den text zu bercksichtigen auf eigne hand in rein sinnlich musicalischen effecten zu schwelgen habe. – das weitere mçgen die herren unter sich ausmachen. hie N.: die musik vor dem text; – hie R.: der text vor der musik. hie N.: der text nachahmende effulguration der musik; hie R.: die composition musicalischer ausdruck des textes. armer N., dem nicht einmal der andre zukunftsphilologe die grosze, Schopenhauer berragende entdeckung glaubt! armer R., der in laienhaft unmusicalischer rohheit befangen ist! und damit strzt die ganze herlichkeit von Archilochos 102 Auch das siebente lied (H 253-488, damit hr. R. weisz, worum es sich handelt) in dem der titanenmythos ausfhrlicher erwhnt wird, ist relativ jung. das zeigt die erwhnung eines ühkom des Herakles; dasz es „dem homerischen fremd gegenbersteht“ folgt daraus, dasz es eine form der sage voraussetzt, in welcher Achilleus wieder in die schlacht kam am tage, da die Troer nach dem tode des Patroklos bei den schiffen fochten. dies sah Aristarchos, da er vs. 475. 6. verwarf; sah Lachmann, da er sie bei tieferer erkenntnisz vom wesen des volkslieds behielt.
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strophischem volkslied, von den unterschiedlichen geburten, zu denen sich Apollon und Dionysos reizen: ja strzt genau genommen die ganze geburt der tragçdie aus dem geiste der musik. ich aber kann die Platonstelle nicht verlassen, ohne zu bekennen, dasz mir hr. R. einen groben, unverzeihlichen irrtum in der auffaszung der worte Platons von den ¢q/moi und aduqlo_ nachgewiesen. ich nehme dankbar auch die derbste zurechtweisung dafr hin – selbst von hrn. R., dem eben hier das nmliche begegnet ist. er stellt, durch de? verfhrt, den satz des Platon, dasz das textwort in der musik herr sei, als eine forderung hin. doch man sehe. nachdem die regeln fr die l_lgsir in worten festgestellt sind, meint Sokrates, ergeben sich die fr die musik von selbst; und da Glaukon das nicht versteht, tritt er den beweis an. von den drei teilen des l]kor mssen "qlom_a und Nu¢l|r dem k|cor folgen, fr welchen hier keine andern regeln gelten kçnnen, als oben. nun sind aber ( !kk± l]mtoi) aus den reden oben aduqlo_ etc. ausgeschloszen, also (oqjoOm) mszen sie auch in der "qlom_a fortfallen. ein einfacher syllogismus, in dem der fragliche satz propositio maior ist. als solche kann doch aber wahrlich nichts vorn redner bloss subjectiv fr wahr gehaltenes gesetzt werden. ich dchte, das lehrte die logik. Dasz mit der meinungsdifferenz der beiden zukunftsphilologen ber die lyrik hr. R. auch sein urteil ber den N.’ schen Archilochos gesprochen, den schlfer in der Mittagssonne, den ein schlag mit dem Apollinischen lorber weckt, hab ich schon angedeutet. so beschrnkt er denn auszer obligaten grobheiten seine erwiderungen gegen mich im wesentlichen auf die vortragsart der iamben, die eng verknpft ist mit der frage nach der vortragsart der elegie. weshalb hr. N. diese ausgelassen, ist auch hrn. R. unbekannt geblieben. er meint, N. habe dazu besondre grnde gehabt. gewisz; man sieht ja, wohin seine urmusik dabei geraten wre! nun, hr. R. holt das nach. er huldigt der alten grammatikeransicht, welche fr uns zuerst Horaz ausspricht, die 1kece_a stamme aus dem 5kecor. allein dasz whrend der ganzen alten zeit diese hnlichen wçrter etwas ganz verschiednes bedeuten, (wie denn die elegie lange zeit einfach 5pg genannt wird), hat namentlich Caesar vçllig zur evidenz gebracht. gesetzt also auch, in einer unvordenklichen zeit bei einem ungriechischen volke sei das 1kece?om aus dem gebrauche beim 5kecor benannt, und nach diesem wieder die 1kece_a – gibt das ein recht, dinge aus dem wesen des 5kecor auf die elegie zu bertragen? doch ich kann hier billich jedem berlassen, ob er die gehaltenste und am meisten epische gattung hellenischer lyrik, diejenige, welche wir bei dem stamme treffen, welcher das epos ausgebildet, als ein jngeres reis aus diesem resp. aus derselben wurzel entsprossen denken will, oder aus orgiastischen flçtenweisen eines den Jonern benachbarten barbarenvolks – hier handelt es sich nur um die vortragsart der historischen elegie, der gedichte des Kallinos und Archilochos und ihrer nachfolger. waren sie von der musik losgelçst, so ist das dionysische ihnen entrissen und N.’s hypothesen schweben in der luft. fr den gesang beruft sich hr. R. auf dreierlei – und verwirft ein gegenstehendes zeugnisz, als spt und
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unzuverlssig. Tyrtaios heisze ein flçtenblser. – selbst aus der „zukunftsphilologie“ htte hr. R. erfahren kçnnen, dasz zu den 1lbat^qia die flçte klang, und %cet’ § Sp\qtar wird er doch wol kennen. dasz Mimnermos elegieen componiert waren, besttige Plutarch. de mus. 8. was sagt der denn? es gbe eine alte weise, den jqad_ar m|lor welche Mimnermos auf der flçte geblasen habe (aqk/sai oder ist das hier zur flçte vorgetragen?) 1m !qw0 c±q 1kece?a lelekopoigl]ma oR aqk\do_ ×dom auch Sakadas habe auszer liedern solche „in musik gesetzte elegieen“ gedichtet. wozu in aller welt gebraucht Herakleides Pontikos (auf welchen dieser teil der schrift ber die musik zurckzugehen scheint) diesen zusatz, wenn er im wesen der musik begrndet war, wenn er wuszte, dasz alle elegieen des Mimnermos auf gesang berechnet waren? musz man nicht vielmehr diese stelle als direct die ansicht des hrn. R. widerlegend betrachten? allerdings aber hat er in einem mir gegenber recht; ich irrte, wenn ich einfach von Mimnermos sagte, dasz er kein musiker war. er war, sehen wir, nebenher auch flçtenspieler, wie seine Nanno eine flçtenspielerin. Doch das dritte, das hauptzeugnisz. Chamaileon (Ath. XIV 620 C) soll ausdrcklich bezeugen, dasz Mimnermos und Phokylides gedichte componiert waren. hçren wir: Athenaios sagt, die homeristen seiner zeit (leute wie sie Achilleus Tatios beschreibt) seien erst unter Demetrios von Phaleron aufgekommen, Walaik]ym d³ ja· lek\dgh/ma_ vgsim oq l|mom t± jl^qou !kk± ja· t± Jsi|dou ja¸, )qwik|wou 5ti d³ Lilm]qlou ja· Vyjuk_dou. daran schlieszt sich eine reihe excerpte, wo bezeugt steht, dasz gedichte mancherlei art, z, b. auch iamben, im theater teils recitiert (Nax\de?m) teils mimisch vorgetragen (rpojq_mes¢ai) seien. sollte man es fr mçglich halten, dasz hr. R. solch zeugnisz fr sich anfhren konnte, dasz er es zu bersetzen wagte, die gedichte waren componiert. wurden componiert steht da, also waren sie es vorher nicht; die vortragsart der elegie und des iambos wird der des epos gleichgestellt: war das vielleicht auch componiert? Chamaileon, der trefflich unterrichtete und alle voralexandrinischen zeugen sind sich also einig, dasz die elegie nicht gesungen ward. das setzte ich als bekannt voraus, als ich den musicalischen vortrag der iamben bestritt, und hr. R., der ihn behauptet, mag nun zunchst die zeugnisse des Chamaileon, Klearchos und Lysanias, die an jener Athenaiosstelle zusammenstehn, wegrumen. ich berief mich aber auch darauf, dasz die epoden des Archilochos nicht strophisch waren. da will mich hr. R. schrecken; Westphal hlt sie aber fr strophisch, ruft er. es musz um seine grnde wol schlimm stehen, wenn er vorzieht, mit autoritten zu streiten. aber freilich, wenn grnde auch so gemein wren wie brombeeren, sie wrden uns das recht nicht nehmen, so lange die einfache distichische composition der archilochischen epoden zu behaupten, als die der horazischen fest steht103 . ich gemahnte sodann an die paqajatakoc^ der iamben, welche die tragçdie daraus 103 Es ist auch bemerkenswert, dasz Horaz in den epoden nirgend, wie in den oden, vom gesang seiner gedichte spricht. 9. 5 geht keineswegs auf das gedicht selbst.
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bernahm. hr. R. hlt sie mit Westphal fr ein plçtzliches eintreten der (melodramatischen) rede in dem gesange. ich nehme einen musikalischen vortrag innerhalb der rede an, auch mit Westphal (proleg. zu Aeschyl. pag. 200)104 das ist also geraten, zunchst bei seite zu lassen. wie in aller welt kam aber nur Aristoxenos dazu, dem Archilochos die erfindung der Nuhlopoi_a t_m Qalbe_ym zuzuschreiben, wenn Archilochos auch die lekopoi_a derselben erfunden hatte? (Ps. Plutarch. 1. 1. 28) dies sollte billig den strittigen punkt entscheiden; gegen meine auffassung also spricht keine instanz, zum wenigsten keine, an welche hr. R. appellirt hat105. dasz neben elegieen, iamben und epoden die andern masze zurcktreten, lehrt ein blick auf die fragmente; dasz aber Archilochos auch musikalisch ttig war, wo htte ich es geleugnet? geleugnet habe ich, dasz er das volkslied in die literatur eingefhrt habe, weil erstens Homer lngst da war, und zweitens volkslied und subjective lyrik der grade gegensatz ist. das erscheint zwar dem zukunftsphilologen zu niedrig, „so zu sagen autorlose poesie“ ist ihnen lcherlich; aber statt volkslied lied zu setzen und darunter moderne d. i. subjective lyrik zu verstehen, so dasz ein ganz andrer sinn herauskommt, das scheint hrn. R. nicht zu niedrig. doch die griechische geschichte berichtet ja, dasz Archilochos das volkslied in die literatur eingefhrt habe; d. h. sie berichtet das zwar nicht, das gibt hr. R. zu; richtig sei diese behauptung aber doch, ich sei bloss zu dumm, das zu begreifen. dem himmel sei dank, dasz ich die weisheit nicht besitze, welche begreift, wie eine geschichte berichtet, was nicht in ihren berichten steht; mit drren oder fetten worten, das tut hier nichts. htte hr. R. auch nur den schatten eines zeugnisses gehabt, er wrde es gewisz nicht verschwiegen haben. hrn. R., dem ist gegeben eines menschen worte zu verstehen! ecce signum: gegen die N.’ sche hypothese von der praeexistenz der musik vor dem gesungenen texte wandte ich ein, dasz das textwort in der ersten jat\stasir noch vorhersche (die musiker sind zugleich dichter) „erst in der zweiten kommt instrumentalmusik auf“. da bringt es hr. R. fertig, instrumentalbegleitung zu verstehn, nicht zwar um die griechische geschichte gegen diesen frs tollhaus reifen wahnsinn ins feld zu fhren, sondern um in einen ganzen abgrund von unwissenheit zu blicken. die herren blicken eben mit wolgefallen in abgrnde nicht bloss 104 Allerdings nicht, um damit dem pythagoreischen zahlenschwindel, genannte dialogrespontion zu huldigen, sondern etwa die stellen im auge, wo sich auch andre masse unter die iamben mischen, wie Trach. 1080. Phil. 781, oder erweislich innerhalb von gesangpartieen stehendes wie Hipp. 818. doch drfte es unmçglich sein, sichres zu ermitteln. 105 Das olympische siegesliedchen, weil es in iambischem masse geschrieben, fr die vortragsart der iamben anzufhren, htte der hr. ao. prof. doch lieber lassen sollen. dasz er den gattungsunterschied nicht kenne, glaubt ihm doch niemand. besser htte er es mir vorgerckt, dasz ich es berhaupt erst anfhrte. L. v. Sybel hatte lngst erwiesen, dasz es mit Archilochos nichts zu tun habe, das tçnende lied bei Pindaros auf einen archilochischen hymnus gehe.
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dionysische, und wo alles eben und einfach ist, geraten sie in wut, und whlen so lange in des gegners worten, bis ein abgrund da ist. mir ist das zu gefhrlich. neben abgrnden packt zu leicht der schwindel: des schwindels ende aber ist, dasz man tief, sehr tief hineinfllt. Angesichts der çde und unfruchtbarkeit meiner polemik kçnnte mich aber wol ein gelsten ankommen nach einem andern dionysischen vorzug, der freude am urwiderspruch die bringt doch noch abwechselung hinein, nicht blosz dasz jede behauptung einen kometenschweif an sich hat, der ins ungewisse zu deuten scheint, dasz die ganze lehre ich mçchte sagen, etwas herakleitisches an sich hat sumõdomta diõdomta sulveq|lema diaveq|lema : auch die polemik gewinnt so eine anmutige variation. wenn ich die allgemeingiltige ansicht gegenber den wundervollen entdeckungen festhalte, schwatze ich meinen handbchern nach: wage ich es einmal, eine eigne meinung vorzutragen, – (was nicht oft vorkommt, da ich, dem himmel sei dank, nicht der narr bin, der sich einbilde, auf den vielen feldern, die hier berhrt werden mssen, neues liefern zu kçnnen) – flugs bin ich da abgefertigt, indem man mir die handbcher entgegenhlt, zu denen der zukunftsphilologe plçtzlich grosz zutraun faszt. Bernhardy meint „an dem innigen umgang des Euripides und Sokrates sei nicht zu zweifeln“. dem htte ich also folgen sollen, rt mir hr. R., da er doch bung in literarhistorischer kritik haben mste. ein zeugnisz aber, dasz die elegie nicht componiert gewesen sei, wirft er ber bord, weil jeder in der literarischen quellenkritik einigermaszen gebte es als spt und unzuverlszig erkennen msze. Bernhardy hat das nicht erkannt. aber htten die zukunftsphilologen nur im verhltnisz der beiden tragçdienmçrder Bernhardy genauer angesehn: sie htten wenigstens gelernt, dasz ein einflusz des Sokrates auf Euripides nicht existiert, noch auch der zeit nach existieren kçnne. hr. N. aber macht Euripides zur maske des Sokrates, lszt ihn in dem stadium, wo er die tragçdie seiner vorgnger nicht begreifen kann, den andern zuschauer finden, dem das grad so geht, und nun den kampf gegen das berkommne drama wagen, indem er auch tragçdien schreibt, aus welchen nur der neue daemon Sokrates redet (g. d. tr. 62) – also geschehn zu Athen vor 455, da der neue daemon als leiq\wiom bestenfalls bei seinem vater steine hieb –, was nun aus der tragçdie ward, wissen wir: der tugendhafte held musz dialektiker sein, zwischen tugend und wissen, glauben und moral musz ein notwendiger sichtbarer verband sein, die transcendentale gerechtigkeitslçsung des Aeschylus ist zu dem flachen und frechen princip der poetischen gerechtigkeit mit seinem blichen deus ex machina erniedrigt. (g. d. tr. 76.) hr. R. will uns zwar glauben machen, dies gienge nicht auf Euripides, aber wer glaubts ihm? er selber gewisz nicht. und woher kommt diese nderung im drama: es sind, sagt N., die consequenzen der sokratischen stze tugend ist wissen, es wird nur gesndigt aus unwissenheit, der tugendhafte ist der glckliche. nun also, wenn Euripides seine tragçdie auf diesen stzen aufbaut, wenn sein: parallelsatz zu dem sokratischen alles musz bewuszt
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sein, um gut zu sein 106, der satz, alles musz bewuszt sein um schçn zu sein, eine folge der sokratischen lehre ist, wenn Euripides Maske des Sokrates ist: so ist damit behauptet, dasz Euripides die sokratischen stze, auf welchen seine sthetik beruht, anerkennt: so ist andrerseits nicht nur der sokratische einflusz, sondern auch die so formulierte Euripideische sthetik gestrzt, sobald erwiesen ist, dasz Euripides mit der sokratischen lehre im widerspruch steht. das begreift vielleicht auch hr. R. und schmt sich, gegen mich worte gebraucht zu haben, die zu wiederholen ich mich scheue. ich griff die N.’ sche erklrung der euripideischen poesie in der Wurzel an. kein verstndiger wird ihrer je noch gedenken. aber warum wandte ich mich nicht zunchst gegen den satz, welchen Euripides nach N. direct aufgestellt hat, alles musz bewuszt sein um schçn zu sein? weil sich dieser satz aus aussprchen des dichters eben so wenig widerlegen lsst, wie beweisen: er ist eben rein aus den fingern gesogen; Euripides aber hat ber die grundstze, welche er in seiner poesie befolgte, so viel wir wissen, beharrlich geschwiegen107. Ein aus bereinstimmung der lehren gezogner schlusz auf einen verkehr der beiden kritischen barbaren liegt also nicht vor108. auch dasz die tradition, die N. 106 Dies ist schon eine entstellung der sokratischen lehre, doch ich vermeide mit absicht, einen neuen differenzpunkt anzuregen. 107 Diese und die folgende anmerkung kann hr. R. berschlagen, sie gehn ihn nichts an. es ist in der tat auffllig, dasz Euripides zwar an mehr als einer stelle auf Aischylos und Sophokles hinblickt, allein seine eignen sthetischen grundstze so gut wie nirgend berhrt, whrend doch nicht nur aus den komikern bekannt ist, wie lebhaft man sthetische fragen discutierte, und Sophokles z.b. sich mehrfach auch eingehend ber seine und seiner kunstgenoszen richtung ausgesprochen hat, sondern grade Euripides oft fragen der physik, rhetorik, staatsphilosophie lehrhaft erçrtert. wol spricht er einmal, gewisz in irgend einem bestimmten bezuge, von dem Streit, den zwischen zwei dichtern die musen entbrennen lassen, (Androm. 476) und macht seinem miszvergngen ber die angriffe der komoedie luft (Gefangn. Melanippe 476) – wol weil die weise Melanippe eine wenig beifllige kritik erfahren hatte – sonst ist mir nichts hieher gehçriges begegnet. nur eins sehe ich: der dichter der Medeia beklagt sich schwer ber die verkennung, die den weisen trifft und gesteht offen, dasz ohne ruhm die poesie keine befriedigung gewhre (215. 275. 542). zehn jahre spter, als er einen andern weg eingeschlagen und mit seinen politisch patriotischen stcken ersichtlich mehr glck gemacht, hlt ihn die poesie im greisenalter aufrecht (Herakles 675), ja vielleicht sprach er damals das tiefe wort aus, nur die dichtung wirke, die in unbekmmerter, froher seele des dichters entsprungen sei (wenn die gewisz euripideischen verse Schutzfl. 180 dem stcke angehçren. die stelle ist noch nicht geheilt), aber zehn jahre spter, kurz eh er verbittert die heimat verlszt, fhrt Amphion breit seine apologie, und schlieszlich, als er in Makedonien ruft, glcklich der mann der den hafen erreicht hat, schlieszt er den schrecklichen spruch, nichts herlicher, als den feind strzen zu sehn, mit dem worte fti jak¹m v_kom de_ (Bakch. 900). in den wenigen zeilen liegt ein gut teil seiner geschichte. 108 Weil hat im vorbeigehn geuszert, ihm scheine Euripides in seiner anschauung von der liebe dem Sokrates zu folgen. das glaub ich nicht. denn ist Sokrates anschauung vom Eros auch gewisz eben so wenig einfach aus dem xenophontischen symposion als aus
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bereitwillig nachplappert (g. d. tr. 70) keinen anspruch auf beweiskraft habe, gibt hr. R. zu. freilich macht er erst einen schchternen versuch, der Pythia iambische trimeter in attischem dialekt zuzutraun, in welchen sie, vermutlich aus courtoisie gegen die belobten tragiker, zwei freiheiten in versbau und sprache sich erlaubte, von welchen die eine bei Sophokles einzeln, die andre so gar nicht vorkommt (Sovojk^, gienge auch als bacchius in den vers). allein schlieszlich gibt er doch – o der methode! wenigstens den ersten vers des orakels als wenig elegant auf. freue er sich des andern109. aber die tief empfundene zusammengehçrigkeit der beiden weisen, musz die nicht berzeugen? o ja – wenn auch Paulus und Seneca freunde waren. dasz die, welche von der sage wissen msten, wenn sie etwas andres wre, davon, schweigen, dagegen, wie gegen alles andre, was ich ber Euripides sage, hat hr. R. nichts vorgebracht; vermutlich weil es keine bettelcitate waren, wie es immer heiszt, wenn ich meine ansichten belege. einmal findet sich auch ein vexiercitat; das ist es auch geworden; wir werden gleich sehn. N. soll recht haben, meint hr. R., der dithyrambos sei von jedem andern chorlied verschieden, weil seine snger eine schar von verwandelten, zu dienern dem platonischen zu entnehmen, so lszt sich doch zweierlei feststellen; erstens dasz der sokratische Eros entschieden nur auf jnglinge sich erstreckte, und dennoch seinen eigentlichen ausgang in dem stark sinnlichen gefallen an der schçnen form hatte; zweitens dasz die bedeutung dieses verhltniszes und seine eifrige pflege bei den Sokratikern in dem paedeutischen element gesehen wird; nicht nur dasz die jugend so herangebildet wird; auch den liebenden =qyr did\sjei j#m %lousor Ø t¹ pq_m (vgl. z.b. Aischines bei Aristid. XLV. 23 Dind.). allein bei Euripides finden wir, wenn auch einmal der doppelte Eros des Xenophon und Pausanias vorkommt (Dictys 342, also im jahr 431 schon) sonst eine ganz andre lehre, nichts schçneres als die liebe, so lange sie nicht als unbndige leidenschaft auftritt. dann ist sie des lebens zerstçrung (Iph. Aul. 544 Med. 627 Hipp. 525). sonst luft auch „der liebe leid und lust“ mit, wie bei Sappho und Catull, denn der mensch vermag da nicht zu widerstehn (Hipp. 347. Aiol. 26). aber dies ist alles die geschlechtliche liebe; dasz er die knabenliebe verwarf, lehrt der leider fast ganz unkenntliche Chrysippos immer noch: denn Laios berief sich nur auf den zwang seiner naturanlage. das also scheidet Euripides durchaus von Sokrates. es bleibt nur noch ein merkwrdiges bruchstck, 889, wo die jugend ermahnt wird, sich der liebe zu befleiszigen, denn wer nicht in ihre schmerzen eingeweiht sei, der sei ein barbar; aber, schlieszt es hoch bedeutsam ýk¢g wq/shai d’ aqh_r ftam : denn Eros (so viel sagen die verstmmelten worte des eingangs) musz ein zçgling der weisheit sein, dann ist er im umgang der sszeste gott (vertreibt die !cq_our tq|pour) und fhrt uns zur hoffnung (wir wrden sagen, lszt uns nicht verzweifeln) da er eine lust aus schmerzen bringt: qui dulcem curis miscet amaritiem. ich denke, ich habe recht verbessert ja· paq± kup_m t]qxim tim’ 5wym eQr 1kp_d’ %cei fr ja_caq %kupom. denn wer schmerzlose lust besitzt, fhrt nicht mehr zur hoffnung: der ist im vollbesitze des glcks. – aber dies ist zwar alles, glaub ich, sehr schçn und dichterisch, nur nicht sokratisch. 109 Hr. R. fhrt selbst an, dasz schon im altertum das orakel wegen der versart verworfen sei. das hindert ihn nicht, den anstosz zu ignorieren; wie ihm auch aus meinen worten, „ich kann augenblicklich nicht angeben, ob sich die verse anders als bei schol. Plat. apol. finden“, herauszulesen beliebt, dasz ich meine, sie stnden nur an jenem orte.
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des gottes verzauberten wren. diese diener des gottes mssen doch wol die satyrn sein, sonst bedurfte es nicht nur keiner verzauberung, sondern es wre jeder snger eines liedes zu ehren jedes gottes ja ebenso verwandelt. dass das aber unsinn gibt, sieht hr. R. spter und sagt, N. glaube nirgends, dasz der dithyrambos nur von satyrn gesungen sei. vielleicht hat er sich mittlerweile einmal die pindarischen fragmente angesehn, in welchen der dichter grad so gut wie in den siegesliedern durch den chor in seiner person spricht. vorerst findet hr. R. noch fr gut, das zu ignorieren, und – doch da haben ihn wol die heiligen korybanten geschlagen – macht sich darber lustig, dasz ich tnze anfhre, wo auch die snger im dienste andrer gottheiten sich verzaubern d. h. mythische diener des gottes mimisch darstellen110. doch der wahre joqubamtiasl|r kommt erst beim vexiercitat zu tage. zum beweise, dasz der dithyrambos keinesweges das mimische voraussetze, fhrte ich eine schlagende stelle an, wo Philochoros, im hinblick natrlich auf den dithyrambos seiner zeit, davon spricht, dasz die alten ihn bei der spende (beim symposion) sangen111. das entschied freilich gegen hrn. R., darum bersetzt er das ûpan eRqgl]mom dihuqalbe?m mit sich dithyrambischer lust berlaszen, was nicht nur eine bedeutung von hrn. R. gnaden ist, sondem heller 110 Bezeichnend genug, dasz die ltesten tragiker sowol die karyatiden als die pyrrhiche in das drama hineingezogen haben, bezeichnend, dasz an die karyatidentnze sich der dorische l?lor schlieszt, von den deikelisten und sonstigen zur komçdie fhrenden vermummungen wieder zu geschweigen. der korybantentnze gedachte ich allerdings nicht mit recht, denn sie sind nicht hieher zu ziehen; da tanzen und lrmen die weihenden. hrn. R. ist das nach joqubamtiasl|r gebildete korybantiast anstçszig, ich gebs ihm gerne preis; gebe er mir dafr die tnze des satyrspiels und der tragçdie, auf die er mich zur strkung des denkvermçgens verweist, oder gar den c]qamor der mit gar keiner gottheit dienst was zu tun hat: er htte besser getan, mir den irrtum vorzuhalten, dasz ich das apollinische hyporchem bakchisch nannte: das war etwas mit fug und recht zu rgendes. was er vom neuern dithyrambos sagt, trifft gar nicht meine erklrung, dasz es frivol sei, ber eine gattung zu urteilen, die man nicht kennt. oder, kennt sie hr. R., der Philoxenos zum vorgnger des Timotheos macht, und, wenn Aristoxenos beklagt, dasz „zu seiner zeit die musik heatqij^ sei“ dies auf die lngst fast oder ganz chorlose, zudem fast abgestorbne tragçdie bezieht. 111 Ath. XIV 629 a. oR pakaio· sp]mdomter oqj !e· dihuqalboOsim, !kk( ftam sp]mdysi, t¹m l³m Di|musom 1m oUm\ ja· l]h, t¹m d’ )p|kkyma leh’ Bsuw_ar ja· t\neyr. )qw_kowor coOm vgs_m jte. so die handschrift unertrglich; allein Hermanns fr den Marcianus zudem keineswegs einfache nderung l]kpousi trifft nicht den punkt der verderbnisz, noch den gedanken, sie singen bei der spende nicht immer den dithyrambos, sondem – und nun folgt gar keine einschrnkende bestimmung. wie dem aber auch sei, es ist einleuchtend, dasz sp]mdomter und ftam sp]mdysi nicht neben einander bestehen kçnnen. streicht man erstres als glossem, so ergibt sich der allein passende gegensatz, nicht immer, sondern beim symposion sang man ehedem den dithyrambos, denn den Dionysos feierte man im trunk, Apollon in der nchternheit. dasz diese letztere erwhnung sich auf etwas bezieht, was jetzt fehlt, hat Meineke gesehen. er meint, es seien verse des Archilochos ausgefallen. reicht es nicht aus, anzunehmen, dasz Athenaios einen teil der argumentation des Philochoros weggelaszen?
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blçdsinn nebenbei, denn von dem preisen der gçtter im gesang redet Philochoros selbst, redet dieser ganze passus des Athenaios, und es folgt – wie man sieht eben aus Philochoros – eine stelle des Archilochos, wo dieser grade vom dithyrambos redet, den er von wein durchwettert dem gotte anzustimmen vermçge. nicht wahr, ein rechtes vexiercitat, welches, da es der herren traumgespinnst zerreiszt, nicht blosz vexiert, sondern auch vexiert wird. Aber hr. R. darf citieren, auch das landlufigste, darf mit einem pomphaften dies stehet zu lesen die fast totgehetzten paar stellen anfhren, wo von der entstehung der tragçdie gehandelt wird, das ist keine studentenweisheit: das ist neues Material – auch wenns Aristoteles poetik ist. das ists auch, unerhçrtes sogar, scherz bei seite. denn er lszt die tragçdie aus einem ernsten zu klagendem weh ergreifenden spiel entstehn, und behauptet dabei keine der tatsachen, die er vorgefhrt, wegzuwerfen oder zu entstellen. darunter befindet sich die classische stelle der poetik, wo Aristoteles von der entwickelung der tragçdie handelt, die stelle, welche von jeher den eckstein jeder hier einschlagenden untersuchung bildet, 5ti d³ t¹ l]cehor 1j lijq_m l}hym ja· k]neyr ceko_ar di± t¹ 1j satuqijoO letabake?m ax³ !peselm}mhg. und diesen eckstein wollen die bauleute der traumgebilde nicht verworfen haben? ich vertraue, er ist ihnen zum stein des anstoszes geworden, an dem sie zerscheitern. ich zum wenigsten achte mich der mhe berhoben, ber eine hypothese auch nur ein wort noch zu verlieren, der Aristoteles widerspricht, so deutlich, als wrs mit absicht. Nur die lçsung fr die selbstgeschaffne schwierigkeit, die doppelnatur der satyrn, berhre ich noch, weil sie zeigt, wie hr. R. von bildender kunst grad so viel weisz, wie sein freund. lszt man das satyrspiel, als nur einseitige ausbildung der satyrnatur, nicht gelten, so sind der schriftstellen aus alter zeit ber diese glieder des dionysischen thiasos so wenig, dasz man leicht ber sie hinwegkommt112, aber tausendfach sind die zeugnisse der bildenden kunst, vor allem der bemalten vasen. sie liefern den beweis, wie man sich die satyrn damals vorstellte, den beweis, dasz, wenn uns in der spteren kunst neben der derben weise auch jene edelschçnen dem menschlichen angehnelten gestalten des dionysischen thiasos begegnen, diese erscheinung nicht in einem aus ltester berlieferung stammenden bewusztsein von auserhalb aller cultur fessellos umherschwrmenden urmenschen, ihren grund hat, sondern in jener kunstrichtung, welche aus dem zhnefletschenden scheusal das medusenideal schuf, vor dem wir „unsre menschheit doppelt fhlen“, welche selbst den hundertugigen zweikçpfigen Argos zum rstigen jngling, das „am finger lullende Isiskind“ zum Harpokrates, das widerliche ungetm, welches Herakles auf dem fries von Assos und altertmlichen vasen bezwingt, zu dem 112 Nur ein zeugnisz von gleicher evidenz wie das des Aristoteles ist mir noch gegenwrtig. Dioskorides lszt auf dem grab des Sophokles die maske einer jo}qilor von Sj_qtor b puqqic]meior halten.
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triton der galleria delle statue umbildete113 : und diese kunstrichtung selbst ist wieder nur ein reiner ausflusz des hellenischen geistes, welcher, wie er statt der formlosen naturmchte, die er aus seiner arischen heimat mitbrachte, sich ethische d.i. menschlich fhlende wesen als gçtter schuf, also auch statt der fetische der Semiten, statt der monstra Indiens und Aegyptens, den bildern der berirdischen wesen die gçttlichkeit nur durch eine zur ewigen schçnheit gesteigerte rnenschlichkeit verlieh: der auch wir nur anbetend uns nahen kçnnen. wer aber den dionysischen thiasos also umschuf, das berichtet die geschichte – Praxiteles; und wenn uns auch das geschick kein einziges seiner werke rein zu schaun gegçnnt hat, wir mszen den gewaltigen mann unter die grçszten seines volkes stellen, dessen geist den gedanken gebar, der, noch so verflacht und abgeschwcht, dennoch in ewiger jugend selbst sarkophage und urnen belebt. lassen wir die zukunftsphilologen ihren urmenschen gar noch mit bocksbeinen beglcken, und dann noch die frechheit haben, dafr ein paar zeugnisse spter dichter anzufhren – was schiert sie die bildende kunst, was auch dasz Gerhard in seiner erstlingsarbeit del dio Fauno schon eben diese stellen abgefertigt: lassen wir sie dem Apollon das medusenhaupt in die hand geben, und dann die frechheit haben, darunter die aegis zu verstehn, an der ein medusenhaupt befestigt sei, als welches eine versteinernde wirkung habe – was schiert sie Homer, jenes herliche lied, wo Apollon die aegis schttelt, und damit die Achaier der strmenden abwehr vergessen macht, jenes lied, dem auch der knstler das motiv des aegisschttelnden Apollon entnahm: lassen wir sie sich der sittsamkeit der Etrusker annehmen und die frechheit haben, zu behaupten, dasz die Etrusker von den Griechen grade nur die finstersten bilder nchtiger todesphantasie entlehnt haben. – was scheren sie die zeichnungen etruskischer spiegel? ich bin des kleinlichen geznkes satt. rings ruft die kunst zu erbauendem genusze, rings mahnen die denksteine von jahrtausenden zu sinnender betrachtung – und ich soll meine zeit und kraft an die albernheiten und erbrmlichkeiten von ein paar verrotteten hirnen verschwenden? mich ekelts. und bleibt nicht doch jeder streit um einzelne meinungen, und seien es auch die cardinalstze, nur auf der oberflche der differenzen zwischen den zukunftsphilologen und mir? habe ich etwa deswegen den kampf gegen sie aufgenommen, weil ich verkehrte auffassungen, grobe irrtmer, berhaupt philologische snden an ihnen zu rgen 113 Die ganze unbeschreibliche herlichkeit dieses werkes leuchtet freilich erst aus der replik in der galleria lapidaria hervor, an der nur leider der kopf fehlt. dieser am schlagendsten, aber auch das „malerische“ in der behandlung des fleisches bezeugt, dasz wir hier das werk einer kunst haben, welche die lysippischen entdeckungen voraussetzt. wie Skopas etwa einen triton bildete, zeigt ein gleichfalls herlich gedachter torso in Berlin. solch wesen ist noch etwas andres als die den j^tg hnlicheren gestalten des Mnchner frieses. diese, wie die Raffaelischen sind exemplare einer gattung: hier ist der triton dargestellt, das trotzig wogende meer, das in den sich dem sturm entgegenbumenden wellen gleichsam seine ungeheure brust einem feinde beut – doch wohin verliere ich mich!
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hatte, oder war es die tendenz, die anschauung der kunst im ganzen, die methode der wiszenschaft welche mir die innerliche nçtigung gaben, was manns an mir ist, solchen bestrebungen entgegenzuwerfen? nein, hier ghnt eine kluft, die nicht zu berbrcken ist. mir ist die hçchste idee die gesetzmszige, lebens- und vernunftvolle entwickelung der welt: dankbar blicke ich auf zu den groszen geistern, die derselben von stufe zu stufe schreitend ihre geheimnisse abgerungen haben; bewundernd suche ich mich dem lichte der ewigen schçne zu nahen, welches die kunst, jede erscheinung in ihrer weise, ausstrahlt. und in der wiszenschaft, die mein leben fllt, bestrebe ich mich den spuren derer zu folgen die mir mein urteil befreit, indem ich mich willig ergab: und hier sah ich die entwickelung der jahrtausende geleugnet; hier lçschte man die offenbarungen der philosophie und religion aus, damit ein verwaschener pessimismus in der çde seine sauerssze fratze schneide; hier schlug man die gçtterbilder in trmmer, mit denen poesie und bildende kunst unsern himmel bevçlkert, um das gçtzenbild Richard Wagner in ihrem staube anzubeten; hier risz man den bau tausendfachen fleiszes, glnzenden genies um, damit ein trunkener trumer einen befremdlich tiefen blick in die dionysischen abgrnde tue: das ertrug ich nicht, denn – doch rede ein grçszrer fr mich – „dergleichen ausflle wirken auf unsren verstand als absurditten, auf unser gefhl aber als blasphemien. es erscheint uns vermeszen und ruchlos von seiten eines einzelnen menschenwesens, sich so keck dem, woraus es stammt, wovon es auch das bischen vernunft hat, das es misbraucht, gegenberzustellen“. mein „verletztes gefhl reagierte eben religiçs“; und da wird es auch verziehen sein, sollte ich hie und da die grenze des erlaubten in meiner polemik berschritten haben. denn jeder, der unbefangen urteilt, wird erkennen, dasz ich ehrlich gestritten, dasz es mir um die sache, um die wahrheit zu tun ist. wol triumphiert sie auch ohne mich, wol splt der rasche strom der zeit gar bald diese bltter wie die meiner gegner hinweg: dennoch gereut es mich nicht, einen streit begonnen und gefhrt zu haben, der mir wahrlich keinen ruhm, keinen vorteil, keinen genusz bereiten konnte, zu dem mich keine notwendigkeit, keine mahnung auszer mir trieb. wol aber die stimme der pflicht, die fahne, unter der man ficht, hoch zu halten. Dies aber habe ich geschrieben, auf dasz man wisse, dasz es mir um andres zu tun ist, als gegen die angriffe der getroffenen mich zu wehren. damit htt’ es keine not, denn doch rede wieder ein grçszerer: „groszsprecherisches aufstellen leichtsinnig erdichteter dinge, unredliches verdrehen und hçhnisches abwehren jedes widerspruchs, berall sichtbares bestreben sich den schein ausschlieszlicher competenz zu verschaffen, sind knste, durch die selbst leichtglubige, unwiszende und furchtsame nur eine weile geblendet und, erschreckt werden; jeder andre aber wendet mit widerwillen den blick ab, wo eine denkart hervortritt, die auf ihre eigne achtung verzichtet hat“.
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Reaktionen N an Erwin Rohde, 21. 2. 1873: „Ein Buchhndler hat mir angezeigt, im Bçrsenblatte (im buchhndl.) sei ein neuer Artikel des Dr. W.-Mçllend. gegen mich (oder uns) angekndigt – wieder bei Gebrder Borntrger. Ich habe aber verboten mir dergleichen zuzusenden, kenne auch keinen Menschen, der es gelesen hat, hoffe brigens daß Du ebenso verfhrst.“ KGB II/3, Bf. 296, S. 125 N an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 9. 3. 1873: „In Rom hat Gersdorff Wilamowitz den Schker gesehen, ist aber geflchtet, hinter den breiten Rcken eins antiken Herakles. brigens hat besagter W. wieder ein Pamphlet verçffentlicht, gegen Rohde, doch wir haben gelacht, es ist doch vorbei.“ KGB II/3, Bf. 299, S. 134 Erwin Rohde an N, 23. 3. 1873: „Die zweite Schreiberei des Wilamowitz hast Du wohl nicht gesehen: es ist auch nicht der Mhe werth; Sophistereien und Schimpfereien, die uns nicht berhren kçnnen. Mçge ihm denn bald die lohnende Professur werden! Ich denke nicht daran, ihn zu widerlegen.“ KGB II/4, Bf. 421, S. 229 N an Carl von Gersdorff, 5. 4. 1873: „Sehr hbsch ist deine Begegnung mit Wilamowitz und Deine Rettung, die wohl ein Trankopfer werth war. Weißt Du, daß der Schker ein zweites Heft unter gleichem Namen hat drucken lassen, mit Schimpfereien und Sophistereien und eine Widerlegung nicht werth. Besonders gegen Rohde gerichtet wendet sich zum Schluß die Schrift in’s Allgemeine, weg von den zwei ,verrotteten Gehirnen‘; die Worte Davids Strauss gegen Schopenhauer werden wçrtlich auf mich angewendet, und so kommt ein Bild von mir heraus als ob ich Herostrat, Tempelschnder usw sei.“ KGB II/3, Bf. 301, S. 139
(Gl.): Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff Dr. phil. Zukunftsphilologie! Eine Erwidrung auf Friedrich Nietzsche’s Geburt der Tragçdie. In: Allgemeiner literarischer Anzeiger fr das evangelische Deutschland. Gtersloh, Bd. 11, Januar – Juni 1873, S. 64 f. Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff Dr. phil. Zukunftsphilologie! Eine Erwidrung auf Friedrich Nietzsche’s Geburt der Tragçdie. Berlin, 1872. Borntrger. 1/3 thlr.
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Es konnte nicht ausbleiben, daß unsre Literatur und Kunst, die bereits von Richard Wagner mit einer „Zukunftsmusik“ beglckt worden ist, sich auch mit einer „Zukunftsphilologie“ fortan bereichert sieht. Die Philologie, die uns in den Geist der alten Kunst einfhrt, muß, nach Herrn Nietzsche, in Zukunft in andre Bahnen einlenken bei der Beurtheilung der Tragçdie. Die Vçlker sind, seiner Ansicht nach, bisher auf einer falschen Fhrte gewesen, indem sie einen Sophokles, Euripides, Shakespeare, Gçthe und Schiller bewunderten. Es msse eine Wiedergeburt der Tragçdie stattfinden, indem sie ihrem Ursprunge, nmlich dem Dionysus-Kultus, von dem sie sich durch den Vorgang des Sophokles und noch mehr des Euripides nach und nach entfernt habe, in des Wortes striktester Bedeutung wieder zurckgegeben werden msse. Richard Wagner zeige den Weg hierfr, Musik und Wort msse in einer Hand sein, beides msse verschmelzen in einen Erguß. „Die alexandrinische Kultur muß aufhçren; es muß sich wieder mit Epheu bekrnzt, der Thyrsusstab muß wieder geschwungen werden, und dann wundert euch nicht, ihr Vçlker, wenn Tiger und Panther sich zu euren Knieen niederlegen! Ihr sollt wieder tragische Menschen werden!“ So Herr N.! Der Verf. vorliegender Erwidrungsschrift hat in durchaus treffender, ja in oft schlagender Weise das Unsinnige der Nietzscheschen Logik und Kunstanschauung nachgewiesen. Oft fllt es freilich der Kritik bei ihrer Operation leicht, wenn Dicta zu widerlegen sind, wie die, „daß sich bei Gottfried Hermann und Karl Lachmann gnzliches Verkennen der Alterthumsstudien nachweisen lasse“, daß „Schiller und Gçthe allerdings von den Griechen zu lernen krftigst gerungen“, daß sie aber das Dionysusideal nicht begriffen htten, und Aehnliches. Herr N. wird in der Erwidrung ein Metaphysiker genannt, was er streng genommen gar nicht ist, weil sein dionisischer Musikkultus eigentlich rein physisch-sinnlicher Natur ist. Es ist gleichsam der in das Musikalische bersetzte Darwinismus und Materialismus, da seine Wesensfactoren „Traum und Rausch“ sind, die „Weltsymbolik des Urschmerzes des Ureinen“ (Darwin’s Urzelle), die „Freude an der Vernichtung des Individuums“ (der Developismus des Urschleims in infinitum, das Aufhçren aller selbstndigen Persçnlichkeit und species!) Hier ist eine Extravaganz der andern so hnlich, wie ein Ei dem andern. – Wir machen auf das Schriftchen als einen recht interessanten Beitrag zur Signatur der Zeit aufmerksam, da es zumal billig ist und uns das wahrscheinlich viel theurere Buch des Herrn Nietzsche vollstndig entbehrlich macht. Reaktionen N an Erwin Rohde, 21. 2. 1873: „Neulich habe ich in einem ,evangelischen Anzeiger‘ ber mich Einiges gelesen, was mir auf Wochen hinaus Heiterkeit verschafft, ich wurde ,der ins Musikalische bersetzte Darwinismus‘ genannt,
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meine Theorie sei der ,Developpismus des Urschleims‘ usw: kurz die vollendete Tollheit.“ KGB II/3, Bf. 296, S. 125
Anonym: Musikalische Kannegiesserei. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 4., Nr. 11 vom 14. 3. 1873, S. 173.114 Musikalische Kannegiesserei. Allgemeiner litterarischer Anzeiger fr das evangelische Deutschland, Januarheft, empfiehlt das Schriftstck des Dr. Wilamowitz-Mçllendorf, betitelt „Zukunftsphilologie“, weil es „das Unsinnige der Nietzsche’schen Logik und Kunstanschauung“ nachweise, und fhrt fr diese Unsinnigkeiten sogar mit Anfhrungsstrichen einige angebliche Citate aus dem Buche des Professor Nietzsche an, die aber theils geflscht (z. B. „es muss sich wieder mit Epheu bekrnzt werden“), theils geradezu erlogen sind. Das ist verwegen, aber nicht neu; denn es ist in der Manier des Schtzlings selbst. Der Schluss der Anzeige geht aber weit ber die Productivitt desselben in hnlichen Verwegenheiten hinaus, weshalb es unseren Lesern nicht vorenthalten bleiben mag: „Herr Nietzsche wird in der Erwiderung ein Metaphysiker genannt, was er streng genommen gar nicht ist, weil sein Musikcultus eigentlich rein physischsinnlicher Natur ist. Er ist gleichsam der in das Musikalische bersetzte Darwinismus und Materialismus, da seine Wesensfactoren Traum und Rausch sind, die Weltsymbolik des Urschmerzes des Ureinen, Darwin’s Urzelle! die Freude an der Vernichtung des Individuums, des Developismus des Urschleims in infinitum, das Aufhçren aller selbstndigen Persçnlichkeit und Species. Hier ist eine Extravaganz der anderen so hnlich wie ein Ei dem anderen. Wir machen auf das Schriftchen als einen recht interessanten Beitrag zur Signatur der Zeit aufmerksam, da es zumal billig ist und uns das wahrscheinlich viel theurere Buch des Hrn. Nietzsche vollstndig entbehrlich macht.“ N an Carl von Gersdorff, 5. 4. 1873: „Neulich wurde ich in einem Blatt als der ,in das Musikalische bersetzte Darwinismus und Materialismus‘ bezeichnet, das Ureine wurde mit ,Darwin’s Urzelle‘ verglichen: ich lehre den ,Developpismus des Urschleims‘! Ich finde, daß die geehrten Gegner verrckt zu werden anfangen.“ KGB II/3, Bf. 301, 139 f
114 Da der Artikel sich direkt auf die vorhergehende Rezension bezieht, steht er hier unter den Reaktionen.
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Anonym [vmtl. Zimmermann, Robert]: Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 24, Nr. 7 vom 15. 2. 1873, Sp. 194 f. Nietzsche, Friedr. Prof., die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik. Leipzig 1872. Fritzsch (IV, 142 S. gr. 8.) 1 Thlr. Richard Wagner gewidmet, dessen „Kunstwerk der Zukunft“ bekanntlich auch fr eine Wiedergeburt der hellenischen Tragçdie gelten will. Fr die Aesthetiker des Idealismus, die alle Knste aus einem einzigen gemeinsamen Princip abzuleiten sich abqulten, hat von Fichte bis Hegel die Aesthetik der Musik den Stein des Anstoßes ausgemacht. Weder die sinnliche Erscheinung der speculativen Idee, noch die Nachahmung der Natur reicht hier aus, jene nicht, weil die Tonsprache zu unbestimmt, diese weil fr die Musik keinerlei Vorbild in der Natur vorhanden ist. Der treffende Ausdruck Kant’s, der die „Musik ohne Text“ mit der Zeichnung la grecque vergleicht, und weil sie fr sich nichts bedeutet, nichts vorstellt, sich fr eine „freie Schçnheit“ erklrt, war in Vergessenheit gerathen. Eingesehen zu haben, daß die Musik einen verschiedenen Charakter von andern Knsten besitze, ist daher allerdings, wie der Verfasser sagt, ein Verdienst, nur daß dieses weder bei der Musik allein der Fall ist, sondern bei jeder specifischen Kunst, noch Schopenhauer, wie er meint, allein dasselbe gebhrt, sondern Herbart, der einzige Musiker von Fach unter den großen deutschen Denkern (er war selbst Componist und virtuoser Clavierspieler!) dies lngst vor ihm ausgesprochen hat. Schopenhauer hebt brigens sein Verdienst sogleich wieder auf, indem er auf einem Umwege zu dem alten Irrthum, daß das Wesen der Musik in Symbolik bestehe, wieder zurckkehrt. Er nennt sie (W. a. W. u. V. I. p. 310) Abbild und zwar (zum Unterschied von den brigen Knsten, die nur die Erscheinung abbilden) unmittelbares des Willens selbst (also des Dings an sich) und sagt von ihr, daß sie zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. Da er den Widerspruch, der darin liegt, daß sie zu aller Erscheinung das „Ding an sich“ sein soll, whrend sie als dessen „Abbild“ selbst nichts Anderes ist als „Erscheinung“, bersehen hat, so kann es nicht Wunder nehmen, wenn R. Wagner und der Verf., der diese „Erkenntniß“ (?) als die „wichtigste der Aesthetik, mit der die Aesthetik erst beginnt“ (S. 86) preist, dasselbe gethan haben, Die eine Urkunst, das Abbild des Dings an sich, whrend die brigen Knste nur Abbilder der Urkunst sind, kommt wieder zum Vorschein; die Stelle, welche die idealistische Aesthetik der Poesie zuwies, wird der Musik zuertheilt. Die dienende Stellung, welche jener zufolge dem Ton gegenber dem Wort zukam, msse nun dem Wort gegenber dem Ton, der dem Ding an sich unmittelbar nahesteht, zugewiesen werden. Das Wort habe den Ton, nicht dieser das Wort zu interpretieren. Die Musik um ihres, das Ding an sich, den monistischen
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Willen unmittelbar abbildenden Wesens willen nennt nun der Verf., in seiner mit „Gçttersymbolen“ spielenden mystisch-gezierten Manier die dionysische Kunst, und stellt sie der apollinischen, d. h, individuelle Gestalten schaffenden gegenber. Dionysos, der Gott der Mysterien, ist ihm der Reprsentant des metaphysischen Einheits-, wie Apollo, der Gott der Hellenen, jener des Individuations-Princips der Schopenhauer’schen Philosophie. Die Einheit beider erblickt er in der antiken Tragçdie, in welcher der Chor das dionysische, die handelnden Personen das apollinische Element vertreten, und die sonach, weil aus dem dionysischen Chor, aus dem „Geist der Musik“ geboren sein soll. Daß aber in Consequenz dieser geistreich schillernden Theorie der Verfall der griechischen Tragçdie nicht etwa erst bei Euripides, dem Dichter der dem Verf. verhaßten „Sokratik“, sondern schon bei Sophokles begonnen haben soll, mag gengen, um unser Urtheil zu begrnden, daß wir dem Resultate dieses brigens in einem sehr hohen Stile geschriebenen Buches nicht zustimmen kçnnen. Reaktionen Erwin Rohde an N am 27. 2. 1873: „Bei Zarncke stand ja neulich dummes Zeug ber dein Buch; ersichtlich von H. Zimmermann, dem Verfasser einer ungeheuer langweiligen Aesthetik.“115 KGB II/4, Bf. 414, S. 215
-l- [vmtl. Leutsch, Ernst von]: Die Geburt der Tragçdie. In: Philologischer Anzeiger. Gçttingen, Bd. 5, Nr. 3, Mrz 1873, S. 134–139. Die geburt der tragçdie aus dem geiste der musik. Von Friedrich Nietzsche, ordentlichem professor der classischen philologie an der Universitt Basel. 8. Leipzig, verlag von E. W. Fritzsch. 1872. – 1 thlr. Zur vorlufigen orientirung mag hier gleich bemerkt werden, dass obige schrift, obwohl vom griechischen alterthume ausgehend, doch vornehmlich zur verherrlichung Richard Wagner’s dient. Nietzsche sagt selbst in der vorrede, dass er bei allem, was er sich dachte, mit Wagner wie mit einem gegenwrtigen verkehrte und nur etwas dieser gegenwart entsprechendes niederschreiben durfte. Nun, es ist ihm geglckt! Man erkennt Wagner’s vorbild in der auffassung der griechischen tragçdie, in mancherlei anderen sthetischen urtheilen, im geschraubten styl, namentlich aber auch in der art, wie fremdes verdienst ge115 Gemeint ist Robert Zimmermann: sthetik. Wien 1858 – 1865, 2 Bde. Vgl. KGB II/7, 2, S. 466
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wrdigt wird. Von seiner eigenen wissenschaft, der philologie, spricht Nietzsche mit grosser geringschtzung; es scheint ihm, als ob unsere so stolz sich gebrdende klassisch-hellenische wissenschaft in der hauptsache bis jetzt nur an schattenspielen und usserlichkeiten sich zu ernhren gewusst habe; die philologen gelten ihm fr geistlose correctoren von alten texten oder naturhistorische sprachmikroskopiker, die sthetiker finden noch weniger gnade vor seinen augen. Das ganze auftreten des verfassers lsst vermuthen, dass er etwas durchaus neues und unerhçrtes zu sagen hat. Die fortentwicklung der kunst ist nach ihm an die duplicitt des apollinischen traumes und des dionysischen rausches gebunden, welches erstere princip im homerischen epos herrscht, das andere in der lyrik, whrend die tragçdie aus einer Vereinigung dieser beiden hervorgegangen ist. Die neuheit besteht hier zunchst in der wunderlichkeit der bezeichnungen, vornehmlich aber in all den mystischen zuthaten, mit welchen jene einfache wahrheit derartig umhllt ist, dass es schwer hlt, sie herauszuschlen. Wie unglcklich gewhlt berdies die vergleichung mit traum und rausch ist, braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden. In beiden zustnden erscheinen die hçhern geisteskrfte gebunden und gelhmt, whrend doch zur conception eines kunstwerkes ein erhçheter Seelenzustand nçthig ist, bei welchem alle krfte, die sonst nur einzeln wirken kçnnen, gemth, phantasie und verstand, in unbegreiflicher weise zu einem reinen accorde sich vereinigen. Traum und rausch sind jedoch bei Nietzsche nicht bloss gleichnisse, sie sind fast die sache selbst. Wir wollen hier nicht auf seine erklrung dieser zustnde eingehen, damit mçgen mediziner sich erheitern; nur um zu zeigen, wie ernst es dem verfasser mit diesen dingen ist, wollen wir hier anfhren, was er ber das trumen bei den Griechen zu berichten weiss. „Man wird sich nicht entbrechen kçnnen, auch fr ihre trume eine logische causalitt der linien und umrisse, farben und gruppen, eine ihren besten reliefs hnelnde folge der scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine vergleichung mçglich wre, gewiss berechtigen wrde, die Griechen als trumende Homere und Homer als trumenden Griechen zu bezeichnen“. Zur speciellen betrachtung der lyrik gelangt, erklrt Nietzsche die Subjektivitt des lyrikers im sinne der neuen sthetiker fr eine einbildung, denn der subjektive knstler ist der schlechte knstler, und ohne objektivitt ist nicht die geringste wahrhaft knstlerische erzeugung mçglich. Das letztere ist gewiss richtig, nur trifft der vorwurf gar nicht die neuere sthethik. Mit dem worte „subjektiv“ soll ja nur der erste anstoss zu dem knstlerischen processe bezeichnet werden, nicht dieser selbst, denn die entstehung des lyrischen kunstwerkes findet, wie jeder weiss, immer erst statt, sobald die subjektiven empfindungen fr den lyriker objektivitt erlangt haben. Auch der dionysische rausch schafft nicht unmittelbar das kunstwerk: „der dionysische knstler ruhet in der stillen meeresruhe der apollinischen betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das medium der musik anschauet, um ihn herum in drngender und
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treibender bewegung ist“. Aus dem schwerverstndlichen hymnenstyl in wissenschaftliches deutsch bertragen, besagen diese worte doch ebenfalls nichts anderes, als was oben stand, und die polemik gegen die neuere sthetik scheint weiter keinen zweck gehabt zu haben, als die gleichheit der anschauungen weniger hervortreten zu lassen. Ebensowenig kçnnen wir es als etwas besonders neues anerkennen, wenn die tragçdie aus dem dionysischen chor hergeleitet und eine ursprngliche verbindung zwischen lyrik und musik nachgewiesen wird. Auch das paradoxon, dass die Athener den Sokrates mit recht verurtheilt htten, weil durch seine philosophie das alte Hellenenthum geschdigt und gestrzt worden sei, auch dieses kann nicht auf neuheit, noch weniger aber auf richtigkeit anspruch machen. Der vf. scheint anzunehmen, dass die Vertheidiger des bestehenden berechtigt seien, alle reformatoren gewaltsam zu vernichten, womit dann auch die ketzerverfolgungen entschuldigt wren; er scheint ferner anzunehmen dass die athenischen richter, obwohl sie von der sokratischen philosophie wenig oder nichts wussten, dennoch die folgen derselben bereits mit derjenigen klarheit erkannt htten, wie es uns heutzutage mçglich ist, und drittens muss er von der strengen gerechtigkeitsliebe der Athener eine hçchst vortheilhafte meinung haben, trotz der rumnischen zustnde, wie sie aus Aristophanes und andern schriftstellern bekannt sind. Ein dreifacher irrthum also, und im grunde doch nur deshalb, um ein vor dreissig jahren bereits aufgestelltes paradoxon wieder einmal aufwrmen zu kçnnen! Indessen soll durchaus nicht behauptet werden, dass das buch nur allgemein bekannte dinge enthlt. Neu ist jedenfalls die anschauung, dass die ursprngliche gestalt der lyrik wie der tragçdie auch zugleich die vollkommenste gestalt derselben sei, aus welcher anschauung sich natrlich die seltsamsten urtheile ber die hçher entwickelte kunst ergeben mssen. Die moderne lyrik wird mit einer statue ohne kopf verglichen, weil ihr die musikalische grundlage fehlt, und ferner wird der verfall der tragçdie schon bei Sophokles gefunden, weil dieser die handlung dem chore gleichberechtigt gemacht habe. Der letztere vorwurf trifft brigens nicht Sophokles, sondern Aeschylus, so dass also knftig von diesem der verfall der tragçdie wird herzudatiren sein. Vom philologischen standpunkte aus begreift man nicht, wie der verfasser zu solchen ansichten gelangen konnte; die erklrung liegt darin, dass er die dinge durch die Wagnersche brille angeschaut hat. Wagner rechnet es sich als besonderes verdienst an, dass er eine neue kunstform erfunden hat, und auch Nietzsche preist diese neuerung als die rettende that, welche den deutschen Genius aus seiner langen entwrdigung zu befreien bestimmt ist. In der urform der tragçdie glaubte nun Wagner etwas seinen eigenen bestrebungen analoges gefunden zu haben, nmlich ein gleichberechtigtes zusammenwirken der verschiedenen knste, daher die ungunst, mit welcher die sptere entwickelung dieser urform betrachtet wird; denn sobald die dramatische handlung zur
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hauptsache wird und das musikalische element zurcktritt, erscheint ja sofort die verlangte gleichberechtigung der knste aufgehoben. Dies wird aber, trotz Wagners missbilligung, berall eintreten, sobald die kunst einen hçhepunkt erreicht hat; alsdann ist nmlich eine vereinigung verschiedener knste zu gleichem zwecke nur denkbar, indem eine von ihnen die herrschaft fhrt, und die andern sich ihr dienend unterordnen; bei gleicher berechtigung wrde jede kunst die volle aufmerksamkeit fr sich beanspruchen und schliesslich keine einzige zu ihrem vollen rechte gelangen. So ist es natrlich und nothwendig, dass lyrik wie tragçdie auf der hçhe ihrer entwicklung sich von der musik emancipiren und diese entweder gar nicht oder nur noch in dienender weise zur verwendung kommen lassen; dass andrerseits oper und oratorium die poesie nur als etwas untergeordnetes behandeln, und so auch auf allen andern gebieten. Die gleichberechtigung ist eben nur da denkbar, wo alles entweder noch gleichmassig unreif oder aber schon gleichmssig verderbt ist, also im beginn oder am ende einer kunstentwicklung. Unter diesen umstnden gerth nun Nietzsche in die ble lage, entweder die hçchsten leistungen der kunst in misscredit bringen zu mssen, wie er es in bezug auf Sophokles und die moderne lyrik wirklich versucht, oder aber, wenn dies durchaus nicht angeht, jede abweichung von der urform zu leugnen. Das letztere thut er ebenfalls in bezog auf die tragçdie. Fr ihn bleibt der chor stets Satyrchor, und der held auf der bhne, mag er nun Orestes oder Oedipus oder Antigone heissen, ist ihm immer nur der verkappte Dionysos. Rechtfertigen lsst sich dies natrlich nicht mehr durch wissenschaftliche beweise, weshalb der verfasser statt derselben von einer unklaren mystik gebrauch macht, auch hierin seinem vorbilde getreu. Es ist nicht sehr erfreulich, wenn ein gelehrter, dem es an geist durchaus nicht fehlt, wie mancherlei einzelnheiten des buches beweisen, aus blosser vorliebe fr eine falsche kunstrichtung sich zu solchen extravaganzen hinreissen lsst; noch schlimmer ist es aber, wenn er aus demselben grunde sogar zu ungerechtfertigten angriffen gegen hochverdiente gelehrte bergeht. Bekanntlich hat Otto Jahn die ganze nichtigkeit und verkehrtheit des Wagnerschen treibens mit tiefer sachkenntniss und feinem sthetischem gefhle aufgedeckt, wie mit gleichem geschicke kein anderer. Dass ein anhnger Wagners hiervon wenig erbaut sein kann, lsst sich denken. Aber diese leicht begreifliche und selbst zu entschuldigende verstimmung berechtigt ihn noch nicht, dem geschmackvollsten und gebildetsten philologen rohheit und empfindungsarme nchternheit vorzuwerfen. Das gesammturtheil ber Nietzsches buch lsst sich kurz dahin zusammenfassen, dass der versuch, die grundlage fr eine zukunftssthetik zu schaffen, welche das nothwendige correlat zu der Zukunftsmusik bilden wrde, als gnzlich gescheitert anzusehen ist.
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Reaktionen Erwin Rohde an N, 20. 5. 1873: „Welcher Esel hat denn neulich Dein Buch bei Onkel Leutsch angewiehert? Ich sah nur hinein; daß doch immer die Blinden ber die Farben am Besten unterrichtet sein mssen! Ach, lieber Freund, was haben wir mit diesen Pachydermen nur berhaupt zu schaffen?“ KGB II/4, Bf. 435, S. 254
Seemann, O[tto]. S.: Die Geburt der Tragçdie. In: Magazin fr die Litteratur des Auslandes. Berlin, Bd. Bd. 42, Nr. 16 & 17 vom 19. und 26. 4. 1873, S. 233–235, 250–251. Die Geburt der Tragçdie. I. Wahrlich, ein rechter Glaube kann Berge versetzen, wenn nicht fr Andere, so doch fr die Glubigen. Professor Nietzsche glaubt an Richard Wagner, dem er sein Buch116 widmet, als den Retter der Kunst, und nun trgt ihn eine zweckbewußte Phantasie in strmischem Fluge zum erstrebten Ziel, zur Verherrlichung des neuen Propheten. Unterwegs werden Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, geistvoll, aber oft keck und unklar, wird Wahres und Tiefes mit Gewagtem, Gedfteltem, Schiefem und Unmçglichem zusammen gequirlt, der feurige Apostel entlockt dem starren Fels unseres Nichtwissens scheinbare Strçme labenden Wassers durch die Magie berraschender Combinationen und Analogien, durch schwungvolle Diktion, durch leichtes Hinschweben ber die fragwrdigsten Schwierigkeiten, aber den Durst lçscht er nicht; wer nicht berzeugt war, ehe er las, den wird die Lektre nicht berzeugen. Festes Vertrauen auf die Unfehlbarkeit subjektiver Anschauungen, souveraine Verachtung aller Unglubigen und Zweifler gehçren zum Apparat; Nietzsche besitzt beide Werkzeuge in hoher Vollendung und wendet sie ausgiebig an; wer nicht seine Visionen theilt, der ist ein gesunder „Meister Zettel“, vor dem flchten die „Musen, mit Dionysus in ihrer Mitte“. Da muß man sich vorsehen! Der Professor bewegt sich im Geiste Schopenhauer’s; eine Skizze der einschlagenden Ansichten dieses Philosophen wird das Verstndniß erleichtern. 116 Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik. Von Friedrich Nietzsche, ordentl. Professor der klassischen Philologie an der Universitt Basel. Leipzig, Verlag von E. W. Fritzsche. 1872.
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Nach Schopenhauer ist die wahrgenommene Welt nichts als die Objektivation des Willens, des metaphysischen Prinzips. Dieser Wille ist Eins. Vielheit entsteht erst durch Raum und Zeit, (das principium individuationis) d. h. dadurch, daß der alleine Wille, in Raum und Zeit erscheinend, sich auseinanderlegt. Die Erscheinungswelt ist eine Welt des Scheines, der Maja, das endlose, nie gesttigte Streben des ur-einen Willens, durch Eingehen in die Form der Vielheit zur Befriedigung zu gelangen. Der Wille objektivirt sich stufenweise; auf der niedrigsten Stufe stellen sich die allgemeinsten Krfte der Natur dar, Schwere, Undurchdringlichkeit u.s.w. auf der hçchsten Stufe der menschliche Geist. Hier, im menschlichen Bewußtsein, erkennt endlich der Wille, sein Drang nach Erscheinung, nach Individuation sei thçricht, er schaffe sich nichts als Qual damit, er thue besser, sich zu verneinen, nicht mehr in’s Dasein treten zu wollen. – Das Gesetz der Causalitt herrscht nur in der Erscheinungswelt, den Dingen, die immer werden, d. h. entstehn und vergehn, aber nie sind; alles, was immer ist und nie wird, steht außerhalb des Causalgesetzes. In diese Kategorie fallen der Wille, und seine bestimmten Objektivationsstufen, die Ideen im Sinne Plato’s. Wir, als Individuen, haben nur Erkenntniß von Dingen, die dem Causalgesetz unterworfen sind; sollen wir zur Erkenntniß von Ideen emporsteigen, so mssen wir aufhçren, Individuen zu sein. Das geschieht in den seltenen Zeiten, wenn es der Erkenntniß gelingt, sich vom Dienst des Willens loszureißen, wenn der Mensch reines, willenloses Subjekt der Erkenntniß ist, nicht mehr den Relationen der Einzeldinge nachsprt, sondern in der festen Kontemplation des dargebotenen Objekts ruht und darin aufgeht. Solch ein Mensch ist der Knstler whrend seiner knstlerischen Thtigkeit; das Objekt der Kunst sind die platonischen Ideen, die adquaten Objektivationen des Willens. Die Knste objektiviren den Willen also nur mittelbar, durch Darstellung der Ideen; (die Baukunst z. B. objektivirt die Idee der Schwere; die Poesie die Ideen smmtlicher Stufen), eine Kunst aber steht einzig in ihrer Art da, die Musik. Sie objektivirt den Willen unmittelbar, sie benutzt keine Abbilder der Erscheinungswelt, keinen Stoff, keine Farbe, keine Gestalt, keinen Gedanken, der sich in Worte kleiden lßt, sie berspringt die anschaulichen Ideen und giebt ein Abbild des Willens selbst; darum ist sie die mchtigste und eindringlichste Kunst; die anderen reden alle nur vom Schatten, sie aber vom Wesen. – Und nun zu unserm Professor. Der Bgel, der ihm auf den Pegasus hilft, ist „die Duplicitt des Apollinischen und des Dionysischen“, deren fortwhrender Gegensatz und periodische Versçhnung die Kunstentwickelung ausmachen. Diese Triebe verhalten sich analog den Kunstwelten des Traums und des Rausches. Der Traum, der schçne Schein, der anschaulich alle Gestalten und Vorgnge des Lebens vor die Seele fhrt, ist die Voraussetzung der bildenden und der epischen Kunst. Maßvolle Begrnzung, Freiheit von wilderen Regungen, weise Ruhe, die charakteristischen Merkmale Apollo’s zeichnen den apollinischen Knstler aus, welcher, dem
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schçnen Schein vertrauend, auch als Einzelner, auf das principium individuationis gesttzt, muthig den schwankenden Kahn durch die schumenden Wellen des gefahrvollen Lebens hinsteuert. Im Rausch dagegen, unter dem Einfluß narkotischen Getrnks oder dionysischer Frhlingsregungen vergißt der dionysische Knstler die Qual des Lebens, er fhlt sich nicht mehr als Einzelner: selig schmilzt er zusammen mit der entfremdeten feindlichen Außenwelt, er empfindet sich als Gott, als Eins mit dem Ur-Einen. Das klingt ganz imposant, aber, was wissen wir eigentlich davon? Apollinische Kunstwerke – um in Nietzsche’s Ausdrcken zu reden – sind auf uns gekommen, dionysische nicht; um so bequemer kann man sich ihr Wesen zurechtstutzen, wie man es braucht. Besonderes Grausen erregte dem apollinischen Griechen die dionysische Musik. „Die Musik des Apollo war dorische Architektonik in Tçnen, aber in nur angedeuteten Tçnen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik berhaupt ausmacht, die erschtternde Gewalt des Tones und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur hçchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fhigkeiten gereizt; …. eine neue Welt der Symbole ist nçthig …. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Krfte zu fassen, muß der Mensch bereits auf jener Hçhe der Selbstentußerung angelangt sein, die in jenen Krften sich symbolisch aussprechen will; der dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden! Mit welchem Erstaunen mußte der apollinische Grieche auf ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grçßer war, als sich ihm das Grausen beimischte, daß ihm jenes Alles doch eigentlich so fremd nicht sei, ja, daß sein apollinisches Bewußtsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor ihm verdecke“. Denn auch er kannte den Ausspruch des weisen Silen, des Begleiters des Dionysos: das Allerbeste ist fr den Menschen gnzlich unerreichbar, nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein; das Zweitbeste aber ist – bald zu sterben. Auch er kannte und empfand die Schrecken des Daseins; um leben zu kçnnen, stellte er vor sie als verklrenden Spiegel die glnzende Traumgeburt der Olympier. „So rechtfertigen die Gçtter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein gengende Theodicee! Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Gçtter wird als das an sich erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor Allem auf das baldige Abscheiden, so daß man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der filmischen Weisheit, sagen kçnnte, das Allerschlimmste sei fr sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, berhaupt einmal zu sterben …. Es ist des grçßten Helden nicht unwrdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelçhner. So ungestm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der „Wille“ nach diesem Dasein“.
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Und auf der dionysischen nicht? Die orgiastische Art, das principium individuationis aufzuheben, war gewiß sehr weit von irgend einer Verneinung des Daseins entfernt. Die Versçhnung beider Triebe ist der wichtigste Moment in der Geschichte des griechischen Kultus; sie kommt zum ersten Mal zu Stande im Volksliede. Der antike Lyriker, der mit dem Musiker stets identisch ist, dionysisch begeistert, sucht zu seiner Melodie eine entsprechende Traumerscheinung und spricht sie in der Dichtung aus. „Die Melodie ist das Erste und Allgemeine, das deshalb auch mehrere Objektivationen, in mehreren Texten an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei Weitem Wichtigere und Nothwendigere in der naiven Schtzung des Volks. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich, und zwar immer wieder von Neuem; nichts anderes will uns die Strophenform des Volksliedes sagen“. Mit kunstvollem Ueberleiten aus einer Retorte in die andere, und dann wieder zurck, und dann wieder anderswo hin, hat der Professor den Lyriker Archilochus aus der dionysischen Musik herausdestillirt, und es ist ihm auf dem bedruckten Papier glnzend gelungen. Die Sage berichtet, Lykambes und seine drei Tçchter htten sich wegen eines auf sie gerichteten archilochischen Spottliedes erhngt. Bei dem großen Gewicht, welches Nietzsche darauf legt, „daß die (antike) Lyrik ebenso abhngig ist vom Geiste der Musik, als die Musik selbst in ihrer vçlligen Unumschrnktheit das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern nur neben sich ertrgt“, muß man bedauern, daß er die Frage gar nicht erçrtert, ob jener vierfache Selbstmord auf Rechnung des Geistes der Musik oder des Geistes der Worte zu setzen ist. Spter wird man sehen, daß er zuweilen Wort und Bild nothwendig findet, um die berwltigende Macht der Musik nur ertrglich zu machen, da ohne Wort und Bild eine tçdtliche Wirkung in Aussicht stehe; die Frage ist also nicht so berflssig als es scheint. Von der antiken Tragçdie, in welcher die beiden antagonistischen Kunstwelten ihre zweite Versçhnung feierten, sagt uns die Ueberlieferung, daß sie aus dem tragischen Chor entstanden sei, und ursprnglich nur Chor und nichts als Chor gewesen. Nietzsche erklrt, daß der Chor einen fingirten Naturzustand bedeutet, in welchem fingirte Naturgeschçpfe, Satyre, dem von der Civilisation mit Ekel erfllten Menschen den Trost spendeten, daß hinter aller Civilisation „das Leben im Grunde der Dinge trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstçrbar mchtig und lustvoll sei.“ Den tiefsinnigen Hellenen, der das furchtbare Vernichtungstreiben der Weltgeschichte und die Grausamkeit der Natur angeschaut hat und in Gefahr ist, sich nach buddhaistischer Verneinung des Willens zu sehnen, rettet die Kunst. Der Satyrchor zeigt ihm das Erhabene, die knstlerische Bndigung des Entsetzlichen, das Komische, die knstlerische Entladung vom Ekel des Absurden, und ist somit die rettende That der griechischen Kunst. Die dionysische Erregung vermag auch der ganzen Zuschauermasse die knstlerische Begabung mitzutheilen, sich von solch’ einer Gei-
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sterschaar umringt zu sehen und sich innerlich eins mit ihr zu wissen. „Nach dieser Erkenntniß haben wir die griechische Tragçdie zu verstehen, als den dionysischen Chor, der sich immer von Neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet…. In mehreren aufeinander folgenden Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragçdie jene Vision des Dramas aus, die durchaus Traumerscheinung …. andererseits aber, als Objektivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erlçsung im Scheine sondern im Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein darstellt“. Wie sich Aeschylus, Sophokles, Aristoteles und tutti quanti verwundern wrden, wenn sie es hçrten! Freilich „aber mssen wir zugeben, daß die vorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen den griechischen Dichtern, geschweige den griechischen Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist“, sagt Nietzsche. Dazu waren allerdings andere Potenzen erforderlich, die Goethe verstanden haben, wenn er ihnen anrth: Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.
Zu Schanden gegangen ist die griechische Tragçdie durch Euripides und Sokrates. Schon Sophokles „wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptantheil der Wirkung anzuvertrauen“, aber Euripides und vor Allem Sokrates, der „spezifische Nicht-Mystiker“, der ohne natrlichen Schauder vor dem Tode in den Tod ging und das neue Ideal der edlen griechischen Jugend wurde, sind die Hauptschuldigen. „Man vergegenwrtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Stze: Tugend ist Wissen; es wird nur gesndigt durch Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glckliche; in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragçdie. Denn jetzt muß der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muß zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein nothwendiger, sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscendentale (?) Gerechtigkeitslçsung des Aeschylus zu dem flachen und frechen Princip der „poetischen Gerechtigkeit“ mit seinem blichen deus ex machina erniedrigt.“ „Die optimistische Dialektik treibt mit der Geißel ihrer Syllogismen die Musik aus der Tragçdie: d. h. sie zerstçrt das Wesen der Tragçdie, welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustnde, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren lßt“. John Smith, der Mormonenstifter, hat Glubige gefunden, vielleicht findet sie auch Friedrich Nietzsche. In Sokrates haben wir „den Typus einer vor ihm unerhçrten Daseinsform zu erkennen, den Typus des theoretischen Menschen …. Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches Gengen am Vorhandenen, wie der Knstler, und ist wie jener vor der praktischen Ethik des Pessimismus . . . geschtzt“. Aber
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whrend der Knstler bei jeder Enthllung der Wahrheit immer nur mit verzckten Blicken an dem hngen bleibt, was auch jetzt nach der Enthllung noch Hlle bleibt, genießt und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hlle und hat sein hçchstes Lustziel in dem Prozeß einer immer glcklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthllung“. Als ob der Knstler nicht gleichfalls die eigene Kraft braucht! „Darum hat Lessing, der ehrlichste theoretische Mensch, es auszusprechen gewagt, daß ihm mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei: womit das Grundgeheimniß der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Aerger der Wissenschaftlichen, aufgedeckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser vereinzelten Erkenntniß, als einem Exceß von Ehrlichkeit, wenn nicht des Uebermuthes, eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschtterliche Glaube, daß das Denken, an dem Leitfaden der Kausalitt, bis in die tiefsten Abgrnde des Seins reiche, und daß das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinkt der Wissenschaft beigegeben und fhrt sie immer und immer wieder zu ihren Grnzen, an denen sie in Kunst umschlagen muß: als auf welche es eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehn ist“. Offenbar hat der Professor eine Wahnvorstellung von der Wissenschaft; keine einzige wird ihm einrumen, sie maße sich an, in die tiefsten Abgrnde des Seins zu reichen. Fr dieses Mal bleibt uns nur noch eine Frage an den Verfasser auf dem Herzen: Seite 21 ist ihm die Musik das Abbild des Ur-Einen, und zugleich eine Wiederholung der Welt und ein zweiter Abguß derselben, also erstens unmittelbares und zweitens mittelbares Abbild des Willens; Seite 28 kann die Musik ihrem Wesen nach unmçglich Wille sein, denn der Wille ist das an sich Unsthetische, aber sie erscheint als Wille; Seite 86 ist die Musik nicht, wie die anderen Knste, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst, – weiß er klar und bestimmt, wofr er die Musik eigentlich hlt? II. Gegenwrtig sehen wir in den hçchsten Sphren der uns umflutenden Welt die durch Sokrates erweckte Gier der unersttlichen optimistischen Wissenschaft in tragische Resignation und Kunstbedrftigkeit umgeschlagen, auf den niederen Stufen ußert dieselbe Gier sich kunstfeindlich und verabscheut insbesondere die dionysisch-tragische Kunst, die sie berhaupt nicht begreift und noch weniger versteht – meint Herr Professor Nietzsche. Man muß nmlich wissen: „Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen Kategorie des Scheines und der Schçnheit begriffen wird, ist das Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzuleiten; erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums …. Die metaphysische Freude am
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Tragischen ist eine Uebersetzung der instinktiv unbewußten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die hçchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berhrt wird …. Ein ganz verschiednes Ziel hat die Kunst des Plastikers: Hier berwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung, …. der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zgen der Natur hinweggelogen. In der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an: Seid wie ich bin! Unter dem unaufhçrlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schçpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter! Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins berzeugen: nur sollen wir diese Luft nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen …. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fhlen dessen unbndige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dnkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Uebermaß von unzhligen, sich in’s Leben drngenden und stoßenden Daseinsformen… Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glcklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind.“ So schildert Nietzsche die tragische Weltbetrachtung und stellt ihr die sokratisch-theoretische gegenber, die in dem „Glauben an die Ergrndlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens“ bestehen soll. Natrlich herrscht zwischen beiden ewiger Kampf. Durch Vernichtung des Mythus gab der rastlos vordringende Geist der optimistischen Natur der Tragçdie den Todesstoß, aber jetzt erfllt sich ihr eigenes Geschick. „Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Frchte dieses Optimismus reifen,…. wenn der Glaube an das Erdenglck Aller, wenn der Glaube an die Mçglichkeit einer solchen allgemeinen Wissenskultur allmhlich in die drohende Forderung eines solchen alexandrinischen Erdenglcks umschlgt! Man soll es merken: die alexandrinische Kultur braucht einen Sklavenstand, . . . aber sie leugnet … die Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Effekt ihrer schçnen Verfhrungs- und Beruhigungsworte von der „Wrde des Menschen“ und der „Wrde der Arbeit“ verbraucht ist, einer grauenvollen Vernichtung entgegen.“ Nun kommt die soziale Revolution, wie kann man sie abwenden? „Wer wagt es ….. an unsere blassen und ermdeten Religionen zu appelliren, die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen entartet sind, so daß der Mythus, die nothwendige Voraussetzung jeder Religion, bereits berall gelhmt ist.“ – Die theoretische Kultur kann sich mit eigener Kraft nicht retten, aber Kant und Schopenhauer haben den Sieg ber den Optimismus errungen, der unserer Kultur zu Grunde liegt, sie haben das trgerische Wesen dieser auf
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Raum, Zeit und Causalitt ruhenden Erscheinungswelt nachgewiesen, haben gezeigt, daß der eigentliche Kern der Dinge anderswo zu suchen sei, und, sagt Professor Nietzsche: „Mit dieser Erkenntniß ist eine Kultur eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage: deren wichtigstes Merkmal ist, daß an die Stelle der Wissenschaft als hçchstes Ziel die Weisheit gerckt wird, die sich, ungetuscht durch die verfhrerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet, und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigene Leiden zu ergreifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blickes, mit diesem heroischen Zug ins Ungeheure, denken wir uns den khnen Schritt dieser Drachentçdter, die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwchlichkeitsdoktrinen jenes Optimismus den Rcken kehren, um im Ganzen und Vollen „resolut zu leben“: sollte es nicht nçthig sein, daß der tragische Mensch dieser Kultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragçdie … begehren … muß?“ Drastische Mittel! Sagt euch von der Wissenschaft los, marschirt heroisch ins Ungeheure, lebt resolut aus dem Vollen und Ganzen und erzieht euch selber zum Ernst und zum Schrecken. Habt ihr den Trank im Leibe und befindet euch schlecht, desto besser: vielleicht giebt es eine Tragçdie, und dem „Willen“ schadet er gar nichts, was fr den Professor die Hauptsache bleibt. Die griechische Kultur degenerirte, weil ihr der dionysische Geist entschwand, der dionysische Geist entschwand ihr, weil die wissenschaftliche Sokratik ihn hinraffte, – „welche Hoffnungen mssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten Auspizien den umgekehrten Prozeß, das allmhliche Erwachen des dionysischen Geistes in unserer gegenwrtigen Welt verbrgen! … Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Kultur nichts gemein hat, … die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mchtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.“ Wir erleben die Wiedergeburt der Tragçdie, unter unseren Augen geht sie vor sich, und wir sind in Gefahr, „weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten zu kçnnen, wohin sie will.“ Rath holen kçnnen wir nur von den Griechen, die gleiche Zustnde durchgemacht, nur in umgekehrter Ordnung; aber wenn Helden wie Goethe, Schiller und Winckelmann vergeblich sich anstrengten, die verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg fhrt, was bliebe uns Epigonen zu hoffen, wenn sich uns „nicht plçtzlich, an einer ganz anderen, von allen Bemhungen der bisherigen Kultur unberhrten Seite die Pforte von selbst aufthte – unter dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragçdienmusik.“ Nun kommt es nur noch auf zweierlei an; erstens, daß wir das Zeug haben, dionysisch empfnglich zu sein; – dann stellt die Tragçdie zwischen die uni-
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versale Geltung ihrer Musik und uns: den Mythus, ein erhabenes Gleichniß, und erweckt uns den Schein, als sei die Musik nur ein hçchstes Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen Welt des Mythus. „Dieser edlen Tuschung vertrauend darf sie jetzt ihre Glieder zum dithyrambischen Tanze bewegen und sich unbedenklich einem orgiastischen Freiheitsgefhl hingeben, in welchem sie als Musik an sich, ohne jene Tuschung, nicht zu schwelgen wagen drfte.“ Zweitens aber mssen wir so unmittelbar verwandt mit der Musik sein, daß wir in ihr gleichsam unseren „Mutterschooß haben und mit den Dingen fast nur durch unbewußte Musikrelationen in Verbindung stehen.“ Leisten wir das, so beehrt uns der Professor mit der Frage, ob wir uns „einen Menschen denken kçnnen, der den dritten Akt von „Tristan und Isolde“ ohne alle Beihlfe von Wort und Bild, rein als ungeheuren symphonischen Satz, zu perzipiren im Stande wre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflgel zu verathmen? Ein Mensch, der wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat, der das rasende Begehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartesten zerstubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergießen fhlt, er sollte nicht jhlings zerbrechen? Er sollte es ertragen in der elenden glsernen Hlle des menschlichen Individuums, den Wiederklang zahlloser Lust und Weherufe aus dem „weiten Raum der Weltenmacht“ zu vernehmen, ohne bei diesem Hirtenreigen der Metaphysik sich seiner Urheimath unaufhaltsam zuzuflchten? Wenn aber doch ein solches Werk als Ganzes perzipirt werden kann, ohne Verneinung der Individual-Existenz, wenn eine solche Schçpfung geschaffen werden kçnnte, ohne ihren Schçpfer zu zerschmettern – woher nehmen wir die Lçsung solches sonderbaren Widerspruches?“ Gewiß werden verhltnißmßig nur wenige Menschen der zweiten Forderung gengen kçnnen, aber auch die musikalisch geringer Begabten erfreuen sich in Wagnerschen Opern der Dekorationen und der Handlung. Im Namen derer, die bei einer Wagnerschen Symphonie entzweigehen wrden, antwortet der Professor: Das dionysisch fast zersprengte Individuum wird gerettet durch apollinische Kraft, die mit dem Heilbalsam einer wonnevollen Tuschung selbst das Tonreich ihm wie eine plastische Welt gegenbertreten lßt, indem sie das Mythusbild vor ihm hinzaubert. „Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache des Dionysus: womit das hçchste Ziel der Tragçdie und der Kunst berhaupt erreicht ist.“ In auffallender Weise berhrt Nietzsche die dionysische Kunst fr sich, ohne apollinische Zuthaten, wie sie vor der Geburt der Tragçdie, seiner Ansicht nach, in Griechenland zu Hause war, und wie etwa Bach, Haydn, Mozart, Beethoven und Andere sie bten, gar nicht, er kommt immer wieder auf den Mythus, den apollinischen Theil, zurck. „Ohne Mythus geht jede Kultur ihrer gesunden, schçpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab. Alle Krfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem
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wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus mssen die unbemerkt allgegenwrtigen dmonischen Wchter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwchst, … selbst der Staat kennt keine mchtigeren ungeschriebenen Gesetze, als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbrgt.“ Man sieht deutlich, es geht ohne Mythus nicht von der Stelle, und wir haben doch keinen Mythus! Was thun? „Es scheint kaum mçglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden Mythus berzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueberpflanzen heillos zu beschdigen: als welcher vielleicht einmal stark und gesund genug ist, jenes fremde Element mit furchtbarem Kampfe wieder auszuscheiden, fr gewçhnlich aber siech und verkmmert oder in krankhaftem Wuchern sich verzehren muß.“ Gewiß, Herr Professor, wir wollen uns keinen fremden Mythus einimpfen; unrecht Gut gedeiht nicht, lehrt der sokratische Alexandrinismus, – aber was fangen wir an? Die Sache gewinnt ein verhngnißvolles Aussehen, wir kçnnen ohne Mythus nicht gedeihen, wir haben ihn nicht, wir bekommen ihn nicht, – da, in hçchster Noth, zeigt uns Professor Nietzsche den Retter: „Wenn der Deutsche zagend sich nach einem Fhrer umblicken sollte, der ihn wieder in die lngst verlorene Heimath zurckbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt, – so mag er nur dem wenig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der ber ihm sich wiegt, und ihm den Weg dahin deuten will.“ Das also wre des Pudels Kern: Richard Wagner soll im deutschen Volke Mythenkreise zum Leben wecken, die seit tausend Jahren nur Einzelnen mehr sind, als verblaßte, einer abgestorbenen Kultur angehçrende Nebelgestalten! Man muß der Wissenschaft in bedenklichem Grade den Rcken gewandt haben, um dergleichen fr mçglich zu halten. Nietzsche ruft einmal aus: „Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragçdie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorber: krnzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knieen niederlegen.“ Wir gehçren zu seinen Freunden nicht, wir wrden uns wundern, wenn das geschhe, und scheiden von ihm mit der Bitte, sich nicht zu wundern, wenn die Tiger und Panther, welche der dionysische Mensch zchten wird, ihn zerreißen.
Tappert, Wilhelm: Der dritte deutsche Musikertag in Leipzig. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 4, Nr. 23 vom 6. 6. 1873, S. 341. Die Zeit verging rasch; als ich wieder im Preuss. Hof anlangte, war nicht nur das Statut glcklich zu Stande gebracht, sondern auch – zu meinem Bedauern – das Referat des Hrn. Dr. Fuchs ber Nietzsche’s hervorragend bedeutendes
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Werk: „Die Wiedergeburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ schon beendet. Nach allem, was man so erfuhr, hatte der Vortragende seine Aufgabe glnzend gelçst. [vgl. Carl Fuchs an N, Juni/Juli 1873, KGB II/4, Bf. 445, S. 269 f ]
Drseke, Johannes: Beitrge zur Wagner-Frage. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 4, Nr. 30ff vom 25.7., 1. und 8. 8. 1873, S. 438ff, 453ff, 470 ff. Beitrge zur Wagner-Frage. Lngst schon hat sich dem Verfasser und mit ihm vielen seiner musikalischen Freunde die Frage aufgedrngt, warum in aller Welt die „Deutsche Warte“, das Organ einer ausgesprochenermaassen strengen und wachsamen Kritik ber das Leben und Schaffen der Gegenwart, es niemals der Mhe werth gehalten hat, ber das Wirken und die Bestrebungen Richard Wagner’s auch nur ein Wort zu verlieren. Und doch will diese Zeitschrift in einer klaren und gewinnenden Darstellung Dasjenige in den Kreis ihrer Betrachtung ziehen, was gerade mit dem Ansehen weitreichender Wichtigkeit hervortritt und ein Gegenstand allgemeinen Interesses zu sein scheint, oder zu werden verdient. Von dem ersten, im Juli 1871 ausgegebenen Hefte abgesehen, sucht man vergebens nach einer von competenter Hand geschriebenen und zu den gewaltigen Reformbestrebungen R. Wagner’s auf dem Gebiete nationaler Kunst Stellung nehmenden Umschau. Der Herausgeber, Hr. Dr. Bruno Meyer, macht zwar sehr stark in Kunstgeschichte und Kunstkritik, versteigt sich gelegentlich auch wohl („Deutsche Warte“, Bd. II. S. 65) – warum sollte ihm allein unter den sich so wissenschaftlich geberdenden Leitern gelesener Zeitschriften es nicht gestattet sein, von dem Privilegium des freilich von ihm dort so hart gezchtigten vorlauten, beschrnkten und eitlen Dilettantismus Gebrauch zu machen? – auf das Gebiet der Musik; doch fhlt er sich augenscheinlich auf diesem von Streitkrften durchhallten und durch den Staub der Kmpfenden etwas unbersichtlich gewordenen Felde – wenn wir vorlufig sein im zweiten Mrzheft d. J. verçffentlichtes ber R. Wagner orakelndes kritisches Elaborat ausser Acht lassen – nicht so recht heimisch und hat, vermuthlich in dieser Erkenntniss, das Referat ber die „Wagnerei“ in jenem ersten Hefte der „D. W.“ dem stets „schçn“ redenden Berichterstatter der „National-Ztg.“ und der „Gartenlaube“, Hrn. Otto Gumprecht, bertragen. Dem Programm der Zeitschrift, fr die er schreibt, entsprechend, hat dieser denn in dem „Rich. Wagner in Berlin“ berschriebenen Artikel des 1. Heftes, S. 15 die Gte, einzurumen, dass einer nachdenklichen Betrachtung der knstlerischen Bestrebungen Wagner’s sich Niemand entziehen kçnne, der ein Herz habe fr die geistige Production der
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Gegenwart. Von wahrer Grçsse Rich. Wagner’s kann jedoch natrlich bei Hrn. Otto Gumprecht gar keine Rede sein, da „leidenschaftlich gesteigertes, von keinem Zweifel angefochtenes Selbstgefhl, verwegener Muth, eiserne Willenskraft zu oft die Begleiter wahrer Grçsse gewesen sind, um nicht mit dieser von den Meisten einfach verwechselt zu werden.“ Ja nicht einmal die Ehrlichkeit der Gesinnung, die nur um der Sache willen und nur nothgedrungen zur Feder greift, wird ferner von dem selbstgerechten Kritiker dem Gegner zugestanden: derselbe hat ja „nie Bedenken getragen, durch Wort und Schrift die Zahl seiner Feinde zu vermehren, denn auch sie helfen seinen Ruhm verbreiten, dienen ihm besser als die Lauen und Gleichgiltigen“; nach Otto Gumprecht sind eben Wagner’s Schriften, „smmtlich durch einen schneidigen, streitschtigen Ton gekennzeichnet“, „geflissentlich darauf angelegt, zum zornigen Widerspruch herauszufordern“. Doch wozu noch weiter den Faseleien eines solchen Berichterstatters, der sich nicht einmal bei Besprechung des von Wagner dirigirten Concerts dazu aufschwingen kann, die unbestrittene Meisterschaft desselben im Dirigiren (C moll-Symphonie) voll und ganz neidlos anzuerkennen, und seinen Kannegiessereien ber den Zweck jenes Besuchs R. Wagner’s in Berlin kostbare Zeit widmen, da ja in Allem, besonders seinen, wie zu erwarten, „schçn“ stilisirten, aber so recht leichtfertig aus dem Handgelenk hingeworfenen Urtheilen ber den Kaiser-Marsch und das in jenem Concert vorgefhrte „Walkren“Fragment, ein ganz eminentes Nichtverstndniss von Wagner’s sthetisch-kritischen Bestrebungen und musikalisch-dramatischen Schçpfungen zu Tage tritt. Bei Gelegenheit seines neuesten, in der „Gartenlaube“ vorgelegten Specimen ber „das Wagner-Theater in Bayreuth“ (Jahrg. 1873, No. 4), ergeht der geschtzte, vielseitig und tief unterrichtete Musikschriftsteller sich in Behauptungen, „welche“ – wie Dr. H. Kretzschmar in seiner grndlichen Abfertigung (Zur Wagner-Frage. „Mus.“ Wochenbl.“, 4. Jahrg. No. 7) treffend bemerkt – „anderen Kennern des betreffenden Sachverhaltes als Belege eines sehr oberflchlichen Wissens, zum Theil vollstndiger Ignoranz und einer sehr leichtsinnigen und hçherer, selbstndiger Auffassung baaren Kritik gelten mssen“, sodass ein weiteres Eingehen auf die schçnrednerischen Modephrasen Otto Gumprecht’s auch in der „Deutschen Warte“ berhaupt vollstndig berflssig ist. So Hr. Otto Gumprecht in der „Gartenlaube“, so in der „Deutschen Warte“ Bd. I, Heft 1. Damit ist Richard Wagner nun ein fr alle Male in letzterer Zeitschrift abgethan. Doch nein – ein weiterer Passus; im Programm der „D. W.“ besagt, dass die wichtigeren neuen Schriften, auch wenn sie nicht zu essayartiger Behandlung ihres Stoffs Veranlassung bieten, von Fachmnnern in kritisch eingehender Weise besprochen werden, und dass dabei der Grundsatz gilt, dass jedes in der „Deutschen Warte“ zur ausfhrlichen Berichterstattung zugelassene Werk eine gewisse Bedeutung haben muss, die freilich auch darin bestehen kann, dass es wesentlich und wichtig erscheint, vor demselben zu warnen und seinen Standpunct anzufechten. Nun erwartet Jedermann, dass
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Wagner’s Schriften, deren Gesammtausgabe seit Grndung der „D. W.“ rstig fortgeschritten ist, doch auch einmal zu einer ausfhrlicheren Berichterstattung zugelassen worden seien; allein auch dies ist abermals eine vergebliche Hoffnung. Spricht etwa Hr. Dr. Bruno Meyer jenen Schriften ihre Bedeutung ab, die doch nach Hrn. Gumprecht’s „befremdlichem“ und fast bereilt erscheinendem Gestndniss darin besteht, dass „ihrer nachdenklichen Betrachtung sich Niemand entziehen kann, der ein Herz hat fr die geistige Production der Gegenwart“? Oder fehlt „es Hrn. Dr. Bruno Meyer gar an letzterem Erforderniss? Das testimonium ex silentio ist freilich bei Handhabung jeglicher Kritik eine bedenkliche Waffe; aber muss es in dem vorliegendem Falle nicht geradezu zu einem fr den Betreffenden schwer gravirenden Argument werden, wenn wir auf die Lnge der Zeit blicken, whrend welcher Hr. Bruno Meyer sammt seiner „Deutschen Warte“, dem erklrten Wchter ber das geistige Schaffen der Gegenwart, den Schriften Wagner’s mit frostigem Schweigen den Rcken gekehrt hat? Endlich jedoch ist nun das auch einmal mit R. Wagner sich befassende epochemachende Werk erschienen, nmlich: „Richard Wagner. Eine psychiatrische Studie von Dr. Th. Puschmann“ – das man denn auch nicht verfehlt; mit den auf Effect berechneten Einleitungsworten: „Die Scene wird zum Tribunal“ in den kritischen Besprechungen der Bcherschau („D. W.“ IV. Heft 6. S. 379 ff.) den Lesern der „Deutschen Warte“ vorzufhren. Wenn auch diesmal bei dem nun in Frage stehenden Referat Hrn. Otto Gumprecht das Wort nicht ertheilt ist, so doch jedenfalls wieder einem jener „sich wissenschaftlich geberdenden Belletristen, welche mit einer gewissen biederen Calomnie ber Alles schreiben, was sie selbst nicht verstanden haben“. Dass die kecken, aller Objectivitt und Wissenschaftlichkeit baaren Behauptungen Dr. Puschmann’s mit unverkennbarem Behagen zustimmend wiedergekut werden, ist selbstverstndlich. Inzwischen hat bekanntlich ein Fachmann, Dr. Franz Herrmann, der psychiatrischen Studie Dr. Puschmann’s mit seinen „Streiflichtern“ so grndlich heimgeleuchtet, wie es das elende Machwerk eben verdient. Derselbe hat, von vielen anderen usserst verdienstlichen Erluterungen abgesehen, vor Allem die Ungeheuerlichkeiten der Puschmann’schen Diagnose mit unerbittlich strenger Kritik aufgedeckt. Darnach sind es ganz besonders Wahnvorstellungen activer Art („Ps. St.“ S. 21. 27. 28), mit denen der nur noch bemitleidenswerthe R. Wagner behaftet ist: „ein zgelloses Ausschweifen des unbegrenzten Wollens“ u.s.w.; „Ps. St.“ S. 29 finden wir „Ideenarmuth“, „geistige Verçdung“, „bedauernswerthe Geistesleere“; spter: „innere Verwahrlosung“, „innere Hohlheit“, „geistige Ohnmacht“; S. 33 treffen wir auf den „Verfolgungswahn“, also Wahnvorstellungen, die nicht aus dem Gefhle des Herrschens, sondern des Beherrschtwerdens oder Leidens hervorgehen; spter S. 52, finden wir wieder „psychische Schwche“; S. 55 „cerebrale Stçrungen“. „Daraus zieht Jeder“, sagt Dr. Herrmann, „Streiflichter“ S. 109, „den Schluss, dass ein hçchst eigen-
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thmlicher Fall hier vorliegen msse. Wer hat je einen Kranken gesehen, bei welchem alle Formen geistiger Entartungen, zu gleicher Zeit vorhanden gewesen wren, psychische Depressions-, Exaltations- und Schwchezustnde? Wer leidet noch wie Wagner seit Jahren an, den verschiedenartigsten Wahnvorstellungen, an cerebralen Stçrungen, wer ist wie Wagner „geistig ohnmchtig“, und zehrt an den „Residuen seiner Jugend“; wer befindet sich in einem Zustande beginnender oder schon vorhandener Paralyse und schreibt zugleich ein Werk wie „Tristan“ oder den „Nibelungenring“? Der Herr Verf. wollte, nebenbei bemerkt, mit seiner ps. St. Wagner einen „Spiegel“ vorhalten, dass er sich darin erkenne und „Heilung und Genesung“ finde; zu gleicher Zeit lsst er aber seinen Patienten an einer unheilbaren Krankheit leiden: an „psychischer Schwche“, „cerebralen Stçrungen“. Eine solche Diagnose ist ein Unding, und hat Hr. Dr. Puschmann damit den wissenschaftlichen Werth, die Lebensfhigkeit seiner ps. St. selbst untergraben und vernichtet.“ – : Dazu kommt, dass nach der Ansicht der grçssten psychiatrischen Autoritten „die Frage, ob ein Individuum geisteskrank sei, nur durch die sorgfltigste persçnliche Exploration entschieden werden kann“ – welch letztere Dr. Puschmann, der dieses, seine ganze Diagnose ber den Haufen werfende Wort Griesinger’s kennen sollte, berhaupt nicht angestellt hat, noch hat anstellen kçnnen. Sein ganzer Beweis, dass Wagner geisteskrank sei, ist mit einer ganz eigenthmlichen, an chronisch gewordener Inconsequenz leidenden Logik durch Citate, und zwar – wie Dr. Herrmann meisterhaft nachweist – vielfach tendenziçs ausgewhlte und zugeschnittene Citate aus den Schriften Wagner’s, („Das Kunstwerk der Zukunft“, „Kunst und Revolution“, „Oper und Drama) gefhrt, die, wie Jedem begannt ist, Ende der 40er und Anfangs der 50er Jahre geschrieben und vollendet sind, d. h. zu einer Zeit, in der Wagner, nach Angabe des Hrn. Dr. Puschmann („Ps. St.“, S. 29) „Grosses und Schçnes“ geschaffen hat, und noch schaffen konnte, zu einer Zeit, wo er noch nicht geisteskrank war. Doch wozu hierber so viele Worte verlieren? – Wer Ohren hat zu hçren, der hçre! Der hçre – wenns ihm sonst nicht lngst bekannte Dinge, sind –, was Dr. Herrmann in seinen alle, selbst die geheimsten Falten des Puschmann’schen Werkes durchleuchtenden Streiflichtern in musterhaft objectiver und echt wissenschaftlicher Weise zur Sache redet. Mit dem Recensenten der „Deutschen Warte“ wollen wir seiner Rohheit und Unwissenheit wegen nicht rechten, sondern vielmehr mit dem Herausgeber Hrn. Dr. Bruno Meyer, und zwar darber, dass er vorerst seinen Berichterstatter hat Dinge schreiben lassen, die er mit seiner grndlicheren Bildung und vor seinem besseren Wissen unmçglich verantworten kann. So stellt unser Kriticus (unterzeichnet J. S.) den letzten Werken Wagner’s, den „Meistersingern“, „Tristan und Isolde“, „Rheingold“ in seiner tiefen Allwissenheit das schmeichelhafte Prognostikon: „Fr die Dauerndes bewahrende Kunstgeschichte wird ihre „Zukunft“ gewiss bald Vergangenheit geworden sein“. – Beweis? „Sie tragen, sagt der Verfasser hart, doch nicht ungerecht“, – wie fein und weise ist doch diese
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Zugabe eigenen Senfs! – „durchweg den Stempel einer geistigen Mittelmssigkeit, einer flchtigen Unfertigkeit und wilden Zerrissenheit; sie erreichen nicht im Entferntesten die geistige Hçhe, den inneren Adel der frheren Werke; sie sind nach Inhalt und Form, in Wort und Ton unschçn, zerfahren, verwahrlost.“ Und das wird Leuten aufgetischt, die meist nur im Stande sind, dergleichen Urtheile einfach zu adoptiren! Ich frage nun mit dem Verfasser der „Streiflichter“ (S. 87): Ist damit eine Kritik gebt oder nicht? eine Kritik, die Hrn. Dr. Puschmann, nach seiner eigenen ausdrcklichen Erklrung, berhaupt fern lag? Wenn es aber klar und unzweifelhaft ist, dass nur ein auf sicherste Grnde – vergebens suchen wie solche, in der psych. Studie, vergebens bei deren Nachtreter J. S. in der „Deutschen Warte“, vergebens, in dem an jene Worte anknpfenden Elaborat des Herausgebers, Hrn. Dr. Bruno Meyer – gesttztes Urtheil als wissenschaftlich und nur dieses als die einzig wahre und allein richtige Kritik gelten kann; wenn, ferner der Urheber der auf das Durchblttern Wagner’scher Schriften gesttzten und deren Verfasser vor der Welt brandmarkenden Wahnsinnstheorie auf der einen Seite jenes und andere, Anstands halber nicht zu wiederholende Urtheile, abgibt, auf der anderen Seite aber erklrt: es „lag uns eine Kritik fern“, so hat er damit offenbar etwas gethan, was er entweder nicht wollte oder nicht wusste. Der Widerspruch kann nicht schroffer, nicht schneidender gedacht werden. Ihn nicht erkannt und als solchen gekennzeichnet, sondern ihn unbesehen und berhaupt in einen Weise, die doch fr eine sich sonst wissenschaftlich haltende Zeitschrift unerhçrt sein sollte, unter die Leute gebracht zu haben, ist die durch keine, selbst sofort unter jene Kritik gesetzte, und diese etwas modificirende Retractation wieder gut zu machende Schuld des Herausgebers der „Deutschen Warte“, des Hrn. Dr. Bruno Meyer. Zweitens lsst derselbe seinen Berichterstatter dem Hrn. Dr. Puschmann nachrhmen, dass ihm „mit allem Recht“ – das Aristotelische „Mitleid und Furcht“ gengt noch nicht, es muss auch der strkste sittliche Unwille erregt werden – als ein sehr bedeutsames Moment zur Beurtheilung Wagner’s „die in den genannten letzten Werken immer unverhllter und nackter hervortretende Sinnlichkeit“ erscheine: „in „Tristan und Isolde“ glorificirt er den Ehebruch, in der „Walkre“ sogar die Blutschande.“ – Weiss das Hr. Dr. B. Meyer nicht besser, oder will er es nicht wissen, weil gerade jene donnernden und blitzenden Orakelsprche in Verbindung mit dem Folgenden den verhassten Wagner unzweifelhaft moralisch vernichten mssen? „Es ist wirklich ein grosses Pech („Streiflichter“ S. 99), dass man Wagner nicht als den Erfinder dieser „Unsittlichkeiten“ hinstellen kann. Leider hat er mit dem Stoffe, den er der altgermanischen Sagenwelt entlehnte, auch sie herbergenommen. Sie entstanden in der kalten, eisigen Heimath jener wahren Naturmenschen mit dem warmen und keuschen Herzen. Sie finden sich weit ab von dem sittenverdorbenen Rçmerreiche in den entlegenen idyllischen Waldgrnden der noch unverdorbenen nordischen Vçlker.“ Da sehen wir unsere heldenhaften Vor-
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fahren in ihrer reinsten Menschlichkeit; wir sehen sie irren und fehlen und dem todbringenden Verhngniss zum Opfer fallen, sie bssen ihre Schuld mit dem Leben. Welchem gefhlvollen Herzen ist aber damit nicht volle Shne geschehen? Wer kann sich da noch verletzt und sittlich gekrnkt fhlen? Wessen Moral kommt dadurch in Gefahr und Schaden? Doch nur Dessen, der unter kranken, verbildeten Verhltnissen aufgewachsen, die zarte Schwche eines Treibhauspflnzchens in seinem Innern birgt, „das, von, einem herben aber frischen und krftigen Luftzuge berhrt, sein sieches Leben schnell beschliesst. Dass aber ein urkrftiger, gesunder Odem aus den wundervollen, naturwahren Dichtungen unserer Voreltern uns anweht, wird Niemand bestreiten wollen.“ Doch genug. Ich glaube weitergehen zu kçnnen und verweise statt weiterer Citate auf Wagner’s Werke selbst, die jeden Unbefangenen am besten belehren, und, auf Dr. Herrmann’s lichtvolle, gerade hierauf bezgliche Auseinandersetzungen in seinen „Streiflichtern“, S. 7–27. Ich bezeichnete soeben schon die Stelle, an welcher Hr. Dr. Bruno Meyer einsetzt, um auch seinerseits als Kritiker ber Wagner und seine Bestrebungen zu glnzen. Rckhaltloser und bndiger als sein musikalischer Referent, trgt er zunchst kein Bedenken, das Puschmann’sche Buch als taktlos zu charakterisiren. „Taktlos“, sagt er, „kann es genannt werden, weil innerhalb der guten Sitte der Gesellschaft çffentliche rcksichtslose Kritik einer Person eine ungewçhnliche, man darf sagen: eine unerhçrte Erscheinung ist.“ Das lsst sich hçren, und Jeder wird gern damit einverstanden sein; leider – wir bedauern das Hrn. Dr. Br. Meyer’s wegen aufrichtig – kommt noch ein gar bçses, giftiges „aber“ nachgehinkt, denn er fhrt, unmittelbar nach den letzten Worten, fort: „Sie ist es aber, weil kein Knstler oder sonst çffentlich wirkender Mensch – eben mit Ausnahme von Richard Wagner – den schlechten Geschmack hat, seine Person mit Gewalt mit auf den Schauplatz der Oeffentlichkeit zu schieben, und sich als Mensch ausdrcklich mit seinen Werken solidarisch zu erklren. Wenn da dem Menschen einmal ein solches Unglck auf dem kritischen Kampfplatze passirt, wie es meist nur einzelne Werke oder eine Anschauungsweise und geistige Richtung zu ereilen pflegt, so ist das Schauspiel im Interesse der allgemeinen Humanitt bedauerlich: dem Betreffenden – oder vielmehr Betroffenen – aber geschiehts schon Recht; warum fordert er zu dieser neuen Gattung der Kritik heraus!“ – Ist es mçglich? dachte Schreiber dieses bei sich, als er jenen Passus gelesen; hat das wirklich der Redacteur der „Deutschen Warte“ geschrieben, ohne dass ihm sein Anstandsgefhl vollkommen abhanden gekommen ist? Wie? Gesellt er sich damit nicht als der Dritte dem edlen Bunde der HH. Dr. Puschmann und Alfred Dove bei, denen Prof. Dr. Fr. Nietzsche zu Neujahr („Mus. Wochbl.“ IV. No. 3, S. 38) ein so herzstrkendes vivant, crescant, floreant! zurief ? Ich erinnere damit an bekannte Dinge, kann es mir aber nicht versagen, in den Wortlaut jenes Neujahrsgrusses – der Hr. Verf. desselben wird nichts dawider haben – auch noch den Herausgeber der „Deutschen Warte“
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ausdrcklich mit aufzunehmen. Mçgen sie besonders, das wnschen wir allen Dreien fr die Zukunft, sich baldigst mit einander, zu gegenseitiger Fçrderung, ber die wirksamsten Geheimmittelchen, durch wissenschaftlich klingende Marktschreierei sich (oder ihr bedrucktes Blatt Papier) in Umlauf zu bringen, recht intim verstndigen. Gewisslich wird der so feierlich angeredete Geist Puschmann’s nicht umsonst beschworen sein; frderhin wird er Hrn. Alfred Dove und Hrn. Bruno Meyer in der beschwerlichen Aufgabe untersttzen mssen, den unnatrlichen Geschmacksgelsten der Leser des „Neuen Reiches“ und der „Deutschen Warte“ psychiatrisch in befriedigender Weise beizukommen. Was nun Hrn. Bruno Meyer’s kritisches Elaborat anlangt, so wird es sich empfehlen, nicht einzelnen herausgegriffenen Stzen mit Sonde und Secirmesser zu Leibe zu gehen, sondern seine in drei Gruppen geordneten Gedanken in ihrem Zusammenhange aufzusuchen und genauer zu prfen. „Die ganze Wagnerei“ – hebt der Verf. mit der Sicherheit eines systematisch geschulten Fachmannes an – „hat drei Fehler, denen sie die energische Anfeindung zu verdanken durch die sie dieselbe aber auch reichlich verdient hat, – drei Fehler, abgesehen natrlich von dem pq_tom xeOdor der persçnlichen Aufdringlichkeit Wagner’ s“. Wir lassen die in letzteren Worten ausgesprochene ganz colossale, nur durch ihre Keckheit und Selbstgewissheit dem Laien imponirende Anschuldigung am besten rein auf sich beruhen; es gibt eben Dinge, die so stark sind, der Wahrheit so ins Gesicht schlagen, dass diese am klgsten sich in stolzes Schweigen hllt, die Widerlegung getrost den Thatsachen und dem Urtheil der Geschichte berlassend. Was aber Hr. Dr. Bruno Meyer mit jener gelehrten Reminiszenz dem pq_tom xeOdor in dem vorliegenden Zusammenhange will, ist absolut unerfindbar, das mag er mit seiner Philologie verantworten. Liess sich denn in unserer so reichen deutschen Muttersprache, deren ernste Pflege Hr. Dr. Br. Meyer, sonst ja so gern als eine in erster Linie nationale Aufgabe bezeichnet, kein Wort, kein Ausdruck finden, um den tiefen, hier augenscheinlich mit innerster Nothwendigkeit zur sichtbaren Gestaltung sich durchringenden Gedanken mit hellem, klarem Gewande zu umhllen, statt, ihn mit fremdlndischem Flitter zu behngen? Die Geschichte der Philosophie freilich berichtet von manch einem pq_tom xeOdor, von manch einer ersten Lge, einer Erschleichung in der ersten Begrndung von Principien oder Verknpfung von Schlussfolgerungen, die wohl fr ein ganzes System mit nothwendiger Consequenz des Gedankens verhngnissvoll werden msste; wie aber eine menschliche Eigenschaft, hier die sonst vçllig unbekannte „persçnliche Aufdringlichkeit Wagner’s“, eine solche Erschleichung ein, noch dazu mit der Kraft, „manche Gehssigkeit veranlasst zu haben“, begabtes pq_tom xeOdor soll genannt werden kçnnen, ist, wie gesagt, in der That nicht einzusehen. Habeat sibi. –
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Jene drei Fehler der Wagnerei nun sind: „Die absprechende und bermthige Ausschliesslichkeit, der erschlichene Heiligenschein des „Nationalen“, und der als Evangelium verkndete Wahn, einen neuen verheissungsvollen Weg fr die Zukunft gefunden und erçffnet zu haben.“ „Ueber die Ausschliesslichkeit als lcherlichen Fehler lohnt es kaum zu sprechen“. Mit Verlaub, gestrengster Censor, wir sind so unglcklich zu whnen, die Sache sei entschieden doch noch lohnend, und kçnnen uns nicht entbrechen, jenen „lcherlichen Fehler“ uns noch ein wenig genauer bei Lichte zu besehen. „Ein ganz klein wenig“, heisst es weiter, „historische Kenntnis von der Art und Weise, wie sich knstlerische Entwicklungen vollziehen (nicht in einer Kunst, sondern in jeder Kunst), eine Kenntnis, die leider in musikalischen Kreisen nur allzusparsam und mangelhaft vertreten ist, gengt, um die unerschtterliche Ueberzeugung zu gewinnen, dass eine Bahn, welche die Kunst zur Hçhe der Mozart und Beethoven emporgefhrt hat, kein Holzweg gewesen ist, und dass in keiner, keiner bisher (oder selbst gar nicht cultivirten Form der musikalischen Hervorbringung das ausschliessliche Heil der Zukunft fr die Musik liegen kann. Mit wie mitleidigem Achselzucken und aus tiefster Brust geseufztem „leider“ blickt hier der Kunstschriftsteller von Fach seiner Wissensflle sich stolz bewusst auf die armen Musiker herab und auf ihre allzu sprlichen und mangelhafte „Kenntniss der Art und Weise wie sich knstlerische Entwickelungen vollziehen“! Und wie genau zeigt er sich mit diesem Kenntnissstande vertraut! Also es fehlt noch an der „unerschtterlichen Ueberzeugung“, dass eine Bahn, welche die Kunst zur Hçhe der Mozart und Beethoven emporgefhrt hat, kein Holzweg gewesen ist? Wer in aller Welt stellt denn das in Abrede? Etwa die Musiker? Gewiss nicht! Aber freilich gibts ja immer noch: Leute, die da meinen – Hr. Dr. Bruno Meyer scheint auch zu Denen zu gehçren –, dass in der Kunst ein weiterer Fortschritt nicht mçglich; dass der Versuch, in der Erkenntniss der Wahrheit und des Schçnen immer weiter vorzudringen, ein schwerer Frevel an der Verehrung jener jetzt von der Geschichte als heilig gepriesenen Classiker sei: nun, mit solchen Unverstndigen ist eben ber dergl. Dinge berhaupt nicht zu reden. Doch vielleicht ist es gerade auch hier wieder R. Wagner, der hinsichtlich jenes von Dr. Br. Meyer berhrten Dogmas sich unglubig oder gar piettlos zeigt? Gewiss hat es dem geistvollen; von der Nothwendigkeit des Fortschritts ganz durchdrungenen, fr seinen besonderen Beruf energisch und unerschtterlich wirkenden Mann“ wie Marx („Musik des 19. Jahrhundert“, S. 164 f.) nennt, nicht an derartigen Vorwrfen gefehlt, aber wiederum nur von Seiten der Unverstndigen, die nicht belehrt sein wollen. Wer Wagner’s Schriften selbst kennt, wer selbst gelesen, wie selten klar und bewusst dem Meister das Verhltnis ist, in dem er selbst zu seinen Vorgngern steht, wie dankbar er bei-
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spielshalber zu Beethoven aufschaut, der weiss, was er von so eigensinnig wiederholten Beschuldigungen zu halten hat. Doch was faselt Hr. Dr. Br. Meyer, nur von den verschiedenen Formen der musikalischen Hervorbringung, in deren keiner, wie er ngstlich vorweg bestimmt, das ausschliessliche Heil der Musik fr die Zukunft liegen kann? „Mçglich“, fhrt er fort, „das sich eine solche zu einer noch nicht geahnten Wichtigkeit erheben kann; aber Monopole stark prononcirter Manieren – und eine Manier in des Wortes verwegenster Bedeutung ist die Wagner’sche Musik – haben nur in knstlerisch verwahrlosten Zeiten und nie zu Gunsten des wahrhaft und dauernd Bedeutenden existirt.“ Wem es bisher noch nicht klar geworden sein sollte, dass wir es hier mit einem der offenherzigsten Vertreter jenes Hrn. Dr. Br. Meyer auf anderen Gebieten so verhassten vorlauten, beschrnkten, und eitlen Dilettantismus zu thun haben, der wird jetzt hoffentlich davon berzeugt sein. Die verschiedenen Formen der musikalischen Hervorbringung mçgen zur Lust und zur Freude der Menschen bis in infinitum cultivirt werden, dagegen wird Niemand, Wagner am allerwenigsten, jemals etwas einzuwenden haben, Niemand freilich auch so abstruse Erwartungen daran knpfen, wie gerade der Herausgeber der „Deutschen Warte“. Doch von dergl. Dingen darf hier gar keine Rede sein, in dem vorliegenden Falle kann es sich nur um das Hçchste und Umfassendste handeln, um die Oper, und zwar die – wie R. Wagner verlangt und leistet – in der innigsten Verbindung und Verschmelzung von Musik und Dichtung bestehende, um das musikalische Drama; und dass in dieser Frage die Forderung der Ausschliesslichkeit eine berechtigte, eine nothwendige ist, das wird je lnger je mehr trotz aller Beckmesser anerkannt werden, und damit zwar nicht – wie Hr. Dr. Bruno Meyer in seiner beschrnkten Auffassung meint – „das ausschliessliche Heil der Zukunft fr die Musik“ erstrebt, sondern vielmehr das Erblhen der wahrhaft deutschen, echt nationalen Kunst berhaupt gesichert sein. Allein das ist natrlich fr Kritiker von der Art eines Bruno Meyer berhaupt ein unverstndlicher, ein unfassbarer Gedanke. Fr solche ist „die Wagner’sche Musik“ nichts weiter als „eine Manier in des Wortes verwegenster Bedeutung“, – soweit ist man glcklich mit tiefem sthetischkritischen Verstndniss vorgedrungen! – und „Monopole stark prononcirter Manieren haben nur in knstlerisch verwahrlosten Zeiten und nie zu Gunsten des wahrhaft und dauernd Bedeutenden existirt“. Was unter Letzterem zu verstehen, bedarf nach dem Bisherigen keiner Erluterung, und wo die Verwahrlosung nach dem Sinne Bruno Meyer’s zu suchen, ist ebenfalls klar. Wir drehen den Spiess um und constatiren mit tiefem Ernst, dass allerdings unsere Kunst, ein Erzeugniss jener unserer auf dem Princip der Wissenschaft aufgebauten alexandrinischen Cultur lautredendes Zeugnis ablegt von allgemeinen Verwahrlosung und der allgemeinen Noth, in welcher sie seitdem sie begonnen, unlogisch zu werden, d. h. vor ihren eigenen Consequenzen zurckzuschrecken rettungslos dem Abgrunde zutreibt: „Umsonst“, – sagt Prof. Dr. Friedrich
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Nietzsche in seinem goldenen Buche „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ S. 104, auf welches ich mich im Folgenden noch çfter zurckbeziehen werde, zugleich um dadurch zu sorgfltigstem Studium desselben zu reizen, einem Buche, das aus deutschestem, durch das Studium der Hellenen verklrten und geadelten Geiste geboren, eine wahrhaft nationale, eine rettende That genannt zu werden verdient, aber dem Schwrme der zunftmssigen Kritiker natrlich mit sieben Siegeln verschlossen bleiben wird, – „dass man sich an alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst, dass man die ganze „Weltlitteratur“ zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Knstler aller Zeiten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe: er bleibt doch der ewig Hungernde, der Kritiker ohne Lust und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bcherstaub und Druckfehlern elend erblindet. Ein solcher Alexandriner nun ist auch Dr. Bruno Meyer, wenn er so, wie wir gesehen, ber die Ausschliesslichkeit der von Richard Wagner ins Leben gerufenen Kunst als „lcherlichen Fehler“ redet und mit den diesem Anfang entsprechenden Worten schliesst: „Dem Kenner der Geschichte erstrebt also Wagner keinen feinen Ruhm“. Wie es mit der Geschichtskenntniss des Herausgebers der „D. W.“ steht, ist aus dem Bisherigen zur Genge ersichtlich. Zum Glck urtheilen andere Mnner, deren tiefes Verstndniss und richtiges Urtheil in musikalischen Dingen unbestritten ist, ein wenig anders. Statt vieler nenne ich nur – Dr. Ludwig Nohl’s Zeugniss wird von Bruno Meyer mit unerhçrtem Uebermuth verabscheut – Dr. Franz Brendel, der in seiner „Gesch. der Musik“, Bd. II. S. 292 schreibt: „Mit Wagner trat die Oper wieder an die Spitze der Entwickelung, und wir haben nur eine Geistesgrçsse aufs Neue in dieser Sphre: die von Beethoven ausgegangene grosse Bewegung mndet aus in der Wagner’schen Oper. Wagner’s Kunstschçpfungen bilden den Abschluss derselben und zugleich den Anfangspunct fr eine neue grossartige Umgestaltung.“ Und S. 298: „Durch Wagner ist der Weg bezeichnet worden zu einer Melodiebildung anderer Art, einer Melodiebildung, die aus der innigsten Einheit von Wort und Ton entsteht, nicht wie die bisherige absolut musikalische Melodie das Wort nur als Unterlage benutzt“ u.s.w. Vergleicht man diese Urtheile mit den Proben colossalen Missverstndnisses, die Hr. Bruno Meyer bisher gegeben, so kann man es Richard Wagner wahrhaftig nicht verargen, wenn ihm eine solche Sorte von sthetischen Kritikern in tiefster Seele verhasst ist, Kritikern, die, um von vielen Mngeln einen der wichtigsten herauszugreifen, von einer Rckkehr zur Urheimath, von einem Bruderbunde der beiden Kunstgottheiten in der aus dem Geiste der Musik geborenen Tragçdie, des Apollo, als des verklrenden Genius des principii individuationis, durch den allein (Nietzsche, „Geb. der Trag.“, S. 86) die Erlçsung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist, und des mit mystischem Jubelruf den Bann der Individuation zersprengenden, und den Weg zu den Mttern des Seins, zu dem innersten Kern
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der Dinge erçffnenden Dionysus, und von der sowohl apollinischen als dionysischen Erregung des Zuhçrers nichts zu berichten wissen (Nietzsche, a.a.O. S. 128), whrend sie nicht mde werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den Sieg der sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragçdie bewirkte Entladung von Affecten mit einer Unverdrossenheit als das eigentlich Tragische zu charakterisiren, die den Gedanken nahe legt, sie mçchten berhaupt keine sthetisch erregbaren Menschen sein und beim Anhçren der Tragçdie vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen. – Wir kçnnten getrost von dem ersten Passus des Meyer’schen Specimen Abschied nehmen, wenn nicht eine in den Anfang desselben gestellte Concession uns die erwnschteste Gelegenheit bçte, „die Forderung der als ,lcherlicher Fehler‘ verspotteten Ausschliesslichkeit noch etwas tiefer zu begrnden. „Wenn man nmlich“, geruht der Herausg. der „D. W.“, das Werthverhltniss der „Nibelungen“-Trilogie zu den frheren Werken Wagner’s, abwgend, zu bemerken, „in Wagner’s Theorie statt des von ihm anmaasslich behaupteten ausschliesslich ein angemesseneres ,auch‘ setzt und sich darber verstndigt, dass die so formulirte Theorie – bis auf deren pedantische Consequenz –, wir wollen also einmal sagen: alles Gute in ihr, nicht neu und eigenthmlich ist, so hat Wagner Recht, so gutes Recht, wie irgend ein tchtiger Knstler fr seine Subjectivitt und seine Eigenthmlichkeit hat. Ganz unbedingt ist auf der Opernbhne auch – aber ebenso unbedingt nicht: ausschliesslich! – ein recitirend gesungenes Drama berechtigt; nur thut dieses unbedingt Unrecht, peinlich, grundstzlich auf die der Musik naheliegendsten Mittel, auf gelegentliche Wiederholungen der Textesworte, sowie auf Chor- und Ensemblestze zu verzichten“. Schon die zuletzt angefhrten Worte Dr. Fr. Brendel’s deuteten den gewaltigen, von R. Wagner gemachten Fortschritt in der Musik an. Doch von einem solchen will Hr. Br. Meyer berhaupt nichts wissen, es wandelt sich ja so bequem in den Geleisen des Alten und Hergebrachten, ein „grundstzliches Verzichten“ auf den alten Schlendrian ist daher in seinen Augen ganz „unbedingt Unrecht“. Erinnern wir uns bei dieser Gelegenheit kurz der Entstehung der Oper, des stilo rappresentativo und des Recitativs und vergegenwrtigen wir uns, dass es heute, in unserer modernen Oper, im Wesentlichen noch ebenso steht. Dem Snger (Nietzsche, a.a.O., S. 105 ff.), der, um dem auf das Wort erpichten Zuhçrer zu gengen, in einem Halbgesange, den pathetischen Wortausdruck verschrfend, stets in der Gefahr schwebt, durch musikalische Entladung und zu virtuosenhafte Prsentation, seiner Stimme Pathos und Deutlichkeit zugleich zu vernichten, kommt der „Dichter“ dadurch zu Hilfe, dass er ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen Interjectionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u.s.w. – was Hr. Dr. Bruno Meyer mit tiefem Verstndniss „die der Musik naheliegendsten Mittel“ nennt – zu bieten weiss, „an welchen Stellen (Nietzsche, a.a.O., S. 105) der Snger jetzt in dem rein musikalischen Elemente, ohne Rcksicht auf das Wort, ausruhen kann. Dieser
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Wechsel affectvoll eindringlicher, doch nur halb gesungener Rede und ganz gesungener Interjection, der im Wesen des stilo rappresentativo liegt, dieses rasch wechselnde Bemhen, bald auf den Begriff und die Vorstellung, bald auf den musikalischen Grund des Zuhçrers zu wirken, ist etwas so gnzlich Unnatrliches, …, dass man auf einen Ursprung des Recitativs zu schliessen hat, der ausserhalb aller knstlerischen Instincte liegt“. Nichtsdestoweniger galt der neue Stil (S. 106) „als die Wiedererweckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen: ja man durfte sich, bei der allgemeinen und ganz volksthmlichen Auffassung der homerischen Welt als der Urwelt, dem Traume berlassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfnge der Menschheit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene unbertroffene Reinheit, Macht und Unschuld gehabt haben msste, von der die Dichter in ihren Schferspielen so rhrend zu erzhlen wussten. Hier sehen wir in das innerlichste Werden dieser recht eigentlich modernen Kunstgattung der Oper: ein mchtiges Bedrfniss erzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedrfnis unsthetischer Art: die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des knstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper als das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch guten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einem natrlichen Kunsttriebe folgt, das bei Allem, was es zu sagen hat, wenigstens etwas singt, um bei der leisesten Gefhlserregung sofort mit voller Stimme zu singen.“ In jenem unsthetischen Bedrfniss also in der optimistichen Verherrlichung des Menschen an sich, des von Natur guten und knstlerischen Menschen, hat die Oper ihren Ursprung, sie ist im eigentlichsten Sinne die Geburt des theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nicht des Knstlers, eine der befremdlichsten Thatsachen in der Geschichte aller Knste. Weil der kunstohnmchtige Mensch „die dionysische Tiefe der Musik nicht ahnt, verwandelt er sich den Musikgenuss zur verstandesmssigen Wort- und Tonrethorik der Leidenschaft im stilo rappresentativo und zur Wohllust der Gesangesknste; weil er keine Vision zu schauen vermag, zwingt er den Maschinisten und Decorationsknstler in seinen Dienst; weil er das wahre Wesen des Knstlers nicht zu erfassen weiss, zaubert er vor sich den „knstlerischen Urmenschen nach seinem Geschmack hin, d. h. den Menschen, der in der Leidenschaft singt und Verse spricht. Er trumt sich in eine Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, um Gesnge und Dichtungen zu erzeugen: als ob je der Affect im Stande gewesen sei, etwas Knstlerisches zu schaffen. Die Voraussetzung der Oper ist ein falscher Glaube ber den knstlerischen Process und zwar jener idyllische Glaube, dass eigentlich jeder empfindende Mensch Knstler sei. Im Sinne dieses Glaubens ist die Oper der Ausdruck des Laienthums in der Kunst, das seine Gesetze mit dem heiteren Optimismus des theoretischen Menschen dictirt“. Fern ist somit der Oper jener elegische Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr lacht allberall „die Heiterkeit des ewigen Wiederfindens
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(S. 110), die bequeme Lust an der idyllischen Wirklichkeit, die man wenigstens sich als wirklich in jedem Augenblicke vorstellen kann“. Was ist aber fr die Kunst selbst von dem Wirken einer Kunstform zu erwarten, deren Ursprnge berhaupt nicht im sthetischen Bereiche liegen, die sich vielmehr aus einer halb moralischen Sphre auf das knstlerische Gebiet hinbergestohlen hat und ber diese hybride Entstehung nur hier und da einmal hinwegzutuschen vermochte?“ Auf das Verhngnissvollste hat bereits die Oper mit ihrem Getndel ihren schlimmen Einfluss auf die Musik und deren gesammte moderne Entwickelung geltend gemacht, es ist dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie reprsentirten Cultur lauernden Optimismus in bengstigender Schnelligkeit gelungen (S. 111), „die Musik ihrer dionysischen Weltbestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen, vergnglichen Charakter aufzuprgen“. Nur Einer ist da, der den Muth und die Kraft hat, den Kampf gegen jene in der modernen Oper sich spiegelnde alexandrinische Heiterkeit aufzunehmen, und der ihn seit einem Menschenalter mit sieghafter Ueberlegenheit fast allein gefhrt hat, ein Mann, mit der Flle deutschen Geistes zwiefltig gesalbt, Richard Wagner. Daher jene unerbittlich strenge, aber unerbittlich nothwendige Forderung absoluter Ausschliesslichkeit, die Hr. Bruno Meyer in seinem launenhaften Unverstnde fort und fort eine „absprechende und bermthige“ schelten mag, ohne dass es ihm gelingen wird, das nach den allersichersten Auspicien bevorstehende allmhliche Erwachen des dionysischen Geistes mittelst einer zum ewigen Urquell unseres Seins zurckstrçmenden und an den Griechen sich orientierenden Bewegung in unserem Volke zu verhindern. Durch die letzten Ausfhrungen, meine ich, erledigt sich Dr. Bruno Meyer’s dritter Vorwurf, der mit dem ersten auf das Engste verknpft ist und mit ihm steht und fllt, ganz von selbst: „Wagner irrt drittens und beschwçrt den Widerspruch herauf, indem er behauptet, der Kunst der Zukunft die breite Bahn gebrochen zu haben. Es soll dabei von der khnen Ueberspringung seiner Grenze, von dem Hinausschweifen ber das musikalische Gebiet in eine umfassende Kunst abgesehen, und es sollendem Meister die Hanswurstiaden (!) eines Nohl ber deutsche Litteratur nicht zur Last gelegt werden. Nur von der Musik ist hier die Rede. Wagner’s Kunst hat durch nichts ihren Anspruch begrndet – von ihrer ausschliesslichen Berechtigung kann nach dem Frheren berhaupt keine Rede sein –, fr die Zukunft stimmfhrend zu sein und den Hauptstrom der knstlerischenen Entwickelung zu reprsentiren. Sie wird hçchstens eine von mehreren ungefhr gleich wichtigen Heerstrassen dahinwandeln, – vielleicht (und selbst nicht unwahrscheinlich) aber auch sich als Sackgasse (risum teneatis, amici?) darstellen, aus der die Hineingerathenen – noch glcklich genug – hoffentlich durch einen dunklen, engen Durchgang in irgend eine gangbare und aussichtsreiche Hauptstrasse werden einlenken kçnnen“. Die Worte bedrfen nach dem Bisherigen keines Commentars und keiner weiteren Erwiderung.
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Solange eben der elende alexandrinische Kritiker, der fr die eigene Rohheit nur eine lgnerisch verhllende Form, fr die eigene empfindungsarme Nchternheit, etwa wie Otto Jahn, Otto Gumprecht, Hr. v. Dommer – Bruno Meyer drften wir als musikalischen Laien eigentlich gar nicht ernstlich dahin rechnen –, einen sthetischen Vorwand sucht, das Publicum beherrscht; solange durch ebendenselben jeder Student, jeder Schulknabe – Dr. Bruno Meyer ruft bereits die „Secundaner oder Primaner“ zu Zeugen auf –, ja selbst das harmloseste weibliche Geschçpf wider sein Wissen durch Journale u.s.w. zu einer gleichen Auffassung jedes Kunstwerks gestimmt und vorbereitet wird; solange es absolut noch an der allseitigen Erkenntniss mangelt, dass unsere heutige Kunst zu; einem Unterhaltungsobject der niedrigsten Art herabgesunken ist, und die sthetische Kritik nur als das Bindemittel einer eitlen zerstreuten selbstschtigen und berdies rmlich-originalen Geselligkeit benutzt wird, so dass zu keiner Zeit so viel ber Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist (Nietzsche, „Geb. der Trag.“ S. 130): solange wird derjenige Knstler, der, seiner Begabung und seinen Absichten nach, sich ber jeden einzelnen derartiger verbildeter kritischer Zuschauer erhaben weiss, der, wenn er nicht aus der Wahrheit geboren wre und fr diese Zeugniss abzulegen sich berufen fhlte, unter den Keulenschlgen seiner Misserfolge lngst vor der Mitte seiner Laufbahn zusammengebrochen wre, nimmermehr die Verpflichtungen sich fhlen kçnnen, sich jener Kraft zu accommodiren, die ihre Strke nur in der Zahl hat, sondern er wird unbeirrt und muthig die betretene Bahn verfolgen und unsere knstlerische Entwickelung, maassgebend fr alle Zukunft, zu den hçchsten Hçhen, wie sie eben unseres deutschen Volkes wrdig sind, emporfhren. Es erbrigt schliesslich noch mit wenigen Worten des zweiten von Hrn. Bruno Meyer der „Wagnerei“ vorgeworfenen Fehlers zu gedenken, „des erschlichenen Heiligenscheins des Nationalen“. Das Aushngeschild des Nationalen ist fr Wagner und seine Anhnger nur ein Werkzeug der Reclame, weil augenblicklich in Nationalitt augenscheinlich ein gutes Geschft ist. Allen aber, die mit dem Herzen an dem Wohl und Wehe des nationalen Wesens betheiligt sind, klingt dieser Begriff, zur Reclame herabgewrdigt, wie Blasphemie, wie Entheiligung.“ Wiederum, ein recht erbauliches Zeugniss von der erbrmlichen Pygmengesinnung unserer schwindelbedrftigen [die Puschmann’sche „Psych. Studie“ ist bereits in dritter Auflage erschienen!] Tage. Doch wozu alle die Giftpfeile sammeln, deren Spitzen, wenn anders noch der Sinn fr Recht und Wahrheit nicht ausgestorben ist, gegen Die, so sie entsenden, unsere modernen Alexandriner, heissen sie Bruno Meyer oder Otto Gumprecht oder sonst wie, sich zurckwenden mssen? Wozu noch zum hundertundersten Male auseinandersetzen, was jenen Beckmessern fehlt? Von dieser jeder deutschen Tiefe und Universalitt der Betrachtung baaren Anschauung legt denn auch die folgende mikroskopische und mikrologische Untersuchung des, wie behauptet wird, von R. Wagner „erschlichenen Heiligen-
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scheins des Nationalen“ Zeugniss ab. „Wagner“, heisst es, „ist bis zu einem gewissen Grade populr, auf wie lange, steht dahin und geht uns nichts an; aber er ist weder national, noch wird er es je werden. Wollte er den Anspruch, ein „nationaler“ Knstler zu sein, auf die Musik begrnden, so wrde er den Ruhm mit allen deutschen Componisten theilen; denn abgesehen davon, dass wir mehr und gediegenere Musik gehabt haben, und in Folge dessen noch haben, als die anderen Nationen, ist die Musik – ihrer Bedeutungslosigkeit, d. h. ihres Mangels an concretem Inhalte und der Allgemeinheit ihres Gefhlsausdruckes wegen – die internationalste, will sagen unnationalste aller Knste. Darauf, dass er als Deutscher seinen grossen knstlerischen Ruf errungen hat, kann er auch nicht fussen; denn es ist nichts weniger als fraglos, dass Weltruhm vorzugsweise durch specifisch nationale Kunstleistungen erworben wird; auch wrden smmtliche berhmten Deutschen dann genau ebenso national sein wie er“. Eine so khne Prophezeiung wie im ersten Satze in die Welt zu schleudern, ist ganz in der Weise des modernen Kritikers; doch ist es wahrlich im Interesse der von dem Herausgeber der „Deutschen Warte“ beschirmten Kunst sehr zu bedauern, dass Hr. Bruno Meyer trotz seiner langjhrigen Beschftigung mit den Priestern und Propheten der Kunst, jngst auch mit einem Propheten des Menschenthums, das Weissagen dabei doch nicht gelernt hat. Es hiesse Eulen nach Athen tragen und wrde an diesem Orte viel zu weit fhren, wenn ich die in den ausgehobenen Worten Bruno Meyer’s latitirende irrige Ansicht vom Wesen der Musik, dem Verhltniss von Ton, Bild und Begriff, in extenso widerlegen wollte; ich verweise, auf Richard Wagner’s Schriften selbst sowie auf Schopenhauer („Welt als Wille und Vorstellung“ I. p. 309 ff.) und Prof. Nietzsche, welch letztere Beide (bei Besprechung der „Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“) nicht einmal der Recensent des „Litterarischen Cenralblatts“ (1873, No. 7) vçllig verstanden hat, geschweige denn, dass er die unschtzbar wichtigen aus der geistvollsten und grndlichsten antiquarisch-philologischen Interpretation des griechischen Alterthums sich ergebenden Resultate in ihrem fr unsere nationale Kunst vorbildlichen Charakter zu erkennen und zu wrdigen gewusst htte. Ich frage nur: Ist denn etwa die Philosophie weniger Gemeingut aller Vçlker, als die Musik? Und doch reden wir mit Stolz von einer deutschen Philosophie, die, durch Kant und andere Ritter des Geistes begrndet und fortgefhrt, die zufriedene Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik durch den Nachweis der Grenzen ihres Erkennens vernichtete und damit zugleich eine unvergleichlich tiefere und ernstere Betrachtung der sittlichen Fragen und der Kunst einleitete und anbahnte? Ist denn das nicht derselbe deutsche Geist, wie er in der Musik von Bach bis Beethoven und von Beethoven bis Wagner aus dem tiefsten dionysischen Grunde unseres Volksthums allmhlich emporgestiegen ist, der „mit den Urbedingungen unserer welken sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklren noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser „Cultur als das Schrecklich-Unerklrliche, als das Ueber-
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mchtig-Feindselige empfunden wird“ (Nietzsche, a.a.O. S. 112)? Davon freilich weiss Hr. Bruno Meyer ebensowenig etwas, als etwa Hr. Otto Gumprecht: darum bleibt ihm schliesslich nichts weiter brig als die geistvolle Vermuthung: „Er (Wagner) kann seinen „nationalen“ Charakter hçchstens durch die Stoffe seiner musikalischen Dramen belegen wollen, und auch damit steht es mangelhaft“. „Von seinen anderen Stoffen“ (d. h. „Tannhauser“, „Lohengrin“, „Meistersinger“, „Tristan und Isolde“) „weiss es jeder Secundaner oder Primaner, dass sie nicht daran denken, jemals deutsch national gewesen zu sein; noch weniger kçnnen sie es jetzt werden“. Sapienti sat! „Von dem Stoffe seines Hauptwerkes aber steht fest – Klopstock’s Versuch hat endgiltig bewiesen, dass die nordische Mythologie nicht wieder zu einem flssigen Culturelemente im modern deutschen Wesen zu beleben ist –, dass er nur wissenschaftlichen, nicht bewussten und empfundenen Zusammenhang mit der heutigen deutschen Nationalitt hat und haben kann.“ Kann? O si tacuisses, philosophus mansisses. Die Erwhnung des Klopstock’schen Versuchs scheint darauf berechnet zu sein, dem urtheilsunfhigen „Secundaner oder Primaner“ zu imponiren, und von sonstigen Versuchen ist es am bequemsten zu schweigen: im Uebrigen aber ergeht es Hrn. Bruno Meyer ebenso wie Hrn. Otto Gumprecht (vgl. „Mus. Wochenbl.“ 1873, No. 7, S. 103), er fhlt sich dem nationalen Mythus gegenber durch den kritisch-historischen Geist unserer Bildung so zersetzt, dass ihm selbst [und in Folge dessen – der Schluss dnkt ihn- nicht zu khn – der heutigen deutschen Nation] die Wiederbelebung des Mythus, ja berhaupt vielleicht seine einstmalige Existenz, nur auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Abstractionen glaublich und mçglich erscheint. „Ohne Mythus aber“, sagt treffend Prof. Dr. Nietzsche a.a.O. S. 132, „geht jede Cultur ihrer gesunden schçpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab“. Worauf anders weist denn wohl das ungeheure historische Bedrfniss unserer unbefriedigten modernen Cultur, das alexandrinische Aufsammeln aller Culturen der Welt, das bengstigend rastlose Whlen und Graben nach lebenfristenden Wurzeln, sei es auch unter den Trmmern der entlegensten Alterthmer, jener unersttliche Hunger, dem – ein wahres Tantalusleiden! – die krftigste, heilsamste Nahrung sich sofort bei der blossen Berhrung in „Historie und Kritik“ verwandelt, hin, wenn nicht auf den Verlust des nationalen Mythus, der mythischen Heimath? Noch aber lebt, unentweiht und innerlich gesund, in seiner Tiefe der reine, edle, krftige Geist des deutschen Volksthums. Er wird nicht immer schlummern, sondern wie er jngst, zu einer einzigen gewaltigen Kraftleistung sich aufraffend, den Romanismus mit der Schrfe des Schwertes niederschlug, so wird er auch sich auf sich selbst und seine nationalen Mythen besinnend, mit dem Schwerte des Geistes alle fremden romanischen Elemente ausscheiden, die unserem Volke in traurigen Zeiten des Verfalls eingepflanzt wurden, und unter deren schmachvoller Knechtschaft unsere Entwickelung, vor Allem unsere Kunst lange genug vergeblich geseufzt
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hat. „Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation hervorgewachsen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, so berschwnglich gut und zart tçnte dieser Choral Luther’s, als der erste dionysische Lockruf, der aus dichtverwachsenem Gebsch, im Nahen des Frhlings hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Widerhall jener weihevoll bermthige Festzug dionysischer Schwrmer, denen wir die deutsche Musik danken – und denen wir die Wiedergeburt des deutschen Mythus danken werden!“ – Reaktionen N an Erwin Rohde, 19. 3. 1874: „Herr Bruno Meier hat ber Drseke’s Beitrag zur Wagnerfrage, bauchschtternden Angedenkens, eine lange, schwere widerlegende Abhandlung geschrieben, worin ich als ,Feind unserer Cultur‘ feierlich denuncirt und brigens als verschmitzter Betrger unter Betrogenen dargestellt werde. Er schickte mir seine Abhandlung persçnlich, sogar mit Wohnungsangabe zu; ich will ihm die zwei Schriften des Wilamopses zuschicken. Das heisst doch christlich seinen Feinden wohlthun. Denn was dieser gute Meier sich freuen wird, ber Wilamopsen, das ist gar nicht auszudrcken.“ KGB II/3, Bf. 353, S. 210
Falckenberg, Richard: Nietzsche und Schletterer. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 4, Nr. 40 vom 3. 10. 1873, S. 580 f. Nietzsche und Schletterer. Voraussichtlich sind die beiden obgenannten Herren erstaunt, ihre Namen in solcher Verbindung zu erblicken, und muss ich zunchst diese Zusammenstellung zu rechtfertigen suchen. Der Baseler Professor hat im vorigen Jahre eine an tiefen Gedanken, neuen Aufschlssen und fruchtbaren Anregungen reiche Schrift: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ erscheinen lassen, die in philologischen und musikalischen Kreisen begrndetes Aufsehen und lebhafte Parteinahme fr und wider hervorrief; der Augsburger Capellmeister bergibt in diesem Jahre einen bescheidenen, im Febr. 1872 gehaltenen Vortrag „Ueber die Entstehung der Oper“ (Nçrdlingen, 1873, C. H. Beck, 112 Seiten, 18 Sgr.) der Oeffentlichkeit. Der classische Philolog tritt mit der Versicherung auf, er habe „etwas Ernstes und Eindringliches“ zu sagen; der „schlichte Musikant“ sieht sich „mit einer gewissen Bangigkeit und zweifelndem Misstrauen“ vor eine ansehnliche Versammlung von Gelehrten gestellt und bittet, die Pu-
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blication als die erste, selbstndige Monographie ber die Entstehungsgeschichte der Oper nachsichtig aufzunehmen. Der Baseler gesteht, bei Allem, was er sich erdacht, mit seinem Freunde Richard Wagner wie mit einem Gegenwrtigen verkehrt und nur etwas dieser Gegenwart Entsprechendes niedergeschrieben zu haben; bei dem Augsburger merkt man, dass er mit unserem Opernreformator in keinerlei geistigem Rapport steht, sonst wrde er manches bittere Wort, als dieser Gegenwart nicht entsprechend, ungesagt gelassen haben. Fr. Nietzsche beantwortet ein sthetisches Problem mit der Erklrung des in der griechischen Kunst zu Tage tretenden Stilgegensatzes aus zwei verschiedenen Kunsttrieben, denen er die mythologischen Namen des Apollinischen und Dionysischen beilegt, entsprechend den getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches; er lsst die attische Tragçdie vor unseren Augen aus dem Mutterschooss des dionysischen Satyrchores hervorwachsen: er construirt a priori, und zwar auf die geistvollste Weise, die Geschichte des griechischen Dramas; darin hnelt seine Methode den genialen Geschichtsconstructionen Fichte’s und Hegel’s, whrend seine Philosophie sich eng an Schopenhauer anlehnt. Von alledem findet sich bei H. M. Schletterer nichts, er ist der reine Empiriker, keine Spur von speculativen Gedanken, von geschichtsphilosophischen oder sthetischen Betrachtungen, berhaupt nicht viel eigen Gedachtes. Das Wenige beschrnkt sich auf ein paar allgemeine einleitende Bemerkungen ber den Nutzen der Musik und die weite Verbreitung ihrer praktischen Pflege einerseits, andererseits die sprliche Beachtung der Musikwissenschaft seitens der Familienjournale und des durch sie beeinflussten Publicums und – leider auch – seitens der Gelehrten; auf mitleidigen Tadel ber die „unklaren, aber die Phantasie usserst erhitzenden Vorstellungen ber die Musik der Alten“ bei den Italienern der Renaissance; auf entrstete Hinweise auf „die Prunksucht und Schwelgerei eines an Bildung zwar hervorragenden, aber sittlich verderbten Hofes“, aus deren Mitte die Opernfestspiele sich herausgebildet htten, auf rhmende Erwhnung Dessen, was Gluck’s eiserne Energie fr die Oper Gewaltiges gethan, und wie der edle Mozart nebst dem begeisterten Beethoven sie so schçn zur Vollendung gefhrt habe (nebenbei werden auch Weber und Spohr erwhnt); endlich auf wohlgemeinte Vorschlge zur Hebung der der Oper anhaftenden Missbruche und Unnatrlichkeiten, als da sind Sinn und Sittenlosigkeit, Gedankenleere und Oberflchlichkeit. Sonst ist das Bchlein nur eine sorgfltige, anmerkungstrotzende Materialiensammlung, an der wir neben Lesbarkeit und hbsch getroffener Auswahl von Textstellen in Uebersetzungen von A. W. Schlegel, Gries und H. Mller auch gern die Uebersichtlichkeit lobend hervorheben wrden, wenn nicht die wohlannehmbare Gliederung in drei Stufen, welche die dramatische Musik in ihrer Hçherentfaltung durchluft, erst Seite 100 gleichsam als unwesentlicher Nachtrag angefgt, und die so wichtige Entwickelung des Einzelgesanges bis zur ausgebildeten Arienform hinauf in eine knappe Anmerkung S. 101 – 102 verwiesen worden wre. Das Bestreben des Verfassers,
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seine Hçrer und Leser fr das Thema zu interessiren, wird des Erfolgs weder entbehrt haben, noch ferner entbehren – uns wenigstens hat die Lecture gefesselt, und kçnnen wir das Bchlein mit gutem Gewissen allen Denen empfehlen, welche die Zeiten der kunstpflegenden Huser Medici, Este und Gonzaga, der Dichter Poliziano, Tasso, Guarini, Rinuccini, der Musiker Peri, Caccini; Cavalieri und Monteverde in gerundeter Gruppirung an sich vorberziehen lassen wollen. Die aus grndlicher Quelleneinsicht geschçpfte und eingehende Beschftigung mit dem Gegenstande verrathende Darstellung der Anfnge des italienischen Dramas bietet dem Lernbegierigen manches Wissenswerthe, und die eingestreuten anschaulichen Beschreibungen der Volks und Hoffestlichkeiten sind lustig genug zu lesen. Hçchst bemerkenswerth sind die auszugsweise mitgetheilten Vorreden der Componisten zu ihren Partituren, worin die „neuerfundene Gesangsweise“ und die freie Behandlung der Dissonanzen gerechtfertigt und genaue Vorschriften fr die Bhnenauffhrung gegeben werden. Der Leser kann sichs kaum versagen, Vergleiche zwischen damals und jetzt anzustellen, durch welche auf gewisse Erscheinungen der Gegenwart ganz neue und ber vieles Auffallende berraschende Aufklrung gebende Lichter fallen. – Durften wir soweit dem Verfasser (von dem die Rckseite des Umschlags noch eine „Geschichte der kirchlichen Dichtung und geistlichen Musik“, einen „Praktischen Unterricht im Chorgesange“ und „Sechs feine liebliche Melodien zu lustigen Liedern“ angibt) fr seine Gabe nur Dank wissen, so kçnnen wir doch nicht umhin, ber den prophetisch ausschauenden Blick in die Zukunft, wie ihn der Schluss des Buches erçffnet, ernstlich mit ihm zu rechten. Dort steht zu lesen: „Es ist unbestrittene Thatsache, dass eine Kunst ausartet und sinkt, wenn sie gegen die ewigen Gesetze der Schçnheit sndiget“ (wirklich? – noch nicht dagewesen!), „wenn rohe Aeusserlichkeiten lsterner Kitzel und das Haschen nach plumpsinnlichen Effecten an Stelle tieferen Gehaltes und idealer Kunstschçnheit treten. Die grosse Menge, nur geblendet von Effect und ewig drstend nach neuen Reizungen hat in Sachen der Kunst ebensowenig ein Urtheil wie der oberflchliche, oft blasirte Kunstenthusiast“. (Zu welchen von beiden rechnet sich Schletterer? oder muss fr ihn erst noch eine neue besondere Kategorie erfunden werden?) „Nur dem momentanen Erfolge huldigend, werden beide sich stets vor dem jngstgeborenen goldenen Kalbe in den Staub werfen. Aus dem gleichen Gefsse, aber aus dem wir heilenden Trank und ssse Labung schlrfen, kann uns sinnverwirrendes Gift geboten werden. Wiederum sehen wir die Oper an einen Abgrund von Aeusserlichkeiten, Schwulst und Effecten einerseits und oberflchlichem, leerem, gedankenlosem Klingklang andererseits gedrngt. Hoffen wir, dass der Tonkunst bald ein neuer schçpferischer Geist, in einem gottbegnadeten Manne erstehen mçge, in dem die eiserne Willenskraft Gluck’s, der edle Geschmack und das Streben nach Idealitt und Einfachheit Mozart’s und die feurige Begeisterung und der hinreissende Gedankenflug Beethoven’s in Eins verschmolzen sind. Dieser
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Mann sei uns der musikalische Held der Zukunft!“ – Klingt das nicht ganz wie August Reissmann? – Ich habe nicht unterlassen kçnnen, am Rande meines Exemplars zu bemerken: „wenn der gottbegnadete Held der Zukunft nicht schon erstanden ist!“ Hier ist der Punct, wo wir die Parallele zwischen Nietzsche und Schletterer wieder aufnehmen mssen. Jener vernimmt schon ber sich ertçnend den wonnig lockenden Ruf des dionysischen Vogels, der als Fhrer das deutsche Volk zurckbringe in die verlorene Heimath des Mythos; dieser hçrt den Lockruf des Vogels nicht, oder wenn er ihn hçrt, dnkt es ihn widriges Gekrchz einer Krhe. Jenem ist der Held der Zukunft erschienen: ihm nach! ruft er, auf dem khnen Fluge ins mythische Heimathsland, auf dass eine neue Tragçdie sich gebre aus dem Geiste der Musik! – dieser blickt hoch sehnschtig hinaus, harrend auf einen knftigen Messias der Oper. Und was fr eine Forderung stellt er an einen solchen gehofften Messias, dass er ihn als den echten erkenne? Ungefhr dieselbe, als htten zu Shakespeare die Zeitgenossen gesprochen: Vereinige du in dir die Eigenschaften des Aischylos, Sophokles und Euripides; whrend uns doch Shakespeare gerade dadurch so hoch und theuer ist, dass er nichts von dem, sondern einzig und allein und ganz nur Shakespeare ist – oder zu Luther: Bist du nicht Petrus und Paulus in einer Person, folgen wir deinem Rufe nicht – oder zu Beethoven: Sei Haydn und Mozart zugleich! Aus chemischer Mischung entsteht kein Organismus. Und wollte Schletterer im Ernst dem Manne, der von Vielen gescholten und belchelt, von Wenigen geliebt und verstanden, seine einsame steile Strasse hohen Zielen zu fest und unverrckt gewandelt ist, „eiserne Willenskraft“ und „ideales Streben seinem Kunstschaffen „feurige Begeisterung und hinreissenden Gedankenflug“ absprechen! Das Einzige wre, dass unsere heutige „Einfachheit“ gegen die vielgepriesene Mozartische ein weniges complicirter geworden ist, gemss einer im Laufe von mehr als 80 Jahren wohl begreiflichen Umwandlung des „Geschmackes“. Aber kennt denn der Herr Capellmeister nicht den schçnen Spruch von Denen, „die den Besten ihrer Zeit genug gethan“? – Eines kçnnen wir zum Schluss Herrn Schletterer zum Troste sagen: die Anfeindungen und bitteren Schmhungen, welche Prof. Nietzsche und sein gewaltiges Werk von Seiten bel wollender Gegner erfahren hat, werden ihm wohl erspart bleiben; ich bezweifle, dass sich ein Wilamowitz-Mçllendorf erheben und mit einer „Vergangenheitsphilologie“ oder dergleichen sich selbst in bçsen Leumund bringen und gegen seinen Willen dem Angegriffenen zu grçsserer Berhmtheit und allgemeinerer Anerkennung verhelfen wird.
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Reaktionen Erwin Rohde an N, 14. 10. 1873: „Der Verfasser von ,Nietzsche und Schletterer‘ ist ein Studiosus in Jena. Warum lßt sich denn aber F[ritzsch] mit solchen grnen Hasenfßen ein?! – Endlich: Wer lobte ,Geburt‘ und ,Afterphilologie‘? Professor Wenzel, genannt der ,Kater‘, kintschesken Angedenkens!“ [Die Anspielung auf Professor Wenzel ist keiner Rezension eindeutig zuzuordnen. N kannte Prof. Ernst Wenzel aus Leipzig aus dem dortigen Cafe Kintschy aus seiner Studentenzeit, vgl. KGB II/7,2, S. 545] KGB II/4, Bf. 469, S. 326
Meyer, Bruno: Beitrge zur Wagnerfrage. In eigener Sache. In: Deutsche Warte. Umschau ber das Leben. Leipzig, Bd. 5, Nr. 11, November 1873, S. 641–673. Reaktion auf Drseke, Johannes: Beitrge zur Wagner-Frage. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 4, Nr. 30ff vom 25.7., 1. und 8. 8. 1873. Beitrge zur Wagner-Frage. In eigener Sache. – Wer da nichts thut als das Seine, Der schafft erst recht fr’s Allgemeine.
Im sechsten Hefte des vorigen Bandes der „Deutschen Warte“ (S. 379 fgg.) habe ich ber ein Aufsehen erregendes und sehr viel bçses Blut machendes Bchlein, die inzwischen bereits in dritter Auflage erschienene „psychiatrische Studie“ des Dr. Puschmann in Mnchen, in welcher bewiesen werden soll, daß Richard Wagner in der medicinischen Bedeutung des Wortes geisteskrank sei, einen Bericht verçffentlicht, der in einem Passus mir persçnlich Veranlassung gab, mit einer motivirten Erklrung- und Meinungsußerung – nicht ber den Menschen Richard Wagner in Bezug auf die Gesundheit seines Geistes, sondern ber den schaffenden Knstler, speciell als Autor der „Nibelungen-Trilogie“ hervorzutreten. Auf die damals angeregte Sache zwingt mich jetzt ein doppelter Grund zurckzukommen, ein ziemlich gleichgltiger, aber nicht zu ignorirender – und ein sehr unangenehmer. Jener liegt in dem Erscheinen einer Gegenschrift als Antwort auf Puschmann’s Sensationsbrochre. Dieselbe fhrt den Titel: Richard Wagner. Streiflichter auf Dr. Puschmann’s psychiatrische Studie von Dr. Franz Herrmann. Mnchen. Karl Merhoff ’s Verlag. 1873. Der Verfasser dieser Schrift hat sich die eigentlich berflssige, aber gleichwohl dankenswerthe Mhe gegeben, den Puschmann’schen Versuch, Richard Wagner fr geisteskrank zu erklren, wissenschaftlich zu nehmen und wissenschaftlich zu widerlegen. Es ist wohl kaum Jemandem eingefallen, Puschmann’s sogenannte „Studie“ fr etwas Anderes als einen geistreichen,
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wiewohl ungezogenen AperÅu unter wissenschaftlicher Maske zu halten, und demgemß erwartet man kaum so schweres Geschtz gegen denselben in’s Feuer gefhrt zu sehen. Die Wissenschaftlichkeit der Brochre war eben so ein „falscher Bart“ wie die philosophischen Alluren Pope’s in seinem „Essay on man“; und diesen neuen falschen Bart ernsthaft zu untersuchen ist eigentlich eben so komisch und abenteuerlich, wie jenen alten zum Gegenstande einer akademischen Preisfrage zu machen. Es rechtfertigt sich das hier indessen einigermaßen dadurch, daß die Ehre und das Ansehen einer bedeutenden Person dabei in Frage steht, und es sich wohl lohnte, eine dieser widerfahrene Ungebhrlichtkeit mit selbst zu ernster Waffe zurckzuweisen. Unser Verfasser zeigt, gesttzt auf die bedeutendsten Autoritten, namentlich Griesinger, daß die vorgebliche Diagnose Puschmann’s eine Ungeheuerlichkeit ist, und fhrt außerdem den Beweis, daß die Argumente Puschmann’s, d. h. die Citate aus Wagner’s Schriften – ganz abgesehen davon, daß man den Zustand eines Geisteskranken berhaupt nicht ohne genaue persçnliche Beobachtung constatiren kann – nichts weniger als mit kritischer Methode ausgewhlt und behandelt sind. – Ich wrde mit Vergngen einer Berichterstattung ber den Inhalt dieses Werkchens dieselbe Ausfhrlichkeit geben oder geben lassen, welche der frhere Bericht ber Puschmanns Schrift gehabt hat. Indessen glaube ich, daß es kaum eines Weiteren als des Hinweises auf die Existenz dieser Schrift bedarf, um Jeden, der ein Exemplar der bis jetzt verbrauchten drei Auflagen der Puschmann’schen Schrift gelesen hat, auch zur Lectre dieses Heftchens anzuregen; denn wenn irgendwo, so herscht beim großen gebildeten Publicum und bei einer çffentlichen Skandalaffaire die Neigung, dem alten ehrwrdigen Sprichworte „audiatur et altera pars“ sein Recht widerfahren zu lassen. Hauptschlich aber werde ich veranlaßt, diesen Bericht abzukrzen und etwas anderes an dessen Stelle treten zu lassen, weil mir leider durch den widerlichen zweiten Grund die Nothwendigkeit aufgedrngt worden ist, zu der „Wagner-Frage“ in eigener Sache das Wort zu dem nehmen. Ich habe nmlich ja die Unvorsichtigkeit begangen, zu dem Berichte ber Puschmann’s Schrift eine Anmerkung zu machen, durch welche ich das in der Schrift und in dem Berichte Gesagte wesentlich zu modificiren wnschte, und habe das nicht besser zu thun gewußt, als indem ich die gesammte Situation nach meiner Auffassungsweise klar legte. Ich konnte mir denken, daß ich mir mit einer solchen zwischen den streitenden Parteien vom historisch-kritischen Standpunkte aus ruhig vermittelnden Intervention beide Theile, am meisten aber die von mir geschtzte Partei auf den Hals ziehen wrde; denn den Wagnerianern muß man sich mit Leib und Seele, mit Haut und Haaren, auf Gnade und Ungnade sammt Sinn und Verstand zu Eigen geben; unapprobirtes Wissen, selbstndiges Denken und individuelles Empfinden sind in diesem Kreise verpçnt, fr Alles gelten da ausschließlich die officiellen Glaubenstze. Und so hat es mich denn auch gar nicht gewundert, vor einigen Wochen auf einer Reise in Italien zu erfahren, daß
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mir ein Herr Dr. Johannes Drseke in dem „Musikalischen Wochenblatte“ (Leipzig, E. W. Fritzsch), – Nr. 30–32 – unter derselben Ueberschrift, die ich dem vorliegenden Aufsatze geben zu mssen geglaubt habe, „Beitrge zur Wagner-Frage“, eine grndliche Belehrung habe zu Theil werden lassen. Nachdem mir jetzt auf Ersuchen durch die Freundlichkeit der Verlagshandlung die Kenntnißnahme von diesem Stck Arbeit ermçglicht worden ist, glaube ich, darauf Einiges erwidern zu mssen, so unerquicklich es auch ist, mit einem Gegner handgemein zu werden, dessen Kampfesweise ich selbstverstndlich als denkender Mensch wie als anstndiger Schriftsteller nicht fr meiner wrdig erachten kann; denn „Weise fallen in Unwissenheit, Wenn sie mit Unwissenden streiten,“ –
sagt Goethe, – und von Anfang bis zu Ende ist der Ton seines Schriftstckes der, fr den Bçrne den ewigen Typus der Bezeichnung gefunden hat: „Jedes Wort ein …“ Indessen kann mich diese Qualitt des Gegners nur veranlassen, auf eine Entgegnung an der Stelle zu verzichten, an welcher er hat zu Worte kommen kçnnen und, wie sich voraussetzen lßt, grçßtentheils ein dankbares Publicum gefunden hat. Fr das letztere wrde jede Erwiderung leerer Schall sein, denn das Unfehlbarkeitsdogma des Wagner-Cultus ist noch viel hartnckiger und intoleranter als das des ultramontanen Katholicismus; und fr die wenigen zurechnungsfhigen Leser des „Musikalischen Wochenblattes“ gengt es mir an der Stelle, daß Herr Dr., wofr ich ihm aufrichtig dankbar bin, nicht meine Aussprche in seine Sorte von geliebtem Deutsch zu bertragen versucht, sondern sie wçrtlich angefhrt hat. Ist auch nicht Alles wiedergegeben, und namentlich gerade das Positivste, das, was mich von selber gegen viele seiner Angriffe, ja gegen seinen ganzen Angriff decken mßte, (natrlich nur der Lnge der Citate wegen) ausgelassen, so habe ich zu jedem denk- und urtheilsfhigen Leser das Vertrauen, daß er meine Rechtfertigung selber durch Kenntnißnahme von Tendenz und Inhalt meines ganzen „Elaborates“ und durch Vergleich meiner Art zu denken und darzustellen mit der meines liebenswrdigen Gegners bernehmen wird. Ich habe aber das Bedrfniß, mich gerade an dieser Stelle gegen die Vorwrfe des Herren Dr. zu verantworten, weil dieselben mit einer gewissen Absichtlichkeit auch gegen den Redacteur der „Deutschen Warte“ gerichtet sind, dessen Wollen und Kçnnen sich in der Auffassung und Schilderung dieses Herzenskndigers allerdings recht vertheidigungsbedrftig ausnimmt, und ich daher ihm vor meinen Lesern zeigen mçchte, daß das noch lange nicht unverstndig ist, was einem Unverstndigen so erscheint. – Herr Dr. fragt, warum die „Deutsche Warte“ keinen von competenter Hand geschriebenen Aufsatz ber die gewaltigen Reformbestrebungen Richard Wagner’s auf dem Gebiete nationaler Kunst gebracht hat, abgesehen von demjenigen in ihrem allerersten Hefte, der durch diese Wendung doch als „von competenter
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Hand geschrieben“ anerkannt wird. Gleichwohl schwingt sich Herr Dr. sofort zu einer Verarbeitung jenes von Otto Gumprecht gegebenen Berichtes ber Richard Wagner’s Besuch in Berlin auf, die selbst dieses karge Zugestndniß aufhebt. – Auf jenen Vorwurf werde ich nun wohl mit dem Ausplaudern einiger Redactionsgeheimnisse antworten mssen. Vorher aber will und muß ich dem Befremden Ausdruck geben darber, daß Herr Dr. die geringe Mhe gescheut hat, sich mit Hlfe der sorgfltig gearbeiteten Inhaltsverzeichnisse der „Deutschen Warte“ zu orientiren, ob und wie bei mir von Richard Wagner und seinen Reformbestrebungen die Rede gewesen. Er wrde sonst gewiß die Verpflichtung gefhlt haben, Act zu nehmen von der Art, in welcher ich (Bd. III, S. 120 fgg.) die Zeitschrift „L’art libre“, die sich in Sachen der Musik als ausgesprochenes Parteiorgan der Wagner’schen Richtung ankndigte, eingefhrt habe. Er htte ferner nicht bergehen drfen, daß im vierten Bande (S. 509 fgg., im April d. J.) Wagner’s Schriftchen „Ueber Schauspieler und Snger“ eine lngere Besprechung erfahren hat, die Herr Dr., da sie sich wesentlich anerkennend und zustimmend verhlt, sicher selbst fr „competent“ erachten wird. An einige andere vergessene Momente werde ich noch weiterhin zu erinnern haben. – Zur Sache denn! Also: Wenn es einer Entschuldigung bedrfte, einen Mann wie Otto Gumprecht zum Worte kommen zu lassen, so liegt sie darin, daß ich ihn bei Uebernahme der Redaction als musikalischen Correspondenten der „Ergnzungsbltter“ vorgefunden. Außerdem habe ich mich fr das Fach der Musik der Untersttzung eines sehr geachteten Forschers erfreut, welcher die historischen Interessen des Faches dem Umfange nach ziemlich, der Leistung nach ganz ausreichend vertrat. Ich habe sodann verschiedentlich versucht, fr stndige musikalische Referate Mitarbeiter zu gewinnen; aber da die Zahl derjenigen Musikkundigen, die ihrem allgemeinen Wissen und ihrer Darstellung nach ein Anrecht htten, in den Mitarbeiterkreis der „Deutschen Warte“ einzutreten, bekanntermaßen verschwindend gering ist (daß ich meine Zeitschrift z. B. nicht mit dem Monstrestil des Herren Dr. verunreinigen kçnnte, versteht sich doch von selber), und da die wenigen Berufenen schon ber ihre Kraft vielseitig in Anspruch genommen sind, so ist es mir leider trotz vielfacher Bemhungen nicht gelungen, zu dem erwnschten Ziele zu gelangen. Natrlich ist es nicht von mir zu verlangen, daß ich in jedem Fache alle disponiblen und vielleicht gar die noch nicht entdeckten brauchbaren Krfte kenne. Wenn daher wirklich Herr Dr. und viele seiner musikalischen Freunde sich „lngst schon“ verwundert haben, daß die „Deutsche Warte“ die Wagnerei auffallend vernachlssigte, so glaube ich, htten sie ihrer Wrde nichts vergeben, wenn sie im Interesse der durch sie vertretenen Sache durch irgend einen tchtigen Schriftsteller aus ihrer Mitte in der „Deuschen Warte“ vertreten zu werden gesucht htten. Aber selbst Herr Hans von Wolzogen, der fr andere Dinge Anknpfung bei mir gesucht und gebhrendermaßen gefunden, hat mir
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beispielsweise seinen Essay ber das erste deutsche Bhnenfestspiel, das ich im „Musikalischen Wochenblatte“ finde, gar nicht einmal angeboten. Die einzige Annherung, die vom Wagnerkreise her versucht, und die nicht freiwillig unternommen, sondern durch einen Mittelsmann veranlaßt worden ist, war die des Herren Dr. Karl Fuchs, dem ich bei einer lngeren Unterredung lebhaft zur Aufzeichnung seiner Studien ber die musikalische Aesthetik zugeredet und mit der Reserve, zu der ich verpflichtet war, die „Deutsche Warte“ erçffnet habe. Es ist nicht meine Schuld, daß er von meiner Erlaubniß, hier das Wort zu nehmen, seither keinen Gebrauch gemacht hat. Eine gewisse Reserve meinerseits war nçthig, weil sie mir durch das fr meine Wirksamkeit mehr als der verçffentlichte Prospect der „Deutschen Warte“ verbindliche „Programm fr die Mitarbeiter“, welches ich mich beehren werde, Herren Dr. mit diesem Aufsatze zur geflligen Kenntnißnahme zuzuschicken, zur Pflicht gemacht wurde. Es heißt dort: „Sectirerei darf in der Zeitschrift in keiner Disciplin getrieben werden. Einseitige, oder gar eifernde Vertreter noch lebhaft angefochtener theoretischer Standpunkte sind daher von der stndigen Mitarbeiterschaft ausgeschlossen. Ich glaube, daß Herr Dr. selbst verzweifeln wird, mit diesem Maßstabe ausgerstet einen zulssigen Vertreter der Wagnerei fr die „Deutsche Warte nachzuweisen. Was ferner den Vorwurf betrifft, daß ich nicht einmal von dem Erscheinen einer Gesammtausgabe der Wagner’schen Schriften Notiz zu nehmen fr gut befunden, so kann zunchst solcher sich nur durch eine Umkehrung meines Programmgrundsatzes als scheinbar gerechtfertigt darstellen. Wenn in meinem Programme gesagt wird, daß jedes in der „Deutschen Warte“ zur ausfhrlichen Berichterstattung zugelassene Werk eine gewisse Bedeutung haben muß, – so heißt das nicht auch umgekehrt, daß jedes Werk, welches eine gewisse Bedeutung hat, auch in der „Deutschen Warte“ zur ausfhrlichen Berichterstattung zugelassen oder gebracht werden muß. Das ist einfach auch eine Unmçglichkeit, schon um deswillen, weil die neu erschienenen Bcher mit zu großer Unregelmßigkeit seitens der Verlagshandlungen der Redaction zugesandt werden, und nicht eingesandte Schriften meistentheils schon aus dem einfachen Grunde zurckstehen mssen und gar nicht einmal eingefordert werden, weil selbst das Eingesandte nicht im wnschenswerthen Umfange und mit der erforderlichen Grndlichkeit bewltigt werden kann. Die Gesammtausgabe der Wagner’schen Schriften aber ist mir bis zum heutigen Tage noch nicht zugegangen, und ich fand mich um so weniger veranlaßt, ihrethalben besondere Schritte zu thun, als ich der bloßen Zusammenstellung lngst verçffentlichter, bekannter und beurtheilter Schriften, d. h. also einem Gesammtneudruck lterer Werke, vom Standpunkte einer Revue der Gegenwart keine Alles berschattende Bedeutung beilegen konnte. Hingegen ging mir Puschmann’s psychiatrische Studie – durch den Staub, den sie aufwirbelte, eine unzweifelhaft beachtenswerthe Erscheinung – zu, und etwa gleichzeitig bersandte mir einer meiner Mitarbeiter, der als Musik-
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schriftsteller außerhalb des Wagnerkreises einen geachteten Namen hat, eine Besprechung, die ich aus Rcksicht auf die Verlagshandlung und auf den Mitarbeiter, und weil sie mir persçnlich Gelegenheit gab, ohne mich in aufflliger Weise auf einen mir fremden Kampfplatz und in den Vordergrund zu drngen, ber eine Angelegenheit von allgemeinsten Interesse meine, wie ich glaube, nach allen Seiten objectiv vermittelnde abweichende Ansicht auszusprechen, aufzunehmen beschloß. Herr Dr. scheint die Absicht zu haben, mir zu verstehen zu geben, daß die Verçffentlichung dieser Kritik nicht mehr zeitgemß gewesen sei, da „inzwischen“ Dr. Herrmann’s „Streiflichter“ erschienen gewesen wren. Ohne jetzt aus dem Bçrsenblatte eruiren zu wollen, wann letztere Schrift das Tageslicht erblickt hat, gengt es zu seiner Entschuldigung, der Wahrheit gemß mitzutheilen, daß ein erst auf mein Ersuchen seitens der Mnchener Verlagshandlung bersandtes Recensionsexemplar der Hermann’schen Schrift das Datum des 10. August d. J. trgt und erst nach meiner am letzten October erfolgten Rckkehr nach Berlin in meine Hnde gelangt ist; Herr Dr. selber aber hat mitgetheilt, daß die Besprechung der Puschmann’schen Schrift bereits in meinem zweiten Mrzhefte stattgefunden hat. Weiter glaubt Herr Dr. mit mir rechten zu mssen, weil ich meinen Berichterstatter habe Dinge schreiben lassen, die „er“ mit seiner grndlicheren Bildung und vor seinem besseren Wissen unmçglich verantworten kçnne. Mçglicherweise kann dieses „er“ in dieser Uebertragung in’s Indirecte auch „ich“ heißen mssen, auf mich selber bezogen (das wird bei dem ungeschickten Stile des Herren Dr. nicht klar); jedenfalls ist diese Wendung, gelte sie meinem Berichterstatter oder mir, als eine Concession und eine Anerkennung unserer Qualitt bemerkenswerth. – Ich brauche kaum darauf hinzuweisen, daß ich demjenigen in der Besprechung, was ich nach meinem Wissen nicht verantworten konnte, eben ausdrcklich widersprochen habe. Nur indem ich das gethan, was Herr Dr. mir unterlassen zu haben vorwirft, bin ich des Vergngens theilhaftig geworden, ihn als Lehrmeister und Streitschlichter bewundern zu lernen. Ich lese da ferner einen Satz, den ich zum Theil verkrzt, aber genau nach Sinn und Construction reproducire, um von den Denkirrgngen des Herren Dr. eine Probe zu geben. Er sagt: Wenn nur ein begrndetes Urtheil als wissenschaftliche Kritik gelten kann, wenn ferner Puschmann Urtheile abgiebt, dabei aber erklrt, Kritik habe ihm fern gelegen, „so hat er damit (?!) offenbar etwas gethan, was er entweder nicht wollte ober nicht wußte“. Wer den Zusammenhang zwischen diesem Hauptsatze und den Bedingungen, namentlich der ersten, einsieht, der – muß so viel Logik im Leibe haben wie Herr Dr. Diesem nmlich kann man nicht einmal nachsagen, das er von Dr. Puschmann urtheilt, daß er „mit einer ganz eigenthmlichen, an chronisch gewordener Inconsequenz leidenden Logik“ zu Werke geht. Denn eine „leidende Logik“ hat doch we-
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nigstens Existenz; bei Herren Dr. aber findet sich nicht einmal eine Spur von dem, was man Logik nennt. In einem Zwischensatze macht er hier auch meinem „Elaborate“, wie er es nennt, den Vorwurf, ein Urtheil ohne sichere Grnde ausgesprochen zu haben. Das ist eine Behauptung, die ich auf ihren wahren Werth zurckfhre, indem ich erwidere, daß Herr Dr. als Grund unmçglich das erkennen kann, was er nicht versteht; denn wenn er es verstnde, so wrde er seine Partei nicht halten kçnnen, oder, falls er auf seinem Standpunkte trotzdem eigensinnig beharrte, so mßte er hier wider besseres Wissen die Wahrheit verleugnen: diese Wahl muß ich ihm freilich offen lassen. Ich werde noch Gelegenheit haben, zu zeigen, daß meine Grnde von Herren Dr. nur durch Ausrufe oder durch Parteischlagworte nicht sowohl widerlegt, als bloß beantwortet sind. Ich habe Art und Werth der Puschmann’schen Arbeit sehr wohl erkannt, das habe ich ja bewiesen, und wenn Herr Dr. in seinem Eifer und seiner Wuth drei Worte vorwrts und rckwrts bersehen kçnnte, so wrde er das bercksichtigt haben und nicht dem çffentlich massacrirten Herausgeber einer vielgelesenen Zeitschrift abermals das Zugestndniß machen, daß letztere eine „sich sonst wissenschaftlich haltende“ sei, – ein Zugestndniß, das es jedem Unparteiischen im hçchsten Maße unwahrscheinlich macht, daß allein die Musik in dieser Zeitschrift ganz unwissenschaftlich und stmperhaft vertreten sein sollte. Selbstverstndlich lege ich auf derartige Anerkennungen von Seiten des Herren Dr. materiell ganz und gar keinen Werth, da ich nicht den Eindruck von ihm habe, daß er in solchen Dingen zu urtheilen, nicht bloß zu „meinen“ befhigt ist. Formell aber sind mir diese Partien hçchst interessant und wichtig: sie zeigen, daß es in diesem Kreise Sitte ist, beschçnigende und begtigende Redensarten unaufrichtig und im Gegensatze zu der eigenen wirklichen Ueberzeugung und Absicht in die Welt hinauszuschleudern. Es wird bald die Gelegenheit kommen, sich dieser Erfahrung zu erinnern und die praktische Nutzanwendung derselben zu machen, um die Wahrheit vom trgerischen Scheine zu sondern. – Unter den Widerlegungen Herrmann’s contra Puschmann macht sich Herr Dr. mit besonderer Vorliebe auch die Abwehr des Vorwurfes der Unsittlichkeit Wagner’s und seiner Stoffe zu eigen, wo jener darauf hinweist, daß Wagner mit dem Stoffe, welchen er der altgermanischen Sagenwelt entlehnte, auch sie mit herbergenommen habe. Aber Lessing sagt im Laokoon (IV.): „Auch die Umstnde der Geschichte kann man betrachten, als ob sie von seiner (d. h. des Dichters) Wahl abgehangen hatten, in so fern er nmlich die ganze Geschichte, eben dieser ihm vortheilhaften Umstnde wegen, whlt“. Herr Dr. hat sicherlich nicht deswegen mein positives Unheil ber Wagner’s Nibelungen-Trilogie nicht angefhrt, um mich nicht seinen Lesern als Jemanden vorzufhren, gegen den ihr Kreis polemisch vorzugehen gar keine Veranlassung hat, sondern offenbar nur, weil er dazu nichts zu erwhnen fand. Wenn ich nun da, ohne Widerspruch
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bei ihm zu finden, sage, „daß eine gewisse Grçße schon in der Wahl colossaler Stoffe und eine gewiß nicht unbetrchtliche in der nicht ganz unwrdigen Behandlung derselben liegt“, und wenn er somit das Lob der Erhabenheit, welches der alten Sage zukommt, auf Wagner zu bertragen gestattet, so muß er einem Anderen auch erlauben, den Vorwurf der Sinnlichkeit nicht auf die alten Mythen zu beschrnken, sondern dessen Wucht auch Wagner empfinden zu lassen; – und ob die fabelhafte Leichtfertigkeit, mit der sich Wagner’s Weiber – die Ausfhrung im Detail ist ja doch sein unbestreitbares Eigenthum – alsbald Jedem an den Hals werfen, so ganz im Sinne der alten Mythe ist, wre doch immerhin noch zu erwgen. Was aber diese ganze Sittlichkeitsfrage anbetrifft, so glaube ich darin nichts weniger als zu den Prden zu gehçren, und ich habe mich oft genug darber ganz klar ausgesprochen. – Nun geht es direct auf mich los. Ich habe die Anmerkung natrlich geschrieben, „um als Kritiker ber Wagner und seine Bestrebungen zu glnzen“ (!!), und Herr Dr. vermuthet bei einer Stelle, daß mir mein Anstandsgefhl „vollkommen abhanden gekommen“ sei, hat aber doch kaum glauben wollen, daß „das wirklich der Redacteur der Deutschen Warte geschrieben“, von dem er also wiederum im Ganzen eine vortheilhafte Meinung gehabt zu haben heuchelt. Ich muß selbstredend die Besorgniß um mein Anstandsgefhl seitens eines Herren Dr. dankend ablehnen. Dasselbe mßte unrettbar tief gesunken sein, wenn es eines solchen Anwaltes bedrfen sollte: empfiehlt mir derselbe doch unmittelbar darauf das Gemeinste, was es berhaupt giebt, was ihm selber jedoch als geschworenem Wagnerianer eigentlich gar nicht so verchtlich erscheinen sollte: einen tchtigen Cliquenbund mit Herren Dr. Puschmann und dem durch einen berraschenden Hocuspocus plçtzlich herbeigezogenen Herren Dr. Alfred Dove, damit Letzterer und ich „durch wissenschaftlich klingende Marktschreiern uns oder unser bedrucktes Blatt Papier (so nennt er hier die vorhin sich „wissenschaftlich haltende“ Zeitschrift Deutsche Warte!) in Umlauf bringen“. Und das wagt der Mensch mir zu sagen, von dem jeder weiß, und von dem er wissen konnte, wenn er nur den zehnten Theil so sehr, wie er sich die Attitde giebt, und mit dem zehnten Theile derjenigen Verstndnißfhigkeit, die selbst ihm noch beiwohnt, meine Schriftstellerei verfolgt htte, daß mir nichts in der Welt verhaßter und nichts in der Welt unmçglicher ist als Cliquenwesen! – Den drei Fehlern, die ich der Wagnern vorwerfe, sieht Herr Dr. die „Sicherheit eines systematisch geschulten Fachmannes“ an (ein Lob, welches ich zu verdienen wnschte), er kann dann aber nicht umhin, mir wegen des unglcklicherweise gebrauchten Ausdruckes „pq_tom xeOdor“ eine lngere Standrede zu halten. Jedenfalls mssen Herren Dr.’s Ansprche an Gelehrsamkeit lumpig bescheiden sein, wenn er diese Worte eine „gelehrte Reminiscenz“ nennt. Die beiden Vorwrfe aber, welche er gegen den Gebrauch derselben an dieser Stelle in petto hat, zeugen vollends von seiner geringen Sachkenntniß; denn
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wenn er den Aufsatz von mir: „Die Pflege der Sprache eine nationale Aufgabe“, auf welchen er anspielt, weiter als nach seinem Titel knnte, so wrde er erfahren haben, daß ich das coquette Bekreuzigen vor „fremdlndischen Flitter“ in der Rede unter gewissen Umstnden fr thçricht und den fanatischen Purismus fr Philisterei halte. Was er ferner ber die Bedeutung des Ausdruckes beibringt, scheint die Absicht zu haben, ihn als zur Fhrung des Doctortitels berechtigt auszuweisen, ist aber – hoffentlich absichtlich – unrichtig. Allerdings heißt „pq_tom xeOdor“ zunchst die erste falsche Annahme oder Erschleichung eines Grundsatzes, auf welchen ein philosophisches System aufgebaut ist. Wie nun, wenn ich die persçnliche Aufdringlichkeit Wagner’s als diesen falschen Grundsatz htte bezeichnen wollen, auf welchem die ganze Unmanierlichkeit der Wagnerei als seine nothwendige Consequenz aufgebaut ist? Doch ich will mir nicht anstçszige Gedanken unterschieben, die ich gar nicht gehabt habe: „pq_tom xeOdor“ heißt nachher berhaupt jeder erste Fehler, den jemand begeht, und der eine Reihe von Fehlern oder Missgriffen nach sich zieht, zu welcher unschuldigeren Bedeutung das Wort um so leichter kommen konnte, als je auch bei den falschen Voraussetzungen einer Philosophie der Philosoph in den meisten Fllen nicht weniger als die Absicht zu tuschen hat, sondern, wenn berhaupt von einer Tuschung die Rede sein kann, zunchst der Selbsttuschung erlegen ist. „pq_tom xeOdor“ in diesem minder vorwurfsvollen Sinne als „Grund- oder Urfehler“ was mir u. A. als ein Lieblingswort meines sehr verehrten griechischen Lehrers auf dem Gymnasium in der Erinnerung, und ich kann Herren Dr., wenn das zu seiner Beruhigung beitrgt, versichern, daß, wenn er und ich jeder halb so viel Griechisch verstnden wie jener, uns beiden geholfen wre. Darum also keine Feindschaft! Hingegen kann ich nicht umhin, Herren Dr, im Interesse des guten Scheines sub rosa darauf aufmerksam zu machen, daß es sich empfiehlt, Fremdwçrter, welche nicht nur des Griechischen kundige, sondern – um seinen eigenen liebenswrdigen geschmackvollen Ausdruck zu gebrauchen – „selbst das harmloseste weibliche Geschçpf“, welches ein bischen Franzçsisch parliren gelernt hat, controlliren kann, (auch einem Anderen nach) nicht in absolut falscher Bedeutung anzuwenden. Er spricht da an einer Stelle (Seite 439, Spalte 1 u.) von den „sich wissenschaftlich gebrdenden Bellettristen“, welche mit einer gewissen biederen Calomnie ber Alles schreiben, was sie selbst nicht verstanden haben“, Den Ausdruck „Calomnie“ an dieser Stelle passend zu ersetzen, darauf muß ich verzichten: es scheint ihm so etwas wie „Medisance“ oder „Suffisance“ vorgeschwebt zu haben, die ausschließliche Bedeutung des gewhlten Wortes aber, welche bekanntlich „Verleumdung“ oder „falsche Beschuldigung“ ist, hat nicht den mindesten Sinn, kann also auch von dem Verfasser nicht beabsichtigt sein, und es ist ihm nur passirt, was unberufenen Scribenten çfter begegnet, daß sie in dem dunklen Drange, einen recht treffenden Ansdruck zu finden, nach einem recht vollklingendem fremden haschen und dabei einen unrichtigen
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treffen. Ein Vetter von mir hatte als Tertianer diese Schwche in hohem Grade, und als er einmal in grçßter Wuth sagen wollte: „das ist eine wahre Tollheit“, – sagte er: „das ist eine wahre Toleranz“. In diesem Bilde wird sich Herr Dr. mit seiner „Calomnie“ hoffentlich wiedererkennen. Bei der Anfhrung meines Passus, welcher mit den Worten anfngt: „Ueber die Auschließlichkeit als lcherlichen Fehler lohnt es kaum zu sprechen“, hlt Herr Dr. es fr rhetorisch wirksam, mich mit den Worten zu unterbrechen: „Mit Verlaub, gestrengster Censor, wir sind so unglcklich, zu whnen, die Sache sei entschieden doch noch lohnend, und kçnnen uns nicht entbrechen, jenen lcherlichen Fehler uns noch ein wenig genauer bei Lichte zu besehen.“ Wozu der Lrm! Es wird ja in dem sofort Folgenden auch meinerseits jener lcherliche Fehler noch „genauer besehen“. Genirt Herren Dr. schon die rhetorische Form des Vortrages, wie mssen da erst die Gedanken schlagen! Oder durfte er bei seinen Lesern hoffen, sie durch so plumpe Possen von der Sache abzulenken? Wie unsere Leser sich erinnern, habe ich in dem betreffenden Passus mit einem „leider“ darauf hingewiesen, daß die Kenntniß von der geschichtlichen Entwickelung der Knste „in musikalischen Kreisen allzu sparsam und mangelhaft vertreten“ sei, und angedeutet, daß nur deshalb ihnen vielfach die Ueberzeugung mangele, „daß eine Bahn, welche die Kunst zur Hçhe der Mozart und Beethoven emporgefhrt hat, kein Holzweg gewesen ist“. Diese beiden Bemerkungen hat Herr Dr. die Keckheit, in demselben Momente der Unrichtigkeit zu bezichtigen, in welchem er mir selber die schlagendsten Beweismittel fr die Wahrheit beider in die Hand giebt. Wie selten wissen die Kenner der Musik etwas von dem Wesen und der Geschichte der anderen Knste, und wenn sie sich, wie etwa Ambros, um dieselbe bekmmern, wie idiosynkratisch ist da die Auffassung, wie beschrnkt der Gesichtskreis, wie nervçs das Urtheil, wie ungesund die Nutzanwendung, sobald es ber das gewçhnliche, einfache, schlichte Empfinden, d. h. ber die musikalische Stimmung hinaus geht. Und Herr Dr. selbst scheint wahrlich nicht zu denen zu gehçren, welche der Beschftigung mit den anderen Knsten, weil sie dies fr wrdig eines gebildeten Menschen halten, irgend mit Fleiß und Verstndniß obliegen; weiß er doch gegen einen Fachmann (wie ich mir zu sein schmeichle, man mag mich nun in eine Kategorie unter diesen setzen, so niedrig, wie einem beliebt,) fr seine Beschftigung mit diesen Dingen keinen anderen Ausdruck zu finden als: er „macht sehr stark in Kunstgeschichte“! Herr Dr. wird mir erlauben, diesem Ausdrucke, der in seinem Munde Niemanden verwundern oder beleidigen kann, nur als einem Beweismittel gegen ihn Beachtung zu schenken.117 117 Hierbei bemerkt Herr Dr. noch, ich habe mich gelegentlich auch wohl „auf das Gebiet der Musik verstiegen“, und fhrt dazu an: „D. W. Bd. II. S. 65“. Nun ist auf S. 65 in keinem meiner fnf Bnde etwas von mir und in keinem etwas ber Musik abgedruckt,
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Meine zweite Bemerkung thut er mit folgenden Phrasen ab, die ich ihrer unglaublichen Kurzsichtigkeit und Unvorsichtigkeit wegen ganz hersetzen muß: „Wer in aller Welt stellt denn das in Abrede? Etwa die Musiker? Gewiß nicht! Aber freilich giebt’s ja immer noch (!) Leute, die da meinen – Herr Dr. Bruno Meyer scheint auch zu denen zu gehçren118 –, das in der Kunst ein weiterer noch weniger also etwas von mir ber Musik. Auch kommt gerade in diesem (zweiten) Bande nicht ein einziger Aufsatz vor, welcher die Musik behandelt, außer allenfalls dem Nekrologe des Sngers Krger. Selbst als ich Ambros’ „Bunte Bltter“ in dem Bande besprach, habe ich mich nur an die kunstgeschichtlichen Theile dieses Sammelwerkes gehalten. Ich muß dieses falsche Citat hauptschlich deswegen bedauern, weil ich glaube voraussetzen zu mssen, daß ich mich an der von Herren Dr. hier bezeichnten Stelle besonders verhauen habe, und gerne wissen mçchte. wo und wie das geschehen ist; denn die Thatsache, daß ich mich einige Male auf das musikalische Gebiet „verstiegen“ habe kann ich nicht leugnen. Ich habe beispielsweise bereits im ersten Bande der „D. W.“, was Herr Dr. aufflligerweise auch bersehen oder ignorirt hat, dem Pamphlete von Hugo Bußmeyer: „Das Heidenthum in der Musik“ in einer Form heimgeleuchtet, welche es den Wagnerianern nahe legte, ihre Sache von der Verunreinigung durch solche Klopffechterstreiche rein zu halten (S. 250 fg.), und ich mçchte Herren Dr. und seinen Brdern im „Geiste“ die Lecture dieses kleinen Aufsatzes noch jetzt anempfehlen. Eine Art von Mçglichkeit liegt noch vor, daß Herr Dr. sich auf Bd. II, S. 165 bezieht, wo in einem Aufsatze ber den Naturalismus 11 Zeilen von Musik vorkommen. In diesen aber werden ohne jede Specialisirung und ohne jeden Parteistandpunkt lediglich allgemein verbreitete hben und drben gefundene Symptome einer Art von Zersetzung der Kunst aufgezhlt, die ich als Kennzeichen des Naturalismus auch auf diesem Gebiete auffasse. Diese schchterne Vermuthung eines Druckfehlers in dem sonst anerkennenswerth correct gedruckten „Beitrgen“ als zutreffend annehmen zu drfen wrde mich wesentlich beruhigen; denn ich will jedem Schriftsteller wnschen, daß er sich nicht mehr „auf“ ihm fremde Gebiete versteigt und nicht mehr sich in ihnen versteigt, als es mir dort passirt ist. 118 Es wre mir interessant, einmal bei Gelegenheit durch Herren Doktor diejenigen kennen zu lernen, die mehr als ich immer bestrebt sind, die gesunden zukunftsfhigen Keime und Schçsslinge in der knstlerischen Produktion der Gegenwart aufzufinden und zu pflegen. Natrlich soll er dabei mit jenen verkauften Seelen zu Hause bleiben, die in verba magistri schwçren, und in die nichts hineingeht, als worauf sie officiell geaicht sind. Wohl ist es wahr, daß auch Wagner und selbst die Wagnerei jezuweilen Erscheinungen hervorbringt, deren „nachdenklicher Betrachtung sich Niemand entziehen kann, der ein Herz hat fr die geistige Production der Gegenwart“. Wenn Herr Dr. hieran aber die urgescheite Frage knpft: „Oder fehlt es Herrn Dr. Bruno Meyer gar an letzterem Erforderniß?“ –so ist das, um gleich hell aufzulachen. Er muß gewußt haben, daß er fr ein glubig dankbares Publicum schreibt, das mich noch weniger kennt und – kaum glaublich! – noch weniger versteht, als er selbst. Oder – diese Frageform ist wirklich recht angenehm fr solche Flle, in denen man mit gar zu handgreiflicher Abgeschmacktheit zu rechten hat, – musste Herr Dr. es nicht als eine recht achtbare Bethtigung meines fr die knstlerische Production der Gegenwart lebhaft schlagenden Herzens freudig begrßen, daß ich, obgleich nicht Musiker von Fach, es mir ernste Bemhung und eine grndliche Orientierung nicht habe verdrießen lassen, um zu einem begrndeten und klaren Urtheile ber die Kunstrichtung Richard Wagner’s zu kommen? – Doch freilich –
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Fortschritt nicht mçglich, daß der Versuch, in der Erkenntniß der Wahrheit und des Schçnen immer weiter vorzudringen, ein schwerer Frevel an der Verehrung jener jetzt von der Geschichte als heilig gepriesenen Classiker sei: nun, mit solchen Unverstndigen ist eben ber dergleichen Dinge nicht zu reden.“ Die Konfusion und die abgerissene Art zu denken (wie bei solchen Kranken, welche Dr. Puschmann Spezialarzt ist,) wird zum Erschrecken klar, wenn man die sogenannten Gedanken dieser Entgegnung herausschlt. Ein „Gewiß nicht!“ gengt als Beweis, und daran wird mit einem einfachen „Aber“, welches die Ueberspringung von einem Dutzend Zwischengliedern bedeutet, ein ganz fremdartiger Gedanke, als Angriff des Gegeners formulirt, angereiht: Die Musiker leugnen nicht, daß der Weg bis zu Mozart und Beethoven hinauf kein Holzweg gewesen; aber es giebt Leute, die ber die sogenannten Classiker hinaus keinen Fortschritt fr mçglich halten! Die letztere Entgegensetzung htte nun allenfalls einen Sinn, wenn die Wagnerei sich freudig und entschieden an das Ende einer großen Kette angeschlossen she und anerknnte; aber ich habe eben behauptet und behaupte es in Uebereinstimmung mit dem Thatbestande noch, daß ihre Apostel durch Wort und That den Beweis liefern, wie jener Weg, der zu der Hçhe der Mozart und Beethoven emporgefhrt hat, von ihnen als ein zukunftsreicher, weiter zu verfolgender Weg geleugnet, als ein Holzweg perhorrescirt wird. Und indem ich dies nun behaupte, behaupte ich implicite, daß jenes „Gewiß nicht!“ des Herren Dr. eine wissentliche oder unwissentliche Lge ist. Beweis sein eigener Satz, in welchem das einzige gesperrt gedruckte Wort „jetzt“ ihn vollstndig als Lgner brandmarkt. Indem er von Classikern spricht, die „jetzt“ von der Geschichte als heilig gepriesen werden, deutet er an, daß seiner Ansicht nach die Zeit nicht mehr fern ist, wo man sich vollkommen ber diese sogenannten Classiker hinweggehoben fhlen wird, und er giebt damit zu, daß der Richtung, in deren Namen und Sinne er spricht, an diesen Vorgngern, ihrer Achtung und Geltung absolut nichts gelegen ist, daß ihre Heroen und Vertreter Mannes genug zu sein meinen, ohne Rcksicht auf diese Vorgnger die Kunst nach ihrem Sinne neu zu schaffen. Das ist aber eben eine Thorheit, deren nur ein vollstndig Unwissender im Gebiete der Geschichte aller Knste fhig ist, die Gltigkeit der Classiker durch ein solches „jetzt“ herabsetzen und beschrnken zu wollen; denn jeder Mensch, der mehr weiß als die Geschichte einer Kunst, die erst von gestern datirt, so weit wir sie wirklich kennen und verstehen kçnnen, hat die Erfahrung gemacht, daß die sogenannten Classiker nach Aeonen noch sich fruchtbar und anregend erwiesen haben, und ihr Name mit gleichem oder noch erhçhtem Glanze durch die Jahrtausende fortstrahlt,
wie kann ich solch ruhiges, vernnftiges und anstndiges Benehmen von einem solchen verrannten und gnzlich urtheilsunfhigen Parteignger nur fr mçglich halten!
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„Indeß der Zeit Pedanten lngst, verwahrt in Bibliotheken, Vor Staub und Schmutz vermoderten als wurmige Scharteken“ –
um das treffliche Wort Platen’s in Anwendung zu bringen. Es ist eben ein unerhçrter Uebermuth einer neuen Richtung, mit Verleugnung und Nichtachtung der historischen Entwickelung so nasermpfend an den großen Erscheinungen der Vergangenheit vorbeizugehen, und es ist vergebens, zur Bemntelung dieses Fehlers, zur Abwlzung dieses Vorwurfes Versicherungen und Citate zu hufen oder mit Grobheiten um sich zu werfen. Ich gehçre zu denjenigen, die sehr gerne belehrt werden, und ich glaube, ich habe ausgesprochen und gezeigt, daß ich Wagner’s Schriften, d. h. seine Hauptschriften, gelesen und das Ideal seiner Kunst verstanden habe. Was aber seine Anerkennungen der Classiker anbetrifft, so sind diese entweder der Art, daß sie zu der vorliegenden Streitfrage in gar keiner Beziehung stehen, oder sie sind beschçnigende Redensarten der frher charakterisirten Art, welche gebraucht werden, weil Verstand und Urtheil auch in diesem Kreise noch so weit gesund ist, daß man nicht die Mçglichkeit einer ohne jede historische Basis in der Luft schwebenden ausschließlich berechtigten Kunst der Zukunft – ich will nicht sagen fr ein Unding, aber sicher der Menschheit, selbst der minder gebildeten und urtheilsfhigen, nicht plausibel zu machen halten sollte. Wo die Thaten und die nicht auf den Schein hin geklgelten und raffinirten Worte beobachtet werden, da steht die Sache anders. Ich will brigens die Thatsache, daß der historische Faden der Entwickelung absichtlich scharf von den Wagnerianern zerschnitten und die Berechtigung der vorangehenden Kunst von ihnen vollstndig geleugnet wird, noch weiter und der Bequemlichkeit und der Komik wegen aus diesem selben Aufsatze beweisen, der diesen Vorwurf mit dreister Stirn ablehnt. Die Oper hat im stilo rappresentivo119 und im Recitative einen Ursprung, der „außerhalb aller knstlerischen Instincte liegt“. Also merkt’s euch, ihr Bach, Hndel, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, ihr armen Schcher, die ihr Recitative geschrieben und gar Opern componirt habt: es giebt Unwissende, die euch fr Genie’s halten, aber jetzt habt ihr’s gehçrt, daß euer sogenanntes Genie außerhalb aller (!) knstlerischen Instincte (?!) liegt. Und weiter erfahren wir, daß in der Oper „ein mchtiges Bedrfniß“ sich eine Kunst schafft, „aber ein Bedrfniß unsthetischer Art“. Ich fhle mich berufen, im Namen Mozart’s zu danken, der wohl als der grçßte Operncomponist aller Zeiten sich so als der Befriediger eines Bedrfnisses unsthetischer 119 Dem stilo rappresentivo eignet – so werden wir belehrt – das „rasch wechselnde Bemhen, halb auf den Begriff und die Vorstellung, bald auf den musikalischen Grund des Zuhçrers zu wirken“. Man denke! Ein Zuhçrer mit „musikalischem Grund“! Und neben diesem „Grunde“ existiren in ihm „Begriff“ und „Vorstellung“! Ein „Andante mit Gefhl und Variationen“ ist gar nichts dagegen! O Logik und alle Musen!!
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Art – eines „unsthetischen Bedrfnisses“, wie der Verfasser unmittelbar darauf wiederholt, – entlarvt sieht. Die Oper, heißt es drittens, „ist im eigentlichsten Sinne die Geburt des theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nicht des Knstlers,“ –, eine der befremdlichsten Thatsachen in der Geschichte aller Knste, wie unser Verfasser gelehrt hinzusetzt. Also Gluck, Mozart und Beethoven auf dem Wege des kritischen Laien tappend! Und unerhçrt soll es in der Geschichte aller Knste sein, daß besondere Zustnde des Menschen und der Gesellschaft als Voraussetzung fr die Gebilde der Kunst angenommen werden?! Ja, wenn Herr Dr. nur von den anderen Knsten etwas wßte! Dann wrde er sich sehr unschwer erinnert haben, daß gerade die gesellschaftlichen Zustnde, welche in derselben Zeit, in der die Musik erblhte, unter der Herrschaft des Rococo, im Gebiete der Malerei z. B. vorausgesetzt wurden, ebenso unnatrlich und gemacht, ebenso rein conventionell sind, wie die Annahme singender Menschen in einem idyllischen Urzustnde. Weiterhin erscheint unserem gelehrten Freunde (gesperrt) „die Oper als der Ausdruck des Laienthums in der Kunst, das seine Gesetze mit dem heiteren Optimismus (?!) des theoretischen Menschen dictirt“. Mozart als Laie ist schon keine schlechte Vorstellung! Aber unser Historiker, der die Classiker gelten lßt, ereifert sich sogar so weit, fortzufahren: „Fern ist somit der Oper jener elegische Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr lacht allberall die Heiterkeit des ewigen Wiederfindens, die bequeme Luft an der idyllischen Wirklichkeit, die man wenigstens sich als Wirklichkeit in jedem Augenblicke vorstellen kann. Was ist aber fr die Kunst selbst von dem Wirken einer Kunstform zu erwarten, deren Ursprnge berhaupt nicht im sthetischen Bereiche liegen (!!!), die sich vielmehr aus einer halb moralischen Sphre auf das knstlerische Gebiet hinber gestohlen hat und ber diese hybride Entstehung nur hier und da einmal hinwegzutuschen vermochte?“ Das ist denn doch die Negation der Vergangenheit so klar und so scharf vom Drseke’schen Standpunkte bezeichnet, so unvorsichtig, wie man sie nur haben kann. Daß die Geschichte der Oper auch einen Gluck und einen Beethoven auffhrt, wenn man schon dem heiteren Mozart seine alle von der Natur nicht grçblich vernachlssigten Menschen beglckende Stimmung nicht gçnnen wollte, scheint der Herr (und sein Gewhrsmann, worber nachher) vergessen zu haben. Und dieser Kunstform von hybrider (?! auch ein recht angenehmes Fremdwort! „so reinlich und so zweifelsohne“!) Entstehung wird mit gçttlicher Harmlosigkeit nachgesagt, aller Welt in’s Gesicht, daß sie ber letztere wunderliche Entstehungsart nur hier und da einmal hinwegzutuschen, d. h. in verstndliches Hochdeutsch bersetzt, nur hier und da einmal knstlerisch zu wirken vermocht habe! Ich frage nur: wer sind denn diejenigen, die bis auf Wagner und seine Nachffer und Nachtreter noch bis auf den heutigen Tag
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nicht unbedingt und berall knstlerisch durch diese Kunstform berhrt und befriedigt worden sind? Und wenn es mir nun doch noch erlaubt sein soll, fr die Behauptung, daß seitens der Wagnerei die Vergangenheit negirt, der Weg, der zu der Hçhe der Mozart und Beethoven emporgefhlt hat, als Holzweg verpçnt wird, einen Beweis von außerhalb dieses Aufsatzes beizubringen, so mag mir wenigstens Herr Dr. den Weg weisen und die Brcke schlagen. Er hat sich’s nmlich grundstzlich erspart, fr die wichtigsten Theile seiner Aufgabe seine eigenen Gedanken zu haben, resp. wenigstens Selbstnachgedachtes in eigener Form zu reproduciren, und nebst einigen der eben erwhnten historischen Wahrsprche ganze Spalten dem Buche Friedrich Nietzsche’s: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“120, welches das neue Evangelium der Wagnerianer zu sein scheint und – verdient, entnommen. Eben dieser Nietzsche nun, ordentlicher Professor der classischen Philologie in Basel, hat in seinem neuesten Buche, welches den albernen Titel „Unzeitgemße Betrachtungen“121 fhrt, den Versuch gemacht, die Ableugnung des Historischen, die Ablehnung jeder geschichtlichen Anknpfung und Begrndung und Beleuchtung fr die Cultur der Gegenwart zum Principe zu erheben, indem er durch eine tendenziçse Auswahl aus literarisch kritischen Erscheinungen der Gegenwart und durch nichts weniger als ungewaltsame Carrikirung derselben einen neuen Typus des „Bildungsphilisters“ geschaffen hat, unter welchem Ausdrucke er zum Unterschiede von dem gewçhnlichen Philister, dem Gegensatze des Musensohnes und Culturmenschen, denjenigen versteht, der selber Musensohn und Culturmensch zu sein whnt. Htte Nietzsche mit der Aufstellung und der Geißelung dieses neuen Typus die Absicht gehabt, ad hominem zu gehen, einzelne Mißgriffe und officielle Pedanterien zu geißeln und die Vertreter einer gewissen bureaukratischen Unnahbarkeit verdienter Lcherlichkeit anheim zu geben, und dies mit allem Aufwande von Witz und beißender Satire in Scene gesetzt, so wrde man ihm Beifall spenden mssen und dem Schauspiele mit großer Befriedigung als einem durchaus nicht „unzeitgemßen“ zusehen. Aber er hat nicht die Tendenz, etwas Positives zu schaffen, etwas Sicheres an die Stelle des als berlebt Verdchtigten zu setzen, nur morsche Zweige abzuschneiden; sondern er hat die Absicht, dem Gegner einer Partei die Waffe zu entwinden, mag dabei auch die Grundlage der Cultur selber zu Grunde gehen. Sein ganzes Buch will weiter nichts, als die Berufung der Kritik und der Geschichtsschreibung auf die Vergangenheit als eine Instanz zur Beurtheilung der Gegenwart und namentlich gegen die neuen, die Vergangenheit verleugnenden Ideen und Lehren der Wagnerei ein fr alle120 Leipzig. Verlag von E. W. Fritzsch. l872. 121 Erstes Stck: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig. Verlag von E. W. Fritzsch. 1873.
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mal beseitigen; und so stempelt er denjenigen, der sich auf das Beste in der Vergangenheit mit seinem erzogenen – gewçhnlich sagt man: gebildeten – Denken, Wollen und Empfinden als auf eine sichere Basis sttzt und von dem einzig als zuverlssig nachweisbaren Grunde her die Gegenwart beschaut und der Zukunft mit furchtlosem Auge entgegensieht, zu der Vogelscheuche eines „Philisters“. Er macht es genau, wie es einst die Strmer und Drnger in der deutschen Literatur machten, die, nachdem das tragische Regelgebude der Franzosen eingerissen worden, „mit diesen Regeln anfingen alle Regeln zu vermengen und es berhaupt fr Pedanterei zu erklren, dem Genie vorzuschreiben, was es thun und was es nicht thun msse, und die auf dem Punkte waren, alle Erfahrungen der vergangenen Zeit muthwillig zu verscherzen und von den Dichtern lieber zu verlangen, daß Jeder die Kunst auf ’s Neue fr sich erfinden solle“. Wir brauchen uns nicht zu schmen, wenn wir dieses Urtheil Lessing’s auch heute noch beherzigen und es auf gleichartige Flle in Anwendung bringen. Mit einer gewissen Behbigkeit und conservativen Gemthlichkeit, die auf dem Boden des historisch Gewordenen sich huslich und bescheiden einrichtet und sich gegen Neues ohne Wahl ablehnend verhlt, wollen wir nicht allzu glimpflich umgehen; aber wir wollen denjenigen fr einen Feind der Cultur erklren, der den Baum unseres modernen Lebens zu entwurzeln droht; denn nur in dem Boden der Vergangenheit stecken die Krfte und Sfte, durch welche das Leben unserer modernen Cultur befruchtet und lebendig erhalten wird. Man lçse uns von diesem mtterlichen Boden los, und es wird uns begegnen, daß der krftige und viel verheißende Baum entartet und vergeht. Doch wozu diese Ereiferung! Wir haben es in der That nicht mit einer Gefahr fr die moderne Cultur zu thun; wir haben nur ein blendendes Feuerwerk mit Worten vor uns, welches verpufft, um uns in der erquicklichen Dunkelheit und Ruhe der Nacht zurckzulassen, die es uns zu sehen verstattete, und welche ja morgen wieder Tageshelle werden muß. Dann wird Herr Nietzsche selber seine historische Thtigkeit fortfhren und wird Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sich und Jeden, der seine Schliche nicht durchschaut, weiß zu machen, daß auch die Wagnerei an gewisse Dinge in der Vergangenheit anknpft, an Beethoven, an Gluck, an die Griechen und an die altdeutsche Mythologie und was weiß ich, an was fr Sachen noch, welche in einem Athem mit der Ablehnung des Fußens auf den geschichtlichen Vorgngern als Legitimation fr die Wagnerei und als das Zeugniß fr deren bahnbrechendes Auftreten angefhrt werden. Lohnt es sich in der That, mit diesem Veitstanz ein ernstes Wort des Streites zu wechseln? oder muß man diesem unabsichtlichen oder willkrlichen Mummenschanz mit spçttischem Behagen und dem Bewußtsein, daß keine Raserei lange dauern kann, ruhig zusehen,bis das Bischen geistige Kraft, welches zu der Inscenesetzung gedient, sich verbraucht hat? –
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Also Herr Dr. hat mir geholfen, mit leichter Mhe nachzuweisen, daß seitens der Wagnerei allerdings die Vergangenheit als eine beachtenswerthe Lehrmeisterin der Gegenwart abgelehnt wird, daß – deutsch heraus gesagt – der Weg, dessen Hçhepunkte Mozart und Beethoven bezeichnen, nach dem approbirten Katechismus der Wagnerei ein Holzweg gewesen ist; und wir werden also das Recht fr uns in Anspruch nehmen drfen, die gelegentlich zur Versçhnung dargebotenen schçnen Phrasen von Anerkennung und Bewunderung und Verehrung und sonstigen schçnen Sachen fr Phrasen zu halten, welche durch Worte, nicht Phrasen, und durch Thaten Lgen gestraft werden. – Der einzige vernnftige Gedanke, welchen der liebe Gott Herren Dr. bei seiner Expectoration verliehen hat, und der bei einer vernnftigen Hantirung der Grundstock seiner ganzen Entgegnung htte werden mssen, ist ihm an drei verschiedenen Stellen krmelweise im Vorbeigehen entschlpft; das ist nmlich der Gedanke, daß ich ja als „musikalischer Laie“ – worunter er in seiner Muttersprache einen Laien in der Musik und der musikalischen Wissenschaft versteht – eigentlich von vornherein aus der Arena zu weisen gewesen wre. Indessen auch darber verlohnen sich am Ende einige Worte der Verstndigung. Als ich den „vorlauten, beschrnkten und eitlen Dilettantismus“ als solchen çffentlich bezeichnete und aus dem Tempel der Kunstwissenschaft verjagte, da focht ich gegen Leute, die nachweislich von der Kunstgeschichte keine Ahnung hatten, „ein ganz eminentes Nichtverstndniß“ fr deren Methode und Ergebnisse offenkundig an den Tag legten, mit einer Schaar von Grnden und Beweisen, die so „palpabel“ wie mçglich waren und jedem Gegner auf das Gebiet folgten, von welchem ihm selbst seine Kampfmittel zu entnehmen beliebt hatte. Herr Dr. ist nicht in dieser glcklichen Lage mir gegenber, insofern als sich bereits herausgestellt hat und noch erhrten wird, daß er fr die historischkritische, philosophisch-sthetische Betrachtung der Knste und ihrer Geschichte weder Anlage noch Kenntnisse hat; und wenn (ich affectire nicht eine Kenntniß von der gesammten Schriftstellerei meines Herren Censors, sondern bekenne offen, daß ich noch nie etwas Anderes als diese „Beitrge“ von ihm gelesen habe) – wenn, sage ich, aus diesem Artikel bewiesen werden sollte, daß er nicht Laie in der Musik ist, so mçchte ich am Ende mit dem meinigen auch noch diesem Fluche zu entrinnen hoffen drfen. Denn Herr Dr. selbst wird mir mit jedem unparteiischen und einsichtigen Beurtheilen zugeben, daß ich mit meinen Urtheilen nicht um einer Linie Breite ber diejenige Grnze hinausgegangen bin, innerhalb deren mich meine Kenntnisse – auch von der Musik – zu urtheilen und meine Gedanken klar und begrndet darzulegen befhigen. Es gehen diese Kenntnisse außerhalb eines gewissen – vielleicht allzu eng begrnzten – Gebietes nirgends in die feinsten Details: eine sehr bekannte Mangelhaftigkeit jedes weiten Ueberblickes. Ich habe mich aber bei einer anderen Gelegenheit ber die Nothwendigkeit und die Vorzge sowohl wie ber die
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unvermeidlichen Schwchen und Schattenseiten solcher berblickenden Behandlung weitschichtiger Themata – in diesem Falle der Geschichte smmtlicher Knste – frher schon einmal geußert, worauf ich mich hier um so unverfnglicher berufen darf, als es sich da nicht um eine Vertheidigung meiner selbst, sondern um die Beurtheilung eines hervorragenden Literaturerzeugnisses eines unserer vielseitigsten und feinsinnigsten modernen philosophischen Historiker handelte. In einer einfhrenden Besprechung des Werkes von Moriz Carrire „Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit“ (Vossische Zeitung, Sonntagsbeilage Nr. 34 vom 20. August 1871) finden sich folgende Stellen: „Etwas Anderes ist es, Stoff zu sammeln, zu kennen und zu verstehen, etwas Anderes ihn zu reproduciren, noch etwas weit Verschiedenes und Schwierigeres, ihn zu verarbeiten, zu geschichtlich entwickeltem Gesammtbilde durchzugestalten. Dazu gehçrt ein philosophisch außerordentlich veranlagter und streng geschulter Kopf “….. „Als Ergnzung und Correctiv muß aber diesem philosophischen Blick ein feiner historischer Tact zur Seite gehen“ …. „Endlich muß ber dem Ganzen dominirend jene khle und besonnene Kritik schweben, die der individuellen Begeisterung fr jede Art wrdigen Stoffes Spielraum lßt, doch jeden Ausdruck, jede Schilderung unerbittlich auf das Maß, auf den Umfang zurckfhrt, wie die Oekonomie – um nicht zu sagen der Organismus – des Ganzen es erheischt“ …. „Alle diese Schwierigkeiten aber sind nicht mchtig genug, von dem Versuch abzuschrecken, dessen selbst nur bedingtes Gelingen ungemeine Vortheile darbietet. An diesen hat die Wissenschaft eben so vielen Theil wie die Allgemeinheit des gebildeten Publicums“…. „Auch der Wissenschaft kommt eine derartige Arbeit sehr zu Statten: nicht als ob von ihr neue Aufschlsse ber Gegenstnde speciellerer Nachforschung erwartet werden kçnnten, im Gegentheil werden solche Gesammtdarstellungen im Einzelnen vom Standpunkte jeder speciellen Wissenschaft aus stts sogar etwas Dilettantisches haben (selbst abgesehen von unvermeidlichen positiven Irrthmern). Wohl aber kann ein Werk dieser Gattung als Grundriß dienen. Zusammenhnge, Berhrungspunkte und Beziehungen zwischen den Thatsachen in verschiedenen beschrnkteren Kreisen treten hervor, deren Beachtung Licht verbreitet und zu neuen Auffassungen anregt; Analogien leiten auf schrfere Beobachtung gewisser Punkte; und dunkle Partien in der Darstellung fhren zur Erkenntniß demnchst vorliegender Aufgaben, die sich sonst vielleicht lnger, als dem Grade ihrer Wichtigkeit wnschenswerth oder ertrglich gewesen wre, der Aufmerksamkeit der Forscher entzogen htten. „ „Es ist ein solches Vorarbeiten im Detailstudium, Zusammenfassen zu systematischer Darstellung, weiteres Ausbauen des Ganzen in den schwachen
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Stellen und den offenbar gewordenen Lcken, abermaliges Ueberschauen u.s.w. der natrliche und nothwendige Weg in jeder Wissenschaft.“ …. Es wre immerhin vortheilhaft, solche Gesichtspunkte erst kennen und wrdigen zu lernen, bevor man sich vermißt, jemanden, der so gestellt ist, von ihnen ausgeben zu kçnnen, und dem im vorliegenden Falle nicht einmal Irrthmer zur Last gelegt werden kçnnen – denn mit mehr oder weniger Grund anfechtbare Ansichten ber Thatsachen und Verhltnisse sind weit entfernt, Irrthmer zu sein, – vornehm geringschtzig – richtiger dummstolz als „Laien“ abzuthun. So etwas bekommt – geistig zu reden – dem, der es erfhrt, wie jedes Unrecht, viel besser, als dem, der es unternimmt. Indem ich hiermit die Laienfrage dem Urtheil Anderer zur Entscheidung berlasse, will ich Herren Dr. in seiner braven absprechenden Manier, die, ohne selber von irgend welchen respectablen Verstndnis von irgend etwas getragen zu sein, aus jeder abweichenden Ansicht des Gegners sofort eine Bosheit oder eine Dummheit desselben macht, nur noch mit den Worten Lessing’s gegen einen seiner erbrmlichen Gegener apostrophieren: „Eines, werther Herr, werde ich nicht aushalten kçnnen: Ihren Stolz nicht, der einem Jeden Vernunft und Gelehrsamkeit abspricht, welcher Vernunft und Gelehrsamkeit anders braucht, als Sie.“ – Herr Dr. polemisirt nun gegen die Behauptung von mir, daß in keiner besonderen bisher sehr wenig oder gar nicht cultivirten Form der musikalischen Hervorbringung „das ausschließliche Heil der Zukunft fr die Musik liegen kçnne“, – eine Behauptung die ich vollstndig aufrecht erhalte, und deren Ausdruck ich noch so prcisiren will, daß berhaupt in keiner besonderen, am wenigsten in einer bisher noch nicht cultivirten einzelnen Form jenes Heil liegen kann. Herr Dr. fhlt, daß es sich hier wiederum um die historische Vorfrage handelt, und deswegen sucht er auf der einen Seite versçhnliche Concessionen zu machen, auf der anderen sich durch einen Sophismus aus der Schlinge zu ziehen. Er gestattet gtigst, daß „die verschiedenen Formen der musikalischen Hervorbringnng zur Luft und Freude der Menschen bis in infintum cultivirt werden mçgen“ (woran ich Erwartungen, und zwar sogar „abstruse“ geknpft haben soll, was mir nicht bewußt ist), springt dann aber ab, indem er sagt: „Doch von dergleichen Dingen darf hier gar keine Rede sein, in dem vorliegenden Falle kann es sich nur um das Hçchste und Umfassendste handeln, um die Oper,“ und zwar speciell „um das musikalische Drama“. Ich weiß nicht, was er unter dem „vorliegenden Falle“ versteht. Es liegen zwei Flle vor: der eine Fall ist die Beurtheilung der Nibelungen-Trilogie, wegen welcher ich Puschmann und meinem Berichterstatter energisch entgegengetreten bin; der zweite ist die Wagnerei im Allgemeinen, insbesondere mit Rcksicht auf ihren lcherlichen Fehler der Ausschließlichkeit. Der Letztere scheint doch hier zur Verhandlung zu stehen; und da zu behaupten, es mçgen alle Formen der musikalischen Hervorbringung gleichmßig cultivirt werden, und zugleich, es drfe nur von
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Wagner’s musikalischem Drama die Rede sein, das heißt doch nach einem phrasenhaften Abwehr- oder Beschçnigungsversuche den Vorwurf der Ausschließlichkeit besttigen. Dieses musikalische Drama ist aber eben bloß eine Form, auf der allein nicht die Zukunft ruhen kann. Wir kçnnen doch nicht bloß Opernmusik haben, und wie es mit der Oper als leitender und herschender Form in der gesammten musikalischen Entwickelung bestellt ist, darauf wird noch die Rede kommen. Uebrigens ist Herr Dr., durch die vorausgeschickte Concession seinen Rcken gedeckt glaubend, so ehrlich, an dieser Stelle die Ausschließlichkeit der Wagnerei nicht bloß zuzugeben, sondern sie sogar fr berechtigt und nothwendig zu erklren und hierfr eine Art von Beweis anzutreten. Von einer geordneten Beweisfhrung kann natrlich bei einem Schriftsteller dieser Art keine Rede sein, und so nimmt es nicht Wunder, ihn nach einigen blanken Behauptungen und mehrfachen wirkungsvollen Ausrufungszeichen sich in den Nothhafen eines langen Citates aus Nietzsche flchten zu sehen. Jene Behauptung lautet: durch die Ausschließlichkeit der Wagnerei werde „zwar nicht das ausschließliche Heil der Zukunft fr die Musik erstrebt, sondern vielmehr das Erblhen der wahrhaft deutschen, echt nationalen Kunst berhaupt gesichert werden“; oder vielmehr, er sagt, den Erfolg bereits antecipirend: „gesichert sein“. Also die Ausschließlichkeit selber – nicht ausschließlich, und die Mçglichkeit einer nationalen Kunst, die durch den Weg zu Mozart und Beethoven hinauf noch nicht gegeben ist, jetzt erst gesichert! Ich freue mich, ein „Kritiker von der Art“ zu sein, fr die das „ein unverstndlicher, ein unfaßbarer (ich wrde richtiger sagen: ein innerlich unwahrer) Gedanke“ ist, und mçchte dem Herren wnschen, daß er seine folgenden von ihm ironisch angefhrten Worte wenigstens zu verstehen vermocht htte: „Eine Manier in des Wortes verwegenster Bedeutung ist die Wagner’sche Musik“, oder die Grnze zwischen Manier und Stil ist noch von keinem Menschen in der Welt auf klare Begriffe zurckgefhrt worden. Wo gewisse Wendungen von aufflligem Charakter bestndig wiederkehren, und kaum ein Werk oder der kleinste Theil eines solchen nicht sofort an solchen Wendungen erkennbar ist, da ist doch Manier vorhanden. Von solchen Manieren sind selbst die grçßten, stilvollsten Knstler classischer Perioden oft nicht ganz frei geblieben, wie beispielsweise Michelangelo in seinem spteren Leben. Bei dominirenden Knstlern in Epochen des Niederganges ist sie das Gewçhnliche, und nur in solchen Zeiten haben „Monopole stark prononcirter Manieren“, wie die gewnschte ausschließliche Geltung der Wagner’schen Richtung, existirt; – wohl zu bemerken: ich habe gesagt: „Monopole“ stark prononcirter Manieren! Manieristen hat es zu den besten Zeiten der Kunst immer und berall gegeben, in zweiter und dritter Stelle neben den fhrenden und bestimmenden Geistern; aber die ausschließliche Herrschaft einer Manier, die thatschlich oder dem Bestreben nach jede andere Richtung unterdrckt, beseitigt, im Interesse der Mitlebenden verdrngt und vielleicht
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den gleichzeitigen Knstlern zur Unmçglichkeit gemacht hat, – solche Monopole „haben nur in knstlerisch verwahrlosten Zeiten und nie zu Gunsten des wahrhaft und dauernd Bedeutenden existirt“. – Ich habe einmal frher bei gebotener Gelegenheit, nachdem ich es ausdrcklich als ber allem Zweifel stehend anerkannt, „daß die bedeutendste Persçnlichkeit der heutigen musikalischen Welt Richard Wagner ist“, dies in folgender Weise ausgesprochen: „Darin (in der Constatirung dieser Thatsache) liegt gar kein principielles Zugestndniß. Auch Bernini war seiner Zeit unzweifelhaft einer der bedeutendsten Knstler, und unter denen, die neben ihm genannt werden konnten, war kein Vertreter einer der seinigen entgegengesetzten Richtung, ja er konnte als das Prototyp der zeitgençssischen Kunst gelten, und trotzdem war er der Reprsentant des Verfalles und der Verirrung auf dem Gebiete der Kunst. Wenn die wahre Kunst nach einer großen Anstrengung in einer Epoche der Ingenien schlft und ausruht, so spielen eben vorbergehend bis zu neuer Ermannung die frappirenden und mit besonders krftigem Selbstbewußtsein ausgersteten Talente die erste Geige, und je ausschließlicher die bis zur Tyrannei ausartende geistige Herrschaft eines Einzelnen hervortritt, um so mehr Wahrscheinlichkeit hat die Ueberzeugung, daß man sich noch in der Ebbeperiode der bloßen Talente befindet, das lehrt und besttigt die Geschichte aller Knste und des gesammten menschlichen Treibens.“ Wenn Herr Dr. das nicht zugiebt, dann kennt er eben die Geschichte der Knste und der Cultur nur so weit, wie die Wagnerei reicht, und er – nicht ich – will von nichts Anderem wissen. Die gemthlich achselzuckende Beseitigung: „Was unter Letzterem (dem Satze von dem Monopole) zu verstehen, bedarf nach dem Bisherigen keiner Erluterung, und wo die Verwahrlosung nach dem Sinne Bruno Meyer’s zu suchen, ist ebenfalls klar“, – ist daher nichtssagend und ein Beweis von „eminentem Nichtverstndniß“. Ich habe gar keine Verwahrlosung gesucht, sondern nur darauf hingewiesen, daß mit einer ausschließlichen Herrschaft der Wagnerei, die ich glcklicherweise noch nicht verwirklicht finde, unserem Zeitalter der Charakter der Verwahrlosung in musikalisch-knstlerischer Hinsicht aufgedrckt werden wrde. Das lßt sich doch ohne große geistige Capacitt unterscheiden. Nachdem er den Gipfel dieses Mißverstndnisses erstiegen, „dreht“ Herr Dr. „den Spieß um“ und flchtet sich ber die Brcke eines Schlagwortes in den oben gemeldeten Nothhafen des neuen Evangeliums von Nietzsche. Wollte ich ihm diesen Schlupfwinkel mißgçnnen und grndlich verlegen, so mßte ich auf Nietzsche’s Schrift genauer eingehen, als es mir der irgend zulssige Rahmen dieser Entgegnung gestattet. Der ungesunde und unhaltbare Boden, auf welchem Nietzsche mit seinem ganzen Denken und Systembauen steht, ist vorher bereits charakterisirt worden: es ist die Verdchtigung der Vergangenheit und der Anlehnung an deren große und unvergngliche Schçpfungen in allen Gebieten; und speciell fr den in der „Geburt der Tragçdie“ vorliegenden Theil des
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Ausbaues seines Systemes ist außer dem inneren Widerspruche, die geschichtliche Anlehnung zu verwerfen und doch auf geschichtliche und zwar sehr entlegene Momente zurckzugehen, der Hauptfehler der122, daß diese Basis, welche er zu gewinnen sucht, eine fingirte und dem Thatbestande nicht entsprechende ist. Abstracte Musik (Ton ohne Wort) hat es in den Urzustnden nie gegeben, sondern, wenn man ebensowenig abstracte, d. h. „gesungene“, nicht wenigstens musikalisch recitirte Poesie als das frher vorhanden Gewesene zugeben will, was berechtigt sein mag, so ist Poesie und Musik in unmittelbarer Verbindung, selbstverstndlich aber nicht in der Form des complicirtesten und hçchsten Sprach- und Tonkunstwertes, sondern in der Form des erzhlenden (epischen) oder Empfindung wiederspiegelnden (lyrischen) anfangs unzweifelhaft ganz kurzen Liedes hervorgetreten; und in der Tragçdie mag zu irgend einer mustergltigen Zeit, also z. B. auch bei den Griechen, so viel musikalische Zuthat als wesentlicher, untrennbarer Factor der knstlerischen Composition und Wirkung vorhanden gewesen sein, wie da will: „aus der Musik“ – oder mit einer phrasenhaften und die Unrichtigkeit des Gedankens dichter verschleiernden Aufbauschung des Ausdruckes: „aus dem Geiste der Musik“ kann die Tragçdie nicht geboren sein; das beweist vollstndig gengend ihre uns ganz bekannte dichterische Seite. Jene Nietzsche’sche Theorie von der Geburt der Tragçdie ist nichts als eine Fiction, die erfunden und behauptet ist, um Wagner’s Neuerungen zu sttzen, und mit wissenschaftlichem Scheine quasi geschichtlich und wissenschaftlich als richtig nachgewiesen, um einem dringenden Bedrfnisse der Wagnerei, nmlich dem nach geschichtlicher Legitimation, wenigstens scheinbar abzuhelfen. Auf diese Stze, die nur nothgedrungen in solcher Krze das Wesentliche ohne umfassenden Beweis geben, doch fr den Wissenden verstndlich den Hauptgedanken der Erwiderung fixeren, wird Herr Dr. wahrscheinlich Zeter schreien und Ausrufungszeichen hufen, er wird aber mit aller Anstrengung, die er es sich auch kosten lassen mag, schon weil er nicht zu jenen Wissenden gehçrt, keine Widerlegung fertig bringen. Ich mçchte ihn daher bitten, auf eine solche zu verzichten, da dieselbe ja zumal fr seine Kreise, wo Nietzsche als Evangelium bereits angenommen ist, ihm eine ganz berflssige Bemhung auferlegen wrde. Dort ist man, wie er, berzeugt, daß Nietzsche’s Buch „eine wahrhaft nationale, eine rettende That genannt zu werden verdient“, und so mçge er seine Toleranz bis zu dem Punkte steigern, die „zunftmßigen Kritiker“, zu denen ich auch gehçre, in demjenigen Zustande der Blindheit zu lassen, 122 Ich muß, da mir hier vor Allem die Verpflichtung obliegt, kurz und deutlich zu sein. darauf verzichten, Nietzsche’s Phrasenkram zu benutzen. Ich spreche, da mir die Absicht zu tuschen und zu bertçlpeln fern liegt, ohne apollinisch-dionysisch-hybride Gedankenverbergungsknste einfach von den Dingen, und treibe keine Taschenspieler- und Gauklerstreiche mit hohlen Schllen.
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in welchem ihnen diese literarische Erscheinung ein Buch mit sieben Siegeln ist. Man bedenke aber nur z. B. folgenden Satz aus diesem Buche: „Umsonst, daß man sich an alle großen produktiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst, daß man die ganze ,Weltliteratur‘ zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Knstler aller Zeiten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe: er bleibt doch der ewig Hungernde, der ,Kritiker‘ ohne Lust und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bcherstaub und Druckfehlern elend erblindet.“ Ist diese Signatur des modernen Menschen richtig (und sie ist es, wenn wir die Beschreibung ihrer gehssigen Form entkleidet und auf richtige Begriffe zurckfhrt), so ist doch damit zugegeben, daß wir vom knstlerischen Standpunkte aus uns in einer Verfallperiode befinden; und mçgen wir uns seit der letzten unzweifelhaften Bltheperiode der Knste, fr die Musik also seit Beethoven, noch so consequent fortentwickelt haben, so ist dieser Fortschritt in der Zeit dann eben ein Rckschritt in Werthe gewesen, fr welchen selbstverstndlich die Meister der classischen Periode eben so wenig verantwortlich gemacht werden kçnnen, wie Michelangelo fr den Manierismus, wie Christus fr den Ultramontanismus und wie Luther fr den Zelotismus. Es werden eben die hervorstechendsten Erscheinungen dieser Verfallperiode als Auswchse, Nebenwege, resp. Sackgassen erscheinen, und man wird ber sie hinweg wieder an die ragenden Leuchten im Gebiete der Kunst neue rechte Wege anknpfen mssen. Dabei ber das Nchstliegende, Sichere, das den unzweifelhaften Vorzug hat, der modernen Weltanschauung, die doch einmal nicht aufgehoben und gnzlich zurckgeschraubt werden kann, innerlich um Vieles nher zu stehen, als weiter zurck gelegene Epochen und Erscheinungen der Kunst, – ich sage: dabei ber das Nchstliegende hinaus in die Ferne zu schweifen, ist hautgofflt, – wenn nicht Vorwand, um unter irgend einer Firma historisch berechtigt zu scheinen, ohne die beste historische Basis, auf die man sich eben nicht schwingen kann, anerkennen zu mssen. Hierin liegt meine sehr naturgemße und berechtigte Antwort auf das schlagende Citat aus Brendel’s Geschichte der Musik, daß „die von Beethoven ausgegangene große Bewegung in der Wagner’schen Oper ausmndet“, – und zugleich die Charakteristik fr den hier angedeuteten „gewaltigen von Richard Wagner gemachten Fortschritt in der Musik“. Wagner nach Brendel’s Worten als „den Anfangspunkt fr eine neue großartige Umgestaltung“ muß man unbedingt gelten lassen; solche Umgestaltung fhrt aber oft zu ganz anderen Gestaltungen und nicht selten zunchst zu Ungestalten; denn nicht jeder Fortschritt ist zum Besseren, und nicht jeder Schritt zum Besseren braucht zu wesentlich Neuem zu fhren. Die Verwechselung der Begriffe neu und gut und die Mißkennung der eben ausgesprochenen einfachen Stze ist eben ein neuer redender Beweis fr die Unkenntniß der Geschichte, die ich den Herren zum
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Vorwurfe gemacht, und ich habe durch die unreifen geschichtlichen Anschauungen des Herren Dr. mich leider noch nicht davon berzeugen kçnnen – wie er von seinem Leserkreise zu hoffen wagt –, daß es mit meiner Geschichtskenntniß so gar erbrmlich steht. Uebrigens kann nur in der Composition, in dem Melodischen, Harmonischen und Rhythmischen der Musik, von einem Auslaufen der von Beethoven angebahnten Richtung in Richard Wagner die Rede sein, nicht aber in dem „Gesammtkunstwerke“, dessen Anknpfung an Beethoven doch wohl ihre eminenten und unberwindlichen Schwierigkeiten haben mçchte. Wenn Brendel Wagner’s „Melodiebildung anderer Art“ dadurch gengend zu charakterisiren meint, daß sie „aus der innigsten Einheit von Wort und Ton entsteht“, so ist das ein grober Irrthum, denn sie hat diesen Grundsatz mit jeder ursprnglichen, naiven Melodiebildung gemein und drfte in der Durchfhrung desselben leicht von jeder solchen bertroffen werden. Wenn Brendel aber fortfahrend die „bisherige“ als die „absolut musikalische Melodie“ bezeichnet, die „das Wort nur als Unterlage benutzt“, – so liegt darin vollends die großartigste Concession, die dem Bisherigen und gerade seiner ausschließlichen Berechtigung gemacht werden kann; denn in der That hat die Bereinigung von Wort und Ton zum Gesange den Sinn, daß das Wort dem Tone unterliegt zur Individualisirung des knstlerischen Gedankens, den die Musik ja nur in der vagesten Allgemeinheit ausdrcken kann; und es bildet das Wort die Grundlage und Anregung fr den im Tone ausgeprgten Empfindungscharakter. Ich kann glcklicherweise dies eben bezeichnete doppelte Verhltniß zwischen Ton und Wort in Wagner’s Melodiebildung absolut nicht vermissen (denn sonst wrde sie absolut unmusikalisch sein), und die Neuheit seiner Melodiebildung liegt nicht sowohl in einem wesentlich neuen und besseren Verhltnisse zwischen Ton und Wort, als vielmehr ganz lediglich auf dem rein musikalischen Gebiete, wobei ihm allerdings gewisse fr ihn individuell berechtigte, aber keineswegs allgemein verbindliche und vorbildliche Grundstze die Nçthigung zu abweichender Gliederung der Melodie auferlegt haben mçgen, – nmlich der Verzicht – wie ich mich ausgedrckt habe –, auf die der Musik naheliegendsten Mittel“, nmlich „auf gelegentliche Wiederholungen der Textesworte, sowie auf Chorund Ensemblestze“. Es ist unbegreiflich, wie Herren Dr. dieser Ausdruck: „die naheliegendsten Mittel“ zu einem Seitenhiebe begeistern kann. Jede volksthmliche Musik bedient sich dieser Mittel, was – abgesehen von dem vorhandenen Schatze alter volksthmlicher Melodien – selbst dort, wo wir die Gesnge nicht mehr kennen, an vielen Formen der lyrischen Dichtungen zu spren ist, welche mit Rcksicht auf den Gesang selbst im Sprachkunstwerke die Wiederholungen an bestimmten Stellen als Mittel der Darstellung aufgenommen haben. Es ist ja auch in der That sehr natrlich, daß die Musik den Empfindungsausdruck in einer fr das Wort unzugnglichen Tiefe nicht sogleich vollstndig in derselben
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Krze, deren sich der auf jene Tiefe nothgedrungen Verzicht leistende Dichter bedienen kann, zu finden vermag. Sie kommt daher mehrfach mit verschiedenen neuen Wendungen auf dieselbe Empfindung, welche das kurze Dichterwort andeutet, wieder zurck; etwa123 ebenso, wie es der Sprachknstler da macht, wo er ungewçhnlich tief in das Reich der Gedanken hinabsteigt, und wo ihm die vollste Klarheit zu erreichen nur dadurch mçglich wird, daß er dem Kernpunkte seines Gedankens von verschiedenen Seiten her sich zu nhern versucht. Es ist außerdem ein ohne sonderliches Wissen begreifbarer Unterschied zwischen dem Denken und dem Empfinden, daß das erstere sttig fortschreitet, das letzten dagegen zum Verweilen in der gerade herschenden Stimmung neigt. Daher ist es fr die Musik als Kunst des Empfindungsausdruckes eines der „naheliegendsten Mittel“, selbst mit derselben Wendung wiederholt den Grundton der jeweiligen Stimmung wieder anzuschlagen; und sofern sie dabei das Wort als Unterlage benutzen will, bleibt ihr gar nichts Anderes brig, als die Textesworte zu wiederholen. Es wre blçdsinnig und ekelhaft, wenn jemand innerhalb weniger Minuten zwçlfmal und noch çfter als Ausdruck seiner Gedanken einfach sprechen wollte: „Komm doch mein Trauter!“ Daß aber die Empfindung glhendster Liebessehnsucht und zrtlichsten Verlangens so lange unverwandt anhlt und wesentlich nicht ber den brnstigen Aufschrei nach dem Geliebten hinauskommt und folgerichtig musikalisch unverrckt dabei bleibt, ist weder das Eine noch das Andere, sondern ist das Natrlichste und „Naheliegendste“ von der Welt. Ja, man kçnnte mit viel mehr Fug und Recht „den Spieß umdrehen“ und sagen: fr die Bezeichnung des lebhaft fortschreitenden Gedankens ist die Musik – sowohl in der recitativischen wie in der Wagnerischen Form – ein unertrglich schleppendes Mittel. Jener stotternde Apothekergehlfe in der Anekdote, der in’s Zimmer strzt und nach der Melodie des Jungfernkranzliedes singend meldet: „Der Spiritus im Keller brennt, das ganze Haus steht in Flammen“, – ist doch wohl nicht bloß deswegen so erschtternd komisch, weil das Schreckliche der Nachricht mit der Harmlosigkeit und Gemthlichkeit der Melodie und ihres eigentlichen Textes im schrfsten Gegensatze steht, sondern hauptschlich auch deshalb, weil die eilige Mittheilung mit lcherlicher Langsamkeit zu Tage kommt. Ich mçchte wohl jemanden sehen, der sich die Rede des Antonius an der Bahre Csar’s, eines der grçßten oratorischen Meisterwerte und gesprochen von hinreißender und erschtternster Wirkung, gesungen nur ertrglich vorstellen kçnnte! 123 Ich nehme fr dieses Gleichniß in hervorragendem Maße den Entschuldigungsgrund in Anspruch, daß jedes Gleichniß hinkt. Es kann kaum ein schwerer Vergleichbares geben, als den Gedanken und die Empfindung, zumal in Bezug auf die Mçglichkeit ihrer Bezeichnung. Aber diese Unvergleichbarkeit kommt der Behauptung und dem, was ich durch diese Vergleichung dem Erkennen nahe zu legen versucht habe, nur zu Statten.
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Darber ferner, daß Chor- und Ensemblestze natrliche Mittel der Musik sind, lohnt es eigentlich kaum zu sprechen; denn so lange wie Menschen mit verschiedener Stimmhçhe existirt und gemeinschaftlich miteinander gesungen haben, und sobald ber der einfach fortschreitenden melodiçsen Tonreihe auch die Mçglichkeit einer harmonischen Nebenherbewegung einer anderen Reihe (um den Ausdruck „Begleitung“ zu umgehen) erkannt wurde, haben sich Chorund Ensemblestze von selber ergeben, und auch hier bietet uns die lyrische Poesie unzhlige Beweise dafr dar, daß sie auf das Bedrfnis der Musik nach diesen ihr naheliegendsten Mitteln ihrerseits bereits Rcksicht genommen hat. Wohin brigens wiederum der arme Mozart und der vielleicht noch Beethoven kommt, wenn man diese von mir dummer Weise fr die naheliegenden Mittel der Musik gehaltenen Mittel aus dem Tempel der Musik hinausweist, das brauchen wir kaum mehr zu erfahren, da wir dieselben ja bereits als Laien, alles knstlerischen Instinctes baar, Bedrfnissen ganz unsthetischer Art nachgebend u.s.w., kennen gelernt haben. Nach dieser Trçstung durch Franz Brendel giebt der geehrte Herr Verfasser folgenden Satz zum Besten (avis au lecteur: unverdrossen viermal lesen!): Vergleicht man diese Urtheile mit den Proben colossalen Mißverstndnisses, die Herr Bruno Meyer [wo?!] bisher gegeben, so kann man es Richard Wagner wahrhaftig nicht verargen, wenn ihm eine solche Sorte [!] von sthetischen Kritikern in tiefster Seele verhaßt ist, Kritikern, die, um von vielen Mngeln einen der wichtigsten herauszugreifen124, von einer Rckkehr zur Urheimat, von einem Bruderbunde der beiden Kunstgottheiten in der aus dem Geiste der Musik geborenen Tragçdie, des Apollo, als des verklrenden Genius des principii individuationis, durch den allein (Nietzsche, „Geb. der Trag.“, S. 86) die Erlçsung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist, und des mit mystischem Jubelruf den Bann der Individuation zersprengenden und den Weg zu den Mttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge erçffnenden Dionysos, und von der sowohl apollinischen als dionysischen Erregung des Zuhçrers nichts zu berichten wissen (Nietzsche, a.a.O. S. 128), whrend sie nicht mde werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den Sieg der sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragçdie bewirkte Entladung von Affecten mit einer Unverdrossenheit als das eigentlich Tragische zu charakterisiren, die den Gedanken nahe legt, sie mçchten berhaupt keine sthetisch erregbaren Menschen sein
124 Dieser „Griff“ ist einem Dr. wrdig! Wenn Nietzsche’s Buch irgend welche Bedeutung htte, so wre es durch die Neuheit seiner Grundgedankens. Ist dieser aber neu, so ist der „Sorte“ natrlich kein Vorwurf daraus zu machen, daß sie von demselben bis auf das große Jahr des Nietzsche-Evangeliums „nichts zu berichten“ gewußt hat. Htte sie umgekehrt schon vorher die Mçglichkeit gehabt, sich mit diesem Gedanken vertraut zu machen, wo bleibt die „rettende That“ Nietzsche’s?! – O Dr.!
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und beim Anhçren der Tragçdie vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen.“ Uff !!! Man erlaube mir, das Letzte, das einzige Verstehbare in diesem Wçrterlabyrinthe, als eine Albernheit zu bezeichnen, die „den Gedanken nahe legt“, es mçchten die Hanswurstiaden eines Nohl in diesem Kreise glubige Nachbeter finden.125 So viel Verstand nmlich in diesem Phrasengewirre und den ihm zu Grunde liegenden, hier unverdauten Gedanken ist, verstehen die Kritiker meines Schlages (ich kann in diesem Falle natrlich nur von mir ausgehend urtheilen) dergleichen sehr gut; sie mssen sich aber natrlich, an zusammenhngendes, Widersprche nicht duldendes Denken gewçhnt, um so mehr im hçchsten Grade darber verwundern, den hier die Kritik mit Apollo und Dionysos schulmeisternden Herren Kritiker wenige Spalten weiter ausrufen zu hçren: „Als ob je der Affect im Stande gewesen sei (heißt nach neuhochdeutscher Grammatik: wre!), etwas Knstlerisches zu schaffen.“ – Um Gotteswillen! was ist denn dieser doppelte Urquell der von Nietzsche entdeckten wahren Kunst? diese apollinische und dionysische Erregung, die doch beim Zuhçrer unmçglich ist, wenn sie nicht beim Knstler vorher vorhanden gewesen ist; dieser Enthusiasmus, dieser furor poeticus, dieser wahre dichterische Wahnsinn. – was ist er Anderes als ein Affect? Herr Dr. aber fhrt unbeirrt fort: „Die Voraussetzung der Oper ist ein falscher (,Glaube ber‘ ist auch wohl in der deutschen Sprache neu!) den knstlerischen Proceß und zwar jener idyllische Glaube, daß eigentlich jeder empfindende Mensch Knstler sei.“ (Hier ist „sei“ zufllig richtig.) Dieser Glaube ist aber gar kein Wahn, kein „falscher Glaube“. Nicht zwar durch seine Empfindung, aber dadurch, daß er derselben irgendwie in der Form einen Ausdruck giebt, ist „eigentlich jeder empfindende Mensch Knstler“. Es ist das eben die unterste Staffel des – im allgemeinsten Sinne – poetischen Schaffens, die Stufe, auf welcher die Elemente des Ausdruckes gefunden und gesammelt werden, deren sich der bewusst schaffende Knstler als seiner durch die Erfahrung gegebenen Mittel bedient. Der empfindende Mensch, welcher fr seine Empfindung irgend einen noch so naiven Ausdruck findet, ist ein viel bedeutenderer und besserer Knstler als Mancher, der stmperhafte Bilder malt, Dramen schreibt oder Musikstcke componirt; denn nicht das ist das Bedeutendste im Knstler (ich bescheide mich, wenn Herr Dr. das Folgende nicht 125 Ich wre sonst geneigt gewesen, anzunehmen, daß der unvorsichtige Freund im Wagnerschen Lager als enfant terrible officiell desavouirt ist. Denn Herr Dr. verzichtet mit berraschender Bereitwilligkeit auf das Zeugnis Nohl’s, weil ich es – wiewohl „mit unerhçrtem Uebermuth“, d. h. mit dem hier wiederholten Ausdrucke – „verabscheut“ habe.
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versteht),daß er Werke schafft, die man zeigen und recensiren kann, sondern daß er Motive erfindet, und die Erfinder von Motiven sind in der officiellen Geschichte aller Knste furchtbar selten. Aber jeder empfindende Mensch, der sich von Innen heraus einen Ausdruck fr seine Empfindungen schafft (wenn er auch dabei zufllig auf einen fllt, den vor ihm schon ein Anderer gefunden), ist ein solcher Knstler bedeutendster Art, wenn er auch seine Motive nicht zu einem abgerundeten selbstndigen Kunstwerke ausbildet oder in einem solchen verwerthet. Aber was fr eine plumpe Unterschiebung, die man Niemandem zuzumuthen wagen wrde, wenn man nicht selbst plump genug gewesen wre, ihr zum Opfer zu fallen, den Affect der in der Oper handelnden und dargestellten Personen plçtzlich mit dem Affecte des Dichters oder Componisten gleich zu setzen! Welche Unreifheit berhaupt, welcher Mangel an zusammenhngendem, konsequentem Denken in dem hier gegebenen Nachweise fr die Grundlage der Oper! Und wie vergißt der Herr bei seinen Wuthausbrchen gegen diese knstlerische Gattung jede nothwendige Rcksicht auf seinen Herren und Meister und dessen ausschließlich mustergltige Schçpfungen! Gegen den Unsinn, der hier ber die Voraussetzungen der Oper vorgetragen wird, sind alle brigen hirnverbrannten Theorien und Phrasen dieses Schriftstellers und seines Orakels ja noch apollinische Weisheitssprche, und man sollte, wenn man einen mit der Oper sich beschftigenden Menschen solches Zeug im Jahre 1873 ohne Scham und Scheu debitiren sieht, gar nicht glauben, daß bereits im Jahre 1808 August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen „ber dramatische Kunst und Literatur“ die Voraussetzung und Grundlage der Oper eben so feinfhlig und klar wie erschçpfend und richtig vorgeragen hat. Was eifert denn Herr Dr. gegen die singenden Menschen der Oper? Wie viel natrlicher ist denn die Welt mit singenden Menschen, die Wagner voraussetzt? Darin steht er doch vollstndig auf dem Boden der unnatrlichen Voraussetzung. Doch nein, der Opernknstler „zaubert vor sich den ,knstlerischen Urmenschen‘ nach seinem Geschmack hin, d. h. den Menschen, der in der Leidenschaft singt und Verse spricht“ – und das thun bekanntlich Wagner’s Personen nie, wenigstens was das Versesprechen anbelangt: „So toll erhaben Gewsch in reimlos ametrischen Zeilen Seh’ ich fr Verse nicht an, mir ist es rasende Prosa.“126 (Kstner.) 126 Daß ich aber – wie berhaupt ber nichts – auch nicht ber Richard Wagner als Dichter vorgefaßte Meinungen habe und ungerecht urtheile oder urtheilen lasse, geht wohl zur Genge daraus hervor, daß ich neulich (in der Besprechung von H. Eth’s „Essays und Studien“, Bd. V, Heft 2 – noch vor Herren Dr.’s „Beitrgen“ erschienen! –) in einem bestimmten Falle sogar fr den Dichter R. Wagner ausdrcklich und ausfhrlich eingetreten bin.
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Welche Unvorsichtigkeit weiter, dem Operncomponisten es vorzuwerfen, daß er „den Maschinisten und Decorationsknstler in seinen Dienst zwingt“! Um welchen Operncomponisten haben denn die bestorganisirten modernen Theater mit riesigem Kostenaufwande umgebaut werden mssen, um ihre Opern von Seiten des „Maschinisten und Decorationsknstlers“ nur zu ermçglichen? und wo bliebe denn eine Wagner’sche Oper – ich meine natrlich nicht als Musik, sondern, als „Gesammtkunstwerk“ –, wenn sie auf dasjenige Maß von Maschinerien und Decorationen auf der Bhne zurckgefhrt wrde, welches unsere Operncomponisten bis zu Wagner herab fr sich bescheidentlich in Anspruch genommen haben? Mit solchen Expectorationen und Enthllungen gilt dann die Berechtigung eines „grundstzlichen Verzichtens auf den alten Schlendrian“ (die Oper von Gluck ber Mozart und Beethoven bis Weber als Schlendrian ist gut!) im Sinne dieses Herren als erwiesen. Bezglich des „alexandrinischen Menschen“ Nietzsche’s will ich mir noch die Bemerkung gestatten, daß es doch nicht unsere Schuld ist, wenn wir zu solchen geworden sind, denen bei dem „alexandrinischen Aufsammeln aller Culturen der Welt“, bei dem „bengstigend rastlosen Whlen und Graben nach lebenfristenden Wurzeln, sei (wohl auch besser: ,wre‘) es auch unter den Trmmern der entlegensten Alterthmer, …. die krftigste, heilsamste Nahrung sich sofort bei der bloßen Berhrung in ,Historie und Kritik‘ verwandelt“. Es ist uns eben durch einen natrlichen und nimmer rckgngig zu machenden Entwickelungsproceß die Naivitt des freien Schaffens, wie Figura zeigt, verloren gegangen, und damit, daß man uns den „alexandrinischen Menschen“ als ein mçglichst verabscheuungswrdiges Subject vorstellt, wird der modernen Welt und unserem Weltbewußtsein kein ersprießlicher und dankenswerther Dienst geleistet. Was Nietzsche’s mitleidig verchtliche Bemerkung betrifft, daß der neue Stil der Oper (es ist von der Erfindung des Recitatives, also von demjenigen Stile, welcher seine Vollendung in Gluck fand, die Rede) „als die Wiedererweckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen galt“, so ist dies einmal ungenau. Man konnte sich nicht schmeicheln, die griechische Musik, von der man so gut wie nichts wußte, wieder aufleben zu lassen, sondern man glaubte, in dem recitativartig vorgetragenen Drama das antike Bhnenkunstwerk wiedererweckt zu haben. Sollte aber etwa auch Wagner etwas dem Aehnliches, d. h. eine Wiedererweckung des antiken Bhnenkunstwerkes beabsichtigen, so htte ihn darin unbedingt Gluck bei Weitem bertroffen. Kein Zweifel, daß Gluck’s Oper nicht der antiken Tragçdie, wohl aber dem Kunstideale des Alterthumes tausendfach nher steht als Wagner’s musikalisches Drama, ohne daß Letzteres etwa mit der Tragçdie des Sophokles eine grçßere Aehnlichkeit htte als Gluck. Die unsichere und gedankenlose Haltung der Wagnerianer in geschichtlicher Beziehung fhrt hier noch zu einer Bemerkung, die werth ist, beleuchtet zu
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werden. Es heißt da nmlich: „Auf das Verhngnißvollste hat bereits die Oper mit ihrem Getndel ihren schlimmen Einfluß auf die Musik und deren gesammte moderne Entwickelung geltend gemacht, es ist dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie reprsentirten Cultur lauernden Optimismus (! ?) in bengstigender Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrer dionysischen Weltbestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen, vergnglichen Charakter aufzuprgen.“ Angenommen nun einmal, es sei wahr, die Oper habe die Musik verschlechtert, und nicht, sie sei unter gemeinsamen Einflssen mit dieser von ihrer Hçhe in der classischen Periode zu dem tieferen Niveau des Wagner-Zeitalters herabgesunken, – angenommen also, die Oper sei zur Fhrerin der gesammten musikalischen Kunst berufen und auch deren Fhrerin – fr eine „laienhafte“, „unsthetische“ Kunstgattung merkwrdig genug! – thatschlich gewesen, mithin fr die Geschichte der gesammten Musik unbedingt verantwortlich zu machen, so wrde sie dann doch mindestens auch das Verdienst beanspruchen mssen und drfen, frher die Musik zu einer Hçhe, wie die der Mozart und Beethoven ist, emporgefhrt, also gerade das geleistet zu haben, was freilich nach dem frher Gezeigten seitens der Wagnerei als Thatsache und als anerkennenswerther Erfolg geleugnet wird, einstweilen aber doch noch einige Menschen, die nicht erwiesenermaßen zu den dmmsten gehçren, als unvergleichlich werthvoll und wichtig erscheint. Fr denjenigen Einzigen, der „den Muth und die Kraft“ hat, dieser „in der modernen Oper sich spiegelnden alexandrinischen Heiterkeit“ (!) entgegenzutreten, ist daher die „Forderung absoluter Ausschließlichkeit“ eine „unerbittlich strenge, aber unerbittlich nothwendige“. Natrlich! Darauf ist einzig zu wiederholen, was ich bereits in meiner Anmerkung gesagt habe: fr ihn mag sie nothwendig sein, und sie ist von mir und wohl von jedem Verstndigen auch als fr ihn berechtigt anerkannt; aber sie ist beides nicht fr jeden beliebigen Anderen und nicht als Norm fr die moderne Kunst. Die dem Letzteren entgegenstehende Behauptung werde ich „in meinem launenhaften Unverstande fort und fort eine absprechende und bermthige schelten, wenn Herr Dr. mich auch versichert, daß es mir nicht gelingen wird, „das nach den allersichersten (??!) Auspicien bevorstehende allmhliche Erwachen des dionysischen Geistes (Herr Dr. fngt schon an, prophetische Visionen zu haben!) mittelst einer zum ewigen Urquell unseres Seins zurckstrçmenden und an den Griechen sich orientirenden Bewegung in unserem Volke zu verhindern“. Ich kann es nur als eine freilich etwas berwendlich ausgedrckte, aber immerhin richtige Bezeichnung meiner Bestrebungen und derjenigen von Gleichgesinnten anerkennen, wenn hier das historisch-kritische Bemhen als eine „zum ewigen Urquell unseres Seins zurckstrçmende“ – ich wrde sagen: auf die psychologische Grundlage der Kunst zurckgehende – „und an den Griechen sich orientirende Bewegung“ bezeichnet wird. Es ist in der That un-
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zweifelhaft, daß die Natur des menschlichen Geistes und die Art und Kunst des Griechenvolkes im Allgemeinen – noch immer die beiden sichersten Ausgangspunkte sind, um sich in dem Strudel der widersprechenden Meinungen und Richtungen auf dem Gebiete aller Knste richtig zu orientiren. Doch indem ich den Satz noch einmal durchlese, fllt mir auf: vielleicht hat Herr Dr. jenes „mittelst“ nicht auf das „Verhindern“ durch meine Wenigkeit, sondern auf das „Erwachen des dionysischen Geistes“ bezogen; seinem Stile ist so etwas schon zuzumuthen: ein „Erwachen mittelst“ einer Bewegung, die zurckstrçmt zu dem Urquell unseres Seins und sich an den Griechen orientirt! Nun, auch in diesem Falle kann mich das nur erfreuen, daß wir wenigstens einmal authentisch erfahren, welches denn die Quelle und die historische Anknpfung der Kunst der Zukunft ist. Ein klein wenig bedenklich bleibt nach dem vorher Angedeuteten immerhin eine sich ausschließlich an den Griechen orientirende Bewegung gerade fr die Musik doch noch, und es liegt die Vermuthung nicht allzufern, daß die Bewegung sich deswegen an ihnen zu orientiren beliebt, weil wir eben nichts von der griechischen Musik wissen, und diese Anknpfung, welche doch den Schein der historischen Legitimation rettet, fr jede Nachfrage und Controlle mangels von Anknpfungspunkten die unverfnglichste ist. Es kommt ziemlich auf eins heraus, ob man sagt, man knpft an die griechische oder man knpft an die chinesische Musik an, mit dem einzigen Unterschiede, daß von der chinesischen Musik doch noch Einiges in Erfahrung zu bringen wre, was aber auch weiter nichts lehrt als das Wenige, was wir nicht von der griechischen Musik, sondern ber dieselbe ebenfalls wissen kçnnen, daß sie nmlich dem Volke und der Epoche entsprechende Eigenthmlichkeiten hatte, welche sie fr uns Moderne, selbst wenn wir sie in ihrer vollendetesten Form noch besßen, wahrscheinlich ganz unverstndlich, wenigstens hçchst unerquicklich machen wrden. Wir mssen uns schon bescheiden, die Musik als eine wesentlich moderne Kunst aufzufassen, deren fr uns noch verwerthbare Anfnge nicht ber die christliche Kirchenmusik zurckliegen, ja deren fruchtbare Keime wohl smmtlich erst in den letzten drei Jahrhunderten ausgestreut sind. Von da an, von Orlando di Lasso und Palestrina geht eine sttig fortschreitende Reihe hinauf bis zu Mozart und Beethoven. Die Grundprincipien dieser Kunst sind mit Hlfe der modernen Natur- und Geisteswissenschaft auf das Allerwunderbarste als naturgemß und deswegen unverrckbar nachgewiesen, und es ist daher nur auf den theoretischen Grundlagen und – wie kein vernnftiger Mensch leugnen kann – praktischen Erfolgen dieser dreihundertjhrigen Geistesarbeit fortzubauen. Ein Versuch zum Escamotiren dieser Grundlage, ein vorgebliches Hinber- und Zurckgreifen ber jene unbersteigliche Schranke inmitten der vergangenen Jahrhunderte ist eitel Charlatanerie. Ueber dieses Urtheil kann man schimpfen, aber widerlegen kann man es nicht.
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Herr Dr. erkennt nun der Wahrheit gemß an, daß mit dem Vorwurfe der Ausschließlichkeit, welchen er weder zu leugnen noch zu rechtfertigen gewußt hat, auch mein dritter Vorwurf „steht und fllt“; ich brauchte demnach also nur zu constatiren, daß derselbe eben steht, so gut wie der erste. Es wird hier auch nichts Neues beigebracht, ich werde hier nur als „elender alexandrinischer Kritiker, der fr die eigene Roheit nur eine lgnerisch verhllende Form, fr die eigene empfindungsarme Nchternheit … einen sthetischen Vorwand sucht,“ unter Anderen mit Otto Jahn in eine Kategorie gethan, – eine Classification, die selbst in dem Falle noch ungemein ehrenvoll fr mich bleibt, daß ich „als musikalischer Laie eigentlich gar nicht ernstlich“ zu den musikalischen Autoritten dieser Richtung gerechnet werden darf, wie Herr Dr. bemerkt. Es ist eben immer noch anzunehmen, daß Leute von der umfassenden Gelehrsamkeit und von der erprobten Feinsinnigkeit fr knstlerische Leistungen aller Art wie Otto Jahn vor dem Irrthum in einem einzelnen Falle besser bewahrt sind als Leute, die mit der Unvorsichtigkeit und dem Mangel an Umsicht und der Verbohrtheit in Partei-Schlagwçrter – nicht einmal –Meinungen! – arbeiten wie Herr Dr., ein wrdiger Herold des Wagnerianismus in seiner schlimmsten Form, gegen den eigentlich die Secundaner und Primaner als Kmpen schon viel zu schade, gegen den sie jedenfalls schon viel zu mchtig sind. Wie blind ein solcher Gegner um sich herum wthet, geht u. A. daraus hervor, daß er, obgleich er sich wiederholt das Ansehen giebt, mich als Schriftsteller zu kennen, an einer Stelle, wo er gegen mich mit Aufgebot all seiner rhetorischen Knste loszieht, mir den Vorwurf in’s Gesicht schleudert, „daß zu keiner Zeit so viel ber Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist“ wie jetzt; wozu er natrlich Nietzsche citirt, whrend doch wohl, wenn ihm das Wissen dazu zur Seite gestanden htte, die Gerechtigkeit erfordert htte, meine damals bereits vor einigen Monaten erschienenen Vortrge „Aus der sthetischen Pdagogik“, denen gerade diese selbe Betrachtung zu Grunde liegt, nicht ganz zu ignoriren; denn es geht doch noch ber Don Quixote’s weltberhmte Mhlenattaquen, Jemanden um dessentwillen abzustrafen, was er mit einer Energie und Ausfhrlichkeit, wie außer ihm wohl Niemand, keinenfalls Herr Nietzsche, bekmpft und bestreitet. Spaßhaft ist es, von den „Keulenschlgen seiner – d. h. der Wagner’schen – Mißerfolge“ sprechen zu hçren. Von allen Leuten, um deren Unheil es Einem irgend zu thun sein kann, als der bedeutendste Tonknstler der Gegenwart anerkannt werden, seine Opern mit Aufbietung, ja mit Aufopferung aller – z. B. auch der gesanglichen – Krfte auf allen Bhnen vor einem theilnehmenden, zum Theil hingerissenen Publicum aufgefhrt sehen, eine Gemeinde absoluter Verehrer und Bewunderer um sich sammeln, – das hat noch kein vernnftiger, nicht in Parteileidenschaften verblendeter Mensch Keulenschlge von Mißerfolgen genannt; und Niemand von denjenigen, die besonnen jedes Schçne zu wrdigen wissen, ohne das erprobte Gute vorschnell und leichtfertig um eines
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wirklich oder gar nur vorgeblich Besseren willen zu verachten und zu vernachlssigen, – kein Einziger von den Mitgliedern dieser Partei, die ihre Strke keineswegs, wie Herr Dr. vermuthet, nur in der Zahl hat“, ist so thçricht gewesen zu wnschen, daß Wagner nicht „unbeirrt und muthig die betretene Bahn verfolge“, nmlich er persçnlich, sowohl als productiver Knstler wie auch als sthetisirender Schriftsteller. Das soll er ja natrlich nach meiner ausdrcklich ausgesprochenen Meinung auch; nur soll nicht jeder Schwachkopf, wenn er dem Meister nachredet und nachschimpft, sich von dem Meister in schwindelhafte Hçhen mit emporgefhrt whnen, wo ihn kein Verstand mehr sondiren, kein Tadel mehr treffen kann, und namentlich sollte derlei Vçlkchen sich nicht vermessen, eine in den Anfngen ihrer Entwickelung begriffene Kunstrichtung als „maßgebend fr alle Zukunft“ und „zu den hçchsten Hçhen emporfhrend“ mit beneidenswrdiger Sicherheit, die eben auf der Unkenntniß und dem „eminenten Nichtverstndniß“ alles brigen in Wissenschaft und Kunst Geleisteten beruht, çffentlich zu prconisiren. Mißerfolge bei Wagner’s çffentlicher Laufbahn kçnnte man hçchstens darin finden wollen, daß er nicht gleich bei seinem ersten Auftreten berall und in vollem Umfange gewrdigt worden ist. Doch scheint das, abgesehen von allen brigen Umstanden, wohl hinlnglich dadurch gerechtfertigt, daß auch heute noch seine ersten Producte nicht die Hauptsulen seines Ruhmes sind; und will man etwa gar die energischen Anfeindungen seiner Richtung und vereinzelt auch seiner Person zu den Mißerfolgen rechnen, so komme ich da mit der grçßten Entschiedenheit auf meine Ansicht zurck, daß die anmaßende und absprechende Ausschließlichkeit Wagner’s und seiner Richtung und die im Vortragen dieses Glaubensgrundsatzes bewhrte unerhçrte Ungeschicklichkeit und Vorlautheit seiner Nachtreter und Schildknappen, mit einem Worte: das reclamenhafte Auftreten der Wagnerei fr dieselbe verantwortlich zu machen ist. Als ein Werkzeug dieser Reclame fr die Wagnerei habe ich eben auch das „Aushngeschild des Nationalen“ bezeichnen zu drfen geglaubt, und Herr Dr. unterbricht mich in der Anfhrung dieses Passus wieder einmal und natrlich wieder mit einer falschen rhetorischen Form: „Wozu alle die Giftpfeile sammeln u.s.w.“, um unmittelbar darauf ruhig in seinem Citate fortzufahren. Die tppische Unterbrechung benutzt er bloß, um ein kleines Excerpt aus seinem Schimpfwçrterbuche zu verwerthen und meine „mikroskopische und mikrologische Untersuchung“ (ob das eine Charakteristik oder gar ein Tadel sein soll, ist mir nicht ganz klar) jenes von R. Wagner „erschlichenen Heiligenscheines des Nationalen“ als das Zeugniß einer „jeder deutschen Tiefe und Universalitt der Betrachtung baren Anschauung“ zu verketzern. Und das sagt man Jemandem gegenber, der berhaupt so streng wie Wenige und speciell in diesem Falle den Blick auf die Gesammtheit der knstlerischen Entwickelung durch alle Zeiten und durch alle Zweige der Kunst geheftet hlt! Es geht doch nun einmal beim Disputiren nichts ber das Ver-
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stndniß des Gegners! Einstweilen stehen des kurzsichtigen und unwissenden Herren Dr. und meine Prophezeihungen127 einander gegenber; da mssen wir doch wohl mindestens erst Beide abwarten, was aus der Sache wird, und es ist mir sehr lieb, daß Herr Dr. darauf verzichtet hat, die in seinen Worten „latitirende irrige Ansicht vom Wesen der Musik, dem Verhltniß von Ton, Bild und Begriff, in extenso zu widerlegen“. Aber nicht nur zu diese Entschlsse gratulire ich ihm, da ihm eine solche „Widerlegung“ doch hçchstens vor seinem nchsten Leserkreise einigermaßen scheinbar zu machen htte gelingen kçnnen, und zu seinem und meinem Leidwesen diese Belehrung ber Raison und Mores wahrscheinlich noch mehr angeschwellt htte, sondern auch zu der Entdeckung einer irrigen Ansicht, welche die Gewohnheit hat, verborgen zu sein oder sich verborgen zu halten; denn falls – oder da – er es noch nicht weiß, so mçge er es sich bei dieser Gelegenheit merken, daß „latiriren“ nicht „verborgen sein“, sondern „die Gewohnheit haben, verborgen zu sein“ bedeutet. Das – allerdings ungebruchliche – einfache „latirend“, das gepaßt htte (das gelufigere „latent“ wre seiner specifischen Bedeutung wegen auch wohl nicht ganz empfehlenswerth gewesen), war ihm ersichtlich nicht stark genug, und in seinem dunklen Drange griff er hier wie bei der „Calomnie“ zu einem sinnlosen Worte. Natrlich ist das Angefhrte auch wieder bloß schlecht behandelte rhetorische Form der Prteritio, und er versucht dann diese Widerlegung doch noch mit abwehrenden Fragen: „Ist denn etwa die Philosophie weniger Gemeingut aller Bçller als die Musik? Und doch reden wir mit Stolz von einer deutschen Philosophie, die, durch Kant und andere Ritter des Geistes begrndet und fortgefhrt, die zufriedene Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik (? ? ?) durch den Nachweis der Grnzen ihres Erkennen“ vernichtete“ u.s.w. Ich setze voraus, daß man sich dessen erinnert, wie ich, nachdem constatirt worden, daß die deutschen Componisten „mehr und gediegenere Musik“ geschaffen haben als fremde, die Musik „ihrer Bedeutungslosigkeit, d. h. ihres Mangels an concretem Inhalte und der Allgemeinheit ihres Gefhlsausdruckes wegen“, welche Eigenschaften ihre unmittelbare Verstndlichkeit an jedem Orte begrnden, „die internationalste, will sagen unnationalste aller Knste“ genannt habe. Wie kann man nun, wenn man glauben machen will, mich verstanden zu 127 Herr Dr. sagt: „Es ist wahrlich im Interesse der von dem Herausgeber der „Deutschen Warte“ beschirmten Kunst (die hier angedeutete Rolle eines Schirmherren der Kunst spielen zu wollen, dazu fehlt mir der „heitere Optimismus“ der eigenen Werthschtzung, der einem Dr. in seiner Naivitt natrlich ist) sehr zu bedauern („im Interesse bedauern“ – schçne Wendung!), daß Herr Bruno Meyer trotz seiner langjhrigen Beschftigung mit den Priestern und Propheten der Kunst, jngst auch mit einem Propheten des Menschenthums (feinsinnige Anspielung auf Henne’s Abhandlung ber Feuerbach, im achten Hefte meines III. Bandes!), das Weissagen dabei („trotz – dabei“ kçstliches Schriftdeutsch!] doch nicht gelernt hat.“ – „Propheten der Kunst“ – „Prophet des Menschenthums“ – wie artig spielt mein junger Freund mit Worten!!
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haben und selber etwas von Belang vorbringen zu kçnnen, in Bezug auf den nationalen Charakter etwas mit der Musik vergleichen, was von der Sprache abhngig ist?! – Und noch eine zweite Unterschiebung wird gemacht: von einer deutschen Philosophie reden wir freilich, aber nicht von einer nationalen Philosophie. Ich glaube, daß Herren Dr. diese Unterscheidung viel zu wenig gelufig ist, als daß er die Verwechselung mit der Absicht zu tuschen gemacht haben kçnnte; jedenfalls aber verdient sie aufgezeigt zu werden, um die Haltlosigkeit dieses vagen Raisonnements noch klarer an den Tag zu legen. Deutsche Musik haben wir natrlich auch; das ist die Musik, welche von Deutschen herrhrt; aber diese ist eben noch nicht in jedem Falle nationale Musik; und obgleich wir (und wenn es uns noch so schwer wrde und uns noch so sehr rgerte) Wagner’s Kunst, ohne ein Wort zu sagen, zum Schatze der deutschen Musik hinzulegen mssen, weil damit lediglich eine handgreifliche Thatsache ohne jedes Urtheil verzeichnet wird, ist es ein vollkommen discussionsfhiger Gegenstand, ob seine Kunst fr national zu erachten ist oder nicht. Das Letztere, den nationalen Charakter, habe ich mit Grnden bestritten, in denen weder falsche Thatsachen noch sophistische Schlussfolgerungen in Anwendung gebracht sind, und somit bleibt meine These als richtig bestehen. – Die „zufriedene Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik“, eine mißglckte Annexion aus Nietzsche, ist ein so komisches Conglomerat von falsch gewhlten und ungeschickt combinirten Ausdrcken, daß man, um den komischen Eindruck nicht zu stçren, auf eine Auflçsung dieses Rattenkçnigs in dem Scheidewasser der Kritik Verzicht leisten muß. Jedenfalls ist diese Komik und die geistige Potenz ihrer Urheber und Vertreter nichts, was von unserer modernen mit den Attributen „welk“ und „sokratisch“ ausgestatteten Cultur als etwas „SchrecklichUnerklrliches“ oder „Uebermchtig-Feindseliges“ empfunden wird. – Nach einer lngeren Unterbrechung wird der Schluß meiner Betrachtung, daß der nationale Charakter Wagner’s hçchstens durch seine Stoffe belegt werden kçnnte, daß es aber auch damit mangelhaft bestellt sei, als eine „geistvolle (?) Vermuthung“ (?) von mir angereiht, der natrlich nichts entgegengestellt werden kann, als ein „sapienti sat“, und deren nhere Begrndung dem Leser vorsichtigerweise verkniffen wird. Um die Lcke weniger fhlbar zu machen, wird eine Umstellung vorgenommen, so daß an die Anmerkung ber den Stoff der Nibelungen-Trilogie eine mchtige Peroratio angeknpft werden kann. Ich hatte nmlich gesagt: „Von dem Stoffe seines Hauptwerkes steht es fest – Klopstock’s Versuch hat endgltig bewiesen, daß die nordische Mythologie nicht wieder zu einem flssigen Culturelemente im modern deutschen Wesen zu beleben ist, daß er nur wissenschaftlichen, nicht bewußten und empfundenen Zusammenhang mit der heutigen deutschen Nationalitt hat und haben kann.“ Ich gebe zu, daß hierin etwas fehlt, um nicht bloß das „hat“, sondern auch das „kann“ durch den eingeschobenen Satz zu begrnden. Ich htte ausfhren
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sollen, daß, wenn es sich nicht schon aus dem gesammten Verlaufe der Culturentwickelung, welcher das deutsche Volk in frher Zeit von dem Boden seiner eigenen uralten mythischen Dichtung losgelçst und seine Cultur auf die der antiken Welt als ihre Basis gestellt hat, mit Sicherheit abnehmen ließe, Klopstock’s Versuch die letzten Zweifel beseitigt htte, daß u.s.w. Indessen solche Fehler findet natrlich ein Gegner wie Herr Dr. nicht heraus, sonst wrde er im Stande und bereit gewesen sein, das Fehlende ans seinem eigenen Wissen und aus dem Zusammenhange zu ergnzen; er greift viel plumper zu und faßt dafr – gar nichts. „Die Erwhnung des Klopstock’schen Versuchs“, sagt er, „scheint darauf berechnet zu sein, dem urtheilsunfhigen Secundaner oder Primaner zu imponiren, und von sonstigen Versuchen ist am bequemsten zu schweigen.“ Ich schweige nun niemals aus Bequemlichkeit von etwas Thatschlichem und bei der Sache Belangreichem, weil es viel bequemer ist, aus vorhandenen wirklichen Grnden seine Meinung zur rechten Zeit zu ndern oder vorhandene subtilere Scheingrnde von vornherein zu beseitigen, als Abwehren und nachtrgliche Berichtigungen schreiben zu mssen, wenn einmal ein Anderer, der scheinbare von wirklichen Grnden nicht sicher unterscheiden kann, voller Stolz ber seine Entdeckung mit so einem vergessenen Grunde Lrm macht. Hier habe ich es aber selbst schwachen Gemthern gegenber in der That nicht fr nçthig gehalten, noch besonders zu betonen, daß das, was einem Klopstock in einer Epoche der Neubegrndung, mit wirklicher Genialitt und mit bewußtem, breit angelegtem Plane nicht gelungen ist, selbstverstndlich erst recht keinem anderen hat gelingen wollen und kçnnen, der vereinzelt einmal in spterer Zeit auf altnordische Mythenstoffe in irgend einer Dichtungsform zurckgegriffen hat. So viel Einsehen htte ich allerdings selbst Herren Dr. zugetraut, daß er sich htte sagen kçnnen: fr Klopstock konnte es in Frage kommen, ob eine neue deutsche Dichtung lieber auf den nationalen oder auf den griechischen Ueberlieferungen aufgebaut werden solle. Spter haben alle diese Versuche lediglich „wissenschaftlichen Zusammenhang“, mit ihren Stoffen gehabt, und sie gehçren sammt und sonders und mit Einschluß Richard Wagner’s in die verabscheute Nietzsche-Drseke’sche Kategorie des „alexandrinischen Aufsammelns … auch unter den Trmmern der entlegensten Alterthmer“. Die letzte Front des kritischen Feuerwerkes, das Herr Dr. mit vielem Gerusch und wenig Geschick und Erfolg abgebrannt hat, lßt er sich von Nietzsche stellen; er belehrt uns ber die „Wiederbelebung des Mythos“. Ich natrlich fhle mich „dem nationalen Mythos gegenber durch den kritischhistorischen Geist unserer Bildung so zersetzt, daß mir … die Wiederbelebung des Mythos, ja berhaupt vielleicht seine einstmalige Existenz (eine der albernsten und unerhçrtesten Unterschiebungen, deren sich die polemische Literatur entsinnen kann!), nur auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Abstraktionen glaublich und mçglich erscheint“. Jeder vernnftige Mensch sieht
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ein, daß die einstmalige Existenz des Mythos selbst mit der Logik des Swinegels zu beweisen ist: wie kçnnte man ihn „sunst vertellen“? Seinen Inhalt allerdings kenne ich nur auf gelehrtem Wege, nachdem ich von den berlieferten Quellen derselben Kenntniß genommen habe, doch bedarf ich keiner „vermittelnden Abstractionen“ dazu, außer derjenigen vom geschriebenen Worte zum Gedanken, welcher nur Herr Dr. und seines Gleichen sich entschlagen kçnnen, da sie bereits an den Worten genug haben und glauben, etwas gesagt zu haben, wenn sie dieselben wie die Papageien zur Zeit und zur Unzeit bestndig wiederholen. Noch eine andere Unterschiebung will ich beilufig abthun. Herr Dr. sagt in dem oben lckenhaft angefhrten Passus: „mir selbst (und in Folge dessen – der Schluß dnke mich nicht zu khn – der heutigen deutschen Nation)“. Ich habe diesen „khnen Schluß“ nicht gemacht, da ich von mir ganz und gar nicht gesprochen habe; ich sprach ja von einer Zeit, in der von mir berhaupt nicht die Rede sein konnte, von der Zeit Klopstock’s; und ber das, was damals geschehen ist, hat geurtheilt nicht dieser oder jener, der damals ber Klopstock schrieb, auch nicht dieser oder jener Literarhistoriker, sondern die deutsche Nation im Großen und Ganzen, welche den Klopstock’schen Versuch, den nordischen Mythos wieder aufleben zu lassen, zu den Acten gelegt hat. Also wiederum Wind! Nun setzt Professor Nietzsche ein mit einem Satze, der sehr knstlich hingestellt ist, daß in ihm Wahres und Falsches in bestrickender Weise durcheinandergeht: „Ohne Mythos geht jede Cultur ihrer gesunden schçpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab.“ Ja wohl, ein mit Mythen im Hintergrunde der Zeiten umstellter Horizont. Kein Volk wird ohne einen solchen Hintergrund zu einer hohen Cultur kommen; nur fragt sich: welchem Volke fehlt denn solcher Hintergrund? Jedes Volk hat Mythen. – Ohne Mythos aber, das soll doch im Sinne des Herren Nietzsche und seiner Glubigen und in diesem Zusammenhange wohl heißen: ohne noch lebendigen Mythos. Ob dieser vorhanden ist oder nicht, ist aber lediglich eine Thatfrage, die fr uns unzweifelhaft zu verneinen ist. Lebendig ist der Mythos ja doch nur, wenn er geglaubt, nicht, wenn er gewußt wird. Der ganze Satz sagt also mit dem Scheine, viel zu sagen, – gar nichts. Freilich, Herr Dr. ist mit so etwas abzuspeisen. „Worauf anders“, sagt er „weist denn wohl das ungeheure historische Bedrfniß unserer unbefriedigten modernen Cultur, . . . das bengstigend rastlose Whlen und Graben . . . hin, wenn nicht auf den Verlust des nationalen Mythos?“ Sehr einfach: auf den Verlust originaler Schçpfungskraft und der Naivitt in der Anschauung, als eine unleugbare und nicht ungeschehen zu machende Thatsache. Das sind ja eben fr jeden Menschen, der sich mit der Geschichte der Kunstentwickelung beschftigt hat, Trivialitten. – Albernheiten aber sind es, an die „Wiedergeburt des deutschen Mythos“ als ein Grundelement der modernen deutschen Cultur
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zu denken. Der einzige Mythos, der im Leben der modernen Culturvçlker noch als elementare Macht lebendig eine Rolle spielt, ist der christliche Mythenkreis; alle brigen haben lngst ihren Zauber eingebßt und haben ihren Werth nur noch als Producte des dichterisch schaffenden Volksgeistes. In dieser Eigenschaft rangiren die verschiedenen Mythenkreise nach der Tiefe und Feinheit der in ihnen niedergelegten dichterischen Kraft und der volksthmlichen Phantasie, welche ihnen die Entstehung gegeben hat, und unter allen Mythen ragt in dieser Beziehung bei objectiver Betrachtung die griechische Sagenwelt weitaus am meisten hervor, was sich leicht daraus erklrt, daß ihre Ausbildung in der Form, die uns berliefert ist, in eine Zeit fllt, in welcher das Griechenvolk bereits auf einer Hçhe der allgemeinen menschlichen Cultur stand, die seitdem nur in beschrnkten Zeitrumen und auch in diesen nicht ohne çrtlich enge Umgrnzung annherungsweise wieder erreicht worden ist, whrend alle brigen Mythenkreise, so großartig, phantastisch und packend ihre Gebilde auch sein mçgen, die Spuren einer grenden Urzeit, einer noch uncultivirten Epoche an sich tragen. Doch diese Dinge sind fr Jeden, der einige wissenschaftliche Kenntnisse hat und nicht durch Parteiinteressen verblendet ist, so einfach und handgreiflich, daß es nicht lohnt, lnger dabei zu verweilen. Eine Wiedergeburt nicht nur des deutschen, sondern irgend eines Mythos, um daraus ein specifisch nationales Element der modernen Cultur zu schaffen, ist ein Unding, und die Aufsteckung dieses Panieres ein Schwindel, bei dem es nur gilt, unter seinen Bekennern die Betrger von den Betrogenen zu sondern. Das ist natrlich nicht meines Amtes. Ich habe an dieser Stelle nur einen der unflthigsten persçnlichen Angriffe, von denen ich im literarischen Verkehre Kunde habe, da er auch sachlich unmotivirt ist, zurckweisen zu mssen geglaubt, und habe zu dem Zwecke zeigen mssen, mit welcher Art von Waffen in diesem Lager gekmpft wird. Es ist eine ungeheuere Abgeschmacktheit, gerade Jemanden zum Zielpunkte malitiçser Angriffe zu machen, der gar kein Feind der so schlecht vertheidigten Sache ist, und damit vor aller Welt ein Zeugniß von der Charakter- und Haltungslosigkeit des ganzen Trosses zu geben, welcher Wagner und seine Sache in Verruf bringt. Ich wrde diesem Handel eine ganz besondere Wichtigkeit beilegen, wenn er so oder so dazu beitrge, die Polemik und die Apologetik des Wagnerkreises zu grçßerer Besonnenheit zu fhren. Wagner selbst, sollte ich meinen, wre ein viel zu bedeutender Geist, als daß er es nicht schon mde sein sollte, ber Sklaven zu herschen. Was aber ist diese kritiklose Schleppentrgerei Anderes als geistiges Sklaventhum! Hat doch Lessing auch dem Meister gegenber „mit Bewunderung zweifeln und mit Zweifel bewundern“ fr die hçchste Aufgabe des kritischen, – d. h. des verstehenden und verstndigen Menschen erklrt.
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Reaktionen N an Erwin Rohde, 19. 3. 1874: „Herr Bruno Meier hat ber Drseke’s Beitrag zur Wagnerfrage, bauchschtternden Angedenkens, eine lange, schwere widerlegende Abhandlung geschrieben, worin ich als ,Feind unserer Cultur‘ feierlich denuncirt und brigens als verschmitzter Betrger unter Betrogenen dargestellt werde. Er schickte mir seine Abhandlung persçnlich, sogar mit Wohnungsangabe zu; ich will ihm die zwei Schriften des Wilamopses zuschicken. Das heisst doch christlich seinen Feinden wohlthun. Denn was dieser gute Meier sich freuen wird, ber Wilamopsen, das ist gar nicht auszudrcken.“ KGB II/3, Bf. 353, S. 210
Guhrauer, Heinrich: Die Geburt der Tragçdie. In: Jahrbcher fr classische Philologie. Leipzig, Bd. 20, Nr. 1, 1874, S. 49–63. Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik. von Friedrich Nietzsche, ord. Prof. der class. Philol. an der Univ. Basel. Leipzig, verlag von E. W. Fritzsch. 1872. IV u. 143 s. gr. 8. Das buch dem diese anzeige gilt ist ausgesprochenermaszen gar nicht fr philologen geschrieben, sondern fr Richard Wagner und die gemeinde seiner verehrer. es ist auch nach seiner ganzen uszern und innern beschaffenheit, nach seiner tendenz und seinen resultaten gar kein philologisches, sondern vielmehr ein kunstphilosophisches; seine besprechung gehçrt also gar nicht in diese zeitschrift: und mit constatierung dieser thatsache kçnnte unsere anzeige sich eigentlich begngen. Das buch ist aber von einem philologen geschrieben, sogar von einem ordentlichen professor der classischen philologie und, wenigstens frher, begnstigten schler Ritschls; es handelt in seinem ersten teile von den Griechen, und zwar von den schwierigsten problemen der griechischen litteraturgeschichte. es drfte also fr die leser dieser zeitschrift von Interesse sein etwas ber das buch zu hçren, zumal der vf. den anspruch macht gerade fr die erkenntnis griechischer kunstschçpfung und weltanschauung gnzlich neue und epochemachende resultate gewonnen zu haben; vielleicht auch schon deshalb, weil mancher der leser von dem heftigen broschrenkampfe notiz genommen hat, der durch das erscheinen des buchs hervorgerufen worden ist. in einer streitschrift nemlich, die den titel fhrt: „zukunftsphilologie! eine erwiderung auf Friedrich Nietzsches ,geburt der tragçdie‘“ (Berlin 1872) unterzog Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff die aufstellungen des Baseler professors einer beraus scharfen und satirisch geschriebenen kritik. auf seinen angriff antwor-
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tete zunchst der „meister“ Richard Wagner selbst in einem in der sonntagsbeilage der nordd. allg. zeitung vom 23n juni 1872 abgedruckten offenen sendschreiben an Nietzsche, welches in den bereich ihrer kritik zu ziehen eine philologische zeitschrift keinerlei beruf hat. eine zweite erwiderung aber erfuhr der Wilamowitzische angriff durch eine broschre des Kieler professors der philologie Erwin Rohde, betitelt: „afterphilologie. zur beleuchtung des von dem dr. phil. Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff herausgegebenen pamphlets: ,Zukunftsphilologie! sendschreiben eines philologen an Richard Wagner‘“ (Leipzig 1872). auf dieses sendschreiben antwortete Wilamowitz in einer zweiten streitschrift: „zukunftsphilologie! zweites stck, eine erwiderung auf die rettungsversuche fr F. N.s ,geburt der tragçdie‘“ (Berlin 1873). Es liegt dieser anzeige fern sich zum richter zwischen den beiden streitenden parteien aufzuwerfen, aus dem folgenden wird sich ergeben, dasz ref. in allen hauptsachen auf der seite von W.-M. steht, whrend er nicht leugnet dasz dessen heftige abneigung gegen das buch seiner kritik in manchen einzelheiten zum schaden gereicht hat. ber Rohdes sendschreiben sei nur bemerkt, dasz sich dessen verfasser einer maszlosigkeit der grobheit befleiszigt, die gnzlich aufhçrt witzig zu sein, und die auch in scharfen litterarischen fehden bisher wol nicht erhçrt war128 ; dem unbefangenen leser erweckt er dadurch von vorn herein fr seine sache ein ungnstiges vorurteil. unsere anzeige nun sucht ihre aufgabe darin, gegenber der durchaus negativen kritik W.-M.s dem vf. insofern gerecht zu werden, als sie sich bemht ein mçglichst objectives referat ber sein buch zu geben; daran sollen wenige kritische bemerkungen geknpft werden ohne dasz auf einzelheiten nher eingegangen wird. Was zunchst die schreibweise des vf. betrifft, so stellt sich schon mit dieser sein buch auszerhalb der reihe philologischer , ja wol berhaupt auszerhalb der streng wissenschaftlicher werke, vielmehr in die kategorie der Wagner-litteratur. nur dasz N. seinen meister Wagner womçglich noch berwagnert. keine spur von einer ruhigen, in scharfen und klar hervortretenden begriffen sich bewegenden entwicklung. vielmehr ein bunt schillerndes gemisch philosophischer termini mit einem wahren platzregen forciert geistreicher oder geistreich sein sollender metaphern und phrasen, die, wenn man ihnen nher auf den leib geht, teils in nichts zerrinnen, teils der allervagsten auffassung thr und thor çffnen, man nehme gleich den ersten satz mit dem das buch beginnt: „wir werden viel fr die sthetische wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen einsicht, sondern zur unmittelbaren sicherheit der anschauung gekommen sind, dasz die fortentwicklung der kunst an die duplicitt des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in hnlicher weise, wie die ge128 „geflissentliche Verleumdungskunst“, „gewohnheitsmszige flschung“, „anwendung unsittlichster rabulistenkniffe“, „denunciatorische beflissenheit“: mit solchen und hnlichen liebenswrdigkeiten regaliert Rohde seinen gegner.
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neration von der zweiheit der geschlechter, bei fortwhrendem kampfe und nur periodisch eintretender versçhnung abhngt, diese namen entlehnen wir von den Griechen“ usw. was man sich unter „unmittelbarer sicherheit der anschauung“ eines wissenschaftlichen entwicklungsgesetzes denken soll im gegensatz zur „logischen einsicht“ desselben, drfte sich schwer definieren lassen, noch dunkler ist die „periodisch eintretende versçhnung“ der geschlechter, und wie schief knpft das „diese“ des folgenden satzes an das vorhergehende an! berhaupt ist in bezug auf stilistische correctheit und logische verknpfung der gedanken gar manches auszusetzen, verbindende partikeln wie „jetzt, hier, zunchst, gleichfalls, dagegen“ (s. 23) u. werden vielfach schief angewendet, stçrend oder mindestens ermdend wirkt auch die manier N.s neue gedanken ganz nach art der lateinischen uneigentlichen relativstze anzufgen, wobei das relativum oft noch mit „als“ verstrkt wird (s. 13 unten. 38. 46. 52. 53. 69 u. oft), wie frei die metapher verwendet wird, beweist zb. dasz N. s. 21 die musik dem musiker „wie in einem gleichnisartigen traumbilde . . sichtbar“ werden lszt. doch fahren wir gleich an dieser stelle fort, um dem leser ein bild von der redeweise des vf. zu geben: „jener bild- und begrifflose Widerschein des urschmerzes in der musik mit seiner erlçsung im scheine erzeugt jetzt eine zweite spiegelung als einzelnes gleichnis oder exempel. seine subjectivitt hat der knstler bereits in dem dionysischen process aufgegeben: das bild, das ihm jetzt seine einheit mit dem herzen der welt zeigt, ist eine traumscene, die jenen urwiderspruch und urschmerz samt der urlust des scheins versinnlicht. das „ich des lyrikers tçnt aus dem abgrunde des seins“ usw. usw. so geht es durch das ganze buch, man kann weit entfernt sein ein buch erst fr wissenschaftlich courfhig zu halten, wenn es in trockenem commentardeutsch abgefaszt ist, zumal ein solches welches mit philosophischen dingen sich beschftigt, aber die art wie N. in philosophischen termini, in den gewagtesten metaphern und khnsten gleichnisreden sich unaufhçrlich fçrmlich kollert, macht den eindruck, als ob er ber seine sache sich nicht so klar geworden sei, dasz er im stande wre auch in schlichten Worten darber zu reden, und hat jedenfalls die Wirkung, dasz der leser in fortwhrender ungewisheit bleibt, ob er den vf. richtig verstanden habe oder nicht. doch lassen wir unsere misbilligung der schreibweise des vf. nicht unser urteil ber den inhalt seines buches beeinflussen; bemhen wir uns vielmehr nach krften in seine art zu reden uns zu finden, damit es uns mçglich werde seine gedanken recht zu erfassen. Sollen wir den grundgedanken, dessen erweis das buch sich zur aufgabe stellt, kurz im voraus aussprechen, so ist es folgender, die wahre tragçdie wird allein aus dem geiste der musik geboren; dieser geist der musik ist auch einzig das element in welchem sie lebendig bleiben kann, sie hat in hoher vollendung geblht bei den Griechen in den werken des Aeschylos und Sophokles, nicht mehr in denen des Euripides. mit Sophokles hat die tragçdie aufgehçrt zu sein; sie findet ihre neugeburt erst wieder in unserer gesegneten gegenwart, nemlich
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in dem musikalischen drama Richard Wagners. – Die durchfhrung dieser gedanken gibt dem vf. veranlassung im ersten teile seines buches von griechischer musik und dichtung zu reden.129 wie sehr N. berzeugt ist neues und wahrhaft epochemachendes zu bieten, spricht er wiederholt rckhaltlos aus, zb. s. 87, wo er sagt dasz ihm durch seine auffassung „ein so befremdlich eigentmlicher blick in das Hellenische vergçnnt war, dasz es ihm scheinen muste, als ob unsere so stolz sich geberdende Wissenschaft in der hauptsache bis jetzt nur an schattenspielen und uszerlichkeiten sich zu ernhren gewust habe“; vgl. auch s. 30. 115130 u. sonst. versuchen wir nun den Inhalt des N. schen buches kurz zu resmieren, eine aufgabe die um so schwerer ist, als der vf. auch in der anordnung der gedanken ziemlich frei verfhrt. Die beiden aller kunstentwicklung zu grunde liegenden treibenden elemente, die beiden aus der natur selbst machtvoll hervorbrechenden knstlerischen stimmungen, welche den menschen zu knstlerischer nachahmung, zur schçpfung von kunstwerken begeistern kçnnen, lassen sich uns am besten nahe bringen durch die analogie des traumes und des rausches. beide zustnde erheben den menschen ber die matte „lckenhaft verstndliche tageswirklichkeit“, aber jeder auf andere weise, die traumwelt ist die welt des lustvollen schçnen scheins, der den menschen, in beglckender teuschung, erlçst von dem in ihm wohnenden qulenden gefhl der unvollkommenheit seines wachen daseins. die illusion des traumes lszt uns das leben und uns selber erscheinen in dem verklrenden lichte der vollkommenheit, sie versçhnt uns mit der thatsache unserer individuellen existenz; ja sie bewirkt sogar dasz wir gerade in dem bewustsein unserer ichheit uns stark und selig fhlen, alles das aber nicht, ohne dasz uns dabei das leise gefhl des scheins und der teuschung erhalten bleibt. insofern aber der traum uns den schçnen schein des idealen vorspiegelt, ist er selber der „schein des scheins“ zu nennen (s. 15). im rausch dagegen, sei derselbe nun ein wirklich narkotischer oder ein vom gewaltigen frhlingswehen der natur gezeugter, vergessen wir uns selber und unsere widerspruchsvolle sonderexistenz als individuen, wir „zerbrechen“ in „wonnevoller verzckung“ das „principium individuationis“ und gehen auf in dem allgemeinen jubel der natur, mit deren innerstem grunde wir uns eins fhlen. aber diese entzckung des rausches ist nicht, wie die des traumes, eine zufriedene, heitere, sondern eine feurige, leidenschaftliche und eine von schmerz durchzitterte, weil aus ihm erzeugte. sie ist 129 bemerkenswert ist freilich, dasz er selber (s. 85) von seiner ganzen philologisch-historischen abhandlung nur als von einem „ausgefhrten historischen beispiel“ spricht, als htte er noch andere „beispiele“ in petto, von denen er seine nachfolgende entwicklung eben so gut htte ausgehen lassen kçnnen. dem scheint freilich zu widersprechen s. 118 und andere stellen. 130 wenn N. s. 112 sich so weit vergiszt ganz aus heiler haut und ohne jeden anlasz mit den strksten ausdrcken auf Otto Jahn zu schimpfen, so – erscheint es unmçglich in parlamentarischen worten darber sich auszusprechen.
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eine reaction, ein remedium des menschen, mit dem er sich hinweghilft ber das in ihm bergewaltig gewordene, bis zu buddhistischer negation gesteigerte gefhl vom urwiderspruch des wirklichen, sie ist „die selbst am schmerz percipierte urlust“ (s. 148). gegenber diesen „unmittelbaren kunstzustnden der natur“ nun ist jeder knstler nachahmer, und zwar traumknstler oder rauschknstler oder beides zugleich. Diese beiden „zumeist im zwiespalt neben einander hergehenden“, sich „gegenseitig zu immer neuen, krftigeren geburten reizenden“ und schlieszlich sich versçhnenden kunsttriebe des traumes und des rausches waren aber ganz besonders wirksam und lebendig in den Griechen. dafr spricht deutlich die thatsache, dasz sie eben jene beiden kunstmchte symbolisiert haben in den beiden gçttergestalten des Apollon und des Dionysos. wir kçnnen, im hinblick auf die Griechen, jene beiden kunstweiten geradezu und am treffendsten benennen als das Apollinische und das Dionysische. Apollon, als lichtgottheit, „beherscht den schçnen schein der traumwelt“; er ist „als der gott der traumesvorstellungen zugleich der wahrsagende und der knstlerische gott“ (s. 3). aus apollinischer, naiv beglckender traumseligkeit heraus dichtete Homer131; in ihr wandelten kindlich heiter die Homerischen Griechen, noch unberhrt und unbekannt mit dem wildschwelgenden naturrausche, den ihnen Dionysos aus Asien unter flçtenspiel bringen soll. damit aber, dasz Dionysos und sein gefolge auf eben diese „apollinische cultur“ der Griechen trifft, beginnt der kampf zwischen beiden gewalten, der, auszer in der starr apollinisch sich abschlieszenden dorischen kunst, zunchst zu ihrer „versçhnung“ fhrt, und zwar erleidet das Dionysische mszigung und veredlung durch das Apollinische, aus den ursprnglichen, zuchtlosen orgien der Asiaten werden die dionysischen der Griechen zu „welterlçsungsfesten und verklrungstagen“; erst bei ihnen wird jene im rausch sich vollziehende „zerreiszung des principii individuationis“ ein „knstlerisches phnomen“. Und doch ist jene naive heiterkeit der apollinischen Griechen nicht ihr ursprnglicher zustand. sie ist vielmehr selber erst das resultat eines viel frher schon einmal erstrittenen gnzlichen sieges apollinischer mchte ber dionysische. im „erzenen zeitalter“ der Titanen beherschte eine dionysisch – tragische anschauung das Griechenvolk. wer das erkannt hat, dem erst „çffnet sich gleichsam der olympische zauberberg und zeigt ihm seine wurzeln“. denn in der sptern apollinisch-knstlerischen „mittelwelt“ der heiteren Olympier berwanden die Griechen, „jenes zum leiden so einzig befhigte volk“, erst das tragische bewustsein vom urwiderspruch des wirklichen. „aus der ursprnglichen titanischen gçtterordnung des schreckens wurde durch jenen apollinischen 131 „Homer“ ist fr N. hier (s. 14) wie sonst wol wesentlich typus. die Homerische frage kommt fr seine ausfhrungen nicht in betracht. die polemik von Wilamowitz (I s. 14) war also wol nicht nçtig.
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schçnheitstrieb in langsamen bergngen die olympische gçtterordnung der freude entwickelt: wie rosen aus dornigem gebsch hervorbrechen.“ dieser schwer erkmpfte besitz, dieses zuletzt erreichte „vçllige verschlungensein in der schçnheit des scheins“, wie es Homer uns reprsentiert, wird durch die einwanderung des Dionysos von neuem gestçrt. beide mchte gehen nunmehr in wechselwirkung neben einander her, um sich schlieszlich in dem dionysischapollinischen kunstwerk der attischen tragçdie in herlicher harmonie zu verschmelzen. Frwahr: neu sind diese aufstellungen Nietzsches sicherlich, es fragt sich nur ob sie richtig sind. Was die theorie von den beiden natrlichen kunstmchten, der idyllischen erhebung zum ideal mit ihrer erlçsung durch den schein und dem ausgelassenen dionysischen furor, was ihre vergleichung und deutung durch traum132 und rausch betrifft, so gehçrt dies alles der rein speculativen sthetik an; uns interessiert jene theorie nur, insofern sie uns die bahn çffnen soll zu neuer und wahrer erkenntnis des Griechentums. da fragt man denn zunchst, inwieweit unsere historische berlieferung von den Griechen dem vf. die factische grundlage und anregung zu seiner theorie gewesen ist. auf diese frage aber antwortet N. selbst s. 87, dasz er vielmehr „nach der erkenntnis“ vom wesen der musik erst „dem wesen der griechischen tragçdie sich genaht habe“, dasz er in eben dieser erkenntnis erst „des zaubers mchtig zu sein glaubte“, um das Hellenische recht zu verstehen, wol: auch darin liegt unserer meinung nach an sich noch keineswegs ein pq_tom xeOdor (vgl. Wilamowitz I s. 8). dasz wir aber seine a priori gefundene theorie und ihre anwendung auf die Griechen billigen sollen, dazu kçnnen wir nur auf zweierlei wegen gelangen. entweder nemlich die bisher von der philologie festgestellten historischen thatsachen stimmen so gut zu N.s theorien, dasz wir in dieser bereinstimmung eine factische besttigung, einen praktischen erweis eben jener letzteren finden und anderseits die geschichtlichen verhltnisse selbst im lichte jener theorien uns deutlicher und verstndlicher werden mssen als bisher – oder die bisherigen annahmen der philologischen wissenschaft widersprechen zwar vielfach den theoretischen aufstellungen N.s, der vf. aber ist im stande uns zu beweisen, dasz in den differenzpuncten die bisherige philologie geirrt hat. Keine dieser beiden mçglichkeiten zu einer billigung der N.schen theorien zu gelangen ist gegeben, die bisherige historische wissenschaft besttigt zumeist nicht die N.schen erkenntnisse; N. aber denkt seinerseits nicht daran ihr nachzuweisen, dasz sie im irrtum sei. niemand hat bisher Apollon vorzugsweise den gott des traumes genannt und aus dieser seiner eigenschaft sein mantisches 132 freilich, die art wie N. den traum nicht mehr bildlich, sondern im physiologischen sinne des wertes faszt, scheint in jedem falle verfehlt, was er s. 14 von den trumen der Griechen sagt, hat keinen andern wert als den einer fiction.
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und musisches amt abgeleitet, niemand hat, soweit wir wissen, jemals die Griechen als das „zum leiden einzig befhigte volk“ aufgefaszt. niemand hat ihre mythen von den kmpfen der Titanen dahin erklrt, dasz sich in ihnen der sieg optimistischer weltanschauung ber eine tragische, an der verstndlichkeit des daseins verzweifelnde ausspreche, treffend hebt Wilamowitz hervor, dasz die vorstellung, als habe es eine zeit der Titanenherschaft gegeben, unter deren dsterem druck das menschengeschlecht geseufzt habe, den Titanenmythen ganz fern liege.133 N. belehrt uns nicht, wodurch er seine von allem bisher angenommenen abweichenden behauptungen beweisen kçnne. man musz also wol annehmen, er sei von der evidenz seiner theorie so berzeugt, dasz er meint, deren blosze consequenzen htten die kraft die berlieferung wo es not thut lgen zu strafen, dafr wird er aber wenig glubige finden. Doch stellen wir uns auf des vf. standpunct, um seinen weiteren ausfhrungen folgen zu kçnnen. „wir nahen uns jetzt“ fhrt N, s. 19 fort „dem eigentlichen ziele unserer untersuchung, die auf die erkenntnis des dionysischapollinischen genius und seines kunstwerks, wenigstens auf das ahnungsvolle verstndnis jenes einheitsmysteriums gerichtet ist.“ der erste dionysisch-apollinische genius ist der lyriker; sein kunstwerk ist das lied, zunchst das volkslied; lyrische gedichte aber steigern sich in ihrer hçchsten entfaltung zu tragçdien und dithyramben (s. 21). wenn also erwiesen wird dasz alle lyrik aus dem geiste der musik geboren ist, so ist damit auch die geburt der tragçdie aus dem geiste der musik (oder zum mindesten ihre abstammung von demselben) auszer frage gestellt. dem in den folgenden capiteln gegebenen erweis, dasz in der that die musik die mutter aller lyrik sei, liegt die ansicht Schopenhauers ber das wesen der musik zu grunde134, wie berhaupt das ganze buch im sinne Schopenhauerscher philosophie geschrieben ist und sein will. Die dionysische stimmung des lyrikers nemlich wirkt in ihm als eine musikalische, gerade die bei den Griechen „berall als natrlich geltende vereinigung, ja identitt des lyrikers mit dem musiker“ besttigt uns diese erkenntnis, die auch Schiller verbrgt durch eine uszerung, in der er bekennt dasz bei ihm seinem dichten „eine gewisse musikalische gemtsstimmung vorhergehe“, ohne bestimmten und klaren gegenstand; nachher folge erst die poetische idee. von dieser erkenntnis aus aber erklrt sich der process des lyrischen dichtens folgendermaszen: der dionysisch berauschte knstler hat, wie aus dem vorhin gesagten sich ergibt, sein ich vergessen; er ist „gnzlich mit dem ureinen, seinem 133 und selbst wenn dies der fall wre, so wrde uns der mythus doch nur ber die anschauung derjenigen optimistischen generation aufklren, die ihn erfunden hat, nicht aber ber die graue vorzeit, in welcher eben diese erfindung der bereits erlçsten menschen den mythus sich abspielen lszt. 134 die ausfhrlichste uszerung Schopenhauers ber das wesen der musik ist bei N. s. 87 – 89 abgedruckt.
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schmerz und Widerspruch eins geworden“, „der plastiker und der ihm verwandte epiker ist in das reine anschauen des bildes versunken. der dionysische musiker ist ohne jedes bild vçllig nur selbst urschmerz und urwiderklang desselben“ (s. 22), seine stimmung wird nemlich in ihm lebendig als musik. er ist „dionysischer musiker“. die musik allein, als „eine Wiederholung der welt und ein zweiter abgusz derselben“, sie welche nach Schopenhauer nicht, wie die anderen knste, blosz abbild der erscheinung, sondern unmittelbar abbild des „willens“ selbst ist, und insofern „eine im hçchsten grade allgemeine sprache, die sich sogar zur allgemeinheit der begriffe ungefhr verhlt wie diese zu den einzelnen dingen“ – die musik allein ist das medium, unter und in welchem jene „bild- und begrifflose“ und doch auch alle bilder und begriffe potenziell in sich enthaltende rauschstimmung lebendig werden kann. in dieser stimmung aber kann er noch nicht knstlerisch producieren. dies ermçglicht ihm, ja dazu drngt ihn jene andere macht, die „apollinische traumeinwirkung“. sie lszt ihm sein eignes ich mitsamt seinem dionysisch-musikalischen rausche als eine vision erscheinen, so dasz er nun aus der absoluten allgemeinheit und ichlosigkeit seiner dionysischen stimmung heraus sich selber als „einzelnes gleichnis oder exempel“ „in einer zweiten spiegelung“ zum object seiner dichtung macht. dieser apollinische traumzustand aber hat zugleich die Wirkung, dasz er ihn „von seinem individuellen willen erlçst“, ihn im schçnen scheine erlçst von den wirklichen leidenschaften seines wachen zustandes zu „reinem, interesselosem anschauen“. es ist also falsch ihn „subjectiven“ knstler zu nennen. und derselbe Apollon drngt ihn nun auch seine stimmung in entsprechenden bildern, mittels des Wortes zu exemplificieren, die in ihm lebende „musik nachzuahmen“, so ist zb. das volkslied, die ursprnglichste form lyrischer dichtung, zunchst nur melodie gewesen, die sich „jetzt eine parallele traumerscheinung sucht und diese in der dichtung ausspricht. die melodie ist das erste und allgemeine, das deshalb auch mehrere objectivationen in mehreren texten an sich erleiden kann“ (s. 26). daher auch die strophenform des volksliedes. „die dichtung des lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten allgemeinheit und allgltigkeit bereits in der musik lag, die ihn zur bilderrede nçtigte.“ kurzum – denn wir frchten dem leser nicht deutlich genug geworden zu sein – „dies ist das phnomen des lyrikers: als apollinischer genius interpretiert er die musik durch das bild des willens, whrend er selbst, vçllig losgelçst von der gier des willens, reines ungetrbtes sonnenauge ist“ (s. 29). Soweit die sthetik des lyrikers. darauf sei kurz folgendes bemerkt. dasz der lyriker dionysischer knstler sei und sein msse, ist blosz behauptet, die unmçglichkeit einer andern art lyrischen dichtens keineswegs bewiesen, aber selbst dies zugegeben, so ist wieder nur behauptet und keineswegs bewiesen. dasz die musik die einzige quelle dionysisch-lyrischer production und fr dieselbe unentbehrlich sei. denn auch fr den, der einrumt dasz N.s rauschstimmung einen adquaten ausdruck nur finden kann in der musik, wie sie Schopenhauer
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und mit ihm N, auffaszt, folgt noch nicht die notwendige mitwirkung der musik fr die production des liedes. denn dieses ist ja, auch nach N., keineswegs ein adquater ausdruck jener stimmung, sondern nur eine gleichnisartige andeutung derselben. es kann also an sich ebenso gut auf anderem wege geboren sein und hinterher durch die composition zu erhçheter Wirkungskraft belebt werden, wie dies heutzutage thatschlich durchweg geschieht.135 hat ja doch Schopenhauer selber zu N.s bedauern eine andere theorie des lyrischen dichtens aufgestellt. – sehr bedenklich ist ferner, dasz die musik gewissermaszen als elementare kraft wirken soll und doch arten der musik aufgestellt werden, von denen nur eine, nemlich die dionysische, jene zeugende kraft besitzen soll. sehr wenig stimmt hierzu dasz ja von vorn herein die geburt der tragçdie und also auch der lyrik aus dem „geiste“ der musik behauptet wird, bei welchem sehr vagen und mystischen ausdruck sicherlich niemand erwartet nachher nur von einer bestimmt gearteten musik zu hçren. welche musik aber ist dionysische? N. nennt als solche „die orgiastischen flçtenweisen des Olympos“ und bezeichnet berhaupt als dionysisch die flçtenmusik mit ihren ausklingenden getragenen tçnen und ihrer harmonie. ihr gegenber ist die apollinische kitharmusik nichts weiter als „der Wellenschlag des rhythmus“. diese scheidung aber – und damit kommen wir auf die anwendung der N.schen theorie auf die Griechen – lszt sich historisch schwer oder gar nicht durchfhren. denn aulodik gab es, wenigstens nach Westphal, lange vor Archilochos, ja schon in Homerischer zeit, und ebenso polyphonie wenn berhaupt, zum mindesten schon bei Klonas, kitharodische lyrik aber noch nach Archilochos. Archilochos nemlich ist nach N. der erste „typische rauschknstler“. an seiner dichtung musz also die musikalische herkunft der lyrik zuerst und am deutlichsten sich erweisen. so wird er denn auch als der genannt, „von dem uns die griechische geschichte sagt dasz er das volkslied in die litteratur eingefhrt habe“. nun wol: damit ist zunchst constatiert, dasz das volkslied als solches schon vor ihm existiert hat; das hat es auch sicher, und zwar lange vor ihm (vgl. Ritschl opusc. I 245 ff. Westphal gesch. der musik s. 116). eingefhrt in die litteratur hat er die freiere form des volksliedes gegenber der der feierlichen nomoslyrik; diese form aber hat er keineswegs zu volkstmlichen liedern verwandt, sondern zu seiner dem volksmszigen gerade entgegengesetzten subjectiven136 lyrik. oder meint N. mit „volkslied“ etwas ganz anderes als andere leute? dann muste er es doch wenigstens sagen. – Erweisen mste sich auch, wenn Archilochos der erste dionysisch-apollinische genius ist, gerade an ihm als musiker die beschaffenheit 135 die moderne lyrik erscheint denn auch, der antiken gegenber, Nietzsche wie ein „gçtterbild ohne kopf“. 136 „subjectiv“ mit recht genannt, insofern das dichtende subject sich selber zum object seiner dichtung wird, wie N.s lyriker auch; auf welchem wege und in welcher Stimmung das geschieht, ist eine sache fr sich.
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jener dionysischen musik, wie sie N. beschreibt, als allein befhigt die lyrik zu erzeugen. was uns aber von seinen musikalischen neuerungen berichtet wird, stimmt hierzu gar nicht. dasz seine lieder vorzugsweise zur flçte gesungen worden seien, ist unseres wissens nirgends berliefert. die erfindung der durch die begleitung entstehenden mehrstimmigkeit aber wird von Westphal 137 dem Archilochos abgesprochen und in viel frhere zeit zurckdatiert. ber die frage, ob berhaupt alle lyrik des Archilochos musikalisch vorgetragen worden sei oder nicht, wollen wir gar nicht einmal sprechen. Wir mssen also wol zurck zum bloszen „geiste“ der musik. nur freilich dasz aus der vaterschaft dieses „geistes“ fr das kind nicht allzuviel zu folgen scheint. wird ja doch das vorhandensein jenes geistes auch bei Schiller gewissermaszen als beweismoment fr N.s theorie angefhrt, whrend dessen „aus dem geiste der musik geborenen“ gedichte von ihm doch sicherlich weder componiert noch gesungen worden sind. Doch folgen wir dem vf. weiter, die erkenntnis von dem process des lyrischen dichtens erçffnet uns den weg „um uns in dem labyrinth zurecht zu finden, als welches wir den ursprung der griechischen tragçdie bezeichnen mssen“ (s. 30). denn die tragçdie ist nichts weiter als die „hçchste entfaltung“ des lyrischen gedichts; sie entsteht also auch durch eine steigerung der lyrischen production. diese steigerung aber lszt sich, wenn wir den vf. recht verstanden haben, als eine dreifache bezeichnen, nemlich: whrend das lied der dionysischen begeisterung des einzelnen dichters entspringt, verdankt die tragçdie ihre geburt der dionysischen erregung der ganzen masse des Dionysos feiernden volkes. whrend zweitens der lyriker unter der apollinischen traumeinwirkung sich selbst mit seinem denken und empfinden objectiviert und dichtet, ist das object, welches der dionysisch erregten masse durch die apollinische einwirkung visionr erscheint, Dionysos, der gott selber, wie ihn der mythus der vorstellung des volks lebendig gemacht hat. und whrend drittens der lyriker die in ihm lebende und treibende dionysische musik in gedichten nachahmt, steigert und verkçrpert sich die dem dionysisch erregten volke erscheinende vision zu dramatischer darstellung. wenn wir den ursprung der griechischen tragçdie so verstehen, so erhalten wir auch aufschlusz ber die bedeutung des griechischen chors und vor allem ber die thatsache dasz aus ihm die tragçdie entstanden sein soll, der chor nemlich ist das symbol der gesamten, dionysisch erregten masse, welche er knstlerisch reprsentiert und vertritt, die, mit ihm im wesentlichen identisch, in ihm sich selbst wiederfindet. deshalb steht auch der chor in der orchestra, inmitten der zuschauer. der chor ist „zu allererst eine vision der dionysischen masse, wie wiederum die welt der bhne eine vision dieses Satyrnchors ist“. er hat eine neue vision „als apollinische vollendung seines zu137 geschichte der musik s. 136. wir citieren ihn, weil gerade ihn E Rohde fr N.s theorie ins feld fhrt.
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standes“, die sich nun in den apollinischen bildern der scene entladet, die einzige „realitt“ ist der chor, „der die vision (der scene) aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen symbolik des tanzes, des tones und des wortes redet“, deshalb auch nicht selber handelt. dasz aber der gegenstand der vision des chores nunmehr Dionysos ist, kommt daher, weil er im engern sinne des wortes dionysisch verzaubert ist, weil er in dieser seiner verzckung sich nicht mehr als individuum, als Athener fhlt, sondern nur als diener des gottes, als Satyr. 138 eben diese seine verwandlung, die lebhaftigkeit seiner Illusion „in der er sich von gestalten umringt sieht“, „mit denen er sich innerlich eins weisz“, fhrt dazu dasz die apollinische entladung seines zustandes dramatisch sich gestaltet, wodurch seine vision und somit auch die der dionysischen Zuschauer hinter ihm vollkommen wird. „nach dieser erkenntnis haben wir die griechische tragçdie als den dionysischen chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen bilderweit entladet“ (s. 40). niemals aber „bis auf Euripides hat Dionysos aufgehçrt der tragische held zu sein“ (s. 51), der nur nicht mehr selber auftritt, sondern „in einer vielheit von gestalten in der maske der kmpfenden helden“, daher auch „die so oft angestaunte typische idealitt“ der tragischen helden, die nichts weiter sind als die unter dem bilde des individuums vorgestellte gottheit. alle diese helden aber, die zum teil schon die Homerische zeit kennt, werden erst zu dionysischen durch „die heraklesmszige kraft der musik“, welche „den mythus mit neuer tiefsinniger bedeutsamkeit zu interpretieren weisz“, ihn der schon in gefahr gewesen war unter verstandesmszig dogmatischer fixierung abzusterben. die musik ist es, die nach ihrem wesen „die befhigung hat den mythus, dh. das bedeutsamste exempel zu gebren, und gerade den tragischen mythus, den mythus der von den dionysischen erkenntnissen der Griechen redet“ (s. 91). eine „dionysische cultur“ nemlich ist die der classischen Griechen wieder, nicht mehr eine apollinische. nicht der schçne schein vermag sie mehr von ihrer leidvollen weltanschauung zu erlçsen, sondern die in dionysischer erregung sich vollziehende rckkehr zur natur, die eine abkehr ist von dem gleisznerischen scheine der civilisation. das knstlerische phnomen dieser dionysischen cultur ist aber eben der chor der dionysischen choreuten, jener „fingierten naturwesen“139, die mit ihrer urkrftigen satyrnart weit abstehen von der neuerdings aus gleichen bedrfnissen erzeugten schferidylle. das hinzutreten apollinischer einwirkung lszt nun den chor aus sich das dionysisch-apollinische kunstwerk der tragçdie erzeugen. 138 „alle andere chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure steigerung des apollinischen einzelsngers, whrend im dithyramb eine gemeinde von unbewusten schauspielern vor uns steht, die sich selbst unter einander als verwandelt ansehen“ (s. 40). 139 „vielleicht gewinnen wir einen ausgangspunct der betrachtung, wenn ich die behauptung hinstelle, dasz sich der Satyr, das fingierte naturwesen, zu dem culturmenschen in gleicher weise verhlt wie die dionysische musik zur civilisation“ (s. 34).
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Es liegt auf der hand, dasz es unmçglich ist diese theorie N.s im einzelnen kritisch zu besprechen, ohne weit ber die grenzen einer anzeige hinauszugehen. natrlich wird nur der, welcher N.s theorie des lyrikers annimt, auf seine auffassung der tragçdie eingehen kçnnen. aber auch einem solchen drften mancherlei fragen aufstoszen. wie erklrt sich zb. die thatsache, dasz bekanntlich die griechische tragçdie gewçhnlich nicht mit dem chor anfngt, sondern dasz seinem auftreten eine scene vorangeht, die gerade in guter zeit solidarisch mit dem stcke zusammenhngt? so lange der chor nicht vorhanden ist, kann er doch keine vision haben. auch dasz der chor nicht mithandelt, ist eine sehr bedenkliche behauptung. denn wenn er mit den schauspielern auf der bhne redet und auf ihre handlungen einflusz bt, der situation des stckes auch sich nach kleidung und rolle anbequemt, so kann man doch wahrhaftig nicht behaupten dasz er blosz von der scene rede, gar nicht zu sprechen von den fllen wo der chor thatschlich auf der bhne mitspielt (N. s. 32 oben). wie verhlt es sich mit der rolle des chorfhrers? wie fgt sich der in N.s theorie? darber htte doch wenigstens gesprochen werden mssen, wenn ferner vorhin eine theorie des „lyrikers“ gegeben war, so wird daraus jetzt eine theorie der „tragçdie“ abgeleitet, wo bleibt der tragiker? wie erklrt sich dessen knstlerische production? und was den kernpunct der ganzen frage betrifft, das gebundensein der wahren tragçdie an den geist der musik, so kommen hier dieselben bedenken wieder wie vorhin beim lyriker. aus der „befhigung“ der musik den tragischen mythus zu gebren folgt doch wahrlich nicht die Unmçglichkeit, dasz derselbe auch anderswoher erzeugt werden kçnne. und zugegeben auch die geburt der tragçdie aus dem geiste der musik, so resultiert daraus doch noch nicht alles das was N. fr Aeschylos und Wagner als notwendige wesenheiten der tragçdie behauptet. kenne ich denn einen menschen schon, wenn ich die bedingungen seiner geburt und erziehung weisz? gerade die thatsache, dasz auch die tragçdie des Aeschylos und Sophokles den chor beibehalten hat, beibehalten in der form die der entstehung der tragçdie entsprechen mag, die aber eben bei dem ausgebildeten kunstwerk uns modernen so schwer verstndlich ist, haben Schlegel und Schiller sich bemht zu erklren, wie Aeschylos und Sophokles ihren chor sthetisch vor sich rechtfertigten, wie das publicum der Perikleischen zeit, das doch auch das des Euripides war, die mitwirkung und function des chores sthetisch empfunden habe, darber haben sich jene mnner den kopf zerbrochen. ob das richtige schon gefunden ist, ist freilich eine andere frage. dasz aber Kimon und Thukydides, Perikles und Pheidias in den choreuten die N.schen Satyrn sollten gesehen haben, davon kçnnen wir uns nicht berzeugen, es drfte sich auch aus uszerungen der zeitgenossen nicht entfernt beweisen lassen. der versuch eines solchen beweises ist wenigstens von N. nicht gemacht. Doch wir kommen zum schlusz, nemlich zum tode der tragçdie durch den Sokratischen Euripides (s. 55–85). Euripides ist nicht mehr dionysisch – apollinischer, sondern theoretischer, nicht mehr naiver, sondern reflectierender
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dichter, seine helden sind daher auch nicht mehr ideale halbgçtter, sondern alltgliche menschen; er „hat den Zuschauer 140 auf die bhne gebracht“, wie dies in noch hçherem grade von der aus Euripideischem geiste entwickelten neuern komçdie zu sagen sei (?). seine tragçdie ist nur noch „dramatisiertes epos“. an die stelle dionysischer verzckung tritt in ihr der wache, nicht mehr knstlerisch verklrte affect und auf der andern seite verstandesmszige dialektik. jener affect schwelgt in einem rhetorisch-lyrischen pathos. den mythus faszt Euripides rationalistisch. der chor wird ihm etwas zuflliges, eine „wol zu missende reminiscenz an den ursprung der tragçdie“. seine musik geht tonmalend und geknstelt nebenher. Woher aber diese fr die tragçdie so verderbliche richtung des Euripides? von dem einflusz der Sokratischen philosophie. „dies ist der neue gegensatz: das Dionysische und das Sokratische“ (s. 63), „dessen sthetisches grundgesetz ungefhr so lautet: alles musz verstndig sein, um schçn zu sein, als parallelsatz zu dem Sokratischen: nur der wissende ist tugendhaft“. der „sthetische Sokratismus“ ist „das mçrderische princip“, an dem die tragçdie stirbt; denn damit dasz er zur macht gelangt entschwindet der geist der musik. Sokrates ist der „specifische nichtmystiker“; er ist der „typus des theoretischen menschen“. Aber auch im Sokratismus liegt eine knstlerisch productive kraft, die freilich zu ganz anderem fhrt als die dionysisch – apollinische. denn einerseits wird die erkenntnis, die dazu gelangt dasz wir nichts wissen kçnnen, eine tragische; sie fhlt zu hnlichem pessimismus wie der im Dionysischen liegende ist; anderseits aber erfllt den forschenden und erkennenden menschen, und zwar berwiegend, die illusion erkennen zu kçnnen und macht ihn zum optimisten, das dasein wird ihm gerechtfertigt, insofern es ihm begreiflich erscheint. dieser „theoretische optimismus“ , das gegenstck zum apollinischen, ist auch in Sokrates lebendig; dieser „metaphysische wahn“ ist sogar in ihm stark genug ihn zu freudigem sterben zu begeistern. aus ihm geht die neue, Sokratische form der „griechischen heiterkeit“ hervor. er ist es auch, der die wissenschaft gebiert. er aber ist „als instinct der wissenschaft beigegeben und fhrt sie immer und immer wieder zu ihren grenzen, an denen sie in kunst umschlagen musz: als auf welche es eigentlich, bei diesem mechanismus, abgesehen ist“ (s. 81). – Mit diesem Sokratismus ist die vorhergehende periode der dionysischen cultur negiert. aus dem „Aeschyleischen menschen“ wird der „alexandrinische heiterkeitsmensch“. „alexandrinisch“ nemlich lszt sich die Sokratische cultur mit
140 welchen zuschauer? den seiner zeit? der ist nach N. „dionysisch erregt“ und also sicherlich nicht alltagsmensch; von einem andern ist bisher nicht gesprochen. also: entweder der zuschauer wird erst im theater durch die wahre tragçdie dionysisch erregt; dann ist N.s theorie schief; oder nicht: dann ist obige formel schief.
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rcksicht auf die geschichtliche entwicklung141 benennen. dieser Alexandrinismus aber beherscht bis heute die welt. – wer ist es der den „geist der musik“ zu neuem leben erweckt? Der grundgedanke dieses ziemlich umfangreichen abschnitts ber den tod der tragçdie, nemlich dasz die dichtungen des Euripides gegen die des Aeschylos und Sophokles „von des gedankens blsse angekrnkelt“ seien, ist an sich nicht neu; er wird aber vom standpunct der N.schen anschauungen beleuchtet, und es lszt sich nicht leugnen dasz man gerade in diesem abschnitt manchem wirklich geistreichen ausspruche, mancher glnzenden wendung begegnet. nur musz man es wieder mit den historischen einzelheiten ja nicht genau nehmen; man musz die namen „Euripides“ und „Sokrates“ – wenngleich N. sich nicht enthalten kann allerlei anekdçtchen ber die beiden mnner einzuflechten – nur als typen der durch sie vertretenen geistesrichtung auffassen, ebenso wie vorher „Apollon“ und „Dionysos“ nicht im exact-philologischen, sondern mehr im typischen sinne der worte zu nehmen sind. mit dieser concession, die Wilamowitz zu machen nicht geneigt ist, kommt man auch darber hinweg, dem vf. allerlei Anachronismen und Ignoranzen zum vorwurf zu machen; freilich hat man damit zugleich darauf verzichtet aus N.s buche fr die exacte philologie irgend welchen gewinn zu ziehen. wir enthalten uns auf alle diese einzelheiten (wie auch auf das ber Platon und Sophokles gesagte, auf die hypothese vom fortleben des Dionysischen in den mysterien) einzugehen und kçnnen unsere anzeige beschlieszen. denn das von s. 85 bis zu ende (s. 143) gesagte ist, soweit es uns interessiert, im vorhergehenden mit bercksichtigt; brigens aber wird darin nur noch von der gegenwart gehandelt. N. kommt, wie schon angedeutet, darauf hinaus, dasz die musikalische tragçdie und mit ihr die „knstlerische cultur“ der Hellenen wieder auflebt in dem kunstwerk Richard Wagners. ja es scheint (s. 94) als werde letzteres sogar als eine steigerung und vollendung der griechischen tragçdie betrachtet, in deren musik, der unseren gegenber, wir nur „das in schchternem kraftgefhl angestimmte jnglingslied des musikalischen genius zu hçren glauben“. Uns scheint gerade dieser kindlich unvollkommene charakter der musik der tragiker die mçglichkeit der griechischen tragçdie zu bedingen, deren Untergang aber wesentlich dadurch herbeigefhrt zu sein, dasz die musik zu ende des fnften und im vierten jh. anfing sich als selbstndige kunst zu entwickeln.142 daraus folgt fr uns dasz, bei der heutigen hçhe musikalischer kunstleistung, die wiederkehr der griechischen tragçdie erst recht ein praktisches unding ist.
141 die „tragische“ cultur wird in diesem sinne „buddhistisch“, die dionysische cultur „hellenisch“ oder „knstlerisch“ genannt. 142 eine entwicklung die unter den sonstigen einflssen der zeit keine glckliche gewesen zu sein scheint.
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Aber mit Wagnerianern ist nicht zu streiten: denn sie glauben an ihren meister. lassen wir ihnen diesen glauben, der sie selig macht, mitsamt der ganzen Wagner-Nietzscheschen philosophie, welche mit ihrer identificierung von kunst, religion und wissenschaft, mit ihrer „knstlerischen cultur“ im grunde weiter nichts ist als wieder aufgewrmte, ins musikalische bersetzte Novalis-Schlegelsche romantik. lassen wir ihnen aber auch das N.sche werk, mit seinem in mancher beziehung recht interessanten versuch griechische verhltnisse auch einmal vom standpuncte Wagner-Schopenhauerscher sthetik zu betrachten, der verfasser der „geburt der tragçdie“ ist unstreitig ein geistreicher mann; er zeigt sich aber in diesem seinem buche nicht als philologe. die philologie hat keine veranlassung dasselbe als das ihrige in anspruch zu nehmen.
Fuchs, Carl: Gedanken aus und zu Grillparzer’s Aesthetischen Studien. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 5, Nr. 9 vom 27. 2. 1874, S. 105–107, Nr. 11, 13. 3. 1874, S. 129–131, Nr. 12, 20. 3. 1874, S. 145–147, Nr. 13, 27. 3. 1874, S. 161–164. S. 131 Und nun versume man nicht, zu tieferer Einsicht in den Gegenstand, welchen die oben mitgetheilten Bemerkungen Grillparzer’s beleuchten, das 9. Capitel von Fr. Nietzsche’s bereits genanntem Buche [GT] nachzulesen, welches an dieser Stelle von der Nothwendigkeit des tragischen Frevels mit unnachahmlichem Tiefsinn handelt. Wir citiren gleich hier den Satz, welcher etwa (nmlich ohne dass der Verfasser dies beabsichtigt hat) als der Kern dieser Betrachtung, oder als ihr dogmatischer Ausdruck gelten kçnnte (p. 49): „Bei dem heroischen Drnge des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche, ber den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet der Mensch an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch, d. h. er frevelt und leidet.“ (Weiter: „So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den Semiten die Snde als Weib verstanden, so wie auch der Urfrevel vom Manne [Prometheus], die Ursnde vom Weibe begangen wird.“) Man lese das Ganze aber selbst. Nur erwarte man die Belehrung, die Nietzsche zu geben hat, nicht wie Etwas, das mit den Hnden zu greifen und gleich „getrost nach Haus zu tragen“ ist. Wenn es zutrifft, was Heine von den Deutschen einmal sagt: in ihrer Jedem stecke entweder ein Goethe oder ein Kant, so gehçrt Nietzsche zu den Goethe-Naturen und kann nicht allgemein dogmatisch, gleichsam schlich, sondern nur individuell, von Person zu Person, von Gefhl zu Gefhl verstanden werden. Das kommt zunchst daher, dass er Herr in seiner Werkstatt und ber sie ist, und nicht, wie andere Gelehrte „vom
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Fach“, dem Lernenden jedes Stck Handwerkszeug vorzeigt, womit er sein Werk zu Stande gebracht hat, sondern dieses selbst ist aus dem Urgrunde einer ganz eigen ausgeprgten Persçnlichkeit, im Augenblick der Production selbst mhelos, an das Tageslicht getreten, wie viele Nchte auch der Verfasser gebraucht haben muss, um seine das Alterthum und die Philosophie vçllig umfassenden Kenntnisse zu erwerben und sie sich bis zu dieser poesievollen Freiheit des Gebrauches zu eigen zu machen, eine Freiheit, um die Handwerker ihn beneiden, Knstler ihn bewundern mssen. S. 163 Als Fr. Nietzsche sein Buch „Ueber die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ schrieb, war das Wagnerische Feuer in den philologischen Kreise hinbergeweht. Keiner htte es gedacht, und nun brennt da eine schçne Flamme, echte Wahrheitsfreunde aber haben sich gefreut. So ist wohl jedes wahrhaft Bedeutende nicht blos in seinem „Fache“ und fr dieses von Bedeutung. Wir haben in diesem Sinne hier des Buches „Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie“ Erwhnung zu thun, welches weit entfernt ist, blos fr theologische Kreise von Belang zu sein, da sein Inhalt offenbar einen Umschwung in der ganzen Art, diese im Grunde doch eben nicht „theolologisch“, sondern ganz besonders menschlich wichtigen Dinge zu betrachten, darstellt und des Weiteren hervorzurufen geeignet ist. […]Wie es an der gleichen Sttte mit Nietzschens Bchern erschienen ist, und beide Mnner Genossen im Lehramt an der nmlichen Universitt sind, trgt das Overbeckische Buch den deutlichen Stempel der Gesinnungsverwandtschaft mit Fr. Nietzsche und ist im allgemein menschlichen Sinne so bedeutungsvoll, dass selbst an dieser Sttte seiner Erwhnung zu thun, da es zu der grossen Culturaufgabe ein hçchst wichtiges Wort mitzureden hat, mir keineswegs unangemessen scheint. Reaktionen Carl von Gersdorff an N, 14. 5. 1874: „Ueber Fuchs komme ich nicht ins Klare, doch freut es mich seinetwegen, dass er auf Dich hçrt: denn er hat es gewalthig nçthig, dass ihm von Zeit zu Zeit der Kopf gewaschen und die Ohren gerieben werden. Was war das fr plumpes Zeug, was in einigen April-Nummern des [Musikalischen] Wochenblattes die ersten Seiten fllte. Wenn Draesecke so was macht, da zuckt man die Achseln und lacht im besten Falle, aber Dr. Carl Fuchs darf solches Zeug nicht machen.“ KGB II/4, Bf. 541, S. 468
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Oswald Marbach143 an 3. 3. 1874: „anbei erlaube ich mir Ihnen zwei vor Kurzem erschienene Werke zu berreichen, weil ich hoffe, daß Ihnen dieselben sympathisch sein, und daß Sie in denselben Manches finden werden, was im Einklange steht mit den Gedanken, welche Sie in Ihrem mich so eben beschftigenden und lebhaft erregenden Werke: ,Die Geburt der Tragçdie‘ in so großartiger Weise ausgesprochen haben. Ich bedaure, daß Ihre gedankenschwere Schrift mir erst jetzt bekannt geworden ist, ich wrde sonst aus ihr den Muth geschçpft haben bei meiner Besprechung der Oresteia noch ber Manches mich auszusprechen, was ich aus Vorsicht umgehen zu mssen oder nur andeuten zu drfen gemeint war.“ KGB II/4, Bf. 515, S. 398 Emma Guerrieri-Gonzaga an N, 15. 5. 1874: „Es ist mir so eigen mit Ihnen ergangen. Als ich ihre erste Schrift las Geburt der Tragçdie war ich empçrt darber, meine ganze Natur strubte sich gegen das mir Fremde, Unverstndliche in mich aufzunehmen. Es schien mir alles so fantastisch, die Grundlage der griechischen Cultur schien mir verrckt, ich konnte nicht eindringen in ihre Gedanken“. KGB II/4, Bf. 542, S. 470 N an Emma Guerrieri-Gonzaga, 14. 6. 1874: „Da Sie, verehrte Freundin, in Ihrem letzten Briefe eine kleine Beichte gemacht haben, sollte ich eigentlich das Recht haben, ein klein wenig Beichtvater zu spielen, bin aber dazu nicht im Stande und zwar deshalb weil das, was Sie beichten, mir gar sehr gefllt und vielmehr als Sie glauben kçnnen! Nmlich – es ist sehr hbsch dass Ihnen die ,Geburt der Tragçdie‘ befremdend und mein AntiStrauss empçrend vorkam, da ich es nun endlich einmal erlebe, von Jemanden der nicht ,Wagnerianer‘ ist, gern gelesen zu werden. – So wollen wir denn auch kein Wçrtchen ber jene beiden Schriften mit einander sprechen und es ganz und gar der Zukunft berlassen, ob sie uns wieder an jene Schriften erinnert.“ KGB II/3, Bf. 370, S. 235
143 Oswald Marbach (1810 – 1890), vielseitiger Schriftsteller und Professor in Leipzig, Schwager Richard Wagners, sandte N sein Werk „Wiedergeburt der dramatischen Kunst durch Musik“.
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Drseke, Johannes: Beitrge zur Wagner-Frage. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 5, Nr. 33, 34, und 36 vom 14., 21.8. und 4. 9. 1874, S. 403ff, 418ff, 438 ff. Replik auf Meyer, Bruno: Beitrge zur Wagnerfrage. In eigener Sache. In: Deutsche Warte. Umschau ber das Leben. Leipzig, Bd. 5, Nr. 11, November 1873, S. 641–673. Beitrge zur Wagner-Frage. In der jetzigen Zeit – fordert Goethe (Werke Bd. 49, S. 53) – soll Niemand schweigen oder nachgeben; man muss reden und sich rhren, nicht um zu berwinden, sondern sich auf seinem Posten zu erhalten, ob bei der Majoritt oder Minoritt, ist ganz gleichgiltig; – und Tieck (Briefe ber Shakespeare; Krit. Schriften, Bd. 1, S. 158): Mit dem Schweigen gehts nicht mehr; je mehr Anstoss gegeben werden kann, desto mehr Gewinn fr die gute Sache; es werden noch Manche zu den Philistern bergehen, von denen man es jetzt noch nicht denkt, und Diejenigen, die der Fahne treu geblieben, werden hinreichen und fr einen Ueberlufer zehn eifrige Freunde gewinnen. – So dachte ich, als ich im vorigen Jahre – lngst vor der in der „Deutschen Warte“ Bd. IV., S. 509 ff. erschienenen Besprechung der Schrift K. Wagner’s „Ueber Schauspieler und Snger“, was ich hiermit gegenber dem mir von Hrn. Bruno Meyer („D. W.“, Bd. V., S. 643) gemachten Vorwurf der Nichtbeachtung derselben ausdrcklich constatire – meine „Beitrge zur Wagner-Frage“ schrieb, welche im „Musikal. Wochenbl.“ IV., No. 30–32 erschienen und gegen die Haltung der „Deutschen Warte“ und ihres Redacteurs, Hrn. Dr. Bruno Meyer, in der Wagner-Frage gerichtet waren. Hierauf antwortete derselbe in der „D. W.“ Bd. V, S. 641 – 673 mit sehr umfangreichen „Beitrgen zur Wagner-Frage. In eigener Sache“, ber die im Voraus nur ganz im Allgemeinen bemerkt sein mçge, dass ihr Verfasser sich einer Masslosigkeit der Grobheit und Rcksichtslosigkeit befleissigt, die gnzlich aufhçrt witzig zu sein, und die auch in scharfen litterarischen Fehden bisher wohl nicht erhçrt war, ein Umstand, der wesentlich dazu beitragen drfte, in dem unbefangenen Leser von vornherein fr des Schreibers eigene Sache ein sehr ungnstiges Vorurtheil zu erwecken. Es fehlt darnach eben in der vorliegenden Frage der „Deutschen Warte“ – ebenso wie einer ganzen Reihe anderer çffentlicher Organe – leider noch sehr an der Hçhe eines objectiven, nach beiden Seiten hin gerecht abwgenden Standpunctes. Gebannt in die Kreise systematischer Ausschliesslichkeit und pharisischer Selbstgerechtigkeit, werden die Offensivkritiker Wagner’s, wie Bruno Meyer und Andere – Namen zu nennen ist berflssig –, deren Strke allein in der Negation zu liegen scheint, nicht mde, fort und fort Bollwerke gegen Berichtigung, Verstndigung, Ab-
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wgung und Aufklrung zu errichten und dadurch die geschichtswidrigste, durch sie auf das Publicum bergehende Einseitigkeit zu verewigen. Denn „wenn sie“ – kçnnte man ihnen mit Lessing zurufen, der mit den folgenden, seinem 56. Antiquar. Briefe entnommenen Worten einmal in gerechtem Zorne gegen weiland Klotz und Consorten losbrach – „an die wenigen Verfasser sich wagen, denen es Deutschland allein zu danken hat, dass seine Litteratur“ – hier die Schçpfungen auf dem Gebiete des musikalischen Dramas – „gegen die anderer Vçlker in Anschlag kommt: so ist das eine Vermessenheit, von der ich nicht weiss, ob sie lcherlicher oder rgerlicher ist. So hirnlos dergleichen Urtheile sind, so viel Schaden stiften sie gleichwohl in einem Publico, das sich zum Theil erst noch bildet. Der schwchere Leser kann sich nicht erwehren, eine geringschtzige Idee mit dem Namen solcher Mnner zu verbinden, denen solche Stmper solche Armseligkeiten unausgepfiffen vordociren drfen.“ Lichtenberg schrieb im Jahre 1768 „Prophetische Blicke in einen Messkatalog vom Jahre 1868“, darunter: „Abhandlung von der Art zu kritisiren vor und nach dem grossen Krieg, militrisches Verfahren der Zeitungsschreiber und der sogenannten Offensivkritiker berhaupt; – von den Schimpfwçrtern der alten Deutschen, Antichrist und Antikriticus 1860“ (Schriften, Bd. 2, S. 62, 63). – Und wir im Jahre 1874? Wie weit sind wir doch noch von derjenigen Kritik entfernt, die da grndlich aufrumt und subert, die als mitwirkende, mitschçpferische Kraft in Kundgebung bewussten Wollens zur Fçrderung und zum Umschwnge der Kunst beitrgt, damit sie endlich – was R. Wagner in „Oper und Drama“ verlangt – der Knstler selbst be, im Hinblick darauf, dass, nach Goethe’s Ausdruck (Bd. 49, S. 58), die Kunst Niemand fçrdern kann, als der Meister, und dass der Knstler weiss, was seine Kunst vermag, er vor Allen, er allein –? Denn wie nicht Der, welcher lngs der den Blick beschrnkenden Kste rudert, sondern nur wer, um mit Platon zu reden, auf die hohe See des Schçnen sich begibt und dort offenen Auges sich umschaut, allein das Schçne sieht, wie es erschaut werden muss, und daher auch das Wahre, weil ihn die Liebe leitet, – ebenso verhlt es sich mit jener negativen, zerstçrenden, schlechten, und dieser von Wagner in „Oper und Drama“ genauer bestimmten productiven Kritik. Nur diese hat den tiefen und doch so klaren Sinn der Lobrede Diotima’s und des Sokrates auf den Eros in Platon’s „Symposion“ auch im Reiche der Kunst recht erfasst; jener wird er stets verschlossen bleiben. Auch der Verstandesgletscher treibt weder Gras noch Blumen; nur das Mornengerçll hat er. – Hlt mir nun, der ich fr meine Ueberzeugung betreffs der grossen Kunstschçpfungen R. Wagner’s a.a.O. offen und ehrlich eintrat, Hr. Bruno Meyer (a.a.O. S. 673) als seine eigene Kegel und Richtschnur ein Wort Lessing’s entgegen, der auch dem Meister gegenber „mit Bewunderung zweifeln und mit Zweifel bewundern“ fr die hçchste Aufgabe des kritischen Menschen erklrt, so antworte ich ihm mit einem Worte Herder’s (Kalligone, 2. Th. Werke, zur Philos. u. Gesch., Bd. 19, S. 64), das da lautet: „Dem Genie bcke sich die
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Kritik; auch mit seinen Fehlern gebhrt ihm Hochachtung: denn das feinste Urtheil als solches steht unter dem Genie, dies erfinde oder stelle dar, es entdecke oder bereite Entdeckung vor. Wer nicht beleben kann, soll auch nicht tçdten. Eben den liberalsten, den genie-hnlichsten Kritiker zeiget es an, wenn er das Neue, das Schçne und Gute auszeichnend ins Licht stellt und, wenn er kann, vervollkommnet. Die Tadelsucht dagegen, die blos an Fehlern hngt und Federn ablieset, sie verrth eine kleinliche Seele. Ein Jahrbuch, das in jeder Wissenschaft und Kunst nur das Neue, Grosse und Schçne zum Nacheifer und weiteren Verfolg aufstellte, wre ein Werk dem Genius heilig, aufmunternd und ntzlich.“ Doch wozu diese Wnsche, Hoffnungen und Erwartungen? Wozu sich wundern ber die Trostlosigkeit unserer sthetischen ffentlichkeit? Wenn irgendwo, so muss man hier des alten Wortes in strengstem, buchstblichem Sinne eingedenk sein: Nil admirari! Denn richtiges Erkennen, Bemessen und Erfassen des neuen Standpunctes scheint, nach der Natur des Menschen und dem gewçhnlichen Laufe der Dinge, den ersten Blicken der Zeitgenossen in der That versagt zu sein. Das haben alle Heroen des Geistes – ich nenne als fr unsere Zwecke vçllig gengend nur Gluck, Mozart, Beethoven, Wagner – erfahren; das hat Goethe, der grosse Menschenkenner, in seiner Geschichte der Farbenlehre (1. Theil. Werke, Bd. 53, S. 167) mit berzeugender Klarheit zu Nutz und Frommen aller mit- und nachlebenden Kritiker ausgesprochen: „Sobald die Welt den einzelnen Strebenden erblickt, sobald erschallt ein allgemeiner Aufruf, sich ihm zu widersetzen. Alle Vor- und Mitwerber sind hçchlich bemht, ihn mit Schranken und Grenzen zu umbauen, ihn ungeduldig, verdriesslich zu machen und ihn nicht allein von aussen, sondern auch von innen zum Stocken zu bringen. Diese Epoche des eigenthmlichen Strebens ist also gewçhnlich die des Conflictes, und man kann niemals sagen, dass diese Zeit Ehre von einem Manne habe. Die Ehre gehçrt ihm selbst an, und zwar ihm allein und den Wenigen, die ihn begnstigen und mit ihm halten. Sind nun diese Widerstnde berwunden, ist dieses Streben gelungen, das Angefangene vollbracht, so lsst sichs denn die Welt mal auch gefallen; aber auch dieses gereicht ihr keineswegs zur Ehre.“ Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen zur Sache. Hr. Bruno Meyer knpft (a.a.O.) seine gegen mich und meinen Hauptgewhrsmann, Prof. Dr. Nietzsche gerichtete Philippica an eine kurze Anzeige der „Streiflichter auf Dr. Puschmann’s psychiatrische Studie von Dr. Franz Herrmann, eine Schrift, die von ihm wie die Puschmann’s mit einer Oberflchlichkeit abgethan wird, die wahrhaft zum Erschrecken ist und zu sehr ernsten Gedanken Anlass gibt. Ueber die Anzeige der Puschmann’schen Schrift in der „Deutschen Warte“ habe ich mich im „Musikal. Wochenbl.“ IV. No. 30–32 hinlnglich ausgesprochen. An dieser Stelle begnge ich mich, noch einmal kurz und bndig die Ueberzeugung auszusprechen, dass es von Puschmann’s Seite leichtfertig, ja geradezu boshaft
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war, den Versuch eines wissenschaftlich gefhrten Beweises, Richard Wagner sei geisteskrank, in die Welt zu schicken. Eine derartige Schrift darf man nun aber in dem Falle nicht mehr fr „einen geistreichen, wiewohl ungezogenen AperÅu unter wissenschaftlicher Maske“ erklren – was ausser Hrn. Bruno Meyer wohl nicht eben sehr vielen mit den Tageserscheinungen sich Beschftigenden eingefallen sein mçchte; von Aerzten ist ausser Dr. Herrmann der Eine, der Redacteur der „Allgem. Zeitschrift fr Psychiatrie von Lhr“, Dr. Flemming (Bd. 29, Heft 6) gegen Puschmann energisch ausgetreten –, wenn der Verfasser derselben, wie er es thut, einfach Thatsachen flscht, an welcher Flschung Theil zu nehmen einestheils Hr. Br. Meyer sich nicht schmt (s. „Mus. Wochbl.“ IV. No. 30, S. 440b), anderentheils, wie im Verlauf dieser Beitrge sich herausstellen wird, durch treffliche Geschichtskenntniss nicht verhindert wird; – wenn er ferner mit bewusster Absichtlichkeit Citate aus Wagner’s Schriften geradezu entstellt, d. h. fr seine sauberen Intentionen nach Belieben zustutzt, ohne dies usserlich kenntlich zu machen, so zwar, dass er, analog der Behauptung Talleyrand’s, die Sprache sei dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen, consequent in seiner Praxis die Meinung durchzufhren scheint, die Anfhrungszeichen seien nur dazu erfunden, um ungestçrt falsch citiren zu kçnnen und so freilich nicht den Autor, wohl aber den Leser anzufhren – und trotzdem feierlich erklrt: „Unparteiisch und gerecht werden wir nur mit Thatsachen rechten und uns jeder tendenziçsen Ausschmckung und Frbung derselben enthalten“, oder, wie dieselbe Stelle in der 3. verbesserten und vermehrten Auflage der Psych. St. S. 9 lautet: „Wir haben niemals zu ihm (Wagner) weder in politischen noch in knstlerischen Beziehungen gestanden und sind deshalb mehr wie Andere in der Lage, uns jene Objectivitt des Urtheils zu bewahren, welche das Haupterforderniss einer wissenschaftlichen Arbeit sein muss“; – – wenn er schliesslich, gemss dem leider von fast allen Recensenten und Feuilletonisten, die principielle Gegner Wagner’s sind, angewandten Verfahren, mit einem wahrhaft bewunderungswrdigen Aufwand von Schlauheit Stellen aus Wagner’s Schriften einfach aus dem Zusammenhange reisst, sie damit also vçllig unverstndlich macht, und dann zu einem gnzlich heterogenen Zwecke citirt: ein Verfahren, das nirgends von solcher Bedeutung ist wie hier, wo auf derartige Flschungen wissenschaftliche Beweise aufgebaut werden sollen. Die Unredlichkeit solcher Handlungsweise ans Licht gestellt zu haben ist eben, ich wiederhole es, das unbestreitbare, dankenswerthe Verdienst der „Streiflichter“ Dr. Herrmann’s, dessen Mhe Hr. Bruno Meyer freilich fr eine „eigentlich berflssige“ erklrt, da man kaum erwarte, „so schweres Geschtz gegen denselben (d. h. Puschmann) ins Feuer gefhrt zu sehen“. Im Gegentheil. Es verrth wenig Umsicht und Scharfblick, wenn Herr Br. Meyer, Puschmann’s Bedeutung entschieden unterschtzend, das litterarische Product desselben als ein lediglich ephemeres betrachtet, dessen Wissenschaftlichkeit ernsthaft zu untersuchen er fr „komisch uud abenteuerlich“ erklrt. „Puschmann ist nicht
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nur“ – wie das ein Anonymus C. P. zu Bonn in seiner an Nachweisungen dieser Art die „Streiflichter“ Dr. Hermann’s noch bertreffenden Schrift „Richard Wagner und der „Specialist der Psychiatrie“. Berlin, 1873. F. Schneider.“, deren Erwhnung und Bercksichtigung nebst der einer ganzen Reihe anderer Schriften (ich nenne nur Beispiels halber „Richard Wagner und das musikalische Drama“. Von Edouard Schur. Hamburg, O. Meissner, 1873. (sogar in Zarncke’s „Centralblatt“ lngst recensirt), Richard Wagner, und das Deutschthum“. Von Franz Merloff. Mnchen, J. Wurm, 1873 „Richard Wagner. Ein Wort der Aufklrung ber dessen Nibelungen-Trilogie“. Von G. Dullo. Kçnigsberg, Braun und Weber 1872. „Richard Wagner und sein Bhnenfestspiel: Der Ring des Nibelungen“. Von O. Gumprecht. Leipzig, Leuckart 1873, „Freundesworte an den berhmten Tondichter Richard Wagner“. Von Dr. C. G. Hbler. „Richard Wagner und sein neuester Freund“. Eine Erwiderung auf Hrn. Dr. G. Hbler’s „Freundesworte“ von Dr. Alfred Pringsheim. Leipzig, W. Fritzsch, 1873. (cfr. Freundesworte an Gotthelf Hbler. Von W. Tappert „Mus. Wochenbl.“ IV., S. 602a), und vor Allem „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“. Von Friedrich Nietzsche. Leipzig, E. W. Fritsch 1872. die Erwiderung darauf: „Zukunftsphilologie 1“ von Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff. Berlin, Borntrger, 1872, zur Beleuchtung dieser Schrift: Erwin Rohde, „Afterphilologie. Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner“. Leipzig, E. W. Fritzsch, 1872. wogegen gerichtet ein zweites Stck „Zukunftsphilologie“ von dems. Verf. Berlin, 1873 bei Borntrger erschien) wir aus spter anzufhrenden Grnden in der „Deutschen Warte“, wenn auch nur an der bereits citirten Stelle derselben Bd. V. S. 641 ff. nicht erwarten drfen, schlagend beweist, – Puschmann, sage ich, ist nicht „als einzelner Kritiker zu beurtheilen, er ist die hçchste Potenz aller jener Recensenten, wie gerade Richard Wagner sie so vielfach zu ertragen gehabt hat. “ So viel ber Hrn. Bruno Meyer’s Beleuchtung der Puschmann’schen „Psych. Studie“ und der „Streiflichter“ Dr. Hermanns. Dass meine Bemerkungen ber die Art und Weise der Behandlung jener ekelhaften Schrift in der „Deutschen Warte“ und ber das bei dieser Gelegenheit verçffentlichte Geschreibsel des Redacteurs ber die „Wagnerei“ – er nennt es „D. W. Bd. V., S. 641“ eine motivirte Erklrung und Meinungsusserung ber Richard Wagner, den schaffenden Knstler, speciell als Autor der „Nibelungen-Trilogie“ – diesen sehr, sehr unangenehm in seiner Ruhe gestçrt, ihn aus seiner pharisischen Selbstgengsamkeit und seinem echt alexandrinischen Optimismus aufgerttelt haben, beweist nicht blos im Allgemeinen seine zu meinem hçchsten Ergçtzen zu einer sehr umfangreichen Abhandlung angeschwollene Entgegnung in der „D. W.“ Bd. V. S. 641 – 673 beweist nicht blos die mit so viel unnçthiger Emphase schlecht verhehltem Aerger in die Welt hineinposaunte Ankndigung, mir das betreffende Heft der „D. W.“ nebst dem fr die Mitarbeiter dieser Zeitschrift verbindlichen Programm bersenden – was durch Hrn. E. W.
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Fritzsch geschehen ist – sondern vor allen Dingen die im Eingang seiner „Beitrge zur Wagner-Frage“ mit ganz eigenthmlicher Offenherzigkeit gebrachten Plaudereien aus dem Redactionsbureau, die eben nur von Neuem die Thatsache bekrftigen, die ich bereits „M. Wchbl. Jahrg. IV. No. 30 – 32 gebhrend rgte, – Hr. Br. Meyer wird mir auch jetzt wieder selbstverstndlich eminentes Nichtverstndniss vorwerfen –, dass die „Deutsche Warte“ ihre Pflicht gegen die grosse durch Wagner ins Leben gerufene Bewegung auf dem Gebiete nationaler Kunst seit geraumer Zeit grçblich vernachlssigt hat. Was die bei dieser Gelegenheit genannten Namen betrifft, die fr die wrdige Vertretung der Musik in der „D. W.“ in Betracht kommen kçnnten, so freut es mich, dass Hr. H. von Wolzogen, dessen Arbeit ber „die Naseweisheit in der Sprache“ ich in der „D. W.“ Bd. V. S. 208 ff. gelesen, die unverdiente Krnkung nicht erfahren hat, mit seinem Essay ber das erste deutsche Bhnenfestspiel von dem Redacteur der „D. W.“ zurckgewiesen zu werden, da sein Stil und seine Darstellungsweise in dieser geistvollen, trefflichen Arbeit, einer Zierde, des IV. Jahrgangs des „Mus. Wochenblattes“, vor Augen, des deutschen Musterschriftstellers Bruno Meyer jedenfalls, nimmermehr Gnade gefunden haben wrden. Ich selbst ein Pdagoge, der ich meine ganze Zeit und Kraft daransetze, deutsche Knaben und Jnglinge durch die verschiedensten Zweige der Schulwissenschaften sowie auf dem Turnplatz zu tchtigen, unserer wackeren Vorfahren wrdigen Mnnern zu bilden, bin nicht so eingebildet zu whnen, die schwierigsten Probleme der Kunst und der Aesthetik so nebenher noch schçpferisch fçrdern zu kçnnen, hnlich so wie etwa Hr. Bruno Meyer, der seiner Zeit u. A. auch einmal in das Schulfach hineingerochen hat, jngst sich vermaass, mit seinen Vortrgen aus der sthetischen Pdagogik, worber spter noch ein Wort, die deutsche Pdagogik wesentlich zu heben und die pdagogische Litteratur durch schtzbare Beitrage zu bereichern; auch setze ich mich mit der grçssten Gemthsruhe ber Hrn. Meyer’s, von anderen Besprechungen her lngst gewohnte, Nçrgeleien ber meinen Stil, Logik und dergl. hinweg, ich hoffe im Verlauf dieser Entgegnung zeigen zu kçnnen, wie klglich es mit seiner eigenen Logik und Sprachkenntniss bestellt ist Auf einen Vorwurf dagegen, den mir Hr. Meyer, seiner eigenen Productionskraft sich stolz bewusst, im Hinblick auf meine ihm so unbequemen Citate aus Dr. Hermann’s „Streiflichtern“ und Prof. Dr. Nietzsche’s „Geburt der Tragçdie“ entgegenschleudert, dass ich es mir nmlich „grundstzlich erspart habe, eigene Gedanken zu haben“, mçchte ich kurz mit ein paar Worten antworten. Richard Wagner’s Sache ist bereits eine entschiedene, seine Anerkennung vollendete Thatsache. Dass der grosse Meister meiner schwachen Untersttzung in keiner Weise bedarf, das fhlt Niemand lebhafter als ich selbst. Aber gereizt und verstimmt durch die gegen R. Wagner’s nationales Sirenen gerichtete heimische Strçmung, durch die bçswillige, in der çffentlichen Kritik fast epidemisch gewordene Verkennung und Verlsterung des Meisters, hielt ich es fr
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mein Recht und meine Pflicht, nach Krften fr meine Ueberzeugung einzutreten. Zugleich war und bin ich der Ansicht, dass Jeder, der seinem Gegenstande sich mit Ernst gewidmet hat, mitsprechen darf, und dass, whrend es der Sache Wagner’s an tchtigeren Krften, als die meinigen, durchaus nicht fehlt, selbst der kleinste Stein zum Bau als ein immerhin willkommener Beitrag zum Ganzen, mçge er auch in diesem verschwinden, wird angesehen werden kçnnen. Nun ist es zwar kein eigentliches Verdienst – Hr. Bruno Meyer rmpft deswegen nicht wenig die Nase ber mich –, wenn ich in der Wagner-Frage dem Goethe’schen Ausspruch folgte und zu ihm mich gern auch hier ausdrcklich bekenne: Ich habe mir mit Mhe und Fleiss Gefunden, was ich suchte;
doch darf, nach Lessing, seines Fleisses sich Jedermann rhmen. Und zu meiner Entschuldigung kann ich Hrn. Bruno Meyer, der mir selbst jenes geringe Verdienst zu bestreiten geneigt sein drfte, sowie berhaupt allen Lesern, geneigten und ungeneigten, nur mit dem auch von Hrn. Bruno Meyer so gern citirten Lessing, doch berechtigter als dieser, antworten: „Ich bin das Denken wenig gewohnt, aber das Abschreiben ohne zu denken noch weniger“, und: „Mein halbes Leben ist vergangen, um zu lernen, was Andere gedacht haben“. Nun zu Einzelheiten. Durch Hrn. Bruno Meyer selbst erfahren wir, dass es mit der Besprechung von Schriften, die eine gewisse Bedeutung haben, in der „Deutschen Warte“ eine sehr missliche Sache ist. Man ist von Seiten der Redaction weit entfernt davon, sich grndlich um Das zu kmmern, was wirklich bedeutend ist, denn sonst msste Beispiels halber schon dies oder jenes der kurz vorher aufgefhrten Werke zur Berichterstattung zugelassen sein, oder aber die Herren Verleger sind nicht in der Lage, jeder irgendwie nennenswerthen Zeitschrift, mithin auch der „D. W.“, ein Recensionsexemplar zu schicken, und aus diesem Grunde drfte vielleicht die Besprechung eines oder des anderen jener Werke, z. B. das von Prof. Nietzsche: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ entschuldigt (!) werden. Puschmann’s „Psych. Studie“ hatte das Glck, Hrn. Bruno Meyer zugesandt zu werden, wogegen Dr. Herrmann’s „Streiflichter“, wahrscheinlich weil Hr. Meyer erst durch meine „Beitrge zur Wagner-Frage“ mit der Schrift bekannt wurde, erst von der Verlagshandlung aus Mnchen express eingefordert werden musste. Ganz hnlich erging es auch Rich. Wagner’s „Gesammelten Schriften und Dichtungen“. Hr. Bruno Meyer gesteht ganz offen (a.a.O. S. 645): „Die Gesammtausgabe der Wagner’schen Schriften … ist mir bis zum heutigen Tage nach nicht zugegangen, und ich fand mich um so weniger veranlasst, ihrethalben besondere Schritte zu thun, als ich der blossen Zusammenstellung lngst verçffentlichter, bekannter“ – Hr. Bruno Meyer wird uns selbst eine treffliche Probe seiner genauesten (!) Kenntniss der Schriften Wagner’s im Folgenden geben – „und beurtheilter Schriften, d. h. also einem Gesammtneudruck lterer Werke, vom Standpuncte einer Revue der Gegenwart
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keine Alles berschattende Bedeutung beilegen konnte.“ Von einer solchen ist zunchst gar keine Rede – es ist geradezu aus der Luft gegriffen, mir einen solchen Gedanken unterzuschieben –, wohl aber von einer gewissen Bedeutung der Gesammelten Schriften Wagner’s, die fr dieselben den Anspruch htte begrnden sollen, in der „D. W.“ einer eingehenderen Besprechung gewrdigt zu werden, zumal da Vieles von den Mittheilungen Wagners – wie dieser uns in dem Vorwort zu seinen Ges. Schr. u. Dichtg. selbst bekennt – „ganz unbekannt geblieben, das Meiste aber immer nur in dem einer „Brochure“ anhaftenden Sinne einer journalistischen Erscheinung beachtet worden ist.“ Und dann darf man ferner doch wohl mit Recht fragen: Stehts etwa mit Grillparzer’s gesammelten Werken anders als mit denen R. Wagner’s? Und doch beeilten sich alle deutsche Zeitschriften, unter ihnen auch die „Deutsche Warte“, Bd. IV S. 209 ff., jene zu besprechen oder wenigstens auf Anlass des Erscheinens derselben Grillparzer’s Bedeutung und Stellung in der deutschen Litteratur einmal genauer ans Licht zu stellen. Im Hinblick gerade auf Grillparzer und andere frher von ihren Zeitgenossen verkannte und geschmhte Geistesheroen (ich erinnere nur an unsere Classiker Mozart und Beethoven (Hr. Bruno Meyer wird selbstverstndlich davon noch nie etwas gehçrt haben), denn nur in diesem Sinne sprach ich „Mus. Wochbl.“ IV., S. 453a von der Verehrung jener „jetzt von der Geschichte als heilig gepriesenen Classiker“, eine Aeusserung, aus welcher Hr. Bruno Meyer – man bewundere seine Logik (!) – mir folgende in der echten Manier des litterarischen Klopffechters herausgedftelte Schlussfolgerung zieht (a.a.O. S. 651): „Indem er von Classikern spricht, die „jetzt“ von der Geschichte als heilig gepriesen werden, deutet er an, dass seiner Ansicht nach die Zeit nicht mehr fern ist, wo man sich vollkommen ber diese sogenannten Classiker hinweggehoben fhlen wird, und er gibt damit zu, dass der Richtung, in deren Namen und Sinne er spricht, an diesen Vorgngern, ihrer Achtung und Geltung absolut nichts gelegen ist, dass ihre Heroen und Vertreter Mannes genug zu sein meinen, ohne Rcksicht auf diese Vorgnger die Kunst nach ihre Sinne neu zu schaffen“. – Risum teneatus, amici?) ist es hçchst zweckmssig, diejenigen zeitgençssischen Kritiker, die gegenber der grossen Bewegung auf dem Gebiete nationaler Kunst in der reinen Negation ihre Hauptstrke zu suchen scheinen, an ein Wort Goethe’s (Westçstl. Divan. Werke Bd. 5, S. 97) zu erinnern: So lange der Tchtige lebt und thut, Mçchten sie ihn gerne steinigen. Ist er hinterher aber todt, Gleich sammeln sie grosse Spenden, Zu Ehren seiner Lebensnoth Ein Denkmal zu vollenden. Doch ihren Vortheil sollte dann Die Menge wohl ermessen:
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Gescheidter wrs, den guten Mann Auf immerdar vergessen.
Und mit vollem Rechte darf jenen pharisischen Kritikastern auch jenes zwar unter anderen Umstnden gesprochene, aber doch in seiner Tendenz auch auf die Verhltnisse, von denen wir reden, Anwendung findende und gerade durch diese in eigenthmlicher Weise beleuchtete Wort der Schrift zugerufen werden (Matth. 23, 29 – 32): „Wehe euch, Schriftgelehrten und Pharisern, ihr Heuchler, die ihr der Propheten Grber bauet, und schmcket der Gerechten Grber, und sprechet: Wren wir zu unserer Vter Zeiten gewesen, so wollten wir nicht theilhaftig sein mit ihnen an der Propheten Blut. So gebt ihr zwar ber euch selbst Zeugniss, dass ihr Kinder seit Derer, die die Propheten getçdtet haben. Wohlan, erfllet auch ihr das Maass euerer Vter!“ Den drei von Hrn. Bruno Meyer der „Wagnerei“ vorgeworfenen Fehlern, der absprechenden und bermthigen Ausschliesslichkeit, dem erschlichenen Heiligenschein des „Nationalen“, und dem als Evangelium verkndeten Wahn, einen neuen verheissungsvollen Weg fr die Zukunft gefunden and erçffnet zu haben („Mus. Wochenbl.“ IV., S. 453), stellte er, wie sich die freundlichen Leser des „M. W.“ erinnern mçgen, als causa omnium malorum voran das „pq_tom xeOdor der persçnlichen Aufdringlichkeit Wagner’s“. Zunchst freut es mich, mit Hrn. Bruno Meyer darin wenigstens einmal bereinzustimmen, dass ich ebenfalls „das coquette Bekreuzigen vor ,fremdlndischen Flitter‘ in der Rede unter gewissen Umstnden fr thçricht und den fanatischen Purismus fr Philisterei halte“ (a.a.O. S. 648). Mit Recht aber, dnkt mich, hatte ich von dem Humanisten Bruno Meyer hier wenigstens einen treffenden deutschen Ausdruck verlangt; denn dass in der vorliegenden Verbindung der „fremdlndische Flitter“ pq_tom xeOdor von der grossen Masse der sogenannten Gebildeten – Hr. Br. Meyer kennt den Leserkreis seiner „Deutschen Warte“ gar schlecht – wirklich verstanden worden sei, muss sehr ernstlich bezweifelt werden. Hr. Br. Meyer hatte sich die gnzlich berflssige Arbeit, die Bedeutung von pq_tom xeOdor noch genauer, als ich es schon „M. W.“ IV., S. 453a gethan, ersparen sollen. Ich verweise einfach auf die angefhrte Stelle, denn es hiesse Eulen nach Athen tragen, wenn ich mir noch die weitere Mhe nehmen wollte, den Unsinn zu widerlegen, der darin liegt, dass die sonst vçllig unbekannte „persçnliche Aufdringlichkeit Wagner’s“ ein noch dazu mit der besonderen Kraft, „manche Gehssigkeit veranlasst zu haben“, begabtes pq_tom xeOdor soll genannt werden kçnnen. Ich erklrte „M. W.“ IV., S. 471 b, dass es mich viel zu weit fhren wrde, „wenn ich die in den ausgehobenen Worten“ – man wolle dieselben geflligst a.a.O. nachlesen – „Bruno Meyer’s latitirende irrige Ansicht vom Wesen der Musik, dem Verhaltniss von Ton, Bild und Begriff, in extenso widerlegen wollte“. Diese Stelle begeistert den frheren Schulmeister Br. Meyer zu einer
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Zurechtweisung, die von den philologischen Kenntnissen ihres Urhebers eine hohe Vorstellung zu erwecken nicht verfehlen wird und wegen ihrer unaussprechlich schlerhaften Drftigkeit hier eine Stelle zu finden verdient. Er gratulirt nmlich dem Verfasser (a.a.O. S. 669) „zu der Entdeckung einer irrigen Ansicht, welche die Gewohnheit hat, verborgen zu sein oder sich verborgen zu halten; denn falls – oder da – er es noch nicht weiss, so mçge er es sich bei dieser Gelegenheit merken, dass „latitiren“ nicht „verborgen sein“, sondern „die Gewohnheit haben, verborgen zu sein“ bedeutet. Das – allerdings ungebruchliche – einfache „latirend“, das gepasst htte, . . . war ihm ersichtlich nicht stark genug, und in seinem dunklen Drange griff er . . . zu einem sinnlosen Worte.“ Also „latitiren“ heisst nicht „verborgen sein“, sondern „die Gewohnheit haben, verborgen zu sein“? Nun, dass Hr. Br. Meyer in blindem furor paedagogicus sich so weit in sprachliche Belehrungen verstieg, war mindestens von ihm sehr unvorsichtig, fr uns aber, und hoffentlich auch die Leser des „Mus. Wochenblattes“ zugleich sehr ergçtzlich. Bekanntlich drcken die verba frequentativa oder intensiva, deren latitare eines ist, die hufige Wiederholung oder die Verstrkung der Handlung des verbum primitivum (hier latere) aus, und es kommt bei den verschiedenen verbis intensivis ganz auf den Sprachgebrauch an, ob die eine oder die andere Seite des gleichmssig auf alle verba frequentativa im Allgemeinen Anwendung findenden Begriffs ausgebildet ist. Latitare nun bedeutet – wovon Hr. Br. Meyer, falls seine Schulerinnerungen nicht mehr soweit reichten, durch einfaches Nachschlagen leicht htte vergewissern kçnnen – bei Csar, Hirtius und rçmischen Juristen „sich verborgen halten, sich versteckt halten“, besonders auch, um nicht vor Gericht zu erscheinen – ich konnte mich in der angefhrten Stelle gar nicht treffender, mit dem besten Sprachgebrauch bereinstimmender ausdrcken –, und wird bekanntlich von Cicero Horatius, wofr Beweisstellen beizubringen hier natrlich nicht der Ort ist, vçllig gleich bedeutend mit latere gebraucht – Die Leser des „M. W.“ verzeihen diesen kleinen sprachlichen Excurs, ich bin leider gençthigt, meiner Rechtfertigung wegen noch einmal die Geduld derselben auf eine kurze Probe zu stellen. „Was ist fr die Kunst selbst“ fragt Fr. Nietzsche („Geb. d. Trag.“, S. 110), den „M. W.“ IV., S. 456 a fr mich reden lassen zu kçnnen ich mir zur Ehre anrechnete – „von dem Wirken einer Kunstform (d. h. der Oper, und zwar der absolut musikalischen) zu erwarten, deren Ursprnge berhaupt nicht im sthetischen Bereiche liegen, die sich vielmehr aus einer halb moralischen Sphre auf das knstlerische Gebiet hinbergestohlen hat und ber diese hybride Entstehung nur hier und da einmal hinwegzutuschen vermochte?“ Hier begleitet Hr. Bruno Meyer (a.a.O. S.652) das Wort „hybride“ mit folgender in Klammern gesetzten Bemerkung: „(?!auch ein recht angenehmes Fremdwort!, so reinlich und so zweifelsohne)“. Ich dachte beim Lesen dieser Worte: Ist das Unwissenheit, oder fngt hier der Bildungsphilister, seines Schwurs (a. oben a. O.) vergessend, wirklich an, vor dem „fremdlndischen Flitter“ sich zu be-
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kreuzigen? Sollte wirklich das direct aus dem Griechischen bernommene „p q _ t o m x e O d o r “ nach seinem Werthe als Fremdwort dem uns aus dem Lateinischen zugekommenen „hybride“ vorzuziehen sein? Die Frage mçge der Leser sich selbst beantworten. In jedem Falle aber ist es ntzlich, auf die in Fr. Nietzsche’s Worten bereits vçllig klar erkennbare Grundbedeutung des Wortes „hybride“ hier noch einmal kurz hinzuweisen. Hybrida bedeutet, von Thieren und Menschen gleicherweise gebraucht, ursprnglich „von zweierlei Abkunft“, bei jenen besonders einen Blendling von einer zahmen Sau und einem den Eber, bei diesen, wenn der Vater ein Rçmer oder Freigeborner, die Mutter eine Auslnderin oder Sclavin war. Dieses den Begriff und die Bedeutung des Wortes hybrida constituierende Verhltniss ist selbstverstndlich ohne Zwang auf das geistige Gebiet bertragbar, und so findet sich „hybride“ als recipirtes Fremdwort ganz wie an obiger Stelle u. A. in Carl Rosenkranz’ trefflichem neuesten Buche: „Von Magdeburg bis Kçnigsberg“, ber dessen Stil Hr. Bruno Meyer es sich denn doch wohl nicht beikommen lassen drfte, so hochmthig achselzuckend wie ber den Fr. Nietzsche’s abzuurtheilen. Da heisst es (S. 291): „Die Phnomenologie (Hegel’s) ist, wie Kant’s Kritik, in keine Schulkategorie zu zwingen, wie wenn man gefragt hat, ob sie Logik oder Psychologie oder Philosophie der Geschichte sei? Sie ist von diesem Gesichtspunct aus ein hybrides Werk. Sie ist incommensurabel, und ich habe sie in diesem Betracht mit Dante’s Comedia divina und mit Byron’s ,Pilgerfahrt Harold’s‘ auf dem poetischen Gebiet verglichen, die auch gegen die formalen Gattungsbegriffe incommensurabel und doch poetische Riesenwerke sind.“ Zum Schluss dieser vielleicht schon zu lang ausgefallenen sprachlichen Erçrterungen noch ein ergçtzliches Prçbchen Meyer’scher Kritik. Ich sprach („M. W.“ IV., S. 439 a) – mit Herrn Br. Meyer’s J. S.-Referenten, der („D. W.“ IV., S. 379) Puschmann citiert, was jener natrlich weder weiss noch an der betreffenden Stelle rgt – von den „sich wissenschaftlich geberdenden Belletristen, welche mit einer gewissen biederen Calomnie ber Alles schreiben, was sie selbst nicht verstanden haben“. „Den Ausdruck ,Calomnie‘“ – bemerkt mir darauf der Redacteur der „Deutschen Warte“ (Bd. V, S. 648) – „an dieser Stelle passend zu ersetzen, darauf muss ich verzichten: es scheint ihm so etwas wie „Medisance“ oder „Suffisance“ vorgeschwebt zu haben; die ausschliessliche Bedeutung des gewhlten Wortes aber, welche bekanntlich „Verleumdung“ oder falsche „Beschuldigung“ ist, hat nicht den mindesten Sinn, kann also auch von dem Verfasser nicht beabsichtigt sein, und es ist ihm nur passirt, was unberufenen Scribenten çfter begegnet, dass sie in dem dunklen Drange, einen recht treffenden Ausdruck zu finden, nach einem recht vollklingenden fremden haschen und dabei einen unrichtigen treffen.“ O ber den berufenen deutschen Sprachwart und Musterschriftsteller Bruno Meyer! Was sich doch der arme Richard Wagner Alles von seinen Herzensfreunden, den Kritikern, vorschulmeistern lassen muss! Denn kein Geringerer als dieser ist es, den jene Worte
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Bruno Meyer’s treffen. Doch nein, was rede ich? Dergleichen braucht ja der Herausgeber der „Deutschen Warte“, der mit so stolzer Brstung auf seine sonstigen Schriften und Aufstze verweist und ob deren Nichtbeachtung den Verfasser so hart und unwillig tadelt, berhaupt nicht zu wissen, da ihm die Gesammtausgabe der Werke Wagner’s nicht zugestellt wurde, und er eine Beschaffung derselben zum Zwecke der Besprechung in der „Deutschen Warte“ aus den oben von ihm selbst vernommenen Grnden fr berflssig hielt. Daraus ergeben sich nun allerlei Uebelstnde, deren einer gerade hier zu Tage tritt. In der Vorrede nmlich zu seinen Gesammelten Schriften sagt Richard Wagner – von dessen Stil zu lernen Hr. Br. Meyer sich nicht zu schmen brauchte; die auf der Hand liegende Bedeutung des fraglichen Ausdrucks noch besonders zu erlutern, wrden mir die Leser des „Mus. Wochenbl.“ bel nehmen – wçrtlich Folgendes: „Man hat da angefangen mich ernsthaft zu nehmen, wo nichts wahrhaft ernst genommen wird, nmlich in der Sphre unserer wissenschaftlich sich geberdenden Belletristik, in welcher Philosophie, Naturforschung, Philologie und namentlich auch Poesie mit witziger Manier behandelt werden, ausser wenn unbegreifliche Grnde zu irgend einer unbedingten Anerkennung vorhanden sind. Ich habe bemerkt, dass dieses System biederer Calomnie sich auf die Annahme Dessen grndet, dass die dort besprochenen Schriften und Bcher vom Leser nicht gelesen werden“ – ein Ausspruch, der in seinen letzten Zeilen durch Hrn. Br. Meyer’s Verfahren buchstblich besttigt wird. – Doch genug hiervon. Ich hatte („Mus. Wochbl.“ IV., S. 471a) behauptet und behaupte noch, „dass zu keiner Zeit so viel ber Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist“, wie in unserer Zeit. Hr. Br. Meyer fhlt sich durch diese Worte veranlasst, mich („D. W.“ V., S. 668) unnachsichtlich der Ignorierug seiner Vortrge „Aus der sthetischen Pdagogik“, denen gerade dieselbe Betrachtung zu Grunde liege, zu zeihen, und ich habe darauf mit ein paar Worten zu antworten. Ich trug nmlich Bedenken; die in der angefhrten Schrift niedergelegten Ansichten Br. Meyer’s zu bercksichtigen, da durch dieselbe diejenige Eigenschaft, die ich bisher als ber allen Zweifel erhaben bei Hrn. Meyer voraussetzte, seine national-deutsche Gesinnung, die uns doch bei allen Fragen unserer Kunst und ganz besonders in der Pdagogik in erster Linie stehen muss, in das schlimmste Licht gestellt wird, und der zuvor gegen Hrn. Meyer erhobene Vorwurf des Dilettantismus die schlagendste Besttigung erfhrt Aus der Besprechung dieses Buches im „Central-Organ fr die Interessen des Realschulwesens“ Jahrg. II., S. 32 bis 42 kann ich es mir nicht versagen – Hr. Dr. H. Beck, der unermdliche, wackere Vorkmpfer fr das Realschulwesen und fr eine gesunde deutsche Pdagogik in der deutschen Schule berhaupt, wird mir im Interesse der Sache das gern gestatten – Einiges anzufhren, um den Lesern des „Mus. Wochenblattes“ von dem Geist der Vortrge eine Vorstellung zu geben, wenn auch auf die Gefahr hin, dass Hr. Br. Meyer wiederum ber diese
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meine Unselbstndigkeit, mein grundstzliches Verzichtleisten auf eigene Gedanken, ein gewaltiges Zetergeschrei erheben wird. Auf S. 1–32 handelt Hr. Br. Meyer von der „Stellung und Wichtigkeit des Aesthetischen als Erziehungsmittel und Unterrichtsgegenstand“. „Durch seine kunstwissenschaftlichen Studien einerseits und seine pdagogische Thtigkeit glaubt sich der Verf. besonders fr diesen Gegenstand berufen. Seine kunstwissenschaftlichen Studien htten sich in den letzten Jahren nicht unerheblich erweitert und seine Auffassung vertieft. Ob ich aber ein Gleiches von meiner Einsicht in die Wissenschaft der Pdagogik aussagen kann? Fast bezweifle ich es. Was ich meinen Beobachtungen hinzugefgt, was in meinen Ansichten corrigigirt und modificirt, befestigt und besttigt habe, das ist mehr – und fast ausschliesslich – das Resultat zuflligen Findens durch einige fr den Stoff einmal geweckten Sinne, als systematischen Suche: in der Absicht, das ganze Gebiet berblickend zu beherrschen. So der Verf. recht naiv ber sich selbst S. 2 und 3. Die nachfolgenden Betrachtungen besttigen dieses Urtheil nur zu sehr. S. 4 heisst es: „Die Pdagogik lehrt die Mittel, den Menschen zum Menschen zu machen. Kein (??) anderes Geschçpf ausser dem Menschen bedarf einer Anleitung und Vorbereitung dazu, nach den Anforderungen seiner Gattung zu leben; nur der Mensch muss erst wahrhaft zum Menschen gemacht, zur Humanitt, d. h. zur Menschheit in ihrer hçchsten, reinsten Form herangebildet werden.“ Diese Phrase von der Humanitt, die im vorigen Jahrhundert auf den Markt kam, findet noch immer willige Kufer. Aber worin diese Menschheit in ihrer hçchsten, reinsten Form eigentlich besteht, das hat noch kein Weiser, auch Hr. Meyer nicht, gesagt. Dass jedes Volk seine Art fr die vollkommene und beste hlt, wusste schon der alte Herodot (a. S. 38); da jeder Mensch auf eigene Art die Menschheit darstellen soll, legt Schleiermacher in seiner Ethik und seiner Erziehungslehre dar; universelle (oder identische) und individuelle Erziehung msste in einander verwachsen. Spilleke (Schulschr. S. 11): „Geht alle Entwicklung in der Geschichte der Vçlker auf etwas Anderes hinaus als auf ein immer mehr persçnliches Menschwerden dieses allgemein Menschlichen? Kann daher auch die Erziehung und Bildung des Einzelnen, in welchem das allgemeine Welt- und Lebensprincip sich immer wieder abspiegeln muss, auf etwas Anderes hinausgehen, als dass das Allgemeine immer mehr etwas Bestimmtes werde? – Wie abenteuerlich wrde es einem Griechen vorgekommen sein, wenn man ihm zugemuthet htte, das rein Menschliche formell in seinen Kadern entwickeln zu wollen. Nein, in dem Staate und fr den Staat erzogen sie die Jugend“ u.s.w. Jahn (Deutsches Volksthum S. 15): „Nirgend erscheint die Menschheit hienieden abgesondert und rein; immer wird sie uns durch Volksthmer vorgestellt und vertreten. In den Volksthmern liegt jedes Volkes besonderer Werth und sein wahres Verdienst fr das Wettstreben zur Menschheit“. Anstze zu dieser Anschauung finden sich auch bei Hrn. M. (S. 6), aber allzubald bricht die Humanitt wieder siegreich hervor, und auf S. 37 wird der „Kosmopolitismus des Humanittsideals
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fr die moderne Menschheit als Bildungsziel angenommen“. Verldertes Weltbrgerthum in unserer Zeit des Nationalittsprincips predigen, das ist doch etwas stark… Nach einer oberflchlichen Erluterung des Begriffes Bildung bemht sich der Verf. darzulegen, dass sthetischer Genuss zur hçchsten Sittlichkeit fhre: „Das Wesen des sthetischen Genusses ist Hingabe, Selbstentusserung, unneigenntzige Liebe“ (S. 21, vgl. S. 47). Dass die Liebe uneigenntzig sei, muss ich bekennen, ist mir neu. Das mag wohl daran liegen, dass ich frher mich mit Spinoza beschftigt und seine Ethik noch nicht vergessen habe. „Videmus quod, qui amat, necessario conatur rem, quam amat, praesentem habere et conservare.“ (Eth. III, 13. Schol.) „Selbstsucht und Eigenwillen zu brechen, das ist die schwere Aufgabe der sittlichen Erziehung, selbstlose Liebe und sittlichen Wille an ihre Stelle zu setzen das Ziel“. Gott bewahre meine Kinder vor solchem Pdagogen, der die natrlichen Triebe brechen, statt veredeln will! Was ist der Mensch ohne diese Affecte? – Aber das nennt Hr. Meyer bilden!“ – Dem Verf. auf allen seine Gedankensprngen zu folgen, wird Niemand von mir nach diesen Proben erwarten, noch viel weniger aber, dass ein mit solchen deutschen Gesinnungen erfllter Kritiker in den wichtigste Fragen deutscher Pdagogik und deutscher Kunst berhaupt gehçrt werde. Der in diesen Worten ausgesprochene Protest gegen Bruno Meyer ist, wie jeder Einsichtige unschwer sich wird vorstellen kçnnen, auch auf die Bemerkungen desselben auszudehnen, die er ber Fr. Nietzsche’s „Unzeitgemsse Betrachtungen. Erstes Stck“ und „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ sich zu machen erlaubt. Kann es Alberneres oder Lcherlicheres geben, als diesem in der ersteren Schrift die Tendenz unterzuschieben, nicht „etwas Positives zu schaffen, etwas Sicheres an die Stelle des als berlebt Verdchtigten zu setzen, nur morsche Zweige abzuschneiden“, sondern „dem Gegner einer Partei die Waffe zu entwinden, mag dabei auch die Grundlage der Cultur selber zu Grunde gehen“? „Sein ganzes Buch“ – das erfahren wir jetzt (a.a.O. S. 658) endlich durch Hrn. Br. Meyer als Resultat sorgfltigsten Studiums des Werkes – „will weiter nichts, als die Berufung der Kritik und der Geschichtsschreibung auf die Vergangenheit als eine Instanz zur Beurtheilung der Gegenwart und namentlich gegen die neuen, die Vergangenheit verleugnenden Ideen und Lehren der Wagnerei (!!) ein fr allemal beseitigen.“ Wenn bei irgend einer Gelegenheit, so muss es hier Jedermann einsehen, dass R. Wagner nur zu sehr Recht hat, wenn er behauptet, dass das in der Sphre unserer wissenschaftlich sich geberdenden Belletristik unverdrossen gehandhabte „System biederer Calomnie sich auf die Annahme Dessen grndet, dass die dort besprochenen Schriften und Bcher vom Leser nicht gelesen werden.“ Hat denn aber Hr. Br. Meyer, so drfen wir nach dieser Probe eminenten Nichtverstndnisses zweifelnd fragen, Nietzsche’s „Unzeitgemasse Betrachtungen. Erstes Stck“ – der Titel wird von ihm hçchst liebenswrdig „albern“ gescholten – berhaupt gelesen? Und wenn gelesen, auch verstanden? „Ich gebe es zu, dass jeder ehrliche Mann der Gefahr
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ausgesetzt ist, die Meinung eines anderen nicht zu fassen. Nur wenn der ehrliche Mann ein Schriftsteller ist, kçnnte er sich Zeit nehmen, sie zu fassen. Und wie? wenn er durchaus keine recht fasst, „dieser ehrliche Schriftsteller?“ erlaubte sich einst Lessing im 51. Antiquarischen Briefe zu sagen und zu fragen. – Eine Besprechung und Analyse jener die volle Aufmerksamkeitt jedes Denkenden und namentlich jedes knstlerisch Empfindenden in Anspruch nehmenden, bekanntlich gegen David Strauss, „den Bekenner und den Schriftsteller“, gerichteten Schrift an dieser Stelle zu geben, verbietet uns der Zweck dieser Zeilen. Der vortreffliche Abschnitt vom „Bildungsphilister“ ist den Lesern des „Mus. Wochenblattes“, wenn nicht von der Schrift selbst, so doch von dem leider eingegangenen „Litteraturblatt“ S. 35 ff. her jedenfalls noch in lebendiger Erinnerung, jener Abschnitt, der, wenn wir vçllig absehen von smmtlichen Einzelheiten der geistvollen Schrift, welche zu Betrachtungen ernstester Art Anlass geben, in einer mannhaften, zrnenden, durch und durch wahren Charakteristik gewisser Zustnde, in denen wir leben, frei und unumwunden Dasjenige ausspricht, was wohl von Vielen empfunden, von Wenigen jedoch mit gleicher Schrfe erkannt worden ist. Eine derartige Anerkennung drfen wir natrlich von Hrn. Br. Meyer nicht erwarten, ihm ist der Boden, auf welchem Prof. Nietzsche mit seinem Denken steht, ein „ungesunder und unhaltbarer“, nmlich (a.a.O. S. 659) „die Verdchtigung der Vergangenheit und der Anlehnung an deren grosse und unvergngliche Schçpfungen in allen Gebieten“. „Speciell fr den in der ,Geburt der Tragçdie‘ vorliegenden Theil des Ausbaues seines Systems ist ausser dem inneren Widerspruche die geschichtliche Anlehnung zu verwerfen und doch auf geschichtliche und zwar sehr entlegene Momente zurckzugehen, der Hauptfehler der, dass diese Basis, welche er zu gewinnen sucht, eine fingirte und dem Thatbestande nicht entsprechende ist.“ Bekanntlich construirt Fr. Nietzsche (vgl. „Mus. Wochbl.“ IV., S. 454 b und 455a) in engem Anschluss an die Philosophie Arthur Schopenhauer’s, in der Methode den genialen Geschichtsconstructionen Fichte’s und Hegel’s hnlich, auf die geistvollste Weise a priori die Geschichte des griechischen Dramas, indem er die attische Tragçdie vor unseren Augen aus dem Mutterschoosse des dionysischen Satyrchores hervorwachsen lsst. Auf philosophischem Grunde erbaut sich seine ganze grossartige, durch die Ergebnisse glnzendster philologisch-antiquarischer Interpretation der Ueberlieferung gesttzte Construction, von philosophischem Gesichtspuncte aus soll das Werk zunchst betrachtet und beurtheilt werden. Denn wir stehen jener „zertrmmerten Wunderwelt alterthmlicher Herrlichkeit nicht anders gegenber als der gesammten Natur der Dinge: hier wie dort drngt sich uns eine unverbundene Unendlichkeit einzelner Gegenstnde auf, fr die wir uns innerlichst angetrieben fhlen, eine Einheit zu suchen, die wir doch wiederum nur aus einer in uns selbst entstandenen Einheitlichkeit der anschauenden Erkenntniss gewinnen kçnnen.“ (Erwin Rohde, „Afterphilologie“, S. 11 ff, eine
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oben bereits erwhnte Schrift, deren Kenntniss wir billigerweise bei Hrn. Meyer nicht voraussetzen drfen.) Nur Derjenige darf „sicher sein, von jenem antiken Geiste, durch den die alternde Menschheit immer wieder eine Belebung ihrer gesunkenen Fhigkeit erwartet, einen Hauch versprt zu haben, welcher in der eigenen Auffassung aller tiefsten Weltrthsel Motive zu finden vermag, aus denen ihm vor Allem die Entstehung der wunderbarsten, den Griechen allein eigenthmlichen Kunstart wirklich begreiflich und fr sein Verstndniss ehrlich gerechtfertigt wird.“ Nun muss man aber ehrlicher Weise gestehen, dass die bisherige Philologie dazu gar keinen ernstlichen Versuch gemacht hat. Erst Fr. Nietzsche gewinnt die Mçglichkeit hierfr, und zwar aus den tiefen Einsichten Schopenhauer’s in das innerste Wesen der Musik. „Niemand kann leugnen (a.a.O. S. 13), dass Alles, was wir ber die geschichtlichen Anfnge der Tragçdie wissen, gebieterisch dazu auffordert, sich den innerlichen Zusammenhang des Dramas mit dieser seiner Mutter, der Musik, klar zu machen; nur der Unverstand aber wird fordern, dass man bei einem Versuch, diese Entstehung der Tragçdie aus der Musik durch die Schopenhauer’sche Theorie vom Wesen der musikalischen Kunst begreiflich zu machen, ,Zeugnisse’ beibringe, dass auch den Griechen die Bedeutung und innere Art der Musik in derselben Weise klar geworden sei, wie sie von Schopenhauer’s genialem Tiefblick erkannt wurden“. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen ist leicht zu ermessen, was von dem durch Hrn. Meyer der trefflichen Schrift Nietzsche’s gemachten Hauptvorwurf, die Basis, welche derselbe zu gewinnen suche, sei „eine fingirte und dem Thatbestande nicht entsprechende“, zu halten ist. Dass aber Fr. Nietzsche keineswegs von seinen philosophischen Voraussetzungen fortgerissen, die historische Grundlage seiner Untersuchungen vernachlssigt hat, das hat Erwin Rohde, ao. Professor der class. Philologie an der Universitt Kiel, in seiner schon genannten, beraus scharfsinnigen Schrift „Afterphilologie“ gegen die hmischen und haltlosen Angriffe des Hrn. Dr. phil. Ulrich von Wilamowitz-Mçllendorff mit berzeugender Klarheit nachgewiesen. Auf die philologischen Einzelheiten an diesem Orte einzugehen und die schiefen und abgeschmackten Urtheile des Hrn. Meyer zu widerlegen liegt um so weniger Veranlassung vor, als der Redacteur der „Deutschen Warte“, dessen philologische Kenntnisse zu bewundern wir mehrfach Gelegenheit gehabt haben, nicht der Mann ist, der sich erlauben darf, in rein philologischen Fragen ein Urtheil abzugeben oder berhaupt mitzureden. Wie tief derselbe in den Geist und in das Verstndniss der „Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ eingedrungen ist, beweist der Schlusspassus ber Nietzsche’s Schrift (a.a.O. S. 659): „Jene Nietzsche’sche Theorie von der Geburt der Tragçdie ist nichts als eine Fiction, die erfunden und behauptet ist, um Wagner’s Neuerungen zu sttzen, und mit wissenschaftlichem Scheine quasi geschichtlich und wissenschaftlich als richtig nachgewiesen, um einem dringenden Bedrfnisse der Wagnerei, nmlich dem nach geschichtlicher Legitimation, wenigstens scheinbar abzuhelfen.“
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Diese an Verkehrtheit und Abgeschmacktheit alles Bisherige berbietende Behauptung fhrt uns zu dem letzten der noch zu besprechenden Puncte, bei welchem Hrn. Bruno Meyer’s Logik sich vçllig berschlgt und damit jedem unbefangenen Leser seiner Expectorationen den dankenswerthen Dienst leistet, dass er anfngt, an der Richtigkeit der im Tone des Unfehlbaren vorgetragenen Schlsse und Deductionen zu zweifeln, und zu dem Wunsche gelangt: „audiatur et altera pars“, welchem, wie gegen Hrn. Meyer’s entgegenstehende Ansicht (a.a.O. S. 642) einfach zu constatiren ist, sein Recht widerfahren zu lassen das grosse gebildete Publicum in den vorliegenden Fragen durchaus keine Neigung hat. In welchem Sinne ich von der Verehrung unserer „jetzt von der Geschichte als heilig gepriesenen Classiker“ gesprochen hatte, habe ich frher bereits beilufig bemerkt; auch die bei Gelegenheit der Erklrung des Wortes „hybride“ vorher angefhrten Worte Fr. Nietzsche’s („Mus. Wochenbl.“ IV, S. 456a; „Geb. der Trag.“, S. 110) wird man sich durch Nachschlagen einfach vergegenwrtigen kçnnen. Aus beiden Stellen nun schliesst Hr. Br. Meyer, gegen mich und alle anderen Freunde der von Wagner zu nie geahntem Leben erweckten nationalen Kunst berhaupt, Folgendes: Er behauptet „in Uebereinstimmung mit dem Thatbestande“ (a.a.O., S. 660), „dass ihre (d. h. der neuen deutschen Kunstrichtung) Apostel durch Wort und That den Beweis liefern, wie jener Weg, der zu der Hçhe der Mozart und Beethoven emporgefhrt hat, von ihnen als ein zukunftsreicher, weiter zu verfolgender Weg geleugnet, als ein Holzweg perhorrescirt wird“. Er deducirt mir ferner (a.a.O., S. 652) aus der eben genannten Stelle („Mus. Wochbl.“ IV., S. 456 a; „Geb. der Trag.“ S. 110) „Negation der Vergangenheit, so klar und so scharf“ und „so unvorsichtig, wie man sie nur haben kann. Dass die Geschichte der Oper auch einen Gluck und einen Beethoven auffhrt, wenn man schon dem heiteren Mozart seine alle von der Natur nicht grçblich vernachlssigten Menschen beglckende Stimmung nicht gçnnen wollte, scheint der Herr . . . vergessen zu haben.“ Hr. Br. Meyer schliesst endlich, indem er sich noch einmal mit der Illusion schmeichelt, mit meiner Hilfe leichtlich nachgewiesen zu haben (a.a.O. S. 651), „dass seitens der Wagnerei allerdings die Vergangenheit als eine beachtenswerthe Lehrmeisterin der Gegenwart abgelehnt wird, dass – deutsch herausgesagt – der Weg, dessen Hçhepuncte Mozart und Beethoven bezeichnen, nach dem approbirten Katechismus der Wagnerei ein Holzweg gewesen ist“ – : !“Wir werden also das Recht fr uns in Anspruch nehmen drfen, die gelegentlich zur Versçhnung dargebotenen schçnen Phrasen von Anerkennung und Bewunderung und Verehrung und sonstigen schçnen Sachen fr Phrasen zu halten, welche durch Worte, nicht Phrasen, und durch Thaten Lgen gestraft werden.“ – Der letztere Passus zunchst ist so recht express zugeschnitten fr die Bildungsphilister und die Unverstndigen, die nicht belehrt sein wollen; die schlimmsten, in Consequenz des in jenen Worten ausgesprochenen Grundsatzes gebten Auslegeknste werden sie bestndig davor bewahren, in der behaglichen
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Ruhe der Ueberzeugung gestçrt zu werden, „dass in der Kunst ein weiterer Fortschritt nicht mçglich, dass der Versuch, in der Erkenntniss der Wahrheit und des Schçnen immer weiter vorzudringen, ein schwerer Frevel an der Verehrung jener jetzt von der Geschichte als heilig gepriesenen Classiker sei“. Diese auf meine Auseinandersetzungen im „Mus. Wchbl.“ IV., S. 453b zu verweisen, drfte berhaupt ein vçllig berflssiges Beginnen sein. Der aber in den ersten beiden soeben angefhrten Schlussfolgerungen Hrn. Meyer’s enthaltene, gegen R. Wagner’s knstlerisches Streben erhobene Vorwurf der „Negation der Vergangenheit“ , der Leugnung des Zusammenhanges mit den Classikern, bedarf doch einiger Worte der Entgegnung. Stnde es wirklich so mit Wagner und seiner Sache, wie Hr. Bruno Meyer die Welt glauben machen will, so wre „das Bedrfniss der Wagnerei nach geschichtlicher Legitimation“ allerdings ein „dringendes“ und aus diesem Grunde ein ebenso leicht zu erklrendes wie auch zu entschuldigendes. Aber wer in aller Welt bedarf denn der geschichtlichen Legitimation, wer vermisst sich, „mit Verleugnung und Nichtachtung der historischen Entwicklung . . . nasermpfend an den grossen Erscheinungen der Vergangenheit vorbeizugehen“? Etwa Richard Wagner? Gewiss kein Anderer als dieser, antwortet uns Hr. Meyer und knpft an sein Verwerfungsurtheil, der Tragweite seiner eigenen Rede nicht bewusst, das drohende, aber schçne, auch uns vçllig aus der Seele gesprochene Wort: „Wir wollen Denjenigen fr einen Feind der Cultur erklren, der den Baum unseres moderne Lebens zu entwurzeln droht, denn nur in dem Boden der Vergangenheit stecken die Krfte und Sfte, durch welche das Leben unserer modernen Cultur befruchtet und lebendig erhalten wird.“ Wenn irgend Einer, der es mit der Kunst ernst nimmt, so ist es Wagner, der diesem Satze mit vollster Ueberzeugung zustimmen wird. Denn nicht dem Sturze alter Grçssen gilt sein schçpferisches Wirken, sondern nur dem Sturze der Altre falscher Gçtzen und dem Weiterbau auf dem Grunde ehrwrdiger Vorlagen. Es ist ebenso vergeblich und verkehrt, diesem Fortschritte sich verschliessen zu wollen, als es verkehrt wre und die Absichten Wagner’s geradezu verkennen, ja ihnen widerstreben hiesse, nichts anzuerkennen, zu wrdigen, zu pflegen und zu bewundern, was die Vergangenheit vor ihm geboten hat. Welcher vernnftige Mensch, welcher Knstler insbesondere wird das wollen, dem seine Kunst lieb ist? Auch Wagner’s Kunst und er in ihrem Dienst erkennt an: In der Bewegung des denkenden Geistes ist wesentlich Zusammenhang, und: Wer eifrig vorwrts dringt, um eine Wahrheit zu finden, ist dankbar gegen Jeden, der ihm seinen Weg einen Zoll breit gebahnt hat. Das hat Wagner unzhlige Mal klar und deutlich, mit innigster Dankbarkeit gegen seine Vorgnger – ich erinnerte frher schon an Beethoven – unumwunden ausgesprochen. Und dies wird jetzt von Hrn. Dr. Bruno Meyer mit kecker Stirn in Abrede gestellt? von Hrn. Meyer, der da „ausgesprochen und gezeigt“ zu haben whnt, dass er „Wagner’s Schriften, d. h. seine Hauptschriften“, gelesen und das Ideal seiner Kunst verstanden hat? O wie muss es mit dieser Lecture und
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Kenntnissnahme Wagner’scher Schriften bestellt gewesen sein! Denn hier ist der Punct – ich deutete im Anfang dieser Abhandlung bei Gelegenheit der nochmaligen Besprechung der Puschmann’schen „Ps. Studie“ schon darauf hin –, wo Hr. Meyer an der Puschmann’schen Thatsachen-Flschung Theil zu nehmen sich nicht schmt. Es wrde rein unmçglich – und fr jeden Kundigen auch vçllig berflssig – sein, an dieser Stelle eine eingehende Widerlegung der kecken Behauptung Bruno Meyer’s (und Puschmann’s) zu liefern, – man msste geradezu die Hlfte von Wagner’s Schriften abdrucken lassen, welche in der That zum Theil nur begeisterte Lobpreisungen der Heroen in der Tonkunst sind, wie die „Pilgerfahrt zu Beethoven“, die „Freischtz“ – Recensionen, der erste Theil von „Oper und Drama“ die Programme zu Beethoven’schen Symphonien und Ouvertren u.s.w. Ein ruhiger und offener Blick in Wagner’s Hauptschrift zeigt, dass die echte dramatische Musik Mozart’s als eine in dem ewigen Boden der Schçnheit und Wahrheit wurzelnde von ihm anerkannt wird; man braucht nur („Oper und Drama“ I., S. 54, 133) seine Aeusserungen ber „Don Juan“ zu betrachten. Und was er dem Musiker Mozart dankt, in welcher innigen und nothwendigen Beziehung, namentlich in einem der wichtigsten Puncte, der Charakteristik nach ihrer tiefsten Bedeutung, die dramatische Musik Beider zu einander steht, wird Denjenigen klar sein, die Beider Tondichtungen mehr als oberflchlich kennen. Ohne Gluck, ohne Mozart, ohne Beethoven, ohne Weber wre der Componist Wagner gar nicht denkbar, wie denn keiner von ihnen, wie er ist, ohne Vorgnger denkbar wre. Der Eine tritt die Erbschaft des Anderen an. Der Eine steht auf den Schultern des Anderen; keiner verleugnet die Sichtung des Vorderen, kann sie verleugnen. Und Hr. Meyer will uns ein diametrales, feindliches Gegenberstehen Wagner’s zu dem einen seiner grossen Vorgnger einreden? Mit demselben Rechte liesse sich ein solches Gegenberstehen Gluck’s und Beethoven’s in ihrer reifsten Periode gegen Mozart behaupten. Und wie? Mozart’s Musik hatte, nach Wagner, keinen Boden, keine Zukunft, keine Lebensfhigkeit mehr? Wie doch von der Piett, der Unwissenheit, dem frommen Eifer grosse Todte so gern gebraucht werden, um hinter dem Banner oder Aushngeschild ihres Namens Lebendige zu verunglimpfen! Kein Knstler ist von hçherer, echter Verehrung gegen unseren grossen Meister in Wort und That beseelt, als Wagner. Ich begnge mich, nur auf eine Stelle aus „Oper und Drama“ (S. 193) hinzuweisen, – nur auf eine von vielen, aber man mag von ihr auf die anderen schliessen: „Und hier“ – schreibt Wagner – „zeige ich euch nochmals den herrlichen Musiker, in welchem die Musik ganz Das war, was sie im Menschen zu sein vermag, wenn sie eben ganz nach der Flle ihrer Wesenheit Musik und nichts Anderes als Musik ist. Blickt auf Mozart! – “ Hat das und anderes Derartige aus den genannten Schriften Hr. Bruno Meyer nicht gelesen? Es scheint fast so; aber, wenn dennoch gelesen, dann vielleicht schon vor geraumer Zeit? Jedenfalls hat der Biedermann inzwischen im Verstndniss der Wagner’schen Kunst und in den Fechterknsten
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des Kritikers so riesige Fortschritte gemacht, dass er es wagt, die Behauptung khnlich in die Welt zu schleudern: Wagner’s Anerkennungen der Classiker sind „entweder der Art, dass sie zu der vorliegenden Streitfrage in gar keiner Beziehung stehen, oder sie sind beschçnigende Redensarten . . . , welche gebraucht werden, weil Verstand und Urtheil auch in diesem Kreise noch so weit gesund ist, dass man nicht die Mçglichkeit einer ohne jede historische Basis in der Luft schwebenden, ausschliesslich berechtigten Kunst der Zukunft – ich will nicht sagen fr ein Unding, aber sicher der Menschheit, selbst der minder gebildeten und urtheilsfhigen, nicht plausibel zu machen halten sollte.“ Sapienti sat! Ich komme noch einmal auf die historische Basis und die grossen von Hrn. Meyer angefhrten Namen zurck. Herr Meyer behauptete, Prof. Nietzsche verfolge durch seine Schriften den Zweck, Wagner’s Neuerungen zu sttzen und das „dringende Bedrfniss“ des Meisters nach „geschichtlicher Legitimation zu befriedigen“, indem er die historische Anknpfung fr dessen Kunst in den entlegensten Alterthmern, in der altgriechischen Musik und Tragçdie suche. Es kann kaum etwas Sinnloseres behauptet werden. Wenn eben dasselbe von Gluck ausgesagt wrde, so kçnnte man es sich mit einer nothwendigen Modification und Einschrnkung des Gedankens gefallen lassen. Denn Gluck wandte sich, der herrschenden Geschmacksrichtung seiner Zeit folgend, in seinen besten Werken thatschlich an das hellenische Alterthum, um seinen reifsten musikalischdichterischen Ideen eine classische Grundlage zu geben, Wagner dagegen erwhlte, dem Ausgangspuncte antiker Basis fern, von Anfang an das deutsche Volksgedicht, um das von dem blos Conventionellen, von dem Historisch-Formellen losgelçste Reinmenschliche in seinen naiven, grossartigen Zgen und Kundgebungen, die Gestalt des jugendlich schçnen Menschen, wie sie das hçchste Alterthum und der alte urdeutsche Mythos darbietet, des Menschen in der Totalitt seiner Erscheinung, durch unmittelbare sinnlich-geistige Anschauung nahe zu bringen; – so die herrlichen Gestalten Senta’s, Elisabeth’s, Elsa’s, so die des Hollnders, Tannhuser’s, Lohengrin’s, so vor allen Siegfried’s und Brnnhilde’s. Wer den durch Wagner vollzogenen grossen Fortschritt als einen solchen, als einen durch die Sache bedingten verneinen, wer, wie Bruno Meyer ihn zur unvermittelten Neuerung oder zur unerhçrten Gewaltthat stempeln will, hat, was ich schon in meinen ersten „Beitrgen zur Wagner-Frage“ und auch im Anfang dieser Abhandlung behauptete, weder zurck noch um sich geschaut von der Hçhe, zu deren Erreichung die edelsten Geister den Weg gezeigt und gebahnt haben. Ich bleibe, um nicht zu weit ausholen zu mssen, bei Denen stehen, deren Existenz in der Geschichte der Oper nicht zu kennen mir Hr. Bruno zum Vorwurf gemacht hat, Gluck und Mozart. Beider Verhltniss zu Wagner muss noch beleuchtet werden. Gluck war, wie Wagner selbst („Oper und Drama.“ Th. I., S. 132) sagt, wissentlich bemht, im declamirten Recitativ wie in der gesungenen Arie, bei
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voller Beibehaltung dieser Formen und neben der instinctmssigen Hauptsorge, den gewçhnten Forderungen an ihren rein musikalischen Inhalt zu entsprechen, die in der Textunterlage bezeichnete Empfindung so getreu wie mçglich durch den musikalischen Ausdruck wiederzugeben, vor Allem aber auch den rein deklamatorischen Accent des Verses nie zu Gunsten dieses musikalischen Ausdrucks zu entstellen. Auf die berlieferte Form der Oper, ihre Anordnung, ihren Zuschnitt streckte Gluck die umgestaltende Hand nicht aus. Er tastete dies mehr oder minder lose Gefge und Gerst nicht an, wandelte es nicht zu einem in sich abgeschlossenen, abgerundeten Bau um. Seine Neuerungen bewegten sich noch innerhalb der Sphre, die nach wie vor dem Dichter weit mehr als dem Componisten die freiere Entfaltung wehrte, den Text im Wesentlichen als blosse Unterlage der Tçne des Componisten ansah. In solchem Betracht stand dieser noch theilweise beherrschend und beengend ber jenem. Der Poet empfing auch von ihm, im Ganzen, eine „Untersttzung“, wie sie der Drftigere von dem Reichen empfngt, im Dienste einer guten Sache. – (Dasselbe (die Suprematie des Tondichters ber den Wortdichter) – dies beilufig – ist im Grunde und im Allgemeinen auch bei Gluck’s hervorragendsten Nachfolgern, Mhul, dem grossen Cherubini, Spontini, der Fall, die, obwohl die knapperen Formen ihres Vorgngers durch Hinzufgung des belebenden dramatisch-musikalischen Ensemble’s erweiternd, inniger aneinanderfgend, doch wesentlich ebenfalls innerhalb jener Grenzen und jenen Maximen verfuhren.144) Bei aller eminenten Begabung, dramatisch zu gestalten, im Ganzen wie im Einzelnen den musikalischen Charakterausdruck zu finden, zog auch Mozart – von keinem Knstler, wie ich wiederholt hervorhob, mehr anerkannt, inniger geliebt, verehrt und hçher bewundert, als von Richard Wagner, die Dichtkunst zur selbst nur annhernden Berechtigung mit der Musik nicht herbei. Die wrdige, edle Gestalt Gluck’s ist an dem Jngling und Mann Mozart nicht ohne erhebenden und befruchtenden Eindruck vorbergegangen; er hat von ihm mehr oder weniger bewusst gelernt, so verschieden auch das Grundwesen beider Naturen in mehrfacher Hinsicht, so ungleich hçher des Jngeren Begabung als specifischer Musiker ist, der durch den Reiz der Schçnheit, die Flle der Anmuth, den Schmelz des Ausdrucks, den Glanz des Colorits die strengere und kltere Plastik des Vorgngers milderte, hçher belebte. Aber in die eigentlichen Maximen Gluck’s sich zu versenken, sie mit Grndlichkeit zu erforschen, mit Hingebung in sich aufzunehmen, sie systematisch zu verfolgen, consequent zu 144 Diese und die folgenden Auseinandersetzungen beruhen grçsstentheils auf dem vorzglichen Werk von Franz Mller „Richard Wagner und das Musik-Drama“, das durch die reiche Sammlung der fr die vorliegende Frage wichtigsten und leider oft so wenig bekannten Quellen die umfassende Belehrung und die fruchtbarste Anregung gibt und durch die lichtvollsten kunstgeschichtlichen Erçrterungen sich den Anspruch erwirbt, vielleicht fr die beste Schrift gehalten zu werden, welche in neuester Zeit ber die Wagner-Frage geschrieben worden ist.
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durchgeistigen, zu bereichern, nach Befinden zu berichtigen, und so der Fortsetzer und Fortbildner des musikalischen Dramas als eines in sich geschlossenen, festgegliederten harmonischen Ganzen zu werden, kam ihm nicht in den Sinn. So ging denn er, dessen ganzes Wesen in Musik aufging, dem, nach seinem eigenen Ausdruck, die Poesie „die allezeit gehorsame Tochter der Musik“ war, keineswegs darauf aus, den Dichter zu suchen; der im Geiste jener Grundstze mit dem Musiker Mozart weiter geschaffen htte. Die im Verhltniss zur dramatischen Totalitat mitunter, in hçherem oder geringerem Maasse, zerstckelten Bestandtheile seiner unsterblichen Opern sind, ungeachtet mancher Verschiedenheit in Anlage, Anordnung und Ausfhrung, je nach der des Gegenstandes, dem Charakter und Stil des Werkes und der Individualitt des genialen, seine Vorgnger weit berragenden Knstlers, im Wesentlichen die von Gluck berkommenen; seine Arie ist nicht selten mehr Concertstck mit obligatem Passagenwerk und in dieser Beziehung verschieden von der Arie Gluck’s, und auch an seinem Kunstwerke hat, vielleicht mit einer einzigen, berdies nicht durchaus reinen Ausnahme, der Dichter als solcher keinen Antheil. Der ganze Schwerpunct liegt in der Musik, die, wie herrlich auch, wie charaktervoll, wie zauberisch, den hufigen Abstand, ja zum Theil Zwiespalt von Text und Musik nicht ausgleicht, ihn vielmehr um so greller beleuchtet, das theatralische Kunstgebilde zur dramatischen Ganzheit, zur organischen Einheit nicht erhebt. „Der Gedanke, durch und durch dramatisch zu sein und nichts als dramatisch“, sagt Marx in der „Musik des 19. Jahrhunderts“, S. 110, 111 (vgl. „Beethoven“, Th. I., S. 61), „ein Drama zu gestalten, das von seiner Grundidee bis in den Ausdruck des einzelnen Wortes hinein ein Ganzes, ein Wahres, ein Drama sei und nichts in sich zulasse, was nicht seinem Zweck und Wesen entsprechend und nothwendig, dieser Gedanke ist ihm niemals zum festen Entschluss geworden. – Es scheint aber Universalitt mit vollkommener Vertiefung auch hier unvereinbar gewesen. Auch das hat offenbar mit gewirkt fr den Standpunct der Mozart’schen Oper, dass er frhzeitig den unmittelbaren Einfluss Italiens aufgenommen und von ihm aus seiner Oper eine Zwischenstellung zwischen der italienischen und derjenigen Stellung gegeben hat, die der deutschen Oper nach ureigenem deutschen Sinne gebhrt.“ Die von Mozart vermçge seiner ganzen knstlerischen Individualitt verlassene Bahn G1uck’s sehen wir nun in Wagner wieder betreten, die Anknpfung durch ihn wiederhergestellt. Aber eine wesentliche Erweiterung dieser Bahn schliesst dieses Betreten ein, eine Fortfhrung des Angeknpften zu neuen Puncten, zu neuen Resultaten. Liegt Gluck’s grosses Verdienst darin, dass er der dramatischen Opernmusik ihre Rechte zu vindiciren suchte, so ruht der Schwerpunct und in ihm der einfache, ungewaltsame Fortschritt bei Wagner in der erstrebten Herstellung des vollen dramatischen Kunstwerkes, in welchem Wortund Tondichter als zu einem organischen Ganzen gemeinsam Wirkende erscheinen
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und die Gebiete der brigen Knste fr ihre Zwecke, die Gestaltung eines einheitlichen Musikdramas, mit herbeiziehen. Die Idee der Oper war bis jetzt keineswegs zur vollendeten Gestaltung gelangt, selbst bei Gluck nicht, dem mehr geistig als reinmusikalisch grossen Manne. „Das Drame lyrique mit seinen Traditionen“, sagt Marx, „Musik des 19. Jahrh.“ S. 108, 183, „bot Gluck zu seiner Zeit die gnstigste Grundlage: uns, die wir an Aeschylus, Shakespeare und den deutschen Dichtern uns haben erheben und einen freieren Gesichtskreis gewinnen kçnnen, die wir nicht, gleich den Franzosen der alten Schule, schon in der Wahl der Aufgaben, beschrnkt, an den damals unverbrchlichen Schematismus der Charaktere und Situationen gebunden sind, uns wrden, kçnnten schon jene Aufgaben nicht gengen, die damals das hçchst Erreichbare waren. Die Musik ferner, ber die Gluck zu gebieten hatte, zeigt nach einer Seite hin, fr den Ausdruck der Einzelrede, vollkommen gengendes Vermçgen: sie spricht das Wort des Dichters und die Stimmung der Scene so tief und mchtig aus, als Beides in Gluck’s Seele lag; sie bezeichnet, wo Gluck es nçthig fand (z. B. in der Schlummerarie Rinalds, in dem Hinsinken des Orest in Betubung, in dem Gebete aus C moll in „Alceste“), die wesentlich eingreifende Umgebung. Allein jede Persçnlichkeit tritt gleich griechischen Bildsulen in Abgeschlossenheit fr sich allein auf, entweder allein bleibend, oder mit anderen wechselnd. Der eigentliche Dialog, das Gegeneinander der Stimmen und Charaktere, die bald mit ihrem Widerspruch gegen einander streiten, bald in Einigkeit zusammentreten und dennoch dabei die Grundverschiedenheit ihres Wesens behaupten, mit Einem Worte: die polyphone Macht der Musik (das Wort nicht technisch, sondern geistig genommen), dieses Vermçgen, in dem wir das Nebeneinander (die Gruppe) der Bildkunst und das Nacheinander der Dichtkunst vereint sehen, das war in Gluck’s Musik – und das ist die andere Seite derselben – unentwickelt geblieben. Zuletzt ist zu beherzigen, dass dieser Gluck sich fremdem Volk und fremder Sprache hat hingeben mssen, – wie bekanntlich auch Mozart meist italienische Texte componirt hat. Je treuer aber und tiefer ein Componist das Wort auffasst, desto unbefriedigender muss jede Uebersetzung ausfallen. Unser Volk aber, das Hndel an England, Gluck an Frankreich, Mozart an die italienische Sprache hat abgeben mssen, – und unsere Sprache, die gerade fr tiefe Dramatik, nmlich fr den freiesten, treffendsten, naturwahrsten Ausdruck so berlegene Kraft errungen: sie beide drfen erwarten, dass fr sie und in ihnen der hçchsten Vollendung nachgerungen werde.“ Das musikalische Kunstwerk Gluck’s konnte nach Obigem als Ganzes – auch Herder hat dies ausgesprochen – nicht gengen. Aber was er geschaffen, was Mozart geschaffen, was sie von ihren Standpuncten neu gestaltet, was sie fr die dramatische Musik gewonnen, das bot die Grundlage zu jener Fortentwicklung, zeigte den Weg zum Weiterschreiten fr Den, welcher die Aufgabe des Dramas auch fr das musikalische Gebiet fest ins Auge gefasst.
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War Richard Wagner von der Ueberzeugung durchdrungen, dass die Oper wirkliches Drama zu werden habe, das – wie Marx sagte – von seiner Grundidee bis in den Ausdruck des einzelnen Wortes hinein ein Ganzes, ein Wahres, ein Drama sei, und nichts in sich zulasse, was nicht seinem Zweck und Wesen entsprechend und nothwendig: – so musste er, den specifischen, einseitigen Musiker verleugnend, die Herrschaft der Musik, die sich zum alleinigen Zwecke der Oper gemacht hatte, bekmpfen, er musste, wie Herder von Hndel sagt, von jener Herrscherhçhe hinabsteigen, auf welcher sich der gemeine Musicus brstet, dass die Poesie seiner Kunst diene. In diesem gewollten Drama gab es keinen Selbstzweck des Ausdrucks, als das Drama selbst, und die Musik konnte ihm, in einem hçheren Sinne, nur als Mittel dieses Ausdrucks, d. h. als das Mittel erscheinen, welches der Geist des Dichters und Musikers erfasst zur rechten und schçnen Verwendung im Dienste des dramatischen Ausdrucks, der dramatischen Wahrheit, somit des Dramas selbst. Er hat in unausgesetztem Kampfe gegen die Willkrherrschaft der sich selbst gengenden Musik, welche schon lngst die grosse Wahrheit vergessen oder missachtet hatte, „dass – nach Vischer’s Ausdruck – keine Kunst durch ihre Mngel so fhlbar, so schwebend auf die anderen hinberzeigt, als gerade die Musik“, den unseligen Zwiespalt in der Oper beseitigt. Er suchte in seinen musikalisch-dramatischen Werken durch die That zu beweisen, nicht nur, wie es mçglich, sondern auch wie natur- and zeitgemß, wie kunstgerecht es sei, mit Benutzung des bereits von unseren grçssten Meistern Gewonnenen, der Hindeutung grosser Denker, zu weiterer Entfaltung der musikalischen Dramatik fortzuschreiten, den Abstand des Dichters und Tonsetzers auszugleichen, ihn zum harmonischen Verhltniss zwischen beiden umzuwandeln; – die moderne Oper mit ihren eingelebten, stereotypen, unvermittelten, berdies zuletzt so sehr gemissbrauchten und entstellten Formen zu einem inhaltlich wie formell einheitlichen Musikdrama zu erheben; – die Opernmusik auf ihre ursprngliche Bestimmung: Kunst des Ausdrucks in Untersttzung des Gedichtes, zurckzufhren, das weibliche Element, das in wechselseitiger Ergnzung der einseitigen Schçnheit mit dem befruchtenden mnnlichen erst die lebendig schçne, volle Gestalt darstellt. Er zeigte und erweiterte thatschlich den Weg, die gefhlvolle dramatische Rede durch den, nicht in der Musik als solcher, sondern in der Dichtung wurzelndes treuesten Ausdruck wiederzugeben; – die melodische Gestalt aus dem Wortverse des Dichters herauswachsen zu lassen, so zwar dass die schçpferische Thtigkeit des Tondichters an freier und reicher Entfaltung nichts verliert; – Harmonie und Rhythmus zu den, die Melodie gestaltenden, zu charakteristischer Bedeutung erhebenden Organen, den Snger zum Charakterdarsteller, die Gesangspartie mit Verdrngung des eitlen Virtuosenflitterwerks zur wirklichen dramatischen Rolle zu machen oder wieder zu machen; – das Sprachvermçgen des Orchesters zu erhçhen, als des Organs zur Wahrnehmbarmachung der Harmonie, wie zur Charakterisirung der Melodie, des Dolmetschers des der
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Wortsprache Unaussprechlichen: der Erinnerungsthtigkeit, der Ideenverbindung, der Geberde; – alles unnçthige und stçrende, um seiner selbst willen prunkende ussere Beiwerk, den blossen Trçdelkram der Scene, zu verbannen und dagegen diese mit ihren wesentlichen Bestandtheilen als ein eng zusammengreifendes Ganzes hinzustellen: – kurz, die herkçmmlichen, zum Theil erschlafften und entwrdigten Zustnde des Opernwesens aufzurtteln und zu heben, ein reinigendes Ferment in sie zu tragen, durch Zufhrung eines frischen Quells sie neu zu beleben. – Und nun zum Schluss: „Gestehen wir es uns nur: keiner von allen deutschen Componisten hat den Entschluss und die Charakterkraft gehabt, sich gleich Gluck der Forderung des Dramas unbedingt zu widmen, jenem erhabenen Vorgnger zu folgen, als Richard Wagner. Ihm bleibt der Ruhm, treu seiner Aufgabe nichts als das Drama herzustellen, durch nichts als durch das Drama, wie er es erfasst, wirken zu wollen. Dieser Ruhm ist gegenber so vieler Gedanken- und Charakterschwche, Treulosigkeit und Kuflichkeit, die unsere Zeit auch im Kunstgebiete kennen lernen mssen, kein geringer. Die Freiheit des Gedankens, der sich durch keinen Rckblick auf Herkommen und Gewohnheit verkmmern lassen will, dieses beharrlich auf den einen Punct, dem es gilt, auf die Scene, gerichtete Wollen: das ist der Charakter und die Ehre Wagner’s“ – Marx, „Die Musik des 19. Jahrhunderts“, S. 109, 173. – Ich bin am Ende und habe gegen Hrn. Bruno Meyer mein letztes Wort gesprochen, da ich weder Zeit noch Lust habe, unerwiesene Behauptungen fort und fort zu widerlegen und unwrdigen dialektischen Fechterknsten mit gleichen Waffen zu begegnen.
Volkelt, Johannes: Der entfesselte Prometheus [von Siegfried Lipiner]. Eine Studie. In: Die Wage. Wochenblatt fr Politik und Literatur. Berlin, Bd. 5, Nr 38 f vom 2. und 28. 9. 1877, S. 602–607, 617–624. S. 607 Weit mehr berhrt sich Lipiner mit Nietzsche. In seinem edlen, tapferen, geistvollen Werke „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ theilt er dem „Frevel“ „Wrde“ zu: Das Beste und Hçchste erringe die Menschheit nur durch einen Frevel; fr das titanisch strebende Individuum sei es eine Nothwendigkeit, zu freveln. Doch mit diesen Stzen entfernt sich Nietzsche von Schopenhauer. Denn Kunst und Philosophie – und dies ist ja bei Schopenhauer das „Beste und Hçchste, dessen die Menschheit theilhaftig werden kann“ – hlt dieser nur durch vçllige Emancipation vom Willen, diesem Principe der Schuld, fr erreichbar. Und berhaupt ist zu bedenken, daß es in einer Welt, die durch
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und durch erbrmlich ist, nichts metaphysisch und letzten Grundes Großes, Tchtiges, gut zu Heißendes geben kçnne, daß aber Schuld und Schmerz nur dann, wenn sie zur Realisirung von etwas derartig metaphysisch Werthvollem nothwendig gehçren, als „Wrde“ besitzend gepriesen werden kçnnen. Dagegen ist es Hegel, dessen Gedankenkreise sich jene Stze Nietzsche’s nhern. Es liegt ganz im Geiste seiner die Gegenstze fr identisch erklrenden Philosophie, nur da wahrhafte Schuld zu sehen, wo ein sittlich berechtigter, gediegener, letzten Endes gçttlicher Lebensinhalt um sich verwirklichen zu kçnnen, einseitig werden und andere ebenso berechtigte Mchte verletzen muß. Die tragische Schuld knpft sich bei Hegel immer an ein tief berechtigtes Wollen. Er sagt: „Es ist die Ehre der großen Charactere, schuldig zu sein.“ Auch zu Lipiner’s Ansicht von dem leidenden, schuldvollen Allgeiste lßt sich bei Nietzsche Aehnliches auffinden. Schon Schopenhauer spricht von der Entzweiung des „Willens“. Nietzsche nun setzt tiefsinnig und khn geradezu den Widerspruch und Schmerz in das „Herz der Welt“. Diesen Urwiderspruch aber findet er darin, daß sich das all-eine Weltwesen in Individuen zur Erscheinung bringt. Zugleich aber sieht er in diesem tief metaphysischen Vorgang der Individuation den Urgrund der Schuld, die Urschuld. Das Ursein selbst schon also trgt Schuld in sich. – Auch hier brigens lßt sich daran erinnern, daß der Urwiderspruch im Ur-einen auf Hegel hinberweist. Ja noch mehr: bei Hegel ist es die von dem Heraustreten in’s Handeln unzertrennliche individuelle Bestimmtheit und „Besonderheit“, was den berechtigten Gehalt der Handlung in’s Einseitige, Verletzende, Schuldvolle verkehrt. So ist auch bei Hegel die Individuation, wenn auch nicht, wie bei Nietzsche, selbst etwas „Verwerfliches“, so doch der metaphysische Grund der Schuld.
Lindner, Albert: Die Musik als Mutter der Tragçdie. In: Nationalzeitung. Berlin, Nr. 523, 525 vom 6. 11. 1878, S. 1–3, 7. 11. 1878, S. 1–3. Die Musik als Mutter der Tragçdie I. Das geistreiche Buch, das in seiner zweiten Auflage vorliegt: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ von Dr. Friedrich Nietzsche, (Chemnitz 1878) drfte unter den tragischen Dichtern keinen, unter den Philosophen nur Schopenhauer, unter den Musikern nur Richard Wagner finden, die es rckhaltlos als eine zutreffende Definition ihrer musischen Thtigkeit, vor allen der Tragçdie, unterschreiben wrden. Allen brigen Leuten wird es ein Werk bedeuten, welches eine große, vielleicht die grçßte aller Kunstfragen mit Hilfe der
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spekulativen Philosophie lçst und dabei gar nicht merkt, wie die empirische Welt und die Geschichte so oft ihr Nein! zwischen die Zeilen werfen. Kme es auf die zweite Hlfte dieses Buches an, so msste der Titel lauten: „Der griechische Chor, Vater der Oper“ oder noch bestimmter: „Der griechische Chor, Vater der Wagner’schen, der Zukunftsoper“, denn in diesen Gegenstand luft die scharfsinnige Deduktion des Werkes aus. Da aber der dionysische Ursprung der Tragçdie (d. h. der griechischen) am Ende zugegeben werden muß, so kann man auch sagen: „Die Tragçdie der Griechen als Mutter der Zukunftsoper“ oder einfacher: „Die Tragçdie, Mutter der Musik.“ Ueber den Punkt hinaus, wo der Verfasser die moderne Musik aus ihrer Taufe hebt, gehe ich nicht, weil ich weder Schopenhauer in der Zeitanschauung, noch Richard Wagner in der Kunstanschauung zu folgen vermag. Ich werde das betrachtende Auge lediglich auf die erste Hlfte des Buches richten und zusehen, ob der geistvolle Verfasser mir einen Gesichtspunkt ber das Wesen der Tragçdie erschlossen hat, der ebenso historisch richtig sei, als er auf den ersten Augenblick frappirt und betroffen macht. Nietzsche nimmt zwei im Menschen neben einander wirkende Triebe an, die er den apollinischen und den dionysischen nennt. Man sieht nicht ein, was uns zwnge, die Begriffe des Gestaltungs- und des Empfindungsbetriebes dem hellenischen Mythus zu entlehnen, und wenn man den Namen von dem Wesen beider Gçtter abstreift, wie die Hlle vom Kern, so strebt ein Apollo und ein Dionysos als bildendes und als musikalisches Prinzip noch immer wie vor zweitausend Jahren in demselben Verhltnis zur Menschenseele. Beide Triebe geben, meist im offenem Zwiespalt, neben einander her sich wechselseitig zu immer krftigeren Geburten reizend, d. h. entweder als Plastik und Malerei, oder als Musik und Lyrik sich entladend, bis sie, durch einen metaphysischen Akt des hellenischen Willens, mit einander gepaart erscheinen und das apollinisch-dionysische Kunstwerk, die attische Tragçdie, erzeugen. Beide getrennte Kunstwelten lassen sich, die erstere als Traum, die zweite als Rausch bezeichnen; wie denn Apollo, der bildnerische Gott, auch der Wahrsagende, der Gott des Lichtes, des Scheinenden ist; wie Dionysos der Gott des Weines, auch der fruchtbare Gott der Naturseele ist, die sich entweder im Brausen, beim Gewitter, oder in orgiastischer Verzckung, beim Nahen des Frhlings, dem Sterblichen offenbart. Was die nchste Wirkung beider Gottheiten auf den Menschen betrifft, so individualisiert uns der gestaltende und generalisiert uns der berauschende Gott. Der Eine kçnnte das Motto fhren: „Hier sitz’ ich und forme Menschen nach meinem Bilde.“ Der andere aber: „Seid umschlungen, Millionen!“ Unter dem Scepter des einen zieht sich der Knstler auf sich selbst zurck und konzentriert alles, was er von Natur und durch Bildung ist, auf die Verlebendigung eines Traumbilds, auf die Hinstellung einer Gestalt durch Marmor, Farbe und Wort. Unter dem Scepter des andern lçst sich die Individualitt in das geschaffene All, die Sonderkraft in das Weltgesetz auf, an den
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Menschen schließt sich der Mensch, selbst Panther und Tiger beugen sich dem Zgel des gewaltigen Fhrers, die Thiere, die Bume reden, singend und tanzend ußert sich das Geschçpf als Mitglied einer hçheren Gemeinsamkeit und ein bacchantischer Taumel reißt alles mit sich und hindert das Einzelwesen, einzeln zu empfinden. Der Widerstreit dieser beiden Triebe, des gestaltenden und des empfindenden, scheint unversçhnlich. Die Bilderwelt des Traumes, die das Individuum auf sich selbst stellt, die rauschvolle Wirklichkeit, die alles Individuelle verschlingt und in einer Allgemeinheit auflçst, beide sollen vermittelt werden; es ist denkbar, dass die Verbindung, der Thtigkeit beider Gçtter das Kunstideal erzeuge, das ihnen auf ihren gesonderten Wegen versagt bleiben mußte. Dieses brderliche Ineinanderaufgehen ist zum ersten und letzten Male Thatsache in der griechischen Tragçdie geworden. So weit kann jeder Leser ohne Bedenken dem Verfasser folgen. Wer aber, der Musik versteht und vor Allem mit dem Wagner’schen Kunstprinzip vertraut ist, erkennt in dieser Basis, wie ich sie oben kurz dargelegt habe, nicht den Boden, der die Apotheose der Wagner’schen Oper tragen soll? Fassen wir also zunchst die Griechen in’s Auge. Die dionysische Periode liegt weit vor der appolinischen. Aus Asien, aus Thrakien, aus Afrika strmten die Rausch- und Taumelpriester mit ihren entzgelten Mysterien an die Hellenenwelt heran, aber sie fanden an derselben kein so williges Element. Die Natur des griechischen Landes, das Klima, die historische Erziehung hatte das Maß in die Hellenenseele gelegt, und mit den maßgebten Sinnen stieß der Grieche anfangs die dionysische Kultur voll Schrecken und Brausen von sich ab, die Begriffe einer Barbaren- und einer Hellenen-Welt gingen in seinem Bewusstsein auseinander und fixirten sich in seiner Sprache, und da er auf die Dauer des Dionysos sich nicht mehr erwehren konnte, nahm er seinen Apollo zu Hilfe und beugte den Taumel unter das Maß. Jene Hexenfeste aus Wollust und Grausamkeit gemischt, milderten sich zu Welterlçsungsfesten und Verklrungstagen – in den hellenischen Mysterien. Die apollinische Periode beginnt, in die fessel – und grenzenlose Welt des Rausches tritt die bildnerische Thtigkeit des Traumes, der Nebel der Empfindung ballt sich zur maßvollen Gestalt! Spricht man dies vom Gesichtspunkte der allgemeinen Physiologie aus, so ist Alles klar. Aber das vorliegende Buch erschwert die Erkenntnis dieser Deduktion unnçthig, indem es die griechische Mythologie als deduzierenden Apparat fortwhrend zu Hilfe ruft und mit speziell hellenischen Begriffen wie Anschauungen operirt. Nun muß man freilich ein eingefleischter Buddhaist und Schopenhauerianer sein, um zu glauben, dass die ganze Hellenenwelt vom trostlosesten Pessimismus, wie der Schwamm vom Wasser, gesttigt gewesen sei, und um einzelne Aussprche der Dichter fr eine allgemeine „Verneinung des Willens zum Leben“ verantwortlich zu machen. Die Stille bei Theognis: „Gar nicht sein, das wre das Beste!“ ist als eine individuale Ausnahme – denn warum soll nicht ein
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einzelner Grieche auch einmal aus der griechischen Allgemeinheit herausfallen? – Die Stelle bei Sophokles: „Nicht geboren werden, wre das Beste; wenn aber geboren, eilig in’s Nichts zu kehren, das Zweitbeste“ – ist aus der Charakterfhrung und allgemeinen Frbung des Oedipus auf Kolonos, also als dramatisches Motiv, zu erklren. Es heißt doch wohl dem Griechenthume Gewalt anthun, wenn man ihm eine orientalische und erst modern methodisch begrndete Weltanschauung als Basis unterschiebt und erklrt, dass die olympischen Gçtter das Menschenleben htten mitleben mssen, um den Boden und die Mittel zur Erlçsung des Menschen von seinem Leben zu gewinnen. Ich hatte bisher gemeint, daß der Grieche so optimistisch von seiner Erde gedacht, so kindlich naiv sich seines Daseins im schçnen Strahle des Helios gefreut habe, daß er, gerade aus weltfreudiger Lebelust, auch seine Gçtter nicht an den Festtafeln der Erde missen und ihnen gern einen Antheil an seinen menschlichen Freuden und Leiden gçnnen wollte. Die Klage um den frhen Tod des Achilles ist ja nichts als der Schmerz darber, dass der schçnste und tapferste so frh zu den traurigen Schatten hinab muß, und die Klage ber den Wandel und Wechsel des Menschengeschlechts im Ganzen ist auch nichts Anderes. Ich bezweifle daher, dass die Griechen ein metaphysisches Dasein geschaut, hinter dem Schattenleben der Erde ein reales und erst wahrhaftes angenommen, wie es die sthetische Philosophie zur Begrndung ihrer Lehre vom Schein und Wesen der Kunst annehmen muß. Sonst htten die Griechen sich nicht mit so deutlicher Abneigung von einem Gedanken an ein Jenseits abgewendet und die Vorstellungen vom Weiterleben der Abgeschiedenen nicht lediglich zu Motiven des Schreckens und Grausens in ihren Knsten benutzt. So kommt es denn auch, dass Nietzsche dasjenige, was Schiller „naiv“ an den Griechen nennt, als die sehnschtig angeschaute Harmonie, als das vçllige Verschlungensein in der Schçnheit des Scheines bezeichnet, also im direkten Gegensatz zu Schiller das Naive nicht als seiende Natur, sondern als das Begehren nach Natur auffaßt und nicht den wachen, klar besonnenen, sondern den apollinisch trumenden Hellenen darunter versteht. Wir nhern uns der Geburt des apollinisch – dionysischen Kunstwerks. Hier muß mit dem Verfasser an folgende Stelle Schiller’s erinnert werden: Der vorbereitete Zustand vor dem Aktus des Dichtens sei nicht etwa eine Reihe von Bildern mit geordneter Kausalitt der Gedanken, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung – „die musikalische Gemthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee.“ Mit anderen Worten: der Dichter gerth in eine Stimmungssphre von eigenthmlichem Ton oder, wenn man will, Farbencharakter. Oder diese Sphre ist mit befruchtender Kraft gesttigt wie das Chaos. Sie erzeugt das Bild, die Gestalt; so zwar, dass dieses konkret gewordene Bild von der allgemeinen und abstrakten Stimmung vollgesttigt ist. Ich fge daran folgende Stellen aus dem Tagebuche von Otto Ludwig: „Jedes Stck hat seine eigene, hellere aber trbere Atmosphre, ja jede Scene hat wieder
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ihre besondere Stimmung und diese Einzelstimmungen setzen sich zu einer Gesamtstimmung zusammen. Jeder Ausdehnung des Gefhls giebt der Dichter sogleich den Inhalt einer Lebenserfahrung, d. h. eines konkreten Beispiels, an dem das Abstrakte der Stimmung sich zum sinnlichen Bilde ballt.“ An einer andern Stelle spricht Otto Ludwig von optischen Tuschungen; erst habe er einen bestimmten Farbeneindruck auf das Auge, gewçhnlich violett, daraus entwickle sich eine musikalische Stimmung, und wieder gebre das dramatische Gebilde eine Handlung. Diese fr seine Worte so wichtigen Belege scheint Nietzsche nicht gekannt zu haben, sonst htte er sie nicht unerwhnt gelassen. Was aber hier behauptet wird, trifft auf den modernen, oder wie Schiller ihn nennt, auf den sentimentalen Dichter zu, wie mir jeder zugeben wird, der sich in dieser Richtung hin prfen will. Der naive jedoch, z. B. der griechische, braucht diese Prparation der Natur nicht, weil er selbst Natur ist; er hat nichts zu bewirken, als den schon vorhandenen, in Stimmung und Umriß schon fertigen Mythus ins dichterische Wort zu fassen. Auf seinem weiteren Deduktionsgange weist Nietzsche auf das Volkslied, das zunchst als musikalischer Weltspiegel, als ursprngliche Melodie gilt, die sich eine parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dichtung ausspricht. Die Melodie ist also das Erste und Allgemeine, und das sekundre Element, der Text, der deshalb mehrere Objektivationen des Melos erfahren kann (d. h. die Melodie kann verschiedene ihrer Stimmung parallele Texte erfahren), Wort, Bild, Begriff erleiden die Gewalt der Musik an sich. Die Musik erscheint als Schopenhauerscher „Wille“, als Gegensatz der rein beschaulichen willenlosen Stimmung. Der Dichter wendet sie auf das Gebild an und imprgniert sie demselben. Mit dieser Auseinandersetzung wird kein Dichter einverstanden sein kçnnen. Es ist zwar unanfechtbar, dass das echte Lied seine Melodie gleich in sich mitbringt, dass es nur ein aus dem musikalischen Stimmungsnebel konkret Geballtes ist, aber die sthetische Frage wre noch zu erçrtern, ob nicht rckwrts eine Wirkung denkbar wre von der Gestalt auf die Stimmung, ob umgekehrt nicht die plastische Kraft eine musikalische erzeugen kçnne! Denn suchen wir nach einem Begriffe, der beide Prinzipien beherrscht, so wre er als „Harmonie“ zu bezeichnen. Was Harmonie in der Musik heißen will, braucht nicht weiter definiert zu werden. In dem Gedicht aber, ist sie am phonalen Elemente des Wortes, am Rhythmus, am Metrum, an dem „kontrapunktischen“ Gefge des angeschauten Bildes oder Vorganges vorhanden. Aber noch braucht die Musik des Bildes nicht, sie duldet es bloß – in der Lyrik. Um der Tragçdie nher zu treten, mssen wir daran festhalten, dass sie aus dem tragischen Chor entstanden ist und ursprnglich nichts als Chor war. Der Natur, das Urelement des Chors, ein fingirtes Naturwesen, verhlt sich zu den Kulturmenschen wie die dionysische Musik (der Rausch der Seele) zur Civilisation. „Der griechische Kulturmensch fhlt sich beim Anblick des Na-
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turchors aufgehoben, und dies ist die nchste Wirkung der dionysischen Tragçdie, dass Staat und Gesellschaft, berhaupt die Klfte zwischen Mensch und Mensch einem mchtigen Einheitsgefhle weichen, welches uns an das Herz der Natur zurckfhrt.“ Den Menschen rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben. Denkt man sich nun das Leben als eine Welt aus Entsetzlichem und Absurdem gemischt, so wrde dem menschlichen Willen die hçchste Gefahr drohen, wenn die Kunst ihn nicht, entweder durch das Erhabene, die knstlerische Bndigung des Entsetzlichen, oder durch das Komische, die knstlerische Entladung vom Ekel am Absurden, erlçste. Der Satyr ist zuerst eine Vision der dionysischen Masse, wie die Bhne eine Vision des Naturchors ist; die Kraft dieser Vision ist aber stark genug, um den Zuschauer der ihn umgebenen Realitt zu entreißen. Er identifiziert sich im Anschauen mit dem Urphnomen des Satyrs, mit diesem aus Endlichkeit und Zuflligkeit herausgeflchteten und auf die Bhne gestellten Geschçpfe der reinsten Natur. Das ist, sagt Nietzsche, das dramatische Urphnomen: sich selbst vor sich selbst verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich einen anderen Leib und anderen Charakter angenommen. Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. So verzaubert sieht sich der dionysische Schwrmer als Natur, und als Natur wiederum schaut er den Gott d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision außer sich, sein abstrakter Zustand ist zum konkreten Gebild geworden. Das Drama ist fertig. Die griechische Tragçdie ist also nach Nietzsche der dionysische Chor, der sich immer von Neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet. Die Chorpartien sind der Mutterschoß des Dialogs, des Drama’s, und das Drama ist die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen. Das ist die Erklrung der spekulativen Philosophie. Die Erfahrung klingt freilich anders. Man hçre sie: Knaben ziehen mit Priestern am Dionysosfeste umher und opfern an seinen Altren, Formeln seines Preises und Ruhmes absingend. Zweite Stufe: Um dem Sngerchor Erholung und der umstehenden Menge Abwechslung zu verschaffen, trgt ein Priester in gehobener, vielleicht auch gebundener Rede ein Abenteuer aus dem Leben des Dionysos vor, seinen Zug nach Indien, sein Zusammentreffen mit der Ariadne auf Naxos, seine Zchtigung der Seeruber, die Einfhrung seines Kultes in Theben unter Pentheus und dergleichen Abenteuer mehr. Dritte Stufe: Man zerschlgt diesen epischen Bericht in den Dialog. Zwei Knaben werden dazu eingebt; sie recitieren die Scene zwischen Pentheus und Bacchus, zwischen Ariadne und Bacchus. Vierte Stufe: Um die Illusion zu erhçhen, trgt der Recitant des Bacchus den Thyrsusstab, der des Pentheus die Krone: das Kostm tritt hiezu. Fnfte Stufe: Es stellt sich heraus, dass ein Knabe mehr Talent hat zur Versinnlichung der Figuren durch das Wort, als die andern. Man bildet sie fr solche Gelegenheiten aus. Thespis miethet sie fçrmlich, schafft sich Kostme an, geht in der Herrichtung solcher Scenen ber die Dionysosphre hinaus und stellt auch Ereignisse aus dem Leben
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der andern Gçtter vor Aug’ und Ohr. Hier erscheint Aeschylus auf der Oberflche der Geschichte. Der Chor, der Urstamm, folgt dieser Entwicklung der Aktion beharrlich und treu, sinkt aber, je mehr diese Aktion sich knstlerisch ausbildet, auf eine sekundre Stufe im Kunstwerk herab, bis er im Euripides nur noch als schmckendes Nebenher, nicht mehr als organisches Glied und als integrirender Bestandteil der mndig gewordenen Tragçdie erscheint. Das ist die empirische Erklrung der Sache. Wie will man diese mit der spekulativ-philosophischen unsres Verfassers in Einklang bringen? Nietzsche hat sie gar nicht beachtet. Sein Buch ist eine dionysisch – apollinische That, die uns so lange in ihrem Banne hlt, als wir ihr mit dem Geiste Schritt vor Schritt folgen. Ein einziger Seitenblick auf die historische Erfahrung wrde uns stutzig machen, wie er ihn in der Logik seiner Beweisfhrung beirrt haben wrde. Denn es sollte ihm schwer werden, aus jedem Momente der empirischen Entwicklung, wie ich sie angedeutet, das Verhltniß des Willens zum Leben, die apollinische Sinnlichwerdung durch den dionysischen Stimmungsnebel nachzuweisen. Dagegen muß ich die Ausfhrung der zweiten Hlfte, welche Euripides als das Untergangsmoment des griechischen Dramas nachweist, neben ihm aber Sokrates als Reprsentanten der modernen, nachhellenischen Weltseele kennzeichnet, als ebenso frappant wie bedeutsam bezeichnen. Eine kurze Darlegung dieses Theiles des Buches muß einem andern Artikel vorbehalten bleiben. Fr dieses Mal brauche ich den einsichtigen Leser gewiß nicht erst zu warnen, dass er an das Nietzsche’sche Buch mit einem Begriffe von Musik herangehe, der nur fr die modernste, z. B. die Wagnermusik zutreffend sein kann. Wir wissen ja, was die dorische Musik der Griechen, mit der die Geburt der Tragçdie begann, ist und bedeutet. Aber der Verfasser hat nur schwach angedeutet, dass sein Musikbegriff nicht der historisch – praktische, sondern der theoretische ist, der von allem Anfang an nicht mehr bedeuten soll als das Stimmungschaos, aus dem sich der feste Kern des Planeten „Tragçdie“ gebiert. Sein Werk wrde eine viel allgemeinere Werthschtzung erfahren haben, wenn ihm die Tendenz, d. h. die Erhebung Wagner’s auf den souvernen Thron der Zukunftskunst, nicht von der ersten Zeile an ausgeprgt wre. II. Wenn man, von der Schopenhauer’schen Mysterienlehre der Tragçdie ausgehend, in der Individuation der Schçpfung den Urgrund alles Uebels erblickt, in der Kunst aber die der Einheit alles Geschaffenen, so wird der Verfall und Niedergang der tragischen Kunst von dem Augenblicke an zu datiren sein, wo der Dichter statt des Typus eben jene Individuation auf die Bhne stellt und den Zuschauer, d. h. das zufllige, momentane Einzelgeschçpf, mit seinem drama-
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tischen Leiden identifiziert. Bei diesem Stadium ihrer Erscheinung ist die Tragçdie in Euripides angelangt. Statt die Erlçsung von dem Elend des Lebens in der Verallgemeinerung des Menschen zu suchen, schlgt er uns in die Fesseln dieses Elends durch die Besonderung des Menschen. Statt uns aus der endlichen Schranke hinauszuflchten wie Aeschylus durch das Medium des dionysischen Rausches, treibt er uns in das Endliche, Beschrnkte, Zufllige mit einer einseitig apollinischen Thtigkeit zurck. Er gestaltet und bildet zwar, aber gleichzeitig erhebt er nicht. Seine formende Thtigkeit ist ideallos, hat die Erde unter den Fßen und den Staub derselben zum Material. Er weiß nichts mehr davon, daß er uns durch die dionysische Wolkenregion aus dem Jammer der Tiefe in die nie bewçlkten Hçhen der Olympier tragen sollte. Man vergleiche nur einzelne Figuren der beiden Tragiker, den Orestes bei Aeschylus, einen Atlas, der eine Welt von Gçtterflchen auf seinen Schultern trgt, und den des Euripides, einen winselnden, schçnredenden „ersten Held und Liebhaber“. Odysseus, in der lteren Tragçdie der griechische Heros der Intelligenz, bei Euripides nicht mehr als ein Theater- Intriguant! Nicht der Gott im Menschen war sein Ideal mehr, sondern der Mensch selbst, der brgerlich mittelmßige Durchschnittsmensch, der die Snfte des Zuschauerraumes bevçlkerte. Und der große Haufe versteht den Dichter nur zu schnell und zu gut, sobald der Dichter den großen Haufen selbst auf die Bhne stellt. Eitel wie ein Affe, gefllt sich die Menge in diesem Bhnenspiegel und drckt dem Dichter in einer Lokalposse verstndnisinniger die Hand als in einer Schillerschen Tragçdie. Ein solcher Dichter ist kein gotttrunkener Seher mehr, der uns durch die Betrachtung des Ideals vom Erbenschmutze reinigt, sondern der Liebediener der selbstgeflligen Mittelmßigkeit und Gemeinheit, der seine Hnde in unsern Schmutz taucht, um uns mit solcher Hand zu streicheln. Es ist bezeichnend fr das Euripidische Drama, daß in ihm zum ersten Male der fnfte Stand, der Sklavenstand, zum Worte gelangt und daß damit die gçttliche Heiterkeit der Althellenen jener gemeinen Daseinslust den Platz rumen mußte, welche nichts hçheres kennt als einen gesttigten Magen, kein Glck, als keine Verantwortung haben, kein Ideal als ein ephemeres Genießen des Augenblicks. Sollte die Sozialdemokratie je zu einer staatlichen Ordnung kommen, so wrde das Drama dieses Staates bei dieser Kunststufe – enden? Nein, erst beginnen, bis es, seinen Weg abwrts nehmend, im Sumpfe der Gemeinheit auch seinen Tod fnde. Der geniale Aristophanes hat auch das vorausgesehen und die sozialdemokratische Natur des Zukunftsdramas aus dem Niedergange desselben in Euripides sicher gewittert. Man lese nur seine Verhçhnung der sozialistischen Ideen in den Ekklesiazusen! In der That, die Griechen waren nur so lange ein gewaltiges Kulturvolk, als ihnen ihre Aeschylus und Sophokles lebten; das Griechenland des Berbers Kleon und des Euripidischen Dramas war schon auf dem Wege zum Opferaltar der Geschichte, wo die Priesterin Roma bereits mit dem geschwungenen Messer des Opfers
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harrte. Der Rest des idealistischen Kernes im Hellenenthume besaß nicht mehr Kraft genug – zu einem „Ausnahmegesetz“. Die Kunst ist unrettbar im Niedergange, sobald sie das Publikum als ihren Richter erkennt, sobald sie ihr souvernes sic volo! sic jubea! von sich thut und das sthetische Scepter in die Hnde des Pçbels legt. „Aus zu hoher Achtung fr sein Publikum“, meint Nietzsche, „hat Euripides sein Publikum mißachtet. Er fhlte sich als Dichter wohl ber der Masse, nicht aber ber zwei seiner Zuschauer erhaben: erstens ber Euripides (sich selbst) als Denker, nicht als Dichter“. Das soll heißen, er ging als Sohn seiner Zeit, als ein Zçgling des hereinbrechenden Realismus an der tragischen Kunst zu Grunde. Als Kritiker saß der Dichter im Zuschauerraum, der Verstand galt ihm als die Wurzel alles Genießens und Schaffens; der dionysische Rausch, in welchem seine großen Vorgnger den Kunstgott offenbart hatten, war ihm dahin, das Kommensurable war ihm das allein Gltige geworden, darum mußte ihm ein Aeschylus als inkommensurabel und irrational vorkommen. Es galt einen Kampf auf Leben und Tod mit den Vorgngern. Um ihn zu retten, blieb ihm nichts brig, als den „schçnen Schein“ der Kunst zu zerstçren und als etwas neues – die Jagd nach neuem und Pikantem ist charakteristisch – die „gemeine Deutlichkeit der Dinge“ auf die Bhne zu stellen; nicht mehr zu seinem Kunstobjekte den Gott im Menschen, sondern den Menschen im Gott zu nehmen. Dieser Zustand des Dichters ist schon um deswillen keine „Vereinsamung“, wie Nietzsche es will, weil es gerade das Bewußtsein der solidarischen Zusammengehçrigkeit mit seinem Zeitalter ist, dessen Bhnenausdruck er war. Es ist vielmehr zu sagen, daß dieses Zeitalter in zwei Zuschauern seinen gesttigsten Ausdruck, seine typischen Reprsentanten gefunden habe: fr die Kunstanschauung in Euripides, fr die Weltanschauung in dem zweiten der oben genannten Zuschauer – in Sokrates. Denn auch Euripides war nur Maske, die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysos und nicht Apollo, sondern ein neugeborener Dmon: Sokrates. Nennen wir es Reflexion, nennen wir es die Auflçsung der ideell-einheitlichen Schaffenskraft des Dichters in die Sondersphren des Denkens und Empfindens, des objektiven Anschauens und des subjektiven Mitlebens. Als sokratischer Denker entwirft Euripides den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler fhrt er ihn aus. Er ist feurig, ohne daß er verbrennen macht, er ist khl, ohne daß er erstarren macht. Er rechnet erst und dann beschwingt er sich an der Rechnung. (Lessing als Richter!). Wer denkt hier nicht an das treffende Epigramm vom alten Claudius: Voltaire und Shakespeare! Der Eine Ist, was der Andre scheint. Voltaire sagt: „Ich weine“, Und Shakespeare – weint.
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Das sokratische Prinzip: „Wissen ist Tugend“, auf die Aesthetik angewendet lautet: „Was schçn sein will, muss verstndig sein“. Das ist der Schlssel der Euripidischen Kunst. Was er schafft, ist ein Produkt des kunstgemßen Ausdrucks, des rhetorischen Pathos. Da kann es dann freilich nicht Wunder nehmen, wenn sein Prolog jede Spannung geflissentlich zerstçrt, indem er den Verlauf des Dramas schon vorweg angiebt, um sich desto ungestçrter auf dem rhetorisch – pathetischen Felde tummeln zu kçnnen. Selbst in seinen dramatischen Schlssen ist er noch Rechner: damit das Exempel ja rein aufgehe, citiert er einen „Gott aus der Maschine“ herab, der den Knoten zur Befriedigung der Menge lçst, um dieser Menge das Racheempfinden und die philosophische Hinausschau ber das Drama hinweg zu sparen: Einen so anscheinend erbarmungslosen Schluß wie den des Lear htte sich Euripides nicht vergeben. Entweder „sie kriegen dich“, oder die Schuld muß vor den Augen des Zuschauers gebßt werden, weil es der geistig trge Zuschauer so verlangt: das ist die Grenze dieses Dramatikers, und der deutliche Beweis, daß nicht Apollo, sondern das Publikum sein Gott heißt. Man mache die Anwendung auf die Dramatiker der Gegenwart. Welche Kritik ist denn so poetisch, um im dramatischen Rechenexempel einen arithmetischen Fehler fr einen apollinischen Vorzug gelten zu lassen? Dies auf die allgemeine Kunstausstattung angewendet, werden wir in Euripides nicht mehr und nicht weniger als einen ins Aesthetische bersetzten Sokrates zu erkennen haben. Wollen wir eine Skala des Kunstbewusstseins aufstellen, so wre sie etwa so zu gradiren: Sophokles noch im Traum (d. h. im apollinisch- dionysischen Traum); Euripides in der Morgenluft erwachend, nchtern; Sokrates in der hellen Mittagssonne des Denkens. Es liegt ein Sinn darin, daß eine alte athenische Sage behauptete, Sokrates habe dem Euripides im Dichten geholfen. Auch ist die Thatsache bedeutsam, daß von den Anhngern „der guten alten Zeit“ beide Namen in einem Athem genannt wurden, wenn man die Volksverfhrer der Gegenwart mit Namen bezeichnen wollte. Ferner ist daran zu erinnern, ehe wir der sokratisch – euripideischen Kunst nher treten, daß Sokrates nie eine Tragçdie des Aeschylus und des Sophokles besucht hat, aber sich pnktlich bei einer Euripidischen einstellte. Und endlich ist bekannt, daß ein delphischer Orakelspruch des Sokrates als den Weisesten unter den Menschen, Euripides als den Zweitweisesten bezeichnete. Nietzsche nennt nun Sokrates den theoretischen Menschen und stellt demselben die tragische (knstlerische) Weltbetrachtung gegenber. Der erstere findet seine Lust im Erkennen dessen, was bis an die Peripherie des menschlichen Erkennungskreises reicht, die zweite in dem Hinberbringen ber diese Peripherie ins Unendliche, im Durchbrechenden des gegebenen Erdenelends bis zum erlçsenden Schein, zum Ideal. Angewendet auf das bekannte Lessing’sche Wort heißt das: Die theoretische Weltbetrachtung sieht ihr Ziel in der Wahrheit selbst erreicht, die tragische aber in dem Suchen nach Wahrheit. Dazu tritt nun
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in Sokrates eine tiefsinnige Wahnvorstellung, wonach das Denken, an dem Leitfaden der Kausalitt, bis in die tiefsten Abgrnde des Seins reicht und nicht blos die Welt zu erkennen, sondern auch zu korrigieren im Stande sei. Damit sei in Sokrates der Wendepunkt und Wirbel der Weltgeschichte gegeben. Ich weiß nicht, ob man, um die Erscheinung des Sokrates zu erklren, statt dem Verfasser in die tiefsinnigen Irrgnge Schopenhauer’s zu folgen, nicht einfach so definieren kçnnte: Die Losreißung der Individualitt vom All der Schçpfung, die irgend einmal eintreten musste, fand in Sokrates ihre erste und besondere starke Exemplifikation. Zum ersten Male nahm der Mensch sein bewußt gewordenes Ich zum Maßstabe des außer ihm Seienden und machte das hellenische Wort, freilich nicht mehr in antikem Sinne, wahr: der Mensch ist das Maß aller Dinge. Sokrates ist das Individuum an sich, welches zum ersten Male sich allem brigen Sein als Zweites gegenberstellt und sich berechtigt fhlt, dies brige Sein mit seiner Denkkraft entweder fr gltig zu erklren oder zu verwerfen. Und damit haben wir den ersten modernen Menschen. Der Eintritt des Christenthums in die Geschichte hat diese Individuation nur befçrdern, das Einzelbewußtsein nur unversçhnlicher aus dem Gottbewußtsein des Alls herausreißen und auf eigene Fße, auf eigne Verantwortung stellen kçnnen. Es ist klar, daß an einer Erscheinung wie Sokrates, der das hçchste Glck im Erkennen findet, der Mythus zersplittern und die apollinische Traumwelt, die Tragçdie, ihr vorlufiges Ende finden muß. Wenn wir nun seit Euripides, d. h. seit dem sthetischen Sokrates, die tragische Thtigkeit auf die Darstellung des individuellen Charakters sich richten sehen; wenn der Tragiker sich anschickt, die Allgemeinheit des dionysischen Rausches zu verlassen und in die Besonderheit der Erscheinung herabzusteigen; wenn darin der Niedergang des hellenischen Kunstwerks und jeder menschlichen Kunst erblickt werden muß, so muß man sich mit Erstaunen fragen: auf welcher Stufe der Gesunkenheit steht dann Shakespeare, der allerrealste und am individualsten schaffende Tragiker? Die Sache ist, daß wir mit dem Verfasser auf dem besten und direkten Wege zum Wagnerschen Musikdrama wren. Aber hier muß ich ihm die Geleitschaft kndigen. Ich will nicht in die Gefahr kommen, eine apollinisch – dionysische Verbindung als das Kunstideal anzunehmen, weil ich an feste und unzerbrechliche Grenzen der einzelnen Knste glaube, die in der Thtigkeit sowie in den Mitteln dieser Thtigkeit die eine Kunst von der anderen sondern. Ich lasse jenes Bndnis, die apollinisch – dionysische Verbrderung, vielmehr nur fr Aeschylus, und in gewissem Sinne fr Sophokles gelten, ich gebe zu, daß die griechische Tragçdie aus dem dionysischen Stimmungschaos als eine apollinische Gedankenwelt, also aus der Musik als Drama sich geboren hat, aber ich leugne, daß dies das dramatische Ideal aller Zeiten sein msse, weil ich leugne, daß die Individuation des Menschen ein Rckfall und Abfall vom Ideal sei, weil ich meine, daß am Individuum die ewige Idee sich eben nur mikrokosmisch wiederholt, sonst wre ja ein ewiges im „Lear“, im „Hamlet“ umsonst zu suchen.
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Wenn die Griechen aus der dionysischen Rauschwelt bis in die letzten Contouren der Gestalt vordrangen, was soll uns Moderne hindern, aus der Gestalt, aus der realen Welt rckwrts zu dringen bis zur Idee? Dort ist Apollo das Zweckgewordene, hier ist es Dionysos. Im vollendeten Kunstwerk aber ist die Vereinigung beider Gçtter vollzogen, was thut’s, ob der eine den andern, oder der andre den einen vollenden hilft? Die gemeinsam knstlerische Thtigkeit, die den Begriff des Wagner’schen Musikdramas erzeugen wrde, ist aber vorlufig nur Theorie und philosophische Spekulation. Das aber wird es auch bleiben mssen. Wenn im Ganzen nicht, so doch im Einzelnen wird die eine Kunst immer die Magd der andern bleiben, d. h. in der empirischen Ausfhrung wird halb das poetische, halb das musikalische Element mit selbstherrlichem Willen an mich herantreten und im Regimente des Kunstwerks alternieren. Wir mßten in die Wiege des Dramas, zum griechischen Naturchor, zurckkehren, um die absolute Einheit und Untheilbarkeit beider Gottheiten zu erleben. Aber wir sind nun mal aus einer Wiege heraus auf die unabsehbare Teerstraße des Kulturweltalters geworfen und dazu verurtheilt, mit unserer individualisierten Natur zu leben, wie wir uns auf dem speziellen Wege der Einzelkunst dem Gesamtideale der Kunst wieder nhern. Wir mßten unsere ganze moderne Kunst leugnen und Bach wie Beethoven, Shakespeare wie Schiller als etwas halbfertiges, etwa als Embryonen des Apollo – Dionysos „Wagner“ erklren! Wir wollen gern zugeben, daß Sokrates der erste Reprsentant der modernen, der theoretischen Kultur ist, aber wir mssen bestreiten, daß Euripides, der dramatisch gewordene Sokrates, nur deshalb den Niedergang der tragischen Kunst anzeige, weil er zum Individuum herabgestiegen und aus dem Typus in den Charakter gesunken sei. Was ihn in der sthetischen Schtzung herabdrckt, ist vielmehr, daß er, wie seine ganze Zeit, dem Scheine der Ewigen gar nicht mehr nachgefragt hat, daß er ideallos geworden, daß er die Grenzen seiner Kunst, die freilich bei Aeschylus noch im Unendlichen lagen, auf die Grenzen der Alltglichkeit und der momentanen Erscheinung reduzirte – ist mit einem Worte der praktische Mensch in ihm, der zu der und der Zeit, unter den und den Zeitbedingungen lebte und dichtete, whrend der theoretische Mensch identisch geworden ist mit dem modernen Dramatiker, wie der ganze Sokrates mit der modernen Bildung. Wir mssen nicht zum Mythus zurck, um die moderne Tragçdie zu erzeugen. Kunstideal liegt nicht mehr im Zwielicht des dionysischen „Wahne“ und der moderne Mensch kein „Wahnfried“; dieses Ideal ist ebensogut und vielleicht ist es, wenn wir unser eignes sthetisches Todesurtheil nicht sprechen wollen, unsre eigne Kultur nicht fr lobesreif erklren wollen, einzig und allein im hellen Tageslicht der Geschichte und des Lebens. Als griechische Schiffer unter der Regierung des Tiberius an einer einsamen Insel des gischen Meeres vorberfuhren, hçrten sie einen frchterlichen, mark- und beinerschtternden Schrei: „Der große Pan ist todt!“ Es war Apollo – Dionysos. Seitdem geht
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Apollo, von seinem Bruder getrennt, ber die Erde, seitdem hat sich die griechische Tragçdie aufgelçst in das Drama und in die Musik, und es liegt nichts vor, was uns hindern kçnnte, mit jeder einzelnen dieser Knste das Ideal zu erreichen, ohne Anleihe bei der andern machen zu mssen. Denn den Wagnerianern gegenber behaupte ich, auch dem Dramatiker steht die Musik zu Gebote, auch dem Musiker das dramatische Element. Oder ist die Eroica nicht die dramatische Laufbahn eines Helden? Ist der Seelenkampf eines vom Schicksal Verfolgten mit den Gewalten der Verzweiflung, des Ingrimms, der Zerstçrungswuth, und endlich der sße Friede nach ausgerungenem Leid, die Aufnahme in die Seligen in den beiden Stzen der Sonate op.111 nicht dramatisch? Umgekehrt, ist der „Sommernachtstraum“ nicht Musik? Aber warum htte sie sonst den Komponisten gereizt, sie in hçrbare Tçne zu bersetzen? Ist die Goethe’sche „Iphigenie“ nicht ein symphonischer Tonsatz? Ja, damit man mich nicht mißverstehe; will ich das Beispiel so paradox wie mçglich whlen: Hat „Gçtz von Berlichingen“ keine musikalische Hlle? Man lasse nur den Begriff Musik fallen und sage: „Stimmungssphre.“ Hier ist es das 15. Jahrhundert mit allen Begriffsbestandteilen (Sitten, Trachten, Waffen, Lebensart, Denkweisen), die das 15. Jahrhundert bilden. Oder will man es die Seele des Dramas nennen? Heißt sie in „Romeo und Julia“ nicht der Zauber Italiens? Im „Sturm“ nicht die Natur des Meereilands, im „Tell“ nicht Schweiz? Die musikalische Stimmung, von der Schiller und C. Ludwig als dem dichterischen Schaffen vorausgehend sprachen, ist, um es kurz zu sagen, eine Athmosphre, die den festen, plastischen Planetenkern des Dramas umgiebt, der dionysische Rausch, in den Apollo sein Traumbild hineinstellt. Unsere Betrachtungen sind davon ausgegangen, sie laufen auch darin aus. Das Gçtterpaar hatte sich zu lieb gehabt, was Wunder, daß bei der Trennung in jedem von ihnen ein Theil von der Kraft des andern zurckblieb, damit der eine Bruder fr den andern nicht ganz verloren sei? Der apollinisch – dionysische Bund, das Musikdrama, gilt uns als nicht als ein freiwilliger, also nicht als ein organischer, sondern als eine gewaltsamer und mechanischer, den der Verstand erzwang, ohne die Gçtter zu fragen. Reaktionen Ernst Schmeitzner an N, 15. 11. 1878: „Vor lauter Hochachtung werden Sie, Herr Professor, von Ihren Freunden todtgeschwiegen. Wenn sich nicht dann und wann ein ,Feind‘ ber das eine oder andere Buch hermachte, erfhre die Welt gar nichts von Ihnen. Da bin ich einem mir gnzlich unbekannten Herrn Albert Lindner, der ber die ,Geburt‘ 16 Spalten in der Nationalzeitung vollgeschrieben hat, sehr dankbar, wenn er Sie auch recht „zerfleischt“ hat. Einer Ihrer Leser, ein reicher Rittergutsbesitzer bei Berlin schrieb mir ganz empçrt
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ber diesen Artikel, weiter wird er aber nichts thun, wenngleich ich ihm gerathen habe in eine andere Zeitung etwas Gnstigeres zu schreiben. Das ist eben auch so Einer der Sie vor lauter Hochachtung todtschweigt.“ KGB II/6,2, Bf. 1126, S. 995 Hermann Pachnicke145 an N, 1. 5. 1879: „Sie suchten vor Zeiten auch einen Philosophen, der Sie erziehen sollte, und fanden ihn in Schopenhauer. Mich haben Sie hinangezogen zu einer Denkart, die meine einzige Freude ist, die mein Wesen ausmachen wird, und ich mçchte immer meinen Erzieher in Ihnen suchen und finden. Ihre Schriften habe ich gekauft und gelesen mit Begeisterung; nur eine fehlt mir noch, die ber die Tragçdie – finden Sie es zudringlich, wenn ich Sie bitte, mir sie zu schenken? […] Nichtwahr, die Urteile eines Kuh oder Lindner belcheln Sie doch, der erste in Sonderheit gebrdete sich wie ein lppischer Philister, unfhig, zu ahnen, daß solch Ungewitter die Luft reinigt, entlehnte er aus Goethe den ,literarischen Sansclottismus‘.“ KGB II/6,2, Bf. 1191, S. 1105 f
Siebenlist, August: Schopenhauer’s Philosophie der Tragçdie. Pressburg, 1880, S. 5 f. Das Gebiet, welches ich im Auge habe, wird also durch die angezogenen Werke bloss berhrt, bloss gestreift, nicht eigenthlich behandelt. Das Gegentheil mçchte man vielleicht erwarten von Friedrich Nietzsche’s erster grçßerer Publikation: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“,146 zumal dieselbe von Schopenhauerischen Ideen reich befruchtet erscheint.147 Allein dieses Werk des unzweifelhaft begabten Jngers Schopenhauer’s lsst schon auf jeder Seite durchblicken, was heute zur unumstçßlichen Thatsache geworden ist: dass nmlich ein genialer Kopf vom Schlage Nietzsches nicht das Zeug hat, sich mit Darlegung oder Erweiterung Dessen zu begngen, was Andere geleistet haben, sondern in selbstndigem Schaffen eigener Gedanken seinen Schwerpunkt finden muss. Den Beweis dafr liefern noch nicht so sehr die „unzeitgemßen Betrachtungen“148 als seine drei Bnde „Menschli-
145 Hermann Pachnicke (1857 – 1935), spter Schriftsteller und Politiker in Berlin, glhender Verehrer Nietzsches, widmete ihm seine Dissertation „De epikuri philosophia“ 1882. 146 Leipzig, Fritzsch, 1872, zweite Auflage: Chemnitz, Schmeitzner, 1878. 147 Vgl. Erwin Rohde, Afterphilologie, Leipzig, Fritzsch, 1872, S. 9. 148 Chemnitz, Schmeitzner, 1873 – 1876, 4 Bde.
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ches“, „Allzumenschliches“149, – kostbare Bausteine eines, seiner ganzen Abgeschlossenheit nach noch im Schoosse der Zukunft schlummernden Systems. Reaktionen N an Franz Overbeck, 15. 6. 1880: „Das Buch von Siebenlist ist ein Stck Schopenhauer-Philologie, gegen das nichts (oder alles!) einzuwenden wre. – “[Siebenlist hatte das Buch zusammen mit einem nicht berlieferten Billett an Nietzsches Basler Adresse geschickt. Von dort hatte es Overbeck nach Venedig weitergeleitet. Vgl. KGB III/7,1, S. 47] KGB III/1, Bf. 32, S. 22
Fçrster, Bernhard: Die neuesten Entdeckungen Heinrich Schliemanns. In: Deutsches Tageblatt. Berlin, Nr. 247 vom 10. 12. 1881, S. 1 f. Mit falscher Schreibung von Nietzsches Nachnamen, aber Kenntnis von Nietzsches GT zeigend: An die Erreichung dieses schçnen Zieles, die Geburtszeit und Sttte der griechischen Kunst und Kultur zu erkennen, hat sich seit Otfried Mllers vorzglichen Arbeiten manche tchtige Kraft gewagt: ich nenne zwei der edelsten und lesenswerthesten Autoren aus den letzten zwei Jahrzehnten: Gottfried Semper und Friedrich Nietsche [sic].
Riemann, Hugo: Musik-Lexikon. Leipzig, 2. Aufl. 1884, S. 633. Nietzsche, Friedrich, geb 15. Okt. 1844 zu Rçcken bei Ltzen, 1869 – 79 Professor der klassischen Philologie an der Universitt Basel, welche Stellung er eines Augenleidens wegen aufgab, ein eifriger Parteignger Richard Wagners; gab heraus: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ (1872, 2. Aufl. 1874), eine mehr mystisch-philosophische als historische Kombination der Bedeutung Wagners in der Musikgeschichte mit dem Dionysos- und Apollonkult und der Tragçdie des klassischen Griechentums. Die Schrift gehçrt zu denen, welche den Knstler so in phantastische Nebel hllen, daß er zum Gott wird. 149 Chemnitz, Schmeitzner, 1878 – 1880. Der dritte Band ist unter dem Sondertitel „Der Wanderer und sein Schatten“ erschienen.
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Seidl, Arthur: Richard Wagner und Bayreuth. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 17, Nr. 23, 24/25, 28 vom 4., 17.6. und 8. 7. 1886, S. 285–287, 301–303, 345 f. ber Nietzsches GT S. 303: Ein „Philologe“ aber musste kommen, um das Wagner’sche Kunstwerk eingehendst in seiner Beziehung zur attischen Tragçdie zu untersuchen150, Dr. Friedr. Nietzsche, damals Professor der classischen Philologie in Basel, in seiner eben so gemssigten, wie gediegenen Schrift: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“. Hat sich doch dieser Mann nicht gescheut, Wagner’s „Gesammtkunstwerk“ eine „Wiedergeburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ zu nennen, und als Philologe der Aesthetik den allein richtigen Fingerzeig gegeben, von welcher Seite aus sie wohl Wagner’s Ideen anzupacken habe. Hat er uns doch gezeigt, wie das innerste Wesen der antiken Kunst, nmlich jener innige, engste Zusammenhang zwischen Volksseele und Kunstleben, zugleich den innersten, eigentlichsten Kern auch der Wagner’schen Kunst selbst bilde. Und frwahr: „Tçnend wird fr Geistes-Ohren Schon der neue Tag geboren“ – („Faust“, 2. Theil),
freilich nicht fr Oulibicheff ’s „Zukunfts-Ohren“ (s. dessen „Beethoven, ses critiques et ses glossateurs“), die nun gottlob lngst zu Vergangenheits-Ohren geworden sind, ohne je so recht Gegenwarts-Ohren gewesen zu sein! In der That, um nunmehr das Facit unserer Betrachtungen zu ziehen: wir haben in dem Wagner’schen „Musikdrama“ zu Bayreuth, auf deutsche Kunst, auf deutschen Geist, aber auch auf christliche Anschauung bertragen, etwas der griechischen Tragçdie des classischen antiken Geistes durchaus Aehnliches, Verwandtes, und zwar nicht nur usserlich in der Form der Tetralogie beim „Nibelungen-Ring“, sondern ohne Zweifel auch innerlich der Idee und dem Gehalt, der grossartigen Stileinheit und plastischen Formvollendung nach. Mit Wagner rufen wir im Besitze eines solch idealen Gutes getrost: „Es strahlt der Menschheit Morgen; Nun dmmre auf, du Gçttertag!“
150 Nach ihm, und zwar zum Theil auf Grund seiner Untersuchungen,– ein Franzose: Edouard Schur in seinem Buche: „Das musikalische Drama“, deutsch von H. v. Wolzogen, Leipzig bei Gebr. Senf. 2. Auflage.
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David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Reaktionen
N an Richard Wagner, 18. 4. 1873: „Es ist wahr, ich werde tglich melancholischer, wenn ich so recht fhle, wie gern ich Ihnen irgendwie helfen, ntzen mçchte und wie ganz und gar unfhig ich dazu bin, so dass ich nicht einmal etwas zu Ihrer Zerstreuung und Erheiterung beitragen kann. Oder vielleicht doch einmal, wenn ich das ausgefhrt habe, was ich jetzt unter den Hnden habe, nmlich ein Stck gegen den berhmten Schriftsteller David Strauss. Ich habe dessen ,alten und neuen Glauben‘ jetzt durchgelesen und mich ebenso ber die Stumpfheit und Gemeinheit des Autors wie des Denkers verwundert. Eine schçne Sammlung von Stilproben der abscheulichsten Art soll çffentlich einmal zeigen, wie es mit diesem angeblichen Klassiker steht.“ KGB II/3, Bf. 304, S. 145 N, Vorwortentwurf zu Strauß, Nachgelassene Fragmente Frhjahr – Herbst 1873: „Nur der Erfolg des Strauss’ schen Bekenntnissbuches, nicht das Buch selbst, trieb mich zu den nachfolgenden Betrachtungen.“ KGW III/4, S. 214 Richard Wagner an N, 30. 4. 1873: „Ihr erster Brief ist wohl nicht erst von mir zu beantworten: Sie mssen selbst wissen, wie sehr er mich gerhrt hat, und weiteres ist dann nicht darber zu sagen, außer etwa, daß Sie sich durch peinliche Vorstellungen ber sich selbst nicht etwa abschrecken lassen sollen, und getrost fortfahren, im gleichen Sinne mir recht oft wieder ,lstig‘ zu werden. […] In betreff Ihrer Straussiana empfinde ich nur die Pein, daß ich sie gar nicht erwarten kann. Also: Heraus damit!“ KGB II/4, Bf. 431, S. 248 N an Erwin Rohde, 5. 5. 1873: „Auch ich habe wieder etwas Lava gespieen: eine Schrift gegen David Straus ist ziemlich fertig, wenigstens in der ersten Skizze – aber ich bitte Dich um Grabes-Nacht-Stillschweigen, denn es wird eine große Mystifikation in Szene gesetzt. Ich kam von Bayreuth in einer solchen anhaltenden Melancholie zurck, daß ich mich endlich nirgens anderswohin retten konnte als in die heilige Wuth.“ KGB II/3, Bf. 307, S. 149 f Franz Overbeck an Heinrich von Treitschke, 1. 9. 1873: „Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, eine allgemeine von Tag zu Tag fast steigende
276 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung und unsere Universitten vorzglich drckende Not mit so feuriger und ernster Beredsamkeit ausgesprochen zu wissen, und will so manches berscharfe gern in den Kauf nehmen, das ich wohl hier und da schon habe tadeln hçren.“ Bernoulli, Carl Albrecht (1908): Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft. Jena. Bd. 1, S. 86 N an Erwin Rohde ber einen Besuch bei Friedrich Ritschl, 31. 12. 1873: „(nmlich meine Maasslosigkeit und Rohheit gegen Strauss wurde gergt). Dagegen ist Strauss als klassischer Prosaschreiber wirklich vernichtet: denn Papachen und Mamachen Ritschl sagen es und fanden auch schon den Voltaire greulich stylisirt.“ KGB II/3, Bf. 338, S. 187
Anonym [vmtl. Fritzsch, Ernst Wilhelm]: Vom „Bildungsphilister“. In: Musikalisches Wochenblatt. Augustbeilage des Litteraturblattes. Leipzig, 1873, S. 35–37. Vom „Bildungsphilister“. Die „Unzeitgemssen Betrachtungen“, welche Dr. Friedrich Nietzsche, ordentlicher Professor der classischen Philologie an der Universitt Basel (Leipzig; Verlag von E. W. Fritzsch) soeben verçffentlicht, fordern aus mehr als einem Grunde die volle Aufmerksamkeit jedes Denkenden und namentlich jedes knstlerisch Empfindenden. Alle Einzelheiten dieser geistvollen Schrift geben Anlass zu Betrachtungen eigenster Art, werden leidenschaftliche Theilnahme erwecken und nicht minder leidenschaftlichen Widerspruch erregen, verdienen aber auf alle Flle gelesen und ernst erwogen zu werden. Die Polemik gegen David Strauss, „den Bekenner und den Schriftsteller“, welche das erste Stck enthlt, heute bei Seite setzend, theilen wir unseren Lesern zur Charakteristik der Grundstimmung und des Grundtones der Schrift zunchst den vortrefflichen Abschnitt ber den „Bildungsphilister“ mit. Eine mannhafte, zrnende, durch und durch wahre Charakteristik gewisser Zustnde, in denen wir leben, spricht dieser Abschnitt Das muthig aus, was wohl von Vielen empfunden, von wenigen jedoch mit gleicher Schrfe erkannt worden ist. Jedes Wort dieser Charakteristik wrde unwiderlegt bleiben, auch wenn die specielle Polemik der Nietzsche’schen Schrift von der ersten bis zur letzten Zeile bestritten werden sollte. Der Verfasser, nachdem er an Goethe’s Ausspruch zu Eckermann: „Wir Deutsche sind von gestern, wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tchtig cultivirt, allein es kçnnen noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten so viel Geist und hçhere Cultur eindringe und allgemein werde,
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dass man von ihnen wird sagen kçnnen, es sei lange her, dass sie Barbaren gewesen“ zu rechter Stunde erinnert hat, sagt Folgendes:151 „Wenn unser çffentliches und privates Leben so ersichtlich nicht mit dem Geprge einer productiven und stilvollen Cultur bezeichnet ist, wenn noch dazu unsere grossen Knstler diese ungeheure und fr ein begabtes Volk tief beschmende Thatsache mit dem ernstesten Nachdruck und mit der Ehrlichkeit, die der Grçsse zu eigen ist, eingestanden haben und eingestehen, wie ist es dann doch mçglich, dass unter den deutschen Gebildeten trotzdem die grçsste Zufriedenheit herrscht: eine Zufriedenheit, die, seit dem letzten Kriege, sogar fortwhrend sich bereit zeigt, in bermthiges Jauchzen auszubrechen und zum Triumphe zu werden. Man lebt jedenfalls in dem Glauben, eine echte Cultur zu haben: der ungeheure Contrast dieses zufriedenen, ja triumphirenden Glaubens und eines offenkundigen Defectes scheint nur noch den Wenigsten und Seltensten berhaupt bemerkbar zu sein. Denn Alles, was mit der çffentlichen Meinung meint, hat sich die Augen verbunden und die Ohren verstopft – jener Contrast soll nun einmal nicht da sein. Wie ist dies mçglich? Welche Kraft ist so mchtig, ein solches „Soll nicht“ vorzuschreiben? Welche Gattung von Menschen muss in Deutschland zur Herrschaft gekommen sein, um so starke und einfache Gefhle verbieten oder doch ihren Ausdruck verhindern zu kçnnen? Diese Macht, diese Gattung von Menschen will ich bei Namen nennen – es sind die Bildungsphilister. Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeichnet in seinem weiteren, doch ganz populren Sinne den Gegensatz des Musensohnes, des Knstlers, des echten Culturmenschen. Der Bildungsphilister aber – dessen Typus zu studiren, dessen Bekenntnisse, wenn er sie macht, anzuhçren jetzt zur leidigen Pflicht wird – unterscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gattung „Philister“ durch Einen Aberglauben: er whnt selber Musensohn und Culturmensch zu sein; ein unbegreiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, dass er gar nicht weiss, was der Philister und was sein Gegensatz ist: weshalb wir uns nicht wundern werden, wenn er meistens es feierlich verschwçrt, Philister zu sein. Er fhlt sich, bei diesem Mangel jeder Selbsterkenntniss fest berzeugt, dass seine „Bildung“ gerade der satte Ausdruck der rechten deutschen Cultur sei: und da er berall Gebildete seiner Art vorfindet und alle çffentlichen Institutionen, Schul-, Bildungs- und Kulturanstalten gemss seiner Gebildetheit und nach seinen Bedrfnissen eingerichtet findet, so trgt er auch berallhin das siegreiche Gefhl mit sich herum, der wrdige Vertreter der jetzigen deutschen Cultur zu sein, und macht dem entsprechend, seine Forderungen und Ansprche. Wenn nun die wahre Cultur jedenfalls 151 Es folgt Kapitel 2 der UB I (KGW III/1, S. 160 – 169) unter Auslassung des Absatzes „So redet David Strauss …. „ (KGW III/1, S. 167, Z. 12 – 23) und des Schlußsatzes „Es ist die Periode der cynischen Lippenbekenntniss …..“ (KGW III/1, S. 169, Z. 23 – 26)
278 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Einheit des Stiles voraussetzt, und selbst eine schlechte und entartete Cultur nicht ohne die zur Harmonie Eines Stiles zusammenlaufende Mannichfaltigkeit gedacht werden darf, so mag wohl die Verwechselung in jenem Wahne des Bildungsphilisters daher rhren, dass er berall das gleichfçrmige Geprge seiner selbst wieder findet und nun aus diesem gleichfçrmigen Geprge aller „Gebildeten“ auf eine Stileinheit der deutschen Bildung, kurz auf eine Cultur schliesst. Er nimmt um sich herum lauter gleiche Bedrfnisse und hnliche Ansichten wahr; wohin er tritt, umfngt ihn auch sofort das Band einer stillschweigenden Convention ber viele Dinge, besonders in Betreff der Religionsund der Kunstangelegenheiten: diese imponirende Gleichartigkeit, dieses nicht befohlene und doch sofort losbrechende tutti unisono verfhrt ihn zu dem Glauben, dass hier eine Cultur walten mçge. Aber die systematische und zur Herrschaft gebrachte Philisterei ist deshalb, weil sie System hat, noch nicht Cultur und nicht einmal schlechte Cultur, sondern immer nur das Gegenstck derselben, nmlich dauerhaft begrndete Barbarei. Denn alle jene Einheit des Geprges, die uns bei jedem Gebildeten der deutschen Gegenwart so gleichmssig in die Augen fllt, wird Einheit nur durch das bewusste oder unbewusste Ausschliessen und Negiren aller knstlerisch productiven Formen und Forderungen eines wahren Stils. Eine unglckliche Verdrehung muss im Gehirne des gebildeten Philisters vor sich gegangen sein: er hlt gerade Das, was die Cultur verneint, fr die Cultur, und da er consequent verfhrt, so bekommt er endlich eine zusammenhngende Gruppe von solchen Verneinungen, ein System der Nicht-Cultur, der man selbst eine gewisse „Einheit des Stils“ zugestehen drfte, falls es nmlich noch einen Sinn hat, von einer „stilisirten Barbarei“ zu reden. Ist ihm die Entscheidung frei gegeben zwischen einer stilgemssen Handlung, und einer entgegengesetzten, so greift er immer nach der letzteren, und weil er immer nach ihr greift, so ist allen seinen Handlungen ein negativ gleichartiges Geprge aufgedrckt. An diesem gerade erkennt er den Charakter der von ihm patentirten „deutschen Cultur“: an der Nichtbereinstimmung mit diesem Geprge misst er das ihm Feindselige und Widerstrebende. Der Bildungsphilister wehrt in solchem Falle nur ab; verneint, secretirt, verstopft sich die Ohren, sieht nicht hin, er ist ein negatives Wesen, auch in seinem Hasse und seiner Feindschaft. Er hasst aber Keinen mehr als Den, der ihn als Philister behandelt und ihm sagt, was er ist: das Hinderniss aller Krftigen und Schaffenden, das Labyrinth aller Zweifelnden und Verirrten, der Morast aller Ermatteten, die Fussfessel aller nach hohen Zielen Laufenden, der giftige Nebel aller frischen Keime, die ausdorrende Sandwste des suchenden und nach neuem Leben lechzenden deutschen Geistes. Denn er sucht, dieser deutsche Geist! und ihr hasst ihn desshalb, weil er sucht, und weil er euch nicht glauben will, dass ihr schon gefunden habt, wonach er sucht. Wie ist es nur mçglich, dass ein solcher Typus, wie der des Bildungsphilisters entstehen und, falls er entstand, zu der Macht eines obersten Richters ber alle deutschen Culturprobleme heran-
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wachsen konnte, wie ist dies mçglich, nachdem an uns eine Reihe von grossen heroischen Gestalten vorbergegangen ist, die in allen ihren Bewegungen, ihrem ganzen Gesichtsausdrucke, ihrer fragenden Stimme, ihrem flammenden Auge nur Eins verriethen: dass sie Suchende waren, und dass sie eben Das inbrnstig und mit ernster Beharrlichkeit suchten, was der Bildungsphilister zu besitzen whnt, die echte ursprngliche deutsche Cultur. Gibt es einen Boden, schienen sie zu fragen, der so rein, so unberhrt, von so jungfrulicher Heiligkeit ist, dass auf ihm und auf keinem anderen der deutsche Geist sein Haus baue? So fragend zogen sie durch die Wildniss und das Gestrpp elender Zeiten und enger Zustnde, und als Suchende entschwanden sie unseren Blicken: sodass Einer von ihnen, fr Alle, im hohen Alter sagen konnte: „Ich habe es mir ein halbes Jahrhundert lang sauer genug werden lassen und mir keine Erholung gegçnnt, sondern immer gestrebt und geforscht und gethan, so gut und so viel ich konnte.“ Was urtheilt aber unsere Philisterbildung ber diese Suchenden? Sie nimmt sie einfach als Findende und scheint zu vergessen, dass jene selbst sich nur als Suchende fhlten. Wir haben ja unsere Cultur, heisst es dann, denn wir haben ja unsere „Classiker“, das Fundament ist nicht nur da, nein auch der Bau steht schon auf ihm gegrndet – wir selbst sind der Bau. Dabei greift der Philister an die eigene Stirn. Um aber unsere Classiker so falsch beurtheilen und so beschimpfend ehren zu kçnnen, muss man sie gar nicht mehr kennen: und dies ist die allgemeine Thatsache. Denn sonst msste man wissen, dass es nur Eine Art gibt, sie zu ehren, nmlich dadurch, dass man fortfhrt in ihrem Geiste und mit ihrem Muthe zu suchen und dabei nicht mde wird. Dagegen ihnen das so nachdenkliche Wort „Classiker“ anzuhngen und sich von Zeit zu Zeit einmal an ihren Werken zu „erbauen“, das heisst, sich jenen matten und egoistischen Regungen berlassen, die unsere Concertsle und Theaterrume jedem Bezahlenden versprechen, auch wohl Bildsulen stiften und mit ihrem Namen Feste und Vereine bezeichnen – das Alles sind nur klingende Abzahlungen, durch die der Bildungsphilister sich mit ihnen auseinandersetzt, um im Uebrigen sie nicht mehr zu kennen und um vor allem nicht nachfolgen und weitersuchen zu mssen. Denn: es darf nicht mehr gesucht werden; das ist die Philisterlosung. Diese Losung hatte einst einen gewissen Sinn: damals als in dem ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in Deutschland ein so mannigfaches und verwirrendes Suchen, Experimentiren, Zerstçren, Verheissen, Ahnen, Hoffen begann und durcheinanderwogte, dass dem geistigen Mittelstande mit Recht bange um sich selbst werden musste Mit Recht lehnte er damals das Gebru phantastischer, und sprachverrenkender Philosophien und schwrmerisch – zweckbewusster Geschichtsbetrachtung, den Carneval aller Gçtter und Mythen, den die Romantiker zusammenbrachten und die im Rausch ersonnenen dichterischen Moden und Tollheiten achselzuckend ab, mit Recht, weil der Philister
280 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung nicht einmal zu einer Ausschweifung das Recht hat. Er benutzte aber die Gelegenheit, mit jener Verschmitztheit geringerer Naturen, das Suchen berhaupt zu verdchtigen und zum bequemen Finden aufzufordern. Sein Auge erschloss sich fr das Philisterglck: aus all dem wilden Experimentiren rettete er sich ins Idyllische und setzte dem unruhig schaffenden Trieb des Knstlers ein gewisses Behagen entgegen, ein Behagen an der eigenen Enge, der eigenen Ungestçrtheit, ja an der eigenen Beschrnktheit. Sein langgestreckter Finger wies, ohne jede unntze Verschmtheit, auf alle verborgenen und heimlichen Winkel seines Lebens, auf die vielen rhrenden und naiven Freuden, welche in der kmmerlichsten Tiefe der uncultivirten Existenz und gleichsam auf dem Moorgrunde des Philisterdaseins als bescheidene Blumen aufwuchsen. Es fanden sich eigene darstellende Talente, welche das Glck, die Heimlichkeit, die Alltglichkeit, die buerische Gesundheit und alles Behagen, welches ber Kinder-, Gelehrten- und Bauernstuben ausgebreitet ist, mit zierlichem Pinsel nachmalten. Mit solchen Bilderbchern der Wirklichkeit in den Hnden suchten die Behaglichen nun auch ein fr alle mal ein Abkommen mit den bedenklichen Classikern und den von ihnen ausgehenden Aufforderungen zum Weitersuchen zu finden: sie erdachten den Begriff des Epigonen-Zeitalters, nur um Ruhe zu haben und bei allem unbequemen Neueren sofort mit dem ablehnenden Verdict „Epigonenwerk“ bereit sein zu kçnnen. Eben diese Behaglichen bemchtigten sich zu demselben Zwecke, um ihre Ruhe zu garantiren, der Geschichte und suchten alle Wissenschaften, von denen etwa noch Stçrungen der Behaglichkeit zu erwarten waren, in historische Disciplinen umzuwandeln, zumal die Philosophie und die classische Philologie. Durch das historische Bewusstsein retteten sie sich vor dem Enthusiasmus – denn nicht mehr diesen sollte die Geschichte erzeugen, wie doch Goethe vermeinen drfte: sondern gerade die Abstumpfung ist jetzt das Ziel dieser unphilosophischen Bewunderer des nil admirari, wenn sie alles historisch zu begreifen suchen. Whrend man vorgab, den Fanatismus und die Intoleranz in jeder Form zu hassen, hasste man im Grunde den dominirenden Genius und die Tyrannis wirklicher Culturforderungen; und deshalb wandte man alle Krfte darauf hin, berall dort zu lahmen, abzustumpfen oder aufzulçsen, wo etwa frische und mchtige Bewegungen zu erwarten standen. Eine Philosophie, die unter krausen Schnçrkeln das Philisterbekenntniss ihres Urhebers kosch verhllte, erfand noch dazu eine Formel fr die Vergçtterung der Alltglichkeit: sie sprach von der Vernnftigkeit alles Wirklichen und schmeichelte sich damit bei dem Bildungsphilister ein, der auch krause Schnçrkeleien liebt, vor allem aber sich allein als wirklich begreift und seine Wirklichkeit als das Maass der Vernunft in der Welt behandelt. Er erlaubte jetzt jedem und sich selbst, etwas nachzudenken, zu forschen, zu sthetisiren; vor allem zu dichten und zu musiciren, auch Bilder zu machen, sowie ganze Philosophien: nur musste um Gotteswillen bei uns alles beim Alten bleiben, nur durfte um keinen Preis an dem „Vernnftigen“
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und an dem „Wirklichen“, das heisst an dem Philister gerttelt werden. Dieser hat es zwar ganz gern, von Zeit zu Zeit sich den anmuthigen und verwegenen Ausschreitungen der Kunst und einer skeptischen Historiographie zu berlassen und schtzt den Reiz solcher Zerstreuungs- und Unterhaltungsobjecte nicht gering: aber er trennt streng den „Ernst des Lebens“, soll heissen den Beruf, das Geschft, sammt Weib und Kind, ab von dem Spass; und zu letzterem gehçrt ungefhr alles, was die Cultur betrifft. Daher wehe einer Kunst, die selbst Ernst zu machen anfngt und Forderungen stellt, die seinen Erwerb, sein Geschft und seine Gewohnheiten, das heisst also seinen Philisterernst antasten – von einer solchen Kunst wendet er die Augen ab, als ob er etwas Unzchtiges she, und warnt mit der Miene eines Keuschheitswchters jede schutzbedrftige Tugend, nur ja nicht hin zusehen. Zeigt er sich so beredt im Abrathen, so ist er dankbar gegen den Knstler, der auf ihn hçrt und sich abrathen lsst, ihm gibt er zu verstehen, dass man es mit ihm leichter und lssiger nehmen wolle und dass man von ihm, dem bewhrten Gesinnungsfreunde, gar keine sublimen Meisterwerke fordere, sondern nur zweierlei: entweder Nachahmung der Wirklichkeit bis zum Aeffischen, in Idyllen oder sanftmthigen humoristischen Satiren, oder freie Copien der anerkanntesten und berhmtesten Werke der Classiker, doch mit verschmten Indulgenzen an den Zeitgeschmack. Wenn er nmlich nur die epigonenhafte Nachahmung oder die ikonische Portraittreue des Gegenwrtigen schtzt, so weiss er, dass die letztere ihn selbst verherrlicht und das Behagen am „Wirklichen“ mehrt, die erstere ihm nicht schadet, sogar seinem Ruf als den eines classischen Geschmacksrichters fçrderlich ist, und im Uebrigen keine neue Mhe macht, weil er sich bereits mit den Classikern selbst ein- fr allemal abgefunden hat. Zuletzt erfindet er noch fr seine Gewçhnungen, Betrachtungsarten, Ablehnungen und Begnstigungen die allgemein wirksame Formel „Gesundheit“ und beseitigt mit der Verdchtigung, krank und berspannt zu sein, jeden unbequemen Stçrenfried. Hier und da werden nmlich die Philister, vorausgesetzt, dass sie unter sich sind, des Weines pflegen und der grossen Kriegsthaten gedenken, ehrlich, redselig und naiv; dann kommt mancherlei ans Licht, was sonst ngstlich verborgen wird, und gelegentlich plaudert selbst Einer die Grundgeheimnisse der ganzen Brderschaft aus. Einen solchen Moment hat ganz neuerdings einmal ein namhafter Aesthetiker aus der Hegel’schen Vernnftigkeits-Schule gehabt. Der Anlass war freilich ungewçhnlich genug: man feierte im lauten Philisterkreise das Andenken eines wahren und chten Nicht-Philisters, noch dazu eines solchen, der im allerstrengsten Sinne des Wortes an den Philistern zu Grunde gegangen ist: das Andenken des herrlichen Hçlderlin, und der bekannte Aesthetiker hatte deshalb ein Recht, bei dieser Gelegenheit von den tragischen Seelen zu reden, die an der „Wirklichkeit“ zu Grunde gehen, das Wort Wirklichkeit nmlich in jenem erwhnten Sinne als Philister-Vernunft verstanden.
282 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Aber die „Wirklichkeit“ ist eine andere geworden: die Frage mag gestellt werden, ob sich Hçlderlin wohl in der gegenwrtigen grossen Zeit zurecht finden wrde. „Ich weiss nicht“, sagt Fr. Vischer, „ob seine weiche Seele so viel Rauhes, das an jedem Kriege ist, ob sie soviel des Verdorbenen ausgehalten htte, das wir nach dem Kriege auf den verschiedensten Gebieten fortschreiten sehen. Vielleicht wre er wieder in die Trostlosigkeit zurckgesunken. Er war eine der unbewaffneten Seelen, er war der Werther Griechenlands, ein hoffnungslos Verliebter; es war ein Leben voll Weichheit und Sehnsucht, aber auch Kraft und Inhalt war in seinem Willen und Grçsse, Flle und Leben in seinem Stil, der da und dort sogar an Aeschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist zu wenig vom Harten; es fehlte ihm als Waffe der Humor; er konnte es nicht ertragen, dass man noch kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist.“ Dieses letzte Bekenntniss, nicht die sssliche Beileidsbezeigung des Tischredners geht uns etwas an. Ja, man gibt zu, Philister zu sein, aber Barbar! Um keinen Preis. Der arme Hçlderlin hat leider nicht so fein unterscheiden kçnnen. Wenn man freilich bei dem Worte „Barbarei“ an den Gegensatz der Civilisation und vielleicht gar an Seeruberei und Menschenfresser denkt, so ist jene Unterscheidung mit Recht gemacht: aber ersichtlich will der Aesthetiker uns sagen: „man kann Philister sein und doch Culturmensch“ – darin liegt der Humor, der dem armen Hçlderlin fehlte, an dessen Mngel er zu Grunde ging. Bei dieser Gelegenheit entfiel dem Redner noch ein zweites Gestndniss: „Es ist nicht immer Willenskraft, sondern Schwachheit, was uns ber die von den tragischen Seelen so tief gefhlte Begierde zum Schçnen hinberbringt“ – so ungefhr lutete das Bekenntniss, abgelegt im Namen der versammelten „Wir“, das heisst der „Hinbergebrachten“, der durch Schwachheit „Hinbergebrachten“! Begngen wir uns mit diesen Gestndnissen! Jetzt wissen wir ja zweierlei durch den Mund eines Eingeweihten: einmal, dass diese „Wir“ ber die Sehnsucht zum Schçnen wirklich hinweg, ja sogar hinbergebracht sind, und zweitens: durch Schwachheit! Eben diese Schwachheit hatte sonst in weniger indiscreten Momenten einen schçneren Namen: es war die berhmte „Gesundheit“ der Bildungsphilister. Nach dieser allerneuesten Belehrung mçchte es sich aber empfehlen, nicht mehr von ihnen, als den „Gesunden“ zu reden, sondern von den Schwchlichen oder, mit Steigerung, von den Schwachen. Wenn diese „Schwachen“ nur nicht die Macht htten! Was kann es sie angehen, wie man sie nennt! Denn sie sind die Herrschenden, und das ist kein rechter Herrscher, der nicht einen Spotthamen vertragen kann. Ja wenn man nur die Macht hat, lernt man wohl gar ber sich selbst zu spotten. Es kommt dann nicht viel darauf an, ob man sich eine Blçsse gibt: denn was bedeckt nicht der Purpur! was nicht der Triumphmantel! Die Strke des Bildungsphilisters kommt ans Licht, wenn er seine Schwachheit eingesteht: und je mehr und je cynischer er eingesteht, um so deutlicher verrth sich, wie wichtig er sich nimmt, und wie berlegen er sich fhlt.“
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Anonym: Nietzsches David Strauss. In: Mannheimer Journal, 8. 9. 1873. Das kritische Werk von Nietzsche, das eine wahre Tat darstellt … eine scharfe und zugleich sehr geistreiche Zurechtweisung des vielgerhmten Buches von D. Fr. Strauss.152
Anonym: Deutsche Kultur. In: Schweizerischer Volksfreund. Anzeigeblatt der Stadt Basel. Organ der Liberalen Basels, Nr. 217 vom 13. 9. 1873, S. 1. Deutsche Kultur. David Friedrich Strauß hat in seinem neuesten „Bekenntniß“ die schweizerische Geistesbildung als eine „banausische, grob-realistische, prosaisch-nchterne“ bezeichnet, welche den Deutschen, der auf ihrem Boden weile, „die feinste geistige Lebenslust seiner Heimath“ vermissen lasse, und hat darin den Beweis gesehen, daß die Republik nicht ohne Weiteres der Monarchie vorzuziehen sei. Dieses Urtheil des berhmten Kritikers kann uns Schweizer rgern oder betrben, aber vçllig niedergeschlagen, zerknirscht und vernichtet mssen wir uns fhlen, wenn wir allerjngst aus einem norddeutschen Munde zu hçren bekommen, daß sogar ein David Strauß, ein Friedrich Vischer bornierte Philister seien, daß nicht nur Sddeutschland (von der Schweiz gar nicht zu reden) daß ganz Deutschland von wahrer Kultur nichts habe und nichts wisse, daß eine wirkliche deutsche Bildung in der Barbarei der Gegenwart erst noch zu suchen und zu grnden sei. Dies sucht uns darzuthun unser baselscher Professor Dr. Friedrich Nietzsche in seinen „Unzeitgemßen Betrachtungen“ deren eben erschienenes erstes Stck den Titel fhrt „David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller.“ Wer etwa meinen sollte, der baselsche Professor habe sich berufen gefhlt, fr die gefhrdete Religion in die Schranken zu treten und auch seinerseits den Unglauben und die Unchristlichkeit der neuesten Strauß’schen Schrift zu bekmpfen, der wrde weit fehl gehen; ihm ist der Gegner noch viel zu viel Theologe, er gesteht lachend ein, er wnschte dessen Buch „ein wenig satanischer“, und vermuthet boshaft, viele seiner Schwchen kommen wohl daher, daß Strauß zuviel in den Schriften seiner Gegner gelesen. Hr. N ist ber beide Parteien erhaben und blickt spottend auf die neuere Theologie, glubige wie
152 Nach Krummel Bd. IV (2006), S. 31 ist die Zeitschrift nicht nachweisbar, Zitat nach Gutscher, Ferdinand: Nietzsche und der Journalismus. Diss., Mnchen, 1937, S. 42.
284 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung unglubige, herab, Hegel und Schleiermacher namentlich sind ihm ungesunde Geister, wer mit ihnen zu thun gehabt, werde nie wieder ganz kurirt. Aber was hat denn Herr N an Strauß auszusetzen? Man hçre: Er stellt sich die drei Fragen: 1. Wie denkt sich Strauß seinen Himmel? 2. Wie weit reicht der Muth, den ihm der neue Glaube verleiht? 3. Wie schreibt er seine Bcher? und gibt uns darauf folgende Antworten. Strauß ist das Urbild eines deutschen Philisters, der nichts Rechtes weiß noch kann, sich aber einbildet auf der Hçhe seiner Zeit zu stehen und in diesem von der ebenso philistrçsen Gegenwart genhrten Wahne als seinem Himmel schwelgt. Strauß, der „Philisterhuptling“, ist ferner ein Feigling, ein echter Maulheld, der es nicht wagt die volle Consequenz seiner Stze zu ziehen, sondern nur tapfer ist so lange er seine Philister auf seiner Seite hat. „Der Magister Strauß“ ist endlich auch ein miserabler Schriftsteller, „ein ganz nichtswrdiger Stilist“, dessen schauspielerische Drapirung nicht im Stande ist, seinen Ungeschmack, seine Gedankenlosigkeit, seine sthetische Rohheit zu verbergen; seine bald platte und triviale, bald manierirte Schreibweise ist ein „lderlicher Lumpenjargon“, nichts als unlogisches Zeug, Sprachfehler, verwirrte Bilder, unklare Verkrzungen, Geschmacklosigkeiten u.s.w. Dieß der Inhalt des hundert Seiten starken Buches. So urtheilt ein junger Gelehrter ber Strauß, der seit vierzig Jahren von der deutschen Nation als ein hervorragender Geist anerkannt ist, dessen zahlreiche Schriften so viele Auflagen erlebt haben wie kaum ein Buch neuerer Zeit, und den auch die Gegner, wenn sie ihn als Theologen verurtheilten, doch durchweg als mustergltigen Schriftsteller zu achten gestanden. Dieser Contrast muß jeden Unbefangenen befremden. Ein eingehendes Urtheil ber das Buch des Herrn N. kann jedoch gerechter Weise nur auf eine eingehende Prfung im Einzelnen gegrndet werden. Indem wir dieß zugestehen, kçnnen wir uns doch nicht enthalten, den Totaleindruck wiederzugeben, den es auf uns gemacht hat. Wir haben uns in eine Schaubude der Messe versetzt geglaubt und haben uns an den lustigen Sprngen des Bajazzo und den Forcetouren des Clown recht weidlich ergçtzt. Eine famose Fertigkeit der Zunge und der Schreibefinger und eine bedeutende Elastizitt des Gehirns zeichnet unseren Knstler jedenfalls aus, das Repertoire seines Wissens ist ein sehr reichhaltiges und seine Productionen zeugen von großer Gewandtheit und unverkennbarer Eleganz; er hat Stil, er ist sehr kultivirt, wenn nach seiner auffallenden Definition Kultur nichts anderes ist als „Einheit des knstlerischen Stils“, aber – verlassen wir das scherzhafte Bild – hinter der knstlerischen Gewandtheit starrt uns das leere Nichts entgegen. Wer ber das neueste Buch von Strauß reden will, was schon so viele gethan haben, der sollte wenigstens mit ein paar Worten wissen lassen, welches seine eigene Ueberzeugung, sein eigener philosophischer, religiçser, politischer Standpunkt sei. Von alle dem erfhrt man nichts bei Herrn N.; man kann nicht einmal aus einzelnen Aeußerungen schließen, wie weit er mit seinem Schopenhauer durch
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Dick und Dnn geht. An Ueberzeugung und Charakter scheint Hrn. N. nichts zu liegen, Geist und Gelehrsamkeit und vor allem der Stil scheint ihm den Menschen auszumachen. Wie unglcklich muß sich doch ein solcher norddeutscher Kulturmensch in unserer „banausischen philisterhaften“ Schweiz und vorab in unserem schlichten und nchtern Basel fhlen? Diese Frage wurde uns aufs Neue nahegelegt durch dieses Buch sowohl, als durch ein anderes theologisches, welches gleichzeitig mit jenem und unter dem gleichen Dache von einem geistesverwandten aber minder sprachbegabten Freunde niedergeschrieben wurde. Von der Christlichkeit der heutigen Theologie ist darin die Rede, und auch da wird wie dort von einsamer Hçhe herab nach rechts und nach links hin der Stab gebrochen. Strauß kommt darin ebenfalls bel weg, aber auch der deutsche Protestantenverein und der schweizerische Reformverein werden nicht glimpflicher behandelt als die Organe der Orthodoxie. Die letztere, so sagt unser Professor, hat von dem Christenthum, dessen Grund und Wesen Weltverneinung ist, den Kern verloren und nur die Schale behalten, die liberale Theologie aber hat mit dem Kerne auch die Schale weggeworfen. Daß unsere liberalen Theologen gleichwohl noch wollen Christen sein und heißen, erscheint ihm als die „wiedrigste Sentimentisirung, Verflachung und Entnervung des Christenthums.“ Aber welches ist denn der theologische Standpunkt dieses unseres Autors selber? Das erfahren wir eben wieder nicht, nur bekennt sich der Verfasser zu der bedenklichen Theorie von dem „bestndigen und durchaus unversçhnlichen Antagonismus des Glaubens und des Wissens,“ von dem „fr die Religion zerstçrenden und einschrnkenden Charakter aller Wissenschaft.“ Darauf wird dann die Unterscheidung eines esoterischen und eines exoterischen Standpunktes des Theologen und die Forderung gegrndet, daß der Geistliche mit Rcksicht aus die Bedrfnisse seiner Gemeinde seine wissenschaftliche Ueberzeugung unter Umstnden unterdrcken und nicht hervortreten lassen solle; Amtsgelbde drfen ihn zwar in seinen persçnlichen Ansichten nicht binden, wohl aber in deren Verkndung bei Ausbung seines Amtes; er sollte berhaupt bei Amte seine Person mehr zurcktreten lassen und wieder mehr als Priester auftreten. Ist das nicht eine hçchst gefhrliche Theorie? eine Religion, die von Hause aus die Wissenschaft zur Gegnerin hat! Wer sind die Wissenden und wer die Glaubenden? Wie weit darf die Verlugnung der persçnlichen Ueberzeugung gehen ohne zur Lge und zur Heuchelei zu werden? Leider verschmht es der Verfasser ber diese Fragen uns Auskunft zu geben. Da halten wir es doch lieber mit der bemitleideten „liberalen Theologie“ welche ungefhr sagt: Die Grenze zwischen Glauben und Wissen ist eine fließende und schwankende, das Glauben soll sich unbedingt dem Wissen unterordnen und mçglichst in dasselbe hinbergefhrt werden; darum soll das Wissen rckhaltlos sich aussprechen drfen, wo aber das Wissen eines Geistlichen sich mit dem Glauben seiner
286 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Gemeinde nicht vertrgt, da soll er lieber sein Amt als seine Ueberzeugung preisgeben. So ungefhr spricht der schweizerische Freisinn und es begreift sich nun, wie unbehaglich es jener modernsten deutschen Kultur in Mitte solcher „flachen und prosaischen“ Geistesbildung zu Muthe sein muß. Dort ein Enthusiast der knstlerischen Form, dem Kultur geradezu als „Einheit des knstlerischen Styls“ gilt, hier ein Esotoriker [sic] des Wissens, den die glubige Masse und alle nicht wie er denkenden tief unter sich erblickt und unfhig sich zu ihm zu erheben, so daß er sich selbstverleugnend zu ihnen herablassen und ihrem Kindesverstande sich anbequemen muß, gewiß fr solche Standpunkt mag die Schweiz und mag Basel ein harter und wenig angenehmer Boden sein. Wie der elegante Ovid am pontischen Gestade sein Exil unter den rauhen Gaten bejammerte, so mçgen sich solche Geister von unseres Rheines Strande nach dem deutschen Norden zurcksehnen. Den Thomistokles ließen die Trophen des Miltiades nicht schlafen und Alexander weinte ber die Siege seines Vaters Philippus; so scheint auch unseren besprochenen Dioskuren der Erfolg der neusten Schrift von Strauß zu Gemthe gegangen zu sein und die beiden Schtzen nahmen ihn miteinander auf ’s Korn. Nun, einen Ruf, wie ihn Strauß in Deutschland besitzt, werden Sie sich schwerlich erschreiben, aber vielleicht doch einen Ruf nach Deutschland.
§.: David Strauss und sein neuester Kritiker. In: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel, Nr. 218 f vom 15. und 16. 9. 1873. David Strauss und sein neuester Kritiker Wo ist der, des Gram So voll Emphase tçnt? Shakspeare
Das letzte Werk von Strauß hat einen Angriff hervorgerufen von ganz neuer und eigenthmlicher Art, der unzeitgemßen Betrachtungen von Dr. F. Nietzsche erstes Stck: „David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller.“ Eigenthmlich ist der Angriff, weil er nicht von glubigem Boden ausgeht, denn darber lsst uns Hr. Nietzsche nicht im Zweifel; er sagt ganz deutlich (S. 74): „Es gab einen Strauß, einen wackern, strengen, straffgeschrzten Gelehrten, der uns ebenso sympathisch war, wie jeder, der in Deutschland mit Ernst und Nachdruck der Wahrheit dient“ und gerade in Betreff der neuesten Schrift wrde unser Kritiker (S. 20) „wenn es ein wenig satanischer zuging, keineswegs unzufrieden sein.“ Da ist es in der That von Interesse zu sehen, was denn Hr. Nietzsche gegen Strauß einzuwenden hat. Er behandelt in seiner „unzeitgemßen Betrachtung“ zunchst den Zustand der „deutschen Kultur“, welche seit dem Erfolge der deutschen
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Waffen so viel gepriesen wird und in jenen Kmpfen ebenfalls gesiegt haben soll. Jeder ernster Denkende wird ihm einigermaßen Recht geben, wenn er gegen diesen verbreiteten Glauben und die daraus erwachsene Selbstzufriedenheit energisch sich ausspricht und die blinden Anhnger dieses Wahns als „Bildungsphilister“ gebhrend kennzeichnet. Aber nachdem wir so Blatt um Blatt mit der Kritik der deutschen Kulturzustnde uns beschftigt haben, beginnen wir uns zu fragen, was denn diese ganze Erçrterung – so schçn und gut sie an sich sei – mit dem Titel des Buches zu schaffen habe. Darber werden wir denn urplçtzlich und unerwartet genug belehrt. Nachdem die Schilderung des Gebahrens der Bildungsphilister geschlossen hat mit den Worten (S. 15): „er beseitigt mit der Verdchtigung krank oder berspannt zu sein, jeden unbequemen Stçrenfried“ – heißt es sofort weiter: „So redet David Strauß, ein rechter Satisfait unserer Bildungszustnde und typischer Philister, einmal … von Arthur Schopenhauers … vielfach ungesundem und unersprießlichem Philosophieren.“ Wir glauben zuerst ein Blatt zu viel umgeschlagen zu haben, allein wir irren uns, so steht es da. Strauß, seit seinem ersten Auftreten einer der wesentlichen Faktoren der kritischen Suberung unserer Bildungszustnde, ist ein „Satisfait“, ein „Philister“. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber neu; gespannt auf den Versuch eines Beweises, lesen wir weiter und wenn wir zu Ende sind so legen wir, das ganze berdenkend, uns die Fragen vor: 1) Wie kommt Hr. Nietzsche dazu, den ihm frher „sympathischen“ Strauß anzugreifen? 2) Auf welche Weise fhrt er diesen Streit? Als Beweggrnde dieses Haders ergeben sich etwa folgende: Strauß ist unbefriedigt von der Schopenhauer’schen Philosophie, findet deren Pessimismus unersprießlich, whrend Hr. Nietzsche ein warmer Anhnger derselben ist, wie er sich denn auch den Schopenhauerschen Kothurn nicht ohne Talent angeschnallt hat. Ferner ußert Strauß in seiner Zugabe „Von unsern großen Musikern“ Ansichten und Urtheile, welche Hrn. Nietzsche nicht genehm sind, und sollte nicht hier vielleicht das, was er ber Beethoven und Mozart sagt, weniger verdammlich sein als der Umstand, dass von R. Wagner gar nicht die Rede ist bei „unsern großen Musikern“?! Endlich finden sich bei Strauß einige gesuchte Vergleiche und geschraubte Wendungen, wenn auch lange nicht so viele, als uns Hr. Nietzsche will glauben machen; die ganze silbenstecherische Splitterrichterei dient berhaupt mehr als willkommene Waffe, als ursprngliche Beweggrnde bleiben nur philosophische und musikalische Meinungsverschiedenheiten. Das scheint ungengend, um zu erklren, welch’ volle Schale des Zorns ber Strauss ausgegossen wird. Verstndlich wird dieß auch nur durch die mehr als gewçhnliche Menge von unduldsamem Selbstgefhl, welche in der Schrift des Kritikers berall zu Tage tritt. Lassen wir ihn selbst es uns sagen, daß ber diese Dinge (S. 10) „nur der zu reden ein Recht hat, der von ihnen aus erster Hand weiß.“ Da aber derartige Offenbarungen heutzutage in der That „unzeitgemß“
288 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung sind, so ist es ntzlich, sich außer der Prophetenrolle auch noch die weltliche Herrschaft zu sichern; und wirklich er ist „Kçnig“, er sagt es ja selbst (S. 22).“ Und das frçhliche Lachen! Der fortwhrende Kitzel zum Lachen!“ und S. 51 „wenn nun einmal die Krrner bauen? Es kommt vor, Herr Metaphysieus! Sie wissen es – dann haben die Kçnige zu lachen.“ Und lachend opfert er Hekatomben, unser Prophetenkçnig; wer bleibt berhaupt noch am Leben, wenn (S. 58) „man so lange von dem Ungeschmack, der Gedankenlosigkeit und sthetischen Rohheit eines Gelehrten berzeugt sein kann, als er nicht das Gegentheil erwiesen hat? Und nur Wenige werden das Gegentheil beweisen kçnnen“! Zu diesem Satze wrde Herr Nitzsche [sic], wenn er ihn nicht selbst geschrieben htte, etwa folgendes bemerken: Rohheit ist nie sthetisch, es sollte heißen: Rohheit in sthetischen Dingen (S. 88) „Eine schndliche Gewaltthtigkeit an der Sprache begangen, um einen Satz zu sparen oder zu eskrokiren.“ Wir aber fragen uns, ob mit diesem Satze der Kritiker nicht „lachend“ den Ast abgesgt hat, auf dem er selbst sitzt? Oder soll etwa diese Schrift der verlangte Beweis des Gegentheils sein? Wir werden das am besten sehen, wenn wir uns nun zu der Taktik wenden, welche in diesem Streit verwendet wird. Der Erçffnung des Angriffs haben wir schon beigewohnt und sagen wir es kurz: es geht im gleichen Style weiter. Wo es geht, werden die Worte von Strauß ins Gemeine umgedeutet, seine Redewendungen in’s Geschmacklose ausgelegt, wo das Aus- und Unterlegen im Stich lsst – beim Unterlegen denkt wohl Hr. Nitzsche [sic] wieder an seinen (S. 94) „Flickschneider“ – da wird frischweg behauptet z. B. (S. 63) Das Verhltnis der Abschnitte von Straußens Buch sei unlogisch oder (S. 75) „daß er die Gabe knstlerischen Gestaltens nie gehabt habe“ u.s.w. Doch wir greifen vor; zunchst handelt es sich darum, Strauß, da er Satisfait und Philister absolut nicht ist, zu solchem zu machen; es geht Alles, wenn man in den Mitteln nicht whlerisch ist. Strauß spricht von „geschichtlichen Studien“, von Erweiterung der Naturkenntnisse, von der Anregung die „in den Schriften unserer großen Dichter, bei den Auffhrungen der Werke unserer großen Musiker“ zu finden sei; was macht Hr. Nietzsche daraus? (S. 25) „Das ist unser Mann, jauchzt der Philister, der dies liest: denn so leben wir wirklich, so leben wir alle Tage …. Was kann er zum Beispiel, unter den geschichtlichen Studien …. mehr verstehen als die Zeitungslektre, was unter dem lebendigen Antheil an der Aufrichtung des deutschen Staates als unsere tglichen Besuche im Bierhaus? Und sollte nicht ein Spaziergang im zoologischen Garten das gemeinte gemeinverstndliche Hilfsmittel sein, durch das wir unsere Naturkenntnisse erweitern“ u.s.f.? Falls man Schopenhauer dafr verantwortlich machen sollte, daß jeder halbwchsige Laffe, wenn er einen moralischen Jammer hat, sich fr berechtigt hlt, einige Schopenhauersche pessimistische Sentenzen auszukramen, so wrde unser Kritiker mit Recht eine solche Taktik fr erbrmlich und unredlich erklren; aber gerade so verfhrt er gegen Strauß; er weiß wohl, daß Strauß nicht so verstanden
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sein will; aber da es zweckmßig ist, so thut er es doch; er stellt einige mçglichst flachkçpfige Philister um Strauß herum, die ihn jauchzend als den ihrigen begrßen, und der Mann ist gemacht. Aber um welchen Preis? Unredliche Mittel und ernstes Pathos vertragen sich nicht mit einander und wo wir erstere mit Hnden greifen kçnnen, hçren wir auf an das letztere zu glauben. Es fngt an etwas hohl zu klingen fr unser Ohr, dieses Pathos; wir glauben nicht mehr an den Ernst, wenn es heißt: „Wer vermçchte z. B. folgende psychologische Erklrung ohne Entrstung zu lesen, weil sie recht ersichtlich nur am Stamme jener ruchlosen Behbigkeitstheorie gewachsen sein kann.“ Dieß bezieht sich auf die folgende Stelle von Strauß: „Niemals, ußerte Beethoven, wre er im Stande gewesen, einen Text, wie Figaro oder Don Juan zu componiren. So hatte ihm das Leben nicht gelchelt, daß er es so heiter htte ansehen, es mit den Schwchen der Menschen so leicht nehmen kçnnen.“ Hier gengt eine harmlose Notiz ber die tragische Gestaltung von Beethovens Lebensgang, um Strauss eine (S. 42) „wahrhaft ruchlose Denkungsart“ zu unterlegen. §. Unserm lachenden Kritiker ist auch die Entdeckung aufbehalten gewesen, daß es Strauß an Muthe fehle. In der That am Character des Mannes, der nie gezçgert hat zu seiner vollen berzeugung zu stehen, der stets ein „Ganzer“ geblieben ist, hat bisher weder Freund noch Feind gezweifelt; Strauß hat den vollen Muth einer mnnlichen Seele bewiesen, zu einer Zeit, da Hr. Nietzsche noch nicht einmal in den Windeln lag; aber trotzdem fehlt diesem jetzt weder die Stirn, noch die Tinte, um von der (S. 43) „natrlichen Feigheit“ Straußens zu schreiben. Und warum? Weil er nicht zu den Consequenzen gelangt, bei denen ihn Hr. Nietzsche haben mçchte, weil ihm eine „ernst durchgefhrte Darwinistische Ethik“ fehlt u.s.w. Wenn Strauß sich hier mit oberflchlichen Andeutungen begngt, so hat jedenfalls sein Kritiker allen Grund Darwin, nicht zu viel in den Mund zu nehmen, denn die sehr verschiedenartigen Faktoren im Kampf ums Dasein scheint er nicht einmal vom Hçrensagen zu kennen und einer Erweiterung seiner Naturkenntnisse, bevor er hier mitreden will, dringend bedrftig zu sein. (Beilufig gesagt, wre zu vergleichen ber das Verhltnis von Schopenhauers „schlechtester Welt“ zur modernen Weltanschauung: „Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Deszendenztheorie“, Berlin. Duncker S. 35. Ebenda S. 209 eine andere diametrale Differenz mit Schopenhauer und S. 203 eine Perspektive fr die Ethik.) Strauß selbst spricht in der Einleitung sehr bescheiden von seinem Buche; nicht einen festen Bau habe er sich vorgenommen, nur eine Vorbereitung, einem Anzeiger der Richtung, letztere natrlich dahin, wo die Hrn. Nietzsche so verhassten „Fhnlein lustig flattern“. Zum Voraus gibt er die Mçglichkeiten von „Lcken“, von „scheinbaren Widersprchen“ zu; wo bleibt denn da der „Satisfait“? Ist er nicht vielmehr einer, der „sucht“? Aber das will Hr. Nietzsche nicht haben; er sucht ebenfalls, obgleich, soweit wir bis jetzt sehen, nur die
290 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Splitter in seines Bruders Auge. Nichts, aber auch gar nichts kann ihm Strauß recht machen, es wird diesem sogar der Vorwurf gemacht, er habe (S. 64) „ganz vergessen, daß der grçßere Theil der Menschheit auch heute noch buddhaistisch und nicht christlich ist. Wie darf man bei dem Worte „alter Glaube“ ohne Weiteres allein an das Christenthum denken!“ Stimmen wir einen Augenblick mit ein in das Lachen unseres chinesischen Kosmopolitikus! es ist eine kleine Erholung. Denn noch steht uns das Schlimmste bevor. Strauß tadelt am Programm der Quartettsoire, daß so gerne Haydn weggelassen und gleich mit Mozart oder gar Beethoven begonnen wird, „als wollte man eine Mahlzeit mit Champagner und Confekt, statt mit einer ehrlichen Suppe anfangen.“ Daraufhin wird Hr. N. nicht mde uns (S. 32 ff.) von „Suppen-Haydn“ und „Confect-Beethoven“ zu reden. Wo ist berhaupt eine Gelegenheit, Strauß eine Geschmacklosigkeit anzuhngen, unbentzt geblieben von S. 21 an, wo die widerliche und stets wiederholte Anrede „Magister“ sich zum ersten Male findet? Wo Strauß vom sich Emporarbeiten durch einen Gedankengang spricht, entwickelt Hr. Nietzsche gleich (S. 90) „eine wahre Essenkehrer-Phantasie!“ Bei Umrissen und Sprungfedern einer Theorie denkt er (S. 95) an eine „Matratze“ und bei drei Meistern, deren jeder folgende sich auf des Vorgngern Schultern stellt, sieht er „ein rechtes Kunstreiterstckchen“. Bleibt uns denn der Gang ber einen Jahrmarkt doch nicht erspart, so wollen wir uns wenigstens zur Genge dort umsehen; zwar lassen wir das „Wachsfigurenkabinet“ als nicht preiswrdig links liegen, interessant aber, ja noch nie dagewesen ist (S. 99) der „Sprachguckkasten“, wahrscheinlich ein Gegenstck im Kleinen zu dem Gesangguckkasten, der gegenwrtig in Bayreuth gebaut wird. Doch wir eilen weiter, denn schon von ferne lockt uns eine kleine aber feine Rarittensammlung; den Eingang ziert nur eine (S.100) „Straußenfeder“, im Innern aber: welch seltene Naturspiele! Da sehen wir (S. 93) einen „Scribler“ mit „ausgewachsenen Ohren“, einen Bildungsphilister, der (S. 10) „sekretirt,“ worber wir uns Raths erholen werden, wenn das Grimm’sche Wçrterbuch einmal bis zum S wird gediehen sein; unstreitig das Schçnste aber sind (S. 86) die „Pachydermata“ mit „Tatzen“, eines derselben ist sogar (S. 93) „stilistisch.“ Ja! „ein Spaziergang im zoologischen Garten“ wre fr manche Leute noch sehr lehrreich; sie wrden dort erfahren, daß man ex ungue leonem, aber nicht an den Tatzen das Pachyderm erkennt. Endlich wird uns gegen besondere Vergtung noch ein Monstrum gezeigt, das (S. 28) „als Großonkeleinfall aus dem Mutterleibe kam.“ An dieser Bltenlese werden unsere Leser genug haben, aber leider sind wir noch nicht fertig mit unserem Zukunftsprosaiker; ein einziges Muster wenigstens wie er seine silbenstecherische Unfehlbarkeit ausbt, gehçrt zur Vollstndigkeit des Bildes. Wir unterdrcken also unsere Meinung ber die „Compilationen, in die ltere Stcke zusammengearbeitet sind,“ ber das „zu Tage legen“ u.s.w., um folgende Stelle in extenso zu geben. Strauss sagt: „im tglichen
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Treiben des mittelalterlichen Christen kam das religiçse Element viel hufiger zur Ansprache.“ Hçren wir nun Hrn. Nietzsche (S. 94) „zur Ansprache kommen, woher in aller Welt stammt dies, Sie verwegener Sprachknstler? Denn hier vermag ich mir gar nicht zu helfen, keine Analogie fllt mir ein, die Gebrder Grimm bleiben, auf diese Art von „Ansprache“ angesprochen, stumm wie das Grab. Sie meinen doch wohl nur dies: „das religiçse Element spricht sich hufiger aus“, das heißt, Sie verwechseln wieder einmal aus haarstrubender Ignoranz die Prpositionen; aussprechen mit ansprechen zu verwechseln, trgt den Stempel der Gemeinheit an sich,“ u.s.w. So schimpft man nur, wenn man Unrecht hat. Sollten wirklich, neben Strauß, wir allein vom Anspruch eines Instrumentes wissen? Wir greifen zum nchsten deutsch-lateinischen Wçrterbuch und finden dort als zweite Bedeutung von „ansprechen“ folgendes: „II. v. intrans., 1) einen Ton von sich geben, von musikalischen Instrumenten, sonum dare, edere.“ Also, wozu der Lrm? Wir aber, sollten wir es schweigend dulden, daß die deutsche Sprache und jeder, der in ihr nicht so schreibt, wie unser Zukunftsprosaiker will, von diesem miß„ge“handelt wird. Ja, miß„ge“handelt! Er sagt es uns ja (S. 88) daß mißgedeutet besser sei als missdeutet. Wir glauben es ihm aber nicht, auf die Gefahr hin, all die Schimpfwçrter hçren zu mssen, welche er von S. 88 bis 96 seiner „unzeitgemßen Betrachtung“ in folgender Hufung anbringt: (S. 88) lderlich, Lumpenjargon, (S. 89) lderlicher Gesell, Sudlergesindel, (S. 91) Tintenklexer, (S. 83) stilistisches Pachyderm, Lumpenjargon, Scribler mit ausgewachsenen Ohren, (S. 94) Flickschneider, haarstrubende Ignoranz, (S. 95) Gemeinheit, (S. 96) Flatterhaftigkeit, Unsinn. Hiemit nehmen wir von der Schrift Abschied, denn hier legt auch der Zukunftsprosaiker die Feder aus der Hand mit dem Hochgefhl, mit dem einst Fritz Reuters Onkel Brsig lchelnd dahingegangen ist, mit der stolzen berzeugung: „In dem Styl war ich dich doch ber.“ Wir haben gesehen, wie. Noch nie, seit die Welt steht, hat sich auf solche Weise ein reines ernstes Pathos geußert, in so maßlosem Selbstgefhl, in so hohler Emphase, in so unwrdiger Herabsetzung des Gegners, in solcher Hufung von Schimpfwçrtern. Strauß, auch wenn er nicht schwer krank darniederlge, wrde Hrn. Nietzsche niemals die Ehre anthun, ihn durch eine Entgegnung unsterblich zu machen; auch sonst wird man wohl ziemlich ruhig ber seine Schrift zur Tagesordnung bergehen, wie auch wir gethan htten, wenn nicht zufllig gerade auf dem Boden unserer Stadt diese Frucht gewachsen wre. Auf jeden Fall aber mssen wir bezweifeln, daß durch literarische Ungezogenheiten „die ausdorrende Sandwste des suchenden und nach neuem Leben lechzenden deutschen Geistes“ in einer Weise gedngt werde, welche ersprießlich ist fr das ersehnte Wachsthum einer originalen deutschen Kultur. Das wir uns durch das vorliegende Urtheil die Verdammung zu lebenslnglichem Bildungsphilisterium zugezogen haben, das halten wir fr (sit veniat verbo) selbstverstndlich; es lsst uns aber vollstndig kalt, selbst gegen die volle
292 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Schopenhauer’sche Verachtung des anonymen Recensententhums sind wir mit dem nçthigen æs triplex gewaffnet. Nur vor Einem mçge der Himmel uns und die Welt in Gnaden bewahren: vor fernern „Stcken“, wenn sie dem ersten gleichen. „Di meliora!“
Hillebrand, Karl: Nietzsche gegen Strauß. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg, Nr. 265 f vom 22. und 23. 9. 1873. Zitiert nach: Hillebrandt, Karl: Zeiten, Vçlker, Menschen. Bd. 2 Wlsches und Deutsches. Berlin 1875. Einiges ber den Verfall der deutschen Sprache und der deutschen Gesinnung. (Bei Gelegenheit einer Schrift von Dr. Fried. Nietzsche gegen David Strauß.)153 I. Der Leser wird sich wohl wundern den noch wenig genannten Namen eines jungen Schriftstellers so ohne weiteres der bejahrten Autoritt des Gelehrten gegenbergestellt zu sehen, dessen Name nun schon seit mehr als einem Menschenalter jedem halbwegs unterrichteten Deutschen vertraut ist und von vielen mit Verehrung oder Liebe, von andern mit dem nicht weniger schmeichelhaften Gefhle des Hasses ausgesprochen zu werden pflegt. Zweierlei Grnde bestimmten den Schreiber dieser Zeilen erst die angezeigte Schrift gegen den berhmten Feind des Christenthums zu lesen, dann sie durch çffentliche Besprechung in einem Weltblatte wie die „Allg. Ztg.“ in weiteren Kreisen bekannt zu machen. Wer das Werkchen Nietzsche’s ber die Entstehung der Ilias und das Wesen der Volksdichtung gelesen, wem seine Schrift ber die Geburt der Tragçdie bekannt ist, durfte berzeugt sein, daß nicht so leicht etwas banales aus solcher Feder fließen wrde und war sicher, daß es jedenfalls nicht der furor theologicus sein konnte, der diese Feder fhrte. Uns Deutschen fehlt es durchaus nicht an polemischer Literatur; aber unsere Polemik ist gerade keine Zierde unseres Vaterlandes: Lessing und Lichtenberg sind vielleicht die einzigen deutschen Schriftsteller, welche an Pascal oder Paul Louis Courier erinnern; berall sonst finden wir plumpe Invective, meist hervorgerufen durch verletzte Eitelkeit, oder aber schweres Artilleriefeuer unbeholfener Gelehrsamkeit, bei dem der Laie Mhe hat, sich in den massenhaften und complicirten Bewegungen des schwerflligen Materials zurecht zu finden. Hier konnte der Angriff 153 „Unzeitgemße Betrachtungen“ von Dr. Friedrich Nietzsche. Erstes Stck: „David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller.“ Leipzig. E. W. Fritzsch. 1873
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kein persçnliches Motiv haben, und da der Verfasser seine eigenen Gedanken zu haben pflegt, dieselben aber wiederzugeben in bester Schule gelernt hat, so sind wir im voraus sicher seine Polemik nicht ohne Gewinn, jedenfalls nicht ohne Genuß zu lesen. Andrerseits ist es bei keinem Volke so gerathen, ja geboten, wie bei dem deutschen, gegen Strçmungen des Geschmacks und der Denkweise anzukmpfen, welche, von der Autoritt berhmter Namen gefhrt, oft das ganze hçhere Leben der Nation nach einer Seite hinzureißen drohen. Unsere ganze geistige Geschichte seit mehr als hundert Jahren ist ein Aufeinanderfolgen derartiger entgegengesetzter Strçmungen. Auf Klopstock’sche Schwrmerei folgte Wieland’scher Epikureismus, auf die naturalistischen Strmer und Drnger die classischen Idealisten von Weimar. Romantik und Jung-Deutschland, Kosmopolitismus und Deutschthmelei, Heine’sches Jacobinerthum und Gervinus’scher Doctrinarismus haben sich nacheinander ber die Nation ergossen und, unserem vielgerhmten Individualismus zum Trotz, eine zeitweilige Alleinherrschaft gebt, wie sie andere Nationen nicht ertragen htten. Das Correctiv nun aber liegt bei uns eben darin, daß auf jede dieser einseitigen Actionen eine freilich nicht weniger einseitige Reaction folgt, und so durch das Nacheinander ein Gleichgewicht hergestellt wird, welches bei anderen Nationen sich im Nebeneinander darstellt. So begrßen wir denn auch Nietzsche’s geistreiche Schrift als das erste Anzeichen einer Rckkehr zum deutschen Idealismus, wie ihn unsere Großeltern angestrebt, einer Reaction gegen die platte positivistische Auffassungsweise, die seit einem oder zwei Jahrzehnten sich bei uns vordrngt, als ein khnes Wiederaufpflanzen des alten guten Banners deutscher Humanitt gegen die Beschrnkung nationaler Selbstbewunderung, als einen Mahnruf ber unseren materiellen Erfolgen nicht unsere geistigen Pflichten zu vergessen und, wie die Grnder unserer Cultur, es uns angelegen sein zu lassen der Nation, bei aller Geistesfreiheit, das religiçse Gefhl und den spekulativen Sinn zu bewahren, ihr, ohne sie der Convention gefangen zu geben, schçnere Formen des Lebens zu schaffen. Lebendig, gedrngt ist die Sprache wie die Beweisfhrung des Bchleins. Schlag fllt auf Schlag; Ironie, ja Hohn; bald fein, bald derb, stets ungezwungen, fhren gern das Wort. Doch so heftig der Ton, er ist nicht gereizt, und selten artet der Zorn in Rohheit, der Spott in Geschmacklosigkeit aus. Unbarmherzig, schonungslos, ja zuweilen respectlos gegen den Gegner, erscheint der Angreifer doch nicht als persçnlich: man fhlt, er bekmpft in Strauß nur den Mann, in dem sich ihm die ganze herrschende Richtung verkçrpert; und nur in diesem Sinne wollen wir auch unsere Bemerkungen ber den eminenten Schriftsteller verstanden wissen, der am Abende eines ruhmreichen Tages, zugebracht in den hçchsten Regionen des geistigen Lebens, sich zum Wortfhrer des intellectuellen Mittelstandes gemacht hat; Genie, Charakter, Gelehrsamkeit von D. Fr. Strauß, dem Theologen und Hegelianer, dem Literaturhistoriker und
294 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Humanisten, sind so anerkannt und so unbestreitbar, daß Niemand auf diesen wird beziehen wollen, was wir ber den Verfasser des „alten und neuen Glaubens“ zu bemerken nicht anstehen, da er sich herabgelassen hat, seinen großen Namen einer Art Literatur zu leihen, von der ihn Alles zu trennen schien. II. Zwei Dinge sind es vor allen, welche die Entrstung des Polemisten hervorrufen, denen seine beredten Angriffe besonders gelten: die Selbstzufriedenheit, mit der Strauß durch sein ganzes Buch vom alten und neuen Glauben hin das Thema Wagners variirt: „wie wir’s doch so herrlich weit gebracht;“ und die Nachlssigkeit, mit welcher der, Populrschriftsteller gewordene, Gelehrte die deutsche Sprache behandelt und – mißhandelt. In beiden Dingen ist Strauß nur der Vertreter einer ganzen Legion. Uns scheint sogar Nietzsche nicht gengsam hervorgehoben zu haben, wie tief, trotz einzelner wohlthuender Ausnahmen, der Verfall unserer Sprache berhaupt ist. Die Deutschen pflegen sich in dieser Beziehung einer argen Selbsttuschung hinzugeben. Weil sie anfangen, sich aus dem schwerflligen, langathmigen, dunkeln und eingewickelten Gelehrtenstyl herauszuarbeiten, glauben sie dem Ideal einer schçnen Prosa um vieles nher gekommen zu sein. Aber sie vergessen, daß die schlottrige Sprache unserer Generation meist nur darum so leicht verstndlich ist, weil sie nichts zu denken gibt; weil wir sie mit den Augen lesen kçnnen und zu lesen pflegen, nicht mit dem Geiste; weil wir am Anfange jeden Satzes schon genau voraus wissen, was am Ende kommen wird. Die oberste Tugend aber eines Prosaikers, der den Namen verdient, ist: zum Denken anzuregen, uns zu wecken, nicht uns einzuschlfern. Um das zu erreichen, muß freilich der Schriftsteller selbst denken, fhlen, sehen, hçren. Nun gehçren aber unsere meisten Schriftsteller gewissen Schulen an und schwçren in verba magistri, haben fertige Systeme, mit denen sie an alles herangehen, wagen nicht wohl anders zu empfinden, zu denken, zu sehen und zu hçren, als es die Autoritten erlauben. Daher die stereotype Sprache: zuletzt denkt man sich gar nichts mehr dabei, und es bleiben nichts als verba, verba praetereaque nihil. Dies war gerade nicht der deutsche Fehler vor fnfzig Jahren; dagegen hatten unsere Vter eine andere Untugend, welche die Sçhne piettsvoll bewahrt haben. Sie hielten das Publicum fr ihren gehorsamen Diener, und meinten sich zu erniedrigen, wenn sie es ihm bequem machten. Genug, man verstand sich selber, mochte der Leser sehen, wie er einem nachkam. Was man einmal geschrieben, das blieb stehen, an ein Ordnen, eine Wahl, ein Beschneiden dachte man nicht, man pflanzte den Wald: des Lesers Sache war’s sich den Weg durchzubahnen. Daß aber die Bume selber zu Grunde gehen mçchten in dem gedrngten, luft- und lichtlosen Dickicht, das fiel ihnen nicht ein. Heute pflanzt man nur noch wenige edle Eichen und Buchen an; aber das Gestrpp und Unkraut, das berall um sich wuchert, ist ebenso unwegsam,
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wenn auch weniger fruchtbar und pittoresk als ein Hegel’scher oder Jean Paul’scher Urwald. Dazu das Ungefhr und die Geschmacklosigkeit des Ausdrucks. Die Wahrhaftigkeit alles Styls besteht in der Richtigkeit der Worte. Eine Sprache hat keine Synonyme. Ein Gedanke, ein Gefhl, eine Sinneseigenschaft hat nur ihren einzigen Ausdruck: Sache des gewissenhaften Schriftstellers ist es sich nicht zufrieden zu geben bis er das Wort findet das auf seinen Gedanken paßt und ihn darstellt, wie der gute Handschuh die Hand zeichnet, die er bekleidet. Welche Unbestimmtheit aber herrscht in unserer Sprache von heute! Wo ein Wort steht, kçnnte beliebig auch ein anderes stehen: hat ja der Schriftsteller doch nur eine ungefhre Idee von dem, was er sagen will; was durchaus nicht mit der Nuance, dem beabsichtigten Helldunkel zu verwechseln ist, die auf der Wortpalette unserer herrlichen Sprache ihre entsprechende Farbenschattirung ebenso sicher findet als die bestimmteste Vorstellung die ihrige. Und dasselbe Ungefhr treffen wir in grammatikalischer Hinsicht: man construirt nicht nur ohne Rcksicht auf den Tonfall, als ob dieser ein ganz ußerliches Geklingel wre, das mit dem entschiedeneren Hervortreten des Gedankens durchaus nichts zu thun habe – man construirt auch ohne Rcksicht auf syntaktische Regeln: einem Conjunctiv ist ein Indicativ, einem Prsens ein Imperfectum verbunden, zwei Prpositionen, welche verschiedene Casus regieren, werden khnlich mit demselben Casus angewandt, um sich die Wiederholung zu ersparen, die Conjunctionen gar auf das liederlichste miteinander verwechselt. Das heißt man dann „recht natrlich, unaffectirt schreiben;“ etwa wie es so recht gemthlich und ungezwungen ist in Schlafrock und Pantoffeln an den Mittagstisch zu kommen. Wollen aber die Herren „schçn schreiben“, dann stecken sie sich Morgens frh in den schwarzen Frack, binden die weiße Halsbinde um, ziehen Glanzstiefel an und – bewegen sich in dem ungewohnten Costme wie die Theaterhelden auf unseren Bhnen, die um ein Glas Wasser bitten als sprchen sie ein Todesurtheil. Daher denn auch die Geschmacklosigkeit unserer Schriftsteller la mode. Aller Geschmack ist Anpassen der Form an die umgebenden Umstnde: anders kleidet man sich bei umwçlktem Himmel, anders bei Sonnenschein. Sein Jagdgewand soll man nicht auf dem Balle tragen. Faust spricht nicht mit Gretchen wie Tasso mit Eleonoren von Este. Nun sprechen aber beinahe alle unsere modernen Classiker von den hçchsten Interessen der Menschheit, von Religion und Philosophie, im Tone der Bierkneipe; Fragen der Nationalçkonomie oder der Politik dagegen behandeln sie in der Sprache Platonischer Begeisterung oder aber sie wechseln gar ab mit hohem Pathos und „gemthlicher“ Trivialitt – was sie dann Inspiration und heiteres Sichgehenlassen zu nennen belieben. Was nun gar Maß und Ebenmaß anbelangt, so sucht man dergleichen, da es in der Conception nicht ist, stets auch vergebens in dem Styl. Wer wird sich auch die Mhe geben seinen Stoff, sei er logisch, sei er knstlerisch, zu ordnen; wer wird Hinter- und Vordersatz in
296 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Gleichgewicht zu bringen suchen, und einem Bilde, sei es auch noch so hinkend, entsagen, wenn deren schon genug da sind, ein anderes abbrechen ehe es, mit Shakespeare zu reden, zu Tode gehetzt ist, ein drittes nicht durch Hereinziehung fremdartiger Gleichnisse lahmen? Doch genug der Klage; wir wollten nur andeuten, wie vieles noch zu Nietzsche’s Sndenregister, nur was die Sprache betrifft, hinzuzufgen wre. Daß aber der zornesmuthige Klger sich gerade gegen Strauß gewandt und in ihm die Mode gewordene Liederlichkeit unserer Sprachverderber gegeißelt, kçnnen wir ihm, wenn er auch etwas weit geht in seinem kritischen Eifer, nur zum Ruhm anrechnen: denn ein unerbittliches Gericht dieser Art verfehlt seinen Eindruck wenn es ber obscure Leitartikler gehalten wird, und der Muth die Lieblinge des Volkes auf die Anklagebank zu bringen, ist von jeher die hçchste Art des Muthes gewesen. III. Noch berechtigter als der Prozeß, welchen Nietzsche der deutschen Prosa in einem ihrer gefeiertsten Vertreter macht, ist das Ungestm mit dem er das deutsche Volk aus seiner unvergleichlichen Selbstzufriedenheit aufzurtteln sucht; und da es wiederum Strauß ist, der dieser nationalen Unart einen etwas gar zu lauten Ausdruck gegeben, so ist es nur natrlich, daß er auch hier als Typus des selbstgeflligen deutschen Philisterthums herhalten muß, wie wir denn auch sammt und sonders von den Fremden fr solidarisch mit ihm erklrt worden sind. Sollte man in der That Strauß, dem Bekenner, Glauben schenken, so wre die deutsche Nation gerade jetzt in einem paradiesischen Hafen angelangt, von wo sie selbstbefriedigt zurckschauen kçnnte auf die berstandene Reise: und das wollten wir ihr schon nicht verargen, noch ihr die unschuldige Illusion zu benehmen versuchen; wenn aber Strauß der nur zu willig Horchenden beweisen will, daß sie auch die Schçpferin des Hafens sei, in dem sie eingelaufen, daß sie ihr Werk ansehen drfe und selbstgefllig ausrste: „Siehe es ist wohlgethan,“ so vergeht er sich an der Wahrheit und sndigt er gegen sein Volk, dem er Wahrheit schuldet, nicht Schmeichelei. Nein, Nietzsche hat hundertmal Recht, wir sind noch nicht am Ziel angelangt, wir drfen noch nicht die Hnde in den Schoß legen: wir haben den Staat auszubauen, den man uns hergerichtet, weil wir ihn nicht selber herzurichten vermochten; wir haben ihn wohnlich und gefllig zu machen, was er durchaus noch nicht ist; wir haben eine gesittete Gesellschaft zu schaffen, die noch nicht existirt; wir mssen unsere Philosophen und Dichter, die dem „Gebildeten“ fremd geworden, wieder in unser Fleisch und Blut dringen lassen; wir mssen unsere Sprache, unsere Sitten subern und veredeln – kurz, wir haben noch das meiste zu thun ehe wir, mit unserer nationalen Cultur befriedigt, hochmthig auf andere Nationen herabsehen drfen.
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Freilich haben wir Genien gehabt, an deren herrlichen Werken wir uns erfreuen drfen, und die mit den Grçßten aller Zeiten und Vçlker als Ebenbrtige erscheinen: aber es sind deren im Grunde – eben weil den besten Deutschen so oft die Form fehlte, welche allein den Werken des Geistes Dauer verleiht – nur vier oder fnf, welche noch lesbar sind; whrend Englnder und Franzosen die noch stets gelesenen Schriftsteller vergangener Jahrhunderte zu Dutzenden zhlen. Wer liest bei uns noch Klopstock, Wieland, Herder, Schlegel, Tieck, aus denen wir doch noch so viel zu lernen htten? Und wer liest nur jene vier oder fnf wie er sie lesen sollte? Schlgt doch Strauß selber eine Art Blumenlese aus Gçthe vor, und stellt gewissen Werken Schillers eine Art von Zeugniß aus, daß er sie gengend befunden fr den deutschen „Gebildeten“. Wer aber nicht aus jedem Fragment Gçthe’s die Quelle herrlicher Weisheit lauter rieseln sieht, fr den sind auch seine „Meisterwerke“ nichts; und wer Schillern nicht auch dann an sein Herz schließt, wann er in seiner Begeisterung sich verirrt, der liebt Schillern nicht. Dann aber erst, wenn der ganze Gçthe, der ganze Schiller Eigenthum der Gebildeten in Deutschland geworden, kçnnte die Rede sein von wirklicher deutscher Cultur. Was der gebildete Deutsche heute liest und schreibt, wie er sein Leben geordnet, beweist nur zu berzeugend, daß er jene Cultur noch nicht erreicht hat, die unsern Classikern als Ideal vorschwebte, ja, daß er nicht einmal seine eigenen Geisteshelden kennt, wie er sie kennen sollte. Man wird uns nie glauben machen, daß ein Deutscher, der in seinen Gçthe gedrungen, der sich noch zuweilen am Anblick von Wieland’s Juwelen ergçtzte, unsere Tagesliteratur auch nur anblttern kçnnte, ohne von ihrer ghnenden Langeweile, ihrer Leere, ihrer prtentiçsen Gespreiztheit, ihrer Geschmacklosigkeit angewidert zu werden. Man vergleiche unsere Zeitungen, unsere Romane und Schauspiele mit denen Englands und Frankreichs, und man gestehe: unsere Literaten haben nicht aus unsern Classikern gelernt, was die Franzosen und Englnder aus den ihrigen: gefllig, natrlich und richtig zu schreiben. Hier gilt es entweder oder. Entweder Gçthe ist unser; dann konnten wir eine solche Literatur weder produciren noch consumiren; oder – nun die Alternative ist klar – Gçthe ist eben noch nicht unser, und wir sollten ein wenig bescheidener thun, ehe wir ihn so ohne weiteres als ein Product der deutschen Nation darstellten. Es ist so sß auch ein 40 Millionstel von solchem Ruhme fr sich zu beanspruchen, und dabei vergißt man denn ganz in glcklicher Selbstbewunderung was es einen Gçthe gekostet haben muß in dem Leben, unter den Sitten, mit der Sprache, die er vorfand, das zu werden was er geworden: unser Vorbild, unser nie genug studirter Nationallehrer. Diese Selbstvergçtterung aber ist bei uns um so anmaßender, als gerade das deutsche Volk es seinen großen Mnnern nie besonders leicht gemacht hat. Wie Friedrich der Große sich die Gunst der Nation erst durch die unbestreitbarsten Erfolge erobern mußte und noch bei Lebzeiten verlor, sagt die Geschichte. Wie ein Gçthe und Beethoven angefeindet und gehemmt wurden, wissen wir zur
298 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Genge. Wie sauer es Schopenhauer und Wagner geworden ist zu einer spten Anerkennung zu gelangen, das haben wir noch miterlebt. Und wurde nicht die genialste, khnste und folgenreichste That des 19. Jahrhunderts, der Krieg von 1866, so recht wider den Willen des deutschen Volles vollbracht? Schon weniger sprçd ließ sich das Material, weniger stumpf das Werkzeug an, im Kriege von 1870: doch, allen Respect vor Marmor und Meißel, die Ehre die Statue geschaffen zu haben, kommt ihnen nicht zu, sondern der Meisterhand, die mit ihnen gearbeitet. Nietzsche’s kleine Streitschrift ist weit entfernt vollstndig zu sein, und in den Fragen, die sie vollstndig – man ist versucht zu sagen, etwas zu vollstndig – erçrtert, will uns manches falsch aufgefaßt scheinen. So z. B. ist es durchaus verfehlt, das Wesen einer Cultur allein in den Styl zu setzen. Der Styl ist nur die Form einer Cultur, und wo diese Form fehlt, ist eben die Cultur auch formlos, d. h. unschçn. Deßhalb ist er aber noch nicht die Cultur selber: diese wirkt zunchst auf das Wesen selber. Gerade die deutsche Nation mag darin als Beispiel gelten. Wir hatten viele und wir haben noch einige wenige Menschen, welche ihren Geist mit dem classischen Alterthum, mit Shakespeare, mit Kant und Gçthe genhrt, und trotzdem in ihrer Sprache, in ihren Lebensgewohnheiten diese ihre Geistesbildung nie und nirgends verrathen, sich im Qualm einer Bierstube wohl fhlen, deren Ohr nicht durch die im Ausdruck und in der Aussprache rohe Rede ihrer Gesellschaft, deren Auge nicht durch die Hßlichkeit des sie umgebenden Hausrathes unangenehm berhrt wird – Menschen, die Wohnhuser, Statuen, Gemlde ohne allen und jeden Kunstwerth interessant, ja schçn finden, und deren Gedanke doch in den hçchsten Regionen weilt, deren Gemth der zartesten Empfindungen fhig ist. Armselig und unschçn, roh sogar, waren die Formen einer Jean Paul’schen Welt, herrlich schçn aber die Humanitt, welche diese geschmacklose Hlle barg, und was war sie anderes als Cultur? Freilich, ein Gçthe fhlte was dieser Cultur noch fehlte, ließ es sich sauer werden es ihr zu geben, und hat uns in sich selbst ein glnzend, einzig Vorbild gegeben dessen, was deutsche Cultur sein kçnnte, wenn zur Durchbildung des Gedankens und Gefhls sich die Ausbildung angemessener Formen gesellte. Ein anderes mçchten wir an der kleinen Schrift rgen. Nietzsche berschopenhauert zuweilen Schopenhauer – man erlaube uns den Anglicismus. Daß seine Sprache bis zur Manier nach der des Philosophen gebildet, ist in unsern Augen kein Flecken, und es wre nur zu wnschen, daß alle unsere Schriftsteller in diese Schule gingen, nchst Lessing’s und Gçthe’s Schule die beste, die sie frequentiren kçnnen. Wenn aber ein Mann wie Nietzsche es noch fr nçthig und schçn erachtet, die Schopenhauer’schen Spottlieder auf Hegel und die Hegelei fortzusingen, so begeht er eine Ungerechtigkeit und eine Geschmacklosigkeit zugleich. Eine Ungerechtigkeit, die man leicht fr Unkenntniß halten kçnnte. Denn Hegels Philosophie als eitel Salbaderei darzustellen, sie mit
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Fichte’s Logomachie oder gar mit Schelling’s mystischen Phantasien in einen Topf werfen zu wollen, ist mehr als ungerecht; es ist ein Urtheil ohne Verhçr. Hr. Nietzsche selber, ohne es zu ahnen, hat Hegelsche Philosophie mit der Muttermilch eingesogen; unser ganzes geistiges Leben ist mit ihr getrnkt, wir (ich meine die wissenschaftlich gebildeten Deutschen) kçnnen mit dem besten Willen gar nicht mehr denken wie das Geschlecht von 1800 gedacht; eben weil Hegel – zu unserm Segen oder Unsegen, lasse ich dahin gestellt – auf unsere ganze geistige Thtigkeit ebenso bestimmend eingewirkt hat, wie Baum auf die Englands im XVII. und XVIII. Jahrhundert. Auch von der Sprache Hegels sollte man mit mehr Respect reden. Hegel’s Satzbildung ist freilich die verwickeltste und abstruseste, die man sich denken kann; dagegen ist sein Vokabularium einzig in unserer Prosa: stets ist das Wort treffend, oft khn, gewçhnlich originell, vor allem aber voller Relief und dabei immer im Geiste der deutschen Sprache. Seine Aesthetik ist eine wahre Fundgrube fr den Lexikologen, und selbst seine schwbischen Provincialismen, die ihm bis nach Jena, Heidelberg und Berlin hngen geblieben, weiß er dem heikelsten Geschmacke des Franken und Obersachsen mundgerecht zu machen. Ja, auch von einer gewissen Taktlosigkeit kçnnen wir Hrn. Nietzsche nicht freisprechen, und da er zur Wagner’schen Gemeinde einerseits, zur Schopenhauer’schen Schule andrerseits zu gehçren scheint, nimmt dieser Fehler uns nicht gerade wunder. Daß die Meister, ihr Leben ber verkannt, dem vornehmen Todtschweigen oder der plumpen Intoleranz ihrer Feinde und Neider mit Leidenschaft, Gereiztheit und vorkommenden Falls mit Unerbittlichkeit entgegengetreten sind; daß Schopenhauer namentlich, im Bewußtsein seiner Ueberlegenheit, im Vertrauen auf seinen Nachruhm, mit Verachtung aller kleinen Mittel der Reclame und des Charlatanismus, vernichtende Worte ber die marktschreierische Weise seiner Gegner gesprochen; daß er, gereizt durch die Stumpfheit seiner Zeitgenossen, in der Form wie im Wesen zu weit in seiner Verdammung gegangen ist, begreift und entschuldigt man gern, wie wir auch Wagnern seine Derbheiten, Heftigkeiten und Selbstbelobungen nicht zu hoch anrechnen wollen, da sie zum grçßten Theile durch Verdchtigungen, Angriffe und ihm in den Weg geworfene Hemmnisse hervorgerufen worden: aber eine andere Sprache ziemt dem Rebellen oder Verfolgten, eine andere dem Sieger, der sich sein Reich erobert. Den Nachgebornen vollends steht es schlecht an, die durch die Umstnde berechtigten, oder doch entschuldbaren, Flecken – anders kçnnen wir die beredten Schimpfdigressionen Schopenhauers nicht nennen – an des Meisters großem Werk immer wieder zu erneuern und aufzufrischen. Heute hindert keine Hegelsche Alleinherrschaft mehr den gebildeten Deutschen, sich Schopenhauer zu nhern; der Scheffel, unter den man seine Leuchte setzen wollte, ist fr immer weggenommen, und wer die Augen von ihrem Licht erfllt hat, braucht nicht mehr zu frchten, daß ein paar Straußische wegwerfende oder captiçse Redensarten jenes Licht wieder auszulçschen vermçchten.
300 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Auch unvollstndig ist Nietzsche’s kleine Schrift. Sie bespricht im Grunde nur zwei Punkte: die Form des ganzen Strauß’schen Buches und den Inhalt des vierten Capitels: „Wie ordnen wir unser Leben.“ Beides kritisirt er auf die geistreichste und berzeugendste Weise. Namentlich ist uns aus der Seele gesprochen, was er ber jene unglaubliche „Zugabe“ sagt, welche der Verleger wohl von Strauß verlangt haben wird, um die fnfundzwanzig Bogen auszufllen. Keine unserer dreihundert Literaturgeschichten enthlt eine solche Blumenlese von breitgetretenen Gemeinpltzen und ranzig gewordenen sthetischen Urtheilen als diese Seiten ber die Erbauungsschriftsteller und Componisten, welche dem aufgeklrten Brger der „Jetztzeit“ an Stelle der Bibel und der Orgel anempfohlen werden. Warum Nietzsche die drei andern Capitel des Buches nicht besprochen, oder doch wenigstens nur ganz im Vorbergehen abgefertigt hat, ist uns nicht recht klar. Vielleicht hat er gefrchtet, sich durch eine Widerlegung ex professo desselben Fehlers schuldig zu machen, dessen Strauß sich schuldig gemacht hat: des Einbrechens offener Thren. In der That ist es zu verwundern, daß unter all den Protestirenden, welche Einsprache gegen Straußens Buch gethan, keiner auf den Gedanken gekommen ist einfach und rund herauszusagen, daß das ganze Buch berflssig war. Strauß fragt die Gebildeten Deutschlands: ob „sie noch Christen sind?“ Er mochte sich begngen zu antworten: „nein,“ ohne sich die Mhe zu geben, jedes Dogma und jedes Mirakel einzeln zu beleuchten und zu widerlegen. Nein, der gebildete Deutsche glaubt nicht mehr an die Menschwerdung Gottes in Christo zur Erlçsung von den Folgen des Sndenfalles – und das ist das ganze Christenthum. Wer berhaupt denkt, so wenig es auch sei, und dabei aufrichtig ist, der kann, sobald er etwas von Kopernikus und Keppler, Galilei und Newton gehçrt hat, d. h. sobald er weiß, daß die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, nicht mehr glauben, daß Gott unsertwegen, und allein unsertwegen, die Welt geschaffen und sich selbst geopfert habe, – wie die Darwin’sche Theorie, wenn sie dieselbe mathematische Gewißheit erlangte, aller Teleologie ein fr alle Mal ein Ende machen wrde. Sollte aber einer doch noch an jenes eigentliche Christenthum glauben, so wird ihn Straußens Raisonnement nicht davon abbringen. Dieß soll jedoch keineswegs sagen, daß wir der Religion unserer Vter, unserer schlichteren Landsleute ebenso gegenber stehen, wie etwa dem Mahomedismus oder Buddhismus. Ihre Formen und Gebruche sind uns verehrungswrdige Gewohnheiten und Symbole geworden. Fnfzig Geschlechter unseres Fleisches und Beins, Geschlechter, denen wir unsere Civilisation verdanken, haben ihr ganzes hçheres Leben nur in jenem Ideale gelebt; Millionen von Thrnen, Hoffnungen, Trçstungen des besten Theiles der Menschheit hngen am Kreuze, das den Gott getragen: wie sollten wir nicht mit Ehrfurcht aufblicken zu diesem Glauben unserer Eltern; ja mehr als das, wie sollten wir nicht wnschen, daß unsre Sçhne durch das Symbol der Taufe in die Gemeinschaft und Nachfolge unserer Nation aufgenommen; daß sie durch die
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Lectre und den Unterricht eingeweiht werden in die geschichtliche Grundlage des Christenthums, ohne welche die Geschichte der Menschheit ein unverstndliches Buch fr sie bleiben wrde; ja, daß die Stiftung der Familie durch den Ehebund unter Anrufung jener Namen vollzogen werde, welche fr uns doch noch immer die „unbekannten hçheren Wesen, die wir ahnen,“ wenn auch nur symbolisch, darstellen? Deßhalb werden wir aber immer noch keine Christen sein. Wiederum, die Frage: „Haben wir noch Religion?“ ist eine ganz mßige. Wer Religion hat, d. h. wer da glaubt, daß es geheimnißvolle Mchte giebt, die unser Verstand nie begreifen, unsere Sinne nie betasten werden, dem wird sie keine Wisenschaft und keine Aufklrung rauben, wie denn Kant selber bis an sein Ende eine Religion gehabt hat. Wer aber dieses Gefhl nicht hat, nur das Begriffene oder Betastete als seiend anerkennt, der hatte vor einem Jahrtausend nicht mehr Religion als heute nach Voltaire und Condillac, ja sogar nach Bchner und Strauß. Das einzige, was wir behaupten kçnnen, ist daß aus dem oben angegebenen Grunde, den Entdeckungen der Astronomie, die anthropomorphische Form der Religion, welche bis jetzt die vorherrschende war, und noch heute im Brahmismus und Christenthum die ungebildeten Massen beherrscht, fortan nicht die Form der Religion der Gebildeten sein wird.154 Religion wird er deßhalb jedoch nicht weniger haben, wenn er berhaupt dazu angelegt ist, was nicht von der Zeit, sondern von der Individualitt abhngt. Endlich: „Wie begreifen wir die Welt?“ ist, wie Nietzsche sehr richtig bemerkt, keine ganz unlogische Frage. Ein Begriff ist kein Glaube, und die Wissenschaft, die es mit Begriffen zu thun hat, kann nun und nimmer die Religion ersetzen. Hier ist evident eine Verwirrung aller bruchlichen Ausdrcke bei Strauß. Die Religion gibt uns eine fertige Erklrung des Weltgeheimnisses: dadurch beruhigt sie die suchende, gengstigte Menschenseele. Die Naturwissenschaft lßt das Weltgeheimniß bei Seite liegen und beschftigt sich mit der Lçsung von Fragen, die es nur scheinbar berhren. Die Naturwissenschaft kann deßhalb auch die Metaphysik nicht ersetzen, welche allein dem Gebildeten sein kçnnte, was die Religion in ihrer rohesten Form dem Ungebildeten ist: eine Lçsung des Weltrthsels. Sie kann uns, ebenso wenig wie der Rationalismus, ber die Sinnenwelt und ihren logischen Zusammenhang hinausbringen; whrend Religion und Metaphysik uns gerade darber hinaus versetzen und, wie die Kunst, einen Zusammenhang suchen, der nicht logischer Natur ist. Dies entgeht auch nicht immer dem Manne, der einst so schçn und tief ber die Natur des Mythus geschrieben, und spricht er von Politik, von dem geheimnißvollen Wesen einer nationalen Dynastie u.s.w., so kommt ihm das Ver154 „Je trouve bon qu’on n’approfondisse pas l’opinion de Copernic,“ sagte schon der um seinen Glauben besorgte Pascal; und auf ’s Geistreichste und Tiefste hat Leopardi in seinem Dialoge „Copernicus und die Sonne“ obigen Gedanken entwickelt.
302 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung stndniß zeitweilig wieder fr jene Beziehungen und Krfte, welche keine Naturwissenschaft analysirt. Und glaubt er wirklich, daß ein Geschlecht sich der rationalistischen Begriffe in seinem Staat entschlagen kçnne, seinen „Glauben“ aber nur auf jene Begriffe und Sinneswahrnehmungen grnden kçnne? Glaubt er, daß ein Volk einer Moral, welche außer Zusammenhang mit allem Ideal stehe, nachleben und doch seine humane Bildung bewahren kçnne? Wir htten gewnscht, daß Nietzsche diese Punkte, an die wir in einem Aufsatz nur anstreifen kçnnen, in dem Rahmen eines Buches, der ihm ja zu Gebote stand, des Weiteren erçrtert htte. In der heillosen Begriffsverwirrung, welche in diesen Theilen von Straußens Werk herrscht, liegt vielleicht noch mehr „verborgenes Gift“ als in dem Capitel ber die praktische Lebensordnung, das uns in jenen Rausch der Selbstzufriedenheit versetzen soll, vor dem Nietzsche so eindringlich, muthig und beredt warnt. September 1873. Reaktionen N an Carl von Gersdorff, 27. 9. 1873: „Dann Karl Hillebrand in der Augsburgerin – hçchst merkwrdig, doch so dass fr mich fundamentale Differenzen brig geblieben sind, und ich im ganzen Frau W. zustimme, wenn sie sagt ,K. H. kennt die Franzosen besser als irgendein Franzose, aber er kennt die Deutschen nicht mehr.‘“ KGB II/3, Bf. 316, S. 161 Carl von Gersdorff an N, 28. 9. 1873: „Dass Karl Hillebrand Dich in der Augsburger [Allgemeinen Zeitung] besprochen, habe ich durch Fçrster erfahren. Nur den zweiten Artikel habe ich gelesen und daraus gelernt, dass H[illebrand] Dich eigentlich nicht recht verstanden hat. Wie sollte er auch, er der 20 Jahre in Frankreich war und jetzt in Italien lebt. Aber er hat Dich auch zu flchtig gelesen; und dass er dich zum Hegelianer macht, ist fast naiv zu nennen wre es nicht so sehr bornirt. Das klingt ja wie die Rede der Orthodoxen, die da meinen die Unglubigen wren eigentlich glubig und tuschten sich nur selbst. Von der Augsburger gelobt zu werden, ist kein Glck, es ist aber gut zu wissen, dass Hillebrand der Verfasser der Artikel ist, einen Anderen htten sie in diesem Blatte in dieser Weise nicht zu Worte kommen lassen.“ KGB II/4, Bf. 460, S. 296 f Friedrich Theodor Vischer an seinen Sohn, 4. 10. 1873: „Ein Professor Nietzsche in Basel hat ein freches Buch gegen mich und Strauß geschrieben; ich werde nicht antworten.“ Oelmller, Willi (1959): Friedrich Theodor Vischer und das Problem der nachhegelschen sthetik. Stuttgart (Forschungen zu Kirchen- und Geistesgeschichte NF, Bd. 8), S. 206
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Erwin Rohde an N, 14. 10. 1873: „Hillebrands Anzeige sei dem Verkauf der ,Unzeitgem[ßen Betrachtungen]‘ sehr zu statten gekommen, ebenso auch noch dem der ,Geburt‘“. KGB II/4, Bf. 469, S. 326 Franz Overbeck an Heinrich von Treitschke, 23. 10. 1873: „[ … ] auch mit den Anschauungen des Nietzscheschen Buches fhle ich mich, wie ich Dir sagte, solidarisch […] Man muß ja ein fhlloses Vieh sein, um aus einem Buch wie den ,Unzeitgemßen Betrachtungen‘ nicht die tiefste, ernsteste, ursprnglichste Teilnahme an deutschem Wesen und deutscher Grçße, und vielmehr Hohn ber diese Dinge herauszuhçren.“ Bernoulli, Carl Albrecht (1908): Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft. Jena, Bd. 1, S. 87 f Heinrich von Treitschke an Franz Overbeck, 28. 10. 1873: „Nun sehe ich in der Schrift Deines Freundes einen durchaus edlen, grunddeutschen Geist auftreten; aber immer wieder reitet ihn der Schopenhauersche Teufel, verwandelt seine geistvollsten Stze in Paradoxien, seine Liebe in Hohn. Es ist ja Alles erschreckend wahr, was N. ber die Halbbildung der Gegenwart sagt; aber seiner Schrift mangelt die erste Tugend des Stilisten, die unendlich wichtiger ist als die Composition, die ußere Correctheit u.s.w.: er hat den Ton verfehlt, er ruft die Stimmung nicht hervor, die er erzeugen will […] in seinem Tone ist eine aufreizende erbitternde Schrfe, die den Widerspruch herausfordert. Er will offenbar die Leser zwingen, ber das behagliche „wie wir’s so herrlich weit gebracht“ gewissenhaft nachzudenken. Und was erreicht er? Daß die Gedankenlosen sich nur noch mehr verhrten in ihrer Selbstgeflligkeit, die Denkenden verstimmt werden. Ich habe noch Niemand gesehen, der sich an der Schrift gefreut htte; selbst Ribbeck nicht, und er will N. persçnlich wohl und ist wie N. ein Verchter der Bildungsphilister […] es ist N’s eigne Schuld, wenn mittelmßige Menschen, die darum weder perfid noch dumm zu sein brauchen, ihn so grçblich mißverstehen […] Und wie von Grund aus ungerecht ist N’s Urtheil ber das heutige Deutschland! […] Mir scheint es einfach abgeschmackt, in dem heutigen Deutschland nur den Verfall zu sehen […] Spricht es denn nicht jeder Gerechtigkeit Hohn, von einem Volke in solcher Lage „Stil“ zu verlangen? Noch dazu wenn man selber keinen Stil hat? […] Dein Freund hat ein so schçnes Talent; mçchte er endlich lernen es zu verwenden im Dienste seines Volkes, statt es zu zerstçren in unfruchtbarer Einsamkeit!“ Bernoulli, Carl Albrecht (1908): Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft. Jena, Bd. 1, S. 376–379 Franz Overbeck an Heinrich von Treitschke, 14. 11. 1873: „Nur werde ich mir nicht einreden lassen, daß – wo man einer Schrift wie der Nietzsches gegenber, welche heiter im besten Sinne des Wortes ist und Gaben verrt, die gering zu achten wir in Deutschland augenblicklich weniger als je in der Lage sind, nur
304 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Verstimmung empfindet und die Mçglichkeit eines im antiken ungebleichten Sinne des Wortes liberalen Urteils verliert, – alles in Ordnung ist.“ Bernoulli, Carl Albrecht (1908): Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft. Jena, Bd. 1, S. 94 W. Groß an N, 28. 1. 1874: „In der rhmenden Besprechung ihres Buches contra Strauß in der Allg. Zeitung 1873 Nr. 269 ist die Notiz enthalten, daß Sie auch eine Schrift ,die Ilias und die Volkspoesie‘ verçffentlicht haben.“ KGB II/4, Bf. 505, S. 382 N in Ecce homo: „Unbedingt fr mich entschieden sich nur einige alte Herren, aus gemischten und zum Theil unerfindlichen Grnden. […] Bei weitem am besten gehçrt, am bittersten empfunden wurde eine ausserordentlich starke und tapfere Frsprache des sonst so milden Karl Hillebrand, dieses letzten humanen Deutschen, der die Feder zu fhren wusste. Man las seinen Aufsatz in der ,Augsburger Zeitung‘; man kann ihn heute, in einer etwas vorsichtigeren Form, in seinen gesammelten Schriften lesen. Hier war die Schrift als Ereigniss, Wendepunkt, erste Selbstbesinnunng, allerbestes Zeichen dargestellt, als eine wirkliche Wiederkehr des deutschen Ernstes und der deutschen Leidenschaft in geistigen Dingen. Hillebrand war voll hoher Auszeichnung fr die Form der Schrift, fr ihren reifen Geschmack, fr ihren vollkommnen Takt in der Unterscheidung von Person und Sache: er zeichnete sie als die beste polemische Schrift aus, die deutsch geschrieben sei, – in der gerade fr Deutsche so gefhrlichen, so widerrathbaren Kunst der Polemik. Unbedingt jasagend, mich sogar in dem verschrfend, was ich ber die Sprach-Verlumpung in Deutschland zu sagen gewagt hatte ( – heute spielen sie die Puristen und kçnnen keinen Satz mehr bauen – ), in gleicher Verachtung gegen die ,ersten Schriftsteller‘ dieser Nation, endete er damit, seine Bewunderung fr meinem Muth auszudrcken – jenen ,hçchsten Muth, der gerade die Lieblinge eines Volkes auf die Anklagebank bringt‘… Die Nachwirkung dieser Schrift ist geradezu unschtzbar in meinem Leben. Niemand hat bisher mit mir Hndel gesucht. Man schweigt, man behandelt mich in Deutschland mit einer dstern Vorsicht: ich habe seit Jahren von einer unbedingten Redefreiheit Gebrauch gemacht, zu der Niemand heute, am wenigsten im ,Reich‘, die Hand frei genug hat.“ KGW VI/3, S. 316 f
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Anonym: David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller. In: Basler Nachrichten, Beilage der Nr. 226 vom 24. 9. 1873. Nietzsche, Prof. Dr., Unzeitgemße Betrachtungen. I. David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller. Leipzig, bei Fritzsch. 1873. Der Verfasser, der bereits durch eine etwas phantastische, aber nicht unbedeutende Schrift [Geburt der Tragçdie] dem gebildeten Leser bekannt ist, tritt neuerdings und zwar als Gegner von David Strauß vor das Publikum, und er thut das in einer Weise, die in der literarischen Welt nur selten erlebt wird. Nach einer kurzen Einleitung, welche die Physiognomie des gegenwrtigen gebildeten Deutschlands entwirft und die dort herrschende Strçmung mit der sthetisierenden Halbwisserei, mit der geknstelten Verehrung fr die Klassiker, mit dem behaglichen Genießen eines, wie man sich einbildet, zum Gemeingut gewordenen Bildungs- und Kulturdaseins schildert und diese ganze Richtung durch das Wort „Bildungsphilister“ charakterisirt, wendet sich Hr. Nietzsche gegen Strauß und bezeichnet ihn, vermçge seines Buches ber den alten und den neuen Glauben, als den Huptling jener Philister. Diese Behauptung sucht er durch die kritische Beleuchtung jener Schrift und an der Hand von drei Fragen: Wie denkt sich Strauß seinen Himmel? Wie weit reicht der Muth, den ihm der neue Glaube verschafft? Wie schreibt er seine Bcher? nachzuweisen. In Bezug auf die erste Frage wird zu begrnden versucht, dass die Verheißung eine rein irdische ist und in bequemem Genießen des einmal Errungenen gipfle. Dabei wird besonders was Strauß ber die deutschen Dichter und Musiker sagt scharf vorgenommen, die bei aller Krze oberflchliche und selbstgefllige Art und Weise, welche in den Aussprchen ber Lessing, Beethoven u. A. zu Tage tritt, getadelt und mit voller Entrstung zurckgewiesen. N. hlt Strauß vor, daß er fr die Leiden, fr das unselige Schicksal eines Lessing kein Wort habe, sondern nur fr seine Universalitt, whrend die Zeit, in welcher Lessing, bestndig kmpfend, leben mußte, schwerer Vorwurf treffen sollte und jene aufgedrungene Universalitt hçchstens den Erfolg hatte, Lessing an der Konzentrirung seiner vollen Kraft zu hindern; das abschtzige Urtheil ber den zweiten Theil von Gçthe’s Faust und ber Beethovens neunte Symphonie erscheint dem Verfasser cht dilettantisch, und er erhlt daraus den Eindruck, als htte Strauß seine „Gçtter“ hçchst eigenwillig drapirt und aufgeputzt. Bei Behandlung der zweiten Frage wird auseinandergesetzt, das Strauß inkonsequent verfahre, indem er die Darwin’sche Hypothese fr seine Erklrung der Natur adoptire, ohne zugleich daraus die Grundstze einer Ethik zu entnehmen, welche vielmehr auf einem vçllig entgegengesetzten Gedankengang beruhe; denn schon die Straußische Anschauung vom Universum scheint ihm
306 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung mit jenes Naturforschers Lehre von der durch den Vortheil bedingten ußern Transmutation aller organischen Gebilde unvereinbar. Strauß muß zugleich den Vorwurf mangelhafter philosophischer Bildung hçren; noch mehr: weil er seine Ethik nicht mit Darwin verknpft, wird ihm sogar feiges Zurckweichen vorgeworfen. – Im dritten Abschnitt finden wir endlich die Behauptung, daß Strauß sein Buch unlogisch angeordnet und berhaupt „liederlich“ geschrieben habe, wofr eine Reihe von Stzen geltend gemacht werden, welche willkrliche Krzungen, verirrte Bilder, unrichtige Wort- und Satzverbindungen usw. enthalten sollen. Wieweit Nietzsche hierin und in den anderen Punkten richtig gegriffen habe, wollen wir nicht untersuchen, aber dagegen mssen wir uns aussprechen, daß er sich einer Redeweise bedient, welche sowohl gegen den gewçhnlichen als gegen den literarischen Anstand streitet und dem schwer angegriffenen Gegner unfreiwilliges Schweigen auferlegt. Es ist das illoyal gegen jedermann, geschweige gegen einen Mann wie Strauß. Warum aber solches und mit solchen Waffen gefhrter Streit? Es klingt paradox und ist doch wahr, daß Nietzsche sich gar nicht die Aufgabe gestellt hat, Strauß zu widerlegen. Oder glaubt er dessen dadurch enthoben zu sein, daß er ihn lcherlich zu machen sucht? Denn war jenes seine Absicht, so musste er eingehender verfahren, und er musste seinem Gegner den Gegenbeweis fhren, er musste das Bekenntniß mit einem Bekenntniß beantworten. Der Verfasser verweigerte aber jede positive Auskunft, wenn es nicht die – brigens einzige – unheimliche Erklrung ist, daß „das Buch noch satanischer htte geschrieben sein kçnnen“. Selbst ber die Motive des Angriffs erfahren wir durchaus nichts. Doch halt! vielleicht lßt uns die Einleitung einiges Licht gewinnen, und vielleicht thun wir gut, diese als den Ausgangspunkt der maßlosen Polemik stets vor Augen zu halten. Nietzsche geht aus von der widersinnigen, aber trotzdem allgemein adoptirten Behauptung, als htte die deutsche Kultur den Sieg ber Frankreich errungen, obschon an sich Kultur und Kriegsglck nichts mit einander zu schaffen haben, noch im einzelnen Falle Kultur gegen Kultur im Felde stand, und der Verfasser geht so weit, sogar die Vorfrage, ob es berhaupt eine echte deutsche Kultur gebe, zu verneinen. Woher aber jene Behauptung, die mit dem thçrichten Siegesjubel in ihrem Gefolge den deutschen Geist zu Gunsten des deutschen Reiches zu exstirpiren droht? Nietzsche mçchte die zhe, ihrer selbst bewußte Tapferkeit der Deutschen gegen die unnationale „Gebildetheit“, welche gegenwrtig in Deutschland herrscht, in’s Feld fhren, konstatirt aber, daß nach der allgemeinen Ansicht dieser neue und schwierigere Kampf unnçthig, daß vielmehr im geistigen Leben das Wahre und Ewige, wenn nicht gefunden und der Nation verbunden, so doch vorbereitet und ausgeset sei. Die durch solche Vorstellungen geschaffene Zufriedenheit, diese Bewunderung der bestehenden Einrichtungen, welche alle gebildeten Kreise Deutschlands erfaßt hat und, was Wissen und Kçnnen betrifft, nicht mehr im
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Qualitativen, sondern hçchstens im Quantitativen einen Unterschied zwischen den einzelnen Individuen und Schichten anerkennt, ließ eben jene verderbliche Begriffsverwirrung aufkommen, und je weiter sie sich verbreitet, um so eher konnte und mußte die Wahrnehmung einer gewissen Uebereinstimmung den falschen Schluß begnstigen, als ob man auf dem rechten Wege sei; der Anblick der Gleichgesinnten half ber die im Grunde naheliegende Betrachtung des eigenen Ich, ber die Wahrnehmung der willkrlichen und ungeordneten Hufung von Bildungselementen aller Art hinweg, welche Jeder und obgleich dem deutschen Geist widerstrebend, in sein Dasein mit aufgenommen hatte. Nietzsche erblickt die wahre Kultur vor Allem in der Einheit des knstlerischen Stiles in allen Lebenserscheinungen und weist dagegen auf Konzertsaal und Theater, auf Straßen und Magazine und auf den ganzen geselligen Verkehr, um darzuthun, wie weit man von wahrer, wie weit man vor Allem von originaler nationaler deutscher Kultur entfernt sei. – Diese Leute nun, deren Zufriedenheit an sich schon einen empfindlichen Mangel an Selbsterkenntnis kennzeichnet, welche aber gleichwohl die çffentliche Meinung zu beherrschen suchen, sind jene „Bildungsphilister“ und der Verfasser charakterisirt nun in scharfen Zgen ihr Gebahren, wobei besonders die eigenthmliche Art, sich mit den Klassikern abzufinden und den Fortschritt von sich fern zu halten, geschildert wird. Es sind geistvolle Worte, welche hier ber die Philisterhaftigkeit im geistigen und knstlerischen Leben geußert werden, und wir nehmen es daher dem Verfasser nicht bel, wenn er die Rede des bekannten F. Vischer zur Erinnerung an Hçlderlin als Beleg fr sich anfhrt; denn wir fhlen das Gewicht vollster Wahrhaftigkeit, aber wir staunen alsbald, ihn das dritte Kapitel mit den Worten beginnen zu sehen: „Auf doppelte Weise macht D. Strauß ber jene Philisterbildung Bekenntnisse.“ Thut denn das irgendwas zur Sache, ob Strauss einer jener Philister, ob er vielleicht sogar ihr „Huptling“ ist? Worauf der Leser gespannt war, nach jenen allgemeinen Stzen tiefer in die Sache eingefhrt zu werden, nachdem er sich gerstet, mit dem Verf. durch Konzert und Theater, durch Haus und Hof, Studir- und Gesellschaftszimmer eine Wanderung zu machen, davon ist nun keine Rede mehr, sondern wir sehen nur, wie der Verfasser sich auf 80 Seiten abmht, uns zu beweisen, daß Strauß ein arger, bçser Philister gewesen sei. Man ließe sich am Ende das noch gefallen, ja es wre vielleicht interessant zu erfahren, warum Strauß die zweifelhafte Ehre zu Theil geworden ist, von so vielen Philistern gefeiert und angebetet zu werden, allein damit durfte sich Nietzsche im Blick auf die große Frage nicht begngen, schon darum nicht, weil man unmçglich ein Buch und seine verschiedenartigen Leser vçllig identifiziren darf. Und gewiß, wenn Nietzsche die Schriftsteller jener Philister in’s Gebet nehmen wollte, so wre noch mancher neben oder statt Strauß zu nennen gewesen. Aber freilich, fr einen khnen, unternehmenden Mann mußte gerade darin eine große Versuchung liegen, das scheinbar Unmçgliche zu leisten und nicht
308 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung etwa einen unbedeutenden Literaten, sondern einen Mann von unbestrittenem Ruf, von geistvoller Anlage zu bekmpfen und, indem man ihn zu vernichten sucht, zugleich seinen Freunden eine schwere Niederlage zu bereiten, und N. hat dieser Versuchung nicht widerstehen kçnnen. Aber je schwieriger die Aufgabe war, um so mehr, ging bei ihm die Selbsterkenntnis verloren und so beobachten wir ganz deutlich, wie Nietzsche, statt seinen Gegner zu treffen, nur sich selber ber alle Gebhr erhitzt und zuletzt zu einer Redweise und zu Mitteln greift, welche von der corona als vçllig unerhçrt zurckgewiesen werden, ja dahin zu fhren drohen, daß ihm das Betreten des Kampfsaals ganz untersagt wird. Und in der That, es ist ihm bereits in zwei hiesigen Blttern155 eine ernsthafte Zurechtweisung beschieden worden und, soweit wir sehen, wird er auch sonst der Tadler mehr als der Lobredner finden. Wir aber bedauern, daß ihn, sei es Eitelkeit oder ungezhmte Kampflust, in falsche Bahn getrieben. Er hatte sich eine große, eine wrdige und mnnliche Aufgabe gestellt und fr den kleinsten Beitrag wren ihm Tausende zu Dank verpflichtet gewesen. Denn es liegt eine große Gefahr in jenem behaglichen Genießen, in jener Selbstberschtzung, in jener zuversichtlichen Leugnung alles Fortschrittes. Viele erkennen das und suchen nach Abhlfe. Aber wie? Darber grbeln sie alle und sind des Meisterwerks gewrtig. Ob unserem Gelehrten beschieden ist, dasselbe zu finden, kçnnen wir nicht sagen, obwohl wir uns gerne seines Anlaufs gegen die modernen hçheren Erziehungsanstalten und gegen das gefhrliche Bildungsniveau des preußischen Einjhrigen erinnern. Wir sind, wie gesagt, nicht gewiß, von ihm das Wort der Erlçsung zu hçren, ist es uns doch unklar, wie er die Kultur als die Einheit des Stils bezeichnen und einer originellen deutschen Kultur rufen kann. Oder haben Rom und Griechenland, Italien, England und Frankreich nicht auch fr Deutschland gearbeitet und wie finden wir die Mittel, den einseitigen Auswachsungen der Knste zu begegnen?
155 Gemeint sind Schweizerischer Volksfreund vom 13.9. und Schweizer Grenzpost vom 15. und 16. 9. 1873.
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)( : Friedrich Nietzsche und sein neuster Kritiker. In: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel, Nr. 227 vom 25. 9. 1873. Erwiderung auf David Strauß und sein neuester Kritiker in demselben Blatt am 15. und 16. 9. 1873.156 Friedrich Nietzsche und sein neuster Kritiker. Wenn Jemand mit einem Ernst und einer Begeisterung, die nur das Bewusstsein eingeben kann, fr die hçchsten Gter der Menschheit zu streiten, die Culturzustnde der Gegenwart bespricht und mit einem so seltenen Tiefblick und Muth die Cardinalschden der Zeitbildung entdeckt und aufdeckt, wie der Verfasser des Buches „Unzeitgemße Betrachtungen“, so muß ein Solcher allerdings „mit voller Schopenhauer’scher Verachtung“ auf einen Recensenten hinunterblicken, dessen ganze Kritik in der Anfhrung einer Anzahl aus dem Zusammenhang gerissener Stellen besteht. Eine solche Taktik, wie sie der Verfasser des Artikels „David Strauß und sein neuester Kritiker“ bt, macht sich ihr Geschft sehr leicht; sie erspart sich jede Besprechung des Inhalts. Man hebt bloß einige in ihrer Vereinzelung sonderbar klingende Stellen heraus, stellt sie zusammen und sagt dabei „Seht, so schreibt er.“ Diese Angriffsweise richtet sich selbst, und wir wrden auch, obschon „die Frucht auf dem Boden unserer Stadt gewachsen“ ist, kein Wort darber verlieren, wenn wir nicht diejenigen im Auge htten, welche Nietzsche’s Schrift noch nicht gelesen haben und durch unsern Recensenten von der Lesung derselben kçnnten abgehalten werden. Gleich im Eingang des Buches finden wir Gelegenheit, die muthvolle Wahrheitsliebe des Verfassers zu bewundern, welcher, entgegen der çffentlichen Meinung in ihren Organen, entgegen jenem unchten, sich selbst beweihruchernden Patriotismus, es als einen Wahn erklrt, wenn man den Sieg ber Frankreich der Ueberlegenheit der sog. deutschen Cultur der Jetztzeit ber die franzçsische zuschreibt, statt ihn aus moralischen und andern großen, aber von der Cultur unabhngigen Vorzgen zu erklren. Diesen Wahn bedauert er, nicht weil es ein Wahn ist – denn es giebt sehr heilsame Wahnvorstellungen – sondern weil dadurch diese „deutsche Cultur der Jetztzeit, eine nach des Verfassers tiefster Ueberzeugung undeutsche und unproductive Pseudocultur, einen ihr nicht gebhrenden Ruhm erlangt hat und durch das gewonnene Ansehen die wahre deutsche Cultur am Aufkommen hindert.“ Die Trger dieser falschen Cultur werden mit dem Namen „Bildungsphilister“ gebrandmarkt und als Leute hingestellt, die, indem sie auf der Hçhe der Cultur zu stehen whnen, eigentlich nichts sind als Trger einer bertnchten Barbarei, Leute, die mit den idealen 156 Als Verfasser kommt, allerdings ohne stichhaltige Hinweise, Theodor Opitz in Frage, vgl. Krummel (1998) Bd. 1, S. 47.
310 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Interessen der Menschheit nur tndeln und denen die Kunst weiter nichts ist, als eine Erholung und Zerstreuung, als ein „auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum Ernst des Daseins“, d. h. zu den kleinen Erbrmlichkeiten des tglichen Lebens. Die meisten Leser werden sich freilich von den Pfeilen, die der Verfasser von einem verdeckten Standpunkt aus gegen die Bildungsphilister schleudert, mit getroffen fhlen, wenn sie auch nicht recht wissen, woher die Geschosse kommen. Die Hauptsache ist, daß sie sich berhaupt getroffen fhlen und sich gestehen mssen: „Er hat Recht.“ Einige werden sich freilich aus ihrer behaglichen Selbstzufriedenheit nicht aufstçren lassen, sondern mit einem „Er htte eigentlich Recht“ sich auf das andere Ohr legen. Zu diesen letztern gehçrt unser Recensent. Er giebt dem Verfasser Recht, wenn derselbe die „Bildungsphilister gebhrend kennzeichnet.“ Aber es ist ihm – und das aus Grnden – bei dieser Erkenntnis entschieden nicht wohl und er rcht sich fr das erregte Unbehagen durch seine hçchst wohlfeile Polemik, wodurch vielleicht einige zu weit vorgeschobene Vorposten aufgehoben, aber die Stellungen des Feindes nicht im Mindesten erschttert werden. Es ist wahr, Hr. Nietzsche htte sich hie und da an das Wort „Im Deutschen lgt man, wenn man hçflich ist“, etwas weniger streng halten drfen, schon deshalb, damit er nicht einem bel wollenden Kritiker den Hochgenuß bereite, ein Tintenfaß ber ihn ausleeren zu kçnnen. Nachdem Hr. Nietzsche die Bildungsphilister im Allgemeinen geschildert hat, wendet er sich gegen Strauß, ihren Hauptanfhrer, als welchen er sich in seinem neuesten Buche gezeigt hat, und greift mit richtigem Blick diejenige Seite heraus, worauf Strauß seinen Himmel auf Erden schildert. Strauß will das Christentum und damit ein so gewaltiges ideales Element aus der Welt schaffen und weiß dafr nichts Anderes zu bieten, als eine niedrige Behbigkeitstheorie, eine selbstzufriedene sog. Bildung, die nicht mehr sucht und strebt und nichts mehr zu wnschen brig hat, sondern alles erreicht und schon vorhanden sieht: ein nahezu vollkommenes Staatswesen, eine klassische Literatur, populr geschriebene Geschichtsbcher, Kunstsammlungen, Unterhaltungskonzerte, so daß man bei einem solchen „Vorrath fr viele Jahre“ nichts mehr fr die Cultur zu thun braucht, sondern ruhig die Hnde in den Schooß legen kann. Eine solche Lebensbetrachtung erlaubt sich Hr. Nietzsche beim rechten Namen, nmlich philisterhaft zu nennen. Es kommt dabei nicht in Betracht, in wie weit Strauß als Person dem Philisterthum verfallen ist; ein Parteifhrer, der wie Strauß seine „Wir“ zu vielen Tausenden zhlt, wird nach den Zielen beurtheilt, die er seinen Anhngern vorhlt; und wenn er nun dieselben direct in’s Philisterthum fhrt, so mçchte gegen den ihm beigelegten Titel „Philisterhuptling“ kaum etwas einzuwenden sein. Auch der Strauß gemachte Vorwurf der Inconsequenz und Feigheit ist nicht ganz ungerechtfertigt. Wer mit thriumphirender Rcksichtslosigkeit das Christenthum critisch vernichtet und sich mit solcher Entschiedenheit auf den
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Boden des Materialismus gestellt hat und nun plçtzlich auf dem Gebiete der Ethik sich, wie der Hr. Recensent selbst gesteht „mit oberflchlichen Andeutungen begngt“, legt doch gewiß die Frage nahe: Warum ist hier auf einmal ein ganz anderer Ton angeschlagen? Warum sagt er nicht mit drren Worten, man mçge die landlufige Moral zwar immerhin beibehalten, weil sonst alles aus Rand und Band gehen kçnnte, aber sie entbehre jeder hçheren Weihe und beruhe lediglich auf Grnden socialer Zweckmßigkeit? Aber freilich, die bisher so treulich nachfolgenden „Wir“ wrden bei so bedenklichen Worten vor Schreck davonlaufen und selbst die Regierungen kçnnten Gefahr wittern. Wer endlich einen Begriff davon hat, welchen Schatz wir an unsrer Sprache haben, wie ungeheuer viel daran liegt, daß sie vor Verderbnis bewahrt werde, und wie nach ihrer Entartung der schçne Traum von einer neuen Blthe unserer Litteratur fr immer unerfllbar wre, der wird die Kritik des Strauß’schen Stiles nicht fr „silbenstecherische Splitterrichterei“ halten, sondern es als eine dankenswerthe That von hoher Bedeutung begrßen, daß der Verfasser die gemeinen stilistischen Unarten der Neuzeit an den Pranger gestellt hat, vorab die falschen, auf keiner wirklichen Anschauung beruhenden, aus verschiedenen Gebieten der widerlich gemischten, bloß dem Zwecke eines leeren Klingklangs dienenden Bilder. Es versteht sich von selbst, daß eine solche Prozedur nicht an unbekannten und unbedeutenden Scribenten vorzunehmen ist, sondern wo mçglich an einem, der als „klassischer Prosaschriftsteller“ gilt; dadurch sind die Geringern mitgerichtet. Wir wissen nun wohl, daß wir mit diesen Zeilen der hohen Bedeutung der besprochenen Schrift keineswegs haben gerecht werden kçnnen; unsere einzige Absicht war, Solche, welche sich etwa durch die hmische Kritik unsers Recensenten htten kçnnen abschrecken lassen, fr die Lectre des Buches zu gewinnen. Dem Einsender in Nr. 217 des „Volksfreund“, der sehr boshaft zu sein glaubt und keine Ahnung davon hat, wie harmlos er ist, lassen wir wie billig unbercksichtigt; wir bemerken ihm bloß, daß „Unzeitgemße Betrachtungen“ ihrem Verfasser schwerlich einen Ruf nach Deutschland eintragen, hoffentlich aber einen Ruf in Deutschland verschaffen werden. Reaktionen N an Richard Wagner, 18. 9. 1873: „In summa bleibt mir nichts brig als nachzudenken: und zwar denke ich ber eine zweite ,Zeitungemssheit‘ nach. Auf zwçlfe ist es abgesehen, und der Plan dazu entworfen. Mein erstes Heft hat hier eine unbeschreibliche Wirkung gethan; eine toll-feindselige Zeitungslitteratur ist gegen mich entstanden, aber gelesen hat es jedermann.“ KGB II/3, Bf. 313, S. 157
312 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Richard Wagner an N, 21. 9. 1873: „Was Sie betrifft, so wiederhole ich Ihnen den Einfall, den ich krzlich einmal gegen die Meinigen usserte; nmlich, dass ich die Zeit voraussehe, in welcher ich Ihr Buch [David Strauss] gegen Sie zu vertheidigen haben wrde. – Ich habe wieder darin gelesen, und schwçre Ihnen zu Gott zu, dass ich Sie fr den Einzigen halte, der weiss, was ich will! – Alles Uebrige gehçrt in das Kapitel von ,Stil‘, in dem ich nicht competent bin, da ich mich – zu Ihrem Aerger – wie Sie wissen, auf den ,Styl‘ steife.“ KGB II/4, Bf. 458, S. 295 N an Carl von Gersdorff, 27. 9. 1873: „Von R[ichard] W[agner] traf ein herrlich-heiterer Brief ein, in Betreff der Straussiade schrieb er ,ich habe wieder darin gelesen und schwçre Ihnen zu Gott zu, dass ich Sie fr den einzigen halte, der weiss, was ich will!‘ Daran wollen wir uns doch gengen lassen, nicht wahr, lieber Freund? brigens ist der Zeitungs-Spuk gross und fast unertrglich gewesen! Alle Baseler Zeitungen haben Artikel, zum Theil verschiedenartige, gebracht, darunter auch einen begeisterten: in summa 5 Artikel.“157 KGB II/3, Bf. 316, S. 161
§.: David Strauß und sein neuester Kritiker II. In: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel, Nr. 234 vom 3. 10. 1873. Entgegnung auf den anonymen Artikel: Friedrich Nietzsche und sein neuster Kritiker in der Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel vom 25. 9. 1873. David Strauß und sein neuester Kritiker II. Wie wir es vorausgesagt, ist uns die Verdammung zum Bildungsphilisterium und die Schopenhauer’sche Verachtung zu Theil geworden, allerdings nicht aus „erster Hand“, sondern ziemlich lauwarm und durch einen Adjutanten, der zugleich „einigen zu weit vorgeschobenen Vorposten“ des Gegners den Befehl zum Rckzug bringt. Gegen alle Mißdeutungen, insbesondere des Charakters 157 Die Zhlung lsst sich mit den aufgefundenen Rezensionen nicht gleich in Einklang bringen. N hat wohl die Anzahl der Zeitungen gezhlt und die in zwei Nummern erschienene Rezension vom 15. und 16.9. 1873 als zwei Artikel gerechnet. Dies wiederholt sich auch in der Angabe 9 Artikel am 18. 10. 1873 (s. Fn. 161). Diese Zahl lsst sich auch nur durch den in zwei Nummern aufgeteilten Artikel vom 6. und 7.10. erklren.
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unserer Kritik, seien dieselben absichtlich oder aus „heilsamen (sic!) Wahnvorstellungen“ hervorgegangen, erlauben wir uns ein fr alle Male noch ein entschiedenes Wort. Wir sind an Hrn. Nietzsche’s Schrift herangetreten, nicht ohne die Befrchtung, es mçchte in irgendeiner Richtung eine starke Intoleranz sich darin ußern, im Uebrigen aber als unbefangener Leser, sine ira et studio; und so haben wir anfangs an Inhalt und Form, wie am urkrftigen Behagen unsere reine Freude gehabt; htte nun Hr. Nietzsche als „erstes Stck“ ein Gericht ber die Nachlßigkeit und Verflachung des deutschen Stils gehalten und dazu nicht nur eine einzelne Tendenzschrift herangezogen – Strauß htte immerhin seine Blumenlese liefern kçnnen – sondern auch Schriftsteller, deren Werke als dichterische Erzeugnisse ein Dasein um ihrer selbst willen beanspruchen, also z. B. den vielgeliebten Auerbach und Aehnliche mehr, die ja gerade in politischer Selbstzufriedenheit ganz Anderes leisten – es wre eine That gewesen, ehrenvoll, nachwirkend und beraus dankenswerth. Freilich htte eine sachliche Schrift unter sachlichem Titel weniger Beachtung erregt als: „David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller.“ Was aber wirklich uns geboten wird, muß um so lauter und entschiedener verurtheilt werden, als unkritische Leser sich durch das Pathos des Vortrags und die Schçnheit des Stils leicht ber die innere Hohlheit des Angriffs tuschen lassen, anderseits aber bei diesem Grade formaler Bildung ein so beispielloser Charakter der Polemik doppelt strafbar ist. Wir haben diese letztere in einer Reihe von Beispielen beleuchtet; diese Brosamen von des Herrn Tische scheint Hr. )( ziemlich schwerverdaulich gefunden zu haben; er geht ber sie, als „aus dem Zusammenhang gerissene Stellen“, hinweg. Dieser Vorwurf wre nur berechtigt, wenn jene Stellen in unserer Kritik einen andern Sinn zeigten, als sie im Zusammenhange haben; das ist aber nicht der Fall, sondern sie spiegeln getreulich die Grundstimmung wieder und werden gengt haben, um aus der Tatze auf den Lçwen zu schließen. Falls brigens Herr )( „aus dem Zusammenhang gerissene Stellen“ berhaupt nicht liebt, so mçge er auch den letzten Abschnitt der unzeitgemßen Betrachtungen sorgfltig vermeiden. Auf den Vorwurf der „hmischen Kritik“ wollen wir nicht eintreten. Hr. )( hat keinen Grund, an unserm ehrlichen Ernst zu zweifeln; ernst kann man auch unter der komischen Maske sein, es gehçrt dazu weder tragisches Pathos, noch der larmoyante Ton eines Iffland’schen Familiendrama’s. Fr die vertheidigte Sache ist es aber wenig ehrenvoll, daß in Ermangelung jeder Abwehr gegen unsern Angriff nur eine Verdchtigung brig bleibt. Hr. )( wagt selbst nicht den Ton des Hrn. Nietzsche zu entschuldigen. (Warum nicht mit der „A. A. Ztg.“ sagen, er sei „stets ungezwungen?“) [gemeint ist: Hillebrand, Karl: Nietzsche gegen Strauß. Allgemeine Zeitung. Augsburg, Nr. 265 f vom 22. und 23. 9. 1873]
314 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Inwieweit Strauß als Person dem Philistertum verfallen sei, will Hr. )( klglich außer Betracht lassen; aber er „wird nach den Zielen beurtheilt, die er seinen Anhngern vorhlt.“ Diese philistrçsen Zge sollen nun vorliegen in Straußen’s Weltanschauung und in der Schilderung, wie er es treibt. Stellen wir zunchst fest, daß Strauß uns nicht sagt, wie er es treibt, sondern was er treibt; dieses in’s Lcherliche zu ziehen, dazu gehçrt entsetzlich wenig Witz, und wenn uns vielleicht Hr. Nietzsche oder sein Adjutant, um uns nach all’ der Negation doch ein Beispiel des Bessern zu geben, eben so ehrlich, wie Strauß, sagen wollten, was sie denn treiben, so wrde eine Verhçhnung ihres Bekenntnisses eben so leicht sein, aber auch eben sowenig beweisen. Denn eben, wie man das „was“ treibt, darauf kommt es an; man kann alles treiben mit oberflchlicher Selbstzufriedenheit, alles mit Ernst und Tiefe. Nun htte man erwarten sollen Hr. Nietzsche werde bei Strauß, dem „wackern“, ihm frher „sympathischen Gelehrten, Ernst und Tiefe voraussetzen; wir haben gesehen, wie im Gegentheil Hr. Nietzsche Strauß mçglichste Flachkçpfigkeit zumuthet und allfallsigen unschuldigen Lesern die nçthige Brille aufsetzt, durch die sie in den geschichtlichen Studien „Zeitungslektre“, in der Theilnahme am politischen Leben „Besuche im Viehhaus“ u.s.w. erblicken sollen. Bei der Weltanschauung wiederholt sich derselbe unwrdige Kunstgriff. Natrlich finden sich unter den Anhngern jeder Weltanschauung pommadige Philister, die selbstzufrieden mittrotten und die, je nach christlicher, materialistischer, Schopenhauerscher ec. Frbung ußerlich verschieden, sich innerlich durch gedankenlose Flachheit sehr hnlich sind. Fr Hrn. Nietzsche aber, bei welchem das Schopenhauersche Unfehlbarkeitsgefhl wo mçglich noch potenzirt zu Tage tritt, hçrt mit dem Pessimismus auch der Ernst auf. Wer sich nicht zu der Hçhe einer pessimistischen Weltanschauung aufschwingt, wird als ruchlos, stumpfsinnig ec. verurtheilt, um schließlich zum (S. 70) „Gartenhausbewohner“ begnadigt zu werden. So ergeht es denn auch Strauß, der auf die Descendenztheorie gesttzt an eine Entwicklung nach oben, an einen Fortschritt glaubt; da diese Anschauung ihm eine erhabene Befriedigung gewhren muß, so gehçrt nur noch ein franzçsisches Taschenwçrterbuch dazu, um diesen Befriedigten zum „Satisfait“ zu machen, ein solcher ist immer ein Philister. Quod erat demonstrandum. Kein zurechnungsfhiger Mensch wird sich, wenn er an eine solche Entwicklung nach oben glaubt, deswegen zu einem Befriedigungsschlaf auf das eine oder „das andere Ohr legen“; einen Rckblick wird er sich aber wohl erlauben drfen, wie auch ein stetiger Bergsteiger, der nie die unendliche Ferne des erhabenen Blicks vergißt, gelegentlich einmal auf die weichenden Schatten des Thales zurcksieht und sich des erweiterten Umblickes freut. Und darin wird er sich nicht stçren lassen durch den Vorwurf, er rette sich (S. 13) „durch das historische Bewusstsein vor dem Enthusiasmus“, und noch weniger durch die Gefahr, hinter der nchsten Ecke z. B. in der „A. A. Z.“ einem Kritiker zu
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begegnen, der ihm den Wagner’schen Schlafrock berzieht und die Worte in den Mund legt: „Wie wir’s zuletzt so herrlich weit gebracht.“ Gehçrt es ferner nicht zu derselben nichtswrdigen Art von Polemik, daß die Leiden von Lessing, Schiller, Beethoven u.s.f. den Philistern zu Hnden von Strauß vorgeworfen werden? z. B. (S. 31) „Ihr durftet gar Schillers Namen nennen, ohne dabei zu errçthen? … Da hattet ihr so ein herrliches, gçttliches Spielzeug, das durch euch zerbrochen wurde“ u.s.w. Was soll hier dieser Donner gegen die Philister, hineingeschoben zwischen specielle Vorwrfe gegen Strauß, wenn nicht einen allgemeinen Wirrwarr von pathetischem Schellengeklingel im Kopfe des Lesers hervorbringen, einen Wirrwarr, whrend dessen man dann ungescheut das Kind mit dem Bade ausschtten kann? Auf diese Weise hat auch das ehrliche Pathos seinen Lohn dahin, und auch die Stilkritik hat ihren Lohn dahin, wenn sie neben dem wirklich Falschen mit klglicher Silbenstecherei z.Th. mit vollstndigem Unrecht alles Mçgliche als Vorwurf heranzieht. Wem die Beispiele in unserer Besprechung nicht gengen, der lese das Original; lehrreich ist es auf jede Weise. Es gibt ernstlich zu denken, wenn sogar Strauß bei seiner glnzenden Schreibweise von geschraubten Wendungen und Stilfehlern nicht frei ist, und es gibt ebenfalls ernstlich zu denken, wenn Hr. Nietzsche bei seiner Classicitt vor literarischen Ausschreitungen, wie die vorliegende, nicht zurckschrickt. Wer ber der formalen Schçnheit des Stils und dem warmen Pathos, womit so vieles Beherzigenswerthe gesagt wird, alles andere vergessen oder, besser gesagt, nicht sehen will, der mçge es uns zu gute halten, daß wir anders empfinden; und wir werden nicht aufhçren, anders zu empfinden. Wenn wir, fortgetragen von derselben formalen Stilschçnheit, welche den Eingang der Schrift so vielversprechend machte, uns schließlich unter „Lumpen“, „lderlichen Gesellen“, „Sudlergesindel“ befinden, in einer Gesellschaft, wo „Gemeinheit, „haarstrubende Ignoranz“ u.s.w. uns umgibt, mit einem Wort, in einer Gesellschaft, in der jeder ungezogene Schuljunge salonfhig wre, – so finden wir eine solche Schreibweise ungesittet. Das darf sich nur ein bedeutender Mann erlauben, und auch der nur gegen einen flachen Schmierer; so durfte Lessing mit Gçtz, so htte, um zu diis minorum gentium hinabzusteigen, Hauff mit Clauren umspringen drfen, so darf aber nicht Hr. Nietzsche gegen Strauß schreiben, ohne daß er Leser findet, denen diese Ueberhebung widerlich ist. Strauß ist mehr wie doppelt so alt wie sein Kritiker und kann zurckblicken auf ein arbeitsvolles Leben, whrend dessen er sich nie aus ußerlichen Grnden gescheut hat, laut zu sagen, was er innerlich fr wahr hielt. Sei einmal jeder Leser einen Augenblick aufrichtig: wie viele kçnnen das von sich rhmen? Gegenber einer Persçnlichkeit von solchem Ernst und solcher Bedeutung diesen gnzlichen Mangel an Anstandsgefhl an den Tag zu legen, dazu gehçrt mehr, als wir mit einem parlamentarischen Ausdruck sagen kçnnen; wir drfen nur mit Horatio im Hamlet rufen:
316 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Er kommt ganz außer sich vor Einbildung!
Wenn aber ferner mit demselben warmen Pathos, womit von Kultur und Wahrheit geredet wird, gegen besseres Wissen (oder vielleicht in Folge „heilsamer Wahnvorstellungen?“ dem Gegner Plattheiten unterschiebt, ihm durch unwrdige Kunstgriffe die Eselshaut des Philisters ber das Haupt zieht, so ist jedenfalls das unzweifelhaft, daß aus solchem Geiste nimmermehr die Wiedergeburt der deutschen Kultur erfolgen wird. Gott schenke ihr eine frçhliche Urstnd und einen bessern Herold!
Wilhelm Vischer-Heusler: Literarisches. David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller. In: Allgemeine Schweizer Zeitung. Basel, Nr. 5f vom 6. und 7.10. 1873. Nietzsche konstruktiv verteidigende Reaktion auf die bisher erschienenen Artikel in den Basler Zeitungen. Literarisches 158 Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemße Betrachtungen. Erstes Stck: David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig, E. W. Fritzsch. 1873. Seit langer Zeit ist kein Buch erschienen, daß so gewaltiges Aufsehen erregt htte, wie die neueste Schrift von Strauß: Der alte und der neue Glaube. Keines hat auch so vielen Widerspruch gefunden. Der Schriften, die sich seine Bekmpfung zur Aufgabe gestellt haben, ist eine so große Zahl, daß ihre Zusammenstellung und Besprechung wieder den Inhalt eines eigenen Buches hat abgeben kçnnen159. Alle diese Schriften machen zum Gegenstand ihres Angriffs die theologische Seite des Buches, die Ansichten, welche Strauß ber Christenthum und Religion ausstellt, und indem sie diese aufs schrfste bekmpfen, zollen sie im ganzen dem andern Theile des Werkes, in welchem der Verfasser eine Anleitung ber die zweckmßige Anordnung des Lebens giebt, volle Anerkennung, finden dort „alles ideal, alles vom platonischen Gedanken durchtrnkt.“ Gerade im Gegensatze hiezu hat die vorliegende Schrift von Nietzsche 158 Obige Besprechung war bereits geschrieben und an die Redaktion abgeliefert, als die Grenzpost den Artikel „David Strauß und sein neuester Kritiker II“ brachte. Wir haben in demselben keine Veranlassung gefunden, dem von uns Gesagten etwas beizufgen. 159 Von Professor Nippold in Bern, in dem Bande : D.F. Strauß alter und neuer Glaube und seine literarischen Ergebnisse, zwei kritische Abhandlungen von Dr. L. W. E. Rauwenhoff und Dr. F. Nippold. Leipzig und Leiden. 1873.
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den theologischen Theil ganz bei Seite gelassen und ihren Angriff auf diejenigen Abschnitte des Buches concentrirt, aus denen sich das Ideal eines glckseligen Lebens ergibt, wie es Strauß seinen Anhngern vorhlt und zu dessen Erreichung er ihnen die nçthigen Vorschriften ertheilt. Dieses Ideal bezeichnet Nietzsche als das des „Bildungsphilisters“, der im Besitze eines gewissen Quantums von Kenntnissen den Wahn hegt, nun auch im Besitze der wahren Kultur zu stehn, nicht mde wird, in eitler Selbstberschtzung sich dieser Kultur zu rhmen und darber immer weiter von dem Wege zur eigentlichen wahren Kultur abirrt. Einen zweiten nicht minder heftigen Angriff richtet Nietzsche gegen den Stil und die Sprache von Strauß, dem von Freunden sowohl als von Gegnern das bereinstimmende Lob eines classischen Schriftstellers gezollt worden war. An einer Menge von Beispielen, die er in geschickter Weise zusammenstellt, zeigt er schlagend, wie wenig verdient dieses Lob ist, wie sich Strauß vielmehr durchweg jener Vernachlssigung der Sprache schuldig macht, die dem Zeitungsstil eigen ist und aus ihm nach und nach immer mehr auch in die brigen Produkte unserer Litteratur eindringt. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, einen Auszug aus Nietzsches Schrift zu geben, wir mçchten vielmehr jeden, dem der Zustand unsrer Bildung am Herzen liegt, auffordern, sie selbst mit Aufmerksamkeit durchzulesen, und zugleich die Gelegenheit benutzen, dem Verfasser unsern Dank fr das, was wir selbst aus ihr geschçpft haben, auszusprechen. Wir fhlen uns um so mehr dazu gedrungen, als die erste Aufnahme, welche sie in unseren hiesigen Blttern gefunden hat, wie bekannt, eine keineswegs freundliche gewesen ist. Es ist uns dies aufgefallen, wir hatten erwartet, daß gerade von uns Schweizern der Kampf, den Nietzsche aufgenommen hat, mit Freude begrßt wrde. Der Schreiber dieser Zeilen ist gewiß einer von Denen, die zur Zeit des großen deutsch-franzçsischen Krieges es am bittersten beklagt haben, wie wenig Verstndnis sich im Ganzen in unserm Vaterlande fr die großartige Erhebung des deutschen Volkes gefunden, mit welchen Vorurtheilen, welchem Mißtrauen, das sich bisweilen bis zur Bitterkeit und Feindseligkeit steigerte, man der deutschen Sache gegenbergestanden hat. Und doch musste er sich sagen: Dieses Vorurtheil, dieses Mißtrauen, ist nicht ohne die Schuld eines guten Theils unsrer berrheinischen Nachbarn entstanden. Wir Schweizer haben es gottlob in jener von Nietzsche so schonungslos gegeißelten „Gebildetheit“, die sich fr die wahre Kultur hlt, im Grunde aber nur eine Form der Barbarei ist, noch nicht so weit gebracht, wie dies durchschnittlich im Reiche der Fall ist, und darum werden wir von den Wortfhrern derselben mit einer vornehmen Geringschtzung behandelt, die wohl geeignet ist, bçses Blut zu erregen und Antipathien zu erwecken, denen dann von Solchen, die mit den Verhltnissen nicht vertraut sind, gar leicht eine ungehçrige Ausdehnung gegeben wird. Wenn die „Gartenlaube“ die Schweiz zu dem kleinen Vçlkergesindel rechnet, oder der „Daheimkalender“ bei der Beschreibung der Wiener Ausstellung sie in der geringschtzigsten Weise abfertigt, so ist der
318 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung gemeine Mann, der diese Bltter als Organe der deutschen Bildung hat rhmen hçren, geneigt, auf diese selbst seinen Haß zu bertragen, whrend es doch nur die Stimme des deutschen Bildungsphilisters ist, die er vernommen hat, dieses grçßten Feindes deutscher Bildung und deutschen Geistes. Auch in dieser Beziehung hat sich Strauß als den Huptling dieser Philistergenossenschaft, als welchen ihn Nietzsche kennzeichnet, erwiesen. Er vermisst in der Schweiz dasjenige Gedeihen der hçhern geistigen Interessen, wie er es in dem monarchischen Deutschland findet, und aus unsrer Geistesbildung weht ihn etwas Banausisches, etwas grob realistisches und prosaisch Nchternes an, auf unsern Boden versetzt, fehlt ihm die feinste geistige Lebenslust, die er in seiner Heimat geathmet hat. Diese Worte haben mit Recht sofort bei dem Erscheinen des Straußischen Buches lebhaften Unwillen in der Schweiz hervorgerufen; durch Nietzsches Schrift, die nachweist, was es mit dieser feinsten geistigen Lebenslust, die Strauß vermisst, fr eine Bewandtniß hat, werden sie in das gehçrige Licht gestellt; schon einmal haben die grob realistischen Schweizer, indem sie die Herrschaft Gottscheds strzten, der sich zu seiner Zeit fr den richtigen Vertreter der deutschen Bildung hielt, eine neue gesunde Entwicklung fr die deutsche Litteratur angebahnt; halten wir uns auch jetzt von jener feinsten Lebenslust fern, und danken wir der Stimme des Warners, der uns sie rechtzeitig als das erkennen lernt, was sie ist. Nicht minder sympathisch als der Angriff, den Nietzsche gegen die deutsche (oder vielmehr undeutsche) Gebildetheit fhrt, mssen uns die Ausflle berhren, in denen er gegen die immer mehr einreißende Verderbniß der deutschen Sprache eifert. Auch in dieser Beziehung steht es bei uns immer noch eine Stufe besser als drben im Reiche. Der Umstand, den wir gewohnt sind, vielmehr als einen Nachtheil statt als einen Vorzug zu betrachten, daß bei uns noch ein von der Schriftsprache verschiedener Dialekt selbstndig fortlebt, kommt uns hier außerordentlich zu Statten: schon das Fortleben des Dialektes an sich hilft uns zu einem tiefern Einblick in den Geist der Sprache, und dadurch, daß wir gençthigt sind die Schriftsprache zu erlernen und bei ihrer Anwendung unser Denkvermçgen in Anspruch zu nehmen, gewçhnen wir uns, uns sorgfltiger und korrekter auszudrcken. Speziell bei uns in Basel kommt noch als ein sehr bedeutsames Moment hinzu die beinahe vierzigjhrige Wirksamkeit eines Mannes wie Wackernagel, der mit der Bedeutung eines hervorragenden Gelehrten die Strenge und Gewissenhaftigkeit des Schulmeisters (das Wort in seinem besten Sinne genommen) verband und seinen Schlern ein Gefhl fr die Wrde und Heiligkeit der deutschen Sprache beizubringen verstand, das sich auf das Empfindlichste verletzt fhlt durch die Verzerrungen und Misshandlungen, denen sie in unsern Tagen ausgesetzt ist. Es hat denn auch seiner Zeit der Vortrag des Verfassers unserer Schrift ber den Unterricht im Deutschen den lebhaftesten Anklang hier gefunden, und so muß auch jetzt Jeder, der sich noch als Schler Wackernagels fhlt, den Eifer und das Geschick will-
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kommen heißen, womit er den Kampf um die Reinhaltung unserer Sprache aufgenommen hat. Um so mehr haben wir die Angriffe bedauert, die das Buch in den hiesigen Blttern erfahren hat. Auf einen ersten vollkommen unbedeutenden und nichtssagenden folgte ein zweiter, der es ebenfalls vermied, in den Inhalt des Buches einzugehen, dagegen in geschickter Weise eine Anzahl Stellen daraus aneinanderreihte und so dem Leser ein ebenso ungnstiges als unrichtiges Bild desselben vorfhrte. Dann erschien der erste Artikel, der der Schrift eine sachliche Behandlung zu Theil werden ließ und die Tendenz derselben belobte; jedoch bedauerte er, daß der Verfasser gerade Strauß und nicht einen andern als den Vertreter der gergten Verkehrtheiten bekmpfe, und ber die Form der Polemik, der er sich bedient hatte, ergoß er einen Tadel, der das gespendete Lob bedeutend modifizierte. Endlich brachte die Grenzpost eine energische Vertheidigung Nietzsches, die uns vollkommen aus dem Herzen gesprochen ist und die hoffentlich ihre Wirkung auf die Leser nicht verfehlt hat. Sehen wir uns nach den Punkten um, welche die Angreifer Nietzsche zur Last legen, so lassen sie sich im Grunde auf zwei zurckfhren, auf die Form, in der er seinen Angriff fhrt, und auf den Umstand, daß er es gewagt hat, gerade gegen Strauß in dieser Weise vorzugehen. Was nun den ersten Punkt betrifft, so kçnnen auch wir unsern Tadel gegen den Verfasser nicht zurckhalten. Erçrterungen so ernster Art wie die, welche den Inhalt unseres Buches bilden, sollen nie in den Ton einer Schmhschrift verfallen, einen Ton, den wir uns nicht einmal bei einem Manne wie Luther gerne gefallen lassen. Bei dem Verfasser unserer Schrift berhrt uns dieser Ton doppelt peinlich, weil er ihm gar nicht natrlich ansteht, sondern das Geprge des Gemachten trgt, knstlerisch unschçn herauskommt und die Wirkung der mit vorzglichem Geschicke entwickelten Behauptungen und vorgebrachten Belegstellen mehr abschwcht als verstrkt. Stze, wie der: „aussprechen mit ansprechen zu verwechseln, trgt den Stempel der Gemeinheit an sich“, wirken allerdings komisch, aber in einem anderen Sinne, als der Verfasser es beabsichtigt hat. Ueberdies gibt das Anschlagen eines solchen Tones, wie der Verfasser es bereits erlebt hat und noch ferner erleben wird, dem Gegner die wohlfeile Gelegenheit, ohne fachliche Widerlegung das Buch schlecht zu machen, und veranlasst dadurch Manche, die es noch nicht kennen, es weder zu lesen noch kennen zu lernen. Mssen wir nach dieser Seite hin bis zu einem gewissen Grade mit den Tadlern einig gehen, so kçnnen wir es dagegen dem Verfasser nur zum Lobe anrechnen, daß er es gewagt hat, den gefeierten Strauß selbst zum Gegenstande seines Angriffs zu machen. Dieser durfte, wie schon der Artikel in Nr. 227 der Grenzpost hervorgehoben hat, wenn er wirksam sein wollte, nicht gegen einen Schriftsteller von untergeordneter Bedeutung, er musste gegen den glnzendsten und angesehensten Vertreter der Richtung gekehrt sein. Dazu bedurfte es aber
320 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung wirklichen Muthes. Es ist sonderbar: Niemand hat gegen den Autorittsglauben heftiger angekmpft, als Strauß, und jetzt, wo einer es unternimmt, die Autoritt Straußens als des Vertreters der wahren Bildung und als des klassischen Prosaschriftstellers mit wuchtigen Schlgen zu erschttern, wird schon dieses Unternehmen an sich als eine Art Blasphemie mit Entsetzen und einem gewissen Grauen aufgenommen und verdammt. Um so mehr begrßen wir es als eine muthige That, und wenn wir auch außer dem bereits Gergten im Einzelnen noch hie und da etwas auszusetzen htten, so freuen wir uns doch des Ganzen und freuen uns namentlich darber, daß (wohl nicht ganz „zufllig“) gerade auf dem Boden unserer Stadt diese Frucht erwachsen konnte. Wir wollen uns aber nicht nur freuen, wir wollen auch das im Buche Gelesene zu Herzen nehmen. Wenn oben bemerkt worden ist, daß bei uns jene undeutsche Gebildetheit und jene Sprachverderbniß noch nicht so in Blthe stehen, wie vielfach anderswo, so soll damit keineswegs gesagt sein, daß nicht auch wir an diesen Uebeln kranken. Niemand kann sich rhmen, von ihnen unangesteckt geblieben zu sein, und es bedarf ein Jeder, wenn er sie auch in ihrer ganzen Schdlichkeit erkannt hat, eines fortwhrenden Aufmerkens, eines andauernden ernsten Arbeitens und Kmpfens, um sie nicht zur Herrschaft gelangen zu lassen, sondern sich immer mehr von ihrem bçsen Einflusse loszuwinden. Reaktionen Wilhelm Vischer-Heusler an N, 11.10. 1873: „Indem ich Ihnen hiemit die Besprechung / Ihrer Schrift in der A[llgemeinen] S[chweizer] Z[eitung] zu Handen / Ihrer Frl. Schwester zustelle, will ich mich / gleich als deren Verfasser bekennen. Es / ist zweierlei, was mich dazu getrieben hat, / sie zu schreiben. Einmal war ich unwillig / ber die unfreundliche Aufnahme, die / ihr Buch zuerst in den hiesigen Blttern / gefunden, whrend es mir doch vorkam, / daß man gerade hier Ursache gehabt / htte, sich ber dasselbe zu freuen; ich / habe daher, wie Sie sehen, eben diesen Punkt / hervorgehoben, in bereinstimmung, wie // es nach Ihren Mittheilungen scheint, / mit dem zweiten Artikel im Volksfreunde. Sodann glaubte ich aber auch mich in / einer solchen Anzeige ber den Werth, / den ich Ihrem Buche beilege, sowie andrer-/ seits ber das, was ich an demselben lie-/ ber anders gehabt htte, Ihnen gegenber / am besten und klarsten aussprechen zu / kçnnen und auch fr sptere mndliche / Erçrterungen einen passenden Ausgangs-/ punkt zu gewinnen. Ich mçchte Sie/ also bitten, sie freundlich aufzunehmen. [Die schlechtgebauten Stze, auf die Sie hie/ und da stoßen, bitte ich nicht mir allein, sondern] [x x x]“ KGB II/4, Bf. 463 a, S. 314
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Anonym: Eingesandt. In: Schweizerischer Volksfreund. Anzeigeblatt der Stadt Basel. Organ der Liberalen Basels, Nr. 239 vom 9. 10. 1873, S. 3. Replik auf den am 13. 9. 1873 in demselben Blatt anonym erschienenen Artikel: Deutsche Kultur. Basel. (Eingesandt.)160 Im Volksfreund sind vor einiger Zeit in einem Artikel „Deutsche Cultur“ die „Unzeitgemßen Betrachtungen“ von Dr. Fr. Nietzsche besprochen worden. Es war darin gleich anfangs gesagt, daß sich die Schweizer durch den von Hrn. Nietzsche ausgefhrten Nachweis, daß eine deutsche originale Cultur noch nicht vorhanden, sondern erst noch zu suchen und zu grnden sei, „vçllig niedergeschlagen, zerknirscht und vernichtet fhlen mssten“. Man kçnnte demnach annehmen, daß der junge Gelehrte, der seine „unzeitgemßen Betrachtungen“ ber „David Strauß, den Bekenner und Schriftsteller“ in die Welt zu senden wagte, die Schweiz so ohne weiteres als ein deutsches Land, als einen kleinen, an Kultur noch niedriger stehenden Appendix des deutschen Reiches betrachte, und daß auch ihm, wie dem „Bekenner“ – nur in noch hçherem Grade – die schweizerische Geistesbildung „banausisch, grob-realistisch, prosaisch-nchtern“ erscheine und ihn die „feinste, geistige Lebenslust seiner Heimat“ vermissen lasse. Wre dem so, dann mßte man sagen, daß Fr. Nietzsche die Bildungsphilisterei, die er in Strauß so scharf zeichnet und streng richtet, selbst theile; denn er wrde dadurch denselben „Mangel aller wirklichen Erfahrung, alles ursprnglichen Hineinsehens in die Menschen“ verrathen. Nun ist aber in dem „unzeitgemßen“ Buche von der Schweiz nirgends die Rede; wohl aber wird der aufmerksame und unbefangene Leser nach der Lektre sich sagen, daß, wenn Fr. Nietzsche von der Schweiz und ihrer Cultur sprechen wollte, er darber sich anders ußern wrde, wie ber die Bildungszustnde des deutschen Reiches, eben weil er mit einem „ursprnglichen Hineinsehen“ begabt ist und nicht „so bchermßig uniform“ urtheilt. Jenen Ausspruch des Dr. Strauß ber die „banausische, grob-realistische, prosaisch nchterne“ Geistesbildung der Schweizer, die ihn die „feinste, geistige Lebenslust seiner Heimat“ vermissen lsst, wrde, meinen wir, der „Unzeitgemße“ als das bezeichnen, was er ist – ein Ausdruck der deutschen Bildungsphilisterei, die sich nur in ihrem eigensten Elementen wohl und heimisch fhlt. 160 Die in Krummel (1998) Bd.1, S. 33 genannte und schon lnger kursierende Datierung des Artikels aus dem „Schweizerischen Volksfreund“ auf den 8.10. 1873 hlt der Quellenberprfung nicht stand: die Rezension erschien laut dem Exemplar der Basler Universittsbibliothek erst am 9. 10.1873.
322 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Uns auf wenige Worte beschrnkend wollen wir noch bemerken, daß der Eindruck, den die „unzeitgemßen Betrachtungen“ in uns hinterlassen haben, ganz verschieden ist von jenem, den der Einsender des erwhnten Artikels im „Volksfreund“ an sich erfahren hat. Wir haben uns nicht „in eine Schaubude der Messe versetzt“ geglaubt, sondern wir haben ein zu ernstem Nachdenken anregendes Buch gelesen, das die Einheit des knstlerischen Stiles auf das Vortheilhafteste auszeichnet; und es hat uns „hinter der knstlerischen Gewandtheit“ durchaus nicht als das „leere Nichts“ entgegengestarrt: wir blickten in den geistigen Lebensstrom einer tchtigen Persçnlichkeit, der man nicht zumuthen kann, daß, bevor sie sich eines Gegenstandes der Darstellung bemchtigt, sie ihr Glaubensbekenntniß ablegen solle: jeder Satz zeigt ja, was sie ist und was sie will. Reaktionen N an Carl von Gersdorff, 18. 10. 1873: „Die Straussiade hat in Basel in summa 9 Zeitungsartikel erlebt. Zuletzt hat mich sogar der Volksfreund feurig in Schutz genommen161.“ KGB II/3, Bf. 318, S. 165
F., B. [vmtl. Fçrster, Bernhard]: Herr Friedrich Nietzsche und die deutsche Cultur. In: Die Grenzboten. Leipzig, Bd. 32, Nr. 42 vom 17. 10. 1873, S. 104–110. Herr Friedrich Nietzsche und die deutsche Cultur162 Als Heinrich Heine die Georgia Augusta zu Gçttingen verließ, um seine „Harzreise“ anzutreten, begegneten ihm vorm Thor zwei Schuljungen, von welchen der eine zum Andern ungefhr sagte: „Hçr’ mal, der Karl ist ein schlechter Mensch, denn der kann noch nicht mal mensa decliniren.“ Die 161 Die Zhlung lsst sich mit den gefundenen Artikeln nicht in Einklang bringen. N hat wohl die Anzahl der Zeitungen und damit den in zwei Nummern aufgeteilten Artikel vom 6. und 7.10. einzeln gerechnet, wie er auch schon bei der Angabe von 5 Artikeln am 27. 9. 1873 verfuhr (s. Fn. 157). 162 Als Verfasser sind lt. Krummel (1998) Bd. 1, S. 33 vermutet worden: Hans Blum (1841 – 1910) Redacteur der Grenzboten; Bernhard Fçrster (Nietzsches spterer Schwager); Friedrich Bçttcher (1842 – 1922) Duzfreund Hans Blums, Mitarbeiter der Grenzboten seit 1871, sowie nicht nher begrndet: Gustav Freytag. Ein Indiz fr Bernhard Fçrster ist ein kurzer Artikel ber Nietzsches Augenleiden und seine Schreibmaschine im Berliner Tageblatt aus dem GSA, nicht datiert, vermutl. Anfang 1882, der auch mit dem Krzel b.f. unterzeichnet ist. Fçrster lebte 1882 in Berlin. Vgl. dazu die Einleitung.
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Betrachtungen, die Heine an dieses Wort des kleinen Mannes knpft, lassen keinen Zweifel darber aufkommen, daß er nicht den Untersextaner, sondern die Spitzen der damaligen deutschen Wissenschaft, allerdings zunchst in Gçttingen, als die Vter und Lehrer dieser kindischen Ethik bezeichnen wollte. Fnfzig Jahre und mehr sind verstrichen, seitdem dieser Vorwurf erhoben, und – damals nicht nur fr Gçttingen – gerecht befunden wurde. Heute wre er eine alberne Verlumdung. Wie viele Professoren unsrer Hochschulen stehen denn heute noch auf jenem einseitigen, verknçcherten Standpunkt, auf dem Standpunkt gelehrter Monomanie, von welchem aus alle Anderslehrenden und Andersstrebenden rundweg fr unverstndige Thoren oder fr gesunkene Charactere erklrt werden? Diese Species von Weisen ist im Aussterben begriffen. Nur in dem soliden Schatten einzelner Winkeluniversitten, die seltener von dem Lufthauch der modernen Zeit berhrt werden, kann sich ein oder das andere Exemplar dieser vormals starken Species bei leidlichem Wohlsein erhalten. Von Basel aus unternimmt nun neuerdings Herr Dr. Friedrich Nietzsche, ordentl. Professor der classischen Philologie daselbst, einige keineswegs schchterne Versuche, diese Species von Professoren zu neuem Leben und zu gesammeltem Widerstand gegen unseren Zeitgeist zu erwecken. Herr Nietzsche geht in diesem geschmackvollen Streben sogar weit rcksichtsloser zu Werke, als der kleine Untersextaner, dem Heinrich Heine vor fnfzig Jahren vor den Thoren Gçttingens begegnete. Der kleine Mann verachtete doch nur das einzelne Individuum, das mensa nicht decliniren konnte. Aber Herr Nietzsche spricht dem ganzen deutschen Volke schlechthin die Kultur ab und erklrt uns mit grçßter Bestimmtheit fr „Bildungsphilister“ und „Barbaren“, weil wir die klassischen Formen seiner ersten Declination uns seiner Ansicht nach nicht angeeignet haben. Das ist so zu verstehen: Herr Nietzsche ist nmlich – er mag uns verzeihen, daß wir das nicht als bekannt voraussetzen – ein glhender Verehrer der Philosophie Schopenhauers. Das ist an sich nichts Unnatrliches. Schopenhauer gehçrt bekanntlich zu den Philosophen, welche eine nicht allzu freudige Lebensanschauung besaßen, daß sich der ordentliche Professor der classischen Philologie an der Universitt Basel dem Meister Schopenhauer in dieser Hinsicht gleichgestimmt fhlt, ist nicht auffallend, noch weniger sittlich verwerflich. Es liegt ja kein Grund zu der Annahme vor, daß Schopenhauer selbst, wenn er etwa Professor der klassischen Philologie in Basel gewesen wre, sich einer freundlicheren Weltanschauung zugeneigt htte. Daß Herr Nietzsche die strengen Anschauungen Schopenhauers ber Kultur und Nichtkultur theilt, ist gleichfalls seine Sache, kein Grund zu Vorwrfen Seiten Dritter. Aber Herr Nietzsche spricht uns deßhalb weil das moderne Leben Deutschlands zu seiner Privatdefinition von Kultur nicht paßt, einfach die Kultur und alles hçhere nationale Leben ab. Er weissagt uns, daß „der Wahn, ein kultivirtes Volk zu sein,“ – den Herr Nietzsche erst seit unserm Sieg gegen Frankreich an uns bemerkt hat – „im Stande ist, unseren Sieg in eine vçllige Niederlage zu ver-
324 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung wandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,deutschen Reiches‘.“ Wenn ein Professor so etwas ber uns drucken lßt, und – sogar einen Verleger in Deutschland findet – so wird es Zeit, unsere Ansichten darber auszutauschen, ob bei dem Herrn Verfasser die Unkenntniß unserer Verhltnisse oder die Anmaßung im Urtheilen ber dieselben grçßer ist, und welche mildernden Umstnde oder welche Grnde verminderter Zurechnungsfhigkeit fr denselben etwa sich geltend machen lassen. Jede psychiatrische Beobachtung wird nur dann auf Erfolg hoffen drfen, wenn sie die Ursache der geistigen Stçrung zu entdecken vermag. Herr Friedrich Nietzsche bekennt diese Ursache ganz offen, und mit jenem Stolze, mit welchem die fixe Idee von ihren Inhabern meist bekannt wird. Er ist an unsrer Kultur irre geworden, weil seine Definition von Kultur nicht auf Deutschland paßt oder vielmehr umgekehrt, weil die deutsche Kultur so ungezogen ist, nicht zu Herrn Nietzsche’s Definition zu passen. Denn Kultur ist nach Nietzsche „vor Allem Einheit des knstlerischen Stiles in allen Lebensußerungen eines Volkes.“ Diese besitzen wir aber nicht. Warum nicht? Weil wir nicht wie Nietzsche denken, sprechen, schreiben und – schimpfen. Das Schimpfen scheint sogar die eigentliche fine fleur der Nietzsche’schen „Einheit des knstlerischen Stiles“ und damit der „Kultur“ auszumachen. Denn es ist selten auf hundert Seiten so viel geschimpft worden, als von Herrn Nietzsche in seinen „Unzeitgemßen Betrachtungen“163 die uns zu diesen Zeilen Veranlassung geben. Ein Hauptkennzeichen unsrer Kulturlosigkeit findet der klassische Professor aber darin, daß das Buch von Strauß „Der alte und der neue Glaube“ in Deutschland Anerkennung gefunden hat, und berhaupt gelesen worden ist. Er gibt sich daher alle erdenkliche Mhe, uns zu beweisen, daß dieses Buch ein in jeder Hinsicht „nichtswrdiges“ Fabrikat sei; ohne alle Piett und Logik, ohne Wrde und Wissenschaft und vor Allem – was fr die Declinatoren von mensa immer die Hauptsache ist – „nichtswrdig stilisirt.“ Was uns anlangt, so erachten wir die Frage, welchen Werth „Der alte und der neue Glaube“ von David Strauß beanspruche, und in wie weit Herr Nietzsche in seinen Vorwrfen gegen dieses Buch Recht habe oder nicht, gar nicht hierher gehçrig, vçllig ungeeignet, einen Beweis fr oder gegen das allgemeine Kulturleben unsrer Nation zu liefern. Daß David Strauß ungleich Bedeutenderes geschrieben hat, darf als ausgemacht gelten; fr ebenso ausgemacht aber, daß sein jngstes Werk, wie alle seine Schriften, bei weitem das Maß des Gewçhnlichen berragt. Das gibt ja Herr Nietzsche indirect selbst zu, indem er, der eigentlich latente Trger der deutschen Kultur, der „einheitliche“ klassische Stilist, sich auf hundert Druckseiten mit diesem Buche beschftigt. Mit absolut „Nichtswrdigem“ beschftigen sich 163 Unzeitgemße Betrachtungen von Dr. Friedlich Nietzsche, o. Pr. der klass. Philologie an d. Univ. Basel. Erstes Stck: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig, F. W. Fritzsch.
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so große Geister doch nicht. Auch die wiederholten starken Auflagen, die Strauß’ „neuer Glaube“ erlebte, kann man dem Kulturunternehmer Nietzsche nicht als Beweis fr unsern Kulturstandpunkt gelten lassen. Denn wer wollte leugnen, daß den „unzeitgemßen Gedanken“ des Verfassers eine gleich starke Verbreitung bevorsteht, wenn er als „Bekenner und Schriftsteller“ die Eigenschaften alle besitzt, die er an dem armen David Strauß vermißt. Indem Herr Nietzsche aber unsere Kulturlosigkeit an dem Beifall mißt, den das Buch von Strauß gefunden, verschweigt er bçslicher Weise, daß unter allen Kritiken und Schriften, welche David Strauß’ Buch hervorgerufen hat, die abflligen Urtheile den beiflligen nach Zahl und Gehalt mindestens die Wage halten. Diese abflligen Urtheile gehçren – wenn man einmal das Erscheinen und die Wirkung des Strauß’ schen Werkes als Kulturmesser gelten lassen will, doch so zu sagen auch mit zum Facit. Ja, wenn es Herrn Nietzsche auf Wahrheit angekommen wre, so htte er gestehen mssen, daß die deutsche Kritik – und keineswegs blos die theologische, wie er behauptet – dem letzten Werke von Strauß gegenber weit mehr ihre Schuldigkeit gethan hat, als gegenber seinem Buche ber Voltaire, daß wir mithin nach Nietzsche einen Kulturfortschritt documentirt htten. Die Thorheit allein, welche ein ganzes großes Volk in allen seinen ethischen Beziehungen nach dem Erfolge charakterisiren will, den die Schrift eines einzelnen Philosophen aufzuweisen hat, wrde uns indessen nicht veranlaßt haben, ber Herrn Nietzsche’s Pamphlet ein Wort zu verlieren. Wohl aber zwei andere Erwgungen, die sich gleich bei dem „ersten Stck“ dieser „Unzeitgemßen Betrachtungen“ aufdrngen, und welche sicherlich alle gebildeten Mnner innerhalb und außerhalb Deutschlands – namentlich auch in der Schweiz – mit uns theilen werden. Es ist unseres Wissens das erste Mal, daß ein Hochschullehrer, der Lehrer und Bildner der hçchstgebildeten Jugend seiner Stadt, in der Form, wie es hier geschieht, an einem Manne Kritik bt, dem er doch selbst zugestehen muß: „es gab einen Strauß, einen wackeren, strengen und straffgeschrzten Gelehrten, der uns eben so sympathisch war, wie jeder, der in Deutschland mit Ernst und Nachdruck der Wahrheit dient und innerhalb seiner Grenzen zu herrschen versteht.“ Herr Nietzsche ist allerdings fr unacademische Allren durch die Natur insofern begnstigt, als er – wie wir hçren durch ein Kunststck Ritschl’s und durch die diesem Kunststck entsprechende Gemchlichkeit der guten Basler – vom Studiosus der Philologie direkt zu deren ordentlichem Professor avancirt ist. Allein das entschuldigt die Schreibweise Nietzsche’s noch lange nicht, da sie einer Bildungsstufe angehçrt, die schon mit dem akademischen Studium, geschweige denn mit dem akademischen Lehramt, absolut nichts gemein hat. Es kann hier nicht der Platz sein, unsern Lesern viele Beispiele von dieser Schreibweise zu geben. Es wird an einem gengen, welches die Rohheit des Angreifers wenigstens andeutet. Es heißt da, zur Charakterisirung von
326 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Strauß und seiner Anhnger: „Der Leichnam ist fr den Wurm ein schçner Gedanke und der Wurm ein schrecklicher fr jedes Lebendige. Wrmer trumen sich ihr Himmelreich in einem fetten Kçrper, Philosophieprofessoren im Zerwhlen Schopenhauer’scher Eingeweide, und solange es Nagethiere giebt, gab es auch einen Nagethierhimmel. Damit ist unsere erste Frage: Wie denkt sich der neue Glubige seinen Himmel? beantwortet (!). Der Straußische Philister haust in den Werken unserer großen Dichter und Musiker wie ein Gewrm, welches lebt, indem es zerstçrt, bewundert, indem es frißt, anbetet, indem es verdaut.“ Der Leser wird gerne auf eine große Reihenfolge gleich wster oder noch wsterer Belegstellen verzichten. Wir fhlen uns also zunchst gedrungen, gegen eine solche Herabwrdigung çffentlicher Polemik unter Gelehrten nachdrcklichst Verwahrung einzuzulegen. Es ist uns nicht zweifelhaft, was in Deutschland in solchem Falle geschhe; nicht Seiten der Behçrden, aber Seiten der Collegen des Menschen, der also schriebe, whrend er im akademischen Lehramt ist. Sollte sich Herr Nietzsche in Basel vor einer gleichartigen Stimmung der Collegen so ganz sicher fhlen? Wir wagen es nicht zu entscheiden. Aber wenn man auch nur die Mçglichkeit eines derartigen Schrittes ins Auge faßt, so erscheint das zweite Aergerniß, das uns Deutschen die Schrift bieten muß, die Gehssigkeit des Verfassers gegen deutsches Staats- und Gesellschaftsleben, in einem ganz eigenthmlichen, man kçnnte fast sagen strategischen Lichte. Die ganze Anlage der Schrift zwingt die Vermuthung auf, daß Herr Nietzsche sich gerade von seiner tendenziçsen Herabwrdigung Deutschlands einen besonders gnstigen Eindruck verspricht. Er tritt nirgends zuversichtlicher auf – und ein Mangel an Dreistigkeit ist doch sonst sein Fehler nicht – als wenn es gilt, uns Deutsche als vçllig kulturlos, bildungslos, und berhaupt verwahrlost hinzustellen, uns jedes Geschick zur Schriftstellerei, Kunst, Wissenschaft, jeden Geschmack und Stil, u.s.w. abzusprechen, unser Staatsbewußtsein, unsre Siege, kurz alles was dem Deutschen theuer ist, zu verhçhnen. Man kann wohl darber schwanken, was Herrn Nietzsche bei seinem Pamphlet eigentlich die Hauptsache gewesen sei, der Angriff gegen Strauß oder die Verunglimpfung Deutschlands – beinahe htten wir gesagt seines Vaterlandes. Zufllig ist die Ausdauer Herrn Nietzsche’s in der Herabwrdigung Deutschlands keinesfalls. Denn wie kann man erstens bei einem so großen Stilknstler die Einwirkung des blinden Zufalls berhaupt fr mçglich halten? Und zweitens wie kommt es, daß die Herabziehung Deutschlands gleich zu Anfang der Schrift und dann auch in der Polemik gegen Strauß so sehr in den Vordergrund tritt? Oben schon ist hervorgehoben worden, daß Herr Nietzsche prophezeit, „der Wahn, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe (gegen Frankreich) gesiegt habe, ist hçchst verderblich, weil er im Stande ist, unseren Sieg“ – bitte, welchen Antheil hatte doch Herr Nietzsche an diesem Sieg? – „in eine vçllige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,Deutschen Reiches‘.“
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Herr Nietzsche schreibt das „Deutsche Reich“ in Anfhrungszeichen, wie andere Citate anderer Leute, an die er nicht zu glauben vermag. Was soll das fr einen Sinn haben – namentlich bei diesem scharfen Bewußtsein der eigenen Verantwortlichkeit des einheitlichen Stilisten? Was wrde Herr Nietzsche sagen, wenn wir Schopenhauer, Richard Wagner oder ihn selber immer in Gnsefßchen aufmarschiren ließen? Herr Nietzsche wird uns gestatten, anzunehmen, daß seine Gnsefßchen beim „Deutschen Reich“ einfach bedeuten sollen, daß er dieses Ungethm bis jetzt nicht anerkennt. Er erfreut sich dabei der ihm herzlich gegçnnten Genossenschaft der Herren Johann Jacoby, Bebel-Liebknecht und des alten Ewald. Das ist aber bei weitem nicht der einzige Beweis seiner bedeutsamen Abneigung gegen unsern Staat. Schon der Gegensatz des „deutschen Geistes“ mit dem „deutschen Reich“ – von welchen Begriffen der erstere der bei weitem hçhere sein soll, derjenige, der von dem „Kulturphilister“ und „Barbaren“, d. h. eben dem „deutschen Reich“, brutal mit „Exstirpation“ bedroht wird, weiht uns in Nietzsche’s internationale Kultursphre ein. Dann wendet er sich allerdings zunchst der klassischen Exstirpation des Bekenners und Schriftstellers Strauß zu – aber immer ist das Heftigste, was er gegen ihn und seine Anhnger hervorbringen kann, gemnzt gegen die Errungenschaften der deutschen Nation, die mit soviel Blut und Heldenmuth gewonnen und von der ganzen Welt, mit Ausnahme des Hrn. Nietzsche als solche anerkannt werden. Wenn Herr Nietzsche in Basel recht verchtlich von Strauß reden will, so wirft er ihm „seine Rckenkrmmungen vor den deutschen Zustnden vor, vor allem aber seinen schamlosen Philister-Optimismus“, den Herr Nietzsche „nur aus gewissen frheren Jugendeindrcken, Gewohnheiten und Krankheitsphnomenen erklren“ kann. Wir Deutsche nennen diese Jugendthorheiten und Krankheitsphnomene Liebe zum Vaterland und Hingebung an unsern Staat, und erklren mit Freuden Herrn Nietzsche vollstndig frei von diesen Verirrungen, da er an einer anderen Stelle seiner Schrift sich „unter dem lebendigen Antheil an der Aufrichtung des deutschen Staates“ ja doch nichts zu denken, oder wie er selbst sagt nichts „mehr zu verstehen weiß, als unsere tglichen Besuche im Bier-Haus!“ Und wenn Herr Nietzsche am Schlusse seines Pamphlets uns „aller Entrstung zum Trotz in’s Gesicht sagt, daß unsre Kultur verlernt habe, zwischen lebendig und todt, cht und uncht, original und nachgemacht, Gott und Gçtze zu unterscheiden“ und uns versichert: „daß ihr der gesunde, mnnliche Instinkt fr das Wirkliche und Rechte verloren gegangen sei,“ so greifen wir uns an die Stirn, wie wenn wir im Narrenhaus wandeln oder die Proklamationen des linken Flgels der Fortschrittspartei lesen. Und wir fragen uns: Wann ist Deutschland jemals grçßer, gesnder, des Namens eines Kulturvolkes wrdiger gewesen als heutzutage? Welches Ereigniß ziert die nationale Geschichte in hçherem Grade, die Berufung des Herrn Nietzsche als ordentlichen Professors
328 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung der klassischen Philologie an die Universitt Basel, oder die Aufrichtung des deutschen Reiches? Herr Nietzsche antwortet auf alle diese Fragen in einem unsrer „Kultur“ und unserm nationalen Gefhl direct entgegengesetzten Sinne. Bçses Deutschland, womit hast du den Zorn deines großen Sohnes verschuldet? Bessre dich! Reaktionen Franz Overbeck an Heinrich von Treitschke, 23. 10. 1873: „Was mir aber noch heute diese Zeilen abdringt ist, dass ich es nur gestehe, Besorgniss, ernstliche Besorgniss um Deine Meinung ber meine Streitschrift und die Nietzsche’s. Ueber jene habe ich noch immer Dein Schlussurtheil nicht, ber diese, die ich Dir im Auftrage des Verfassers bersandte, hast Du noch gar nichts verlauten lassen. Um unserer Freundschaft willen habe ich aber Niemanden unter denen, welchen ich meine Schrift zugesandt, um deren Meinung es mir so zu thun wre wie um die Deine, und auch mit den Anschauungen des Nietzsche’schen Buchs fhle ich mich, wie ich Dir sagte, solidarisch. Dein Schweigen weiss ich mir aber nicht zurechtzulegen. Denke ich mir auch etwa, es sage Dir unsere trbe Anschauung von den deutschen Dingen nicht zu, so msste ich doch gar zu ernstliche Verstimmung voraussetzen, um damit Dein Schweigen zu erklren, und Du begreifst, dass sich in mir Alles bumt, ehe ich mich zu solcher Erklrung entschliesse. Wie viele der schçnsten Lebenserinnerungen wrden mir mit einem Schlage zu schmerzlichen verwandelt, wenn Du hier nichts von mir wissen wolltest! Insbesondere sehe ich, so wie ich Dich und Nietzsche kenne, von letzterem auch seine Meinung ber Dich, keinen Grund ein, der Euch feindselig trennte, so bald Ihr Euch nur als Menschen anshet. Denn davon bin ich doch wieder berzeugt, dass Du ber Nietzsche’s Betrachtungen nicht so denkst, wie neulich ein ebenso stumpfsinniger als perfider Artikel der Grenzboten. Denn das wage ich, ungeachtet der eigenthmlichen Lage, in welcher ich das Buch als Freund des Verfassers und ber ihn also vollstndig unterrichtet, gelesen habe, ganz allgemein zu behaupten: Man muss ja ein fhlloses Vieh sein, um aus einem Buch wie den Unzeitgemssen Betrachtungen nicht die tiefste, ernsteste, ursprnglichste Theilnahme im deutschem Wesen und deutscher Grçsse und vielmehr Hohn ber diese Dinge herauszuhçren. Gerade aus diesem Grenzbotenartikel, den Du freilich vielleicht noch nicht kennst, weht dem Leser in der drckendsten Weise die Stickluft entgegen, welche, wenn wir Deutschen nicht alle Krfte und Aufmerksamkeit anspannen, mit rasender Schnelligkeit sich aus den nivellirenden Tendenzen unserer gegenwrtigen Scheinbildung zu entwickeln droht.“ Overbeck, Franz (2008): Werke und Nachlaß. Briefe. Bd. 8. Weimar, S. 87 f
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N an Erwin Rohde, 25. 10. 1873: „Lies doch die Grenzboten und den neuen Artikel ,Herr Friedrich Nietzsche und die deutsche Kultur‘.“ KGB II/3, Bf. 322, S. 172 N an Carl von Gersdorff, 27. 10. 1873: „Die grnen Hefte der ,Grenzboten‘ haben neulich ein Non plus ultra gebracht unter dem Titel ,Herr Friedrich Nietzsche und die deutsche Kultur.‘ Alle Gewalten sind gegen mich aufgerufen, Polizei Behçrden Collegen, ausdrckliche Erklrung, dass ich an jeder deutschen Universitt in Verschiss gethan wrde, Erwartung, dass man das Gleiche in Basel thut. Mittheilung, dass ich durch ein Kunststck Ritschl’s und die Dummheit der Basler aus einem Studiosus zum ord. Prof. geworden sei usw. Schmhungen auf Basel als ,Winkeluniversitt‘, ich selbst werde als Feind des deutschen Reiches denuncirt, den Internationalen zugesellt usw. Kurz ein wohl zu empfehlendes heiteres Documentum. Schade, dass ich Dir’s nicht zusenden kann. Selbst Fritzsch bekommt einen Tritt: es wird schmhlich befunden, dass ein deutscher Verleger mich genommen habe. Also, liebster Freund, unsre Nr. 1 hat, um mich la Fritzsch auszudrcken, ,Eingang bei dem Publikum gefunden.‘ Neun Basler Zeitungsbltter haben nun ber mich gesprochen in allen Tonarten, und in summa hçchst ernsthaft in Vergleich zu dem Grenzboten-Wtherich und Frevler.“ KGB II/3, Bf. 324, S. 173 f Erwin Rohde an N, 29. 10. 1873: „Grenzboten sehe ich hier nicht: es scheint ja heilloses Zeug drin zu stehen. Von wem denn?“ KGB II/4, Bf. 473, S. 332 Cosima Wagner, 30. 10. 1873: „Nachmittags Begegnung mit Pr Nietzsche auf der Straße – er, vollstndig verfemt, erzhlt Unglaubliches, die Internationale rechne ihn zu den Ihrigen, dazu von einem Grenzbçtler aufgefordert, welcher in einem Aufsatz: Herr Nietzsche und die deutsche Kultur, alles Maß berschreitet und unsern Freund fçrmlich denunziert.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In: Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung, Bd. 2. S. 1149ff
Anonym: Erklrung der Redaktion. In: Die Grenzboten. Leipzig, Bd. 32, Nr. 46 vom 14. 11. 1873, S. 280. In Betreff des Artikels „Herr Friedlich Nietzsche und die deutsche Kultur“ Heft 42 v. 17. Oct. d. J. sind uns mehrfache Briefe von befreundeten Gelehrten der Basler Hochschule zugegangen, welche die Ansicht aussprechen, daß in jenem Artikel die Ehre der Universitt Basel angegriffen worden sei. Wir bedauern mit dem Verfasser lebhaft, wenn der Artikel zu diesem Mißverstndniß Anlaß ge-
330 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung geben hat, glauben aber bestimmt behaupten zu kçnnen, daß diese Auslegung jenes Artikels eine entschieden mißverstndliche ist. Denn wir erkennen mit Freuden an, daß die Stadt Basel, bei 45.000 Einw. mehr fr ihre Universitt thut, als manche grçßere deutsche Stadt, und daß ihr freundnachbarliches Streben, mit der deutschen Wissenschaft in Berhrung zu bleiben, wohl am besten dadurch ausgedrckt wird, daß unter den Professoren viele Deutsche sind. Der in Rede stehende Artikel der Grenzboten hat auch streng unterschieden zwischen dem Lehrkçrper der Hochschule und einem einzelnen Mitgliede, und wird in seiner Verurtheilung des Letzteren untersttzt durch eine Reihenfolge von Artikeln in der in Basel erscheinenden „Schweizer Grenzpost“, die sogar einen Monat vor dem Grenzbotenartikel verçffentlicht und nach dem Erscheinen des letzteren uns zugesendet wurden. N an Eugen Kretzer164, 20. 11. 1873: „Aber ich merke schon, dass es anderswo anders steht – rgern Sie sich nur nicht darber und gewçhnen Sie sich nur immerhin solche Sachen wie etwa den Grenzboten-Artikel als !di²voÂa [etwas gleichgltiges] zu lesen. Ernst bei Seite, mein Verleger freute sich sehr ber den Artikel.“ KGB II/3, Bf. 328, S. 179 N an Erwin Rohde, 21. 11. 1873: „Ich mçchte doch, dass Du einmal den Grenzpostenartikel lesest, als erheiterndes Curiosum: so was brauchen wir jetzt mitunter. Der Stier und der rothe Lappen. Dr. Fuchs165 wollte eine Gegenschrift schreiben, Rathsherr Vischer çffentlich protestiren, es war Mhe nçthig die Menschen zu beschwichtigen. Basel als ,Winkeluniversitt‘ ist seitdem hier zum Hohne sprichwçrtlich geworden und war das Schlagwort der Tischreden bei der Rektoratsfeier.“ KGB II/3, Bf. 330, S. 181 N, Ecce homo, Oktober 1888: „Das Unanstndigste leistete ein Leipziger Blatt, die berchtigten ,Grenzboten‘; ich hatte Mhe, die entrsteten Basler von Schritten abzuhalten.“ KGW VI/3, S. 315
164 Eugen Kretzer (1848-?), Dr. theol., Student Nietzsches in Basel. Spter lebte er zeitweise in Frankfurt a. M., 1873 – 79 in Bonn-Bad Godesberg. 165 Carl Dorius Fuchs (1838 – 1922), Pianist und Musikschriftsteller. berzeugter Schopenhauerianer, Freund und Briefpartner Nietzsches, vgl. das Rezensentenverzeichnis.
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Hoffmann, Franz: Zur Kritik von David Strauß. In: Allgemeiner literarischer Anzeiger fr das evangelische Deutschland. Gtersloh, Bd. 12, 1873, S. 321–336 (November) und S. 401–407 (Dezember). Auch in: Hoffmann, Franz: Philosophische Schriften, Bd. 5, Erlangen 1878, S. 410–447. Zur Kritik von David Strauß: „Der alte und der neue Glaube. Unzeitgemße Betrachtungen von Dr. Friedrich Nietzsche. O. Prof. der classischen Philologie an der Universitt zu Basel. Erstes Stck: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig, 1873. Fritzsch. l thlr.166 In zwçlf Abschnitten unterwirft der Verfasser die jngste Schrift von David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube, (oder genauer den Inhalt eines 166 Unter den zahlreichen Entgegnungen, welche das neueste Strauß’sche Werk innerhalb eines Jahres seit seinem Erscheinen hervorgerufen hat, ist die hier genannte unzweifelhaft eine der originellsten und gehaltvollsten, weßhalb wir sie fr vorzugsweise dazu geeignet halten, als Anknpfungspunkt fr eine eingehendere Orientirung ber die es betreffende Controverse zu dienen. Von sonstigen bemerkenswerthen Erzeugnissen der neuesten Anti-Strauß-Literatur nennen wir hier: Dr. H. Ulrici, Der Philosoph Strauß; Kritik seiner Schrift: „Der alte und der neue Glaube“ und Widerlegung seiner materialistischen Weltanschauung. Halle, Pfeffer, (10 sgr.) Dr. Joh. Huber, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß von David Friedrich Strauß, kritisch gewrdigt. Nçrdlingen, Beck. (12 sgr.) (vgl. die Anzeigt dieser beiden Schriften im Junih., S. 448 d. Jahrg.) Dr. Ludwig Weis, Der alte und der neue Glaube – ein Bekenntniß als Antwort auf David Friedrich Strauß, Berlin, Henschel (24 sgr.) (vgl. Septemberh., S. 192 ff.) Dr. Ed. Zirngiebl, Der neue Glaube des David Friedrich Strauß, ein naturwissenschaftlicher Aberglaube. Kritisch beleuchtet. Ebendas. (12 sgr). (wird demnchst noch nher besprochen werden) L. W. Rauwenhoff u. F. Nippold, David Friedrich Strauß’ alter und neuer Glaube und seine literarischen Ergebnisse. Zwei kritische Abhandlungen. Leipzig, Richter und Harrassowitz (l thlr. 10 sgr.). J. Frohschammer, Das neue Wissen und der neue Glaube. Leipzig, Brockhaus (1 Thlr.) H. Lang, Zur kirchlichen Situation der Gegenwart. Zwei Vortrge. Zrich, Schabelitz. (10 sgr.). W. Hieronymi, Dr. David Strauß und die religiçse Bewegung der Gegenwart. Wiesbaden, Limbarth (10 sgr.) (die drei letztgenannten Schriften, besonders die letzte, von einem fast ganz und gar Strauß’schen Standpunkte aus) Von hiehergehçrigen Schriften des Auslands verdient Hervorhebung: A. Vera (Italiener), Strauß, l’ancienne et la nouvelle foi. Naples, Detken u. R. (1 Thlr, 20 sgr.). D. Red.
332 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Hauptabschnitts derselben, das 4. Kapitel unter Heranziehung einzelner Stellen aus den brigen Kapiteln) einer Kritik, welche große Beachtung verdient und da sie ganz dazu geeignet ist, Aufsehen zu erregen, sicher auch finden wird. Man kann diese Kritik als eine Art Manifest der Schopenhauerschen Schule gegen die Hegelsche ansehen, wenn anders ein çffentlich ausgesteller (vermeintlicher) Todtenschein noch so genannt werden darf. Was zunchst die Darstellungsart des Verfassers betrifft, so ist schon hier der Einfluß Schopenhauers bemerkbar und zwar in einer Weise, welche die vollste Anerkennung verdient. Der Verfasser hat sich den ausgezeichnet trefflichen Stil Schopenhauers zum Muster genommen, aber nicht sklavisch nachgeahmt, sondern in durchaus eigenthmlicher selbstndiger Weise angeeignet. Sehr zu seinem Vortheile hlt er sich frei von jenen nicht selten bis zum Empçrenden gehenden Heftigkeiten, Schmhungen und leidenschaftlichen Ausfllen, welche die Schriften Schopenhauers verunzieren, whrend er das Drastische seines Meisters noch immer in einem Grade bt, daß Strauß und Genossen wie noch Anderen die Ohren davon gellen werden. Große Freude an der Herstellung des deutschen Reiches beseelt den Verf. offenbar nicht, sonst wrde er im Eingang seiner Schrift den ruhmreichen Sieg Deutschlands ber Frankreich im J. 1870, besonders da derselbe in einem vollauf berechtigten Vertheidigungskrieg errungen wurde, nicht ausschließend von dem Gesichtspunkte aus besprochen haben, daß ein großer Sieg eine große Gefahr sei und daß die Ansicht, welche ihm ein Wahn zu sein scheint, die deutsche Cultur habe in jenem Kampfe gesiegt, im Stande sei, unseren Sieg in eine vçllige Niederlage zu verwandeln, in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reiches.167 Zugegeben daß wie beim Einzelnen so wie bei ganzen Vçlkern großer Sieg große Gefahr im Gefolge hat und daß es gut ist, vor solcher Gefahr zu warnen, so mçchten wir doch vor Allem die Wege und Mittel aufgezeigt sehen, welche jener Gefahr Deutschlands vorbeugen kçnnten und sollten. Die Warnung vor Uebermuth und Selbstberschtzung reicht doch dazu nicht aus, auch wenn sich die deutsche Nation derselben, was gar nicht der Fall ist, schuldig gemacht htte. Wenn die deutsche Nation der Ansicht sein sollte, wie angenommen werden kann, daß nie ein Krieg mit grçßerer Mßigung und zugleich mit grçßeren Erfolgen gefhrt worden sei, so wre das nur die reine Wahrheit und es lge in dieser Ansicht als 167 Vor Allem htte sich fr einen Deutschen (auch da er dem Reich nicht angehçrt) geziemt, daß er der Freude Ausdruck gegeben htte, daß Deutschland in dem frivol gegen dasselbe unternommenen Kriege – zu seiner Beraubung, Zersplitterung und Unterdrckung mit unerhçrten Erfolgen gesiegt hat. Nur in diesem Falle htte der Verf. das Recht gehabt, vor den Gefahren des gewaltigen Sieges zu warnen, whrend er sich ohne diesen Ausdruck der Freude dem Verdacht aussetzt, an den Gedanken zu streifen, die Niederlage wre ein herrliches Mittel gewesen, den Gefahren des Sieges grndlich vorzubeugen.
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solcher nicht die Spur einer Uebertreibung oder einer Selbstberhebung.168 Es darf der deutschen Nation nicht als Uebermuth angerechnet werden, daß sie sich davon berzeugt hlt, nicht sowohl der Sieg berhaupt, als vielmehr die Grçße des Sieges sei die Folge der weit aus grçßeren Summe der moralischen Krfte Deutschlands und der viel geringeren Frankreichs gewesen. Man stelle sich vor, Frankreich wre Deutschland an moralischen Krften ebenbrtig gewesen, so htte die deutsche Uebermacht allenfalls einige Siege erfochten, aber viel mehr als ein ehrenvoller Frieden wre sicherlich nicht erreicht worden. Eine solche Ebenbrtigkeit war aber nicht vorhanden und daß sie nicht vorhanden war, kommt auf Rechnung Frankreichs. Die deutschen Zeitungsschreiber mçgen sich da und dort nicht immer in den Grenzen der Mßigung gehalten haben. Ob dem so war, mag hier ununtersucht bleiben. Keinesfalls aber kçnnen sie als der Mund der deutschen Nation betrachtet werden. Der Mund der deutschen Nation war vielmehr der oberste Kriegsfhrer, der Kçnig von Preußen, der jetzige Kaiser der Deutschen, dessen Schlachtberichte wegen ihrer strengen Wahrheit, Mßigung und aufrichtigen Weise, Gott die Ehre zu geben, in ganz Deutschland mit hçchster Anerkennung aufgenommen worden sind. Das war nun freilich nicht nach dem Sinn und Herzen der Schopenhauerianer, um so mehr aber im Sinne der deutschen Nation. Im wesentlichen Einklang mit der Mßigung der kurzen Schlachtberichte des obersten Kriegsherrn der Deutschen steht die Darstellung des deutsch- franzçsischen Kriegs 1870 – 1871 von Seiten k. pr. Großen Generalstabs (bis jetzt 4 Hefte) und keines der zahlreichen Werke ber diesen Krieg, welche von Officieren und Geschichtschreibern ausgegangen sind, hat unseres Wissens einen bermthigen Ton angeschlagen. Befremdend lautet daher die Behauptung des Verfassers, es htten in diesem Kriege nicht zwei Culturen mit einander gekmpft, was man deutsche Cultur nenne, habe nicht einmal an dem Waffenerfolge mitgeholfen und nur, verwundersam genug, nicht hemmend gewirkt, „vielleicht nur, weil dieses Cultur sich nennende Etwas es fr sich vortheilhafter erachtete, sich diesmal dienstfertig zu erweisen.“169 Man kann der deutschen Cultur, und jeder andern 168 Die Zurckforderung des Elsasses und Deutsch-Lothringens war vom nationalen wie vom kriegsrechtlichen Gesichtspunkte aus gerechtfertigt. Die Auflage der 5 Milliarden hat Deutschland lange nicht die Verluste gedeckt, welche ihm der frivol unternommene Krieg verursacht hat. 169 Ob sich Schopenhauerischer Geist, wenn er in nennenswerthem Maaße vorhanden gewesen wre, dienstfertig erwiesen haben wrde, kann allerdings fraglich sein, nicht aber, daß sich dienstfertig erwiesen hat, was von Kantischem, Fichteschem, Schellingschem, Hegelschem Geiste (wie diese Geister auch sonst beschaffen sein mochten) in Deutschland vorhanden war. Mit Schopenhauerischem Stil wenigstens gewinnt man keine Schlachten und mit Schopenhauers quietistischen Geiste wrde man nur Niederlagen erzielen. Es ist nicht ununbedenklich, daß der Verf. mit einem Theile der
334 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung wahrscheinlich noch mehr, Mngel nachweisen und auf deren Abstellung dringen und wirken, aber man darf der deutschen Nation nicht ins Angesicht Cultur, ja selbst nicht einen hçheren Grad von Cultur, absprechen und kann nur mit vollkommenem Unrecht behaupten, daß in Deutschland der reine Begriff der Cultur verloren gegangen sei. Nach dem Verf. htte Deutschland nie eine Cultur gehabt und wre dieß wahr, so bliebe es unbegreiflich, wie gleichwohl in Deutschland wenigstens der Begriff der Cultur htte gewonnen und wieder verloren werden kçnnen. Geht nun der Verf. endlich daran, uns zu sagen, was er unter Cultur versteht, so wird Niemand mit dieser Definition zufrieden gestellt werden. Cultur ist, sagt er (S. 5), vor Allem Einheit des knstlerischen Stiles in allen Lebensußerungen eines Volkes. Aber wir wollen nicht wissen, was Cultur, vor Allem, sondern was sie in Allem, ist. Was er angibt, ist im besten Falle die Form der Cultur, sagt uns aber nichts ber den Inhalt derselben, worauf es doch mindestens ebenso sehr und im Grunde noch mehr ankommt.170 Das Hçchste wre freilich die innige Durchdringung von Form und Inhalt der Cultur. Aber wo ist denn diese im Großen und Ganzen bis jetzt zu finden! Nirgends. So lange dies der Fall ist, wird ein wesentlich gediegener Inhalt, der noch der vollkommenen Form entbehrt, weit vorzuziehen sein einer wenn auch glnzenden Form, welche von geringerm inhaltlichen Werthe ist. Weit eher wird der gediegene Inhalt sich seine angemessene Form erzeugen, als die mehr oder minder hohle Form sich gediegenen Inhalt schaffen wird. Wer dieß auf Deutschland und Frankreich anwenden will, wird in den richtigen Folgerungen nicht leicht fehlen kçnnen. Daß unter den deutschen Gebildeten, wie d. V. berichtet, die grçßte Zufriedenheit mit dem Grade errungener Bildung herrsche, haben wir nicht finden kçnnen, noch weniger aber haben wir die angebliche Zufriedenheit unter den deutschen Gelehrten gefunden, die, wenn auch nach zum Theil sehr abweichenden Idealen und Unidealen, rastlos vorwrts streben und schon damit beurkunden, wie weit sie davon entfernt sind, sich und uns Alle bei unberschreitbarer Vollkommenheit der Bildung angelangt zu glauben. Feinde des deutschen Reiches; den Rothen, augenscheinlich sympathisirt, vielleicht nicht aus Schopenhauerschen Mitleid, und daß er an diesem Orte weder ein Wçrtchen ber sein spter hochgepriesenes Recht des Strkeren, noch ber die klgliche Misere der politischen Parteien und Zustnde in Frankreich verliert. 170 Der Schopenhauerische Stil ist dem Verf. offenbar zu Kopf gestiegen und verblendet ihn ber den Werth des Stils im Verhltniß zum Gehalte eines Gedankensystems. Klassischer Stil wird auch bei unerfreulichem Inhalt berall Werthschtzung finden, aber hçchsten Werth erlangt er doch nur dann, wenn er mit dem gediegensten Inhalt vermlt ist. Es gibt Schriften von sehr gediegenem Inhalt bei schlechtem oder doch minder gutem Stil und Schriften von vorzglichem oder doch gutem Stil bei wenig bedeutendem, oder ziemlich geringem, oder sogar schlechtem Inhalte. Wie wenig bedeutet besten Falls in der Weltgeschichte Schopenhauer gegen einen Jesaias, einen Apostel Paulus, Hamann, einen Baader!
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Das Streben nach Wahrheitserkenntniß zersplittert sich nun freilich in Deutschland ins Ungemessene. Die tiefsten und flachsten Richtungen des Denkens durchkreuzen sich in bunter Mischung und gerade die große Mehrheit derjenigen, welche am meisten auf die Freiheit des Denkens pochen, geht im Schlepptau flacher Systeme oder halb ausgebildeter Weltbetrachtungen einher. Verdient diese Gattung von Menschen in Deutschland den Namen Bildungsphilister, womit sie der Verfasser belegt, so fragt es sich, ob er gerecht verfhrt, wenn er sie wenigstens vorwiegend in der Hegel’schen Schule gefunden haben will. Nach stark in Caricatur auslaufenden Schilderungen deutscher Bildungszustnde unterwirft der Verf. nicht etwa Hegels Philosophie einer wissenschaftlichen Kritik, sondern wirft sich gleich mit souverner Verachtung auf die bekannte Behauptung Hegels von der Vernnftigkeit alles Wirklichen, ohne zu untersuchen, welche Stellung diese Behauptung im Hegelschen Systeme einnehme und in welchem Sinne sie zu verstehen ist. Es gengt ihm die platteste Auslegung, nach welcher er denn nicht sumt, in jener Hegelschen Behauptung ein koisch verhlltes Philisterbekenntniß zu entdecken. Es ist nur zum Verwundern, daß der Verfasser sich nicht erinnert, daß, wenn jene Behauptung Hegels den ihr beigelegten Sinn htte, sie nichts Platteres, nichts Philisterhafteres sagen wrde, als was auch Schopenhauer mit seiner famosen Leugnung aller Geschichte behauptet hat. Die Hegel und Schopenhauer gemeinsame Plattheit liegt in der Leugnung der Persçnlichkeit des Absoluten171 welche bei Schopenhauer eher noch schrfer als bei Hegel ausgeprgt ist und welche unausweichlich beide Denker schließlich zur Leugnung aller wahrhaften Geschichte treiben mußte. Wer die Persçnlichkeit Gottes leugnet, kann auch in der Welt keine Persçnlichkeit mehr anerkennen und mit der Leugnung persçnlicher Wesen fllt alle wahrhafte Geschichte und bleibt nichts weiter als gleichgltige Vernderung bestehen. Daß es unter diesen Umstnden mit den Bemngelungen Schopenhauers, wie sie „der typische Philister“ David Strauß vorbringt, nicht viel auf sich hat, muß jedem Denkenden einleuchten, eben weil Hegel, Strauß und Schopenhauer an demselben Strange, der Leugnung aller wahren Persçnlichkeit, ziehen und, wenn der Verfasser sich zu Schopenhauer gesellt, wie frher Strauß sich zu Hegel gesellte, so unterliegt er der gleichen Verurtheilung. Er steht dann nicht dem Philisterthum entgegen, sondern er spielt es nur in einer andern, leicht noch seltsameren Form mit durch. Der Verf. hat nicht 171 Wir sind verpflichtet zu bemerken, daß dieß nach der Auffassung des linken Flgels der Hegelschen Schule, die wir im Wesentlichen fr die richtige halten, gesagt ist. Der rechte Flgel der Hegelschen Schule und das Centrum rumen diese Auffassung bekanntlich nicht ein. Wir, unsererseits, kçnnen ihnen aber nicht beistimmen, aus Grnden, die wir in mehreren Artikeln dargelegt haben (im Allg. lit. Anzeiger, in der Neuen Zeit von v. Leonhardi, in W. Hoffmanns „Deutschland“ und anderwrts). – Hegel bemht sich – im Gegensatz zu Schopenhauer ungemein, der Geschichte objektive Bedeutung zu vindiciren, aber dieß steht im Widerspruch mit seinen pantheistischen Voraussetzungen.
336 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Unrecht, in der Aeußerung Fr. Vischers: „er (Hçlderlin) konnte es nicht ertragen, daß man noch kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist“, einen Selbstverrath und ein cynisches Wort zu finden, aber das beweist nicht, daß in den Schriften Schopenhauers sich nicht noch viel Cynischeres finde. Auch das Bekenntnißbuch des David Friedrich Strauß wird von dem Verf. als cynisch bezeichnet. Wir widersprechen um so weniger, als Strauß nicht eigentlich mehr die Lehre Hegels, sondern den grellen Cynismus Feuerbachs vortrgt, der im Handumdrehen sich aus dem Hegelianismus entpuppt hatte. Nicht mit Unrecht tadelt der Verfasser den Mißgriff „des typischen Philisters“ der Welt sein Glaubensbekenntniß vorzulegen, anstatt ihr von seinem Wissen oder doch von dem, was er fr sein Wissen hielt, Kunde zu geben. Was der Verf. an die Stelle des Philisterhaften, welches er bei Strauß findet, setzen wrde, wenn er bei Leugnung der gçttlichen und menschlichen Persçnlichkeit aus ihm herauskommen kçnnte, verrth er deutlich da, wo er (S. 20) von den „Wir Anderen“ (Schopenhauerischen und Gesinnungs-Verwandten) spricht, welche keineswegs unzufrieden gewesen sein wrden, wenn es bei Strauß ein wenig satanischer zuginge. Schçne Aussicht fr die Wissenschaft, wem das Philisterhafte durch Satanisches ausgetrieben werden soll! Wre es vom Verf. auch nur ironisch gemeint, um die Impotenz des von einigen Harmlosen fr einen Denker gehaltenen Strauß zu bezeichnen, so wrde das Gesagte doch anstçßig bleiben. Daß sich indeß Strauß selbst das Zeugniß der Impotenz ausstellt, wenn er, der Atheist, erklrt, die Zeit die Religion der Zukunft zu grnden, sei noch nicht gekommen, es falle ihm nicht einmal ein, irgend eine Kirche zu zerstçren, muß dem Verf. zugegeben werden. Mit Recht verspottet er ihn mit der Frage: „Warum nicht, Herr Magister? Es kommt nur darauf an, daß man’s kann“. Nur mssen wir hinzufgen, daß wir in dem Verfasser die gleiche Impotenz vorfinden. Wenn er so fortfhrt, wie er mit der vorliegenden Schrift angefangen hat, kann er allenfalls zerstçren, aber bauen kann er nichts. Daß Strauß erklrt, keine Kirche zerstçren zu wollen, ist nur Heuchelei. Er hat nicht bloß zerstçrt und zerstçrt noch, sondern er wollte und will auch zerstçren, nur soll das fr ihn so ungefhrlich und so bequem als mçglich abgehen. Dies lßt auch der Verf. nicht unbemerkt und verspottet ihn wieder mit Recht, wenn er trotz seiner großen Prtensionen doch kleinmthig eingesteht, „daß der Wagen, dem sich meine werthen Leser mit mir haben anvertrauen mssen, allen Anforderungen entsprche, will ich nicht behaupten; durchaus fhlt man sich bel zerstoßen“. Wir haben insoweit gar nichts dagegen zu erinnern, wenn der Verf. (S. 23) sagt: „der Philister als der Stifter der Religion der Zukunft – das ist der neue Glaube in seiner eindruckvollsten Gestalt; der zum Schwrmer gewordene Philister – das ist das unerhçrte Phnomen, das unsere deutsche Gegenwart auszeichnet“. Der Verf. findet nçthig, diese Schwrmerei unter die Controle der Vernunft zu stellen. Sehen wir zu, wie er das anfngt. „Einstweilen, leitet er seine Untersuchung ein, begehren wir, dieser Vernunft-Controle halber, nur eine ehrliche
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Antwort auf drei Fragen. Erstens: wie denkt sich der Neuglubige den Himmel? Zweitens: wie weit reicht der Muth, den ihm der neue Glaube verleiht? Und drittes: wie schreibt er seine Bcher? Strauß, der Bekenner, soll uns die erste Frage, Strauß, der Schriftsteller, die dritte beantworten“. Die Beantwortung der ersten Fraage luft nun darauf hinaus, daß fr den Leugner eines jenseitigen himmlischen ewigen Lebens nur ein Himmel auf Erden brig bleibe, den Strauß in die rege Beschftigung mit Wissenschaft, Politik, Geschichte und Kunst setze. Die Art wie sich Strauß darber ußert, findet der Verf. nur philisterhaft und ironisirt den Strauß’schen Ausruf: „So leben wir, so wandeln wir beglckt!“ Aber den tieferen Grund, weßhalb dieses beglckte Wandeln des Strauß philisterhaft ist, berhrt der Verfasser nicht. Er wrde sonst die Frage nach dem Zweck des menschlichen Lebens haben aufwerfen mssen, welchem der Schopenhauerianer nur zu viel Grund hat auszuweichen. Im Uebrigen findet sich nicht wenig Treffendes in den Erçrterungen des Verfassers, welches da zugleich ergçtzlich wird, wo er den unglaublichen Vergleichungen: Haydn’s mit einer ehrlichen Suppe, Beethoven’s (seine Quartettmusik) mit Confect gedenkt und bezglich der Strauß’schen Beurtheilung Mozarts sich erlaubt, an das Wort des Aristoteles von Platon zu erinnern, „ihn auch nur zu loben, ist den Schlechten nicht erlaubt“. Die Beantwortung der ersten Frage schließt mit dem Schopenhauerisch drastischen Passus: „Ein Leichnam ist fr den Wurm ein schçner Gedanke und der Wurm ein schrecklicher fr jedes Lebendige. Wrmer trumen sich ihr Himmelreich in einem fetten Kçrper, Philosophieprofessoren im Zerwhlen Schopenhauerischer Eingeweide, und so lange es Nagethiere gibt, gab es auch einen Nagethierhimmel. Damit ist unsere erste Frage: Wie denkt sich der neue Glubige seinen Himmel beantwortet. Der Straußische Philister haust in den Werken unserer großen Dichter und Musiker wie ein Gewrm, welches lebt, indem es zerstçrt, bewundert, indem es frißt, anbetet, indem es verdaut“. Strauß hat dies ganz wohl verdient. Wie aber, wenn man nun in ungefhr gleichem Tone sagt: Gott ist fr den Atheisten ein schçner Gedanke (sofern der Schopenhauerianer ihn zum Frhstck aufspeisen zu kçnnen whnt), der Geisteswurm aber kein schrecklicher fr das allmchtige ewige Lebendige. Existirte Gott nicht, so existirte nichts, also auch nicht sein kindischer Traum, Gott zernagen, zerwhlen, vernichten zu kçnnen. Nun aber kçnnte der Geisteswurm schon daran, daß er existirt, merken, daß Gott existirt, da er sich genug erkennt, um zu wissen, daß er nicht aus sich ist wie nichts Endliches aus sich ist. Wenn er nun doch Gott leugnet, so kann sein Leugnen nur eine Selbstbelgung sein, deren Ursprung nicht aus der Vernunft kommen kann. Wenn er selbst Gott sein kçnnte, wrde er Gott nicht leugnen. Nun aber er nicht Gott sein kann, soll nach seinem Wahnwillen Gott nicht sein, und qult er sich tantalisch ab, sich seine Radicalberzeugung von Gottes Existenz auszureden und hinwegzulgen, die doch nicht hinweggebracht werden kann, schon weil der
338 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Wahnwille sonst nichts mehr zu leugnen und da sein ganzes Thun in der Wurzel im Leugnen besteht, nichts mehr zu thun, nichts mehr zu leben, also auch nichts mehr zu sein htte, weil es ein unthtiges, todtes Sein nicht gibt. Die Unmacht seines Leugnens wird offenbar in seiner Substituirung des dummen Dings Ansicht als blinden Willens. Philosophen, die es sind, sie mçgen Professoren sein oder nicht, fllt es nicht schwer, in dem phosphoriscirenden Geistesgefunkel des misbrauchten Genies die verhllte Finsterniß zu erblicken, welche hervorbrechend bald den gleißenden Scheinglanz mit Nacht berdeckt. Der Schopenhauersche Philister haust in den Werken Gottes wie ein Gewrm, welches lebt, indem es zerstçrt, bewundert indem es frißt, anbetet, indem es verdaut. In der Beantwortung der zweiten Frage: Wie weit reicht der Muth, den die neue Religion ihren Glubigen verleiht? greift der Verf. wieder nur einzelne Stellen aus der Straußschen Bekenntnißschrift heraus, welche er einer ziemlich desultorischen Kritik unterstellt. Allerdings sind es Stellen, in welchen die Halbheit und Haltlosigkeit des „Philisterhuptlings“ stark zu Tage tritt. So wenn derselbe das Universum mit einer Maschine mit eisernen, gezahnten Rdern, mit schweren Hmmern und Stampfen vergleicht und hinzufgt: „aber es bwegen sich in ihr nicht bloß unbarmherzige Rder, es ergießt sich auch linderndes Oel (S. 365).“ Diesen Scheintrost weist der Verf. mit Grund durch die Frage zurck: „Was wrde es den Arbeiter trçsten, zu wissen, daß dieses Oel sich auf ihn ergießt, whrend die Maschine seine Glieder faßt?“ Der Verf. nimmt die Bezeichnung des Universums als Maschine nur als verunglcktes Bild. Aber es steckt noch Geistloseres, die volle Geistlosigkit, dahinter. Denn dem Materialismus kann das Universum gar nichts Anderes als Maschine sein und er ist gedankenlos genug, im Universum das Widersinnige einer sich selbst aufbauenden Maschine zu erblicken. Mit Recht persiflirt der Verf. die von Strauß geschilderte Procedur, in Erfahrung zu bringen, ob sein Gefhl fr das „All“ gelhmt und abgestorben sei oder nicht, ob es noch „religiçs“ reagire. Ein Frçmmigkeitsgefhl, welches zu seiner Vergewisserung solcher Procedur bedrfte, kçnnte auch in dem Falle nicht weit her sein, wenn es berhaupt ein Frçmmigkeitsgefhl im Verhltniß zur taubstummen, bewußtlosen Natur geben kçnnte. Den Grund der Erscheinungen des Universums, das Absolute, einmal atheistisch als bewußtlos, blind, vorausgesetzt, ist eine aufrichtige, innige, fromme Verehrung, Anbetung, Bewunderung desselben gar nicht mehr mçglich. Nicht einmal die Heiden waren so stumpfsinnig, dem Geistlosen als solchem Verehrung und Anbetung zu zollen. Das Natrliche konnten sie nur verehren, weil sie ihm ein Geistiges zuschrieben, zu Grunde legten, in ihm oder ber ihm voraussetzten. Strauß verrth daher, daß er nicht die blasse Spur von Verstndniß fr das, was chte Piett, wahres Frçmmigkeitsgefhl ist, besitzt, wenn er fr das Universum dieselbe Piett, wie der Fromme alten Stils fr seinen Gott verlangt. Dieselbe
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Piett fr eine unbersehbar aus starren Atomen zusammengesetzte Maschine wie sie der Theist dem persçnlichen Gott, der allmchtigen und allweisen Liebe, aus vollem Herzen und ganzem Gemthe zollt und darbringt! Auch wenn eine wirkliche Piett fr eine unermeßliche geistlose Maschine mçglich wre, mßte sie von ganz anderer Art sein, als die Piett des Geistes fr den Geist, der Person fr die Person, des bedingten Geistes fr den unbedingten Geist, der geschaffenen Person fr die ungeschaffene, schaffende, unendliche, schrankenlose Persçnlichkeit, den unausforschlichen Gott, den aller Himmel Himmel und alle Sternenheere nicht fassen. Fr eine Maschine, so unermeßlich sie sei, ist aber gar keine Piett mçglich und auch die Einbildung, die Phantasie, daß sie mçglich sei, wre nicht mçglich, wenn das theistische Grundgefhl des Menschen sich absolut austilgen ließe und auch in der gewaltthtigsten Unterdrckung und Zurckdrngung nicht noch reagirend sich regte. Religion, wahre, freie und freimachende Religion, ist nur zwischen Person und Person, zwischen bedingter und unbedingter Person mçglich, niemals zwischen Person und Unpersçnlichem. Denn gegen Unpersçnliches kann die Person nicht wirklich demthig, nicht wirklich folgsam, dankbar, vertrauensvoll, ergeben, bewundernd und anbetend sein. Dem Unpersçnlichen kann die Person keine Schuld bekennen, keine Verzeihung erflehen, keine Verzeihung erwarten, geschweige inne werden. Wer die Persçnlichkeit Gottes leugnet, mßte, wenn er consequent wre und es wirklich sein kçnnte, die Religion bis in die Wurzel aufheben. Von der Verkennung der Wahrheit des Theismus aus fhrt der Weg des intellektuellen Falles durch den Deismus zum sogenannten Pantheismus, von diesem zum Naturalismus (Monismus des Bewußtlosen) und endigt im Materialismus (Pluralismus der Atome) – Zieht der letztere seine logischen Consequenzen, was nur selten geschehen ist und geschieht, so hebt er nicht bloß alle Religion, sondern auch alle Moral auf und lßt hçchstens eine egoistische Klugheitslehre brig.172 Strauß, der so scharf zwischen den Ganzen und Halben in der religiçsen Aufklrung des Geistes unterscheiden wollte, ist zwar zu der untersten Stufe der in abstracto mçglichen Weltanschauungen, zum Materialismus, herabgesunken, aber innerhalb dieser Stufe gehçrt er beziehungsweise doch nur zu den Halben, weil er der Reminiscenzen an Hegelsche und Schleiermachersche Gedanken doch nicht los werden kann und mit ihnen aus seinem Materialismus heraus kokettirt. Schon darum und wegen der Unwissenschaftlichkeit und Schlotte172 C. Vogt war oder ist noch Einer der Wenigen, welche der vollen Consequenz des Materialismus nahe kamen, indem er es fr fraglich erklrte, ob nach den Ergebnissen des Materialismus noch von Verantwortlichkeit des Menschen fr Gesinnngen und Handlungen die Rede sein kçnne. Im Herzen war es ihm sicher nicht mehr fraglich, aber er scheute sich die innerlich vollzogene Consequenz ganz unverhllt zu erkennen zu geben. Welche Qual es Schopenhauer kostete, diese Consequenz hinter phantastischmystischen angeblichen Tiefsinn zu verhllen, ist bekannt. Kant hatte sich nicht viel minder damit abgeqult.
340 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung rigkeit seiner ganzen Schrift bezweifeln wir so wenig wie der Verfasser, daß Schopenhauer im Angesicht der Strauß’schen Schrift gesagt haben wrde: „das ist ein Autor, der nicht durchblttert, geschweige studirt zu werden verdient“. Ohne etwas Wesentliches von unserer Kritik der Schopenhauerschen Philosophie zurckzunehmen, rumen wir doch willig ein, daß Schopenhauer unvergleichlich grçßeren Anspruch hat, studirt zu werden, als Strauß, der niemals ein bedeutendes philosophisches Talent verrathen hat und in seiner letzten Schrift zur vollen Unphilosophie herabgesunken ist. Die Lobeserhebungen, welche Strauß in derselben ber Kant ergießt, gelten berwiegend dem neben seinem Idealismus herlaufenden Zuge zum Realismus, whrend er von seinem Idealismus (Vernunftkritik) nur flchtig Tiefe des Einblicks rhmt, ohne daß er fr seine (materialistische) Universums – Religion daraus etwas zu gewinnen wußte. Allerdings wohl auch nichts gewinnen wollte, weil es nicht mit dem Materialismus zusammengepaßt haben wrde und Strauß doch wohl gemerkt haben wird, daß die idealistische und die realistische Strçmung der Kantischen Philosophie von ihrem Urheber niemals zur vçlligen innern Ausgleichung gebracht worden ist. Was der Verf. gegen Strauß (S. 40) von der fundamentalen Antinomie des Idealismus und von dem hçchst relativen Sinne aller Wissenschaft und Vernunft sagt, deutet ziemlich deutlich darauf hin, daß er mit Schopenhauer der Kantischen Beschrnkung des Erkenntnißvermçgens zu viel einrumt. Die wahre Erkenntnißlehre wird weder bei Kant, noch bei Hegel angetroffen und muß unter allen Umstnden in einem nher zu bestimmenden Mittleren zwischen beiden Denkern gesucht werden, wie dieß namentlich von Baader mit bedeutsamen Fingerzeigen geschehen ist, welche in eine Tiefe weisen, die weder Kant noch Hegel zugnglich gewesen ist. Der Schopenhauerianer will berall dem angeblichen Willensprincip seines Meisters Ehre machen und gefllt sich daher in drastischen Ausdrcken, ohne sich sonderlich vor Uebertreibungen in Acht zu nehmen. Eine solche Uebertreibung liegt in den Worten: „Wer einmal an der Hegelei und Schleiermacherei erkrankte, wird nie wieder ganz curirt.“ Angenommen die Hegelsche und Schleiermachersche Philosophie seien krank, d. h, doch wohl nicht wahr, wenigstens nicht durchaus wahr, gewesen, wer mçchte fr die volle Gesundheit, d. h. Wahrheit der Philosophie Kants, J. G. Fichtes, Schellings, Herbarts, Krauses, Schopenhauers einstehen? Und wir nehmen auch Baader, den tiefsinnigsten von allen Genannten, nicht aus. Daß ein einmal angenommenes philosoph. System schwer verlassen wird, wird wohl von allen Systemen gelten. Doch fand und findet ein solches Verlassen statt, wie denn einige Hegelianer Schopenhauerianer geworden sind, Andere zwischen beiden zu vermitteln suchen. Seit Leibniz, um nicht weiter zurckzugehen, sind eine ganze Reihe solcher Uebergnge oder Umwandelungen nachzuweisen, nicht weniger nderten sich die Anschauungen der Systemstifter selbst, ohne daß man hinter ihr 30. Lebensjahr zurckzugehen braucht. Daß kein Anhnger Schopenhauers zu einem anderen Systeme bergehen werde, ist noch nicht so
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ausgemacht, wie es dem Verfasser scheinen mag. Die Gesundheit, die Wahrheit der Philosophie Schopenhauers ist von allen andern Systemen stark bestritten worden und kein Werk eines Schopenhauerianers bekannt, welches auch nur versucht hatte, die bedeutendsten Kritiken der Schopenhauerschen Philosophie zu widerlegen. Die Straußischen Expektorationen sind ohnehin nicht zu rechnen. Mit der Widerlegung des Pessimismus, welche Strauß durch die Behauptung versucht: „Wenn die Welt ein Ding ist, daß besser nicht wre, ei so ist ja auch das Denken des Philosophen, das ein Stck dieser Welt bildet, ein Denken das besser nicht dchte; ist ein Denken, das die Welt fr schlecht erklrt, ein schlechtes Denken, so ist die Welt ja vielmehr gut, jede wahre Philosophie ist nothwendig optimistisch, weil sie sonst sich selbst das Recht der Existenz abspricht,“ ist der Verf. so unzufrieden, daß er sie das Kunststck nennt, so zu thun, als ob es gar nichts wre, Schopenhauer zu widerlegen. Ja solche Stellen sollen sogar Schopenhauers feierliche Erklrung begreiflich machen, „daß ihm der Optimismus, wo er nicht etwa das gedankenlose Reden solcher ist, unter deren platten Stirnen nichts als Worte herbergen, nicht bloß als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart erscheint, als ein bitterer Hohn ber die namenlosen Leiden der Menschheit.“ Es ist wahr, daß das Denken einer schlechten Welt als schlecht, nicht beweisen wrde, daß dieses Denken selbst schlecht wre, denn es wrde ja dann die Wahrheit denken. Aber womit ist denn bewiesen, daß die Welt schlecht ist und also als schlecht gedacht werden muß? Wenigstens nicht dadurch, daß vom Pessimisten nicht umgangen werden kann, doch etwas in der Welt als nicht schlecht, nmlich ein nicht schlechtes, also ein wahres Denken einzurumen. Folglich kann nach der eignen Ansicht des Pessimisten nicht Alles in der Welt schlecht sein, es mßte denn das Denken in keinem Sinne zur Welt gehçren, was auch der verbittertste Pessimist nicht wird behaupten wollen und kçnnen. Auch ist es fr den Pessimisten ganz vergeblich, der Folgerung entkommen zu wollen, daß wenn die Welt ein Ding wre, das besser nicht existirte, auch das Denken besser nicht existirte, denn es wre absurd die Mçglichkeit zu statuiren, daß zwar die gesammte Welt nicht, dennoch aber das Denken denkender Wesen existirte. A priori behaupten und beweisen zu wollen, daß die Welt nothwendig schlecht sein msse und vollends so schlecht, daß, wre sie nur um Weniges schlechter, sie gar nicht mehr wrde existiren kçnnen, wre ganz absurd und wrde nicht einmal mit Schopenhauer’s von Kant bernommener Annahme von dem hçchst relativen Sinne aller Wissenschaft und Vernunft stimmen.173 Wenn
173 Sagt doch Schopenhauer selber: „Wer a priori darthun will, was sich allein a posteriori, aus der Erfahrung wissen lßt (wissen ließe, wenn es zu erweisen wre; fgen wir hinzu), der charlatanisirt und macht sich lcherlich.“ Vergl. Venetianer’s Schopenhauer als
342 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung es daher mçglich sein sollte, zu erweisen, dass die Welt schlecht sei und besser nicht existirte, so kçnnte nur die Erfahrung diesen Beweis liefern. Allein wie sollte die Erfahrung solchen Beweis liefern kçnnen, da wir vom Universum nur ein Minimum erfahrungsmssig kennen? Was wir aber von den Regionen des Universums die ber unser Sonnensystem hinaus liegen, durch die knstlichen Hlfsmittel der Telescope, die auf die telescopischen Beobachtungen begrndeten mathematischen Berechnungen und logischen Schlussfolgerungen kennen, lßt uns berall eine bewunderungsvolle Ordnung erblicken. Die durch die Spectralanalyse ermçglichten Anfnge einer Physik wahrlich nicht des Weltalls, sondern nur einer verhltnißmßig kleinen Zahl von Fixsternen, Sternhaufen und Nebelsystemen, sind noch verhltnißmßig sehr gering, was sie aber Wahrscheinliches bieten, ist nicht dazu angethan, einen Pessimismus des Weltalls zu untersttzen.174 Scholastiker S. 60, wo Venetianer mit Grund bemerkt: „Als Beispiel htte Schopenhauer gleich sich selbst und seinen Kant anfhren mssen etc.“ 174 Selbst Hermann J. Klein (Kosmologische Briefe ber die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Weltbaues) ist von der aus der neueren Wrmetheorie abgeleiteten Ansicht einer dereinstigen allgemeinen Welterstarrung zurckgekommen (S. 27 ff ). Nach Klein’s (S. 26) Untersuchungen erscheint der Bau der Welt, so weit er unseren Sinnen erreichbar ist, keineswegs als etwas in sich Abgeschlossenes, fr alle Zeiten Vollendetes. Nach ihm gehen in demselben stetige Vernderungen vor sich und zwar von solchem Umfange und solcher Bedeutung, daß sie unserer Wahrnehmung, selbst in der kurzen Spanne Zeit, die das Menschengeschlecht bis jetzt auf solche Beobachtungen verwenden konnte, nicht ganz zu entgehen vermochten. Ist aber der Weltbau nichts fr alle Zeiten Vollendetes, so sind wir berechtigt die Idee einer Geschichte des Universums, einer Bewegung zum Ziele einer All-Vollendung, aufzustellen, wie sie allein aus den Principien des tiefer gefaßten Theismus hervorgeht, entgegen der geistlosen und langweiligen und darum Schwindel erregenden endlosen Stabilitt des Universums bei bloß gleichgltigen und also nur scheinbaren Vernderungen, wie sie die verschiedenen Sorten des Atheismus, heißen sie nun Pantheismus oder Naturalismus oder Materialismus, allein aufstellen kçnnen, womit sie doch nichts als die Gleichgltigkeit, die Werthlosigkeit alles Seins und damit den puren Nihilismus etabliren. Klein brigens entgeht der Entropie von Clausius und Anderen nur, indem er (in den Naturalismus, wenn nicht in den Materialismus zurckfllt, der anfangs endlose Vernderungen, mit denen nichts wahrhaft verndert wird, die vçllig gleichgltig, ziellos und nichtig sind, einfhrt. Seine Behauptung ist ganz falsch, daß der Naturforscher vorwrts und rckwrts nur Ewigkeit erblicke. Wenn man das Erblicken nennen will, was vielmehr ein Vorstellen ist, so erblickt er vorwrts und rckwrts nur Zeit und ertrumt es nur in schlaftrunkenem Denken, daß die Ewigkeit nichts Anderes als verlaufene und kommende Zeit sei, also daß die Ewigkeit aus Zeitmomenten zusammengesetzt sei. Die Ewigkeit, das Ewige, ist berzeitlich und wird nicht in den Strom der Zeit hineingerissen. Wenn nach Klein die Materie zu jeder gegebenen Zeit vorhanden sein soll, so fragt sich, wie weit die Zeit gegeben ist, wenn sie aber gegeben ist, so muß sie vom bernatrlichen Ewigen gegeben sein und sie muß irgendwann, gleichviel wie lang schon, gegeben worden sein und kann vor ihrem Gegebenwordensein nicht schon gegeben gewesen sein. Wenn der Glaube am Anfang wie am Ende der Zeit ein allmchtiges Wort setzt, so fragt es sich, ob dieser Glaube Wahrheit enthlt oder nicht, und diese Frage kann nur die Wissenschaft entscheiden und diese vermag zu zeigen, daß
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Was wir von unserem Sonnensystem kennen, erfllt uns in Rcksicht seiner Ordnungen und seiner Bewegungsgesetze mit der gleichen Bewunderung, wie die entfernteren und die entferntesten sternbeseten Bume des Universums, und was uns von der Physik der Sonne, der Planeten, der Kometen, der Asteroiden einigermaßen zugnglich geworden ist, erscheint ebenso nicht dazu angethan, einen Pessimismus des Sonnensystems zu untersttzen.175 Lehrte uns nun die Erfahrung, daß die Erde kein Himmelreich ist, was wir lngst wissen, daß in ihr und auf ihr erhebliche ja gewaltige Stçrungen, Hemmungen, mannigfaltigste Widerstreite, fr die empfindenden und fr die denkenden Wesen Leiden aller Art, weit ausgebreitet sind, so wrde daraus weder folgen, daß es auf der Erde immer so war, noch daß es immer so bleiben werde, weder daß es im brigen Sonnensysteme, noch daß es in der gesammten Welt ebenso beschaffen sein msse, oder daß es, wenn es mit Modifikationen doch so wre, immer so gewesen sein und immer so bleiben msse. Die Erfahrung kann uns nur eine Phnomenologie der Erscheinungen besonders auf der Erde gewhren und diese Erscheinungen sind theils positive, theils negative, theils gemischte, fr die empfindenden Wesen theils erfreuende, theils leidenvolle, theils gemischte. Alle treten in sehr verschiedenen Weisen, Formen und Graden hervor und ihre bunte Mischung, ihr guten Theils fortgehender Wechsel ist so groß, daß unsere Beobachtung erlahmt, sie bis in ihre grçßten und kleinsten Verzweigungen zu verfolgen. Daß sie nach beiden Seiten hin in der Menschenwelt gipfeln, wie auch Schopenhauer gefunden hat, kann keinem Zweifel unterliegen und es fragt sich hier, wie groß der Einfluß ist, welchen der Stand der intellektuellen Bildung, der Moralitt oder Immoralitiit der Menschen auf sie bt.176 Die Behauptung, daß die negativen die positiven, die schmerzlichen die freudegewhrenden Erscheinungen berwçgen, ist nicht gefhrt worden und kann nicht gefhrt werden. Vielmehr spricht Alles dafr, daß die letzteren die ersteren im Gott nur Gott und die Welt nur Welt sein kann, wenn die Welt durch Gott Anfang wie Ziel hat. 175 Die Hypothese Klein’s (S. 284) und Anderer, daß dereinst die Sonnenwrme erlçschen werde, geht von bloß mechanischen Betrachtungsweisen aus, welche der Idee eines Organismus des Weltalls weichen mssen, die schließlich zu hçherer Vollkommenheit fhrende Wandelungen, aber keine Vernichtungen kennt. Wenn ein hochbegabter Geist wie C. Fr. Zçllner (Ueber die Natur der Kometen) auf diesen Ideengang von selbst gefhrt wrde, so wrde er großartigere Aussichten auf weltbewegende wissenschaftliche Leistungen sich erçffnen, als ihm die tristen nihilistischen Gedanken Schopenhauer’s bieten kçnnen. 176 Dieselbe Frage wrde fr alle Welten des Universums ausgeworfen sein, in welchen wir geistige Wesen oder Einflsse geistiger Wesen anzunehmen uns gedrungen fhlen kçnnten. Fnde sich, daß das Bçse berall Leiden zur Folge hat, so wre dies ja gut, schon weil der Bçse dadurch gebessert werden kann und soll. Wer aber den verkehrten Determinismus annimmt, hat vollends kein Recht zur Klage, weil es sinnlos wre, die Nothwendigkeit aller Dinge als die allein vernnftige Ansicht anzunehmen und sie doch in Anklagestand zu versetzen.
344 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Ganzen weit berwiegen. Fr die Phnomenologie der negativen Erscheinungen hat Schopenhauer in ergreifenden Schilderungen nicht erschçpfende, aber bedeutende Beitrge gegeben. Namentlich den falschmildernden und sogar mehr oder minder wegleugnenden Schçnfrbereien frçmmelnder Theisten, schwachsinniger Deisten und schwrmender Pantheisten gegenber mçchten Schopenhauer’s Hinweisungen ihr relatives Verdienst gehabt haben. Wre er nur vorsichtiger und umsichtiger in den Rckschlssen aus den Erscheinungen auf die Ursachen dieser Erscheinungen gewesen! Diese Vorsicht und Umsicht fehlt bei ihm schon darum, weil er schon vor aller Untersuchung sich vom Pantheismus beherrscht zeigt und nie auf eine ernste tiefere Prfung des Theismus eingegangen ist. Denn obgleich er gewisse Formen des Pantheismus heftig bestreitet, so ist er doch schon von vornherein von einer andern Form desselben gefesselt. Was kann die Lehre anders als Pantheismus sein, welche behauptet: Ding an sich . . ist allein der Wille: als solcher ist er durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden: er ist es, wovon alle Vorstellung, alles Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektivitt ist. Er ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen: er erscheint in jeder blindwirkenden Naturkraft: er auch erscheint im berlegten Handeln des Menschen; welcher beiden große Verschiedenheit doch nur den Grad des Erscheinens, nicht das Wesen des Erscheinenden trifft.177 An verschiedenen Stellen, besonders im zweiten Bande seines Hauptwerkes (S. 736 ff.), gesteht er nicht, bloß ganz offen seinen Pantheismus, wenn er auch den Namen fr sich nicht gelten lassen will, ein, sondern legt auch den grçßten Nachdruck darauf, der Sache nach dem Pantheismus (der Alleinslehre), zu huldigen und will ihn nur im Verhltniß zu dem spinozistischen, wie das neue Testament des Pantheismus zum alten angesehen wissen.178 Immerhin wrde sein System einer anderen Beurtheilung zu unterstellen sein, wenn er durch eine streng regressive, induktive analytische Methode ohne Sprnge und Erschleichungen zum Pantheismus hingetrieben worden wre, vorausgesetzt, daß so etwas mçglich wre. Allein der Pantheismus ist ihm schon von vornherein außer aller Frage und er verkleidet nur diese ihm mehr von der indischen – orientalischen – als der Europischen – occidentalischen – Philosophie angethane Voreingenommenheit durch einige bereilte regressiv sein sollende Schritte. Der Determinismus aller Welterscheinungen ist die consequente Folge seiner Alleinslehre und schon damit hebt er in der Wurzel jede wahre Ethik auf, die durch einen seltsamen, weil blinden Indeterminismus des Dings an sich, des vorausgesetzten blinden Willens und seiner endlichen Modificationen, nicht gerettet werden kann. Schopenhauer argumentirt aus unerwiesenen Voraussetzungen und verstrickt sich in dem Streben, mit dem occidentalischen Panthe177 Die Welt als Wille und Vorstellung. Dritte Aufl. I, 131. 178 Loco citato II, 218, 221, 362, 736 ff.
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ismus mçglichst wenig gemein zu haben, in die abenteuerlichsten Widersprche, noch mehr durch den grimmen Haß des Theismus, den er doch als eine wenigstens in abstracto mçgliche Weltanschauung muß gelten lassen. Die Schopenhauerische Form des sogenannten Pantheismus ist weiter nichts als ein monistischer Pankosmismus, der nur durch eine der schlechtesten Sorten corrupter Mystik seine naturalistische Wurzel zu verhllen sucht. Durch seine Streifereien in das Gebiet der Mystiker aller Zeiten, sympathischer den ascetischen, quietistischen als den genialen speculativen, erhlt er nicht selten Anlaß zu Anklngen an Gedanken, die weit ber den Naturalismus hinausgehen, aber er verzerrt sie regelmßig zu Caricaturen, die durch die Keckheit der Vermischung des Unvereinbaren auf den ersten Anblick imponiren, sich aber dem Prfenden als groteske „Windbeuteleien“ zu erkennen geben. Sein Ding an sich, welches er den Theisten gegenber an die Stelle von Gott, den neueren Pantheisten gegenber an die Stelle des Absoluten, den strengen Naturalisten gegenber an die Stelle der Natura naturans setzt, soll eine Einheit, ein Eines, sein, die oder das es nicht sein kann, weil es keine Unterschiedenheit in sich hat, die es einen kçnnte. Gleichwohl soll dieses leere Ding an sich die Quelle aller Mannigfaltigkeit sein, die es, unbegreiflich wie, aus sich hinauswirft, ihm selbst unbegreiflich, wie seinen Hinausgeworfenen ebenfalls unbegreiflich. Grundlos soll es sein, weil Schopenhauer unfhig ist, ihm einen Grund zu finden. Als ob der Allbegrndende seinen Grund nicht in sich selber finden kçnnte und ihn zu finden warten mßte, bis Herr Schopenhauer ihn fr ihn gefunden htte! Gleichwohl soll dieses grundlose Ding an sich Wille sein oder doch am ehesten noch als Wille vorgestellt werden kçnnen, eingedenk seiner Unergrndlichkeit, die, weil fr den Schopenhauer’schen (und jeden endlichen) Verstand unaufheblich, auch fr das Ding an sich selber gelten soll. Allein wre denn eine solche Unergrndlichkeit nicht die eines Dings, in dem gar nichts zu ergrnden sein kann, weil es als in sich unterschiedlos nur das absolut Leere sein kçnnte? Schopenhauer kostet es nichts, die absolute Leere zur absoluten Flle zu stempeln, die er doch wieder in der absoluten Leere voraussetzt, da ohne Minderung ihr Alles entquillen soll. Soll die innere Unterschiedlosigkeit des Dings an sich als solches die unendliche Potentialitt des Endlichen bezeichnen, so wrde sie wegen Mangels eines aktualisirenden Princips nie aus sich zur Verwirklichung heraustreten kçnnen und, wenn man sich dies Unmçgliche auch gefallen ließe, so kme man damit nicht weiter als der neuere Pantheismus, der von Schopenhauer verpçnte, auch gekommen ist, zu der Vorstellung, daß das Weltall die Selbstverwirklichung des Absoluten sei, denn das Schopenhauer’sche Ding an sich ist nur das verkleidete Absolute der neueren Pantheisten. Wre nun aber das Ding an sich nur Potenz, so kçnnte es hçchstens Potenz des Willens, nicht aber Wille selbst sein. Wille auch schon darum nicht, weil das Ding an sich nicht ein Subjekt wre, das wollen kçnnte und ein Wille, der nichts von sich wußte und nichts von sich wissen kçnnte, ein Ungedanke ist, wenigstens
346 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung da, wo es sich um die Quelle alles Wollens und Wissens handelt. Nun soll Alles aus dem blinden Willen des Dings hervorquillen und der dumme blinde Wille soll fhig sein, das aus ihm Hervorgequollene zu individualisiren, so daß die Individuen, die doch nichts weiter als Erscheinungen des Blinden sind, sich ihren Willen selbst sollen bestimmen kçnnen, um, in Zeit und Raum eingetreten, unerbittlich nothwendigen Gesetzen, auch des Wollens, unterworfen zu sein, bis sie mit gleicher Nothwendigkeit endlich die Eitelkeit alles Wollens sollen durchschauen kçnnen und in der vçlligen Verneinung, nicht etwa alles bçsen, sondern alles Wollens berhaupt Erlçsung von ihren nicht selbst und doch selbst verschuldeten Qualen in der Verduftung in Nirvana finden. Und dieser gesammte Proceß des Quillens aus dem dummen Ding an sich, des intelligiblen Verschuldens, des namenlosen Leidens dafr im Zeitleben und des Erlçstwerdens in das Nichts soll weder je einen Anfang gehabt haben noch je ein Ende finden kçnnen, eine ewige Geburt aus dem Nichts durch ein nichtiges Leben in das Nichts, ber welchem Weltproceß das dumme Ding an sich ewig unwandelbar thront, negativ glcklich, daß es von dem ganzen Schwindel, den es ohne Anfang und ohne Ende treibt, selber nichts weiß und in Ewigkeit nichts erfhrt. Und eine solche Lehre, die den Unsinn bis zum Exceß treibt, will uns der Verfasser als neue Grundlage bieten, auf welcher erst die echte deutsche Cultur aufgebaut werden soll! Das deutsche Reich hat der Schopenhauerianismus nicht aufgebaut. Daran haben indirekt die Klopstock, Gçthe, Schiller, selbst zum Theil die Dichter der Romantik, mehr aber noch die großen Philosophen von Leibniz179 bis Hegel mitgearbeitet, im Mindesten aber nicht Schopenhauer. Wehe dem großartig wiedererstandenen deutschen Reiche, wenn es in Mitte Europas sich gegen die Feinde im Westen und Osten, Sden und Norden mit einem von Schopenhauerianern als hçheren Offizieren gefhrten Heere verteidigen mßte! Das wre sein sicherer Untergang, vor dem es der Genius Deutschland so gewiß bewahren wird, als die Schopenhauer’sche Philosophie die unsinnigste ist, die je von einem Genie im Mißbrauch grober Krfte aufgestellt worden ist.180 Dieses strenge Urtheil schließt die Anerkennung 179 Daß wir auch Leibniz einen Antheil zuschreiben, wird fr Jeden gerechtfertigt sein, der Kenntniß von dem ausgezeichneten Werke Edmund Pfleiderer’s: H. W. Leibniz als Patriot, Staatsmann und Bildungstrger genommen hat. 180 Es ist gleich schlimm, sagt Baader treffend, jede Begeisterung zu apotheosiren wie keine andere als die trbe zu statuiren, gleich schlimm, jedem ignis fatuus, als ob es das ewige Licht wre, nachzugehen, wie kein Licht fr das wahre zu halten, das nicht kalt ist, kalt lßt und kalt macht. Ist es denn so schwer, bei jener trben Begeisterung durch den ußeren phosphorischen Schimmer hindurch die innere radicale Finsterniß, so wie durch jene ußere leidenschaftliche Glut hindurch die innere Todesklte zu gewahren? – Wenn die Anhnger Schopenhauer’s Werth darauf legen, so kann immerhin dabei mit Venetianer (S. 88) eingerumt werden, daß „Sch.’s klassisches Darstellungstalent noch seinen grçßten scholastischen und romantischen Thorheiten den Stempel des Interessanten, vom rosigen Hauch der Poesie Uebergossenen aufdrcke,“ nur daß diese Poesie mehr
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nicht aus, daß nur eine geniale Geisteskraft so ungeheuerlicher Irrthmer fhig sein konnte, daß Schopenhauer’s Schriften von Geist, wenn auch guten Theils von bis an die Verrcktheit streifendem, strotzen und daß er nebenbei eine Flle von anregenden Gedanken ausgestreut hat, welche einer besseren Grundlage werth wren, als die ist, auf welcher sie wildwachsend hervorgesproßt sind. Aber fast nur jenen wird Schopenhauer ein Fhrer zu tieferen Erkenntnißen werden kçnnen, die sich von ihm zu dem grndlichen Studium derjenigen mystischen Forscher leiten lassen, die er berhrt, deren geniale wenn auch mit Schlacken untermischte Gedanken er aber zu Caricaturen verzerrt hat. Auf diesem Wege wrden sie auch ganz von selbst zu Baader gelangen, der in allen Hauptsachen in tiefsinniger Wahrheitserkenntniß unsere grçßten Forscher berflgelt hat. Wenn Strauß sagt, jede wahre Philosophie sei nothwendig optimistisch, so ist er von seinem Materialismus aus dazu allerdings gar nicht berechtigt. Denn der Materialismus kann weder optimistisch, noch pessimistisch sein, sondern muß sich, wenn er consequent sein will, vçllig gleichgltig dazu verhalten, ob Leiden oder Freuden aus der Verbindung, Lçsung und andere Wiederverbindung der Atome hervorgehen, das Gute und Bçse muß ihm vollends ganz gleichgltig und gleichwerthig oder vielmehr gleich unwerthig sein. Wie es sich nothwendig oder zufllig, was hier eins und dasselbe ist, macht, so macht es sich, und daran ist nichts zu loben und nichts zu tadeln, die eine Combination ist nicht werthvoller als die andere, weil keine einen andern Werth hat, als daß sie wie alle andern sich vollziehe, um wieder in andere Combinationen berzugehen. Wenn sich Schopenhauer gegen diese triviale Lehre strubt, so sieht er doch nicht, daß er im Wesentlichen zu dem gleichen Ergebniß gelangen mßte, wenn er mit seinem blinden Ding an sich, mit seinem dummen Urwillen, der, seines mystischen Gewandes entkleidet, sich als die nackte Natura naturans, als die blinde Urnaturkraft enthllt, consequenten Ernst machen wollte. Denn die Blindheit, Nothwendigkeit genannte Zuflligkeit aller Welterscheinungen wre dieselbe, ob sie nun pluralistisch und materialistisch aus der zahllosen Vielheit der Atome, oder monistisch und naturalistisch aus dem Auseinandergehen der Einen Urnaturkraft hervorgingen. Dieser mit jener des Materialismus, welchem sich auch Strauß nach dem Vorgange L. Feuerbach’s in die Arme geworfen hat, wetteifernden Trivialitt des Naturalismus mçchte nun Schopenhauer um jeden Preis entkommen, nur nicht um den, der allein zahlungsfhig wre, das Aufgeben der Blindheit des Dinges an sich, des blinden dummen All-Willens. Aber dies kann ihm mit allem Aufwand von den Mystikern hergeholter, den Naturalismus berschreitender, geistreichig, aber nicht wahrhaft geistvoller, Gedankenwendungen nicht gelingen, da die Blindheit des Dings an sich dieselbe ist und bleibt, welche dem gemalten als wirklichen Blumen gleicht, weil ihnen nicht zwar die Leidenschaft, aber die Seele, das Gemth, fehlt.
348 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Materialismus zu Grunde liegt und der Blindheit sich nicht Sehkraft und Licht abzaubern lßt und da, wo Vernunft, Bewußtsein, Wissen und Weisheit, Erkenntniß und Licht im Princip verleugnet ist, sich im Abgeleiteten aus der Finsterniß kein Funke Lichtes mehr herausschlagen lßt. Wenn nun die Trivialitt Schopenhauer’s in der Wurzel sich nicht wesentlich von jener des Strauß unterscheidet, so folgt, daß die Schopenhauerische Philosophie consequent nicht pessimistisch, sondern nur indifferentistisch sein kçnnte, wonach der persçnliche Pessimismus Schopenhauer’s nur subjektive Eigenheit sein konnte,181 die nach seinen eigenen Voraussetzungen so vollkommen gleichgltig fr den Weltproceß und die vermeinte Wahrheit sein mußte, als es nur immer alle subjektiven Zustnde aller Andern nach der Voraussetzung der Blindheit des Weltprincips sein konnten und mußten. So macht sich alle Philosophie der Leugnung der Persçnlichkeit Gottes selber gleichgltig, werthlos, nichtig. Dabei wrde es sein Bewenden haben, wenn nicht die Leugnung Gottes, der nach Sokrates, Platon, Aristoteles nicht ohne Sichselbstwissen, nach Leibniz, Kant und Herbart nicht ohne Persçnlichkeit gedacht werden kann und den selbst Schopenhauer als persçnlich wrde anerkannt haben, wenn er ihn berhaupt htte anerkennen wollen, die unausweichliche Folge der Geistes- und Gemthsverfinsterung htte und haben mßte, welche dann in ihren giftigen und vergiftenden Aeußerungen in sophistischen und perversen Schriften, in dem gleißenden Schimmer bestechender Darstellungsart glnzend, Irrthmer auf Irrthmer huft und mit der Schwchung oder gar Beseitigung des Glaubens an Gott und seine Offenbarung die ansteckungsfhige, halbgebildete und aus Stolz oder Eitelkeit neuerungsschtige Menge in Verwirrung und Verderbniß mit fortreißt. So ist die Schopenhauerische Philosophie nicht eine gleichgltige, sondern eine verderbliche Erscheinung. Verderblich, weil sie aller strengen Wissenschaftlichkeit baar ist und nach ihrem Inhalt auf den Nihilismus hinausluft. Verderblich, weil sie als Spiegelbild des unreinen Charakters ihres Urhebers in Allem, mit Ausnahme der Sprache und Darstellung, schlechtes Beispiel gibt, und zwar schlechtes Beispiel gibt in einem Grade, der alle Vorstellungen bersteigt. Wir drfen uns der Vorfhrung der Belege fr diese 181 Auf das Subjektive des Strauß’schen Optimismus – entgegen dem Subjektiven des Sch. Pessimismus deutet sehr gut hin Rauwenhoff in der Schrift. Dr. Fr. Strauß alter und neuer Glaube und seine literarischen Ergebnisse. Zwei krit. Abhandlungen von Rauwenhoff und Nippold, S. 95. Rauwenhoffs Abhandlung ist zu den ausgezeichnetsten Kritiken der neusten Strauß’schen Schrift zu zhlen. Nippold’s kritische Studie: die literarischen Ergebnisse der neuen Straußischen Controversen, kannte die Schrift Nitzsches [sic] noch nicht. Im Uebrigen orientirt sie fast vollstndig ber die auf Anlaß der Strauß’schen Schrift erwachsene Literatur. Von H. Ulrici’s Kritik des Strauß (in der Zeitschrift fr Philosophie und philosophische Kritik, auch in besonderem Abdruck erschienen) urtheilt Nippold mit Grund: „Sein Urtheil ber Strauß als Philosoph ist so schneidig, daß es kaum an Schrfe berboten werden kann.“
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Behauptung berheben, da sie Jedem in den Nachweisungen182 R. Haym’s reichlich genug vorliegen. Wenn vernnftige Ueberlegung ber den Werth der Schopenhauerschen Philosophie entschiede, so wrde sie seit dem Erscheinen der Meisterkritik Haym’s aufgehçrt haben, zu verblenden und nur noch als ein trauriges Capitel des Verfalls nicht der Philosophie berhaupt, sondern eines krankhaften Auswuchses derselben in Deutschland angesehen werden. Seit Haym’s einschneidender Kritik ist eine noch mehr in das Einzelne gehende Kritik der Schopenhauer’schen Philosophie von Moritz Venetianer183 erschienen, welche mit Schopenhauer’scher Drastik das sogenannte System des NeuBuddhisten aus den Fugen sprengt. Whrend Haym die Schopenhauer’sche Philosophie als einen philosophischen Roman bezeichnet, nennt sie Venetianer Neoscholastik. Was soll man nun dazu sagen, wenn der Verfasser (S. 42) zwar nicht mit Unrecht die Strauß’sche Trivialitt ber Beethoven’s Aeußerung, niemals wre er im Stande gewesen, einen Text wie Figaro oder Don Juan zu componiren, als ruchlose Vulgaritt der Gesinnung brandmarkt, aber an den (von Haym herausgehobenen) viel grçßeren Ruchlosigkeiten Schopenhauer’s offenbar keinen Anstoß nimmt? Was der Verf. ber seine Zweifel sagt, ob der Muth (des Atheismus), welchen Strauß in seinem Leben Jesu und nachher gezeigt habe, ein natrlicher und ursprnglicher (?) oder nicht vielmehr ein angelernter und knstlicher sei, will im Grunde doch nur sagen: der Atheismus des Strauß war schon ganz recht, nur htte er ihn bis zur Hçhe der Schopenhauer’schen Frechheiten treiben sollen. Dann wre Strauß ganz der Mann nach dem Herzen des Verfassers gewesen. Und um recht deutlich zu zeigen, wie er dies meine, ermannt er sich zu den die ganze Hohlheit der Schopenhauer’schen Weisheit entblçßenden Worten: „Mit einem gewissen rauhen Wohlbehagen hllt er (Strauß) sich in das zottige Gewand unserer Affengenealogen und preist Darwin als einen der grçßten Wohlthter der Menschheit – aber mit Beschmung sehen wir, daß seine Ethik ganz losgelçst von der Frage: „wie begreifen wir die Welt?“ sich aufbaut. Hier war eine Gelegenheit, natrlichen Muth zu zeigen: denn hier htte er seinen „Wir“ den Rcken kehren mßen und khnlich aus dem bellum omnium contra omnes und dem Vorrechte des Strkeren Moralvorschriften fr 182 Arthur Schopenhauer von R. Haym. Berlin, 1864. G. Reimer. Besonders abgedruckt aus dem vierzehnten Bande der Preußischen Jahrbcher. 183 Schopenhauer als Scholastiker. Eine Kritik der Schopenhauer’schen Philosophie mit Rcksicht auf die gesammte Kantische Neoscholastik. Von Moritz Venetianer. Berlin, 1873. C. Duncker (Heymons): – Die Gegenaufstellungen des begabten Venetianer kçnnen erst zur Sprache kommen, wenn sein in nahe Aussicht gestelltes Werk: Der Allgeist, erschienen sein wird. Unserer eigenen Kritik der Schopenh. Philosophie im 2. Bande unserer Philosophischen Schriften gedenken wir hier mit der Bemerkung, daß nur Indolenz eines Theils der deutschen Philosophen ihre unwiderleglichen Nachweisungen ignoriren konnte.
350 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung das Leben ableiten kçnnen, die freilich nur in einem innerlich unerschrockenen Sinne, wie in dem des Hobbes, und in einer ganz anderen großartigen Wahrheitsliebe ihren Ursprung haben mßten, als in einer solchen, die immer nur in krftigen Ausfllen gegen die Pfaffen, das Wunder und den „welthistorischen Humbug“ der Auferstehung explodirt. Denn mit einer echten und ernst durchgefhrten Darwinistischen Ethik htte man den Philister gegen sich, den man bei allen solchen Ausfllen fr sich hat.“ Der Vorwurf des Mangels an natrlichem Muth gegen Strauß soll wohl auf Schopenhauer’s von Kant bernommener (aber entstellter) Lehre von der intelligiblen Freiheit zurckweisen, (welche Schopenhauer’s khne romantische Phantasie ber die Menschen hinaus auf jede Thierspecies, Pflanzenspecies und sogar auf jede ursprngliche Kraft der anorganischen Natur erstreckt! 184 Denn sonst wre der Vorwurf des Mangels an natrlichem Muth vçllig sinnlos. Wre nur auch Schopenhauers Theorie als wahr erwiesen, was sie so wenig ist, daß sie vielmehr darum in vollen Unsinn ausluft, weil sein Monismus nur Scheinindividuen, wirkliche aber gar nicht kennt und nicht kennen kann, wenn er auch den Namen: Individuen fr Modificationen usurpirt. Schopenhauer kennt weder Monaden, noch Atome und als Nichtcreationist kennt er auch keine geschaffenen Wesen. Wo sollen da wirkliche Individuen herkommen? Wie ihm das Ding an sich ein Grundbrei ist, in dem sich nichts unterscheidet und dem er daher nur widersinniger Weise Stufen der Objektivation zuschreibt, weil er bei Platon von Ideen luten gehçrt hat, so ist ihm die Gesammterscheinung des blinden Willens, die Welt, nur ein dem Scheine nach in Unterschiede auseinandergegangener, in Wirklichkeit (im Wesen) unterschiedloser Grundbrei, und Ding an sich und Erscheinung desselben ist ein und derselbe Grundbrei. Die intelligible Freiheit des Willens (in Sch’s. Fassung) ist daher nur ein Humbug, ein erschwindelter Traum, der auch als Traum nicht weiter reicht als sich so oder anders als bçse zu trumen, da von der Mçglichkeit sich in der intelligiblen Region den Willen vçllig gut zu bestimmen, bei Sch. nirgends die Rede ist. Eine schçne Freiheit (wenn sie auch wre) sich nur in irgend einem Grade so oder anders zum Bçsen bestimmen zu kçnnen und vom Bçsen nur durch Rein-nichts-mehr-Wollen, womit das Nichtsein eintrte, ablassen zu kçnnen, so daß der bçse Wille nur fort und fort Bçses zu wollen brauchte, um sein Dasein (wenn auch ein leidenvolles) ins Ungemessene zu erhalten, ein Dasein, das zwar nach dem Tode bewußtlos, aber doch individuell sein soll! Soll man da nicht an den Ausspruch Baader’s erinnert werden, daß man in der neuern Philosophie nicht selten auf Behauptungen stoße, die den Charakter latenter Verrcktheit trgen? Davon sieht nun der Verf. nichts und schreitet khn zu Andeutungen einer Begrndung der Moral aus Darwin’schen „Principien,“ nach welchen das 184 Die Welt als Wille und Vorstellung I, 186. Wenn Sch. Kant’s intelligible Freiheit htte persifliren wollen, so htte er es schwerlich besser zu Stande bringen kçnnen.
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Vorrecht des Strkern unverbrchlich anerkannt und durchgefhrt werden soll. Das Vorrecht des Strkeren wre aber der Tod alles Rechtes und aller Moral, der gesammten Ethik, wie schon Platon gezeigt hat. Es ist nichts als die Wiederaufwrmung der Lehre der Naturalisten und Materialisten, die durch die grçßten Moral- und Rechtslehrer in ihrer Unhaltbarkeit, in ihrem Widersinn und ihrer Scheußlichkeit lngst gebrandmarkt ist. In der blindwirkenden Natur waltet ein Gesetz des Strkeren, aber kein Recht desselben. Von Recht und Moral kann nur in der Region des Geistes die Rede sein und wer den Geist mit der Natur vereinerleit, ihn zur Natur und ihren Gesetzen herabsetzt, verleugnet den Geist und wird dadurch nicht zur Natur, sondern zum Widergeist. Nicht einmal in einer Ruberbande kçnnte das angebliche Recht des Strkeren als oberste Norm der Mitglieder derselben unter sich festgestellt werden, ohne die Bande von Innen heraus auseinander zu sprengen. Die großartige Wahrheitsliebe, die nach dem Verf. in der Anerkennung und Durchfhrung des angeblichen Rechtes des Strkeren liegen soll, wre nicht besser als die Wahrheitsliebe einer Bande von Schurken, die sich ehrlich untereinander gestnden, in Wahrheit recht eingeteufelte Schurken zu sein. Nur wre es da mit der Großartigkeit des Bekenntnisses schlecht bestellt, weil alle sich gut genug kennen wrden, um zu wissen, daß die Leugnung ihrer Verworfenheit nur eine unverschmte, freche und lcherliche Lge wre. So wre es unverschmt und lcherlich dazu, wenn der Naturalist zwar Naturalist sein, aber leugnen wollte, Naturalist zu sein und unter Anderm aus seinem Naturalismus die Consequenz des Rechtes des Strkeren zu ziehen. Aber es ist allerdings nicht wahr, daß die Mehrheit der Naturalisten der Leugnung ihres Naturalismus in seinen Consequenzen sich nicht schuldig macht. Sonst wren Schriften wie jene von Recht, von Strauß, von Burmeister und vielen Andern nicht mçglich, die die Menschheit auf der Grundlage des Naturalismus oder Materialismus zu echter Humanitt fhren zu wollen versuchen.185 Freilich taugt der Straußische Satz: „Alles sittliche Handeln ist ein Sichbestimmen nach der Idee der Gattung“ nicht das Mindeste. Der Verf. verwirft diese Behauptung, ohne zu bemerken, daß er sich damit selber schlgt. Denn
185 Wollte der Verf. etwa sagen, das sei es ja gerade, was er an Strauß tadle, daß er seinen Materialismus nicht mit voller Consequenz und energischem Muthe ausgesprochen habe, so gewinnen wir daraus noch nicht die Ueberzeugung, daß er das Recht des Strkeren nur in der Consequenz des Strauß’schen Standpunkts liegend habe bezeichnen wollen, und wenn er etwa auch diese Wendung nehmen wollte, was nicht recht glaublich ist, so wrden wir ihm entgegnen, daß sein eigner Standpunkt ihm die Consequenz des Rechtes den Strkern an die Hand geben mßte, was gewiß nicht zu seiner Entlastung, sondern zu seiner Verurtheilung ausschlagen wrde.
352 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung wenn er mit Strauß den Darwinismus, was er so nennt,186 anerkennt, so mßte er wissen, daß, da Darwin keine bleibenden Gattungen gelten lßt, schon darum auf die Idee der Gattung kein Moralprincip gebaut werden kçnne und er konnte sein Gerede vom Affen, vom Seehund, vom Patagonier sparen. Wenn die Gattungen fließend sind und der Mensch zu diesen fließenden Gattungen gehçrt, wo soll da ein bleibendes Princip fr sein Handeln hergenommen werden? Sein Wollen und Handeln mßte dann ebenso fließend sein wie es die Gattungen wren und es ließe sich daraus nur eine Relativittstheorie des Handelns ableiten, die schließlich den letzten Rest aller Moral aufzehren wrde. Die Schopenhauer’sche Behauptung des Verfassers, daß nie ein Begriff die Menschen sittlicher und besser machen kçnne, welche auf unsinnigen Voraussetzungen beruht, wrde den Werth aller Sittenlehre und aller sittlichen Belehrung aufheben und ist daher augenscheinlich falsch und wahr nur, daß es mit dem Begriff allein nicht gethan ist und nicht gethan sein kann, weil immer noch die Zustimmung des Willens zu dem als wahr erkannten Begriff eines Sittlichen gehçrt. Fehlte aber der Begriff, wie sollte sich der Wille sittlich bestimmen kçnnen? Je vollkommener der Begriff, um so grçßere Aufforderung, ja Hlfe zur sittlichen Bestimmung des Willens. Selbst die Freiheit des Willens ist nicht denkbar ohne Bewußtsein, welches nie ohne alle Begriffe sein kann, sie seien vollkommen oder unvollkommen. Der Begriff, die Verstandesform der Vernunftidee, ist das Gestirn, welches dem Wanderer Willen den Weg zum Ziele leuchtend zeigt und nicht minder dem verirrten Wanderer unentbehrlich ist, um wieder auf den rechten Weg zu kommen. Ohne das Licht des Vorstellens, des Erkennens, des Wissens wrde der Wille, wenn er getrennt vom Bewußtsein noch sein kçnnte, ganz im Finstern tappen und vçllig blinde Entschließungen kçnnten keinen sittlichen Werth haben. Wenn Moral begrnden schwer ist, wie der Verf. sagt, so sollte er es auch mit deren Begrndung nicht so leicht nehmen, wie er thut, wenn er pantheistisch-romanhafte Gedanken Schopenhauer’s und deistisch-mechanistische Gedanken Darwin’s dazu fr gengend erachtet. Nach dem. Verf. htte Strauß die Phnomene menschlicher Gte, Barmherzigkeit, Liebe und Selbstverneinung, die nun einmal thatschlich vorhanden seien, aus seinen darwinistischen Voraussetzungen ernsthaft erklren und ableiten sollen. Solche Erklrungen und Ableitungen aus dem Hypothesenkram Darwin’s, die man mit dem Ehrennamen Principien tauft, wrden nicht vernnftiger, nur weniger romanhaft und geistreich ausgefallen sein, als jene Schopenhauer’s ausgefallen sind. Strauß wrde im Falle solchen Versuchs hçchstens die Rolle Wagner’s bernommen haben, der Faust durch seine Geistlosigkeit in solches Erstaunen versetzt, daß er ausruft: 186 Denn der wirkliche Darwinismus ist etwas Anderes, sofern er nicht naturalistisch oder materialistisch Gott und die Schçpfung leugnet und nur im Widerspruch damit in der Auffassung des Weltprocesses in das Fahrwasser materialistischer Gedanken gerth.
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„Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet, Der immerfort an schalem Zeuge klebt, Mit gier’ger Hand nach Schtzen grbt, Und froh ist, wenn er Regenwrmer findet!“
Aus Darwinischen mechanischen Naturentwickelungsgesetzen die Phnomene menschlicher Gte, Barmherzigkeit, Liebe ohne Sophistik und mit wissenschaftlicher Gltigkeit ableiten zu sollen, ist mehr als einem gesunden Menschenverstand zugemuthet werden darf. Es ist nichts als die Aufforderung, eine Glaskgelchenschnur von Hypothesen, mit darwinistischen eingereihten falschen Perlen von Fehlschlssen und Sophistikationen, fr Ergebnisse exakter Forschung und Wissenschaft auszugeben. Strauß vergißt freilich seinen Materialismus, wenn er ermahnt: „Vergiß in keinem Augenblicke, daß du Mensch und kein bloßes Naturwesen bist.“ Denn wenn der Mensch nach den atheistischen Voraussetzungen des Materialismus aus der Thierwelt stammt, wre es auch nicht aus dem Affen, so ist und bleibt er bloßes Naturwesen, fr welches Moral, die etwas Anderes als bloße Klugheitslehre wre, keinen Sinn hat. Aber es wre falsch, trotz des oben Gesagten zu behaupten, daß das vçllig Gleiche vom Darwinismus gelte. Falsch, weil Darwin nicht von atheistischen, sondern von deistischen Voraussetzungen ausgeht, und daher zwar im Irrthum ist, aber nicht radical falsch wie der Materialismus. Der Darwinismus ist einer Correktur fhig, der Materialismus nicht. Dieser muß von Grund aus aufgehoben werden, wenn die Wahrheit Platz greifen soll. Der Darwinismus kann sich auf sein Urprincip, den absoluten Geist, besinnen und durch ein tieferes Durchdenken seines Princips und seiner wahren Konsequenzen die ganze Reihe seiner secundren, hypothetischen Aufstellungen umbildend corrigiren. Wir wrden dann leicht einen neuen Leibnizianismus entspringen sehen, der, wenn Darwin das Genie des Leibniz zu Gebote stnde, in Verbindung mit seinen umfassenden Naturkenntnissen, die Welt noch ganz anders in Erstaunen setzen wrde, als der erste Wurf seiner Hypothesen wenigstens die Naturalisten, Materialisten, Hegel’sche und Schopenhauerische Pantheisten in Erstaunen gesetzt hat, trotz dem daß die Abstammungslehre in ihren Voraussetzungen schon keimartig oder auch schon entwickelter enthalten war. Ob der in eine hçhere Stufe des Leibnizianismus umgebildete Darwinismus allen Anforderungen der Wissenschaft gengen wrde, darber soll hier nicht entschieden werden. Einen Uebergang dazu hat bereits Pr. Otto Wigand 187 in Marburg gemacht, der, ohne ihn von ihm entnommen zu haben, denselben Gedanken seiner Abstammungslehre hypothetisch zu Grunde legte, welchen Baader mit den Worten angedeutet hat: „Wollte man, geleitet von der sichtbaren Stufenreihe aufsteigender Formen und Krfte in der Natur auf eine wahre progressive 187 Die Genealogie der Urzellen als Lçsung des Descendenz-Problems oder die Entstehung der Arten ohne natrliche Zuchtwahl von Pr. Dr. Albert Wigand.
354 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Hinaufluterung der einzelnen Krfte etc. schließen, so mßte man alle diese einzelnen Krfte in ebenso viele Keime umschaffen, in welchen alle jene hçheren Krfte schon prformirt lgen.[ “ ]188 Aber auf den menschlichen Geist wollte Baader diese hypothetische Naturanschauung ausdrcklich wenigstens nicht ausgedehnt wissen, da ihm der Geist niemals als eine Steigerung einer Naturkraft erscheinen konnte, und die Leibnizsche Auslçschung dieses Unterschiedes nicht zwar zu Gunsten des Realismus sondern des Idealismus niemals nach seinem Sinne war. Daher fhrt er in der citirten Stelle fort mit den Worten: „denn im Geistigen existirt Alles nur einmal und einfach und es hat jedes einzelene (geistige Wesen) seine selbstbestimmte Zahl und sein Gesetz.[ “ ] Hier ist also an keine andere Vervollkommnung zu denken, als an die Wiedergeburt der eigenen Form (Zahl), wenn anders diese, wie immer, entstellt und verletzt worden ist.189 Es wird dem Verfasser freilich leicht, das Gerede des Strauß vom Universum als „unserem Gott“ und religiçser Verehrung wrdigem Urquell alles Lebens, aller Vernunft und alles Guten damit zu persifliren, daß er zeigt, (fr Strauß) flçße zugleich aus jenem einen Urquell aller Untergang, alle Unvernunft, alles Bçse. Nur muß erinnert werden, daß Schopenhauer’s Lehre, nur in anderer Fassung und ohne die Forderung religiçser Verehrung, im Punkte der Ableitung alles Positiven und Negativen aus dem Weltprincip im Wesentlichen auf dasselbe hinausluft. Schopenhauer gibt sich nur den Schein grçßerer Tiefe, im innersten Grunde ist die Plattheit dieselbe wie bei Strauß und der Schein grçßerer Tiefe wird nur durch sophistische Blendwerke bewirkt. Wenn Strauß das Universum anbetungswrdig findet, so ist er zwar im Irrthum, aber er statuirt diese Anbetungswrdigkeit doch nur darum, weil, da er Gott leugnet, nichts Anderes als das Universum fr die Anbetung mehr brig bleibt, whrend Schopenhauer bei der gleichen Gottesleugnung berhaupt nichts Anbetungswrdiges mehr brig lassen und insofern seine Plattheit hinter einen Zug von Satanismus verstecken will. Wer nichts Anbetungswrdiges mehr anerkennt, hat den letzten Rest des Idealen verloren. Wenn Frechheit Muth genannt werden kçnnte, so wre Sch. allerdings muthiger als Strauß zu nennen. Lcherlich ist es, wenn der Verf. die Hegelianer der Vergçtterung des Erfolgs beschuldigt, whrend er selbst der Vergçtterung des Erfolgs huldigt durch die Aufstellung des Rechtes des Strkern als oberstes Princip der Moral. Ein ehrlicher Naturforscher glaubt nach ihm an die unbedingte (will sagen, fgen wir hinzu, vçllig blinde, 188 Smmtliche Werke Baader’s XII, 175. 189 Eine dem Leibnizianismus angenherte Abstammungslehre hat ganz krzlich Gu. Th. Fechner in seiner uns eben erst zugekommenen kleinen Schrift: Einige Ideen zur Schçpfungs- und Entwickelungslehre der Organismen vorgetragen. Wenn nach ihr die Affen vom Menschen abstammen sollen, so wird diese Umkehr der Darwin’schen Hypothese so wenig wie diese befriedigen kçnnen.
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geistlose) Gesetzmssigkeit der Welt, ohne aber das Geringste ber den ethischen oder intellektuellen Werth dieser Gesetze selbst auszusagen, als worin er das hçchst anthropomorphische Gebaren einer nicht in den Schranken des Erlaubten sich haltenden Vernunft erkennen wrde. Das heißt der ehrliche Naturforscher hlt sich jenseits aller Philosophie und berlßt es den Philosophen, den ethischen und intellektuellen Werth der Naturgesetze vollends zu leugnen und bis auf die Wurzel aus dem menschlichen Geist zu vertreiben und dieses heißt mit andern Worten nur der Gott vçllig ignorirende Naturforscher ist der ehrliche und nur der Gottleugnende Philosoph ist der ehrliche, wahre und chte Philosoph. An Deutlichkeit lßt dies allerdings nichts zu wnschen brig und man kann daraus das relative Lob verstehen lernen, welches Baader Schopenhauer zollt, indem er von ihm sagt, er habe sich durch seine Consequenz und Aufrichtigkeit ein ungleich grçßeres Verdienst erworben, als eine Unzahl anderer, in demselben Esprit schreibender Philosophen, unserer Zeit, welche den heißen Brei im Munde behalten. 190 Baader will sagen, Sch. habe den Schçnfrbereien und Zweideutigkeiten der Pantheisten, richtiger der Pankosmisten, womit sie die Negativitt, den Nihilismus, die innere Nichtsnutzigkeit ihres Atheismus, verhllt htten, ein Ende gemacht und den unverblendeten Leuten darber die Augen geçffnet, zu welcher monstreusen Scheußlichkeit der sogenannte Pantheismus fhrt. Wie aber der Pantheismus Schopenhauer’s sich darstellte, dies zeigt Baader in der kurzen Charakterisirung, worin er sagt, Schopenhauer behaupte, daß der Urwille (der ihm als Gott gelte) als das Ding an sich, welches der Welt als Erscheinung (der Materie) zum Grunde liege, ewig nur diese und nichts Besseres hervorzubringen vermçge, daß er ewig diese seine mißlungene schlechte Hervorbringung wieder tilge, daß aber eben dieses Nie- und NimmerGelingen seiner Erscheinung – als Selbstgeburt oder Selbstformation Gottes und immer wiederkehrende Fausse-couche – die Perpetuitt dieser Welt und das Immer-wieder-zum-Vorscheinkommen neuer Creaturen in ihr sichere. An dieser Darstellung lßt sich allenfalls aussetzen, daß sie strenger in der Sprache und in den Wendungen Schopenhauer’s gehalten sein sollte. Aber sie trifft das Wesen oder Unwesen seiner Lehre ins Herz. Daraus ergibt sich nun, daß nicht eben dem Verfasser als Schopenhauerianer die Berechtigung zusteht, sich ber die freilich grndlich mißlungene, unsinnige Folgerung, welche Strauß aus jenem bekannten Worte Lessing’s zieht (S. 48 – 49), lustig zu machen, weil er mit Strauß dem gleichen Irrthum unterliegt, sich nur eine Welt voll Unvollkommenheiten, voll Widersprchen, voll Leiden der empfindenden Wesen als mçglich und das Weltprincip zu nichts Anderem fhig denken zu kçnnen, wobei der kleine, nur subjektive Unterschied nicht ins Gewicht fllt, daß Strauß 190 Smmtliche Werke Baader’s III, S. 366. Vergl. IX, 82, III, 428, XII, 372, 230, VIII, 264, II, 298, II, 301, VI, 102.
356 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung die Welt nicht ganz so schwarz findet, als Schopenhauer und der Verfasser sie finden, welcher letztere ausdrcklich (S. 42) von den namenlosen Leiden der Menschheit zu reden weiß, die er doch so gut wie Strauß nur aus der angeblichen unbedingten (wie gesagt, absolut blinden und geistlosen) Gesetzmßigkeit der Welt sich zu erklren versuchen kann. Will der Verf. diese von ihm eingerumte, unbedingte Gesetzmßigkeit der Welt mit Strauß, der mitten im Materialismus seinen frher angebeteten Hegel nicht ganz vergessen kann, als Vernnftigkeit der Welt nicht gelten laßen, so gesteht er ja aufrichtig und ehrlich ein, daß ihm die Unvernunft Weltprincip ist und entweder gibt es kein Absurdum, dann gibt es auch keine Wahrheit und keine Erkenntniß der Wahrheit, oder dies heißt, was das Richtige ist, sich selbst ad absurdum fhren. Die Schopenhauerei ist nichts Anderes als die falsche Philosophie, die sich am aufrichtigsten und grndlichsten selbst ad absurdum fhrt. Die von dem Verfasser (S. 50 – 52) gegen Strauß erhobenen Vorwrfe: Furcht vor den Socialdemokraten, Vereinigung von Dreistigkeit und Schwche, tollkhnen Worten und feigem Sichanbequemen, feines Abwgen der Gelegenheiten zu imponiren oder zu streicheln, Mangel an Charakter und Kraft bei dem Anschein von Kraft und Charakter etc., was Alles der Verf. an dem Strauß’schen Buche zu hassen erklrt (bei einem Schopenhauerianer sogar gegen die brderlichen Atheisten anderer Frbung ganz selbstverstndlich), sind nicht eben unverdient zu nennen. Aber im Munde des Verfassers bedeuten sie doch nichts anderes als die Anklage, daß Strauß zwar im Absurden schon ganz Erkleckliches leiste, aber noch weit wegen Mangels an voller Entschiedenheit davon entfernt sei, den Schopenhauer’schen Gipfel des Absurden erstiegen zu haben. Es ist wahr, das Straußische Buch ist jmmerlich armselig, aber viel mehr durch das, was es mit Schopenhauer gemein hat, als durch die Mngel, welche der Verf. an ihm rgen konnte. Der grçßte Theil der gergten Mngel trifft mehr die Person Strauß’, als das System oder die Weltanschauung, welcher sich der Getadelte zugewendet hat. Es kam aber in erster Linie auf eine Kritik der letzteren an. Es ist wahr, daß es beklagenswerth ist, daß Tausende von diesem Flachkopf, der als Philosoph gar nicht zhlt, sich verwirren lassen. Wenn aber die Philosophie Schopenhauer’s, in welcher Aufputzung, in welcher secundren Modification immer, nach dem Verf., wie man glauben muß, dem kommenden Geschlechte der Deutschen zu einer wahrhaft deutschen Kultur, die er ihm in der Gegenwart abspricht, verhelfen soll, so muß uns noch ungleich bler zu Muthe werden, als es, wie der Verf. bemerkt, dem jungen Gçthe zu Muthe war, als er in die triste191 191 Wenn Holbach’s System, also auch sein Urheber, trist ist, so ist auch Baader gerechtfertigt, wenn er Schopenhauer einen tristen Philosophen nennt (W. III, 366). Denn die Ergebnisse beider Philosophen sind schließlich gleich trist zu nennen. Das idealistische Moment bei Schopenhauer ist nur ein Humbug, wie schon der Titel seines Werkes verrth.
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atheistische Halbnacht des Systeme de la nature hineinblickte, und ihm das Buch so grau, so trumerisch, so todtenhaft vorkam, daß er Mhe hatte, seine Gegenwart auszuhalten, daß er davor wie vor einem Gespenste schauderte. Ungleich bler muß uns bei dem Ansinnen, auf Schopenhauer’s Lehre deutsche oder berhaupt irgend eine Cultur zu bauen, zu Muthe werden, weil uns in der Schopenhauer’schen Philosophie, wenn man sie aus ihrer romantisch-phantastischen, falschmystischen Verhllung heraushebt, nur eine andere Form des Naturalismus entgegentritt, die einerseits zum weltflchtigen Quietismus, andererseits zum Hasse des wahrhaft Idealen hintreibt.192 Zwar ist das System der Natur (unter dem Namen Mirabaud’s herausgegeben, aber von Baron Holbach verfasst) keineswegs ein bloßer ins Populre bersetzter Abklatsch des Spinozismus, aber es ist ihm bei allen Unterschieden, vorzglich in der Erkenntnißtheorie und im Apriorismus der Metaphysik, in den Hauptpunkten innerlichst verwandt und entbehrt auch nicht eines pantheistischen Anstrichs.193 Holbach weiß sich mit Spinoza eins im Atheismus.194 192 Wenn spter (?) Goethe sich vom Spinozismus einnehmen ließ, so hat er entweder naiver Weise die innere Wesensverwandtschalt Spinozas und Holbach’s gar nicht bemerkt, oder er konnte Holbach nicht mehr so todtenhaft finden, als er ihm frher erschienen war. Wenigstens nicht, wenn er auf die Sache selbst sah. Fr. A. Lange scheint sich dieser Auffassung zu nhern, wenn er in seiner Geschichte des Materialismus (2. Auflage, I, 363 sagt: „So ist denn auch in Goethe’s berhmtem Urtheil ber das System der Natur die tiefste Kritik (?) mit der grçßten Ungerechtigkeit in naiver Selbst-Gewißheit des eignen Thuns und Schaffens zu einer großartigen Opposition des jugendfrischen deutschen Geisteslebens gegen die scheinbare Greisenheit Frankreichs verschmolzen.“ Die Bestreitung des Pantheismus bei Holbach ist nur gegen den an Theismus erinnernden Namen, nicht gegen das Wesen desselben, die Alleinslehre, gerichtet. Wenn Lange spter (S. 407 ff.) nochmals auf Goethe’s Aeußerung ber das System der Natur zurckkommt, und die darin enthaltene entschiedene Ablehnung desselben damit zu erklren sucht, daß er sagt: „Man (.d. h. Goethe) bedachte nicht, daß wenn das Weltganze auch das hçchste Kunstwerk wre, eine Analyse seiner Elemente stets etwas Anderes sein mußte, als der Genuß des Ganzen in der Anschauung seiner Herrlichkeit,“ so fhrt er die Verwerfung Goethe’s auf bloß sthetische Grnde zurck, welche die Sache selber gar nicht berhren. Aber Goethe glaubte damals auch wissenschaftliche Grnde gegen Holbach zu haben, hauptschlich den, daß Holbach das, was hçher als die Natur oder als hçhere Natur in der Natur erscheine, zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur verwandele. Eine Idee von Gott schwebte dabei Goethe offenbar vor, wenn er (in Wahrheit und Dichtung 11. C.) schrieb: „Alles sollte (nach dem System der Natur) nothwendig sein und deßwegen kein Gott. Kçnnte es denn aber nicht auch nothwendig einen Gott geben? fragten wir.“ Aber der Gott, der ihm als hçhere Natur in der Natur vorschwebte, war offenbar nicht der berweltlich-geistige, sondern wohl nichts Anderes als die Vorstellung einer Weltseele, die allerdings das System der Natur (wie den persçnlichen Gott) verwarf, wiewohl es ihr durch die Vorstellung der Natur als eines handelnden lebendigen Ganzen nicht so gar fern stand. 193 System der Natur von Mirabaud. Deutsch bearbeitet und mit Anmerkungen versehen. Leipzig, 1841. Wigand. S. 55, 227, 488 – 491 194 System der Natur, S. 414
358 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Der Spinozismus ist ihm Identitt Gottes und der Natur.195 Daraus zieht Holbach die Folgerung, daß nur die Natur existirt und Gott nur ein Name fr die Natur ist. Dies ist nur eine Modification des Spinozismus, keine Aufhebung desselben. Mag man diese Modification eine verschlechternde Umbildung zu nennen vollauf berechtigt sein, so verrth sie doch ihren Ursprung aus dem Spinozismus, wenigstens ihre Bestrkung durch ihn. Htte dem Holbach Spinoza nicht mit dem Satze: Praeter Deum neque dari neque concipi potest substantia, die materielle Welt zu leugnen geschienen, was Spinoza nicht in dem Sinne wollte, den H. annahm, so wre der Unterschied Holbach’s von Spinoza zwar noch immer vorhanden geblieben, aber bezglich der Ergebnisse zur Unerheblichkeit herabgesunken und fast nur noch in Bezug auf Spinoza’s Erkenntnißlehre, metaphysische Apriorismen und scholastische Construktionen und Einkleidungen seiner Gedanken bemerkbar geworden. Der Atheismus nimmt bei Holbach eine noch viel rohere Gestalt als bei Spinoza an, aber in allen gegen den Theismus gerichteten Negationen sind sie ein Herz und eine Seele. Goethe’s Protest gegen die Identisirung des Spinozismus mit dem Atheismus (Goethe’s Leben von Schfer, 12. A. I, 390) ist ohne Gewicht, da er selber einrumt, nach Spinoza sei das Dasein (alles Daseiende zusammen) Gott. Goethe hat Spinoza nie grndlich studirt, aber noch weniger ernstlich darber nachgedacht, was es heiße: das Dasein ist Gott, und wie Gott im stricten und eigentlichen Sinne alles Dasein sein kçnne. Htte er den Satz im Sinne Bçhme’s genommen, so wre er nicht Spinozist, was er sein wollte, sondern Bçhmist gewesen. Alle Systeme, welche Gott als den absoluten Geist leugnen, sind nur, soweit sie auch scheinbar auseinandergehen, Variationen desselben Thema’s und Spinoza, Holbach, Schelling in der frheren Epoche, Hegel, Schopenhauer streiten in ihren Nachfolgern nur um die Frage, wer von ihnen dasselbe Thema geistreicher, scharfsinniger, wissenschaftlicher, consequenter, khner (d. h. toller) ausgefhrt habe. Die Beantwortung der dritten Frage: Wie schreibt Strauß seine Bcher; – welcher er unerwartet und berraschend genug eine vierte anhngt – leitet der Verf. mit Betrachtungen ein, denen man eine erhebliche Berechtigung nicht abstreiten kann und die ohne Zweifel bei allen Nichtverweichlichten, ernstlich Strebenden, Anerkennung finden werden. Dies wrde noch viel mehr der Fall sein, wenn der Verf. anstatt von dem Bedrfniß der Cultur (einer hçheren Cultur als der erreichten) im Allgemeinen zu sprechen, ein Culturideal gezeichnet htte, dem man sich wirklich mit Geist und Herz zuwenden kçnnte. Aus Schopenhauer’s Geschichte leugnenden Gedanken lßt sich gar kein Culturideal ziehen und wenn der Verf. etwa die Wendung von Hartmann’s zur Culturidee im Sinne haben sollte, so wre damit wenig oder nichts gewonnen, weil das Ziel dieser Cultur nicht bloß die Aufhebung aller Cultur, sondern auch 195 Daselbst, S. 443, 444.
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alles Daseins wre. Aber mit Recht bestreitet der Verf. die allgemein angenommene Classicitt des Dr. Strauß als Schriftsteller, wenigstens bezglich seiner in sechs Auflagen erschienenen Schrift: „Der alte und der neue Glaube.“196 Man kann den Grnden des Verfassers fr die Behauptung, daß Strauß in dieser Schrift sich nicht als wissenschaftlicher streng ordnender und systematisirender Gelehrter benommen habe, nicht widersprechen. Wir finden es aber bertrieben, wenn er Strauß einen ganz nichtswrdigen Stilisten nennt, weil derselbe in Rcksicht des Stils sich weder mit Schopenhauer, noch mit dem Verfasser vergleichen kann und am Meisten, weil er in der Lage ist, der Strauß’schen Schrift eine ganze Reihe, zum Theil arger Verfehlungen gegen die Gesetze eines guten Stils nachzuweisen. Diese vom Verf. gelieferten Nachweisungen sind unbestreitbar richtig und gltig. Aber der Verf. lßt deutlich genug bemerken, daß es noch etwas Anderes als die formelle Stilistik ist, die seinen Zorn gegen Strauß herausfordert. Strauß ist ihm in dieser Schrift zu schwchlich, zu schlaff, zu zurckhaltend, beschçnigend und Schçnfrberei treibend, zu wenig energisch und krftig, man sagt wohl nicht zuviel, zu wenig Schopenhauerisch. Rumt man auch ein, daß Strauß kein Schopenhauerisches, berhaupt kein philosophisches Genie ist, so konnte man ihm doch nicht zumuthen, seine drftigen philosophischen Gedanken in die oft genug das Maaß berschreitende Kraftsprache Schopenhauer’s zu kleiden. Wohl kann man Schopenhauer ein grçßeres Maaß von Aufrichtigkeit, Geradheit und Energie als Strauß zuschreiben, aber diese Eigenschaften treten bei Sch. nicht rein und lauter hervor, sondern entstellt durch heftige Leidenschaftlichkeit, Anmaaßung, Schmh- und Verleumdungssucht, in kaum glaublichem Maaße fr Jeden, der sich noch nicht aus seinen Schriften selbst davon berzeugt htte, daß diese Vorwrfe nur zu sehr begrndet sind. Der Mattigkeit, Schlaffheit, Schçnfrberei, Ordinrheit ec. auf Schopenhauerische Weise entgehen, heißt doch in die entgegengesetzten Fehler fallen und die Philisterhaftigkeit durch eine an das Satanische grenzende Frechheit austreiben. Wem dies bertrieben scheinen sollte, dem kçnnte man mit Dutzenden von unwiderleglichen Nachweisungen dienen. R. Haym in seiner meisterlichen Abhandlung: Arthur Schopenhauer, hat sie noch lange nicht erschçpft. Aber eine Stelle daraus muß hier zum Beleg 196 Die sechs Auflagen der schlechten Strauß’schen Schrift imponirten dem bekannten Theologen Nippold in der Art, daß er in seiner oben erwhnten Schrift (S. 136) in die Worte ausbricht: „Gewiß ein deutlicher Beleg, daß es eine geistige Großmacht ist, die Strauß reprsentirt und daß die selbstbewußten Empfindungen seines Nachwortes (S. 9, 10) nicht auf bloßer (!) Selbsttuschung beruhen.“ Der Mann zeigt sich unfhig zu begreifen, daß die sechs Auflagen wenig Anderes beweisen, als den erbrmlichen Zustand der Urtheilskraft der halbgebildeten Menge und einer nicht ganz geringen Anzahl geistesschwach gewordener Gelehrten. Das geflgelte Wort vom Obenauf schwimmen des Leichten und dem Untersinken des Schweren kçnnte man mit Fug auf die Schriften Schopenhauer’s im Verhltniß zu jenen Baader’s anwenden.
360 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung ausgehoben werden: „Wie durch die Lçcher des Mantels jenes Sokratikers, so blickt durch alles pathetische Gerede von Wahrheit der rechthaberische, der anmaaßliche und unlautere Sinn unseres Autors hindurch. Denn nein! Es ist nicht bloß eine sachlich motivirte Antipathie, nicht bloß die innere Gegenstzlichkeit seiner zu den angegriffenen Meinungen, was den Cynismus dieser Angriffe erklrt. In dunkleren und immer dunkleren Farben zeichnet sich durch das polemische Gebaren des Mannes seine Persçnlichkeit und sein Charakter hindurch. Aus seinen eigenen Schriften und vollends aus den Aktenstcken, die wir dem urtheilslosen Eifer seiner Anhnger verdanken, geht mit peinlicher Gewißheit hervor, daß zu den hervorstechendsten Zgen seines Charakters Anmaaßung, Neid, Schadenfreude und unversçhnliche Rachsucht gehçrten. Die beiden Eigenschaften, die uns selbst unbedeutende Menschen werth machen und die, wenn sie sich vereint mit hohen Gaben des Geistes finden, unsere Verehrung zur Liebe stimmen, Bescheidenheit und Gutmthigkeit waren nicht das Erbtheil dieses ungewçhnlichen Menschen. Pfui ber die Philistertugenden! Das Goethe’sche Wort, daß nur die Lumpe bescheiden sind, ist unter den Lieblingsthemen, die er nicht mde wird, zu variiren. Nicht minder offen, mit wahrhaft schamloser Naivett trgt er seine Schadenfreude und Unversçhnlichkeit zur Schau. Die Leser des zweiten Bandes der „Welt als Wille und Vorstellung“197 werden sich der Stelle erinnern, in der er bei Gelegenheit der Erwhnung Fr. Schlegel’s, er, der Lobredner der christlichen Ethik selbstvergessender Liebe, die erhabene Maxime aufstellt, daß Obscurantismus eine Snde gegen den menschlichen Geist sei, die man nie verzeihen, sondern, „dem, der sich ihrer schuldig gemacht, dies unversçhnlich stets und berall nachtragen und bei jeder Gelegenheit ihm Verachtung bezeugen soll, so lange er lebt, ja, noch nach dem Tode. Die Leser der Parerga erinnern sich auch wohl der in noch spterer Zeit geschriebenen Stelle, wo er im Ton eines hmischen Buben sich an dem Spotte kitzelt, der schon jetzt die Deutschen wegen ihrer Bewunderung der Hegel’schen Afterphilosophie von Seiten ihrer Nachbarn treffe.“ Nicht genug, daß Sch. die bedeutendsten Forscher Deutschlands auf das Scheußlichste schmht,198 wohinter sich Neid, Eifersucht, Bçsheit, Rachsucht versteckt, er hat auch die Stirne, wçrtlich zu sagen: „Tchtige, plumpe, von Ministern aufgeputzte, brav 197 Band II, 600. 198 Venetianer hat ganz Recht, wenn er z. B. Hegel (dessen Gegner wir sind) einen ungleich bedeutenderen Geist als Sch. nennt. Hegel hat im Guten und Schlimmen einen gewaltigen Einfluß auf fast alle Wissenschaften gebt, dessengleichen Sch. nie gebt hat und nie ben wird. Indeß ist nicht zu bersehen, daß Hegel die Erwartung erweckt, den Glauben zum Wissen erhoben zu sehen, diese Erwartung aber tuscht, whrend Schopenhauer seinen Hass gegen den Glauben nicht bloß offen, sondern leidenschaftlich feindselig zu erkennen gibt, und also nur Solche verleiten kann, die den Keim des Glaubens- und Gotteshasses schon in sich tragen.
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Unsinn schmierende Charlatane, ohne Geist und ohne Verdienst, – das ist’s, was den Deutschen gehçrt; nicht Mnner wie ich.“ Und doch ist es nicht schwer, nachzuweisen, daß es mit seinem Genie lange nicht so weit her ist, als er vorgibt, auch wenn man ihm eine Dosis genialer Begabung einrumt. Denn er hat in dem argen Mißbrauch seiner Gaben nichts wahrhaft Fruchtbringendes hervorgebracht, kaum, einen einzigen wahrhaft tiefsinnigen Gedanken geschaffen, sondern einer Unzahl von bedeutenden, mittleren und ganz besonders perversen Geistern Gedanken abgenommen und gerade diejenigen bedeutenden vorzglich ausgebeutet, welche er am Meisten geschmht und herabgewrdigt hat. Ganz mit Recht sagt R. Haym in seiner erwhnten Abhandlung (S. 78): „Nicht aus sich selbst, sondern aus den Vorrathskammern anderer Philosophen entnahm er (S.) das weitere Bauzeug, die gedankenmßige Fllung, die begrifflichen Bindeglieder der vereinzelten im eigenen Geist entsprungenen AperÅus. So hatte er sich ja bereits fr den ersten Theil seiner Philosophie aus der Kant’schen Kritik der Vernunft versorgt, und sofort mßen die Englnder weiteres Material dafr liefern. So wird er nun auch fr den zweiten Theil zum Freibeuter an den Lehren Kant’s, Fichte’s, Schelling’s und der franzçsischen Materialisten. Die entlehnten Vorstellungen werden smmtlich den tiefen (?), aber in sich selbst keiner begrifflichen Entfaltung fhigen Grundanschauungen dienstbar gemacht.“199 Was kann man Grndliches dagegen aufbringen, wenn R. Haym Schopenhauer einen Revenant im Verhltniß zu Candanus nennt, und behauptet, daß seine Philosophie die Wissenschaft nicht zu organisiren, sondern nur zu desorganisiren verstanden und daß sie keine Spur eines Einflußes auf das Wachsthum der Wissenschaften zurckgelaßen habe?200 Was kann man Ausreichendes dagegen sagen, wenn Haym behauptet, daß jeder Versuch einer Entwickelung dieses Systems seiner Zerstçrung gleichkomme und daß die eigenen Stze Schopenhauer’s: „daß der Sinn und Zweck des Lebens kein intellektueller, sondern ein moralischer, daß die letzte Spitze, in welche die Bedeutung des Daseins berhaupt ausluft, das Ethische sei,“ zugleich das Todesurtheil seiner Lehre seien, welche die Wurzeln der Ethik ins Nichts verlege, welche das Ziel aller Weisheit in der Ertçdtung des Willens, in der Flucht aus dem handelnden Leben und der Wirklichkeit suche? Wenn man dem Verf. der (soweit sie positive Behauptungen aufstellen) zumeist wirklich unzeitgemßen Gedanken einrumen kann, daß er nicht wenig Schlagendes, Vernichtendes, Zermalmendes gegen Strauß gesagt hat, so ist es doch zu bedauern, daß er 199 Vgl. Haym’s A. Schopenhauer, S. 79, 81, 83. 200 Die Anhnger Schopenhauer’s drfen verblendet genug sein, solche Wirkung noch zu erwarten, sobald die bereits angekndigte Gesammtausgabe seiner Schriften erschienen sein wird. Verwirrung kann er noch genug stiften vermçge jener einschmeichelnden Eigenschaften seines vorgesetzten Gifttranks, welche Haym S. 111 seiner Abhandlung so treffend geschildert hat. Aber positiven Gewinn wird die Wissenschaft niemals aus ihm ziehen, wenn auch einen nicht unerheblichen negativen.
362 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung entweder nicht weiß, daß z. B. Haym, besonders in den letzten Blttern seiner Abhandlung, noch viel Zermalmenderes, wenn auch in gar nicht affektvoller Art, ber und gegen Schopenhauer gesagt hat, oder daß er, wenn er es weiß, wenig Aussicht gibt, bezglich Schopenhauer’s vernnftigen und wohlbegrndeten Vorstellungen Gehçr zu geben. Wir sind nicht der Ansicht, daß die, berhaupt genommen, sehr zutreffenden Worte Haym’s, welche wir hier nicht entbehren wollen, vollkommen auf den Verfasser passend wren, aber er wrde doch gut thun, sich zu prfen, ob sie in keinem Punkte Anwendung auf ihn finden. „Wen, sagt H., . . . beschliche nicht zuweilen, in schlechten Stunden, etwas von jener pessimistischen und quietistischen Stimmung, von jener Weltverbitterung und Weltmdigkeit, welche Schopenhauer mit so glnzender Beredsamkeit entfaltet? Derjenige, in dem diese Stimmung habituell wre, wenn er nun bei unserem Schriftsteller fnde, daß sie dennoch mit einiger Poesie sich versetzen lasse, ja, durch einen gewißen Idealismus eine Wendung zum Positiven bekommen kçnne, ein Solcher wre offenbar reif fr die Philosophie dieses Mannes, und doppelt wird er es sein, wenn strenges wissenschaftliches Denken nicht seine Sache ist, wenn er sich vielleicht an der Drre und Knstlichkeit anderer Systeme ermdet hat, wenn er endlich gar von dem Genialittstrieb besessen ist oder Lust hat, mit Methode den Sonderling zu spielen. Es muß auch solche Kuze geben. Fr sie ist die Schopenhauer’sche Philosophie eine Delikatesse, und unter der Gemeinde dieser wunderlichen Heiligen wird sie ohne Zweifel noch eine Weile fortfahren, Mode zu sein.“ Sollte der Verf. von Allem Dem mit vollkommenem Grunde nichts auf sich anwendbar finden, so besorgen wir, daß noch etwas Anderes, mindestens nicht weniger Schlimmes, Anwendung auf ihn finden kçnnte. Mehreres deutet nmlich darauf hin, daß der Verf. einen noch entschlosseneren, trotzigeren Atheismus als Grundlage einer hçheren Cultur zunchst Deutschland zu empfehlen und wo mçglich einzupflanzen gedenkt. Diese Hindeutungen sind zu ersichtlich, als daß ein scharfer Blick sie verkennen kçnnte. Bei der straffen, energischen Art des Verfassers ist es aber nicht wahrscheinlich, daß er seinen Atheismus auch nur eben so sehr, geschweige mehr als Sch., in mystische Verkleidungen einzuhllen unternehmen sollte, und da wird ihm zur Vermeidung der Plattheiten des (pluralistischen) Materialismus, die sich ja nicht allein in dem Feuerbach mit minderer Kraft nachgemachten Straußischen finden, nichts brig bleiben als den (monistischen) Naturalismus mit mçglichster Schroffheit auszubilden und mit offener Feindseligkeit gegen den Theismus herauszukehren. Wenn er der Mann dazu ist, wenn das zrnende Niederdonnern des greisenhaft und matt gewordenen Strauß nicht verflackerndes Strohfeuer ist, sondern von einem wirklich energischen, von großer Begabung getragenen Quell hervorsprudelt, so kann die Ausbildung seines Atheismus zu einer folgenreichen Krisis fhren. Denn je consequenter, je umfassender, je durchgreifender der negative Grundgedanke der Geistlosigkeit des
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Weltprincips ausgefhrt werden wrde, um so erkennbarer und einleuchtender fr die ganze wissenschaftliche Welt wrde sich solches System und zwar im Ganzen ad absurdum fhren und die denkende Welt wrde aus dem Nebel, in welchen sie durch die wirren Variationen jenes falschen Grundgedankens in den pantheistischen, naturalistischen und materialistischen Systemen sich einhllen ließ, mit einem Schlage herausgefhrt finden kçnnen. So einfach die Einsicht ist, daß die Annahme der Geistlosigkeit des Weltprincips mit der gesetzlichen Naturordnung einerseits und mit der Existenz des Geistes (der Geister) in der Welt andererseits in Widerspruch steht, so kostet doch der durchgreifende alldurchdringende Sieg dieser Wahrheit seit Jahrtausenden die ungeheuersten Kmpfe. Die Erklrung dieser Erscheinung kann nicht in dem platten Determinismus, sondern muß gerade in der Bestimmung des Menschen zum Hçchsten gesucht werden, welche nur durch Zusammen- und Ineinanderwirken aller Vermçgen und Krfte des Menschen erfllt werden kann. Ohne Steigerung und fortschreitende wechselseitige Durchdringung der intellektuellen und der moralischen Cultur kann auch die religiçse nicht zur Lçsung ihrer Aufgabe gelangen, die Menschheit von Innen heraus zu Einem Gottesreich zu einigen. Reaktionen N in Ecce homo: Unbedingt fr mich entschieden sich nur einige alte Herren, aus gemischten und zum Theil unerfindlichen Grnden. […] Das Nachdenklichste, auch das Lngste ber die Schrift und ihren Autor wurde von einem alten Schler des Philosophen Baader gesagt, einem Professor Hoffmann in Wrzburg. Er sah aus der Schrift eine grosse Bestimmung fr mich voraus, – eine Art Krisis und hçchste Entscheidung im Problem des Atheismus herbeizufhren, als dessen instinktivsten und rcksichtslosesten Typus er mich errieth. Der Atheismus war das, was mich zu Schopenhauer fhrte.“ KGW VI/3, S. 316
Anonym: Unser Trost. In: Schweizerischer Volksfreund. Anzeigeblatt der Stadt Basel. Organ der Liberalen Basels, Nr. 265 vom 8. 11. 1873, S. 1. ber die GT und UB I. „Unser Trost.“ So wahr das Bild ist, das Strauß vom Gebildeten unserer Zeit giebt, so wahr es ist, daß neben Anregungen des Verstandes durch allerlei Lektre wir Nahrung fr das Gemth nicht in der Kirche suchen, sondern in Konzert und Theater; so miserabel muß doch bei ernsterem berlegen diese Weisheit Jedem vorkommen;
364 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung so mangelt oft dieser Trost, der schon deswegen dir nicht gengt, weil er nicht fr Alle ist. Die Kunst soll uns glcklich machen; ja wenn man nur auch mit gutem Gewissen diese Kunst hçren, schauen und lesen kçnnte; denn die beste Kunst war doch immer die gottesdienstliche, das ist einmal nicht wegzudisputiren. Die schçnsten Gemlde sind Madonen, die schçnsten Huser Tempel und Kirchen, die schçnsten Gedichte Psalmen, die schçnste Musik ein Choral oder eine Messe, das schçnste Steinbild das Bild eines griechischen Gottes. Ist es denn nicht ein Hohn gegen die Kunst, sich berhaupt zu ihr zu drngen? Sie freut sich ihrer Heimath, und du lchelst. Neu sind solche falsche Meinungen, die Kunst kçnne die Religion ersetzen, nicht. Schiller wollte aus seiner Schaubhne eine moralische Anstalt machen – die Zeit ist darber zur Tagesordnung geschritten. Einzelne nur mochten wehmthig zurckbleiben, wehmthig, daß der herrliche Enthuasismus [sic] sich von einem so unglaublichen Wahne konnte gefangen nehmen lassen. Nun und voriges Jahr hat Hr. Prof. Nietzsche dasselbe Thema behandelt in seiner Schrift: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik.“ Es kann unsere Aufgabe nicht sein, den Leser durch die ganze Abhandlung hindurchzufhren; wir begngen uns das praktische Resultat mitzutheilen. Als solches kçnnen unter Anderem folgende Worte gelten: „Nur durch den Feuerzauber der Musik ist eine Erneuerung und Luterung des deutschen Geistes mçglich.“ Was wßten wir sonst zu nennen, was in der Verçdung und Ermattung der jetzigen Cultur irgend welche trçstliche Erwartung fr die Zukunft erreichen kçnnte? Vergebens sphen wir nach einer einzigen, krftig gesteten Wurzel, nach einem Fleck fruchtbaren und gesunden Erdboden: berall Staub, Sand, Erstarrung, Verschmachtung. Da mçchte sich ein trostlos Vereinsammter kein besseres Symbol whlen kçnnen, als den Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Drer gezeichnet hat, den geharnischten Ritter mit dem erzernen, harten Blick, der seinen Schreckensweg anbeißt durch seine grausen Gefhrten und doch hoffnungslos, allein mit Roß und Hund zu nehmen weiß …; aber wie verndert sich plçtzlich jene eben so dster gebildete Wildniß unsrer ermdeten Cultur, wenn sie dionysische Zauber (der Wagner’schen Musik) berhrt! Ein Sturmwind streckt Alles abgelebte, morsche, zerbrochene, Verkmmerte, hllt es wirbelnd in eine rothe Staubwolke und trgt es wie ein Geier durch die Lfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Verschwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Versenkung an’s goldene Licht gestiegen, so voll und grn, so ppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermeßlich. Die Tragçdie (Wagners) sitzt inmitten dieses Ueberflußes an Leben, Leid und Lust, in erhabener Entzckung … Ja, meine Freunde, glaubt mir nur an das dionysische Leben (in Wagner’scher Musik) und an die Wiedergeburt der Tragçdie (durch Wagner’s Musikdrama).“ – Wie Straußens Trost Theater und Konzert nach seinem Geschmack sind, so ist Hrn. Nietzsches Trost Wagners Musiktragçdie, und er fordert dich auf, an das zu glauben, mit dem Muth, den eigne Erfahrung gibt und mit der Be-
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geisterung des Glubigen und mit glnzender Beredsamkeit. (Die Erinnerung an Theatermaschinerie im Bild von der „Versenkung“ ist allerdings unangenehm). Aber die Tragçdie Wagner’s hat ihm nicht nur die den Einzelnen erbauende Bedeutung, sondern auch eine national – deutsche: Der Mythus ist das zusammengezogene Weltbild, das Gleichnis eines Volkes fr seine Weltanschauung; jedes Volk hat seine Mythen, und diejenigen, bei welchen sie am lebendigsten sind, sind die krftigsten; ohne Mythus geht jede Kultur ihrer gesunden schçpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab … Die Bilder des Mythus mssen die unbemerkt allgegenwrtigen, dmonischen Wchter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwchst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine Kmpfe deutet; und selbst der Staat kennt keine mchtigern ungeschriebenen Gesetze, als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbrgt. Man stelle jetzt daneben den abstrakten ohne Mythen geleiteten Menschen, die abstrakte Erziehung, die abstrakte Sitte, das abstrakte Recht, den abstrakten Staat; man vergegenwrtige sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezgelte Schweifen der knstlerischen Phantasie; man denke sich eine Kultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Mçglichkeiten zu erschçpfen und von allen Kulturen sich kmmerlich zu nhren verurtheilt ist – das ist der die [sic] Gegenwart. Frwahr ein großartiger Blick in unsere Zeit, so schonungslos er auch sein mag. Nun sei aber, fhrt Hr. N. fort, „unter diesem unruhig auf- und niederzuckenden Kulturleben“ doch noch „eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verborgen“ … aus ihr „ist die deutsche Reformation hervorgewachsen, in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. Ihm antwortete in wetteiferndem Widerhall jener weihevoll bermthige Festzug dionysischer Schwrmer, denen wir die deutsche Musik danken – und denen wir die Wiedergeburt des deutschen Mythus danken werden!“ Mit andern Worten: Wagners Ansichtstragçdie wird den altdeutschen Mythus wiedergebren; er ist „der Fhrer der den Deutschen in die lngst verlorne Heimat zurckbringt, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt.“ Aber das wre doch zu viel verlangt, daß wir etwa noch die altgermanische Mythologie annehmen sollen, als sthetische Bilderwelt, wie die antike Mythologie, wohl als Decoration, welche Bedeutung des Mythus aber wiederum mit der ursprnglichen gar nicht kann verglichen werden. Im Grunde ist auch dieser Mythus Hrn. Nietzsches nur ein poetisch phylosophisches Spielzeug; es braucht die Religion nicht, es hat an der Kunst genug. Damit ist aber auch klar, daß er selbst den wahren Mythus in vollendeter Weise zu entbehren gelernt hat.
366 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Und so ist Hrn. Nietzsches praktisches Resultat: Wagner’sche Musik ist das Heilmittel gegen „des Gedankens Blße“, der Trost gegen das hoffnungslose Stoßen in die „Volksmaschine“. Wir sind nicht im Falle phylosophisch zu widerlegen, daß die Kunst diesen Trost gewhren kçnne; wir sagen nur: – den Griechen hat niemals „die Kunst das Leben gerettet“, sondern das hat die Religion gethan; die Kunst ist das Sekundre, die Religion ist das Primre. Und nur die Zeit des Achylus, obgleich schon angefressen von der Skepsis, denoch im Vergleich zu der des Sokrates religiçs stark, vermochte die griechische Tragçdie hervorzubringen. Und nicht der Untergang „der Tragçdie war zugleich der Untergang des Mythus“, sondern der Untergang des religiçsen Mythus war der Untergang der tropischen Kunst. Darum ist die Kunst als „das Cossellationum und Supplement der tragischen Erkenntniß“ d. h. das Entsetzen, daß es Grenzpunkte des Wissens gebe; der „musiktreibende Sokrates“, das Exempel dieses Mannes, der um sich zu schtzen vor einem Entsetzen, im Gefngniß Verse machte, – eine Halbheit, zu gut zum Sterben und zu schwach zum Leben, und Herrn Nietzsches mit so prchtigem Enthusiasmus verkndete Evangelium – ein flitterhafter Trost. – Wenn uns keine Religion zugestanden wird, so wollen wir uns auch nicht einbilden, wir htten einen Trost, und unsere Kunst kçnne je einer griechischen gleich werden. Unsere Hoffnung aber ist, daß die gegenwrtigen Reformbestrebungen immer gewaltiger werden, daß sie von allem Fremden uns nach und nach befreien mçchten, damit der klare, treue Glaube zur Herrschaft komme, und sein volles Grn lange berwuchert von fremder Art, herrlich erscheine. Vor seinen Frchten wird der, jetzt in offener Zwietracht und in hadernde Confessionen vçllig auseinandergerissen, zu Freude und Frieden genesen; und er wird dann auch die theure Heimat werden der Kunst, sie wird an seinen Quellen den Trank finden, der sie zum Besten begeistert, was sie vermag. Reaktionen N an Elisabeth Nietzsche, 14. 11. 1873: „Hier gab’s noch einige Zeitungsartikel, zB. im Volksfreund ganz stattlich ber die Geburt der Trag[çdie].“ KGB II/3, Bf. 327, S. 178
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Binder, Gustav: Herr Nietzsche. In: Die Gegenwart. Wochenschrift. Berlin, Bd. 4, Nr. 49–52 vom 6., 13., 20., 27. 12. 1873, S. 362 f, 375ff, 402ff, 420 f. Herr Nietzsche. 201 „Und wehe allen eiteln Magistern und dem ganzen sthetischen Himmelreich, wenn erst der junge Tiger, dessen unruhige Kraft berall in schwellenden Muskeln und im Blick des Auges sichtbar wird, auf Raub ausgeht!“ Entsetzlich! Wer ist das? wo haust er, der frchterliche Tiger? Wahrscheinlich in Basel; und vermuthlich ist es Herr Dr. Friedrich Nietzsche, ordentlicher Professor der classischen Philologie an der Universitt daselbst. Ganz gewiß zwar wissen wir’s nicht; aber darauf wenigstens wollten wir schwçren, daß es Herr Nietzsche nicht bel nimmt, wenn seine Freunde und Bewunderer besagten Tiger in ihm erkennen. „Bildungsphilister! Schamloser Philisteroptimismus! Unsthetisches Magisterlein! Ruchlose Vulgaritt der Gesinnung! Feigheit! Verchtliche Philisterei! Lahme Ohnmacht! Impotenz! Nichtswrdiger Stilist! Scribler! Stilistisches Pachyderm! Lumpenjargon! Tintenklexer! Sudlergesindel!“ Der verstndige Leser hat schon lange gemerkt, daß mit all’ dem niemand gemeint sein kann, als der Verfasser des „Leben Jesu“, des „Hutten“, des „Voltaire“, des Buches „der alte und der neue Glaube“, David Friedrich Strauß. So ist’s! So schreit Herr Nietzsche von der Rheinecke her nach Alldeutschland herein! Gut gebrllt, Tiger! Und schon hat auch in Deutschland des Tigers Mordgeschrei seinen Widerhall und schallverstrkende Fortpflanzungen gefunden. Die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ hat uns einen Artikel „Nietzsche gegen Strauß“ gebracht, in welchem ein K. H. [d.i. Karl Hillebrand] nicht bel Lust zu haben scheint, den „Tiger“ sofort zum „Sieger“ zu ernennen. Zwar sieht er sich veranlaßt, dem Tigerthier da und dort den Pelz sanft auszukmmen: aber Alles in Allem genommen, sind ihm denn doch die „Unzeitgemßen Betrachtungen“ eine „geistreiche“, eine „vortreffliche kleine Schrift“. Das nun allerdings hat Herr K. H. mit seinem Artikel erreicht, daß der skandalçse Handel nicht auf die baseler Localbltter beschrnkt bleiben kann. Wenn man in Deutschland ein so tollhuslerisches Machwerk in einem „Weltblatt“ çffentlich anpreist, ein Machwerk, in welchem grobe Unwissenheit mit klglicher Schwche des Denkens, Rohheit und unehrliche Behandlung des Gegners mit wahrhaft wahnwitziger Selbstberhebung um den Vorrang streiten; – dann muß auch çffentlich dagegen protestirt werden, zumal, wenn der Angegriffene sich nicht selbst vertheidigen kann. Wer protestirt, ist einerlei: der ungezogene Straßenjunge, der einen anstndigen Mann mit Schimpfreden 201 „Unzeitgemße Betrachtungen“. Von Dr. Friedrich Nietzsche.
368 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung berschttet, kann die ihm gebhrende – Zurechtweisung von dem nchsten besten („einem recht beliebigen“, sagt der Tiger S. 68) Vorbergehenden empfangen. – Die Schrift des Herrn N. beginnt mit einer Declamation gegen einen Irrthum, dem, wie er meint, die deutsche Nation seit dem Kriege verfallen, und der im Stande sei, nichts Geringeres hervorzubringen, als „die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reiches“, der Irrthum nmlich, daß auch die deutsche Cultur in jenem Kampfe gesiegt habe. Sofort werden wir belehrt, Cultur, sei vor allem „Einheit des knstlerischen Stiles in allen Lebensußerungen eines Volkes“; diese Einheit aber, ja selbst das Gefhl fr die wahre Cultur, fehle dem deutschen Volke durchaus, und darum kçnne von einem Siege der deutschen ber die franzçsische keine Rede sein; ein solcher wre viel mehr erst dann errungen, wenn wir den Franzosen eine originale deutsche Cultur aufgezwungen htten. Wir wollen auf die absurde Uebertreibung in den letzten der angefhrten Stze uns nicht weiter einlassen, und auch nur im Vorbergehen die lcherliche Gedankenlosigkeit berhren, deren sich der Deklamator schuldig macht, wenn er (S. 6 f.) zuerst sagt, daß der Deutsche die „Formen aller Zeiten und Zonen“ um sich aufhufe, wenige Zeilen nachher, daß die Franzosen eine wirkliche productive Cultur haben; und wiederum nach ein paar Zeilen, daß wir in allen Angelegenheiten der Form nach wie vor von Paris abhngen. Wichtiger fr die Charakterisirung des Kritikers sind uns zwei andere Punkte. Sein Gçnner, Herr K. H., selbst kann sich nicht enthalten, ihm zu bemerken, daß es „durchaus verfehlt“ sei, das Wesen einer Cultur allein in den Stil zu setzen; und in der That gibt es eine innere und eine ußere Cultur, gerade so, wie es eine innere und eine ußere Rohheit gibt. Herr K. H. freilich scheint nicht zu bemerken, daß er mit seiner ganz richtigen Ausstellung seinem Schtzling von vornherein den Boden unter den Fßen wegzieht; wir aber constatiren daraus die Unfhigkeit des Heren [sic] Nietzsche zu einer so schwierigen Untersuchung, wie die ber den Culturzustand eines Volkes es ist, auch nur das Fundament richtig zu legen. Und dann – die erstaunliche Anmaßung, daß ein solcher Mensch sich auf den Stuhl setzen will, um ber sein Volk Gericht zu halten! Herr N. scheint wahrhaftig von dem Donner seiner eigenen Prophetenstimme so betubt, so ausschließlich von der Bemhung in Anspruch genommen, „mit dem Feuerblick des Genie“ zu blicken“, daß er nicht mehr sieht noch hçrt, was um ihn her vorgeht. Daß die deutsche Cultur eine einseitig innerliche ist, daß wir jene Cultur, welche in der „Einheit des knstlerischen Stils aller Lebensußerungen“ besteht, noch nicht oder nicht mehr haben, das ist in Deutschland gerade jetzt allgemein anerkannt. In allen Zeitschriften von Bedeutung, wo irgend uns ein Kundiger von der Malerei oder der scenischen Kunst der Franzosen erzhlt, in smmtlichen Berichten der grçßeren deutschen Journale ber die wiener
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Weltausstellung – berall ist es auf ’s entschiedenste betont, wie weit wir in diesen Dingen hinter dem Nachbarvolk zurckstehen. Man hofft – ob mit Recht oder Unrecht, braucht hier nicht untersucht zu werden –, daß die neugeschaffene nationale Einheit uns das Erringen einer einheitlichen Cultur erleichtern werde, wie sie es den Franzosen erleichtert hat; man ist sich aber wohl bewußt, wie viel grçßere Schwierigkeiten die Eigenart des deutschen Volkes der Erreichung dieses Zieles in den Weg legt. Wenn nun gegenber dieser – man darf wohl sagen einmthigen – Selbsterkenntniß der Nation irgend jemand daher kommt mit der Behauptung, daß in Deutschland nichts zu finden sei, als „phlegmatische Gefhllosigkeit fr die Cultur“, daß „alles dort sich die Augen verbunden und die Ohren verstopft“ habe, so kann selbstverstndlich der Grund eines so gnzlich unberechtigten Urtheils nur im urtheilenden Subject zu suchen sein. Herr Nietzsche will und muß nun einmal durchaus auf einsamer Hçhe stehen ber einem entarteten Geschlecht; er muß Erscheinungen erdichten, um sie zu erklren, die Krankheit muß erfunden werden, damit der Curpfuscher sein Werk beginnen kçnne. Und zwar zunchst noch vom Thron herab mit der Diagnose, indem er den erstaunten Volksgenossen das große Wort in’s Angesicht schleudert, welches ihr ganzes Elend mit einem Male bloßlegt, das Wort: „Bildungsphilister“. Der „Bildungsphilister“ ist nmlich nach Herrn Nietzsche derjenige Philister, welcher „whnt, selber Musensohn und Culturmensch zu sein“; zu den Bildungsphilistern aber gehçren mit verschwindenden Ausnahmen alle die Deutschen der Gegenwart, welche gewçhnlich zu den Gebildeten gerechnet werden, wie denn auch „alle çffentlichen Institutionen, Schul-, Bildungs- und Kunstanstalten gemß der Gebildetheit des Bildungsphilisters und nach seinen Bedrfnissen eingerichtet“ sind. Es ist doch etwas Herrliches um ein solches Wort! Die Vorstellung von der Sache mag nicht neu sein – haben doch die Romantiker von Tieck bis Justinus Kerner das Lied gegen die Philister aus allen Tonarten gesungen – aber mit dem Wort ist ja der Gedanke vollstndig zur Welt gebracht! Und wie bequem ist die Anwendung des Wortes! Wie trefflich lßt sich aus demselben herausspinnen, was man nur immer will! Man hçre Herrn Nietzsche: „Die systematische und zur Herrschaft gebrachte Philisterei ist deshalb, weil sie System hat, noch nicht Cultur und nicht einmal schlechte Cultur, sondern immer nur das Gegenstck derselben, nmlich dauerhaft begrndete Barbarei. Denn alle jene Einheit des Geprges, die uns bei jedem Gebildeten der deutschen Gegenwart so gleichmßig in die Augen fllt, wird Einheit nur durch das bewusste oder unbewusste Ausschließen und Negiren aller knstlerisch productiven Formen und Forderungen eines wahren Stils. Eine unglckliche Verdrehung muß im Gehirn des deutschen Philisters vor sich gegangen sein: er hlt gerade das, was die Cultur verneint, fr die Cultur, und da er consequent verfhrt, so bekommt er endlich eine zusammenhngende Gruppe von solchen
370 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Verneinungen, ein System der Nichtcultur, der man selbst eine gewisse „Einheit des Stils“ zugestehen drfte, falls es nmlich noch einen Sinn hat, von einer „stilisirten Barbarei“ zu reden. Ist ihm die Entscheidung freigegeben zwischen einer stilgemßen Handlung und einer entgegengesetzten, so greift er immer nach der letzteren, und weil er immer nach ihr greift, so ist allen seinen Handlungen ein negativ gleichartiges Geprge aufgedrckt“. – Leute, welche gewohnt sind, die Worte mit den Dingen zu vergleichen, auf welche die Worte passen sollen, werden nun freilich sagen, das sei lauter leer abstractes Gewsche und hirnloses Gefasel, dem in der Wirklichkeit gar nichts entspreche; und eben an dieser Nichtbereinstimmung erkenne man den Stmper, der sich in den Philosophenmantel hlle. Sie kçnnten vielleicht sogar sagen, wenn dem Herrn Nietzsche aus Schopenhauer etwas anderes geblieben wre, als einige Schlagwçrter und der Ton seiner Schimpfreden, so htte ihm manche schçne Stelle des Philosophen beifallen mssen, die ihn vor solchem Gerede gewarnt haben wrde. Da aber diese Leute selbst Bildungsphilister sind, „rein negative Wesen, die nur verneinen, secretiren, sich die Ohren verstopfen“, so ist leicht ersichtlich, daß durch ihre Verneinung der philosophischen Befhigung des Herrn Nietzsche das ber sie gefllte Urtheil lediglich besttigt werden kann. Ganz besonders angenehm ist aber solch ein Wort deshalb, weil sich so hbsch damit spielen lßt, wohl auch ein wenig taschenspielern und bemogeln. Wenn z. B. Fr. Vischer in seiner Rede bei der Hçlderlin-Feier sagt: Hçlderlin „konnte es nicht ertragen, daß man noch kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist“, so hat er freilich mit dem Wort „Philister“ etwas anderes gemeint, als das „rein negative, blos secretirende“ Philisterunding des Herrn Nietzsche. Aber was thut dieser? Flugs nimmt er die Karte des arglosen Aesthetikers vom Tisch, legt dafr hie einige hin, und nach diesem genialen Mançver, das natrlich niemand bemerkt hat, kommt nun sofort Trumpf-As: „Seht ihr’s, wie ihr nun doch einmal Farbe bekannt habt? Aber welche Schamlosigkeit zugleich, daß ihr’s wagt, zu bekennen! Ja cynisch ist Ihr Wort, Herr Professor! und cynisch ist das Bekenntnißbuch Ihres Freundes, des Magisters David Strauß!“ „Magister“ nmlich nennt Herr Nietzsche seinen Gegner, oder besser sein Opfer Strauß zwar nicht an der so eben von uns parodirten, wohl aber sonst an sehr vielen Stellen seines Buches. Ob er wohl die „Antiquarischen Briefe“ gar nicht gelesen hat, daß er sich nicht scheut, so als Klotzius redivivus vor die Welt hinzutreten? Thun wir ihm nicht Unrecht! Natrlich hat er sie gelesen; und er will mit jener oft wiederholten Anrede keineswegs, wie weiland Klotz, den brgerlichen Abstand markiren zwischen dem „Geheimde-Rath“ oder in seinem Fall dem „ordentlichen Professor an der Universitt Basel“ und dem Magister, der niemals wirklich Professor geworden ist, sondern den idealen Abstand zwischen dem freien Genius und dem „Philister mit eingeengter, trockener Seele und mit gelehrten und nchternen Bedrfnissen“ (sic!). Aber schlimm nicht nur fr den Geheimderath oder den Professor, schlimm auch fr den Genietiger,
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„wenn ihn sein Magister im Stiche lßt“! und dreimal schlimm, wenn ihm gar sein Gymnasiast davonluft! – Mit „David Strauß, dem Bekenner und dem Schriftsteller“, erklrt Herr Nietzsche auf dem Titel seines Buches es zu thun haben zu wollen. Zunchst nun sieht man nicht ein, was mit dem „Bekenner“ Strauß, d. h. mit dem Inhalt des Strauß’schen Buches die Einleitungen des Herrn Nietzsche, sein Gerede von Cultur und Culturphilistern zu schaffen haben kann, da es sich in dem weitaus grçßten Theile des Buches um Fragen handelt, die mit der „Cultur“ nach des Herrn Nietzsche Definition in einem nheren Zusammenhange stehen. Wirklich findet auch Herr K. H., daß die „treffliche kleine Schrift“ unvollstndig sei und vom Inhalt des Buches im Grunde nur das vierte Capitel: „Wie ordnen wir unser Leben?“ (oder vielmehr nur Theile dieses Capitels und namentlich die „Zugabe“) bespreche. Wenn aber Herr K. H. den Grund dieser Beschrnkung darin finden zu wollen scheint, daß Herr Nietzsche mit der Besprechung der drei andern Capitel etwas Ueberflssiges zu thun befrchtet habe, so kçnnen wir ihm darin nicht beipflichten. Herr Nietzsche hat diese vielmehr unterlassen, weil er zu derselben unfhig war, unfhig, auch nur im allgemeinen Zweck und Anordnung des Buches; geschweige denn die Durchfhrung des Einzelnen, zu verstehen oder gar zu beurtheilen. Whrend z. B. auch er ber die Strauß’schen „Wir“ seine Witze macht, und in denselben ohne Weiteres die deutschen „Culturphilister“ berhaupt findet, whrend er also wissen mßte, daß unter dem „neuen Glauben“ der Glaube der „Wir“, unter dem „alten“ derjenige verstanden werden muß, ber welchen die „Wir“ hinausgeschritten sind –, so kommt ihm plçtzlich der sublime Einfall: von „altem und neuem Glauben“ zu reden, und unter dem ersteren das Christenthum zu verstehen, sei ganz unberechtigt, weil „der grçßere Theil der Menschheit auch heute noch buddhaistisch und nicht christlich“ sei! Wir frchten sehr, daß „der heilige Zorn Schopenhauers“ (S. 24) auch Herrn Nietzsche treffen wrde, wenn der Philosoph sehen kçnnte, wie sein Jnger die bei ihm aufgeschnappten Brocken so gar am unrechten Platze wieder von sich gibt! II. Hiernach kann es auch nicht befremden, daß Herr Nietzsche mit der von Strauß einfach und klar begrndeten Eintheilung seines Buches nach der leichtesten Methode fertig wird, indem er uns versichert, daß „die dritte der Strauß’schen Fragen nichts mit der zweiten, die vierte nichts mit der dritten und alle drei nichts mit der ersten zu thun haben“; und daß er die Strauß’sche Begrndung der vierten Frage in hçchst einfltiger Weise mißversteht oder verdreht. Wenn Strauß sagt, „wir wollen erfahren, ob uns diese moderne Weltansicht denselben Dienst leistet, und ob sie uns denselben besser oder schlechter leistet, als dem Altglubigen die christliche; ob sie mehr oder weniger geeignet ist, das Gebude
372 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung eines wahrhaft menschlichen, d. h. sittlichen Lebens darauf zu grnden“, – so ist ohne Weiteres einleuchtend, daß der Beantwortung dieser Fragen das ganze vierte Capitel „wie ordnen wir unser Leben?“ gewidmet ist; wie ja umgekehrt die ultramontanen Bischçfe und die lutherischen Zeloten nicht mde werden, zu versichern, daß von der Durchfhrung ihrer religiçsen Principien die sittliche Lebensordnung fr den Staat wie fr den Einzelnen abhngig sei. Herr Nietzsche aber meint oder gibt vor zu meinen, daß es sich bei jenen Fragen blos um die jenseitigen Dinge handle, um dann behaupten zu kçnnen, daß Strauß dieselben „mit scheuer Eile und mit einem Verlegenheitstrumpfe“ abgethan habe. Der einzige Einwurf des Herrn Nietzsche, der nicht ganz ohne Sinn ist, mßte erst noch anders gewendet werden, um wirklich zu treffen. Wir unsererseits glauben allerdings, wie viele mit uns, daß die Auslçsung der Metaphysik in die Physik, wie sie von Strauß in den letzten Abschnitten des dritten Capitels versucht wird, sehr erheblichen Einwendungen unterliegt; daß fr seinen „Monismus“ die Zeit noch nicht gekommen ist, ja niemals kommen wird; wir glauben, daß es noch immer so steht, wie damals, als Schiller den Vertretern der Philosophie und der Naturwissenschaften zurief: „Feindschaft sei zwischen euch! Noch kommt das Bndniß zu frhe!“ Und Herrn Nietzsche htte z. B. aus Schopenhauers Abhandlung ber die Kant-Laplace’schen Kosmogonie der Satz zu Gebote gestanden, „daß selbst eine noch so betrchtliche weit reichende physische Erklrung der Welt dennoch nie das Verlangen nach einer metaphysischen aufheben oder die Stelle derselben einnehmen kann“. Statt dessen aber belehrt er uns: „der Naturforscher, welcher die dritte Frage auswirft, zeigt gerade darin seinen unbefleckten Wahrheitssinn, daß er an der zweiten stillschweigend vorbergeht.“ Und er zeigt damit auf ’s neue seine Unfhigkeit zur Behandlung solcher Gegenstnde und zum Verstndniß des Strauß’schen Buches. Eben nicht blos der Naturforscher, sondern auch der Philosoph kann jene Frage: „wie begreifen wir die Welt?“ aufwerfen, und im philosophischen Sinne genommen, steht dieselbe allerdings mit der Frage nach der Religion in wesentlichem Zusammenhang. Auf die Behauptung endlich, daß Strauß zwischen Wissen und Glauben nicht zu unterscheiden verstehe, brauchen wir nicht weiter einzugehen, Herr Nietzsche ignorirt weislich die vollkommen ausreichende Erklrung, welche Strauß im „Nachwort“ darber gegeben hat, warum er dem „alten Glauben“ nicht ein „neues Wissen“, sondern einen „neuen Glauben“ gegenber gestellt habe, – um seinerseits frischweg Religion und Glauben zu identificiren und daran seine albernen Witze ber „herausdestillirten Nothglauben“ u. dgl. anzuhngen. Daß nun, wer das Buch so wenig versteht, noch weit weniger im Stande sein kann, den Mann, der das Buch geschrieben, zu beurtheilen, versteht sich von selbst. Und wirklich gesellt sich, wo Herr Nietzsche von Strauß’ wissenschaft-
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licher Persçnlichkeit redet, zu der gnzlichen Urteilslosigkeit nach die grçbste Ignoranz. Schon wenn wir lesen: „wer htte ein Bedrfniß nach dem Glaubensbekenntnisse eines Ranke oder Mommsen, die brigens noch ganz andere Gelehrte und Historiker sind, als David Strauß es war“, so steigt uns bei dieser hier ganz sinnlosen Zusammenstellung die Ahnung auf, daß der junge Mann eigentlich gar nicht weiß, wen er in Strauß vor sich hat. – Ja freilich weiß er nicht, wen er vor sich hat, im allergewçhnlichsten Sinne des Wortes nicht! Das zeigt das oben von uns gegebene, noch lange nicht vollstndige Verzeichniß seiner Schimpfwçrter gegen Strauß, das zeigt die ungezogene Art, in welcher er ihn zu apostrophiren sich erdreistet, und der verrckte Hochmuth, mit welchem er ihm çffentlich eine „Diagnose zu stellen“, oder ihm zu prophezeien sich anmaßt: „mit diesem Augenblicke, in dem wir seine stilistischen Snden in’s schwarze Buch schreiben, beginnt die Dmmerung seines Ruhmes!“ Nehmen wir dazu noch die impertinente Art, in welcher Herr Nietzsche, wie sie ihm gerade in die Quere kommen, Mnner behandelt, deren keinem er das Wasser reichen darf, so kçnnen wir nicht umhin, seinem Belober, Herrn K. H., unsere Bewunderung auszudrcken fr die beneidenswerthe Weitherzigkeit, welche ihn in der Schrift seines jungen Freundes nirgends eine Spur von Rohheit hat finden lassen. Wenn brigens Herr Nietzsche am Schluß seiner Schrift sich zum voraus mit dem Gedanken an die Entrstung kitzelt, welche dieselbe bei den deutschen Philistern hervorrufen werde, so wollen wir unsererseits bemerken, daß allerdings jeder anstndige und nicht durch Schriftstellerneid oder Parteileidenschaft verblendete Mann ber die Art seines Auftretens zunchst entrstet sein wird, daß aber wenigstens bei uns die Entrstung sehr bald einem wesentlich andern Gefhl und einer Art von pathologischem Interesse an der literarischen Monstrositt Platz gemacht hat, welche in Herrn Nietzsche sich dem deutschen Publicum vorfhrt. – Doch hçren wir weiter, was er uns ber Strauß zu sagen weiß: „Es gab einen Strauß, einen wacker strengen und straffgeschrzten Gelehrten, der uns eben so sympathisch war, wie jeder, der „Deutschland mit Ernst und Nachdruck der Wahrheit dient und innerhalb seiner Grenzen zu herrschen versteht; der, welcher jetzt in der çffentlichen Meinung als David Strauß berhmt ist, ist ein anderer geworden. Die Theologen mçgen es verschuldet haben, daß er dieser andere geworden ist ec.“ Hier mssen wir vor allem fragen: wer sind denn eigentlich die „Wir“ des Herrn Nietzsche? Er selbst kann es wohl nicht sein, da er, wenn wir uns des Ausdrucks eines Gegners von ihm in der baseler „Grenzpost“ recht erinnern, zu der Zeit, da Strauß sein Hauptwerk schrieb, noch nicht einmal in den Windeln lag – oder, wenn es ihm so besser gefllt, da damals der Wille zum Leben in seiner einzelnen Objectivirung als NietzscheTiger noch nicht vom Subject des Erkennens beleuchtet war. Vermuthlich lobt also Herr Nietzsche hier der Spur nach, weil ihm ein paar Stellen aus Schopenhauer vorschweben, an welchen dieser mit Anerkennung von Strauß redet.
374 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Wenn wir nun aber an anderer Stelle lesen, daß es Strauß deswegen unmçglich sei, Kant zu verstehen, weil er in der Jugend Hegel verstanden habe oder verstanden zu haben sich rhme; daß er auch jetzt noch zu Schleiermacher und Hegel in schlechthinniger Abhngigkeit stehe; daß seine ganze Perversitt aus gewissen frheren Jugendeindrcken, Gewohnheiten und Krankheitsphnomenen zu erklren sei, weil, wer einmal an der Hegelei und Schleiermacherei erkrankt sei, nie wieder ganz curirt werde; – wenn wir das lesen, dann ist kein Zweifel mehr mçglich, daß hier mit der unverschmtesten Anmaßung die unglaublichste Unwissenheit zu wrdigem Bunde sich vereinigt hat. Herr Nietzsche hat offenbar von Strauß außer dessen neueren Schriften gar nichts gelesen, ja er hat nicht einmal ber Strauß gelesen, was in jedem leidlichen Compendium der Literaturgeschichte zu finden ist. Denn er kçnnte sonst so nicht reden; er mßte wissen, daß Strauß, eben als er das „Leben Jesu“ schrieb, am heftigsten „an der Hegelei erkrankt“ war, daß gerade seine frheren Hauptwerke direct aus der Hegel’schen Schule herausgewachsen sind! Und das will den frheren Strauß loben! Das erkhnt sich, den Entwickelungsgang eines Mannes zu kritisiren, von dem es nichts, auch rein gar nichts weiß! Anzuerkennen ist brigens die Consequenz in der Khnheit, wenn Herr Nietzsche nachweisen zu kçnnen vorgibt, daß Strauß’ „Schopenhauer nie studirt“ habe, oder von ihm sagt, daß er mit dem vollen Muthe der Ignoranz ber Kant seine Lobessenzen ausgieße“. Es kostet Ueberwindung, einem in eingebildeter Genialitt und hohler Phrasendrechslerei gnzlich vergeilten Denken, wie das des Herrn Nietzsche es ist, weiter nachzugehen; und wir wollen uns ber das, was er gegen den Inhalt des Strauß’schen Buches vorbringt, denn auch mçglichst kurz fassen, ohne auf seine pikanten Redewendungen mehr, als durchaus nothwendig ist, uns einzulassen. Zweierlei hauptschlich ist Herrn Nietzsche an „Strauß dem Bekenner“ widerwrtig: sein schamloser Philisteroptimismus und sein Mangel an Muth. In ersterer Beziehung redet er von „Rckenkrmmungen vor den deutschen Zustnden“, von einer „Betrachtungsart der Dinge sub specie biennii“ bei dem Manne, der, wie wenige der jetzt lebenden Deutschen von hçherem Alter, sich rhmen kann, eine bestimmt ausgebildete politische Ueberzeugung ein Leben hindurch von Gunst und Abgunst unbeirrt ausgesprochen und unverndert festgehalten zu haben. Und berhaupt „schamloser Philisteroptimismus“ soll dem Manne zur Last fallen, den seine Gegner als eine Art von ewigem Juden darzustellen liebten, bei dem sie hçhnend darauf hinwiesen, daß er nur solchen Naturen sich verwandt fhle, die, wie Schubert, Frischlin, Hutten, Reimarus, Voltaire, lediglich im Widerspruch gegen das Bestehende ihre Bedeutung gehabt htten und zum Theil an diesem Widerspruch zu Grunde gegangen seien“. Doch wir wollen uns nicht stellen, als verstnden wir nicht, wie es Herr Nietzsche meint; die Sache ist ja klar genug! Strauß erklrt sich dem Schopenhauer’schen Pessimismus gegenber fr den Optimismus; dieser ist, wie wir aus
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Schopenhauer selbst wissen, ruchlos, und ein Philister ist Strauß ohnedies, womit dann der ruchlose, oder sofern er, Strauß, desselben gestndig ist, der schamlose Philisteroptimismus zu Stande kommt. Den Beweis brigens fr die Schopenhauer’sche Behauptung von der Ruchlosigkeit des Optimismus hat Strauß selbst geliefert und zwar eben durch seine Bestreitung desselben (in Abschn. 66), Daß die Bestreitung in ihrer scherzhaften Form und trotz der lustigen Uebertreibung am Schluß („ist aber ein Denken, das die Welt fr schlecht erklrt, ein schlechtes Denken, so ist ja die Welt vielmehr gut“) einen sehr ernsthaften Einwurf gegen die Schopenhauer’sche Philosophie vorbringt, gegen den Widerspruch, wonach der an sich schlechte Wille zum Leben in seiner Beziehung den Intellect mit hervorbringen soll, welcher zur Erlçsung, zur Verneinung des Willens fhrt – nun davon braucht man keine Notiz zu nehmen; denn wer ber Schopenhauer scherzt, ist ruchlos und „der Jude wird verbrannt“. Eben darum findet Herr Nietzsche auch nicht nçthig, auf die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Pessimismus in Cap. 69 weiter einzugehen. Doch ja! einen einzelnen Passus greift er heraus, weil derselbe ihm Gelegenheit bietet, seinen Witz spielen zu lassen. Klglich schleicht er sich vorber an dem von Strauß citirten Wort Lessings: „Jede Bewegung entwickelt und zerstçrt, bringt Leben und Tod; bringt diesem Geschçpfe Tod, indem sie jenem Leben bringt: soll lieber kein Tod sein und keine Bewegung? oder lieber Tod und Bewegung?“; aber mit um so wilderer Gier im funkelnden Auge strzt sich der Tiger auf die gleich darauf folgende Strauß’sche Andeutung des anderen berhmten Wortes von Lessing. Daß dieselbe von Strauß selbst dicht daneben als Phantasiespiel bezeichnet, und ihr eigentlicher Gedankengehalt festgestellt wird, stçrt ihn nicht: mit seinem Raub zufrieden, spielt er mit seinem Opfer und macht die prchtigsten Witze ber den „aus nobler Passion irrenden Gott“ und „den Philister, der zwar irrt, aber noch nie ein Wunder gethan hat“. Besonders possierlich aber nimmt sich Herr Nietzsche aus im Gewande tugendhafter Entrstung, oder wenn er uns gar den interessanten Anblick seiner Rckseite gçnnt, whrend er sich „einen Augenblick abwendet, um seinen Ekel zu berwinden“. „Wer vermçchte z. B.“ ruft Herr Nietzsche aus, und vergißt dabei sogar, daß die Lesenden selbst fast alle ruchlose Bildungsphilister sind, „wer vermçchte ohne Entrstung folgende psychologische Erklrung zu lesen, weil sie recht ersichtlich nur am Stamme jener ruchlosen Behbigkeitstheorie gewachsen sein kann: niemals, ußerte Beethoven, wre er im Stande gewesen, einen Text wie Figaro oder Don Juan zu componiren. So hatte ihm das Leben nicht gelchelt, daß er es so heiter htte ansehen, es mit den Schwchen der Menschen so leicht nehmen kçnnen“. Da es uns mit dem besten Willen nicht mçglich ist, auch nur zu verstehen, wie Jemand ber diese harmlose und durchaus zutreffende Bemerkung in Entrstung gerathen kann, so mssen wir annehmen, daß diese Entrstung bei Herrn Nietzsche selbst mehr nur ein rhetorisches Mittel ist, eine Art Vorstufe fr den nun folgenden interessanten Ekel.
376 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Dieser letztere wird hervorgerufen durch die Art, wie Strauß, die in den ersten Jahrhunderten des Christenthums da und dort hervortretende ascetische Richtung in Zusammenhang bringt mit der Uebersttigung der damaligen Menschheit durch Gensse aller Art. Daß nun jene Richtung ausschließlich aus dieser Uebersttigung zu erklren sei, hat auch Strauß nicht behauptet; daß aber ein wesentlicher Zusammenhang zwischen beiden stattfindet, sieht jeder Unbefangene und ergibt sich auch aus den Schopenhauer’schen Voraussetzungen mit Nothwendigkeit. Denn wenn einerseits der Geschlechtstrieb die strkste Bejahung des Willens zum Leben ist, und andererseits jedem Acte desselben das Gefhl der Nichtbefriedigung und Enttuschung auf dem Fuße folgt, wie das Schopenhauer cynisch genug ausmalt, so kann ja doch wohl diese Erfahrung auch auf das Erwachen des Triebes der Verneinung nicht ohne Einfluß sein. Dies wird besttigt durch die Wahrnehmung, wie oft im Leben der Einzelnen und des Volkes jene beiden extremen Richtungen unmittelbar neben oder nach einander auftreten. Hat ja doch der Hauptheilige der Verneinung, der Fhrer zur Nirvana, ehe er diesen Weg einschlug, ein Leben der Sinnenlust gefhrt – ein Punkt, nebenbei bemerkt, an welchem jeder Versuch der Gleichstellung Gautama-Buddhas mit Jesu stets scheitern wird. Die Herren von der Schule Schopenhauers aber mçgen uns mit Ausbrchen moralischer Entrstung wenigstens so lange verschont lassen, bis wir einer erheblichen Wirkung der Lehren von der Verneinung des Willens an ihnen gewahr werden. Denn an ihren Frchten sollt ihr sie erkennen! In den erhabensten Zorn aber steigert sich Herr Nietzsche hinein, wo er auf unsere Classiker zu reden kommt und den Mißbrauch, den der Culturphilister, insbesondere Strauß in den Zugaben zum vierten Capitel, mit denselben treiben soll. Inwieweit diese Zugaben ihrem Zweck wirklich entsprechen, lassen wir unsererseits dahingestellt; gewiß ist soviel, daß gerade sie den Gegnern die meiste Gelegenheit zum Anbringen von Gemeinheiten geboten haben. Scheut sich doch auch Herr K. H. hier nicht vor der niedrigen Unterstellung, daß der Verleger wohl die „Zugabe“ von Strauß verlangt haben werde, um die fnfundzwanzig Bogen auszufllen! Wonach denn zu erwarten steht, daß Herr Nietzsche gerade in diesem Capitel ebenfalls Erkleckliches leisten wird! Whrend er einerseits im forcirten Enthusiasmus fr die großen Genies sich fçrmlich berpurzelt, ist ihm andererseits keine Verdrehung zu gering, um sie an Strauß’ Worten zu begehen, keine Gemeinheit zu niedrig, um sie Strauß zu unterschieben. Da sich weder die Verrcktheit noch die Gemeinheit eigentlich bestreiten lßt, so gestatte man uns einfach von beiden Proben aus Herrn Nietzsche zu geben. Nur eine Bemerkung mçchten wir der ersten vorausschicken. Wir haben bisher allerdings gemeint, daß die großen Genies Suchende und Findende zugleich gewesen sein; wir haben es Goethe geglaubt, daß seine dichterischen Schçpfungen zugleich Thaten der Befreiung fr das eigene Gemth waren, daß
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sich an ihnen erbauen und erheben kçnne die Seele, die den gleichen Drang empfindet. Anders Herr Nietzsche. Nach ihm hat der Culturphilister nur matte und egoistische Regungen, fr die er in Theaterrumen und Concertslen bezahlt, um so „beschimpfend zu ehren“ „die großen heroischen Gestalten, die in allen ihren Bewegungen, ihrem ganzen Gesichtsausdrucke, ihrer fragenden Stimme, ihrem flammenden Auge nur eins verriethen: daß sie Suchende waren, und daß sie eben das inbrnstig und mit ernster Beharrlichkeit suchten, was der Bildungsphilister zu besitzen whnt, die echte ursprngliche deutsche Cultur. Gibt es einen Boden, schienen sie zu fragen, der so rein, so unberhrt, von so jungfrulicher Heiligkeit ist, daß auf ihm und auf keinem anderen der deutsche Geist sein Haus baue?“ Lessing ist zu Grunde gegangen, „ohne ein einziges Mal jenen ewigen Flug wagen zu drfen, zu dem er in die Welt gekommen war“. „Ihr durftet gar Schillers Namen nennen, ohne zu errçthen? Seht sein Bild euch an! Das funkelnde Auge, das verchtlich ber euch hinwegfliegt, diese tçdtlich gerçthete Wange, das sagt euch nichts? Da hattet ihr so ein herrliches, gçttliches Spielzeug, das durch euch zerbrochen wurde.“ Man beliebe hierbei sich zu erinnern, daß die Angeredeten immer die deutschen Culturphilister sind, voran der Philisterhuptling Strauß; oder, da von der Vergangenheit die Rede ist, die smmtlichen Gebildeten der Classikerzeit, mit Ausnahme etwa eines damaligen Nietzsche. Und nun die Kehrseite, Wenn Strauß von den „anziehend und volksthmlich geschriebenen Geschichtswerken“ redet, durch welche „geschichtliche Studien jetzt auch den Nichtgelehrten leicht gemacht seien“, so lßt Herr Nietzsche den Philister, d. h, den mit Strauß einverstandenen Gebildeten der deutschen Gegenwart darunter „die Zeitungslectre“ verstehen. Ferner muß man „stumpfsinnig sein, um nicht zu merken, wem die Reverenzen vor Lessing eigentlich erwiesen werden“, was seine nhere Erklrung an einer spteren Stelle erhlt, wo es von Strauß heißt: „Bestndig macht er, wenn er sich zum Schreiben niedersetzt, ein Gesicht, wie wenn er sich malen lassen wollte, und zwar bald ein Lessing’sches, bald ein Voltaire’sches Gesicht. Wenn wir sein Lob der Voltaireschen Darstellung lesen, so scheint er der Gegenwart nachdrcklich in’s Gewissen zu reden, weshalb sie nicht lngst wisse, was sie an dem modernen Voltaire habe“. Strauß sagt, bei Auffhrung Haydn’scher Symphonien machen es mitunter gerade sogenannte bessere Orchester am schlimmsten, indem sie ihre Effectmittel auf eine Musik anwenden, die nur der schlichteste Vortrag richtig zur Erscheinung bringe, Herr Nietzsche: „Der Magister findet unsere Orchester zu gut fr den Vortrag seines Haydn und hlt dafr, daß nur die bescheidensten Dilettanten jener Musik gerecht werden kçnnten“. „Die Strauße unserer Tage kennen nur den Gegensatz von Beruchern und Verbrennen;“ „wer zweifelt, daß Strauß, wenn durch einen Zufall die Eroica, die
378 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Pastorale und die neunte Symphonie in seinen Besitz gekommen wre, sie verbrannt htte?“ Endlich in Bezug auf Mozart ist „jede Scham verloren gegangen, bei dem Publicum sowohl, als bei dem Magister, man erlaubt ihm, sich çffentlich vor den grçßten und reinsten Erzeugnissen des germanischen Genius zu bekreuzigen, als ob er etwas unzchtiges und gottloses gesehen htte“. Man kann in der That einen Preis aussetzen fr die Auffindung einer Stelle bei Strauß, welche zu dieser niedertrchtigen Verleumdung auch nur den Schatten eines Vorwandes liefert! Und wir fragen jeden unbefangenen Leser, ob bei einem Menschen, der zu solchem fhig ist, der ganze Enthusiasmus fr die Klassiker mit all den Phrasen von flammenden Augen und erglhendem Wesen und jungfrulichem Boden ein anderer sein kann, als ein gemachter und erlogener. Und nun noch die Feigheit, welche Strauß zur Last fallen soll. Objectiv ist dieser Vorwurf nach Herrn Nietzsche darin begrndet, daß Strauß nicht von den Worten zur aggressiven That fortschreitet, nher darin, was Herr Nietzsche mit „Beschmung“ wahrnimmt, daß die Strauß’sche Ethik „ganz losgelçst von der Frage „wie begreifen wir die Welt?“ sich aufbaut“; daß er eine „echte und ernst durchgefhrte Darwinistische Ethik“ nicht aufzustellen wagt, weil er sonst den Philister gegen sich htte. Diese Behauptung des Herrn Nietzsche ist in ihrem ersten Theil gegenber der ausfhrlichen Deduction bei Strauß in Abschnitt 71 – 75 einfach wieder eine Unwahrheit; whrend der zweite Vorwurf und die Forderung des Herrn Nietzsche, Strauß htte, auch nachdem er einmal das Princip seiner Ethik deducirt hat, in allen einzelnen Theilen der Durchfhrung immer wieder auf die Darwinistischen Principien recurriren sollen, eben nur seine Unfhigkeit zeigt die Behandlung philosophischer Fragen zu verstehen. Wenn jemand aus den Darwinistischen Voraussetzungen eine andere Ethik als die Strauß’sche ableiten zu mssen meint, so mag er dazu seine Grnde haben und ist von niemandem gehindert, sie zu entwickeln; aber es gehçrt ein Nietzsche dazu, eine Deduction, die ihm nicht gefllt, ohne weiteres mit dem Vorwurf der Feigheit zu belegen. Dabei gerth Herr Nietzsche mit der Behauptung, daß Strauß diese Feigheit aus Furcht vor dem Philister begangen habe, in eine komische Verlegenheit gegenber der Thatsache, daß die Philister auch gegen die brigen Theile des Strauß’schen Buches, namentlich seine Angriffe auf das Christenthum, von allen Seiten lauten Protest erhoben haben. In dieser Noth ruft er sogar Strauß selbst zu Hlfe; und weil dessen Auseinandersetzung im Nachwort ber die Zahl seiner Anhnger und Gegner doch noch nicht ganz ausreicht, so hilft sich Herr Nietzsche vollends selbst mit dem beraus klglichen Sophisma, dieser allgemeine Widerspruch sei von keinem Belang, weil die Deutschen alle Theologen und Sectirer, und die çffentlich kritisirenden selbst „die literarischen Lohndiener
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der theologischen Parteien“ seien. Wofr sich die Herrn Dove u.s.w. bei Herrn Nietzsche bedanken mçgen. Blos als weiteres Beispiel der totalen Zerrttung im Denken des Herrn Nietzsche fhren wir endlich noch die psychologische Erklrung an, welche er von Strauß’ Gemthzustand gibt: „Eine solche Gemths- und Geistesart mag man immerhin muthig nennen, doch bleibt es zweifelhaft, ob dieser Muth ein natrlicher und ursprnglicher oder nicht vielmehr ein angelernter und knstlicher ist; vielleicht hat sich Strauß nur bei Zeiten daran gewçhnt, der Stçrenfried von Beruf zu sein, bis er sich so allmhlich einen Muth von Beruf anerzogen hat. Damit vertrgt sich ganz vortrefflich natrliche Feigheit, wie sie dem Philister zu eigen ist“. Aber es gibt freilich verschiedene Grade des Muthes; und der des Herrn Nietzsche ist am Ende ein so außerordentlicher, daß ihm der Strauß’sche Muth als Feigheit erscheinen muß. Seine Schrift selbst, die blinde Tapferkeit, mit welcher er nach allen Seiten um sich haut, ja schon der Umstand, daß er es wagt, Strauß anzugreifen und so anzugreifen, sind Beweises genug. „Der Muth, die Lieblinge des Volkes auf die Anklagebank zu bringen,“ sagt Herr K. H., „ist von jeher die hçchste Art des Muthes gewesen“. Eine Phrase, die ohne Zweifel schon zu des seligen Kleon und Hyperbolus Zeiten verbraucht war, so verbraucht, als der Kunstgriff, gegen die Masse, der man imponiren will, grob zu sein. Es gibt eben nicht nur verschiedene Grade, es gibt auch verschiedene Sorten von Muth. Doch Herr Nietzsche bertrifft ja Strauß auch gerade in der dem letzteren eigenthmlichen Art des Muthes. Ihm sind die Glaubensstze in Strauß Buche noch nicht satanisch genug; die theologischen Gegner des letzteren heißt er bornirt und grobe Gesellen, ja er kann die Theologen nicht ausstehen; wie der Oger das Menschenfleisch, wittert er berall den theologischen Geruch; das Strauß’sche Buch selbst ist ihm „in ungeheurer Weise theologisch gefrbt“. „Ja, wenn man’s nicht ein bischen tiefer wßte!“ Eine wie vornehme Miene auch Herr Nietzsche gegen die Theologen nimmt, wie sehr er auch die Fragen des theologischen Bekenntnisses en bagatelle behandelt, – er weiß doch recht gut, welche Macht die einen, welche Bedeutung die andern auch heute noch haben. Und Herr K. H., nachdem er kurz vorher von der „Meisterhand“ geredet, die das neue Deutschland geschaffen, htte sich wohl bedenken mçgen, so leichtweg den Satz auszusprechen, daß kein gebildeter Deutscher mehr ein Christ sei. Herr Nietzsche weiß aber auch recht gut, daß, wer auf Strauß losschlgt, bei Vielen und Einflußreichen sich Dank erwirbt, und daß es diesen Leuten nach Umstnden sehr erwnscht ist, auf einen hinweisen zu kçnnen, der das Gegentheil von einem Theologen sei, und dennoch das Strauß’sche Buch miserabel finde. So kann man schon etwas wagen. Man vermeidet es sorgfltig, den Aufstellungen des Angegriffenen eigene bestimmt formulirte Stze gegenber zu stellen; man nimmt nur fr sich das Vorrecht des Genius in Anspruch, die
380 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Wahnvorstellungen der Menge nicht zu theilen. Um aber ganz sicher zu gehen, verleugnet man nçthigenfalls auch seinen Herrn und Meister. Schopenhauer lßt seinen Philalethes sagen: „Kein Irrthum aber ist unschdlich, sondern jeder wird frher oder spter dem, der ihn hegt, Unheil bereiten“. Herr Nietzsche aber lßt gleich zu Anfang seiner Schrift, an einer Stelle, wo er im Zusammenhang durchaus nichts zu schaffen hat, den Satz drucken: „es gibt die heilsamsten und segensreichsten Irrthmer“. Wer ist nun ruchlos? und wer ist feige? Pfui, Tiger! III. Die Verwandtschaft des Menschen mit dem Affen schließt die mit dem Tiger nicht aus – heißt es bei Schopenhauer ganz in der Nhe der soeben citirten Stelle. Die Umkehrung dieses Satzes ist erlaubt und unser Tiger liefert dazu ein sehr lehrreiches Beispiel. Selbst Herr K. H. findet, freilich mit Wohlgefallen, daß die Sprache des Herrn Nietzsche „bis zur Manier“ nach der Schopenhauers gebildet sei, ja daß er Schopenhauer noch „berschopenhauere“; und er hat Recht, wenigstens was die Manier anbetrifft, denn was die Sprache und den Stil im Ganzen anbelangt, so unterscheidet sich Herr Nietzsche doch – und aus guten Grnden – sehr wesentlich von dem Philosophen. Manier, ffische Manier ist es gewiß, wenn der „Kmpfer“ fr die originale deutsche Cultur im Gebrauch der allerunnçthigsten Fremdwçrter, wie exstirpiren, secretiren, eskrokiren, intricat, Dilapidation u.s.w. seinen Schopenhauer nachmacht und berbietet; whrend es allerdings ein Verdienst um den deutschen Genius ist, daß er die „Krçtenagilitt“ Schopenhauers in eine „Schildkrçtenbehendigkeit“ verwandelt. Ganz besonders glcklich aber ist er ber den Fund des „Pachyderma“ bei Schopenhauer, den er, wenn wir die abgeleiteten Vorstellungen, das „Nilpferd“, das „sich Einherwlzen“ einrechnen, wohl an vier oder fnf Stellen seiner hundert Seiten langen Schrift verwerthet, Schopenhauer ist groß und man muß ihm selbst seine griechischen Schnitzer nachmachen. Die Zoologen haben nmlich allerdings eine Classe „Pachydermate“; und sie kçnnen, wenn man sie ber das Wort zur Rede stellt, sagen, das sei der Pluralis des Neutrums von dem zwar im Griechischen nicht vorkommenden, aber doch richtig gebildeten pawudeqlator ; brigens komme es auf einen Solçcismus mehr oder weniger bei ihnen nicht an. Wenn aber ein ordentlicher Professor der classischen Plilologie „Pachydermate“ sagt, und zwar das Unwort „Pachyderma“ in der Einzahl statt des richtigen und blichen „Pachydermon“ gebraucht, so ist das ein Beweis von Ignoranz und pawudeqlia gegen „jene knstlerisch zarten und krftigen Gesetze“ (S. 85) der griechischen Wortbildung. Herr Nietzsche nimmt es doch sonst so genau und hat in seinem Druckfehlerverzeichniß das verwerfliche tanquam sorglich in tamquam verbessert!
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Ja, Herr Nietzsche nimmt es genau; deshalb mssen wir es auch mit ihm genau nehmen und bitten wegen der soeben begangenen und der noch zu begehenden Pedanterien den Leser um Entschuldigung. Herrn Nietzsche „bleibt brig zu sagen, daß Strauß ein ganz nichtswrdiger Stilist ist“; uns bleibt brig zu zeigen, daß Herr Nietzsche auch hier ein frecher Ignorant ist! daß nicht blos sein Gymnasiast davonluft, sondern selbst sein Schulknabe Reißaus nimmt. Wir mçchten hier nicht mißverstanden werden: wir reden von Herrn Nietzsche dem Kritiker und Sprachrichter; nicht von dem Stilisten, Herr Nietzsche ist vielmehr ein guter und sorgfltiger Stilist; Wçrter und Wendungen stehen ihm in hinreichender Menge zu Gebote; Tonfall und Abrundung seiner Perioden lassen kaum etwas zu wnschen brig; fr den Ausdruck der Affecte weiß er die richtige Frbung der Rede zu finden, er weiß seine Effectstellen zu disponiren; er kennt die Wendungen, mit denen man Blçßen maskirt, die Kunstgriffe, durch welche man Widersprche verschwinden lßt. Nur sage man uns nicht, daß sein Stil und seine Sprache Stil und Sprache Schopenhauers seien! Denn Herr Nietzsche ist eben nur Stilist, bloßer Stilist und Schçnredner. Er hat ohne Zweifel in seiner Schulzeit gute lateinische Exercitien und Chrieen verfertigt – heute noch thut er sich etwas zu Gute auf seine Kunst ins Lateinische zu bersetzen – und auch spter hat er seinen Stil fleißig gebt. Aber das Lob, das er dafr – und vielleicht auch fr etwelches musikalisches Talent – geerntet, ist ihm zu Kopfe gestiegen, und er hat angefangen, sich fr ein Genie zu halten. So disponirt ist er an die Lectre Schopenhauers gekommen, die verderblichste, die es fr einen derartigen Kopf geben kann. Was er aus Schopenhauer gelernt hat, ist nicht die classische Ruhe, die edle Einfachheit, die hinreißende Folgerichtigkeit, mit welcher dieser seine Philosopheme darlegt; sie konnte er nicht lernen, weil ihm die Unbefangenheit wie die Originalitt des Denkens zum voraus abging; vielmehr die Schimpfreden des Philosophen, die Verachtung, welche dieser im Bewußtsein seiner Genialitt gegen die untergeordneten Kçpfe unverhohlen zur Schau trgt, haben ihm imponirt. Weil er die erstern nachzubilden sich getraute, hat er geglaubt, auch zu der letzteren berechtigt zu sein. Auf die rechtliche wissenschaftliche Arbeit der heutigen Gelehrten, „Die zu dem Bau der Ewigkeiten Zwar Sandkorn nur um Sandkorn reicht Doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streicht“,
auf sie sieht Herr Nietzsche mit Geringschtzung herab, wie er uns das in einem ganzen Abschnitt seines Buches auseinandersetzt. Er selbst hat hçhere Aufgaben, er muß dem deutschen Volke den wahren Stil zeigen, die originale Cultur zurckerobern, bald mit dem funkelnden Auge des Tigers, bald mit „jenem muthigen und ruhenden Blick des kmpfenden Culturmenschen“.
382 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Ja, wenn es mit Phrasen gethan wre; wenn es damit gethan wre, daß man den Blçdsinn von dem rein negativen Verhalten des Cultur-Philisters u.s.w. dem Leser zum zweitenmal vorsetzt (S. 77), und dann behauptet, und zum zweitenmal behauptet, anstçßig sei dem Culturphilister „das wahrhaft Productive“! Oder damit, daß man sagt: „das Platte, Ausgenutzte, Kraftlose, Gemeine wird als Regel, das Schlechte und Corrupte als reizvolle Ausnahme hingenommen,“ „das Krftige, Ungemeine und Schçne ist im Verruf“! Oder damit, daß man von „straffer Gedrungenheit, feuriger Kraft der Bewegungen, Flle und Zartheit des Muskelspiels“ redet! Als ob solche Phrasen irgend etwas bewiesen, zu irgend etwas taugten, außer etwa zu einer lcherlichen Selbstbespiegelung dessen, der sie ausgeheckt hat! Original und productiv will Herr Nietzsche sein! Im hçchsten Grade geschmacklos ist das bestndige Kokettiren mit Blicken und Attitden und Muskelspiel; kindisch die Art, wie Herr Nietzsche mit einem durch irgend eine Verdrehung herausgepreßten Witz zu spielen nicht mde wird. Hat Strauß im „Nachwort“ beilufig sein Buch ein „leicht geschrztes“ genannt, welch’ ein Fang fr den Witzbold! Der „leichtgeschrzte“, der „genialisch vorbergaukelnde Magister“, der aber doch „kein Tnzer werden kann“, ja der „nackt“ geht und deswegen „in unserer kalten Zone sich erkltet“, das sind dann die krftigen, schçnen Erfindungen, die Herr Nietzsche hier zu Tage fçrdert. Nein, original und productiv ist Herr Nietzsche nicht; vielmehr borgt – er selbst wrde sagen: stiehlt (vgl. S. 94) – er, wo er’s findet, wovon schon oben Proben gegeben sind. Sogar im Titel seiner Schrift „Unzeitgemße Betrachtungen“ ist der Witz erborgt und berdies der Ausdruck schlecht. – Herr Nietzsche spçttelt ber das schçne und treffende Bild am Schlusse der Strauß’schen Schrift, welches die neue Weltanschauung mit einer neu angelegten Straße vergleicht; er selbst aber bringt – ja Bauer, das ist ganz was anderes! – eine Vergleichung der Abfassung eines Buches mit einem Hausbau, deren Grundlage aus Schopenhauer entlehnt und deren Ausfhrung dem Strauß’schen Bild wie aus dem – allons Tiger! faß! – wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Dann und wann freilich kommt es bei ihm auch zur eigener Production, ja zu einer betrchtlichen Ueberproduction. So nennt er seinen Culturphilister einmal „das Labyrinth aller Zweifelnden und Verirrten, den Morast aller Ermatteten, die Fußfessel aller nach hohen Zielen Laufenden, den giftigen Nebel aller frischen Keime, die ausdçrrende Sandwste des suchenden und nach neuem Leben lechzenden deutschen Geistes“. Warum ist doch Herr Nietzsche nicht zwei Jahrhunderte frher zur Welt gekommen! Er htte ein treffliches Mitglied der zweiten schlesischen Dichterschule gegeben und „Nietzsche, Hoffmannswaldau und Lohenstein“ mßte es in unsern Literaturgeschichten heißen!
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Und welch ein lebensvolles Bild ber den verdorbenen Geschmack der Zeitungsschreiber ist das, in welchem es fçrmlich von Infusorien lebendig wird, und das denn auch richtig mit seinem Urheber davon luft! – Schopenhauer bezeichnet einmal den Ausdruck Geschmack als „nicht geschmackvoll gewhlt“; Herr Nietzsche aber tischt uns Folgendes auf: „die Fabrikanten jener Zeitungen sind am allerstrksten an den Schleim dieser Zeitungssprache gewçhnt: sie haben im eigentlichsten Sinne allen Geschmack verloren, und ihre Zunge empfindet hçchstens das ganz und gar Corrupte und Willkrliche mit einer Art von Vergngen“. Wollen wir uns auch einen Augenblick abwenden, um unsern Ekel zu berwinden? Was Herr Nietzsche gegen „Strauß den Schriftsteller“ vorbringt, kommt, abgesehen von dem rmlichen Geschwtz ber Eintheilung und Anordnung des Buches, hinaus auf die Behauptung, daß die Strauß’sche Schreibweise affectirt und gemacht, daß Strauß „ein Schauspieler“ und zwar „ein schlechter Schauspieler“ sei, „der das naive Genie und den Classiker spielt“. Dahin gehçren jene anmuthigen Geschichtchen von den Gesichtern, die Strauß machen soll, wenn er sich zum Schreiben niedersetzt, von dem tanzenden Magister, der sich aber erkltet, weil er zu leicht geschrzt ist u.s.w. Eben dahin gehçrt die Behauptung, Strauß habe es ausdrcklich darauf abgesehen, gewissen „Philister-Forderungen“ in Bezug auf den Stil zu entsprechen; er qule sich ab, um moderne Bilder in seine Darstellung hineinzubringen, – wobei lcherlicherweise unter den zum Beweis fr diese Behauptung von Herrn Nietzsche herausgeklaubten Bildern mehrere sich finden, die, wie z. B. das vom Instanzenzug, nur ein Gelehrter wie Herr Nietzsche fr „hoch modern“ halten kann. Wir legen diese und hnliche Thaten ruhig zu den brigen, die wir schon registrirt haben; es wre unerlaubt, gegen den Vorwurf der Affectirtheit einen Mann wie Strauß einem Scribenten wie Herrn Nietzsche gegenber vertheidigen zu wollen. Nun haben wir uns noch mit dem Capitel zu beschftigen, in welchem Herr Nietzsche als Sprachrichter auftritt, in welchem er am pçbelhaftesten schimpft und am ergçtzlichsten sich blamirt. Sein Verfahren in diesem Capitel ist folgendes. Er hat sich aus dem Strauß’schen Buche Ausdrcke und Wendungen herausgeklaubt, die entweder bildlich sind oder wenigstens bildlich genommen werden kçnnen; und ebenso hat er die Ausdrcke und Wendungen zusammengelesen, die er fr sprachwidrig hlt. Ueber die einen hçhnt er, bei den andern schimpft er. Einen bildlichen Ausdruck zu verspotten ist eine geringe Kunst, schon weil niemals das Bild die Sache vollkommen deckt; man kann es sich aber noch bequemer damit machen, indem man sich einfach stellt, als verstehe man die Bedeutung oder Absicht desselben nicht. Zum Beispiel gegen die Strauß’schen Ausdrcke von der „Wohnungsnoth“ u.s.w. des persçnlichen Gottes hat derjenige ein Recht zu protestiren, dessen religiçses Gefhl sich durch dieselben
384 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung verletzt findet; dem Stilisten Strauß aber vorzurcken, daß er „den alten Judenund Christengott mit kleinbrgerlichen Bildern behellige“, kann nur demjenigen einfallen, der zu dumm ist, um zu verstehen, daß diese Bilder mit Absicht von Strauß so kleinbrgerlich gewhlt sind; daß sie die unwrdige Stellung anschaulich machen sollen, welche nach Strauß’ Ansicht fr den persçnlichen Gott im Kant’schen System, oder den Resultaten der Astronomie gegenber, brig bleibt. Wenn Strauß von einer „Bedeutung von unendlicher Tragweite“ redet, so hat man blos mit Herrn Nietzsche zu ignoriren, daß das Wort „Tragweite“ lngst und allgemein in dem hier zu Grunde liegenden Sinn gebraucht wird, um ausrufen zu kçnnen „das ist entweder Unsinn oder ein fachmnnisches Canoniergleichniß“. Oder man betrachte folgendes Beispiel. Strauß sagt: „und die Tage, obwohl von dem Erzhler unmißverstehbar zwischen Abend und Morgen eingerahmt“; dazu Herr Nietzsche: „Ich beschwçre Sie, das ins Lateinische zu bersetzen, um zu erkennen, welchen schamlosen Mißbrauch Sie mit der Sprache treiben. Tage, die eingerahmt werden! Von einem Erzhler! Unmißverstehbar! Und eingerahmt zwischen etwas!“ Hier ist die alberne Schulmeistersforderung von Herrn Nietzsche nur gestellt, um den gnzlichen Mangel an triftigen Grnden zu verdecken; denn die Ausrufungszeichen des Herrn Nietzsche kçnnen doch wohl nicht fr Grnde gelten. Sollen wir uns aber die Mhe nehmen, an der biblischen Erzhlung nachzuweisen, daß der Strauß’sche Ausdruck treffend, der Satz in allen Theilen unanfechtbar ist? Gewiß nicht. Denn „Tage, die eingerahmt werden!“ kçnnte Herr Nietzsche doch immer wieder ausrufen, und es wre ihm ebensowenig etwas weiter zu erwidern, als dem Marquis in der Critique de l’cole des femmes auf sein „tarte la creme! tarte la creme!“ Ein Hauptvergngen aller armseligen Silbenstecher und so auch des Herrn Nietzsche ist es aber, solchen Ausdrcken nachzuspren, welche ursprnglich bildliche waren, in der jetzigen Sprache aber wie eigentliche gebraucht werden. „Alle Stufen und Stadien der Aus- und Einwicklung – – bestehen im Universum nebeneinander“ sagt Strauß; und Herr Nietzsche nennt das „Wickelkinderdeutsch“, derselbe Mensch, welcher Strauß der Ignoranz in Bezug auf Kant bezichtigt hat, und nun nicht weiß, daß eben Kant schon diese Ausdrcke in demselben Sinne fr die lateinischen gebraucht hat. Namentlich der Vorwurf der Bildervermengung lßt sich auf diese Weise gar leicht erheben. Strauß soll nach Herrn Nietzsche von der „Hand unserer Quellen“, von dem „Mangel jeder Handhabe in den Quellen“ reden; und es mag sein, daß es in der sechsten Auflage so heißt, wie Herr Nietzsche angibt, obgleich wir in unserer Ausgabe, der zweiten, „an der Hand unserer Quellenschriften“ und „Mangel jeder Handhabe in den Urkunden“ lesen, was immerhin schon ein anderes Ding wre. Aber auch das Wort „Quelle“ selbst ist in dem von Strauß gebrauchten Sinn so eingebrgert, und so wenig mehr bildlich,
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daß nur ein jmmerlicher Wortklauber an den angefhrten Ausdrcken Anstoß nehmen kann. Vollends, wenn Strauß von „Spitzfindigkeiten“ spricht, durch welche man „die Hrte (der Vorstellung, daß alle Ungetauften verdammt seien) zu mildern suchte“, und darauf Herr Nietzsche versichert, er sei in der unangenehmen Lage, etwas Hartes, dessen Hrte man durch etwas Spitzes mildert, nicht zu kennen? – so scheint er anzunehmen, das Strauß’sche Buch solle fr die Fassungskraft eines Australnegers geschrieben sein. Wo berhaupt ein Wort in abstractem Sinne gebraucht wird, da ist es an sich und ursprnglich bildlich gebraucht; denn „hinter allen abgezogenen Bedeutungen des Worts“, sagt Jacob Grimm, „liegt eine sinnliche und anschauliche auf dem Grund“; und erst allmhlich werden durch den Gebrauch solche Ausdrcke und Wendungen ihres bildlichen Charakters entkleidet. Daher erklrt es sich und ist es unvermeidlich, daß die Sprachen der Culturvçlker immer abstracter werden; und es ist ein vergebliches Bemhen, diesen Entwicklungsgang aufhalten zu wollen, so sehr anzuerkennen ist, daß es eine gewisse Grenze gibt, jenseits welcher die Fortentwicklung in der bezeichneten Richtung zur Entartung wird. Immerhin ist es eine verdienstliche Arbeit, auf jeder Stufe der Sprachentwickelung festzustellen, was noch nur bildlich ist, und was nicht mehr; und man mag auch, um allzu rasche Entartung zu verhten, aus den Werken gerade der besten Schriftsteller seiner Periode Stellen ausziehen, in welchen sie sich in dieser Beziehung verfehlt haben. Aber es gehçren dazu Einsicht und Kenntnisse, guter Wille und Ehrlichkeit, und eben deswegen ist Herr Nietzsche dazu der Mann nicht. Ja, so peinliche Mhe er sich ohne Zweifel gegeben hat, in seiner eigenen kurzen Schrift solche Fehler zu vermeiden, so ist es ihm doch nicht gelungen, wovon ein paar Beispiele folgen mçgen. „Mit welcher Wucht der Ueberzeugung,“ heißt es Seite 65, „glaubte dagegen der antike Stoiker an das All und an die Vernnftigkeit des Alls“. Die Wucht ist das große Gewicht eines Dinges, sofern das Ding durch dasselbe auf andere Dinge wirkt. Man kann also wuchtige Worte sprechen, mit Wucht der Ueberzeugung fr etwas auftreten und wirken; aber mit Wucht an etwas glauben wollen, kann nur Einer, bei dem Stçrungen der Einheit des Selbstbewußtseins zu befrchten sind. Vielleicht glaubt Herr Nietzsche mit aller Wucht der Ueberzeugung an sein Genie. Noch schçner ist folgendes Beispiel, weil in demselben zugleich der Kritiker die Worte des Kritisirten verballhornt, nachdem er sie zuvor falsch angefhrt hat. „Weswegen derlei Redensarten auch jederzeit den beliebten Tummelplatz demokratischer Plattheiten gebildet haben“, soll Strauß sagen; er sagt aber Plattheit, und falls nicht eben hier ein Druckfehler der sechsten Auflage vorliegt, so htten wir wieder einen Beleg fr die philologische Akribie des Herrn Nietzsche. Dieser Herr bemerkt nun dazu: „Unklar gedacht! Redensarten kçn-
386 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung nen keinen Tummelplatz bilden! sondern nur sich selbst auf einem solchen tummeln. Strauß wollte vielleicht sagen: weshalb derlei Gesichtspunkte auch jederzeit den beliebten Tummelplatz demokratischer Redensarten und Plattheiten gebildet haben“. Man sollte meinen, da man abgedroschene Sprche und Redensarten von Alters her „Gemeinpltze“ nennt, so kçnnte man sie allenfalls auch einen „Tummelplatz“ nennen. Doch der Kritikus soll Recht haben; ja wir wollen ihm, obgleich ungerne, zugeben, daß Redensarten und, wie er Strauß sagen lßt, Plattheiten sich selber tummeln kçnnen. Nun aber! Gesichtspunkte sollen einen Tummelplatz bilden!! Unmçglich! Ein „Gesichtspunkt“ ist kein „Aussichtspunkt“ oder „Aussichtsplatz“, wenn auch im Franzçsischen beides point de vue heißt, sondern ein eigentlicher, ein mathematischer Punkt. Und selbst mehrere Gesichtspunkte geben noch keinen Platz, keinen Tummelplatz, nicht einmal fr einen Floh! Will sich vielleicht Herr Nietzsche durch solche Schnitzer indirect als Genie legitimiren, weil er bei Schopenhauer gelesen hat, daß die großen Genien keine Anlage zur Mathematik haben? IV. Weil wir nun gerade an den Schnitzern des Herrn Nietzsche sind, so wollen wir den Uebergang zu seiner Kritik der Strauß’schen Sprachfehler ber seine eigenen machen. Es sind deren auf den hundert Seiten nicht wenige, zumal wenn wir auch hier bedenken, daß er sich natrlich, so gut er nur immer konnte, in Acht genommen hat. S. 3: „Daß die Saat der Cultur berall theils ausgeset, theils in frischem Grn und hier und da sogar in ppiger Blthe stehe.“ Also „die Saat steht ausgeset“; oder aber unerlaubte Auslassung des Conjunctivs „sei“. S. 48: „Strauß verfhrt naturwissenschaftlich und wissentlich unehrlich:“ Unerlaubte Verkrzung; es mßte hier mindestens heißen: „naturwissenschaftlich, und zwar wissentlich, unehrlich“. S. 53: „So unerbittlich streng muß er sich diese Thatsache erklren und selbst davor nicht zurckschrecken, seine Erklrung çffentlich abzugeben.“ Hier ist entweder gedankenloser Weise „erklren“ und „Erklrung“ in zweierlei Sinn, oder aber „abgeben“ in unzulssiger Bedeutung gebraucht. S. 44: „Natrliche Feigheit, wie sie dem Philister zu eigen ist.“ Es ist mçglich, daß diese Wendung auch bei einem guten Schriftsteller vorkommt, gut ist sie keinenfalls. Man kann sagen „zu eigen geben, zu eigen haben“ aber man sagt besser „eigen sein“. S. 68: „Seine çffentlichen Lobredner, von denen z. B. einer und zwar ein recht beliebiger u.s.w.“ Wenn hier „ein recht beliebiger“ bedeuten soll – wie wir eben mehr scherzweise angenommen haben – ein aus der Zahl der Lobredner nach Belieben herausgegriffener, so muß es heißen „ein ganz beliebiger“. Soll aber „beliebig“ so viel wie „angenehm“ sein, so ist das Wort berhaupt nicht zu
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brauchen, so lange keine Gewißheit darber vorhanden ist, wie Strauß von diesem Lobredner denkt. S. 83: „Eine wahrhaft angehungerte Nchternheit.“ Was heißt „angehungert“? Vom Hunger ergriffen? oder durch Hungern angeeignet? So ein Wort kann allenfalls in der Uebersetzung eines auslndischen Dichters passiren: Herr Nietzsche aber soll das Wçrtermachen lieber bleiben lassen, zumal wenn er nicht deutlich zu machen weiß, was er eigentlich meint. S. 91: „Daß er sein Lebelang recht schlechte Bcher gelesen hat.“ Man sagt Lebetag, Lebemann; aber „Lebelang“ ist ein Unwort, denn es verstçßt gegen eine Grundregel der deutschen Wortbildung. Doch genug! wir erinnern den Leser an unsere oben ausgesprochene Bitte; und kçnnen ihm fr etwa ausgestandene Langweile alsbaldige reichliche Entschdigung versprechen. Wenn Herr Nietzsche weiß seine Censuren bei weitem pikanter zu machen, so – pikant, wie nur irgend ein schlechter Schulmeister, der verdient, daß ihn seine eigenen Schler wegen Unwissenheit und rohen Gebahrens aus der Schule werfen. Strauß sagt: „Im tglichen Treiben des mittelalterlichen Christen kam das religiçse Element viel hufiger und ununterbrochener zur Ansprache“. Herr Nietzsche mkelt zuerst an dem Comparativ ,ununterbrochener‘“, und erklrt bei dieser Gelegenheit auch den Comparativ „vollkommener“ fr „unmçglich“, obgleich derselbe in allgemeinem Gebrauche ist, z. B. bei Goethe mehrfach vorkommt und in allen Sprachen aus gutem, dem Fassungsvermçgen eines Nietzsche freilich nicht zugnglichen Grunde seine Analoge hat. Dann fhrt er fort: „Aber „zur Ansprache kommen“!“ Woher in aller Welt stammt dies, Sie verwegener Sprachknstler? Denn hier vermag ich mir gar nicht zu helfen, keine Analogie fllt mir ein, die Gebrder Grimm bleiben auf diese Art von Ansprache angesprochen, stumm wie das Grab. Sie meinen doch wohl nur dies: „das religiçse Element spricht sich hufiger aus“, das heißt „Sie verwechseln aus haarstrubender Ignoranz die Prpositionen; aussprechen mit ansprechen zu verwechseln trgt den Stempel der Gemeinheit an sich, wenn es sie gleich nicht ansprechen sollte, daß ich das çffentlich ausspreche“. So Herr Nietzsche. Kaum hat sich wohl irgend jemals die Ignoranz mit naiverer Frechheit selbst das Urtheil gesprochen, als hier von Herrn Nietzsche geschehen ist. „Er vermag sich gar nicht zu helfen!“ Er hat doch vor sich stehen, was vom Grimm’schen Wçrterbuch eingebunden ist, und „Ansprache“ fngt ja doch mit dem A an; aber es kommt nicht! der Schulknabe ist von seinem Trçster verlassen! Ein aufgeweckter Junge borgt sich in solchem Fall ein anderes Wçrterbuch von einem Cameraden; und jedes Conversationslexikon, jedes ordentliche deutschlateinische oder griechische Wçrterbuch htte ihm helfen kçnnen, wenn nun einmal der Musiker Nietzsche nicht weiß, was man unter dem „Ansprechen“ einer Taste oder Saite versteht. Die Saite des Innern, mit welcher hier das religiçse Element verglichen ist, kam im Mittelalter hufiger zur Ansprache, sie
388 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung gab hufiger ihren Ton an, weil sie hufiger berhrt wurde. Das htte er gelernt; „htte dann vielleicht noch seine Glossen darber gemacht, daß es zur „Ansprache“ und nicht zum „Ansprechen“ heißt, obwohl Strauß nicht der erste ist, der das Substantivum so gebraucht, aber er htte nicht von „haarstrubender Ignoranz“ und gar von „Gemeinheit“ gesprochen, was dem Herrn Nietzsche nicht besonders gut ansteht. Denn „Quis tulerit etc.“ Wir wollen Herrn Nietzsche etwas erzhlen. Als Lessing von einem der Spießgesellen des Hauptpastors Gçtze çffentlich darber getadelt worden war, daß er „vorkçmmt“ und „bekçmmt“ schreibe, statt „vorkommt“ und „bekommt“, da ließ sich der große Mann herab, dem Dummkopf auch darauf eine Antwort zu geben. Er wies ihm aus dem Adelung nach, daß seine Schreibart auch richtig sei und entließ ihn dann mit folgender eindringlichen Ermahnung: „Ich ersuche Euch hçflich, Else, allen Euren Gevattern bei der ersten Zusammenkunft von mir zu sagen, dah ich unter den Schriftstellern Deutschlands lngst mndig geworden zu sein glaube und sie mich mit solchen Schulpossen knftig ungehudelt lassen sollen. Wie ich schreibe, will ich nun einmal schreiben, will ich nun einmal! Verlange ich denn, daß ein anderer auch so schreiben soll? Lessing hatte in Bezug auf den Streitpunkt Recht, mehr Recht sogar, als ihm auf dem damaligen Standpunkt der Sprachwissenschaft der Adelung einrumte. Aber selbst wenn seine Schreibart falsch gewesen wre, das hçhere Recht wre dennoch auf seiner Seite. Das fehlte uns noch, daß der nchste beste Narr mit dem Bischen, was er in der Schule gelernt oder nicht gelernt hat, und mit vagen Reminiscenzen aus seiner Lectre herkommen drfte, um einen Schriftsteller von wohlbegrndetem Ruf herunterzumachen! Und wenn er das allervollstndigste Wçrterbuch von der Welt zur Verfgung htte, so drfte er’s noch lange nicht; kaum demjenigen wre das erlaubt, der selbst ein solches Wçrterbuch zu schreiben im Stande ist. Aber mit drei oder vier Bnden eines angefangenen Lexikons auf dem Pulte, zu gedankenlos, um sich nur auch die nicht eingebundenen Hefte des Grimm geben zu lassen, tritt Herr Nietzsche als Richter auf, und weiß dann nicht, wie er seine Ausdrcke einem Strauß gegenber, verchtlich und beschimpfend genug whlen soll! Hat er denn gar daran nicht gedacht, daß Jeder, der seine Behauptungen prft, nothwendig seiner jmmerlichen Ignoranz auf die Spur kommen muß? Da redet er von alten „Lppchen“, die der „Flickschneider“ Strauß aus ltern Schriftstellern „stehle“; und fhrt zum Beleg vier Ausdrcke an, smmtlich aus den Buchstaben A bis E. Darunter ist das Wort „einebnen“, bei welchem Grimm ohne weitere Bemerkung die Redensart „Hgel einebnen“ und dann eine Stelle aus Sebastian Frank gibt, wo von einer „eingeebneten Mauer“ die Rede ist. Herr Nietzsche bersieht das erstere Beispiel, – und theilt uns als eigene Weisheit mit, das „stilistische Pachyderma“ Strauß „wlze sich in . . . ungeformten alten Wçrtern umher, wenn es von dem einebnenden Sinne der
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Socialdemokratie rede als ob es Sebastian Frank wre“. Der Ignorant weiß natrlich nicht, daß das Wort auch sonst blich und, als gutes Wort mit Recht, von andern Schriftstellern neuerer Zeit fr das franzçsische „nivelliren“ gebraucht ist. Ebenso nennt er unter den „alterthmlichen Lppchen“ den Ausdruck „zu befahren haben“, der, wie er sich aus Grimm selbst htte berzeugen kçnnen, von unsern classischen Schriftstellern allgemein gebraucht wird.202 Strauß sagt: „ein Wahn, den sich und der Menschheit abzuthun, das Bestreben jedes zur Einsicht Gekommenen sein mßte“. Herr Nietzsche: „Diese Construction ist falsch, und wenn das ausgewachsene Ohr des Scriblers dies nicht merkt, so will ich es ihm in’s Ohr schreien: man „thut entweder etwas von Jemanden ab“ oder „man thut jemanden eine Sache ab“; Strauß htte also sagen mssen: „ein Wahn dessen sich und die Menschheit abzuthun“ oder, „den von sich und der Menschheit abzuthun“. Was er aber geschrieben hat, ist Lumpenjargon“. Die Wendung, „Jemanden einer Sache abthun“ htte Herr Nietzsche erst noch zu belegen; im Grimm, aus dem er seine Gelehrsamkeit abgeschrieben hat, steht blos „sich einer Sache abthun“. – Uebrigens sagt Uhland: „Und mancher deutsche Reitersmann Hat dort den Trunk sich abgethan“,
und jedes Schulkind in ganz Deutschland sagt es ihm nach. Nur ein Schulknabe findet nicht die Wendung in seinem Wçrterbuch und darum mssen Strauß und Uhland Lumpenjargon geschrieben haben! Weiter sagt Herr Nietzsche: „S. 358 z. B. verwechselt der Classiker, um uns diese Ueberraschung zu machen, die Wendungen „ein Buch handelt von etwas“ und „es handelt sich um etwas“, und nun mssen wir einen Satz anhçren, wie diesen: „dabei wird es unbestimmt bleiben, ob es sich von ußerem oder innerem Heldenthum, von Kmpfen auf offenem Felde oder in den Tiefen der Menschenbrust handelt“. – S. 343 „fr unsere nervçs berreizte Zeit, die namentlich in ihren musikalischen Neigungen diese Krankheit zu Tage legt“. Schmhliche Verwechslung von „zu Tage liegen“ und „an den Tag legen“. Solche Sprachverbesserer sollten doch ohne Unterschied der Person gezchtigt werden, wie die Schuljungen.“ „Die Prpositionen der deutschen Sprache sind,“ so sagt nmlich Herr Nietzsche, und das sollen die angefhrten Beispiele zeigen, „wie es scheint, nur noch da, um jede gerade so anzuwenden, daß die Anwendung berrascht“. Wir bemerken hier zunchst, daß Herr Nietzsche selbst wieder einen groben Grammatikalschnitzer macht; denn es mßte heißen: „um gerade so angewendet zu werden“, oder „damit man jede gerade so anwende“. Aber wie bezeichnend ist es, daß unserm Grammaticus gerade das schwierigste Capitel der 202 Wenn es auch, wie natrlich, hinter dem hufigeren „zu befrchten haben“ zurcktritt.
390 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung deutschen Sprachlehre, in welchem ohne grndliches Studium und umfassende Kenntniß des Sprachgebrauchs niemals Sicherheit zu erlangen ist, den Stoff zu den anmaßendsten Machtsprchen und Schimpfereien liefern muß! Man sagt „zu Tage bringen, fçrdern, kommen“ neben „an den Tag u.s.w.“ theils in gleicher, theils in etwas nancirter Bedeutung; man sagt „am Tage liegen“ neben „zu Tage liegen“; aber „zu Tage legen“ neben „an den Tag legen“ verpçnt der Schulmeister und droht gar mit dem Bakel! Was muß da dem Herrn Georges geschehen, der in seinem deutsch-lateinischen Wçrterbuche ganz harmlos beide Wendungen als gleichbedeutend neben einander auffhrt! Und schon der alte Wieland spricht von Leuten, die „ihre stçrrische Unvertrglichkeit çffentlich zu Tage legen“. Ebenso soll in dem ersten Beispiel die Prposition „von“ falsch angewendet sein. Warum hat sich doch der Herr Nietzsche die ungebundenen Hefte des Grimm nicht geben lassen. Er htte gefunden, daß man neben „es handelt sich um“ auch sagt „es handelt sich von“, er htte gefunden, daß schon Goethe so gesagt hat. Man kommt weit mit Herrn Nietzsche! Uhland schreibt Lumpenjargon, Wieland und Goethe mssen gezchtigt werden, wie die Schuljungen, denn Herr Nietzsche kennt kein Ansehen der Person. Es wird ganz unheimlich, und wir eilen zum Schluß, indem wir nur noch ein Prachtstck unseres Kritikers den Lesern vorlegen. Strauß: „Mit dem erhçrlichen Gebet ist abermals ein wesentliches Attribut des persçnlichen Gottes dahingefallen“. Herr Nietzsche: „Denkt doch erst, ihr Tintenklexer, ehe ihr klext! Ich sollte meinen, die Tinte mßte errçthen, wenn mit ihr etwas ber ein Gebet, das ein „Attribut“ sein soll, noch dazu ein „dahingefallenes Attribut“, hingeschmiert wird“. Was fr eine Farbe wohl des Herrn Nietzsche Tinte angenommen hat, als diese Worte mit ihr geschrieben wurden? Wo sagt denn Strauß, das erhçrliche Gebet sei ein Attribut? Wir wollen es Herrn Nietzsche ad hominem demonstriren. Wenn ich sage: „Mit dieser kritischen Bemerkung des Herrn Nietzsche ist vollends dessen letzter Anspruch dahingefallen, fr etwas anderes zu gelten, als fr einen jammervollen Ignoranten“, so meine ich damit nicht, die kritische Bemerkung sei der Anspruch; sondern: zugleich mit der Bemerkung, indem, damit, daß die Bemerkung dahingefallen ist, ist auch der Anspruch dahingefallen. Und ebenso ist zugleich mit dem erhçrlichen Gebet ein wesentliches Attribut des persçnlichen Gottes, nmlich, daß er ein durch Gebete der Menschen zu bewegender ist, dahingefallen. Gewiß und wahrhaftig „dahingefallen“! Denn unter „Dahinfallen“ steht freilich nichts weiter im Grimm. Aber wir schlagen das nchste nicht eingebundene Heft auf und finden: Fortfallen erklrt durch: wegfallen, hinwegfallen, dahinfallen cessare, locum non habere. Also das Attribut ist dahingefallen, fortgefallen, weggefallen aus der Reihe der Attribute.
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Und htte Herr Nietzsche nicht blos den eingebundenen Grimm benutzt, so wre auchr dieser Theil seiner Glosse fortgefallen, weggefallen, dahingefallen, locum non habuisset! Wir sind zu Ende. Denn von der Erfllung der Recensentenpflicht, zum Schluß noch ein zusammenhngendes Urtheil zu geben, wird man uns hoffentlich dispensiren. Wir waren nicht in der gnstigen Lage, in welcher Herr K. H. seinen Schtzling findet, daß wir es mit einer herrschenden Richtung zu thun gehabt htten. Wir haben es vielmehr mit einer Persçnlichkeit, einer literarischen Persçnlichkeit versteht sich, zu thun gehabt, die ein Unicum ist und, wie wir hoffen, bleiben wird. Sollte Jemand finden, daß wir da und dort in dem, gegen das wir eiferten, selbst verwerflich geworden seien, so bedenke er, daß es Flle geben kann, wo man dem Narren nach seiner Narrheit antworten muß. Wenn aber Herr K. H. sich jetzt vielleicht selbst eingesteht, daß es mit der Trias Lessing, Lichtenberg, Nietzsche doch nichts sei, und nun um einen Dritten verlegen ist, so rathen wir ihm, von dem geschmhten Strauß selbst etwas, z. B. die Streitschrift gegen Menzel, zur Hand zu nehmen. Aber einer andern Recensentenpflicht wollen wir noch nachkommen. Die Ausstattung des besprochenen Buches ist vortrefflich: der Druck ist schçn, Druckfehler sind nur wenige unberichtigt geblieben, und vor allem das Papier reißt zur Bewunderung hin. Es ist so stark, daß es fr einen „schwchlichen Bildungsphilister“ schon eine Arbeit ist, die Broschre mit einem gewçhnlichen Papiermesser aufzuschneiden. Wir verkennen nicht, daß die Wahl eines solchen Papiers fr ein monumentales Werk einer Forderung des wahrhaft knstlerischen Stiles entspricht; aber sollte bei derselben nicht noch ein anderer Gedanke zu Grunde gelegen haben? Der Bildungsphilister ist bekanntlich nach Nietzsche ein „secretirendes“ Wesen, und es kçnnte ihm das bekannte Goethe’sche Recept zur Verwendung elender Schandschriften in den Sinn kommen. Zu vçlliger Sicherheit mçchten wir rathen, das nchste Stck der „Unzeitgemßen Betrachtungen“ auf dnnes Eisenblech zu drucken, und so zugleich die allerstilvollste Uebereinstimmung von Hlle und Inhalt herzustellen. Reaktionen N an Franz Overbeck 31. 12. 1873: „Wirklich, ich rede bereits jdisch-biblisch, psalmenhaft. Gott sei Dank, dass Gustav Binder nicht zuhçrt, (der, wie man mir erzhlt, in 4 Nummern endlich fertig geworden ist und dessen Artikel ziemlich die Lnge meiner Brochre haben; zuletzt empfiehlt er mir, knftig auf Eisenblech drucken zu lassen).“ KGB II/3, Bf. 337, S. 186
392 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Lang, Heinrich: Zwei seltsame Kuze. In: Reform. Zeitstimmen aus der Schweizer Kirche. Bern, Bd. 2, Nr. 25 vom 13. 12. 1873, S. 451–455. Zwei seltsame Kuze 203 Greller kçnnen die Gegenstze nicht aufeinander stoßen, als es in dem frommen Basel geschieht. Oder nein! sie stoßen nicht aufeinander, sie stehen friedlich neben einander und untersttzen sich gegenseitig. Da rennt, ein großes Brett vor der Stirne, aber die Brust geschwellt von Glaubenseifer, ein Herr Pfarrer Niggenbach in den Großrathssaal und ruft: verdammt, der nicht glaubt an die vaterlose Erzeugung und an die Hçllenfahrt Jesu! Kein Bund mit den Reformern! Und in diesem Sinne tçnt’s von den Kanzeln; denn keine Basler Kanzel ist bis jetzt vom Unglauben entweiht worden. Aber was wird von den Kathedern gelehrt? Fast um die gleiche Zeit, in welcher der fromme Pfarrer sein ppstliches Anathema gegen den Unglauben und die gottlosen Reformer schleudert, lassen zwei Professoren ihre Stimme ber die religiçsen Fragen der Gegenwart vernehmen: Overbeck, der Theologe, und Nietzsche, der Philologe. Zwei seltsame Kuze! Overbeck zeigt auf 99 Seiten, daß Glaube und Wissen oder Christenthum und Wissenschaft von Haus aus geschworene Feinde seien. Denn das Christenthum sei eine weltfeindliche weltverneinende Kraft, welche von Wissenschaft und Weltkultur nichts wissen wolle. Daher sei jede Wissenschaft, auch die Theologie, nothwendig unchristlich. Die glubigen Apologeten, welche das Christenthum dem Unglauben der Zeit gegenber vertheidigen wollen mit den Mitteln wissenschaftlicher Beweisfhrung, handeln deßwegen nicht weniger unvernnftig, als die Reformer, welche das Christenthum in Einklang setzen wollen mit den Forderungen des Denkens und der modernen Cultur. Aber was soll mit der Kirche werden und mit den Pfarrern? Die Kirche soll bleiben und die Pfarrer sollen den Glauben den berlieferten Glauben der Kirche predigen. Fr sich sollen sie ihre wissenschaftlichen Ueberzeugungen haben, und drfen von denselben auch sonst berall Gebrauch machen, aber, wenn sie auf der Kanzel stehen, sollen sie glauben, d. h. die in den kirchlichen Symbolen festgesetzten Glaubensstze predigen. Diesen Grundsatz, welcher die Freiheit der Ueberzeugung mit der kirchlichen Gebundenheit verknpft, sollen alle Kirchenbehçrden annehmen und nach ihm die Kirche leiten. Davon erwartet Overbeck eine Heilung der kranken Kirche. Meint ihr, der Mann treibe Spaß? Nein!, so seltsame Kuze erzeugt unsere Zeit. Es ist voller Ernst. Denn aus jeder Zeile dieser Schrift spricht redliche und muthige Ueberzeugung, aber daran wird ein Zweifel erlaubt sein, ob dieser Mann jemals einen andern Gang ge203 Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Streit- und Friedensschrift von Franz Overbeck, Professor der Theologie in Basel. – Unzeitgemße Betrachtungen von Dr. Friedrich Nietzsche in Basel.
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macht habe, als vom Studirzimmer in’s Colleg und vom Colleg in’s Studirzimmer. Im Uebrigen ist das Buch frisch und lebendig geschrieben, nicht ohne Geist und Witz, oft mit treffender Satyre; aber im Ganzen ist es doch nur eine Seltsamkeit, fr die Wissenschaft ebenso unfruchtbar, als fr die Kirche. Gleichfalls voll von Seltsamkeiten, aber viel bedeutender und interessanter ist die Schrift seines Collegen und Zimmernachbarn Nietzsche. Auch diese Schrift ist, wie die von Overbeck, durch Strauß’ „alten und neuen Glauben“ veranlaßt. Sie fhrt einen wahren Vernichtungskrieg gegen Strauß, sowohl den Menschen als den Schriftsteller, und wenn je der Haß beredt gemacht hat, so ist es hier geschehen; denn die Schrift ist mit einer wahren Virtuositt, mit einer hinreißenden Meisterschaft der Sprache geschrieben. Man meine aber nicht etwa, der Verfasser stoße sich an den radikalen Ergebnissen des Strauß’schen Denkens. Er erklrt, noch viel satanischere Ketzereien ertragen zu kçnnen. Strauß ist ihm noch viel zu fromm und altglubig. Daß er die Frage, ob ein moderner Mensch noch Religion habe, berhaupt aufwirft und ernsthaft behandelt, ist ihm ein Zeichen, daß Strauß ein unwissenschaftlicher Kopf ist. Er betrachtet es als eine unverschmte Aufdringlichkeit, die Welt mit seinem Glauben behelligen zu wollen. Was liegt der Welt daran, was Strauß glaubt? Sage er ihr, was er weiß. Wer wird bei Mnnern, die in der Wissenschaft Etwas geleistet haben, wer wird bei einem Mommsen oder Ranke nach ihrem Glauben fragen? Was er an dem Buche aussetzt, das ist einerseits der Mangel an wissenschaftlicher Strenge, das Leichtgeschrzte, Feuilletonartige in der Behandlung so ernster und tiefliegender Dinge, andererseits der ganze Geist, die Grundstimmung, die Willens- und Gemthsrichtung, welche dieses Buch athmet. In ersterer Beziehung ist es ein geistreiches Bild, in welches er den Inhalt und Gang des Straußischen Buches gefasst hat. Ich lasse hier den Verfasser selbst sprechen. Diese Partie mag dem Leser zugleich eine Vorstellung von der Schreibart des Schriftstellers geben: Nicht einen Tempel, nicht ein Wohnhaus, sondern ein Gartenhaus inmitten aller Gartenknste hinzustellen, war der Traum unseres Architekten. Ja es scheint fast, dass selbst jene mysteriçse Empfindung fr das All’ hauptschlich als sthetisches Effektmittel berechnet war, gleichsam als ein Ausblick auf ein irrationales Element, etwa das Meer, mitten heraus aus dem zierlichsten und rationellsten Terrassenwerk. Der Gang durch die ersten Abschnitte, nmlich durch die theologischen Katakomben mit ihrem Dunkel und ihrer krausen und barocken Ornamentik, war wiederum nur ein sthetisches Mittel, die Reinlichkeit, Helle und Vernnftigkeit des Abschnittes: wie begreifen wir die Welt? durch Contrast zu heben; denn sofort nach jenem Gang im Dsteren und dem Blick in die irrationale Weite treten wir in eine Halle mit Oberlicht: nchtern und hell empfngt sie uns, mit Himmelskarten und mathematischen Figuren an den Wnden, gefllt mit wissenschaftlichen Gerthen, in den Schrnken Ske-
394 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung lette, ausgestopfte Affen und anatomische Prparate. Von hier aus aber wandeln wir erst recht beglckt, mitten hinein in die volle Gemchlichkeit unserer Gartenhausbewohner; wir finden sie bei ihren Frauen und Kindern unter ihren Zeitungen und politischen Alltagsgesprchen; wir hçren sie eine Zeit lang reden ber Ehe und allgemeines Stimmrecht, Todesstrafe und Arbeitsstrikes, und es scheint uns nicht mçglich, den Rosenkranz çffentlicher Meinungen schneller abzubeten. Endlich sollen wir auch noch von dem klassischen Geschmacke der hier Hausenden berzeugt werden: ein kurzer Aufenthalt in der Bibliothek und im Musik-Zimmer giebt uns den erwarteten Aufschluss, dass die besten Bcher auf den Regalen und die berhmtesten Musikstcke auf den Notenpulten liegen; man spielt uns sogar etwas vor, und wenn es Haydn’sche Musik sein sollte, so war Haydn jedenfalls nicht Schuld daran, dass es wie Riehl’sche Hausmusik klang. Der Hausherr hat inzwischen Gelegenheit gehabt, sich mit Lessing ganz einverstanden zu erklren, mit Gçthe auch, jedoch nur bis auf den zweiten Theil des Faust. Zuletzt preist sich unser Gartenhaus-Besitzer selbst und meint, wem es bei ihm nicht gefiele, dem sei nicht zu helfen, der sei fr seinen Standpunkt nicht reif; worauf er uns noch seinen Wagen anbietet, doch mit der artigen Einschrnkung, er wolle nicht behaupten, dass derselbe allen Anforderungen entsprche, auch seien die Steine auf seinen Wegen frisch aufgeschttet und wir wrden bel zerstoßen werden. Darauf empfiehlt sich unser epikureischer Gartengott mit der unvergleichlichen Gewandtheit, die er an Voltaire zu rhmen wusste. Man sieht schon aus dieser Probe, daß es zugleich der ganze Geist, die Gesinnung und Gemthsrichtung ist, was Nietzsche am Straußischen Buche nicht leiden kann. Es ist der moderne Bildungsphilister, wie er ihn nennt, den er aus jedem Satz dieses Buches mit seiner Sffisance, mit seinem breiten Selbstbehagen heraushçrt, der, nachdem er sich fettgesogen an den Bildungsschtzen der Zeit, vorbei an den Tiefen des Gemthes, die er nicht kennt, und an den Abgrnden des menschlichen Elends, das ihn nicht berhrt, bei Wein und Glase Bier sein selbstzufriedenes: „so leben wir, so wandeln wir beglckt“ singt. Nietzsche vermißt – wir glauben, mit Recht – den Zusammenhang zwischen der Art, wie sich Strauß die Welt denkt, und der Art, wie er sein Leben ordnet und das Leben der Gesellschaft geordnet wissen will. Dort khnes Vordringen bis zu den letzten Stzen eines krassen Materialismus, hier ein konservatives Sichanbequemen an die gewçhnlichen Moralbegriffe und an die bestehenden Gesellschaftsordnungen. „Diese Vereinigung von Dreistigkeit und Schwche, tollkhnem Wort und feigem Sichanbequemen, dieses feine Abwgen, wie und mit welchen Stzen man einmal dem Philister imponiren, mit welchen man ihn streicheln kçnne, dieser Mangel an Charakter und Kraft bei allem Anschein von Kraft und Charakter, dieser Defect an Weisheit bei aller Affectation der Ueberlegenheit und Reife der Erfahrung – das Alles ist es, was ich an diesem Buche hasse.“
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Schade, daß das viele Richtige und Wahre, was dieser Angriff enthlt, berall durch die Maßlosigkeit desselben verdorben wird. Nietzsche hat Strauß weniger kritisirt als geschmht. Er hat von seinem Meister Schopenhauer nicht bloß den brillanten Styl, sondern auch das Fuhrmannmßige Schimpfen gelernt. Die Rohheit, mit welcher der Meister an Fichte, Schelling, Hegel nicht bloß die Intelligenz heruntergemacht, sondern auch den Charakter besudelt hat, bt der Schler an Strauß. Und Nietzsche nimmt Strauß auch das Einzige noch, was ihm bisher alle Parteien gelassen hatten: das Lob eines guten Schriftstellers. Da ist Alles miserables Gesudel, elender Gesindeljargon, und wie die Ausdrcke, in zahlloser Hufung alle lauten. Es ist auch mir von Anfang an so vorgekommen, als stehe dieses jngste Buch von Strauß auch formell merklich hinter seinen frheren Schriften zurck; es ist doch viel Manierirtes darin und das Mhselige der Arbeit verbirgt sich nur hinter der affectirten Leichtigkeit der Darstellung. Aber immerhin halten wir denjenigen fr einen eigenen Kauz, der von dem Meister der Form in diesem Buche gar Nichts merken will. Nietzsche hat ein Sndenregister des Straußischen Styls angelegt und einzelne Proben aus demselben den Lesern mitgetheilt. In Manchem hat er unzweifelhaft Recht, aber weitaus das Meiste zeigt doch den unertrglichen Pedanten. Trotz Allem und Allem haben wir das Buch von Nietzsche mit dem grçßten Interesse gelesen, und, was bei der gegenwrtigen Bcherberschwemmung viel heißen will, mehr als Ein Mal gelesen. Er verspricht, seine „unzeitgemßen Betrachtungen“ fortzusetzen. Mçgen die Folgenden ebenso zeitgemß sein! Ich habe oben gesagt: in Basel stehen die grellsten Gegenstze nicht gegen einander, sondern neben einander und untersttzen sich gegenseitig. Es ist so. Meint man, die Baslerische Rechtglubigkeit sei entrstet ber Overbeck? Bewahre! Er sagt zwar den frommen Geistlichen: ihr seid Esel, denn mit euren Geschichten ist es Nichts, aber er fgt hinzu: ihr habt doch recht, denn in der Kirche soll man nicht wissen, sondern glauben. Und wenn sie nur Recht haben! Was Overbeck haßt, das hassen auch sie: den „Reformer“, der das Licht der Wissenschaft auch in die Hallen der Kirche tragen will. Lange haben die Freisinnigen Basel’s einen Vertreter ihrer Richtung auf dem theologischen Lehrstuhl verlangt. Sie haben ihn erhalten und er verrth sie ; in ihren schweren heißen Kmpfen lßt er sie stehen und lacht sie aus. Meint man, Nietzsche verliere in Basel die Salonfhigkeit, weil er noch satanischere Ketzereien im Kopfe trgt, als Strauß? Bewahre! Er hat ja Strauß vernichtet. Sei uns willkommen, du interessanter Mann! Deine satanischen Geschichten sind pikant, aber Schopenhauer wird immer nur wenige Anhnger zhlen, seltsame Kuze, deren es immer geben muß; uns schadet das Nichts; unser Reich dauert fort. Deine irreligiçsen Excesse thun uns nicht weh ; sie jagen uns nur die Hasen in die Kche. Was du hassest, hassen auch wir : die im Namen der Religion in die Kirche eindringende Wissenschaft. Und hinwiederum sind solche seltsame Kuze geradezu das Produkt des ungesunden Kirchenthums,
396 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung unter dem wir leben. Overbeck’sche Seltsamkeiten, die wie Spott oder Wahnsinn aussehen, sind nur in einem so ungesunden Kirchenthum mçglich.“ Reaktionen Cosima Wagner an Erwin Rohde, 28. 11. 1873: „Mein Vater – dies bitte ich auch zu bermitteln – schrieb mir dass er die ,Unzeitgemßen Betrachtungen‘ mit Leidenschaft gelesen, und bat mich den Ausdruck bewundernder Sympathie dem Author von ihm mitzutheilen.“ KSA 15/52 f Franz Overbeck an N, 22. 12. 1873: „Die Geburt wird neugedruckt, ber den Stand des ersten Stckes der U. B. wollte er mir noch nichts bestimmtes sagen, ebenso ber meine Christlichkeit.“ Meyer, Katrin/Reibnitz, Barbara von (Hrsg.) (2000): Briefwechsel Friedrich Nietzsche/Franz und Ida Overbeck. Weimar, Bd.1, S. 9 [Gemeint ist wohl die Anzahl der verkauften Exemplare] Theodor Opitz an N, 24. 12. 1873: „Empfangen Sie das Bchlein, das ich mit diesen Zeilen an Sie abgehen lasse, als einen kleinen Beweis meiner lebhaften Dankbarkeit fr den hohen und reinen Genuß, den mir die wiederholte Lektre Ihrer ,Geburt der Tragçdie‘ gewhrt hat und noch oft gewhren wird. Denn dieses vortreffliche Buch gehçrt zu den wenigen, die, wenn man sie einmal kennen gelernt hat, immer wieder zu neuer Betrachtung reizen und immer bedeutender werden, je genauer man sie betrachtet. Es ist gewiß nicht zuviel gesagt, daß Ihr Werk seit Schopenhauers genialen Leistungen, die Sie warm und gerecht wrdigen, durch seinen ursprnglichen Gedankengang, durch seinen seltenen, ja bisher gar nicht vorhandenen Tiefblick in das hellenische Wesen ganz einzig dasteht. Mir fehlt es leider, nicht so sehr an natrlichem Verstndniß, als an umfassender Kenntniß der Musik namentlich derjenigen Richard Wagners, so daß ich nicht zu beurtheilen vermag, wie weit die Hoffnungen, denen Sie sich mit schçner Jugendfrische und dionysischem Feuer hingeben, begrndet sind; wohl aber darf aus der frappierenden Richtigkeit alles von Ihnen vorher Gesagten der sichere Schluß gezogen werden, daß Sie sich auch in dieser Hinsicht nicht tuschen.“ KGB II/4, Bf. 492, S. 360 f N an Franz Overbeck, 31. 12. 1873: „Nicht wahr, wir wollen uns gut und treu bleiben, Wunsch- Waffen- und Wandnachbarn, seltsame Kuze meinetwegen im Baseler ,Uhlenhorst‘, aber recht friedfertige brave Uhlen. Nmlich fr uns: nach aussen hin gruliches Mord- und Raubgethier, brllende Tiger und hnlicher Wstenkçnige Genossen.“ KGB II/3, Bf. 337, S. 186
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Dryander, Ernst von: Anti-Strauß. In: Neue evangelische Kirchenzeitung. Berlin, Bd. 16, Nr. 1 vom 3. 1. 1874, Spalte 14–16. Anti-Strauß. Es war ein glcklicher Gedanke des Herrn Dr. Nippold, in einer kritischen Studie204 die Gegenschriften, Besprechungen und Recensionen des „Alten und neuen Glaubens“ und seines „Nachworts“ zusammenzustellen und damit die literarische Bilanz der Strauß’schen Controverse zu ziehen. Einiges von ihm noch nicht Erwhnte tragen wir unten nach. Hier nur eine zweifache Bemerkung. – Zuerst die Freude ber das gewaltige Unisono, mit dem fast die gesammte Presse Deutschlands das Strauß’sche Bekenntniß abgewiesen hat. „Naturwissenschaft und Philosophie, Nationalçkonomie und Staatswissenschaft, Kunst-, Kultur- und Literaturgeschichte, Judenthum, freie Gemeinde und Altkatholizismus,“ von der protestantischen Theologie ganz zu schweigen, haben insgesammt ihre Vertreter gestellt, um auf der ganzen Linie den neuen Glauben zurckzuweisen, Es sind nicht weniger als vierzig Kritiken in diesem Sinne, die Nippold zu registriren hat. Und gerne htten wir angesichts dieses Unisono, dessen auch wir uns von Herzen freuen, dem Referenten den wohlfeilen Spott erlassen ber die „Nippsachenfabrik der kleinen Apologeten vom Beweis des Glaubens,“ die Nichts gegen Strauß zu ußern gewußt habe. Auf der andern Seite – welch’ eine „geistige Großmacht“ muß doch ein Buch reprsentiren, das so die ganze Presse mobilisiren kann. Diese seine Bedeutung beruht vor allem in dem bereiteten Boden, den der Inhalt dieser Weltanschauung in der gesammten Geistes- und Lebensrichtung der Zeit vorfindet. Und daß auf den 400 Seiten des Werkchens eine fix und fertige Weltanschauung nicht der Prfung der Gelehrten, sondern dem ungeduldigen Wunsche der Massen dargeboten wird, welche nur kurz und gut wissen wollen, woran sie sich zu halten haben, und triumphirend vor der Welt es aussprechen, daß „es“ nun endlich einmal gesagt sei, darin liegt die Gefahr dieser Bedeutung. Wir haben damit bereits Rauwenhoff ’s Abhandlung citirt, als deren Nachwort Nippold’s Referat in die Welt getreten. Die Kritik des geistvollen Hollnders, – erst jetzt in Deutschland verçffentlicht – war die erste theologische, die berhaupt erschien. Und sowenig der theologische Standpunkt des Verfassers, der auch seinerseits das Kirchliche mehr als ein Hinderniß denn als ein Hilfsmittel des religiçsen Lebens zu betrachten gesteht, der unsere ist, so freudig stimmen wir der edlen Entrstung zu, mit der derselbe sein Gesammtgefhl 204 Dr. Fr. Strauß’ alter und neuer Glaube und seine literarischen Ergebnisse. Zwei kritische Abhandlungen von Dr. L.W.E. Rauwenhoff und Dr. Fr. Nippold. Leipzig, Richter und Harrassowitz. 1873. 1 Thlr. 10 Sgr.
398 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung ber Strauß’ Werk zusammenfaßt: „Wenn ich so dchte, so wrde ich mich vielleicht fr verpflichtet erachten es auszusprechen, aber ich glaube, man wrde dabei die Thrnen aus meiner Stimme heraushçren…. Niemand kann es ruhig ansehen, daß der Cynismus sich an den Idealen eines Kindes vergreift, – und Dr. Strauß! Das Volk, das Du mit diesem cynischen Troste von Dir schickst, es ist auch ein Kind und dazu ein armes, unglckliches Kind!“ Rauwenhoff beschrankt sich auf die Prfung der Strauß’schen Folgerungen, ohne Positives dagegen zu stellen. So dringt er Schritt fr Schritt der bekannten Eintheilung des Buches folgend bis zum Herzen der Beweisfhrung vor, indem er hier die Strauß’sche „Kosmogenie im Erzhlungsstil der Novelle“ in ihrer naturwissenschaftlichen Blçße aufzeigt, dort es als eine „Anleihe bei einer fremden Weltanschauung“ oder vielmehr als eine Phrase nachweist, auf ein so geartetes Universum die Begriffe Vernunft und Gte bertragen zu wollen. Behauptet Strauß noch Religion zu haben, so ist das eine Inconsequenz, die vielleicht seinem Herzen Ehre macht; der Verfasser gesteht, keine Religionsform zu finden, die in diese Weltanschauung passen wrde. Wendet sich freilich schließlich der geistvolle Kritiker, damit wir nicht von der Scylla des Unglaubens in die Charybdis der Reaction gerathen, an die kirchlichen Reformparteien als die Trger der religiçsen Zukunft, so kçnnen wir nicht umhin, daran zu erinnern, daß der religiçse Liberalismus seine Kirchenbildende Kraft erst noch zu erweisen hat. – Das Letztere gilt auch von dem Resultat einer Schrift vom Professor Jrgen Bona Meyer,205 welche, ohne an Klarheit wie an Schrfe das Urtheils Rauwenhoff zu erreichen, in den beiden Capiteln: der alte und der neue Glaube – die alte und die neue Weltordnung – vom Standpunkt des Theismus aus das Straußische Buch einer Kritik unterzieht. Indem die christliche Bestimmtheit seines Theismus sich darauf reducirt, daß sich die Menschheit nach ihrem grçßten Lehrer genannt habe, weiß der Verfasser schließlich nur allen Freidenkenden die Warnung zuzurufen, nicht durch Austritt aus der Kirche der Orthodoxie die Herrschaft zu berlassen. Mçchten sie gehen – sie wrden bald genug zur Ueberzeugung ihres kirchlichen Unvermçgens gelangen. – Von einer ganz andern Seite her hat der Italiener A . Vera 206 den Kampf gegen Strauß aufgenommen. Auch er steigt als Philosoph in die Arena. Denn „nur als solcher, nicht im Namen irgend einer Kirche oder Religion, kann man Strauß ernstlich bekmpfen, im Interesse der Wahrheit zuerst, im Interesse der Religion selbst alsdann“. Aber sein Philosophenmantel zeigt einen Schnitt so strikter Observanz, wie er in Deutschland kaum mehr getragen wird. Denn „so 205 Der alte und der neue Glaube, Betrachtungen ber David Friedlich Strauß’ Bekenntniß von Jrgen Bona Meyer. Bonn. Marcus. 1873. 80 S. 50 Sgr. 206 Strauss, l’ancienne et la nouvelle foi par A.Vera, professeur de Philosophie l’Universit de Naples. Naples. Detken et Rocholl 1873. 362 S. 1 Thlr. 20 Sgr.
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gewiß es nur eine Wahrheit giebt, so gewiß nur eine Philosophie, die Hegelsche“: nur als Hegelianer tritt Vera auf den Kampfplatz. Die Hegelsche Weltanschauung wird in den Kampf gefhrt als tief verletzt durch ihren Apostaten Strauß. Freilich will Vera ihm kaum die Ehre lassen, ein Schler Hegel’s zu sein. Nur daß er nichts sei ohne Hegel, daß ohne diesen seine Dogmatik wie sein Leben Jesu noch heute auf die natrliche Zuchtwahl oder den Kampf ums Dasein, oder wer weiß welches andre Darwinsche Gesetz warten wrden um sie aus dem Nichts zu ziehen, soll ihm zugestanden werden. Sonst welche Kluft zwischen einem Hegel, dem von seinem „Leben Jesu“, dem ersten seiner Werke an bis zum letzten Religion und Philosophie innig und unzertrennlich geeint sind und die christliche Religion die absolute, und einem Strauß, der eben dadurch, daß er Christenthum, Kirche und Religion gleichermaaßen leugnet, beweist, daß seine Doktrin weder religiçs noch philosophisch ist. Nein, Strauß ist nicht Philosoph, und er ist es deshalb nicht, weil er sich nie zur Erfassung der systematischen Einheit des Universums erhoben, weil er nie von Hegel das Geheimniß der systematischen und darum nothwendigen Erkenntniß gelernt hat. Das ist des Verfassers Hauptvorwurf, an dem immer wieder die Strauß’schen Ausfhrungen sich zu prfen haben. Und wenn auch nicht ohne eine bisweilen ermdende Breite, doch scharf genug weist nun der Philosoph des reinen Gedankens dem piettsiosen Mitschler die Inconsequenzen und das Unsystematische seiner Entwicklungen nach. Und daß in diesem Urtheil der italienische Philosoph nicht allein steht, dafr werde nochmals an die bereits frher erwhnte Kritik Ulrici’s erinnert, nach deren Schlußwort Strauß’ neue Philosophie „keine Philosophie, weil die durchgefhrte Verleugnung aller Logik ist.“ – Werfen wir noch einen Blick auf die positiven Ausfhrungen Vera’s, so soll manches schçne Wort unvergessen sein, das er ber Religion und Christenthum, ihre Stellung im Universum, ihre Bedeutung im Volksleben gesprochen. Aber mag Christus ihm auch die Incarnation der Religion als solcher, und das Christenthum die absolute Religion sein: als treuer Schler seines Meisters kommt er ber den Hegelschen Gnosticismus, dem das Historische nur Symbol der Idee und die Religion doch nur die Vorstufe der Vorstellung fr die lichte Region des reinen Begriffs ist, nicht hinaus. – Wir drfen nach allen diesen Kritiken es wahrlich nicht als unverdient betrachten, wenn nicht bloß das kritische Secirmesser des Philosophen an das Strauß’sche Buch angelegt, wenn auch die derbe Geißel des Satirikers gegen ihn geschwungen wird. In „unzeitgemßen Betrachtungen“ hat auf eine ebenso mitleidslose als geistreiche Weise sich der Baseler Professor Nietzsche 207 dieser Mhwaltung unterzogen, und gedrungen von der Pflicht die Wahrheit zu sagen 207 Unzeitgemße Betrachtungen von Dr. Friedr. Nietzsche, o. Prof. der classischen Philologie zu Basel. Erstes Stck: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig. E. W. Fritzsche 1873. 101 S. 1 Thlr.
400 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung (S. 101) sein Bekenntniß ber den Bekenner und Schriftsteller Strauß abgelegt. Er ist sich dabei keiner dogmatischen Voreingenommenheit bewußt: er wrde sogar keineswegs unzufrieden sein, „wenn es ein wenig satanischer bei Strauß zuginge“ (S. 20) „denn so wie Strauß von seinem neuen Glauben redet, redet gewiß kein bçser Geist: aber berhaupt kein Geist, am wenigsten ein wirklicher Genius.“ Nein so redet nur ein Philister; es ist ein Philisterbekenntniß und zwar ein cynisches (S. 18), das Strauß ablegt. Hast du einen solchen Glauben, so mssen wir jeden bescheiden, der ihn theilt, so verrathe um Gottes willen nichts davon. Denn mçgen die „Wir,“ in deren Namen er redet, nun „Beamte oder Militrs, Gutsbesitzer oder Gewerbtreibende sein und zu Tausenden und nicht als die Schlechtesten im Lande leben – wenn sie nicht die Stillen von der Stadt oder vom Lande bleiben wollen, sondern mit Bekenntnissen laut werden, so vermçchte der Lrm ihres Unisono nicht ber die Armuth und Gemeinheit der Melodie, die sie absingen zu tuschen.“ (S. 20.) Und es ist die schlimmste Species des Philisterthums, die in gespreizter Culturseligkeit hier sich breit macht, es ist der „Bildungsphilister“ (S. 8) wie er sich selbst als den Typus des Kulturmenschen betrachtet, der in Strauß seinen Huptling, in diesem „Bekenntniß“ sein Handorakel gefunden hat. Ja dieser Bildungsphilister tritt hier als Religionsstifter auf fr die Gemeinde der Zukunft; „der zum Schwrmer gewordene Philister – das ist das unerhçrte Phnomen, das die deutsche Gegenwart auszeichnet.“ (S. 23.) – Drei Fragen sind es, nach welchen der Verfasser dies Phnomen mit vernichtender Satire nher bezeichnet: wie denkt sich der Neuglubige seinen Himmel? wie weit reicht der Muth, den ihm der neue Glaube verleiht? und endlich: wie schreibt er seine Bcher? Der Bekenner Strauß beantwortet die beiden ersten Fragen, der Schriftsteller die dritte. Die Antwort aber lese man selbst. Hier nur noch so viel, daß unter dieser Satire ein tiefer Ernst verborgen ist. „Wenn ich mir denke, sagt der Verfasser, „daß junge Mnner ein solches Buch ertragen, ja werthschtzen kçnnten, so wrde ich mit Betrbniß meinen Hoffnungen fr ihre Zukunft entsagen. Dieses Bekenntniß einer rmlichen, hoffnungslosen und wahrhaft verchtlichen Philisterei sollte der Ausdruck jener vielen Tausende von „Wir“ sein, von denen Strauß redet, und diese „Wir“ wren wiederum die Vter der nachfolgenden Generation! Es sind grauenhafte Voraussetzungen fr jeden, der dem kommenden Geschlechte zu dem helfen mçchte, was die Gegenwart nicht hat, – zu einer wahrhaft deutschen Cultur. . . . Ihm muß zu Muthe werden, wie dem jungen Goethe zu Muthe war, als er in die triste atheistische Halbnacht des Systme de la nature hineinblickte. Ihm kam das Buch so grau, so kimmerisch, so todtenhaft vor, daß er Mhe hatte, seine Gegenwart auszuhalten, daß er davor wie vor einem Gespenste schauderte.“ –
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Reaktionen N an Carl von Gersdorff, 18. 1. 1874: „Die evangelische Kirchenzeitung soll meine Straussiade gepriesen haben.“ KGB II/3, Bf. 341, S. 193
Fuchs, Carl: Gedanken aus und zu Grillparzer’s Aesthetischen Studien. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 5, Nr. 9 vom 27. 2. 1874, S. 105–107, Nr. 11, 13. 3. 1874, S. 129–131, Nr. 12, 20. 3. 1874, S. 145–147, Nr. 13, 27. 3. 1874, S. 161–164. ber Nietzsches UB I S. 161. Welche Frchte denn nun seinerseits der allgemeine Bildungs-Enthusiasmus getragen hat, der, was „unsere Schlachten“ betrifft, in dem Kopfe Moltke’s schwerlich eine grosse Rolle gespielt hat, da die unvergleichlich ungebildeteren „Preussen“ des siebenjhrigen Krieges ihre Schlachten sehr vermuthlich darohne geschlagen haben, – was also die „Bildung“ fr unsere fernere oder vielmehr knftige Cultur bedeute, das hat uns F. Nietzsche in seinem Lutherisch krftigen Buche „Unzeitgemsse Betrachtungen. Erstes Stck: David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller“ gezeigt oder doch ersehen gelehrt: den Tod alles Dessen, wozu im tiefsten Sinne Sammlung und Persçnlichkeit gehçrt, zuvçrderst der Religion und des nationalen Kunstsinnes, den langsamen Mord an dem Heiligsten, das ein Volk besitzt, an der Sprache, davon die erschreckendsten Proben tglich zum Vorschein kommen, und die Geburt solcher Monstra wie das Straussische Bekenntniss, die Professoren-Aesthetik, den Berliner Allerweltsbaustil, bei dessen Anblick man gar nicht mehr glauben kann, in einer deutschen Welt zu leben, und den prtentiçsesten Dilettantismus auf allen Gebieten. Dieses Buch ist der erste heroische Feldzug gegen die denationalisirende Verflachung, die man die nationale Bildung heisst, und ist unter allen Erwiderungen auf das Straussische Buch, wie sie dasselbe auch ablehnen, die einzige, die es aus dem Fundament hebt und die ganze Tiefe des Schadens aufdeckt, als dessen Symptom es sich zu erkennen gibt. Htte Nietzsche allein das Capitel vom „Bildungsphilister“ geschrieben (welches s. Z. in unserem „Literaturblatt“ und anderwrts abgedruckt wurde, auch in New York), so verdiente er schon den Ehrenplatz unter den besten Schriftstellern der Nation und eines khnen „Predigers in der Wste“. Und wie sicher er dieses bildungsstolze, in seiner tglichen Sprachverhunzung recht eigentlich „dintenklecksende“ Deutschland auf den Nerven seiner Schwche getroffen hat, indem er ihm den Besitz einer lebendig wirksamen nationalen Cultur absprach, das beweiset die Enormitt des Hasses und der Frechheit, die ihm mit Nieder-
402 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung werfung jeder letzten Schranke litterarischen Anstandes entgegentritt, ihm, dem ehrlichen, muthvollen, tiefunterrichteten Manne, dem die Vaterlandsliebe aus jedem zornentbrannten Zuge leuchtet, wie einem frivolen, vaterlandslosen, nur etwa „hochgebildeten“ Litteraten! Wahrlieb, es ist schwer, ber dem Entsetzen und Ekel zu Worte zu kommen, die jeden tiefer Empfindenden, ja man mçchte, nachgerade sagen: jeden noch einigermaassen un„gebildeten“ Menschen befallen mssen, wenn er solche Infamieen und Dummheiten liest, wie die „Gegenwart“ und besonders die „Grenzboten“ sie gegen Fr. Nietzsche zu Tage gefçrdert haben. Leider, und das ist das Schlimmste daran, beweisen dieselben durch ihr nacktes Dasein, was sie widerlegen wollten: denn es ist in aller Welt unmçglich, dass eine Nation sich fr cultivirt halten drfe, in welcher es mçglich ist, dass Dummheit und Rohheit an Orten, die sich obenein litterarisch recht bevorzugt und „fein“ dnken, so schrecklich frei ihr Haupt erheben. Dergleichen ist nichts Anderes, als die letzte giftige Efflorescenz aus einem durchaus verdorbenen Zustande des çffentlichen Geistes und seiner bis zur Raserei empfindlich gewordenen Selbstzufriedenheit, von der allerdings – und mçcht es das geniale Buch doch recht Vielen lehren kçnnen! – zu befrchten steht, dass sie auf die Dauer selbst die Grundlage der heimlichen Kraft anfressen werde, von deren Kundgebung dieser çffentliche Geist lngst, mindestens sofern er sich im gedruckten Wort kundgibt, das Gegentheil geworden ist! Wir freilich, die wir die von jenen Stimmen durch Nichts widerlegte Ueberzeugung theilen, dass eine nationale Cultur nimmer ohne nationale, aus der tiefsten Volkseigenthmlichkeit, sofern diese ber alle Zeit selbst erhaben ist, erwachsene Kunst bestehen kann, eine Kunst, deren erstes Kennzeichen denn hiernach doch wohl Einheit des Stiles sein msste, wir htten, um die Abwesenheit nationaler Cultur inne zu werden, nur jenes eine Monstrum kennen drfen, die Professoren-Aesthetik mit ihrer endlosen Fluth verschrobener Redensarten ber Kunst, deren Entstehen neben einer nationalen Kunst wegen des dann als unausbleiblich zu denkenden Fluches der Lcherlichkeit eine baare Unmçglichkeit gewesen sein wrde. Diese Lcke bersehen zu haben kann brigens einzig der Musiker entschuldigt werden; denn die Musik (auch nach Grillparzer’s Meinung) ist die einzige Kunst, in welcher die Deutschen wirklich durchaus Originales hervorgebracht haben: wir halten denn eben leicht unsere selige Insel fr die Welt und sind zufrieden. Aber es ist wahrlich Zeit geworden, sich weiter umzuschauen! – Auf jene Angriffe gegen Nietzsche berwinden wir uns vielleicht, an geeigneter Stelle noch des Ausfhrlicheren zurckzukommen.
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Reaktionen N an Erwin Rohde, 19. 3. 1874: „Dr. Fuchs hat im Wochenblatt wieder mich ekelhaft angelobt, ich hab’s nun satt mit dem. Doch was erzhle ich Dir von Lob und Tadel!“ KGB II/3, Bf. 353, S. 210 Franz Overbeck an Wilhelm Vischer, 27. Mai 1874 mit Bezug auf die UB I: „Die Aufnahme, die Nietzsche’s Buch in Presse gefunden, scheint mir auch hçchst unbillig, der Ton seiner Schrift trgt aber leider selbst die Schuld.“ Bernoulli, Carl Albrecht: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft. Jena 1908, Bd. 2, S. 394
Anonym: David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller. In: Theologischer Jahresbericht. Wiesbaden, Bd. 9, Nr. 7, 1874, S. 306 f. 1) Ziegler, Theob. In Sachen des Strauß’schen Buchs: Der alte und der neue Glaube. Eine Streitschrift gegen Herrn Prof. Dr. Huber in Mnchen. Schaffhausen, C. Baader. 1874. 53 S. gr. 8. 12 Sgr. 2) Nietzsche, Dr. Fr., ordentl. Professor der classischen Philologie an der Universitt Basel, Unzeitgemße Betrachtungen. Erstes Stck: David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig, E. W. Fritzsch. 1873. 101 S. gr. 8. 1 Thlr. 3) Hieronymi, W., Dr. David Strauß und die religiçse Bewegung der Gegenwart oder vom Glauben zum Denken, vom Denken zum Handeln. Eine kritische Studie. Wiesbaden, Chr. Limbarth 1873. 87 S. kI.8. 1/3 Thlr. Der Staub, den des nun Verstorbenen Strauß „Alter und neuer Glaube“ aufgewirbelt hat, will sich noch immer nicht legen. Zeugniß hiervon geben die unter vorstehenden Titeln verzeichneten Schriften. In Nr. 1 begegnen wir zum ersten Male auch einem begeisterten Vertheidiger der Strauß’schen Welt- und Lebensansicht.Von dessen persçnlichen Verhltnissen erfahren wir aus dem uns vorliegenden Schriftchen Nichts weiter, als daß er in Wintherthur lebt und im Jahr 1866 bei Weizscker in Tbingen Einleitung in das neue Testament gehçrt hat, also vor Kurzem noch Student gewesen sein muß. Die Veranlassung zu seiner hier anzuzeigenden Streitschrift ist folgende: Herr Dr. Huber, Prof. der Philosophie in Mnchen, hatte bald nach dem Erscheinen des Strauß’schen Buchs in einigen Aufstzen in der Allgemeinen Zeitung gegen dessen Inhalt sich erklrt, die er nachmals mit Erweiterungen in einer Broschre vereinigte, welche wir im vorigen Jahrg. dieser Zeitschrift, S. 395 angezeigt und als eine der besten Streitschriften gegen Strauß characterisirt haben. Gegen diese Aufstze Hubers
404 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung richtete Ziegler in derselben Zeitung eine Antikritik, welcher Huber eine uns nicht zu Gesicht gekommene Abfertigung zu Theil werden ließ, die ziemlich derb ausgefallen sein muß, wie aus dem wuthschnaubenden Verteidigungsschriftchen sich abnehmen lßt. Wir mßten den uns hier vergçnnten Raum um das zehnfache berschreiten, wenn wir Rede und Gegenrede mittheilen und mit unserem Urtheil begleiten wollten. Ohnedieß bietet Ziegler’s Schrift auch nicht das Mindeste, was fr die Entscheidung der betreffenden Streitfragen von Belang wre. Wir wollen nur sein Zugestndniß constatiren, daß die Entstehung des Menschen aus keiner der jetzigen Affenarten sich erklren lasse, ohne daß ihn dieser Umstand am Darwinismus irre macht. Ziegler ist ein ebenso thçrichter und verstockter Infallibilist, wie die Ultramontanen. Wie diese, trotz handgreiflichster Gegengrnde an die Untrglichkeit des Papstes glauben, so er an diejenige von Darwin und Strauß. Wie er S. 54 auf den Beifall sich beruft, den Strauß auf Seiten der Naturforscher, namentlich Hckel’s, gefunden habe, so scheint er nicht zu ahnen, wie sehr er sich durch solche Berufung lcherlich macht, da ja diese Naturforscher nur ihrer eigenen, von Strauß, dem Dilettanten, adoptirten Hypothese Beifall zujauchzen. Den neuerlichen Ausspruch Virchow’s, es werde noch lange dauern, ehe die Descendenzhypothese zum Descendenzfactum werde, scheint Herr Z. noch nicht gekannt zu haben. Wie gering dessen theologische Bildung ist, mag seine Aeußerung ber die Sclaverei S. 13 beweisen: „So lange mir nicht eine Stelle fr Abschaffung der Sclaverei aus der apostolischen Predigt angefhrt wird, welche bei ihrer Erwartung der nahen Parusie gar keinen Sinn dafr haben konnte, so lange bin ich Phraseur genug, darauf zu beharren, daß nicht der specifisch christliche, sondern der germanische Geist, dem nach Tacitus die eigentliche Sclaverei ursprnglich fremd war, diese inhumane Einrichtung negirt hat.“ Ziegler scheint also nicht zu wissen, wie fern es dem ursprnglichen Christenthum lag, unmittelbar in die brgerlichen und politischen Verhltnisse einzugreifen (Luc. 12, 14), daß aber wenn Geist und Princip des Christenthums durchdrang, diese Verhltnisse von selbst eine andere Gestalt gewinnen mußten, und daß, wenn das im Briefe an Philemon, so wie Eph. 5, 5–9, Koloss. 3, 18–4, 1 Gesagte beherzigt wurde, die Sclaverei zunchst zwar formell noch fortbestehen konnte, materiell aber so gut wie nicht mehr vorhanden war. In Nr. 2 und 3 haben wir es mit zwei Gegnern Straußens ganz eigenthmlicher Art zu thun. Herr Nietzsche, ber welchen wir durch eine Zeitungsnachricht hçren, daß er auf Empfehlung des Herrn Prof. Ritschl in Leipzig vom Studiosus der Philologie unmittelbar zum ordentlichen Professor der classischen Philologie in Basel avancirt sei, ist nicht durch ein religiçses oder theologisches Interesse zu seiner Polemik bestimmt worden. Denn S. 20 erklrt er mit unverhohlener Frivolitt: „Niemand hat ein Verlangen, darber (ber Strauß’ Glauben) etwas zu wissen, als vielleicht einige bornirte Widersacher der
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straußischen Erkenntnisse, die hinter denselben wahrhaft satanische Glaubensstze wittern (welch ein Stil! als ob die Glaubensstze den Erkenntnissen vorausgingen!) und es wnschen mssen, daß Strauß durch Kundgebung solcher satanischer Hintergedanken seine gelehrten Behauptungen compromittire. Vielleicht haben diese groben Burschen sogar bei dem neuen Buche ihre Rechnung gefunden; wir Anderen, die wir solche satanische Hintergedanken zu wittern keinen Anlaß hatten, haben auch nichts der Art gefunden, wrden sogar, wenn es ein wenig satanischer zuginge, keineswegs unzufrieden sein.“ Vielmehr ist es dasjenige, was man deutsche Bildung nennt, was Nietzsche’s Widerspruch gegen Strauß hervorruft, indem er in Strauß einen Haupttrger und Hauptfçrderer dieser Bildung sieht. Aus den rasch auf einander gefolgten sechs Auflagen des Straußischen Buchs zieht er unbedenklich den Schluß, dasselbe habe außerhalb der theologischen Kreise den Beifall aller sogenannten Gebildeten oder, wie Verf. zu sagen vorzieht, der „Bildungsphilister“ gefunden. Strauß sei der „Huptling“ dieser Sorte von Philistern und sein Buch „das Handorakel des deutschen Philisters.“ Nun, auch wir verkennen die schwachen und krankhaften Seiten der jetzigen deutschen Bildung nicht, die den Christen und Patrioten mit Besorgniß fr die Zukunft erfllen kçnnen. Aber wenn wir uns nicht ganz tuschen, so scheint Hrn. Nietzsche’s Bemngelung unserer Bildung ihren Grund in verschwiegenem Haß der aus dem letzten Kriege hervorgegangenen politischen Neugestaltung Deutschlands zu haben, indem uns ohne diese Voraussetzung die Bemerkung, der Irrthum, unser letzter Sieg ber Frankreich sei der deutschen Bildung zu verdanken, kçnne diesen Sieg „in eine vçllige Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reichs“ verwandeln, unverstndlich ist. Hr. Nietzsche versieht den Ausdruck „deutsches Reich“ mit Anfhrungszeichen! Die Schattenseiten in der Bildung der brigen Hauptvçlker Europas zieht er nicht in Betracht. Nun aber ist Bildung ein ungemein weitschichtiger Begriff. Man sollte daher eine genaue Bestimmung dieses Begriffs und seiner verschiedenen Seiten (der religiçsen, sittlichen, kirchlichen, wissenschaftlichen, knstlerischen, gewerblichen, mercantilischen, militrischen u.s.w.) erwarten, deßgleichen, daß der Verfasser den Abstand der heutigen Bildung von dem ihm vorschwebenden Ideale der Bildung in’s Licht setze. Denn der von ihm S. 5 aufgestellte Begriff der Bildung als der „Einheit des knstlerischen (?) Styles in allen Lebensußerungen“ ist doch gar zu allgemein und vag und bedarf wieder einer Erluterung des Ausdrucks „knstlerischer Stil“. Statt dessen vernehmen wir 61 Seiten hindurch Nichts als unklare Klagen und Schimpfereien, Spçtteleien und Witzeleien ber den Beifall, den das Strauß’sche Buch bei den „Bildungsphilistern“ gefunden, und zuletzt das mit diesen Klagen stark contrastirende Schlußurtheil (S. 597): „Durch seine theologische Frbung steht das Strauß’sche Buch außerhalb unserer deutschen Cultur (??) und erweckt die Antipathien der verschiedenen theologischen Parteien, ja im Grunde jedes einzelnen Deutschen, insofern dieser ein theologischer
406 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Sectirer von Natur ist und seinen curiosen Privatglauben nur deshalb erfindet, um mit jedem anderen Glauben dissentiren zu kçnnen.“ Sonach htte Straußens Buch das Mißfallen aller Deutschen gefunden! Der Schlssel zur Erklrung solches unklaren und wilden Gebahrens drfte darin gegeben sein, daß Hr. N. Anhnger Schopenhauer’s ist, auf den er wiederholt (S. 16, 36, 38 f., 41, 48, 61, 76, 84, 85) als einen Meister in Israel verweist, Strauß aber Schopenhauer’s pessimistische Weltansicht mit Spott zurckgewiesen und ihr seinen Optimismus entgegengesetzt hatte. Rec. meint, ein Schopenhauerianer habe kein Recht, auf Strauß einen Stein zu werfen. Sind doch Beide, Schopenhauer und Strauß, Atheisten, mag immerhin bei Ableugnung der Persçnlichkeit Gottes und der individuellen Sterblichkeit der Schopenhauer’sche Pessimismus consequenter sein als der Straußische Optimismus. Außerdem mag es einen Einblick in die innerste Gesinnung des Verf.’s whren, daß er ein durch eigene Schuld mit sich und der Welt zerfallenes Genie, wie Hçlderlin, als Muster „eines wahren und chten Nichtphilisters, noch dazu eines solchen, der im allerstrengsten Sinne des Wortes an den Philistern zu Grunde gegangen sei“, preist (S. 16) und S. 54 zu dem Ausdruck „der vierte Stand“ in Apposition beisetzt: „der Sclavenstand.“ – Beinahe das letzte Drittel des Buchs, von S. 60 an ist der Frage gewidmet, ob Strauß in formaler Beziehung ein „classischer Schriftsteller“ sei, fr welchen er in seltener Uebereinstimmung sonst noch so sehr dissentirender, sogar von „verbissensten Orthodoxen“ gehalten werde. Nietzsche sucht ihm auch diesen Ruhm zu Nichte zu machen; durch Nachweisung stilistischer Nachlssigkeiten und Fehler in seiner letzten Schrift sucht er ihn als „nichtswrdigen Stylisten“ (S. 77) bloß zu stellen. Als Beispiel hebt Rec. dasjenige aus, was fr uns Theologen das Interessanteste. Die Straußische Bezeichnung der Geschichte von der Auferstehung Jesu als welthistorischen Humbug nennt Nietzsche nicht mit Unrecht „ungereimt und geschmacklos.“ Denn Humbug sei nichts Anderes als „ein auf Betrug Anderer und auf persçnlichen Gewinn abzielender Schwindel.“ Einen Humbug vermçge man nicht ohne ein Subject zu denken, welches seinen Vortheil dabei habe. Wer soll nun im vorliegendem Falle das Subject sein? Rec. muß leider beschmt gestehen, ber diese und andere stilistische Klçtze in Strauß’s Buche allzu leichten Fußes hinweggeglitten zu sein. Sie mçgen auf Rechnung der beginnenden Altersschwche und Krankheit Straußens zu setzen sein. Aber Herrn Nietzsche’s eigene Darstellung vermçgen wir auch nicht als Beispiel von Classicitt zu rhmen. Sie strotzt von Fremdwçrtern, fr deren Begriffe die besten deutschen Ausdrcke nahe genug liegen, und pleonastische Zusammenstellungen, wie „Bildung und Cultur“ mçchten auch nicht zu den Eleganzen gehçren. Auf einen sehr groben stilistischen Klotz haben wir oben aufmerksam gemacht. Mssen wir uns von Nietzsche’s Schrift mit Widerwillen wegwenden, so kçnnen wir dem Verfasser von Nr. 3, Herrn Hieronymi, Prediger der Freige-
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meinde in Mainz, trotz der weiten Kluft, die uns von seinem Standpunkte trennt, unsere Achtung nicht versagen. […]
Richter, Dr. Arthur: Unzeitgemße Betrachtungen von Dr. Friedrich Nietzsche. In: Zeitschrift fr Philosophie und philosophische Kritik. Leipzig, Bd. 64, 1874, S. 153–158. Unzeitgemße Betrachtungen von Dr. Friedrich Nietzsche, Ordentlichem Professor der classischen Philologie an der Universitt Basel. Erstes Stck: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig, Verlag von E. W. Fritzsche, 1873. Wir begrßen diese unzeitgemßen Betrachtungen als durchaus zeitgemß. Originell in der Anlage, geistvoll in der Ausfhrung verrathen sie ebenso sehr den mannhaften Charakter des Herrn Verfassers, wie sie dem Geist und Geschmack desselben Ehre machen. Mit ihrer Tendenz sind wir ganz einverstanden, wenn wir freilich uns von einer maßvoller gehaltenen Polemik noch mehr Erfolg versprochen htten, auch nicht jeder Wendung des originellen Gedankengangs werden beistimmen kçnnen. Veranlaßt sind dieselben durch die Aufnahme, welche das Buch von Strauß: „Der alte und der neue Glaube“, bei Gebildeten und Halbgebildeten, bei Gelehrten und Ungelehrten gefunden hat. In sechs Auflagen wurde es ber das deutsche Volk verbreitet. Wir kçnnen es mit dem Herrn Verfasser nur fr ein hçchst unerfreuliches Zeichen der Zeit halten, daß ein solcher Erfolg in Deutschland mçglich war, und schließen uns denen an, welche diesen sogenannten neuen Glauben verwerfen. – Es stimmen auch wohl die meisten Beurtheilungen des genannten Werkes darin berein, daß sie das Unbefriedigende und Widerspruchsvolle dieser neu seyn sollenden Weltansicht nachzuweisen suchen. Die Kritik, die Herr N. gegen das Buch von Strauß richtet, ist aber wesentlich noch andrer Art. Whlend allgemein als zugestanden gilt, daß Strauß wenigstens als Aesthetiker, Kritiker, und Schriftsteller Bedeutung nicht abzusprechen sey, man mag auch sonst ber ihn als Theologen denken, wie man wolle, greift Herr N. gerade diese Positionen an. Er untersucht, wie es mit dem gerhmten aesthetischen Urtheil von Strauß, mit seinem Muthe und den stylistischen Vorzgen seines Buches sich verhlt, und kommt hier auf Resultate, die dem armen Strauß die letzten Federn ausrupfen. In Krze soll auf den Gedankengang der Schrift hier eingegangen werden. Wir unsrerseits wrden noch den Weg der Polemik gegen Strauß einschlagen, daß wir erstlich nachwiesen, daß unser deutsches Volk noch immer ein christliches Volk ist, und zweitens, daß sein sogenannter neuer Glaube weder neu, noch Glauben, noch berhaupt haltbare Philosophie sey.
408 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Im Eingange seiner Schrift stellt sich Herr N. der çffentlichen Meinung entgegen, die ihm zu verbieten scheint, von den schlimmen und gefhrlichen Folgen des Krieges, des siegreich beendeten, zu reden. Er hlt es fr seine Pflicht, auf die Gefahren hinzuweisen, die in einem großen Siege liegen kçnnen. So habe auch der siegreiche Krieg gegen Frankreich fr uns schlimme Folgen gehabt. Herr N. betrachtet namentlich die Annahme fr einen gefhrlichen Irrthum, „daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deßhalb jetzt mit den Krnzen geschmckt werden msse, die so außerordentlichen Begebnissen und Erfolgen gemß seyen.“ Dieser Wahn soll im Stande seyn, „zu einer vçlligen Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reiches zu fhren.“ Prfen wir die Beweise dieser Behauptung, so will uns bednken, daß Herr N. doch etwas zu schwarz sieht und einen zu eng gefaßten Begriff der Kultur sich selbst den Blick fr den Zusammenhang trbt, der in der That zwischen den ußern Erfolgen und dem geistigen Zustande des deutschen Volkes besteht. Herr N. sagt: „Strenge Kriegszucht, natrliche Tapferkeit und Ausdauer, Ueberlegenheit der Fhrer, Einheit und Gehorsam unter den Gefhrten, kurz Elemente, die nicht mit der Kultur zu thun haben, verhalfen uns zum Siege ber die Gegner“, S. 2 u. 5. „Die moralischen Qualitten der strengen Zucht, des ruhigen Gehorsams haben mit der Bildung nichts zu thun.“ Fassen wir Menschen indessen als eine einheitliche Persçnlichkeit auf, so mssen wir es fr einen Irrthum halten, wenn man die sittlichen Qualitten des Menschen von seiner innern geistigen Verfassung ganz lostrennen will; die Natur sowohl wie die Wirkungsweise unsrer sittlichen Eigenschaften hngt mit dem Grade unsrer intellectuellen Entwicklung aufs innigste zusammen. Herr N. giebt auch zu, „daß in dem umfassendem Wissen der deutschen Offiziere, in der grçßern Belehrtheit (sic) der deutschen Mannschaften, in der wissenschaftlichen Kriegfhrung der entscheidende Vorzug der Deutschen erkannt wird, will sich aber diese von ihm sogenannte Belehrtheit von der Bildung gesondert denken, was wir fr unmçglich halten, wenn Unterricht und daraus hervorgehende Kenntniß, Mittel und Bestandtheil der Bildung sind. Zu enge erscheint der von dem Herrn Verf. aufgestellte Begriff der Kultur. Nach ihm soll der reine Begriff der Kultur in Deutschland verloren gegangen seyn. Der ehrliche Finder desselben in Basel definirt: Kultur ist vor Allem Einheit des knstlerischen Styls in allen Lebensußerungen eines Volkes. Vieles Wissen und Gelernthaben (sic) ist weder ein nothwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen derselben und vertrgt sich nçthigenfalls auf das beste mit dem Gegensatz der Kultur, der Barbarei, d. h. der Styllosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Style.“ Dieser Begriff der Kultur scheint uns darum zu enge zu seyn, weil der Herr Verfasser die Kultur nur vom sthetischen Standpunkt aus bemißt, whrend wir zur Kultur alle Strahlen des gesammten geistigen Lebens rechnen, von dem die Kunst nur eine und zwar nicht die hçchste Erscheinung ist. Indem wir also Kultur auch ohne jene vom Herrn Verf.
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geforderte Einheit der knstlerischen Form uns denken, kçnnen wir seinen Klagen ber unsre moderne Barbarei nicht ganz beistimmen, wie wir auch nicht annehmen, daß wir noch in allen Angelegenheiten der Form von Paris abhngen. Der zweite Abschnitt der angezeigten Schrift hat uns vielfach an Schiller’s akademische Antrittsrede und die darin enthaltene Schilderung des philosophischen Kopfes und des Brodgelehrten erinnert. – Herr N stellt darin den von ihm sogenannten Bildungsphilister und den wahrhaft Gebildeten einander gegenber. Der Bildungsphilister lebt in dem Wahn, daß seine Bildung gerade der satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur sey, und, da er berall Gebildete seiner Art vorfindet und alle çffentlichen Institutionen, Schul-, Kunst- und Bildungsanstalten gemß seiner Gebildetheit (sic) und nach seinen Bedrfnissen eingerichtet findet, so trgt er berall das siegreiche Gefhl herum, der wrdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur zu seyn.“ Diesem Bildungsphilistern werden die strebenden und suchenden Geister gegenbergestellt, die nie fertig waren, nie abgeschlossen hatten, nie zufrieden sich bei dem beruhigten, was sie erreicht hatten. In dieser Weise entwirft Herr N. ein allgemeines Bild des Bildungsphilisters, ohne daß man immer weiß, von welchen concreten Erscheinungen er seine Farben entlehnt. Als Vertreter dieser Klasse von Menschen gilt ihm nun vor Allem David Strauß; und die Bekenntnisse, die er in cynischer Weise ber seinen und der sogenannten Gebildeten Standpunkt gemacht hat, sollen mit kritischem Blick betrachtet werden. Mit Recht hebt Herr N. hervor, daß es sehr anspruchsvoll sey, ber seinen Glauben çffentliche Bekenntnisse abzulegen, weil dieVoraussetzung darin liege, daß der Glaube dieses oder jenes Individuums Allgemeingltigkeit beansprucht. Wir halten es mit Herrn N. mindestens fr vermessen, wenn Strauß „den Katechismus der modernen Ideen schreiben und die breite Weltstraße der Zukunft bauen will.“ So geben wir denn den Philistern, der der Stifter der Religion der Zukunft werden mçchte und darber zum Schwrmer geworden ist, dem wohlverdienten Spotte Preis, S. 23. Die eigentliche Untersuchung unsrer Schrift richtet sich auf folgende Punkte: Erstens, wie denkt sich der Neuglubige seinen Himmel? Zweitens, wie weit reicht der Muth, den ihm der neue Glaube verleiht? und drittens, wie schreibt er seine Bcher? „Strauß der Bekenner soll die erste und zweite Frage, Strauß der Schriftsteller die dritte beantworten“, S. 24. Herr N. weiß mit lachendem Munde viel Beherzigenswertes ber den sogenannten Himmel dieser Neuglubigen zu sagen, von dem jeder hçher strebende Mensch wenig Befriedigung finden wird, S. 24. 25. Besonders richtet sich aber die Kritik gegen die Abschnitte des Bekenntnißbuches, die von unsern großen Dichtern und von unsern großen Musikern handeln. Herr N. tritt hier den Beweis an, daß es Strauß vielfach an eingehendem Verstndniß fr unsre großen Denker und Knstler, sowie an selbstndigem und richtigem Urtheil ber poetische und musikalische Kunstwerke mangelt S. 26 – 36. –
410 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Die Untersuchung der zweiten Frage S. 36. 57, wie weit der Muth reiche, den die neue Religion ihren Glubigen verleihe, richtet sich mehrfach gegen den Charakter von Strauß. Referent ist im Allgemeinen ein Feind dieser Art von Polemik, namentlich wenn sie gegen Lebende gerichtet ist. Da indessen das Buch von Strauß ein Glaubensbekenntniß enthalten soll, also sich nicht auf rein wissenschaftlichem Gebiet bewegt, bei jedem Glauben aber mit Recht nach den Frchten gefragt werden kann, die unter den Gesichtspunkt sittlicher Beurtheilung fallen, so muß er im vorliegendem Fall auch eine Beurtheilung vom sittlichen Standpunkt am Platze finden. Somit sey denn auf dem von N. versuchten Nachweis hingewiesen, daß wir in dem Buch von Strauß eine Vereinigung finden „von Dreistigkeit und Schwche, tollkhnen Worten und feigem Sich – Anbequemen, von feinem Abwgen, wie und mit welchen Stzen man dem Philister imponiren, mit welchen man ihn streicheln kann, von Mangel an Charakter und Kraft, bei dem Anschein von Kraft und Charakter, einen Defect an Weisheit bei aller Affectation der Ueberlegenheit und Reife der Erfahrung“, S. 51. Den Schluß der angezeigten Abhandlung bildet die Erçrterung der dritten Frage: Wie schreibt Strauß seine Bcher und welcher Art sind seine Religions – Urkunden. Hier unterwirft Herr N. zunchst den Grundriß des Straußischen Buches der Kritik. Er findet S.63, daß das Verhltniß der vier Hauptfragen des Straußischen Buches bezeichnen, kein logisches sei, weil von diesen vier Fragen: Sind wir noch Christen, haben wir noch Religion, wie begreifen wir die Welt, wie ordnen wir unser Leben? die dritte Frage Nichts mit der zweiten, die vierte nichts mit der dritten (?) und alle drei nichts mit der ersten zu thun haben sollen. Hier kçnnen wir Herrn N. nicht vçllig beistimmen, weil wir die Ethik mit auf Physik und beide, auf einer theistischen Weltansicht begrndet denken; zu thun haben also jene Fragen mit einander, wenn auch in anderer Weise, als Strauß sich dies Verhltniß denken mag. Auf den versuchten Nachweis, daß sich Strauß nicht als strengordnender und systematisirender Gelehrter benommen habe, wird sein Styl einer eingehenden Untersuchung unterworfen. Hier hat Herr N. Recht, daß der Styl des letzten Buches von Strauß salopp zu nennen ist. Die allgemeine Charakteristik dieses Styls, wie sie Herr N. entwirft, trifft durchaus zu; in der Blthenlese einzelner Stylproben, die den Schluß unsrer Abhandlung bildet, findet sich genug des Verkehrten. Freilich lßt sich aus einer Sammlung einzelner verfehlter Stellen noch immer kein Gesammturtheil begrnden, da doch auch ins Gewicht fllt, was zwischen den abgedruckten Stzen ausgelassen ist. – Wir haben die geistreiche und charaktervolle Schrift des Herrn N. sofort hervorgezogen und wnschen ihr einen entsprechenden Erfolg. Wir wrden bedauern, wenn denselben der Umstand beeintrchtigen sollte, daß Herr N. nicht immer maßvoll verfahren ist. Man kann bei aller Entschiedenheit in der
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Sache, in der Form doch milder als er sein. Die ußere Ausstattung des Schriftchens ist vorzglich.
x.: David Friedrich Strauß. In: Litarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 25, Nr. 19 vom 9. 5. 1874, Spalte 618–622.
Besprechung der zu Strauß neu erschienenen Literatur, als letztem zu Nietzsche, Spalte 622. Wer freilich von unserer ganzen nationalen Kultur eine so geringschtzige Meinung hegt, wie Hr. Dr. Friedrich Nietzsche in Basel, der mag immerhin auch die liberalen Theologen als „Bildungsphilister“ verhçhnen, ber die jeder naseweise Gesell alle mçglichen schlechten Witze zu reißen berechtigt ist. Sonderbar nur, daß sie hierbei mit David Strauß sich in gleicher Verdammniß zusammenfinden, die fr Herrn Nietzsche noch lange nicht „satanisch“ genug ist. Ein Schadenfroher kçnnte vergngt sich die Hnde reiben, wenn er sieht, wie die Vertreter des Radicalismus sich gegenseitig in die Pfanne hauen. Indessen, dem gespreizten Geckenthume gegenber mçchte wohl auch mancher Gegner von Strauß geneigt sein, seine Sache zu fhren, thte es berhaupt Noth, ber so widerwrtige Schimpfereien, wie sie in den „unzeitgemßen Betrachtungen“ zu lesen stehen, auch nur ein Wort der Entrstung zu verlieren. Genug, daß der bermthige Anwalt des Schopenhauer’schen Pessimismus sein Recht, ber die religiçsen Fragen der Zeit mitzusprechen, durch keinen einzigen produktiven Gedanken documentiert hat. In der Schopenhauer’schen Philosophie die Universalmedizin fr alle Schden der Zeit zu sehen, begrndet heutzutage nicht einmal den zweifelhaften Ruhm der Originalitt, und was die Virtuositt im Schimpfen betrifft, so bleibt auch hier Schopenhauer unbertroffen und Hr. Nietzsche ist bloße Copie. An Dogmatismus aber thun es die Schopenhauer’schen Jnger womçglich den dickhutigsten Orthodoxen noch zuvor, wenngleich die logischen Widersprche, in welche diese Philosophie ihre Bekenner verwickelt, mit Hnden zu greifen sind.
412 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Anonym [Monod, Gabriel?]: David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller. In: Revue critique d’histoire et de littrature. Paris, Bd. 8, Nr. 39 vom 26. September 1874, S. 206. Unzeitgemæsse Betrachtungen von Dr Friedrich Nietzsche, Erstes Stck. David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller. Broch. in –88, 101 p. Leipzig. E. W. Fritzsch. 1873. – Prix: 4 fr. „De toutes les consquences fcheuses que la dernire guerre avec la France“ a amenes, la plus fcheuse, dit M. N., est peut-Þtre cette erreur si rpandue, „on peut dire cette erreur universelle, que la culture allemande elle aussi a „remport la victoire dans cette guerre …..“ – „Cette illusion est dtestable“, car elle est capable de transformer notre victoire en un dsastre complet qui „est l’extirpation de l’esprit allemand au profit de l’empire allemand,“ Il ne saurait d’ailleurs Þtre question d’une victoire de la culture allemande, au moins pour cette bonne raison „que la culture franÅaise continue d’Þtre comme auparavant et que, comme auparavant, nous en dpendons.“ – „Parler de la“ victoire remporte par la civilisation et la culture allemandes, n’est qu’un „quiproquo; qui vient de ce qu’en Allemagne l’ide pure de la culture a t perdue“ (p. 1, 2, 5). Ce dfaut d’une culture nationale, continue M. N., nos hommes instruits ne le voient pas; au contraire ils tmoignent d’une satisfaction qui, depuis la dernire guerre, s’ panche bruyamment et tous propos. Ces hommes mritent le nom de Bildungsphilister. Ce qui distingue la nouvelle espce de philistins, c’est la prtention qu’affichent ses membres d’tre des „fils des Muses et des hommes de culture (Kulturmensch).“ Strauss en est l’exemplaire le plus parfait. Le curieux pamphlet de M. N. est donc consacr au clbre crivain (encore vivant alors) l’occasion de la publication de son dernier ouvrage qui eut un si grand retentissement, La foi ancienne et la foi nouvelle. Il ne peut Þtre question ici de l’analyser, encore moins de l’apprcier. Nous nous bornons attirer l’attention sur cette publication originale, crite avec une verve extraordinaire. La critique de M. N., il est bon o en [sic] prvenir, n’est point inspire par son point de vue thologique, mais, – ce qui fait l’intrÞt principal du premier morceau des Considrations inopportunes, –par le point de vue littraire et philosophique que nous avons indique plus haut. M. N. s’est en particulier attaqu au style de Strauss avec la mÞme animosit qu’il montre pour sa doctrine.
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E., H. [Ewald, Heinrich Georg August]: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. In: Gçttingische Gelehrte Anzeigen. Nr. 4 vom 27. 1. 1875, S. 119–121. Aber whrend sich bis jetzt innerhalb der besseren Deutschen Wissenschaft nur der Zweig der Biblischen gegen diese Afterschule strker geregt hat, wie auch diese Gel. Anz. beweisen kçnnen, trifft es sich endlich in der neuesten Zeit sehr erwnscht daß ihre Blçße auch von einer ganz andern Seite aus enthllt wird. Wir meinen hier das Schriftchen von welchem wir seiner Eigenthmlichkeit wegen und weil es in das von uns Behauptete so unerwartet und doch einem großen Theile nach so richtig eingreift, in den Gel. Anz. nothwendig reden mssen:208 Unzeitgemße Betrachtungen von Dr. Friedrich Nietzsche ordentlichem Professor an der Universitt Basel. Erstes Stck: David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig bei W. Fritzsch. 1873. Eine hçchst salzige und wohlgepfefferte aber weder bergesalzte und ungesunde noch wie wir hoffen kçnnen, unwirksame Schrift, eine von denen deren in Deutschland schon seit langer Zeit viel zu wenige dargereicht werden um die ungeheure Uebermenge ungesunder Gedanken und Bestrebungen worin man das deutsche Volk ersticken will zu vertreiben. Sie ist nur gegen dieselbe letzte Schrift des Ludwigburgers gerichtet, welche wir sogleich bei ihrem Erscheinen in den Gel. Anz. 1873 St. 4 trafen: schlgt aber mit dieser letzten Schrift des Mannes welche seine bleibendste auserlesenste und Hauptschrift werden sollte alle seine frheren zu Boden, indem sie ihn als Bekenner der gerechten Verspottung, als Schriftsteller der verdienten Verachtung hingiebt. Mit ihm ist nun aber zugleich auch seine ganze Schule gerichtet. Freilich mssen wir bedauern daß der junge am classischen Alterthume gebildete Verf. als Christ kein Scaliger ist, vielmehr die entsetzliche Einseitigkeit und christliche Unwissenheit theilt, worin so viele classische Philologen unter uns aufwachsen. Allein, da er noch jung ist, so wird er knftig, wenn er sein Salz nicht faul werden lassen will, dennoch entweder wieder ein Dav. Strauß und Hegelscher Friedr. Vischer oder ein echter Christ werden mssen. Die Afterschule ist eben durch diese Schrift fr unsere Zeit vorlufig abgethan, whrend der Verf. der Schrift von welcher wir hier ausgingen noch nicht einmal begreifen will wie vollstndig ihn schon das erste Blatt seiner frheren Schrift berfhrt, daß er noch immer ihr Trugbild viel zu hoch erachte. Das sollte aber kein einziger Deutscher Theologe noch jetzt thun, weder in Gießen
208 Als Verfasser lçst Schmidt, Georg (1986): Das Prophetenbild des Heinrich Georg August Ewald. Marburg, Bd. 2, S. 223 Heinrich Ewald auf.
414 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung welches dadurch nur zu lange in der Welt bekannt genug geworden ist, noch sonst wo. Reaktionen N in Ecce homo: „Unbedingt fr mich entschieden sich nur einige alte Herren, aus gemischten und zum Theil unerfindlichen Grnden. Darunter Ewald in Gçttingen, der zu verstehn gab, mein Attentat sei fr Strauss tçdlich verlaufen.“ [Bezieht sich wohl auf den Satz aus obigen Artikel: „Mit ihm ist nun aber zugleich auch seine ganze Schule gerichtet.“ Lt. KSA 14/487 Quelle nicht erschlossen.] KGW VI/3, S. 316
Anonym: David Friedrich Strauss. In: Zeitschrift fr exacte Philosophie im Sinne des neueren Realismus. Leipzig, Bd. 11, 1875, S. 65–76. Besprechung von Strauss „Alter und Neuer Glaube“, in einer Anmerkung werden zwei weitere Schriften ber Strauss erwhnt: Jrgen Bona Meyers: Der alte und der neue Glaube. Betrachtungen ber David Friedrich Strauss‘ Bekenntnis. Bonn 1873 und Nietzsches UB I, S. 75 f. David Friedrich Strauss: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniss. Leipzig 1872. 374 S. Der ausserordentliche Erfolg dieses Buches, von welchem bereits die 3. oder 4. Auflage erschienen ist, zeigt, mit welcher Spannung es von einem grossen Theile des Publikums in die Hand genommen ist. Dazu trgt wohl vornehmlich zweierlei bei, einmal der Gegenstand desselben und sodann die Person des Verfassers. Der Gegenstand gehçrt ja seit einiger Zeit recht eigentlich zu den sogenannten brennenden Tagesfragen und wird in Blttern und Versammlungen verhandelt, die sonst dergleichen Fragen sehr ferne stehen. Zum andern ist der Name des Verfassers ein in diesen Dingen berhmter. Es ist bekannt, wie lange er mit derartigen Studien beschftigt ist; man erwartet also von ihm im Gegensatz zu so vielen ephemeren Schriftchen Anderer ber diesen Gegenstand etwas Ausgereiftes, wenigstens etwas, das wesentlich zur Klrung der Verhltnisse beitragen wrde, wie er das ja unzweifelhaft frher nicht selten gethan hat. Es war z. B. kein geringes Verdienst um seine Zeitgenossen, wenn Strauss durch seine Glaubenslehre mit umfassender Gelehrsamkeit, hinreichendem Scharfsinne und beissender Satire den Wahn derer zerstçrte, welche christliche Orthodoxie mit Hegelschem Pantheismus vereinbaren oder gar sttzen wollten.
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Wer mit solchen Erwartungen an das vorliegende Buch herangetreten ist, wie mag der sich enttuscht gefhlt haben! Und in der That, fast in allen Recensionen, welche das Buch erfahren hat, spricht sich eine gewisse Enttuschung aus. Indessen wer auch von Strauss schon lngst nicht mehr etwas eigentlich Durchschlagendes erwartet und noch ausserdem seine Erwartungen von diesem Buche nach den vielen bereits erschienenen Besprechungen mçglichst herabgestimmt hat, wird gleichwohl noch immer von einem eigenen Gefhle des Bedauerns ber die menschliche Hinflligkeit ergriffen, wenn er sich herbei lsst, die Schrift durchzulesen und so selbst Zeuge wird, wie ein so geistreicher Schriftsteller, wie Strauss, allmhlich so arm und drftig geworden ist, blos noch die ausgetretenen Gleise moderner Halbbildung mhsam dahinzuziehen. Ein grosser Theil der Wahrheiten und Irrthmer berhaupt stammt aus den zu allen Zeiten kleinen Kreisen der eigentlichen Forscher, von hier aus werden Wahrheit und Irrthum zu breitern Strçmungen in weitern Schichten, in der Regel zunchst zu Schlagwçrtern gewisser Parteien, bis sie noch weiter hinabsteigen und sozusagen trivial werden. Fr die Wahrheit gibt es keinen grçsseren Triumph, als endlich allgemeingiltig oder selbst trivial geworden zu sein. Aber hçchst beschmend fr ein Zeitalter ist es, wenn es nicht die Bildung und die Kraft besitzt, zu hindern, dass Irrthmer, geboren in dem forschenden Geiste weniger Denker, zu beherrschenden Schlagworten grosser Parteien, ja endlich zur Weisheit auf der Gasse werden. Meistens ist es der Fall, dass whrend gewisse irrige Ansichten so ihren Lauf durch die grossen Massen nehmen, sie selbst in den Kreisen der eigentlichen Forscher, von denen sie herstammen, lngst berichtigt und durch ganz andre wissenschaftliche Ergebnisse verdrngt sind. Dass nun Strauss in dem vorliegenden Buche sich durchweg in irrigen Meinungen bewegt, von denen wir allein die philosophischen im Auge haben, brauchen wir wohl unsern Lesern nicht erst zu sagen. Aber das Bedauerliche dabei ist das, dass diese Irrthmer nirgends die Fehlgriffe eines eigentlichen Forschergeistes sind, sondern nur solche, die sich bereits im zweiten oder dritten Stadium der Verbreitung befinden, d. h. Gemeingut gewisser grçsserer oder sehr grosser Kreise geworden sind. Zu diesen Dingen gehçrt z. B., dass der Glaube an Gott verschwinden msse, wenn man lernt, der Himmel sei kein festes Gewçlbe, S. 105, oder wenn von einer Wohnungsnoth Gottes gesprochen wird, weil „das Weltsystem nach dem jetzigen Stande der Astronomie keinen Raum fr einen Pallast eines von Engeln umgebenen Gottes mehr habe“ S. 105 f. Dass, weil Donner und Blitz auf natrliche Ursachen zurckgefhrt sind, man darum auch Gott nicht mehr persçnlich denken kçnne, S. 106. Desgleichen spricht er S. 129 seine Besorgniss aus, wo denn die vielen Seelen, wenn sie unsterblich wren, im Weltenraum ihr Unterkommen finden sollten. Auch die Phrase kehrt hier wieder, dass Bildung und Religion im umgekehrten Verhltniss stehen, S. 136, wobei Sachsen sich
416 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung gefallen lassen muss, als ein besonders gebildetes und zugleich unglubiges Land angesehen zu werden. Recht nach Art unreifer und unwissender Literaten, die das wenige, was sie kennen, fr das Beste in allen Beziehungen anpreisen, ist es, wenn hier eine besondere Bewunderung fr Goethe und Lessing als Philosophen zur Schau getragen wird. Gçthe wird namentlich als Darwinianer gefeiert, S. 125 ff., ein Ruhm, der bei Gçthe sogar noch sehr zweifelhafter Natur ist, und Lessing vornmlich um seines thçrichten Wortes gepriesen, als sei das Streben nach Wahrheit besser, als diese selbst. S. 119. Wenn man von Gçthe als Philosophen weiter nichts wusste, als dass er Spinoza’s System um seiner grossartigen Uneigenntzigkeit bewundert und von Lessing, dass er in Spinoza den tiefsinnigen Metaphysiker verehrte, wrde man nicht umhin kçnnen, schon um deswillen sehr gering von deren Philosophiren zu denken. Man luft indes berall Gefahr, die wahren Verdienste grosser Mnner zu schmlern, wenn selbst deren Schwchen fr tiefsinnige Weisheit ausgegeben werden. Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten; wie man Melanchthon seine astrologischen Grillen, so mçge man auch Gçthe und Lessing ihre schwchlichen philosophischen Betrachtungen zu gute halten, mçgen sie selbst zuweilen auch noch soviel Gewicht darauf gelegt haben. Man lasse das Wort Gçthe’s ihm selbst zu gute kommen: man kann von Einem Manne nicht alles fordern. Uebrigens ist nicht jeder, der jene philosophischen Meinungen mit Lessing und Gçthe theilt, auch darum schon ein Lessing oder Gçthe. Um noch einige Vorurtheile zu nennen, in welchen Strauss sich ganz auf dem Niveau grosser herrschender Strçmungen bewegt, heben wir u. a. hervor: die Welt ist Ein Ganzes. S. 113. Die Vielheit der Welten ist unendlich und wer sie fr endlich halte, thue dies in theologischer Befangenheit. S. 105 u. 147. Die Annahme eines substantiell von der Welt verschiedenen Gottes und eines selbstndigen Seelenwesens wird Dualismus geschmhet. S. 205 u. 207. Der Zweckbegriff wird erst auf den Kopf gestellt, als ob darin die Wirkung der Ursache vorangehen msste, um alsdann als ungereimt abgewiesen zu werden. S. 211. Dagegen wird Darwin als sicherer Weg gepriesen S. 216, der den Zweckbegriff aus der Natur eliminirt habe. S. 213. An einigen Punkten wird es besonders recht deutlich, wie Strauss ganz naiv fortplaudert in einer Anschauung, die in den eigentlichen forschenden Kreisen theils bereits ganz aufgegeben, theils heftig erschttert ist. S. 129 u. 205 wird erzhlt, wie das geistige Leben mit dem leiblichen entstehe und abnehme und darum mit ihm identisch sei, wie die natrlichen Krfte bald zu Bewegungs-, bald zu vitalen, bald zu geistigen Krften umschlagen. S. 145 wird mit drei Zeilen die Realitt der Aussenwelt im Gegensatz zur Welt der Vorstellung bewiesen. Wahrlich wenn es so bequem wre, ber diese Fragen hinwegzukommen, so htte sich die neuere Psychologie und Philosophie viele Mhe und Arbeit ersparen kçnnen!
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Ueberhaupt ist zu bemerken, dass Strauss jetzt endlich und zwar mit Bewusstsein fast durchweg zu den Ansichten des gemeinen Materialismus bergegangen ist. Das ist ohne Zweifel ein Fortschritt und zwar der einzige, den wir in dieser Schrift im Vergleich mit den frhern bemerken, ein Fortschritt, wenn auch nicht zur Wahrheit, so doch zur Klarheit. Mit einer gewissen Entrstung weist er sonst namentlich in seiner Glaubenslehre den Materialismus als eine niedere, ussere, mechanische Weltanschauung ab, whrend er doch von Anfang an vollkommen mit den Resultaten des Materialismus eins war, ohne es freilich zu wissen, oder wenigstens es Wort haben zu wollen. Jetzt hat er, was er sonst so hoch hielt, die besondere Lebenskraft aufgegeben, S. 171, und dem frher immanenten, unbewussten Knstler209 oder Zweck hat die Darwinsche Theorie Platz gemacht. Gleichwohl hat er doch den Materialismus metaphysisch nicht richtig aufgefasst, wenn er ihn Monismus nennt, der darauf ausgehe, die Gesammtheit der Erscheinungen aus einem einzigen Princip, Welt und Leben aus Einem Stck zu erklren. S. 208. Dem Resultate nach fllt ja der Materialismus mit dem idealistischen Monismus zusammen, dem Princip nach aber basirt der naturwissenschaftliche, empirische Materialismus nicht auf Monismus, sondern auf Pluralismus resp. einer gewissen Art von Atomistik. Hier brechen bei Strauss die alten Hegelschen Reminiscenzen wieder durch, die auch sonst an manchen Stellen unverhllt zu Tage treten, z. B. S. 112 f., wo in einer pedantischen Weise, die gegen den sonst hier herrschenden feuilletonartigen Ton sehr eigenthmlich absticht, docirt wird: alles Sein sei nur ein relatives Sein; Sein sei die Einheit in der Vielheit. S. 119. Ueberall herrsche nur ein ewiger Kreislauf des Werdens210. S. 149. Das Gute sei das Allgemeine. S. 236. Unter dem Einflsse Hegel’s resp. Schleiermacher’s hat sich Strauss gebildet, ganz natrlich, dass diese alten Ideen mit derjenigen Kraft noch jetzt wirken, die Vorstellungen eigen ist, welche bei grosser geistiger Empfnglichkeit aufgenommen worden sind. Darum zeigt sich denn auch Strauss durchweg ganz gefangen in diesen Gedankenwendungen und seine Bornirtheit in diesen Din209 S. diese Zeitschrift. X. S. 235. 210 Es ist gewiss richtig, wer Strauss und seine Gesinnungsgenossen ernstlich widerlegen will, der muss auf die Begriffe von Sein und Werden zurckgehen und zeigen, dass das Sein das Primre ist, ohne welches es ein Werden nicht geben kann. Aber sehr leichtfertig und voreilig ist es, wenn darauf gesttzt ein Recensent ber Strauss im Magazin fr die Literatur des Auslandes 1872, N. 52 Alex. Jung sich in folgender Weise ergeht: „Gott ist gewisser als jeder mathematische Satz, denn jedes Axiom ist eine Bedingung der Wahrheit an sich. Gott ist gewisser als jede andere Gewissheit, denn jede andere Gewissheit setzt eine Gewissheit an sich voraus. Daher ist die Unsterblichkeit der Geister gewisser als die Sterblichkeit der Leiber: denn alles Vergehn und Werden hat zu seinem Prius das Sein, also etwas, was das Werden erst ermçglicht.“ Man sieht wie Thorheit sich nicht allein an falsche, sondern auch an halbwegs richtige metaphysische Stze anschliessen kann.
418 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung gen ist keine geringere, als welche er den Orthodoxen in ihrer Dogmatik vorwirft. Wie von einem Evangelium kann er nicht loskommen von dem sogenannten schlechthinnigen Abhngigkeitsgefhl im Sinne Schleiermacher’s. Wer wusste nicht, dass der Mensch, wie jeder Organismus ein hçchst abhngiges Geschçpf ist, dass er essen, trinken, athmen u.s.w. muss? Wer aber, der es nicht wusste, wrde wohl rathen, was Strauss aus diesen trivialen Thatsachen macht! Nichts weniger nmlich kommt heraus, als eine auf die Abhngigkeit vom Universum basirte Religion, ein Glaube an das All! Und es ist Strauss Ernst mit diesem Glauben. „Wir fordern fr unser Universum dieselbe Piett, wie der Fromme fr seinen Gott. Unser Gefhl fr das All reagirt, wenn es verletzt wird, geradezu religiçs. S. 143. Wie soll man nun ein Verfahren bezeichnen, welches aus dem Umstande, dass der Mensch essen und trinken muss, eine Religion macht? Wie man es aber auch bezeichnen mag, jedenfalls darf man es nicht neu nennen.211 211 Leider ist dieses Verfahren, welches so leichtfertig mit dem Zu- oder Absprechen der Religion fr gewisse theoretische Meinungen umgeht, weder veraltet noch neu. Es wird nicht selten auch von sogenannter positiver Seite gebt. Im Jahre 1870 unternahm der Dr. theol. W. Hoffmann in Berlin die Herausgabe einer periodischen Schrift „Deutschland“ genannt, welche „ein geistiges Denkmal der Einheit Deutschlands“ sein und deren erste Bnde „den Geist und Charakter“ der Schrift bekunden sollten. In dem zweiten Bande derselben ist auch ein philosophischer Aufsatz enthalten, verfasst von Franz Hoffmann mit der Ueberschrift: Franz von Baader’s Stellung in der Geschichte der Philosophie. Als philosophischen Reprsentanten des Geistes des geeinigten Deutschlands hat der Herr Herausgeber also Baader gewhlt, den Mann, wie er hinzusetzt, „geweihtester, tiefster Speculation, der am meisten die Grundgedanken christlicher Wahrheit zu fruchtbaren Ideen des philosophischen Geistes gestaltet hat“, S. 343, den Mann, welchen der Herr Verfasser der Abhandlung „als den Philosophen der Zukunft“ zu bezeichnen fr gut findet, fr dessen Anerkennung sich bereits die Zeichen mehren sollen. S. 340. In diesem Aufsatz wird vielleicht noch mehr dem Naturphilosophen Oken, als von Baader gehandelt; und es wird Oken nicht nur berhaupt ein religiçser Standpunkt, sondern sogar ein christlicher Theismus vindicirt. Die Ausdrcke fr den krassesten Pantheismus, oder, was hier dasselbe ist, fr Naturalismus kçnnen nicht strker gewhlt werden, als die sind, welche hier aus den Schriften Oken’s mitgetheilt werden. Z.B. das Weltall ist die Selbsterscheinung und Selbstverwirklichung Gottes. Die Naturphilosophie ist die Wissenschaft von der ewigen Verwandelung Gottes in die Welt. Die individuelle Unsterblichkeit wird geradezu und mit drren Worten geleugnet, so dass es selbst sein Apologet erkennt. Nur die Welt oder Gott als Wesen der Totalerscheinungen ist beharrlich. Sollten die Individuen nicht sterben, sondern ewig leben, so msste die Welt sterben, denn das Leben der Welt besteht in dem Wechsel der Pole. S. 308 f. Hier nun findet selbst der Herr Verfasser dieser Abhandlung wenigstens „einen pantheistischen Zug“. Aber nichts desto weniger nimmt er Oken nicht allein in Schutz gegen die Beschuldigung des Pantheismus oder Naturalismus, sondern will ihn auch als einen christlichen Theisten, der auf dem Standpunkt des Glaubens an die Trinitt steht, verehrt wissen. Wahrlich Strauss htte nichts, gar nichts an seiner pantheistischen oder naturalistischen Weltanschauung zu ndern, nur ein klein wenig die Ausdrcke mehr nach dem Geschmacke der christlichen Pantheisteit zu modeln brauchen, und man
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Dass die bekannte pantheistische Weltanschauung, welche Strauss hier vortrgt, etwas Neues sei, das kann er doch nur solchen weis machen wollen, welche von alten und neuen Pantheismus oder Naturalismus schlechthin noch gar nichts wissen. Wenn unsre jungen Literaten sich in dergleichen Reden ergehen, dieselben als unumstçssliche Resultate der neuesten wissenschaftlichen Forschungen ansehen und nun als etwas ganz Neues im orakelhaften Tone vortragen, so mag man das ihrer Unwissenheit zu gute halten, sie wissen ja nicht, woher dergleichen stammt, meinen wohl gar, es selbst erfunden zu haben. Aber Strauss, durch und durch ein Schler Hegelscher Philosophie, sollte doch nicht so sprechen, als wusste er nicht, dass er damit sehr alte und bekannte Dinge vorbringt, sollte sich doch nicht vorreden, als wandle er „neue Bahnen“. S. 367. Gesetzt nun aber, der sogenannte neue Glaube sei wirklich neu, ist er darum schon wahr und ist Neuheit der hçchste Titel des Lebens? Nach Hegel allerdings, ihm ist das Neueste immer das Beste. Den Frauen pflegt gleichfalls die neueste Mode die schçnste zu sein. Eine auch von Strauss gepriesene Autoritt, Frst Bismarck, sagt von den Verfassungen: es geht ihnen wie den Damen, die jngste gefllt immer am besten. Zur Entschuldigung dieses Buches kçnnte man geltend machen: es soll gar keine Untersuchung sein, sondern nur eine Zusammenfassung der angeblichen Resultate moderner Theorien. Und allerdings macht die Schrift auch den Eindruck, spricht doch ein Recensent derselben geradezu die Vermuthung aus, es mçchte als ein Handbuch, als eine Art populrer Katechismus der modernen Weisheit bei Strauss bestellt sein. Wie gesagt, den Eindruck macht die Schrift allerdings, es wird darin von allen und jedem geredet und wer den Inhalt derselben inne hat, kann auf jede Frage des modernen Bewusstseins eine leidliche Antwort geben, sogar ber Musik, Poesie, Staatsverfassung, Socialismus, Todesstrafe u.s.w. Aus diesem Gesichtspunkte des Bestrebens, jedem auf jede der Tagesfragen eine Antwort zurecht zu machen, mçchten wir auch die weitlufigen theologischen Erçrterungen ansehen. Denn was kann dergleichen hier sonst fr einen Zweck haben? Wenn jemand so radical als Strauss verfhrt, die Leugnung von Gott, Seele, Unsterblichkeit fr so ausgemacht hlt, dass er nicht mehr nach Beweisen, sondern hçchstens nach Besttigungen des Atheismus sucht und dann noch nebenher sich in eine weitschichtige Kritik der Evangelien und deren scheinbare Widersprche einlsst, so macht das den Eindruck des Kleinlichen, der Mkelei und ist nur subjectiv daraus zu erklren, dass bei diesen wrde nicht verfehlt haben, ihn auch von sehr positiver Seite her als einen christlichen Theisten zu begrssen. Sonderbare Menschen! Wie gengsam und zuvorkommend sie sind, wenn es gilt, auch den krassesten Pantheismus und Naturalismus als Zeugniss unanfechtbarer Glubigkeit anzustellen und wie bereitwillig auf der andern Seite, alles, was nicht Pantheismus ist, sofort als Atheismus schlimmster Art zu brandmarken!
420 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Gegenstnden Erinnerungen an Untersuchungen wach werden, welche er vordem mit voller Geistesfrische getrieben hat. Wre die Vermuthung jenes Recensenten begrndet, dass hier nur in ein Handbuch die moderne Weisheit gesammelt wre, dann wre es freilich auch erklrlich, dass Strauss nicht mehr bringt, als was eben ganz auf der Oberflche lag, denn bekanntlich lernt die Menge nichts lieber, als was sie schon weiss. Freilich msste man dann dem aristokratisch gesinnten Herrn Verfasser sagen, dass er ein Vademecum fr das spiessbrgerliche Literatenthum der allerschlechtesten Sorte zurecht gemacht habe. Aber das hat Strauss nicht gewollt, er prtendirt mehr. Die çffentliche Meinung schlgt er nicht zu hoch an, sie reprsentirt ihm nur das herrsehende Vorurtheil. S. 289. Das Buch soll nach der Absicht des Verfassers wirklich wissenschaftliche Untersuchung sein, es soll zeigen, ob die moderne Anschauung festen Grund, sichere Tragfhigkeit, Einheit und Zusammenhang in sich selbst besitzt. S. 10. Das ist eigentlich das Bedauerlichste, dass der Herr Verfasser selbst glaubt, mit so wohlfeilen Mitteln etwas Wissenschaftliches geleistet zu haben. Er steht, wie er selbst sagt, an der Schwelle des Greisenalters und hat 40 Jahre sich mit derartigen Arbeiten befasst. Wie hat er denn niemals in dieser langen Zeit Schriften in der Hand gehabt, welche die sogenannte moderne Weltanschauung zum Gegenstand ihrer Kritik gemacht haben? Es scheint nicht so, denn er sieht in dem modernen Idealismus die ganze Philosophie. S. 119. Gleichwohl kann man sich eine solche Einseitigkeit bei der ausgedehnten Gelehrsamkeit des Herrn Verfassers nicht denken. Hat er vielleicht aus dem, was er gelesen, nur das benutzt, was ihm gerade zusagte? Das vertrgt sich mit ehrlicher Wissenschaftlichkeit nicht. Soll man annehmen, er hat anderes, als er schon wusste, nicht mehr verstehen kçnnen? Das Schlimmste jedenfalls ist, er weis das selbst nicht, er glaubt auf der Hçhe der Wissenschaft zu stehen und spielt in dieser Ignoranz die lcherlichste Rolle, als praeceptor Germaniae auftreten zu wollen. Wie hat Strauss so tief sinken kçnnen? Er ist wie so viele geistreiche, gelehrte, talentvolle Mnner ein Opfer Hegelscher Philosophie geworden! Il y a des personnes qui tudient toute leur vie et qui la fin de la vie ont tout appris – homis a penser. (Pascal).212 212 Bei dieser Gelegenheit werde sogleich noch zweier Schriften gedacht, die uns soeben zur Besprechung bersandt worden sind: 1) Jrgen Bona Meyer: Der alte und der neue Glaube. Betrachtungen ber David Friedrich Strauss’ Bekenntniss. Bonn 1873. 80 S. 2) Friedrich Nietzsche: Unzeitgemsse Betrachtungen. Erstes Stck: David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller. Leipzig, Verlag von E. W. Eritzsch. 1873. 101 S. Das erste Schriftchen sucht in seiner zweiten Hlfte namentlich die Betrachtungen von Strauss ber die biblische Anschauung von Vermçgen und Ehe zurckzuweisen resp. zu berichtigen. Im erstenTheile werden dem Atheismus von Strauss folgende schwch-
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Rmelin, Gustav: Reden und Aufstze. Tbingen, 1875. Im 8. Kapitel, S. 395–404, behandelt Rmelin Strauss wohlwollend, zu Nietzsche S. 402. Wo ist ein Schriftsteller, der in so vielen Bnden auf jeder Seite frisch, lebendig, anregend wre, niemals langweilig, geschmacklos oder unklar? Das feinste Sprachgefhl, die solideste philologische Bildung und eine dichterische Begabung, um die ihn manche, die sich Poeten nennen, beneiden drften, begleiteten alle seine schriftstellerischen Leistungen. Sein Styl gleicht einem hellen, sprudelnden und perlenden Quellwasser, bei dem man berall auf den klaren Grund sieht. Die „unzeitgemßen Betrachtungen“ werden mit ihrem kleinlichen Genergel an dem çffentlichen Urtheil nichts ndern. Der Styl eines Schriftstellers ist als Ganzes zu nehmen; das Geschft, da oder dort Etwas mit rother liche Gedanken entgegengestellt: Unser Denken treibt uns an, in dem Wechsel der Erscheinungen einen letzten Halt zu suchen. Unser Wollen nçthigt diese Kraft so zu denken, dass sie im Stande sei den Wirrwarr der zahllosen endlichen Willenstriebe zur Harmonie einer sittlichen Weltordnung auszugleichen. Unser Gefhl macht uns den Zusammenhang der also gewonnenen Weltanschauung werthvoll. Das Bleibende im Wechsel der Erscheinungen kann unser Geist sich nicht als ein Vieles, sondern nur als Eines vorstellen, weil der erregte Einheitstrieb unseres Denkens sonst nicht vollauf befriedigt wird. S. 23. Dieses Eine muss als ein „Selbst“ gedacht werden. In diesem Sinne wnscht der Herr Verfasser eine kirchliche Reform nach der Weise des ProtestantenVereins, der Alt-Katholiken oder der freien Gemeinden. Diese Gedanken machen brigens, wie fr nçthig erachtet wird hinzuzufgen, nicht Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit, als vielmehr den eines religiçsen Bekenntnisses, „auf dessen Gehçr der Herr Verfasser sich einiges Anrecht bereits erworben zu haben glaubt.“ S. 8. Wodurch er sich dies erworben hat, wird nicht gesagt. Hierbei mçchten wir ihn auf eine sehr richtige Bemerkung der zweitgenannten Schrift aufmerksam machen: „Ein Bekenntniss ber seinen Glauben abzulegen, muss als unvergleichlich anspruchsvoller gelten (als seine eigne Biographie zu schreiben): weil es voraussetzt, dass der Bekennende nicht nur auf das, was er whrend seines Daseins erlebt oder erforscht, oder gesehen hat, Werth legt, sondern sogar auf das, was er geglaubt hat.“ Besonders interessant wird diese zweitgenannte Schrift da, wo sie Strauss als Schriftsteller behandelt. Whrend in der Regel Freunde und Feinde Strauss als classischen Stilisten nicht genug erheben kçnnen und auch Herr Meyer sein „bestechendes Darstellungstalent“ bewundert, wird hier an einer reichen Auswahl von Stilproben namentlich aus der letzten Schrift von Strauss das usserst Nachlssige, Unklare und Undeutsche seiner Schreibweise dargethan, so dass von einer classischen Darstellungsart bei Strauss keine Rede sein kçnne. Wir stimmen hierin dem Herrn Verfasser vollkommen bei, wenn er dem landlufigen Vorurtheile ber Strauss wie berhaupt der modernen saloppen Schreibweise entgegentritt. Mçchte er seine Mahnungen nur selbst beherzigen und sich knftig freihalten von derartigen burschikosen Ausdrcken und Grobheiten, davon seine jetzige Schrift wimmelt. – Endlich sei noch die ganz vorzgliche Ausstattung dieses Buches, was Druck und Papier anbetrifft, hervorgehoben.
422 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Tinte anzustreichen, mag man denjenigen Schulmeistern berlassen, die an der Correctur ihrer Schlerhefte noch nicht genug haben.
Kuh, Emil: Professor Friedrich Nietzsche und David Friedrich Strauß. Eine kritische Studie. In: Literaturblatt. Wochenschrift fr das geistige Leben der Gegenwart. Wien, Bd. 2, Nr. 19–22, September bis Oktober 1878. Professor Friedrich Nietzsche und David Friedrich Strauss Eine kritische Studie. Von Emil Kuh. 213 I. Wer ist Nietzsche? Ein großer Mann im Geheimen, der nichts sehnlicher in der Welt wnscht, als daß dieses Geheimniß den weitesten Kreisen offenbar werde. Ein Professor der classischen Philologie zu Basel, der im Gefhle seiner Superioritt entrstet ist, daß sein Lehrstuhl nicht so hoch ragt, wie vormals der Kaiserstuhl zu Aachen. Ein Freund und Pandur Richard Wagner’s, in dessen Lrmposaune er zu seinem eigenen, wie zu seines Herrn Ruhme in jenen Augenblicken stçßt, wann der Besitzer des wohlklingenden Instruments sich eine Ruhepause gçnnt. Ich wßte Manches von diesen Lebensnachrichten schwerlich, wenn mir nicht eine Schandschrift, die vor wenigen Wochen gegen David Strauß ausgegangen ist, und die jenen Professor zum Verfasser hat, zu einer nheren Bekanntschaft mit ihm verholfen htte. Wenn der Erstbeste plçtzlich nackt auf die Straße luft oder die Vorbergehenden mit Schmutz bewirft, so erkundigen wir uns vielleicht nach dem Namen und Stande desselben, was uns zu thun sicherlich nicht eingefallen wre, wenn der Unbekannte ein Bndchen lyrischer Alpenrosen oder einen dramatischen Kçnig Alboin herausgegeben htte. Wo sind deine Leistungen, fragte ich, daß du dich unterfngst, einen von uns hochgeschtzten, um die Wissenschaft hochverdienten Gelehrten und Schriftsteller çffentlich zu beschimpfen und herunterzusetzen? Welche Gçtter betest du an, da du die Deutschen des Gçtzendienstes beschuldigst und sie der Verblendung zeihst, welches sind deine Ideale und Heiligthmer? Und der Umschlagtitel des Pamphlets versprach mir, daß ich gengende Antwort er213 Die folgende Artikel-Reihe fand sich im literarischen Nachlasse Prof. Emil Kuh’s vor, und wir freuen, uns, dieselbe im „Literaturblatt“ zum ersten Abdruck bringen zu kçnnen. Obwohl bereits vor einigen Jahren, kurz nach dem Erscheinen der Schmhschrift Nietzsche’s gegen Strauß, entstanden, trifft Emil Kuh’s Arbeit doch auch heute noch in die Zeit und darf ihres Gegenstandes wie ihres Verfassers wegen hervorragende Beachtung beanspruchen. Die Redaction.
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halten solle, denn dort ist die Schrift des Herrn Professors Nietzsche verzeichnet: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik “ (Leipzig, E. W. Fritzsch, 1872). Außerdem lag in dem Pamphlet ein Programm der „Smmtlichen Werke“ Richard Wagner’s und in diesem Programm wird unter den beliebten Sendschreiben des fingerfertigen Genius der modernen Musik auch eines an den Dr. Friedrich Nietzsche, Professor der classischen Philologie zu Basel, angefhrt. Das Eine also wußte ich bereits: das Pamphlet stammt aus jenem Lager, wo, wie bekannt, noch mehr geflucht wird, als einst in dem des Wallensteiners. Man kann fglich annehmen, daß Professor Nietzsche sein Pamphlet gegen Strauß gar nicht oder doch in anderer Form geschrieben haben wrde, wenn seine Schrift ber die gynkologisch denkwrdige Geburt der Tragçdie eingeschlagen htte, wie man zu sagen pflegt. Da dieses nicht geschehen ist, so hat es Professor Nietzsche auf einem andern, nicht mehr ungewçhnlichen Wege versucht, der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit zu werden. Betrachten wir fr’s Erste sein Werk ohne Wirkung, vielleicht erfahren wir daraus Einiges, das auf die wirkungsfhige zweite Publikation hier und dort ein erklrendes Licht wirft. Das Vorwort ist an Richard Wagner gerichtet, als an den „erhabenen Vorkmpfer“ auf der Bahn Nietzsche’s. Zu den Gedanken seiner offenbar welthistorisch gemeinten Arbeit hat sich der Verfasser, nach seinem Bekenntniß, zu der Zeit gesammelt, als Richard Wagner’s „herrliche Festschrift“ ber Beethoven entstand, das heißt, wie er erluternd hinzusetzt, „in den Schrecken und Erhabenheiten des eben ausgebrochenen Krieges. Doch wrden Diejenigen irren, welche etwa bei dieser Sammlung an den Gegensatz von patriotischer Erregung und sthetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel denken sollten: denen mochte vielmehr bei einem wirklichen Lesen dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen, deutlich werden, mit welchem ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben…“ Sedan und Basel sind demnach Wechselbegriffe. Er malt sich in diesem Vorworte mit niederlndischer Genauigkeit das billigende, zustimmende Gesicht des „erhabenen Vorkmpfers“ aus, wann dieser, „vielleicht nach einer abendlichen Wanderung im Winterschnee“, den entfesselten Prometheus auf dem Titelblatte betrachtet, Nietzsche’s Namen liest und sofort berzeugt ist, daß, mag in dieser Schrift stehen, was da wolle, der Verfasser etwas Ernstes und Eindringliches zu sagen hat, ebenfalls, daß er bei Allem, was er sich erdachte, mit ihm, wie mit einem Gegenwrtigen verkehrte und nur etwas dieser Gegenwart Entsprechendes niederschreiben durfte. In der That, kein geringer Trost fr die großmthig zugelassenen Hçrer, welche ein Gçttergesprch belauschen drfen. Wenn sie nur nicht so undankbar sein werden; wie der alte Lukian! Es wimmelt in dieser Schrift ordentlich von Entdeckungen. Der wunderbare Professor hat die Ursprnge der griechischen Tragçdie, die noch verborgener und unzugnglicher sind als die des Nils, glcklich aufgefunden, er, der
424 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung erste classische Philologe, der nicht, wie etwa Welcker oder Otfried Mller, mit einem Scheuleder den Forscherpfad angetreten hat. Sodann hat er, gleichfalls der Erste, die Bedeutung des Chors richtig verstanden, und ferner, gleichsam nur im Vorbeigehen, das Wesen der Lyrik, wiederum der Erste, in seiner Tiefe erfaßt und dieses Phnomen nunmehr als vollberechtigt in die Metaphysik eingefgt. Das Letztere hat er freilich „in Schopenhauers Geiste und zu seiner Ehre gethan“. (S. 23.) Endlich hat er den Entwicklungsgang des dionysischen Princips in allen seinen Stadien bis zu der letzten und wichtigsten Phase verfolgt, als welche nichts Anderes ist, denn die mythisch-metaphysisch-dionysische „Tragçdienmusik“ Richard Wagner’s. Was will man mehr? Rom ward nicht an Einem Tage erbaut. Dieses Sprichwort ist, wie vieles Andere, durch Nietzsche’s Behendigkeit und Genialitt hinfllig geworden. Weil originelle und unerbittliche Denker zur Aufhellung rthselhafter Phnomene sich bei der Traumwelt Raths erholt haben, und weil Schopenhauer mit seiner Fackel auch in das dunkle Gebiet psychischer Krankheitserscheinungen hineingegangen ist, um dort zur Erkenntniß des Lebensprocesses wenigstens Anhaltspunkte zu finden, so siedelt sich Professor Nietzsche gleich in jenen Regionen an und lßt aus seiner Magierhuslichkeit heraus exotische Traumbchelworte erschallen. Er discreditirt so, wenigstens in jenen Kreisen, welche fr jede Thorheit und Klglichkeit des impotenten Nachahmers das Muster verantwortlich machen, den klaren Schopenhauer, wie die rhetorischen Pfuscher Schiller’s Andenken und wie die confusen Pietisten Angelus Silesius befleckt haben. An die Erscheinungen des Traumes und des Rausches knpft unser classischer Philologe an, um die Grundelemente aller knstlerischen Thtigkeit in der Wirklichkeit aufzuzeigen, Apollo und Dionysus sind ihm die Reprsentanten zweier in ihrem tiefsten Sein und ihren hçchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten, deren reale Fundamente der Traum und der Rausch vorstellen. Apollo sei der verklrende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlçsung im Scheine wahrhaft erlangt werden kçnne, whrend unter dem mystischen Jubelrufe des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt werde und der Weg zu den Mttern des Seins, zu dem innersten Kerne der Dinge offen liege. Dieser ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als der apollinischen, und der Musik als der dionysischen klaffend aufthue, sei nur Schopenhauer offenbar geworden, trotzdem dieser die Anleitung der hellenischen Gçttersymbolik, die erst der große Nietzsche zu geben berufen war, entbehrt habe. (S.86.) Nachdem Nietzsche Schopenhauer’s tiefsinniges Capitel ber die Metaphysik der Musik von Richard Wagner hat stempeln lassen, „zur Bekrftigung, der ewigen Wahrheit“, trgt er die Grundstze der „Welt als Wille und Verstellung“ in die hellenische Mythologie hinein und holt sie als erstaunliche Ergebnisse derselben wieder heraus.
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Dionysisches Princip und apollinisches Princip durchklingen die ganze Schrift als der zur Spekulation erhobene Refrain: Eduard und Kunigunde. Wir hçren von „apollinischen Traumknstlern“ und „dionysischen Rauschknstlern“, von „dionysischen Zuschauern“ und „dionysischen Verzauberten“, und wir vernehmen, daß der Chor der griechischen Tragçdie das „Symbol der gesammten dionysisch erregten Masse“ vorgestellt habe. Auf die natrlich groben, in der Architektonik und Technik der alten Bhne begrndeten Voraussetzungen und Bedingungen des Chors, wie des dramatischen Baues, nimmt der verzckte Philologe keine Rcksicht; und gleichfalls nicht auf die an jeder Kunstentfaltung, und zwar bei jedem Volke wahrnehmbare Ablçsung, Verschmelzung und Verwandlung ursprnglicher Elemente. Je jnger ein Volk ist, desto enger ist sein Spieltrieb an seine religiçsen Bedrfnisse gekettet; je jnger eine Kunst ist, umso strker schlagen die Mythen und Volksgebruche vor. Fr den Professor Nietzsche ist die Verselbststndigung der griechischen Tragçdie ein Abfall von sich selbst, er betrachtet ihr Herauswachsen aus dem qualmenden Mythenschooße, ihre Befreiung aus der sie umwuchernden dionysischen Musik als die Merkmale ihrer zunehmenden Verderbniß und ihres allmligen Absterbens. Dieses beweisen vornehmlich die Stellen ber Sophokles: „Jene Verrckung der Chorposition, welche Sophokles jedenfalls durch seine Praxis und, der Ueberlieferung nach, sogar durch eine Schrift empfohlen hat, ist der erste Schritt zur Vernichtung des Chors, deren Phasen in Euripides, Agathon und der neueren Comçdie mit erschreckender Schnelligkeit auf einander folgen. Die optimistische Dialektik treibt mit der Geißel ihrer Syllogismen die Musik aus der Tragçdie, d. h. sie zerstçrt das Wesen der Tragçdie, welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustnde, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die Traumwelt eines sichtbaren Rausches interpretiren lßt.“ (S. 77.) Und Seite 97 heißt es also: „Nach einer anderen Seite sehen wir die Kunst dieses undionysischen, gegen den Mythus gerichteten Geistes in Thtigkeit, wenn wir unsere Blicke auf das Ueberhandnehmen der Charakterdarstellung und des psychologischen Raffinements in der Tragçdie von Sophokles ab richten … whrend noch Sophokles ganze Charaktere malt und zu ihrer raffinirten Entfaltung den Mythus in’s Joch spannt, malt Euripides bereits nur noch große einzelne Charakterzge, die sich in heftigen Leidenschaften zu ußern wissen…“ Da Sophokles bereits das Wesen der Tragçdie zerstçrt hat, da bei ihm bereits psychologisches Raffinement berwiegt, so versteht es sich von selbst, daß Shakespeare wie ein Verwster in der Tragçdie haust, und daß die Tragçdie bei Schiller nicht einmal mehr in den letzten Zgen, sondern schon aufgebahrt liegt: Folgerungen, welche der klassische Philologe, hier ausnahmsweise discret seinen Lesern selbst zu ziehen berlassen hat. Wer aber hat die dionysische Tragçdie zu Grunde gerichtet? Antwort: Sokrates, der Bildungsdmon, von dem sich berhaupt das Unheil des allein selig machenden Wissens herschreibt. Unsere ganze Gesittung wird vom „sokrati-
426 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung schen Princip“ beherrscht, welches zwar die brennenden Scheiterhaufen auslçschen, den Hexenhammer zerbrechen, das metallene Himmelsgewçlbe eindrcken, leider aber auch die dionysischen Chçre und die mythische Tragçdie begraben half. Daß auf der Hçhe des Wissens angelangt, die Welt Kant ausgespielt hat, der die Grenzen des Wissens nachgewiesen hat, war, wie wir mit Nietzsche gerne einrumen, ein unermeßlicher Segen. Vermuthlich aber damit das Grnzenlose in der Kunst wieder beglaubigt werde, ist Richard Wagner erschienen, der Erfinder der unendlichen Melodie. In ihm lebt auch das dionysische Princip wieder auf, nach einer beinahe zweitausendjhrigen Pause, welche Pause der erleuchtete Professor zu Basel mit Stillschweigen bergeht. Nirgends auch nur die leiseste Andeutung darber: was die Tragçdie unterdessen, und wre es auch nur zu tndelnder Kurzweil, unternommen, wie sie sich seit den Tagen der Euripides bis zu dem Augenblicke, da Wagner auftauchte, in Spanien und England, in Italien und Deutschland mit ihren brig gebliebenen dionysischen Fetzen die Zeit vertrieben hat. Angekndigt worden ist das dionysische Princip allerdings hin und wieder im Verlaufe der nachgriechischen Geschichte. Erstlich, wie Professor Nietzsche erzhlt, im deutschen Mittelalter, als sich unter der dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren der Sanct-Johann- und Sanct-Veit-Tnzer singend und tanzend von Ort zu Ort gewlzt haben. Es sei nicht rathsam, bemerkt er warnend, sich von solchen Erscheinungen wie von „Volkskrankheiten“ spçttisch oder bedauernd im Gefhl der eigenen Gesundheit abzuwenden; man gebe damit eben zu verstehen, daß man „gesund“ sei, und daß die an einem Waldesrande sitzenden Musen, mit Dionysus in ihrer Mitte, erschreckt in das Gebsch, ja in die Wellen des Meeres flchten, wenn so ein gesunder „Meister Zettel“ plçtzlich vor ihnen erscheine. (S. 5.) Dieser hmische Seitenblick auf das lehrreiche Buch Hecker’s „Die großen Volkskrankheiten im Mittelalter“, und die Zusammenstellung der Sanct-Veit-Tnzer mit den Musen sind doch gewiß kostbar! Sodann ist auch die Reformation, wie uns alles Ernstes bedeutet wird, aus dem dionysischen Abgrunde heraufgestiegen, „in deren Choral die Znkunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, so berschwnglich gut und zart tçnte dieser Choral Luther’s als der erste dionysische Lockruf, der aus dichtverwachsenem Gebsch, im Nahen des Frhlings hervordringt. Ihm antwortete im wetteifernden Wiederhall jener weihevoll bermthige Festzug dionysischer Schwrmer, denen wir die deutsche Musik danken – und denen wir die Wiedergeburt des deutschen Mythus danken werden…“ Ich bin nicht im Festzuge gewesen! Versichern gutmthig, aber betroffen nach einander Haydn, Mozart und Schubert, wahrend Bach und Beethoven den Verdacht, zu den dionysischen Sanct-Veit-Tnzern gezhlt zu werden, mit stolzer Gleichgiltigkeit auf sich sitzen lassen. Wir wren nun mit Nietzsche am Ziele. Von Bach bis Beethoven, von Beethoven bis Wagner! Lautet jetzt seine Formel, die er mit dem dionysischen
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Princip unter den heftigsten Gesticulationen verflicht. Doch hlt er sich klglich nur an Wagner, indem er sein dionysisches Thema weiterspinnt. Die deutsche Dichtung und die deutsche Instrumentalmusik behelligen sein Nachdenken durchaus nicht, dieses concentrirt sich ausschließlich auf den Dichtercomponisten, dessen poetische Texte ihm nicht minder großartig vorkommen, als dessen musikalische Klnge und Dissonanzen. Nachstehende Verse nennt er Isoldens „metaphysischen Schwanengesang“: In dem wogenden Schwall, in dem tçnenden Schall, In des Weltathems wehendem All – Ertrinken, versinken – Unbewußt, – hçchste Lust!
D. Spitzer hat es den Schwanengesang des gesunden Menschenverstandes genannt, wenn Eva in den „Meistersngern“ in die leidenschaftlichen Worte ausbricht: „Ja ihr seid es, nein Du bist es. Alles sag’ ich, denn ihr wißt es, Alles klag’ ich, denn ich weiß es.“ So htten wir denn zwei Schwanengesnge, an denen aber zu bedauern ist, daß die Metaphysik und der gesunde Menschenverstand einander bei Wagner auf das Feindseligste ausweichen. Professor Nietzsche berbietet das metaphysische Schwanenlied der brnstigen Isolde durch seine eigene dionysische Extase. Wer kçnne sich einen Menschen denken, ruft er S. 121, der den dritten Act von „Tristan und Isolde“ ohne alle Beihilfe von Wort und Bild rein als ungeheuern symphonischen Satz zu percipiren im Stande wre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflgel zu verathmen? Ein Mensch, der wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt habe, der das rasende Begehren zum Dasein von hier aus in alle Adern der Welt sich ergießen fhle, er sollte nicht jhlings zerbrechen? Wenn dies Alles aber dennoch mçglich sei, ohne Verneinung der IndividualExistenz, wenn eine solche Schçpfung geschaffen werden konnte, ohne ihre Schçpfer zu zerschmettern … u.s.w., u.s.w. Wir befinden uns mitten im Tollhaus, unter Schneidergesellen, welche Ppste, Kaiser und Kçnige, unter Kammmachern und Licentiaten, welche Gott Vater, Gott Sohn und die Apostel sind. Kantische und Schopenhauer’sche Philosophie, dionysische Weisheit, griechische Tragçdie, „Lohengrin“, „Tristan und Isolde“ – man sehnt sich nach einem gesunden Hausknecht nach solchem Sublimat von Speculation, Geschlechtstrieb und knstlerischer Unzucht. „Ja, meine Freunde,“ lesen wir S. 117, „glaubt mit mir an das dionysische Leben und die Wiedergeburt der Tragçdie, Die Zeit des soldatischen Menschen ist vorber: krnzt euch, mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euern Knieen niederlegen. Jetzt sollt ihr tragische Menschen werden. Ihr sollt’ den dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten! Rstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder eueres Gottes.“ Schreiten wir doch –
428 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Professor Nietzsche hat verbrgte Kunde – aus dem alexandrinischen Zeitalter rckwrts zur Periode der Tragçdie. (S. 113.) „Und wenn der Deutsche zagend sich nach einem Fhrer umblicken sollte, der ihn wieder in die lngst verlorene Heimat zurckbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt – so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der ber ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.“ (S. 136.) Altmayer. Wo bin ich? Welches schçne Land? Frosch. Weinberge! Seh’ ich recht? Siebel. Und Trauben gleich zur Hand! Brander. Hier unter diesem grnen Laube, Seht, welch’ ein Stock! Seht, welche Trauben! (Er faßt Siebeln bei der Nase, die andern thun es wechselseitig und heben die Messer.)
II. Jedermann, der mit den Werken Schopenhauer’s vertraut ist, wird die unerlaubte, ja freche Willkr erkannt haben, womit Nietzsche sich erkhnt, diesen Denker zum Pathen des Wechselbalges der „wiedererwachten Tragçdienmusik“ heranzurufen. Was Schopenhauer ber das Metaphysische der Musik ausgesprochen hat, das erlutert er vorzugsweise an der reinen Instrumentalmusik, whrend ihm die „Große Oper“ das Erzeugniß des etwas barbarischen Begriffes von Erhçhung des sthetischen Genusses mittelst Anhufung der Mittel, Gleichzeitigkeit ganz verschiedenartiger Eindrcke und Verstrkung der Wirkung durch Vermehrung der wirkenden Masse und Krfte ist. Er findet in den schaalen, nichtssagenden, melodielosen Compositionen des heutigen Tages denselben Zeitgeschmack wieder, welcher die undeutliche, schwankende, nebelhafte, rthselhafte, ja sinnleere Schreibart sich gefallen lßt, deren Ursprung hauptschlich in der miserabeln Hegelei und ihrem Scharlatanismus zu suchen sei. (Parerga, 2. Aufl. II. 464.) Der rein musikalische Geist verlange es nicht, daß man der reinen Sprache der Tçne Worte, sogar auch eine anschaulich vorgefhrte Handlung zugeselle und unterlege. (ibid. 465.) So gewiß die Musik, weit entfernt eine bloße Nachhilfe der Poesie zu sein, eine selbststndige Kunst, ja die mchtigste unter allen sei, und daher ihre Zwecke ganz aus eigenen Mitteln erreiche, so gewiß bedrfe sie nicht der Worte des Gesanges oder der Handlung einer Oper. (Die Welt a. W. u. V., 3. Aufl. II. 510.) Wenn die Musik zu sehr sich den Worten anzuschließen und nach den Begebenheiten zu modeln suche, so sei sie bemht, eine Sprache zu reden, welche nicht die ihrige sei. Von diesem Fehler habe keiner sich so rein gehalten, wie Rossini: daher spreche seine Musik so deutlich und so rein ihre eigene Sprache. (Die Welt. I. 309.) Bei dem Namen Rossini an dieser Stelle mußten Nietzsche und sein Herr fglich die saure Miene des Volksteufels ziehen, wenn dieser aus unschuldigem Mdchenmunde das Wort Gott vernimmt. – Wie Schopenhauer ber die penible
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Auslegung griechischer Mythen gedacht hat, das ist im XVIII. Capitel des zweiten Bandes der Parerga nachzulesen. Der Schopenhauer des Professors Nietzsche verhlt sich zu dem Schopenhauer, der sich in dessen Schriften darstellt, wie der von den Scholastikern und dem sagenbildenden Mittelalter zubereitete Zauberer Virgil zu dem rçmischen Dichter. Und ebenso schneidend ist der Contrast, den der Begriff des Genius, wie wir ihn aus der Erkenntniß der großen Knstler gewonnen haben, zu der Verzerrung bildet, in der ihn der Professor der classischen Philologie zu Basel festhlt. Das Genie, welches wir bewundern und lieben, athmet in der productiven Stille alles Zeugenden und Gebrenden, ist aus Zuversicht und Zweifel, Stolz und Demuth gemischt, ringt und kmpft zwar, aber wie die strkere Baumgattung in einem Walde gegen die schwchere kmpft, erwartet den Lohn, geht aber nicht auf die Erwerbung desselben aus und wirft seine Schçpfungen „schweigend in die unendliche Zeit“. Das Genie, welchem der Professor Nietzsche huldigt, kann nicht laut genug sein, begleitet alle seine inneren Erregungen mit den entsprechenden Gesten, sucht die Wirkungsfhigkeit seiner Gebilde durch den sich Raum schaffenden Ellbogen zu erhçhen, hat den mrrischen Ausdruck des gefhlten Mangels bei der Sucht, ihn zu verdecken, erschreckt durch die Fieberrosen eines erhitzten Ehrgeizes und theilt uns die unertrgliche Beklemmung mit, die es selber unter dem Drucke seiner Begabung empfindet. Natrlich will Professor Nietzsche dies nicht Wort haben. Aller Naivett baar, wie sein „erhabener Vorkmpfer“, erklrt er die krampfhafte Gier nach dem ungebrochenen Naturzustande der Kunst als die frohe Botschaft ihrer Verjngung und deutet er das Verlangen des Wstlings nach einfachen Genssen als die beginnende Rckkehr zum Kindesalter der Empfindung aus. „Das ist der Nachlaß der Natur, so wenig Kraft und so viel Schnur!“ lautet ein schwbisches Studentenwort. Jedenfalls hat Niemand von dem Propheten und der Prophezeiung in Basel Notiz genommen; Niemand des classischen Philologen Gedankensammlung, welche mit dem Kriege zusammenfiel, in ihrer intimen Verbindung mit den nationalen Problemen des deutschen Volkes gewrdigt. Da vernderte denn der Enttuschte seine bisherige Haltung. Hatte er in seiner ersten Schrift den Thyrsus geschwungen, so griff er jetzt nach der Geißel; war die dionysische Verzckung das Schauspiel in einem Haustheater gewesen, in dem Haustheater der Richard Wagner-Gemeinde, so meinte er nun mit den Wuthgeberden gegen einen ausgezeichneten Schriftsteller, mit den auf David Strauß gefhrten Hieben eine çffentliche Vorstellung zu veranstalten bei ausverkauftem Hause. Darum schrieb er sein Pamphlet: „Unzeitgemße Betrachtungen. Erstes Stck: David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller“ Leipzig E. W. Fritzsch. Den nmlichen Deutschen, denen er noch im vorigen Jahre die anstrengende Reise en masque nach Griechenland und Indien unter obligater Begleitung mehrerer gezhmter Raubthiere zugemuthet hatte, spricht er unversehens
430 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung alle Kultur ab, weist er mit Einem Male das Katzentischchen einer lackirten Barbarei an. Bei den Deutschen, versichert er jetzt, herrschten Bildungsphilister, und sie wren nach dem Kriege noch selbstzufriedener, als vormals. Einer der klglichsten Bildungsphilister aber sei David Strauß, das unzweideutige Zeugniß seiner geistigen Armuth sei sein Buch: „Der alte und der neue Glaube“, und ein nichtswrdiger Stylist sei Strauß obendrein. Dieses wre summarisch genommen der Inhalt der Broschre. Die Einleitung macht sich mit den Fragen zu schaffen, ob in dem deutschfranzçsischen Kriege die Kultur gesiegt habe oder nur eine von ihr unabhngige straffe Disciplin, ob wir auf dem Wege zur Kultur seien oder auf dem Abwege von ihr, und entscheidet beide Fragen schließlich derart, daß wir schon froh sein drfen, nicht Menschenfresser zu heißen. Die Beweisfhrung ist anfnglich eine Glosse zu einem Worte Goethe’s, whrend die wesentlichen AperÅus der folgenden Entwicklung ohne Angabe der Quelle, dem Schweizer Rochholz entlehnt sind, der vor einigen Jahren einen beachtenswerthen Aufsatz ber die Unterschiede zwischen Kultur und Bildung in einem geistvollen Buche zum Schulgebrauche verçffentlicht hat. Auf die Entdeckung, daß die deutsche Selbstzufriedenheit und Schwche, die geistige Ohnmacht und Lge der Deutschen in dem Begriffe des Bildungsphilisters enthalten seien, thut sich Nietzsche offenbar etwas zugute. Wir haben diese Bezeichnung lngst von Anderen gehçrt und es wre dem Professor nicht anzurathen, ein Patent darauf zu nehmen. Den Bildungsphilister aber illustrire der Begriff Epigonenthum, der dem classischen Philologen nicht in demselben Maße vortrefflich erscheint. „Unsere Behaglichen,“ sagt er, „um einfr allemal ein Abkommen mit den bedenklichen Classikern und den von ihnen ausgehenden Aufforderungen zum Weitersuchen zu finden, htten den Begriff des Epigonenzeitalters nur aus dem Grunde erdacht, um Ruhe zu haben und bei allem unbequemen Neueren sofort mit dem ablehnenden Verdict „Epigonenwert“ bereit sein zu kçnnen.“ Wir brigen uncultivirten Deutschen haben bisher geglaubt, daß der Begriff Epigonenthum auf der Einsicht in die Unvollkommenheit und Unvollstndigkeit unserer productiven Krfte beruhe, soferne wir nmlich diese Krfte mit denen unserer Klassiker vergleichen; wir haben uns bisher eingebildet, daß in diesem Worte ein Ausdruck unserer Ehrfurcht gegen die Genien unserer Literatur und etwas wie Wehmuth liege. Erst Professor Nietzsche, der deutsche Muster-Kulturmensch, schlgt die Falte in diesem Worte auseinander und zeigt uns zu unserem Erstaunen, daß sich in ihr die Aufforderung zu behaglicher Ruhe verbirgt, die Bestrkung unserer Abneigung gegen das Weitersuchen, die Bereitschaft alles unbequeme Neuere abzulehnen. Das Seltsame dabei ist freilich dieses, daß der mhevoll Suchenden in der nachclassischen Literatur mehr sind als ehemals, und daß gerade die Suchenden das Drckende des Epigonenthums am schmerzlichsten, am tiefsten fhlen, indessen Diejenigen, welche von dem unerschtterlichen Selbstbewußtsein der
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Findenden getragen werden, die Heroen unserer Poesie eigentlich als die rhrigen Quartiermacher betrachten, die fr die vornehmen Enkelkinder alles Nçthige vorbereitet haben. Wahrlich, so gut wie in der Gegenwart, sollte man meinen, hat es das Neuere noch nie gehabt; so bequem ist es dem angeblich Unbequemen noch zu keiner Zeit geworden. Rechts und links wird offen erklrt, man mçge die schçpferischen Nachkommen mit den entmutigenden Traditionen: daß wir die Bltezeit hinter uns, daß Goethe und Schiller das Beste schon geleistet hatten, endlich einmal verschonen! In der Malerei hat die Auflehnung gegen die Bewunderung der Altvordern bereits den Charakter der Revolte angenommen, und in der Musik nun gar hat sich die Empçrung schon fester Pltze bemchtigt und breitet sie sich, mit dem Attribute des rasend gewordenen Plebejerthums ausgestattet, sengend und plndernd ber ein stattliches Gebiet des geweihten Herkommens aus. Das Letztere muß unser dionysischer Herold der Zukunftsmusik zweifellos besser als irgend ein Anderer wissen. Wo gbe es etwas unbequemer Neueres, Mozart und Beethoven entgegengehalten, als den „Lohengrin“, „Tristan und Isolde“ und „Die Walkre“? Wo eine grçßere Bereitschaft, dieses Neuere sich anzueignen, als bei den zahlreichen Anhngern Wagner’s, welche Architekten und Zimmerleute, Maschinisten und Decorationsmaler beschftigen, welche Gulden und Thaler, Antheilscheine und was sonst noch Alles rollen und fliegen lassen, nur um eine wrdige Scenirung der Nibelungen-Tetralogie zu Stande zu bringen?! Wenn jemals das Epigonenthum etwas Einschchterndes, Ruhebedrftiges vom „Weitersuchen“ Abwinkendes gehabt hat, so ist ihm dergleichen heutzutage, wenigstens in den Reihen der Wagner-Enthusiasten, gewiß nicht vorzuwerfen. Professor Nietzsche jedoch wollte nur seinen Begriff vom Bildungsphilister hinterlistig unter Dach und Fach bringen, und da er zu seiner Voraussetzung guten Grund hat, daß die Leser seines Pamphlets von seiner ersten Schrift nichts wissen, so luft er nicht Gefahr, mit der Interpellation belstigt zu werden: wie er sich denn die gleichzeitige Philisterherrschaft in Deutschland und den Anbruch der dionysischen Kultur daselbst denken kann! Am Schlusse seiner Einleitung fngt er noch behende einen Ausspruch Friedrich Theodor Vischer’s ber Hçlderlin auf, unterschiebt ihm eine falsche Bedeutung, um dann gegen David Friedrich Strauß und dessen Buch „Der alte und der neue Glaube“ einen Feldzug mit der Kothspritze zu erçffnen. Wie er mit Schopenhauer zur vermeinten Ehre dieses Denkers umgesprungen ist, im Interesse seiner eigenen Selbstsucht und der Richard Wagner’s, so verfhrt er jetzt mit David Strauß, in der trgerischen Absicht, ihn dem allgemeinen Gespçtte berliefern zu kçnnen. Den Aesthetikern, welche nach dem „mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musikgenius schlagen und haschen“, hatte der große Nietzsche nachgesagt, daß sie dieses unter Bewegungen thten, „die nach der ewigen Schçnheit ebenso wenig, als nach dem
432 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Erhabenen beurtheilt werden wollen“: ein dionysischer Euphemismus fr die Bezeichnung, daß diese Aesthetiker sich gemein ausdrcken und benehmen. Nachahmer von Haus aus, copierte nun der Professor in dem Pamphlet gegen Strauß diese weder schçnen noch erhabenen Bewegungen, und wie es bei Copien mitunter zu geschehen pflegt: das Nachbild berbot Alles, was jemals in der deutschen Literatur an Verbal-Injurie, an Rohheit und Pçbelhaftigkeit dem Papier anvertraut worden ist. Whrend Ernst Haeckel die Gelegenheit bentzte, die seiner Theorie dienlichen Stellen des Strauß’schen Buches in der jngsten Auflage seiner „Natrlichen Schçpfungsgeschichte“ am schicklichen Orte einzuflechten, zog Professor Nietzsche es vor, den armseligen Tagschreibern sich anzuschließen, die er doch so tief verachtet, den Recensenten, welche den „Alten und den neuen Glauben“ mit der geringschtzigen Phrase abgefertigt haben, daß das Buch sich bequem nach Tische, zu Kaffee und Cigarren, lesen lasse, jenen Journalisten, welche glauben, wie David Strauß in seinem abwehrenden „Nachworte“ sich ußert, mit ihm, wie mit einem Anfnger, ja wie mit einem verkommenen Subject sprechen zu drfen. Aber sogar unter diesen Leuten ist Professor Nietzsche der Unerreichbare. Die Genossenschaft der bçsartigen und gewinnschtigen Enthusiasten, denen unser classischer Philologe angehçrt, erinnert an die wahrsagenden, Musik treibenden und langfingerigen Zigeuner: indessen der Eine heiße Pußtenweisen fiedelt, stiehlt der Andere. III. „Der alte und der neue Glaube“ ist keines der besten Bcher des berhmten Verfassers. Strauß hat sich nicht damit begngt, die Zerstçrung, welche unsere religiçsen Vorstellungen im Verlaufe der letzten Jahrhunderte durch die philosophischen, wie naturwissenschaftlichen Erkenntisse erfahren haben, im Zusammenhange zu schildern: er hat uns zugleich den Ersatz fr solche Zerstçrung anschaulich machen wollen, indem er die Einsicht in den Gang des von blinden Krften zweckmßig geleiteten Universums sozusagen zum Dogma erhob. An dieser Einsicht sollen wir uns seelisch strken, geistig aufrichten, und was diese nicht gnzlich zu leisten vermag, das sollen wir von unseren großen Dichtern und Musikern erwarten. Nun ist aber unsere Einsicht in die nach blinden mechanischen Gesetzen wirkende Welt nichts weniger als eine Stillung unseres metaphysischen Bedrfnisses, welches eben nach der Grundursache dieses Mechanismus fragt, und unsere knstlerische Entzckung in letzter Hinsicht nichts Anderes, als die momentane Glcksstimmung des Wanderers auf dem schçnen Flchtlingspfade aus der wirklichen Welt. Wenn diese die Schleier abgestreift htte, welche das Gewebe unserer eigenen Vorstellung sind, so kçnnte es eine Kunst berhaupt nicht geben; man mßte denn den Kunsttrieb des Menschengeschlechts und den Nachahmungstrieb, der allerdings eines der
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ursprnglichen Elemente des Erstgenannten ist, fr Ein- und Dasselbe halten. Die wissenschaftliche Einsicht, der Strauß unter Anderem auch eine Art religiçser Befriedigung zuschreibt, bezieht sich doch unstreitbar auf die Welt, wie sie uns erscheint, nicht auf die Welt, als was sie ist, da dieses Sein etwas Unergrndliches hat: wir kmen also, indem wir uns, nicht vollkommen gesttigt, von der wissenschaftlichen Einsicht hinweg an die Kunst wenden, gleichsam als Hungrige an einem Orte an, wo weder Trank noch Speise verabreicht wird. Das Wissen ist die Beglaubigung und Rechtfertigung der sogenannten wirklichen Welt; die Kunst ist die Anschauung ihres sinnbildlichen Wesens, das sich sofort trbt und verdunkelt, wenn ihr der Knstler irgend ein Geschft, das dem erkennenden Verstande zufllt, aufzubrden sucht. Sogar dann, wenn Strauß in seinem „Alten und neuen Glauben“ auf dem Boden der Kritik der reinen Vernunft stnde, welche den Schein der wirklichen Welt bis zur Evidenz nachgewiesen hat, dann noch wrde er unvermçgend sein, einen Ersatz fr den hinfllig gewordenen „alten Glauben“ nach dem heutigen Stande der Dinge zu erlangen. Wie aber wre ein solcher Ersatz bei seiner materialistischen Auffassung der Welt mçglich, der zufolge das religiçse Bedrfniß ein bloßer Irrthum sein muß, ein noch nicht geheilter Rest von geistiger Blendung, den die deistische Krankheit zurckgelassen hat. Ich fr meine Person komme ber den Eindruck des etymologischen Tauschhandels, der in dem Worte „Neuer Glaube“ liegt, nicht hinaus. Das Wissen, auch wenn es sich in klare Einsicht umsetzt, kann nie und nimmer Glaube werden. Ein neuerer Dichter, Friedrich Hebbel, sprach in den Tagen schwerer innerer Kmpfe ber den fraglichen Punkt Nachstehendes aus: „..die Wissenschaft steht jetzt vor einer ungeheueren Aufgabe; die Hçlle ist lngst ausgeblasen und ihre letzten Flammen haben den Himmel ergriffen und verzehrt; die Idee der Gottheit reicht nicht mehr aus, denn der Mensch hat in Demuth erkannt oder geahnt, daß Gott ohne Schmerz, d. h. ohne eine Menschheit, die er wiegen, sugen und selig machen muß, Gott nicht sein kann. Die Natur steht zum Menschen, wie das Thema zur Variation, das Leben ist ein Krampf, ein Rausch oder eine Opiumsohnmacht. Woher soll die Weltgeschichte eine Idee nehmen, die die Idee der Gottheit berragt oder nur ersetzt? Ich frchte, zum erstenmale ist sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Sie hat sich ein Brennglas geschliffen, um die Idee einer freien Menschheit, die, wie in Frankreich der Kçnig, auf Erden nicht sterben kann, darin aufzufangen; sie sammelt, die Weltgeschichte sammelt, sie sammelt Strahlen fr eine neue Sonne; ach, eine Sonne wird nicht zusammengebettelt!“ Friedrich Theodor Vischer hat in dem sechsten Hefte der Neuen Folge seiner kritischen Gnge auf die Lcken und Widersprche in der Strauß’schen Schrift hingedeutet, und seine Bemerkungen scheinen mir das Treffendste zu sein, was von philosophischer Seite her ber das Buch gesagt worden ist. Erstlich betont Vischer, daß es unklar bleibe, wie sich Strauss zu der innern Zweckm-
434 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung ßigkeit im Universum verhalte, da er den Zweckbegriff abweise, und doch widerspreche, als erkennte er ihn an; und da der Begriff der Entwicklung sich von diesem nicht trennen lasse, so sehe man auch nicht ab, mit welchem Rechte der zweitgenannte auf das Weltall angewendet werde. Auch die weiteren daran sich schließenden Einwrfe Vischer’s gegen die auf alles Werden von Arten im Pflanzen- und Thierreiche ausgedehnte Ansicht Darwin’s, wonach der Begriff der Entwicklung und innern Zweckmßigkeit aufgehoben werde, sind von Wichtigkeit. Durch Anpassung, Zuchtwahl und Kampf um’s Dasein, sagt er, entstehe Zweckmßiges nur hintenach, die Vorstellung sei im Grunde mechanisch, es werden nach ihr nur durch eine Art Reibung Formen hervorgebracht, die sich, nachdem sie da seien, als zweckmßig erwiesen. Von Entwicklung kçnne man nur dann sprechen, wenn man die Natur als unbewußte Knstlerin betrachte, welcher ein Bild, das entstehen solle, irgendwie vorschwebe, ehe es entstehe. Solle mit jener Ansicht der Begriff der Entwicklung, der immanenten Zweckmßigkeit vereinbar sein, so mßte dies durch eine ganz neue Untersuchung des Begriffs der Zeit bewiesen, d. h. es auf die zeitlose Zeit recurrirt und daraus abgeleitet werden, daß Vorher und Nachher in dieser Frage ungiltige Kategorien seien, daß also, wenn Zweckmßiges nur aposteriorisch, ohne einen Geist in der Natur entstehe, der durch eine Intuition von vornherein darauf hinarbeite, dieses doch auch ebensogut apriorisch heißen kçnne; eine Untersuchung von hçchster Schwierigkeit, von der Vischer bezweifelt, ob sie das zu Beweisende beweisen wrde. Hieraus berhrt Vischer den Begriff des Zufalls, namentlich in der moralischen Welt, und fragt, wie sich die innere Zweckmßigkeit trotz den unendlichen Durchkreuzungen menschlichen Thuns durch das, was wir Zufall nennen oder vielmehr aus diesen Durchkreuzungen selbst im Großen und Ganzen so herstelle, daß von einer moralischen Weltordnung die Rede sein kçnne? Wiewohl die Menschen, die Einzelnen, die Verbundenen, ihren Zwecken folgen, komme immer etwas ganz Anderes heraus, als sie dachten und wollten. Dieses Alles aber fhre zur Frage: Materialismus und Idealismus, welche Strauss grndlicher htte behandeln mssen. Der Materialismus sei eigentlich nicht monistisch, er habe nicht Ein Princip, sondern 1 12, nmlich die Materie und ußerlich ihr angehngt die Form. Schon dadurch sei er viel schwcher, unphilosophischer als der Idealismus, der wirklich nur Ein Princip habe, den Geist als das Eine, das sich den Gegensatz der Materie schaffe, um aufzusteigen. (Das ist die Anschauung Hegel’s, die Schopenhauer wohl auf immer beseitigt hat.) Nun tippt Vischer an das Rthsel und an die empfindlichste Stelle des Strauß’schen Buches zugleich, das von dem Rthsel nichts weiß: „Das Wunderbare, nie genug Anzustaunende ist dies: die Natur, nachdem sie es zum Menschen, also zum Bewußtsein gebracht hat, denkt und denkt in ihm und reibt sich mit Seufzen die Stirn und kann mit der ußersten Mhe sich kaum, niemals ganz entsinnen, ergrnden, wer sie denn eigentlich ist, und wie es doch nur zugegangen ist, daß all’ die Dinge wurden! Ist so gescheut geworden
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und auch wieder viel, viel dummer, als sie war, da sie noch unbewusst war. Und nun tritt sie den unbegreiflichen Gang gar noch einmal an: der Mensch macht, thut wieder eine Welt von Dingen, wobei er es anfngt, wie die Natur vor ihm, – er baut z. B. das Wunderwerk der Sprache – und nachher reibt die Natur sich wieder die Stirn und bringt im Bewußtsein mit unendlicher Mhe und Arbeit kaum, niemals ganz mehr heraus, wie sie es unbewußt angefangen, gemacht hat! Nun aber eben da muß das Weltrthsel liegen, so viel lßt sich erkennen, obwohl wir das Geheimiß nie bis auf den Grund erforschen werden; ein ewig Eines, das lauter Bewegung ist, und diese Bewegung immer neues Setzen, immer neuer Formen eines Dunkeln, Unbewußten, um aus diesem Dunkeln, Unbewußten ewig auf ’s Neue als Geist hervorzugehen. Eine runde beinerne Hçhle enthlt eine breiige Masse von Zellen und Fasern; diese Masse ist nicht Organ des Denkens, sie denkt, diese greifbare „Substanz“ denkt in ihrer kleinen Hçhle Weltgedanken, denkt das Unendliche! Sie erzeugt sinnliche Bilder, die den animalischen Trieb zur Leidenschaft entflammen, und sie, eben sie denkt Gedanken der Selbstbezwingung und faßt Entschlsse, womit sie ihre eigenen sinnlichen Schwingungen siegreich niederkmpft. Wer den Widerspruch nicht fassen kann, der meint nun, es mssen Zwei sein, und vergißt, daß er damit erst einen unmçglichen Widerspruch aufstellt, denn wie sollten Zwei jemals zu solcher Einheit gelangen?..“ Endlich gibt Vischer dem Autor des „Alten und neuen Glaubens“ zu bedenken, ob es mit der „radicalen Schneide“ nicht wohl vereinbar wre, dem Schicksal der Mehrheit, die ewig das nicht entbehren kçnne, was Lessing zeitweilige Sttzen der Religion nennt, ein Capitel der Theilnahme zu widmen. Vischer htte den gehaltvollen Stzen, womit er diesen Fingerzeig begrndet, hinzufgen kçnnen, daß jene Mehrheit in den Werken unserer Musiker und Dichter, welche sie fr den Verlust der religiçsen Magie schadlos halten sollen, ber das Aeußerliche einer sinnlichen und gemthlichen Erregung hinaus nicht bis zum Kern dieser Kunstwerke vorzudringen im Stande sei. Wenn Strauß von der Lesung der Bibel im Volke sagt, daß der gemeine Mann sie nicht richtig zu lesen verstehe, daß er berhaupt wenig in ihr verstehe, so ließe sich dieses Argument auf das Verhltniß der Geringen zu „Faust“ und „Tasso“, zu „Wallenstein“ und dem „Spaziergange“, zu den Symphonien Beethoven’s und zu Mozart’s Requiem mit dem nmlichen, wenn nicht mit noch grçßerem Rechte einwenden. Zu keiner der Einwendungen, zu keinem der Bedenken, welche Vischer gegen das Strauß’sche Buch erhebt, und zwar in einer skizzenhaften Kritik derselben, findet der Philologie-Professor in Basel sich irgendwie aufgefordert, wiewohl er diesem Buche hundert Seiten gewidmet hat. Marginalbemerkungen, im Style Friedrich’s des Großen, aber mehr ungeschlacht als kaustisch, suchen die logische Anordnung des Buches zu verspotten; ironische Wendungen hier eine Behauptung, dort ein Gleichniß bloszustellen; Insulten den Autor ad ab-
436 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung surdum zu fhren, unter bestndigen Seitenblicken auf Schopenhauer, den er sich als den in der finstern Prosceniumsloge zurckgelehnten Serenissimus vorstellt, der dem wohldienerischen Acteur leutselig zuwinkt. Richtiges und Verkehrtes werden, in einander geschoben, zu einem einzigen Entschlusse gestempelt, erlaubte und unerlaubte Satzfgungen, Licenzen, wie Nachlssigkeiten, die sich die Sprache Straußens gestattet, und die sie verschuldet hat, zu einem hochnothpeinlichen Verhçr angewendet und mißbraucht. Dies alles geschieht mit einer ausgesuchten Gehssigkeit, bald bitter satyrisch, bald sßlich hmisch, jetzt mit dem Stirnrunzeln einer widerspnstigen Gelassenheit, dann wieder mit der Wildheit eines erbosten Katers, so daß man die scheußlichsten Larven des Theophrastus wie in einer Jahrmarktsbude ausgestellt zu erblicken whnt. David Strauß muß es sich gefallen lassen, als der dem Bildungspçbel zu Gehçr redende Fasler, als der nach Ruhm lsterne und eitle Schwchling, ja als petit matre verleumdet und gehudelt zu werden, der alle kosmetischen Mittel versucht habe, um seinem falben, abgelebten Styl das durchsichtige Colorit des Voltaire’schen oder die gesunde Farbe des Lessing’schen anzuschminken und anzulgen. Wo die Gehssigkeit hervortritt, da pulsirt niemals die Wahrheitsliebe, welche zwar hassen, aber nicht grinsen kann, und daß die Affen hmisch sind, hat schon Lessing gesagt. Professor Nietzsche ist ein von seinem Eigennutze gedungener Fechter, der das flaue Buch eines verehrungswrdigen und edlen Gelehrten mit gemietheter Entrstung anfllt, um die Augen der Menge auf sich selbst zu lenken. Indem er die Deutschen erbrmlich schilt, daß sie dem Pfuscher Strauß nachlaufen, weiß er ganz genau, daß die Gescholtenen augenblicklich auf den Scheltenden sehen werden; indem er sein Pamphlet eine „unzeitgemße“ Betrachtung nennt, leckt er sich genußgierig die Lippen ab, weil er von dem Reize des Widerspruches die Wirkung des Zeitgemßen erwartet; und indem er zuweilen den Grimm Schopenhauer’s und dessen Lçwenungestm nachahmt, mçchte er sein Talent und seine Person als eine zu frchtende Macht ankndigen und einfhren. Wer die Sprache Schopenhauer’s in ihrer Eigenthmlichkeit empfunden und erkannt hat, der sprt das Grollende, gleichsam fernab Donnernde derselben, auch wann sie, durch nichts Persçnliches aufgeregt, Ideen entwickelt und Gedankenprocesse entwirrt. Der polemische Stachel vermehrt nicht ihre Tonflle, steigert nur das Grelle des Lautes. Ueberdies greift Schopenhauer mit jeder Seite, auf der er den Grundgedanken seiner Lehre entfaltet und beleuchtet, seine natrlichen Gegner schon indirect und widerlegend an, so daß er gar nicht nçthig hatte, sie noch direct beim Namen anzurufen und ihre Ansichten im Einzelnen zu bekmpfen. In Ermangelung eigener Werke von Belang, als welche die dionysischen Bltter denn doch nicht gelten kçnnen, glaubt Professor Nietzsche nach seiner Beschimpfung eines hervorragenden Schriftstellers das ersehnte Lorbeerreis ansprechen zu drfen, und der Originalitat entbehrend,
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welche sich jederzeit der stylvollen Rede ungesucht mittheilt, nestelt er unablssig in Schopenhauer’s Tasche und zhlt solchergestalt zu den „Suchenden“, nur daß er schon zum Voraus weiß, wo Bartel den Most holt. Er schlgt auf den Tisch, wie Schopenhauer, theilt Fußtritte und Ohrfeigen aus, wie Schopenhauer, wobei er nicht im Mindesten zu ahnen scheint, daß man die „Welt als Wille und Vorstellung“ geschrieben haben und vierzig Jahre „als Caspar Hauser“ behandelt worden sein muß, um gelegentlich auch poltern und schimpfen zu drfen, ohne sich deswegen dem Verdachte eines Trunkenbolds oder eines Grobians auszusetzen. – Als der schnçde Haushofmeister im „Lear“, das Beispiel des hochfahrenden Kçnigs und der wçlfischen Tochter sich zu Nutze machend, den in den Block gespannten Kent anherrscht: „Wo kçnnen wir unsere Pferde unterbringen?“ da empfngt er von dem Edelmanne die ruhige Antwort: „In der Pftze!“ IV. Zu den rgsten Verwnschungen wird Professor Nietzsche hingerissen, indem er das Unverhltniß Straußens zum Pessimismus, wie zu der Heilslehre Schopenhauer’s in’s Auge faßt, welche dieser auf die Verneinung des Willens zum Leben, auf die Askese begrndet hat. Wenn Nietzsche nur ein klein Wenig von jener hçchsten menschlichen Eigenschaft htte, welche wir Gerechtigkeit nennen, so wrde er, schon in Rcksicht auf die ußerst geringe Anzahl der Schriftsteller, die ein Verstndniß dessen, was Schopenhauer unter Pessimismus begreift, und die eine Fhlung desselben beurkunden, den Inculpaten glimpflicher beurtheilt haben. Ein Mann, wie Heinrich v. Treitschke, der eine ganze Gattung reprsentirt, kommt in der Wertschtzung des betrachtenden und von irdischen Zwecken abgewendeten Geistes lange nicht so weit wie Strauß; ihm sind Macchiavelli und Cavour ebenso bedeutungsvolle und erhebende Erscheinungen, wie Dante oder Goethe. (Siehe seinen Essay ber Cavour.) Daß Strauß die Schopenhauer’sche Philosophie eine ungesunde und unersprießliche nennt und rasch ber sie hinweggleitet, mochte allenfalls mit einem scharfen Striche angemerkt werden. Immerhin ist es kein Capitalverbrechen, daß er sich nicht zu Schopenhauer bekennt, dem sogar leidenschaftliche Kantianer den Rcken zukehren. Respectlos hat er von Schopenhauer nicht geredet; Jeder werde wohl daran thun, meinte er, welcher in dessen Schriften nicht nur blttere, sondern sie studiere. Er hat sich nicht erlaubt – und er durfte sich etwas erlauben – Schopenhauer wohlgefllig auf die Achsel zu klopfen und zu versichern, daß er die Werke dieses Denkers mit Vergngen gelesen habe, was nmlich tatschlich ein Fachgelehrter, ein junger Germanist gethan und ausgesprochen hat. Professor Nietzsche jedoch citirt Strauß wegen dessen mangelhafter Verehrung Schopenhauer’s vor die heilige Inquisition, kanzelt ihn herunter und tritt sodann
438 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung mit der Bewegung des Juliers bei Seite, um sein Gesicht zu verhllen, oder wie es im Text heißt: um seinen Ekel zu verwinden. Daß es Schopenhauer wieder an Verstndniß des echten Optimismus gebrach, wie dieser in seelenreinen, einfltigen, liebevoll heiteren Naturen erscheint, wird sicherlich kein Unbefangener in Abrede stellen wollen. Jene Glckstimmung ist ihm stets fremd geblieben, die in dem Verse unseres grçßten Dichters athmet: Selig, wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt.
Bei dieser Gelegenheit soll daran erinnert werden, daß die Aeußerung Goethe’s ber Schopenhauer in dem bekannten Briefe an Knebel zçgernd und reservirt genug klingt, um sie, wenn man zu Rippenstçßen aufgelegt ist, als das zaghafte Murmeln eines feigen Lobers bezeichnen zu kçnnen. „Der junge Schopenhauer,“ schrieb Goethe 1813, „hat sich mir als ein merkwrdiger und interessanter junger Mann dargestellt. Er ist mit einem gewissen scharfsinnigen Eigensinn beschftigt, ein Paroli und Sixleva in das Kartenspiel unserer neueren Philosophie zu bringen. Man muß abwarten, ob ihn die Herren vom Metier in ihrer Gilde passiren lassen, ich finde ihn geistreich und das Uebrige lasse ich dahingestellt.“ Wenn ich der Professor Nietzsche wre, so wrde ich mich in Folge dieser Briefstelle also vernehmen lassen: Wie vorsichtig der Herr Geheimerath sich den Rcken zu decken weiß, auf daß er den tonangebenden Hanswursten der Philosophie nicht vorgreife! Und wie pedantenhaft salbungsvoll er vom l’hombre, das ihm hin und wieder eine Zerstreuung gewhrt, seine Gleichnisse hernimmt! Er will abwarten, der diplomatische Mann, ob die Herren vom Metier Schopenhauer in ihrer Gilde passiren lassen, er schilt den Tiefsinnigen geistreich, den erstaunlichen interessant, und lßt alles Uebrige dahingestellt, nur um seiner olympischen Ruhe kein Aergerniß zu geben, Ja, als er fnf Jahre spter die „Welt als Wille und Vorstellung“ vom Verfasser empfngt, da liest er ausnahmsweise, wie Adele Schopenhauer erzhlt, das von seinen damaligen Studien abseits liegende Werk von der ersten bis zur letzten Zeile, wird aber ungeachtet der vielen Berhrungspunkte, die er darin mit seinen eigenen Ansichten und Anschauungen hat wahrnehmen mssen, zu keiner çffentlichen Empfehlung oder auch nur Erwhnung des Buches gedrngt, zu Gunsten eines Hirt und eines Tischbein hat er noch jedes Mal den Anlaß, wenn nicht gefunden, so doch vom Zaun gebrochen, um vor dem Publikum mit Wrme zu sprechen. Goethe ist also gleichfalls ein Mitschuldiger an dem berchtigten Todtschweigen Schopenhauers gewesen, wahrscheinlich Fichten zu Liebe, den er, unglaublich genug, den trefflichen Fichte nennt. – Wie gesagt, so sprche ich, wenn ich ein Weltrichteramt wie Professor Nietzsche zu verwalten htte. Es wre aber hçchst unvorsichtig gewesen den „Philister-
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huptling“ und Goethen in Einen Carcer zu sperren. Und unvorsichtig sind wir Parteignger Richard Wagners niemals wo der Nutzen gefhrdet werden kçnnte. Philisterhuptling! – das htte noch nicht so viel auf sich: David Strauß trgt diesen Titel nur als Bekenner; in seiner Eigenschaft als Schriftsteller kann er noch mit ganz anderen Titulaturen Staat machen, als da sind: Schmierar, liederlicher Geselle, Tintenklexer, Exemplar des Sudlersgesindels u. dgl. m. Der gesunde Hausknecht, den wir Angesichts der dionysischen Opernsymphonie herbeiwnschten, hat sich jetzt unverhofft und am unrechten Orte eingefunden. „Welch’ eine haarstrubende Ignoranz!“ ruft Professor Nietzsche aus, wenn er Straußen einmal auf einen Sprachschnitzer ertappt; „solche Sprachverbesserer sollten doch ohne Unterschied der Person gezchtigt werden!“ pfeift der Affe Schopenhauer’s an einer anderen Stelle; „Lumpenjargon! stylistisches Pachyderma!“ wettert er an einer dritten und vierten. Unter die Versehen, Nachlssigkeiten und den neueren Schriftstellern eigenthmlichen Unarten und Mißbruche, von denen leider das letzte Buch Straußens nicht freizusprechen ist, zhlt Professor Nietzsche auch solche Constructionen, Gebruche und Wçrter, die wir hufig bei Goethen antreffen; und an Gleichnissen, die durch unlogische Verbindung der Mittelglieder auffallen, aber bei jedem Schriftsteller, selbst bei dem rigoristischen Schopenhauer vorkommen, wetzt Professor Nietzsche den Schnabel, sobald er ihnen in dem „Alten und dem neuen Glauben“ begegnet. Er nennt es z. B. „eine studentische Wendung“, wenn Strauß von einem Lehrgedicht redet, „das in die unangenehme Lage versetzt wird, zunchst vielfach mißdeutet, dann angefeindet und bestritten zu werden“. Und die saloppe Wendung war hier eben Absicht. Zu „mißdeutet“ bemerkt Nietzsche in Parenthese: „besser mißgedeutet.“ Diese eingeschaltete Rge htte er aber zuvorderst Schopenhauer ertheilen sollen, welcher in seiner Kritik der Kant’schen Philosophie das nmliche, ußerst bedenkliche Wort gebraucht: „Aber der grçßte Nachtheil, den Kant’s stellenweise dunkler Vortrag gehabt hat, ist, daß er als exemplar vitiis imitabile wirkte, ja zu verderblicher Autorisation mißdeutet wurde.“ Ferner htte er diese Rge noch auf den classischen Autor der „Geburt der Tragçdie“ mnzen sollen, in welcher Schrift S. 87 von einer irrigen Aesthetik an der Hand einer „mißleiteten“ Kunst gesprochen wird. – „Seite 24 reden Sie sogar von Spitzfindigkeiten, durch die man ihre Hrte zu mildern sucht,“ fhrt Professor Nietzsche in seinem unentgeltlichen Unterricht bei Strauß fort. „Ich bin in der unangenehmen Lage, etwas Hartes, dessen Hrte man durch etwas Spitzes mindert, nicht zu kennen.“ Hier lftet die Unredlichkeit des Sprachmeisters ihre Larve, derselbe escamotirt das Spitzfindige gegen das Spitze, um etwas Unsinniges auffllig zu machen. In Schiller’s Drama bergibt die Kçnigin Elisabeth dem Geheimsecretair Davison das unterschriebene Todesurtheil und weicht den Fragen des Secretairs: ob er das Urtheil solle vollstrecken lassen, oder ob er das verhngnißvolle Blatt noch zurckbehalten solle? mit spitzfindigen Antworten aus. Durch diese Spitzfin-
440 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung digkeit aber sucht die Kçnigin ihre Hrte auf Momente zu mildern. So wre es auch gestattet, zu sagen: in dem Jemand eine Sache aufdecke, verhlle er sie gewissermaßen erst recht. Professor Nietzsche freilich kçnnte einwerfen: er sei nicht in der Lage, ein Aufdecken zu kennen, welches zugleich eine Sache einhlle. Was halten Sie, Herr Professor, von dem nachstehenden Bilde: „der Spiritus, in welchem diese (die Mißgeburten) sich am lngsten conserviren, ist Schweinsleder“. Sind Sie nicht gleichfalls in der unangenehmen Lage, jene Sorte Schweinsleder, die zugleich Spiritus ist, nicht zu kennen? Dieses Bild rhrt aber nicht von Strauß, es rhrt von Schopenhauer her. Oder wie gefllt Ihnen das folgende Bild: „Denken wir uns jetzt das eine große Cyklopenauge des Sokrates auf die Tragçdie gewandt.“ Das Cyclopenauge sitzt hoch oben in der Stirn und hat, wie bekannt, kein nachbarliches zweites. Ich bin alles Ernstes in der unangenehmen Lage, erstlich, mir Socrates mit dem Cyklopenauge schlechtweg nicht vorstellen zu kçnnen, fr’s Zweite, nicht ber den Platz orientirt zu sein, den bei der mythologischen Verschiebung des „einen Auges“ mittlerweile das andere eingenommen hat. Dieses Bild rhrt weder von Strauß noch von Schopenhauer, sondern von dem Schriftsteller her, der Ihnen am theuersten ist. Mitunter wird der rasche, unvermittelte Wechsel der Bilder, deren eines das andere aufhebt oder dem anderen widerspricht, Straußen als schwere Versndigung an der Sprache angerechnet. Wenn z. B. Strauß sagt, es habe Beethoven gedrngt „ber den Strang zu schlagen und ein Abenteuer zu suchen“, so rth Professor Nietzsche hieraus „fast auf ein Doppelwesen, halb Pferd, halb Ritter“. Ich bemchtigte mich jetzt eines beliebigen Satzes eines unserer ausgezeichnetsten Dichter und Stylisten, Gottfried Keller’s, um den darin vorkommenden Gleichnissen nach der Anweisung des Nietzsche’schen Noth- und Hilfsbchleins den Prozeß zu machen. Keller schreibt: „Mit neugieriger Liebe erfaßte sie Alles und nahm es als baare Mnze, was ihrer wogenden Phantasie dargeboten wurde, und sie bekleidete es alsbald mit den sinnlich greifbaren Formen der Volksthmlichkeit, welche massiven metallenen Gefßen gleichen, die trotz ihres hohen Alters durch den steten Gebrauch immer glnzend geblieben sind.“ Der wogenden Phantasie, worunter man sich offenbar das schumende Meer oder einen Fluß mit tiefem Geflle oder einen empçrten Bergfee zu denken hat, werden Mnzen dargeboten, wie einem Glubiger oder einem Wechsler; die Mnzen wieder werden bekleidet (Toilette- oder Schneidergeschft!), und zwar mit Formen der Volksthmlichkeit, diese Formen jedoch gleichen, wie wir zu unserer nicht geringen Ueberraschung erfahren, massiven metallenen Gefßen! Wer sich Wogen, die Mnzen empfangen, und Mnzen, die mit metallenen Gefßen bekleidet werden, vorstellen kann, der ist wahrlich zu beneiden. Herr, reden Sie doch wie ein Mensch aus dieser Welt! Diese letzte Interjection ist Eigenthum des Herrn Professors Nietzsche, d. h. der Professor hat sie Schopenhauern entwendet, whrend der Bestohlene sie
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eingestandenermaßen von Falstaff hat, welcher dem Freunde Pistol einmal ungeduldig zuruft: „Sage, was du zu sagen hast, wie ein Mensch aus dieser Welt!“ („Parerga“, II. 556.) Und Schopenhauer gebraucht dort diesen Ausruf, als er sich ber das Verderbniß der deutschen Sprache ereifert. Es verschlge nichts, wenn der Eingriff in fremdes Eigenthum bei Nietzsche Einmal vorkme; er ist jedoch bei dem Zuchtmeister Straußens methodisch gewohnheitsmßig geworden, und zwar in einem Grade, wie ich dergleichen selten in der Schriftstellerwelt wahrgenommen habe. Nietzsche bedient sich jeden Augenblick einer, Schopenhauer’schen Ausrufung, eines Schopenhauer’schen Kernwortes und wohlverstanden wçrtlich, ja, hin und wieder bei den gleichen Anlssen. „Lumpenjargon“, „stylistisches Pachyderma“, „Extirpation“, „Kanoniergleichniß“ sind Ausdrcke des erbitterten Philosophen. Possierlich-widerwrtig wird der Professor, wo er auf „profanirende“ Bilder und Beziehungen in Straußens Buche sein Augenmerk richtet. So hat Strauß geschrieben: „Der Glaube an seine Auferstehung kommt auf Rechnung Jesu selbst.“ Hieraus folgert der Professor: „Wer sich so gemein merkantilisch bei so wenig gemeinen Dingen auszudrcken liebt, gibt zu verstehen, daß er sein Lebelang recht schlechte Bcher gelesen hat. Von schlechter Lectre zeugt der Strauß’sche Styl berall.“ Es verlohnt nicht der Mhe, das Wort „auf Rechnung“ in seiner hier unverfnglichen Bedeutung zu rechtfertigen. Hingegen will ich den zartsinnigen, heiklen, urbanen Mann abermals an Schopenhauer erinnern, welcher Jehovah beinahe durchgngig, wo er ihn erwhnt, den „alten Juden“ nennt und einmal von einer „Installationsscene im Paradiese“ spricht. Oder sollte vielleicht das alte Testament, nach des Professors Dafrhalten, vogelfrei, und nur das neue unter den Schutz einer delicaten Kritik gestellt sein? Was nun aber besonders bçse ist: Professor Nietzsche kommt in seiner eigenen grammatikalischen und stylistischen Praxis oft genug mit dem Schopenhauer’schen Strafgesetz in schwere Collision. In dem handschriftlichen Nachlasse des Philosophen, S. 79, steht zu lesen: „Allemal ,Bezug‘ statt Beziehung, ,Geschick‘ statt Geschicklichkeit. Kopfkissen, Sophas und Sthle haben Bezge: Menschen und Dinge haben Beziehungen. So ist’s deutsch. Aber elende Silbenknickerei steckt dahinter’ und sonst nichts.“ Der Professor schreibt in seinem Pamphlet, S. 62: „Die aber bei allem Geschick des Ausdruckes im Ganzen u.s.w.“ und in seiner „Geburt der Tragçdie“ S. 100: „Wenn Goethe einmal zu Eckermann mit Bezug auf Napoleon ußert.“ In dem handschriftl. Nachlasse, S. 98, steht zu lesen: „,Etwa‘ ist gar kein Wort, sondern die sddeutsche Aussprache von etwan, welche das n am Ende weglßt.“ Der Professor schreibt berall, wo er dieses Wortes bedarf, etwa. In „Parerga“ II. S. 565, steht zu lesen: „Mit Recht heißt es Beweis, hingegen ,Nachweis‘ wie unsere stumpfen Tçlpel es verbessert haben.“
442 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Der Professor, einer der stumpfen Tçlpel, schreibt in seiner „Geburt der Tragçdie“ S. 102: „Bei welchem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde…“ Auch „dieselben“ gestaltet sich der Professor fortwhrend, wo der Sinn die selben, die nmlichen erheischt; imgleichen „fr“ anstatt auf („Die Geburt“, S. 77: „Fr eine lange Zeit“), „wie“ anstatt als (ibd. S. 115: „wohl noch niemals niedriger und schwchlicher gewesen ist, wie in der Gegenwart“), ferner „gekennzeichnet“ anstatt bezeichnet, „ermçglicht“ anstatt mçglich gemacht, „somit“ anstatt demnach u.s.w. Da der Professor sich von Schopenhauer die Keule entliehen hat, und auch wie Jupiter donnert, so htte er nicht allein die Flche Schopenhauer’s, sondern auch dasjenige auswendig lernen sollen, was den Zorn des Meisters hervorgerufen hat. Um aber die Nachweisung dessen nicht schuldig zu bleiben, was ich frher in Hinsicht auf Goethe hervorhob, merke ich einige der Wçrter und Redensarten hier an, die Schopenhauer auf den Index gesetzt, jedoch Goethe nicht im Mindesten anstçßig gefunden hat. „Allein widersprechende Verhltnisse lassen sich so leicht nicht versçhnen.“ (Deutsche Literatur. Monatsschrift des vaterlndischen Museums in Bçhmen.) „Mitten im Elemente der Convenienzen erscheint ein durchaus Natrliches der Bezge … der Personen.“ (Ibid. Gnomen.) „Die Stoffe, die er bearbeitet, sind meist brgerlich.“ (Ibid. Grbel’s Gedichte.) „Es soll also vorerst meine anhaltende Arbeit sein.“ (Entstehung der biographischen Annalen.) „Wie Natur und Poesie sich in der neuen Zeit vielleicht niemals inniger zusammengefunden haben, wie bei Shakspeare, so die hçchste Kultur und Poesie nie inniger, als bei Calderon“ (Goethe an Zelter.) „Die Natur in uns nimmt immer eine neue Gestalt an, und jede neue Gestalt wird unerwarteter Feind fr die gute sich immer gleiche Vernunft.“ (Schweizerreise.) Die Scheelsucht und die Schulmeistervernunft sind im Uebrigen nicht davor zurckgeschreckt, Goethen der Sprachverhunzung, der Verworrenheit, der Willkr und der Neuerungssucht zeihen. In der Scharteke von Lover wird an den Prosaschriften Goethe’s bewiesen, daß der Dichter grammatikalisch wie syntaktisch unaufhçrlich gestmpert, sein Unvermçgen dargethan hat, sich correct ausdrcken zu kçnnen. In der neuen Bibliothek der schçnen Wissenschaften 1779, Bd. 23, §. 54 wird ihm die Dichterbegabung abgesprochen. Die Schlußstze dort lauten: „Wer nach zwei, drei halb oder ganz gelungenen Versuchen schon bis zum tiefsten Abgrund weit unter die Mittelmßigkeit herabsteigt, der hatte wahrscheinlich nur die Fieberhitze des Genies, aber nicht sein hellflammendes Feuer in sich: waren seine dichterischen Versuche sehr glcklich, so kann man vielleicht dichterische Anlagen in ihm vermuthen, aber
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er ist darum kein Dichter. Blçdsichtige Menschen erblicken freilich oft einen neuen Stern am Himmel, und genau untersucht, findet sich’s – es war eine Sternschnuppe!“ Im Bde. 21 der Bibliothek werden die dichterischen Ideale der Redaction zur gottesdienstlichen Verehrung herumgereicht. Ungeheueres Lob der Lieder zweier Liebenden von Gçcking; namentlich des folgenden Verses: Komm denn, kß’ als Hirtin mich! Aber ach, ich bitte Dich, Schone Deiner Pferde! Denn ich will nicht, daß ein Thier Bloß aus Leidenschaft zu mir Abgemartert werde!
Wer hier, sagt der Bibliothekar, nicht fhlt, was wir denken, dem werden’s auch unsere Worte nicht lehren! – Professor Nietzsche’s Ideal ist „der wogende Schwall, das tçnende All, des Weltathems wehendes All“. – In dem Buche: „Deutsche Dichter“, erlutert von M. W. Gçtzinger, Leipzig, Hartknoch, 183 l, I. S.296 ff. heißt es wie folgt: „Goethe beherrscht seinen Stoff, aber er fhlt keine Theilnahme, keine Liebe zu ihm … Daher sind denn die Gegenstnde seiner Balladen, wie berhaupt seiner Dichtungen, die buntesten; wir finden kleinliche und erhabene, anmuthige und grßliche, anziehende und ekelhafte, alberne und bedeutende… ,Khl bis an’s Herz hinan‘ keine lobenswerthe Wortverbindung. Man sagt doch nicht ich bin khl (abgekhlt), sondern mir ist khl… ,Hinauf in Todesglut‘, herrlicher Ausdruck, um das Fatale zum Braten oder Kochen zu vermeiden… ,Wohlig‘, da das Wort vom Dichter erst gemacht ist, so weiß ich nicht, ob es heißen soll: dem Fischlein ist wohlig oder das Fischlein ist wohlig, vermuthlich das Erstere; dann ist aber diese Fabrication von wohlig sehr unnçthig, da sie nichts Anderes sagt, als wohl…“ Was hier die crasse Bornirtheit verbrochen hat, das verbricht bei Nietzsche die vorbedachte Bçswilligkeit. Denn wie kçnnte ein redlicher Kritiker den aus lauter Licenzen, Verrenkungen und Verkrmmungen zusammengesetzten Librettostyl Richard Wagner’s bewundern und preisen und auf der anderen Seite die Prosa Straußens als eine grauenerregende Mißgestalt ansehen und brandmarken!? V. Einer der Kirchenvter, ich weiß nicht welcher, hat von den Heidenphilosophen gesagt, daß ihre Tugenden nur glnzende Laster seien. Unser Musterculturmensch setzt an die Stelle der Heidenphilosophen David Strauß, verwandelt das Adjectiv „glnzend“ in „scheußlich“ und dem Verfasser des „Leben Jesu“ bleibt nicht so viel brig, nur um seine Blçßen zu verdecken. Professor Nietzsche erklrt kurz und bndig, daß Strauß nicht nur ein elender Scribent, daß er auch ein klglicher Darsteller ist. Ihm geht alles Formgefhl ab, er versteht weder unsere Musiker, noch unsere Dichter. Letzteres theilt er (nach Nietzsche) mit
444 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Jahn und Gervinus. Bei der Nennung Gervinus’ hat es dem Professor in den Kram gepaßt, ein gutes Epigramm Grillparzer’s zu citiren, das Epigramm von dem Miethpferde-Galopp seiner Begeisterung, den Bienenschwarm aber, der dicht in der Nhe zur Verfolgung Richard Wagner’s auffliegt, hat er zu erwhnen sich klglich gehtet. Dies nur nebenbei. Da wir vorher vernommen haben, daß Strauß bei schlechter Lectre aufgewachsen sei, so drfen wir uns ber die Kunde seiner stmperhaften Darstellung nicht wundern. Was wir doch bisher fr Trçpfe gewesen sind! Wie wir uns eingeredet haben, daß wir in Strauß einen knstlerischen Schriftsteller htten. Ueber Nacht kommt ein Professor der classischen Philologie, schreibt hundert Seiten, und Straußens Ruhm, sein eigenes, wie unser Trugbild, zergeht in eitel Dunst. Mir ist ein Aufsatz im Angedenken, den der Hofrath Marschall ber den Aufenthalt Straußens in Weimar in einem Jahrbuche verçffentlicht hat. Dort wird neben dem menschlich erquickenden Eindrucke, den Strauß auf ihn gebt, der knstlerische geschildert, so aufrichtig und prunklos, daß der Leser von dieser Skizze sich zwiefach angemuthet fhlt. Man mußte glauben, meint Marschall, als er Straußen auf den Spaziergngen in und um Weimar unausgesetzt Dichterworte recitiren hçrte, deutsche, englische, lateinische, franzçsische und italienische, daß derselbe in seinem Leben sich ausschließlich von Poesie genhrt habe. Wenn dem leichtglubigen Marschall die Schrift des Professors Nietzsche zu Gesichte kommen sollte, so wird er um eine Illusion rmer werden. Den „Unzeitgemßen Betrachtungen“ ist auch nicht an einem einzigen Punkte zu entnehmen, daß ihr Verfasser auf den „Alten und den neuen Glauben“ allein seine wegwerfenden Urtheile sttzt; diese grnden sich vielmehr auf Straußens Gesammtthtigkeit, wiewohl sie nur das genannte Buch zu ihrer Bekrftigung heranziehen. Doch halt! Auf Seite 74 wird allerdings auch auf den „frheren Strauß“ angespielt. Hçren wir diese Anspielung: „. . . Es gab einen Strauß, einen wackern, strengen und straffgeschrzten Gelehrten, der uns ebenso sympathisch war, wie jeder, der in Deutschland mit Ernst und Nachdruck der Wahrheit dient und innerhalb seiner Grenzen zu herrschen versteht; der, welcher jetzt in der çffentlichen Meinung berhmt ist, ist ein Anderer geworden: die Theologen mçgen es verschuldet haben, daß er dieser Andere geworden ist; genug, sein jetziges Spiel mit der Geniemaske ist uns ebenso verhaßt oder lcherlich, als uns sein frherer Ernst zum Ernste und zur Sympathie zwang. Wenn er uns neuerdings erklrt: „es wre auch Undank gegen meinen Genius, wollte ich mich nicht freuen, daß mir neben der Gabe der schonungslos zersetzenden Kritik zugleich die harmlose Freude am knstlerischen Gestalten verliehen ward“, so mag es ihn berraschen, daß es trotz diesem Selbstzeugniß Menschen gibt, welche das Umgekehrte behaupten; einmal, daß er die Gabe knstlerischen Gestaltens nie gehabt habe, und sodann, daß die von ihm „harmlos“ genannte Freude nichts weniger als harmlos sei, sofern sie eine
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im Grunde krftig und tief angelegte Gelehrten- und Kritiker-Natur, das heißt, den eigentlichen Straußischen Genius allmlig untergraben und zuletzt zerstçrt hat …“ Zwar, einige Bltter vorher oder nachher wird deutlich zu verstehen gegeben, daß Straußens Geist wie Styl, durch die „Hegelei“ und „Schleiermacherei“ auf immer entstellt und verdorben worden ist; wer sich in dieser Schule gebildet habe, der sei unrettbar verloren. Doch dieses Dilemma genirt den Professor nicht. Unsere Interpretation jener tckischen Anerkennung, womit der Billigkeit ein Hundebissen hingeworfen wird, wre demnach folgendermaßen zu formuliren: Als Strauß noch in den Banden des „Afterphilosophen und des geschmeidigen Theologen“ fr die vernnftigen Verehrer Gottes einherging, mithin zu der Zeit, als er sein „Leben Jesu“ und andere kritisch theologische Schriften schrieb, da war er gleichwohl der Mann des Ernstes und der Strenge, der straffgeschrzte Gelehrte, welcher die entschiedene und, wie wir hinzufgen wollen, entscheidende Sympathie des Professors Nietzsche erregte, den wir uns jetzt als einen hohen Fnfziger zu denken htten. Die damals ausgesprochene Abhngigkeit von dem Spaßmacher Hegel, welche Strauß beurkundet hat, that solcher Sympathie keinen Eintrag. Erst der von dem „Unsinnschmierer“, wie Schopenhauer ihn nennt, sich nach und nach befreiende Strauß hat diese Sympathie in Haß verkehrt, erst mit dem erhçhten Nachdrucke, den Strauß auf die Freude an dem knstlerischen Gestalten legte, ist Professor Nietzsche der Jmmerlichkeit dieser strengen und ernsten Gelehrten-Natur inne geworden. Aber leider: „Was Einer werden kann, das ist er schon.“ Conclusion: Der ursprngliche Strauß, nmlich der verhegelte und verschleiermacherte, war das Messer ohne Klinge; der sptere Strauß, nmlich der knstlerisch impotente, ist das Messer ohne Stiel; fge ich nun, ich Professor Nietzsche, zu der Klinge, die nicht existirt, den Stiel, der nicht vorhanden ist, hinzu, so habe ich den David Strauß ganz so, wie ich ihn brauche, mithin das Messer Lichtenberg’s fix und fertig in der Tasche. Die „Zugaben“ zu dem „alten und dem neuen Glauben“ bilden das Material, woran der Professor darzuthun sich anschickt, daß Strauß unfhig ist, in Sachen der Kunst mitreden zu kçnnen. Goethen begreift er schon deßhalb nicht, weil er den zweiten Theil des „Faust“ fr ein allegorisch schemenhaftes Product hlt; nicht minder rathlos steht er Schillern gegenber, weil er sagte, daß dieser aus dem Studium Kant’s wie aus einer Kaltwasseranstalt herausgetreten sei. „Das ist freilich Alles neu und auffallend,“ glossirt Professor Nietzsche, „aber es gefllt uns nicht, ob es gleich auffllt; und so gewiß es neu ist, so gewiß wird es nie alt werden, weil es nie jung war, sondern als GroßonkelEinfall aus dem Mutterleibe kam.“ Diese Wendung ist einzig. Denn der Professor lßt mit Verschmitztheit dunkel, ob er sich in Rcksicht auf den zweiten Theil des „Faust“ zu einer hçheren Werthbemessung bekennt oder nicht, und ferner, ob er nur an dem Gleichniß von der Kaltwasseranstalt oder auch an der
446 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Auffassung der Kant’schen Wirkung auf Schiller sich stçßt. Was den Vorzug der Neuheit betrifft, mag der Professor auf Treu und Glauben die Versicherung hinnehmen, daß ihn David Strauß fr jene Bemerkungen gewiß nicht anspricht. Sie sind eben, wie sich mit Belegen erhrten lßt, nicht neu; wogegen nur die Negation um jeden Preis den dionysischen Erçrterungen des Professors ihren Anspruch auf Originalitt streitig machen kçnnte. Ich bergehe seine orakelhaften Aeußerungcn ber Straußens unglckliche Tastversuche, um sich bei Beethoven und Haydn zurecht zu finden, und verweile nur noch bei seiner fulminanten Strafrede an Strauß, deren Thema Lessing ist. Sie macht wegen der Voraussetzung der Inferioritt des Angeredeten, auf der sie beruht, in Verbindung mit der demosthenischen Ueberlegenheit, die sie zu erkennen gibt, einen komisch albernen Eindruck. Von der Behauptung, daß Straußens Wrme gegen Lessing eine erheuchelte ist, geht sie aus, an den Beschuldigungen, daß Strauß kein Verstndniß des in kleinlichen Verhltnissen schmachtenden Feuergeistes habe, kein Mitgefhl mit den Qualen, die er hat erdulden mssen, schrft sie die Behauptung, und nimmt dann den glcklich angebundenen Fuchs aufs Korn: „Fr jeden (der großen Genien) wart ihr die verdrossenen Stumpfsinnigen oder die neidischen Engherzigen oder die boshaften Selbstschtigen: trotz euch schfen sie ihre Werke, gegen euch wandten sie ihre Angriffe, und dank euch sanken sie zu frh, in unvollendeter Tagesarbeit, unter Kmpfen gebrochen oder betubt, dahin. Und euch sollte es jetzt, tamquam re bene gesta, erlaubt sein, solche Mnner zu loben! und dazu mit Worten, aus denen ersichtlich ist, an wen ihr im Grunde bei diesem Lobe denkt, und die deßhalb ,so warm aus dem Herzen dringen‘, daß Einer freilich stumpfsinnig sein muß, um nicht zu merken, wem die Reverenzen eigentlich erwiesen werden…“ Das ist nicht komisch albern, hçre ich den Kenner der Strauß’schen Schriften sprechen, das ist der Cynismus im Ehrenkleid, die Mißgunst mit der Armenbchse in der Hand, die Flschung, welche die Waage der Themis hlt. Wie, David Strauß htte nicht, seitdem er berhaupt schreibt, auf der Seite der von Hindernissen umringten Kmpfernaturen gestanden, htte nicht ihre Wundenmale schauernd betrachtet, nicht ihren im Schmerze zuckenden Augenaufschlag nachempfunden?! Wo wre denn in unserer neueren Literatur der Zweite, der, gleich ihm, die an ein unfertiges Talent, an ein zçgerndes oder trostloses Zeitalter geschmiedeten Geister unablssig zum Gegenstande seines Nachdenkens, seiner Neigung und seiner Darstellung gemacht htte! Wehrhaft, schlagfertig mußten sie allerdings sein, wenn sie sich seines vollen Antheils bemchtigen sollten; Widerstand mußten sie leisten kçnnen, zu den Zgen des Leidenden oder Sinnenden den trotzigen Blick und die geballte Faust mitbringen, wie Ulrich v. Hutten, Nicodemus Frischlin, Daniel Schubart. Das Leid, das sozusagen nichts vom sehnigen Arme weiß, das Betrachtende, das sich abseits von der strmischen Welt angesiedelt, in sich selber eingesponnen hat,
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vermochte Straußen nicht zu fesseln, nicht in Mitleidenschaft zu ziehen und nicht productive Krfte in ihm zu entznden. Einen Franz von Assisi versteht er ebenso wenig, als einen Heinrich von Kleist, wenngleich noch immer besser, als mancher Andere, der die Mysterien der Menschenseele zu entziffern glaubt, indem er sich an ihnen blos verwirrt. Wo aber Strauß die hçhere Intelligenz und das bewegte Gemth mit den Machthabern oder Normen einer bestimmten Epoche gleichsam handgemein werden sah, da sprangen sofort die Funken seines Talents hervor, da schlossen in ihm Beredtsamkeit und Einsicht, Unruhe des Temperaments und kritische Controle, eine langsame Einbildungskraft und ein sie beschleunigender Verstand, wie durch eine geheime Verabredung zusammengerufen, hastig und fest zugleich ein Bndniß, dessen Parole der Auffassung und Gliederung, Stimmung und Sprache unverwischbar aufgedrckt ward. Wo in einem Individuum die Facultten des Sinnenden und des Handelnden einander schneiden, die schçne Zwecklosigkeit und die wrdigen Zwecke ein Abkommen mit einander gefunden haben, dort erblickte Strauß die seinem Talent und seiner Eigenart gemße Aufgabe. Diese Doppelimpulse, diese in einer fremden Persçnlichkeit vereinigten Contraste forderten die sich gegenseitig widersprechenden wie ergnzenden Gaben des Kritikers und Malers heraus. Wo aber die bald heiter, bald grmlich erklingende Bitte des griechischen Weisen an sein Ohr schlug: Stçre nicht meine Kreise! da gerieth er nicht in Wallung, da schwingte keine verwandte Saite in Strauß mit. Die zerknirschten Schwrmer, welche der Reformation vorausgingen, hatten ihm nichts zu sagen, das er nicht schon aus dem Munde Hutten’s vernommen htte, und das Gestndniß Luther’s: „Gott hat mich den Berg hinan gefhrt, wie einen blinden Gaul… es muß Alles in Unwissenheit geschehen!“ schien ihm durch die Thatsache des wissenden Erasmus, dem nur der Muth und die Leidenschaft des Augustinermçnchs gefehlt htten, mehr als bestritten. Die an dem Vollbringen des Guten, an der Verkndigung des Wahren gehinderte oder darin beirrte, nicht die jedes Thun abweisende oder lhmende Erkenntniß ist ihm die Wurzel seelischer Bedrngniß und Noth. Den gewappneten Denkern dagegen, die in den Tumult des Tages sich strzen, den reitenden Boten, welche den Verkehr der Einsamen mit der Menge vermitteln, folgt er leuchtenden Auges auf ihren heimlichen Pfaden, und er freut sich mit ihnen, so oft sie den Seelenfngern entwischen, und sein Herz klopft strker, so oft sie ihr gefhrdetes Gedanken-Gut in Sicherheit bringen. Darum enthllte sich ihm, was er den ganzen ungebrochenen Menschen nannte, vornehmlich in der Einheit des Denkens und Handelns, wobei er unter Handeln nicht das freudige Ausgestalten des still Ersonnenen begreift, sondern das in die Außenwelt tretende persçnliche Thun. Ausdrcklich sagt er selbst in seiner Charakteristik Ludwig Bauer’s: „Der Mann mit der Kraft in seinem Arme und dem Wort in seinem Munde, das ist das Erste, zu welchem das schriftlich festgehaltene Wort nur als abgefallene und
448 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung aufbewahrte Frucht sich verhalten kann; nicht, wie jetzt umgekehrt der Mann zu seinem Buche nur ein nichtssagendes, ja oft lstiges Anhngsel bildet. . . So sollte es nicht sein, und so war es ursprglich nicht: und an diesen Normalzustand uns zu erinnern, wo der Mann und sein lebendiges Thun und Reden noch Alles war, dazu sind solche Menschen, wie Schubart und unser Ludwig Bauer, in unser papierenes Zeitalter hineingestellt. . . .“ Tapfer sein, vor den Riß treten, mit seiner Person zahlen, waren ihm seit jeher die Haupterfordernisse des geistigen Heldenthums, das ihm gefallen sollte. „In dieser zrnenden Stellung halten wir seinen Schatten fest!“ so schloß er die Einleitung zu seinem „Hutten“; in dieser zrnenden Stellung werden wir auch Strauß in der Literatur festhalten. Darum schritt er in dem Zeughause der Aufklrung so gerne umher, darum erweckten, um ein Lessing’sches Wort zu gebrauchen, die Strickleitern, die schon bei manchem Sturme gedient haben, sein lebhaftes Interesse, darum fhrte ihn sein Genius immer wieder zu den Waffenfhigen, die er ihrem individuellen Werthe und Verdienste nach wohl zu unterscheiden verstand. Allen Tinten und Schattirungen wußte er hier gerecht zu werden, einem Klopstock nicht weniger, als einem Barthold Brockes oder Reimarus; ja, die altvterlichen, gravittischen oder befremdlichen Gestalten der Aufklrung reizten vorzugsweise sein nachbildendes Vermçgen, wobei ihm vielleicht auch ein verstohlenes Behagen an herkçmmlichen Lebensformen und krausen Sitten, das sich seinen Schriften abmerken lßt, zu Statten gekommen ist. Und weil er menschlich wohlwollend den Erscheinungen sich nhert, wie ihn zugleich ein knstlerischer Sinn angeleitet hat, ihre Mischungsverhltnisse verstehen zu lernen, so ist er nicht der Versuchung ausgesetzt, von den Fragmenten eines Ungenannten den freien Blick des Herausgebers dieser Fragmente zu verlangen oder den Jnger des Messias in die Lichtsphre Schiller’s zu rcken, um ihn auf solche Weise zu blenden. Die vorhergngigen Bemerkungen machen es uns erklrlich, daß Strauß am Ende seiner biographischen Wanderungen gerade zu Voltaire gelangt ist. Denn in Voltaire haben sich kecke und muntere Kampfbegierde und eine lchelnde Betrachtung des armen, hilflosen Menschendaseins, blasphemirender Spott gegen die Einrichtungen der Gesellschaft und besorgte Abwehr der letzten Consequenzen philosophischen Denkens als zu dem Sinnbilde und Typus der Tendenzen des achtzehnten Jahrhunderts verbunden und verkçrpert. In Voltaire sah er den halben Philosophen und den halben Dichter, den entschlossenen Fragmentisten und den khnen Schlger zu einer schillernden Einheit verknpft, in deren gallischem Zauber sich alle Einzeleigenschaften dieses Schriftstellers, gleichsam wie durch eine optische Tuschung, gesteigert und verklrt zu haben schienen. Das Bedrohliche, Erschreckende der Aufklrung war in Voltaire, mit Beseitigung aller Zwischenstufen, die sie in Deutschland eingenommen hatte, von vornherein das Unwiderstehliche geworden; der Kampf, in deutschen Landen zu allen mçglichen Vermummungen, Winkelzgen und
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Fluchtversuchen gelaunt wie gezwungen, hatte sich in Voltaire ohneweiters der Zgel bemchtigt und stellte den Gechteten und den Regenten in Einem vor. Whrend man den Principien des galant verwegenen Mannes Fußangeln und Fallgruben legte, beherrschte er selbst die Phantasie der Frsten Europas, whrend man nach den Bchern fahndete, die seine Gesinnungen modificirt verbreiteten, bemhten sich diejenigen, welche ihre Hscher entsendet hatten, seines persçnlichen Umganges theilhaftig zu werden. Und Voltaire wieder, der seinem Antheil an dem entsetzlichen Proceß Toulouse ebensosehr die Glorie zu seiner unerschrockenen Mnnlichkeit, als die Wirkung des Furchtbaren auf die geistliche Hierarchie verdankte, Voltaire verbesserte nachmals das Einkommen der Pfarrstelle zu Ferney, nahm ankommende Mçnche in seinem Schlosse gastlich auf, ja behielt einen bei ihm einsprechenden Jesuiten dreizehn Jahre in seinem Hause. Diese vernderte Stellung des Kampfes und des Kmpfers, die Majesttsrechte, die Voltaire eingerumt wurden, und seine eigenes kçnigliche Duldsamkeit, die zuletzt alle seine Fehler und Flecken berstrahlt, sind sicherlich von großem Einflsse, auf Strauß gewesen, als er sich angetrieben fhlte, dieses Portrt in entwerfen. Hat Strauß sich doch selber redlich aufgedient vom kritischen Theologen zum gelehrten Darsteller, hat er doch offenbar die mhseligsten inneren Kmpfe durchgefochten, um vom scharfsinnigen und unerbittlichen Exegeten der Bibel zum knstlerisch zeichnenden Schriftsteller aufsteigen zu kçnnen; Anstrengungen und Kmpfe noch ganz anderer Art, als sie Jedermann, der an seiner Ausbildung arbeitet, beschieden sind und beschieden sein mssen. Denn Strauß ist kein geborener Knstler; er hat vielmehr den Knstler, wie einen Adoptivsohn umsichtig und liebreich auferzogen. Welch’ ein langer und beschwerlicher Weg von der inmitten der gelehrten Analyse sich bescheiden Raum schaffenden Schilderung Schleiermacher’s in den Charakteristiken und Kritiken bis zu der Beschreibung Hutten’s, wo noch ber einen etwas trockenen Boden die Erzhlung hingeht, und von Hutten wieder zu dem flligen Jugendleben Klopstock’s und zu der schlanken Biographie Voltaire’s. In seinem letzten Buche: „Der alte und der neue Glaube“, hat Strauß den Kritiker und den Knstler, den Gelehrten und den Schriftsteller auf einem Felde mit einander verschmelzen wollen, wo er ein Fremdling ist, auf dem der Philosophie, in der schçpferischen Bedeutung des Wortes. Und siehe, indem er den Auflçsungsproceß alles Dogmatisch Religiçsen darstellte, schlug ihm der Dogmatiker selbst in den Nacken; indem er die neuen Anschauungen und berzeugungen in eine philosophische Formel zu bringen suchte, schlichen unversehends Grundstze einer seichten Aufklrung sich ein, die lngst mit den alten Schluchen der Kirche unbrauchbar geworden sind. Das vermehrte Wissen sollte nun der neue Glaube, die durch erweiterte Kenntnisse erhçhte Einsicht des Menschen in den Zusammenhang der Erscheinungen die Stillung unserer tiefsten Schmerzen sein. Bald erhoben sich auf Grund seines flauen Buches
450 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung ernste, wie rohe Anklagen, daß Strauß blos der Mann des reinen Verstandes sei. Und da viele arge stylistische Nachlssigkeiten dort mit untergelaufen sind, so ist der allezeit lauernde Neid geschftig gewesen, sein Bild zu entstellen, ihn zu schmhen und herabzusetzen. Zum Glcke hlt sein Ruhm Farbe, wenn auch sein letztes Buch erbleichen mag. Nçthig hatte er es nicht, in dem Vorworte zu dem ersten Bande seiner kleinen Schriften sich dagegen zu verwahren, daß er blos der Mann des reinen Verstandes sei. Schon sein Hutten und seine Studie ber Justinus Kerner in den „Zwei friedlichen Blttern“ haben einer solchen Annahme durchaus widersprochen. Wer so geschmackvoll mit Licht und Schatten umzugehen weiß, wie Strauß in jener Biographie und wer mit so feiner Fhlung und solchem Tacte das Gewebe von Tiefsinn, Schalkheit, mystischer Grille und handfester Realitt in der Persçnlichkeit und in der Dichtung Kerner’s zu begreifen, zu sondern und in seiner Ganzheit zu erfassen im Stande ist, der ist gegen obigen Verdacht auf alle Flle geschtzt. Kein Unbefangener wird die Knstlerhand in diesen Schriften verkennen. Wem aber nach Lesung der Erinnerungen an seine Mutter, der Charakteristik Nathan’s des Weisen und vollends des Voltaire nicht bis zur hellsten Deutlichkeit aufgegangen wre, daß Strauß ein Meister knstlerischer Darstellung ist, dem kçnnte eine nachweisende Reproduction des Aufbaues und der Durchfhrung dieser Compositionen wenig oder gar nichts fruchten. Die Zeichnung seiner Mutter, die Stelle ber den Bienenkorb wrden, wenn sie in „Wahrheit und Dichtung“ vorkmen, dem Style nach nicht den Eindruck eingeschobener fremder Stcke machen. Die Zartheit und Sicherheit, womit bei der Aufbltterung der Fabel des Nathan die didaktischen Auszweigungen des Gedichts an dem Kçrper desselben gezeigt werden, sind das beredteste Zeugniß echter sthetischer Analyse. Die gepcklose Erzhlung, zu der es die durchgearbeitete und gesichtete Forschung in seinem Voltaire gebracht hat und welche mit der Abweisung mancher grndlichen oder detaillirten Untersuchung nicht zu hoch erkauft worden ist, kann in Ansehung der Form als ein monographisches Vorbild gelten. Und ob er gleich, wie Karl Frenzel richtig tadelte, die diabolischen und die entzckenden Eigenschaften Voltaire’s, die schçnen und die hßlichen auseinander gepflckt hat, anstatt ihre funkelnde Einheit immer und berall zu veranschaulichen: so fllt dies mit jenen Mngeln zusammen, welche die Grenze seiner Begabung bezeichnen, gewiß aber nicht auf eine fehlerhafte Bentzung der malerischen Mittel schließen lassen. Wir sind in unseren Tagen daran gewçhnt worden, uns den kmpfenden Schriftsteller außer Rand und Band zu denken, mit aufgebrachten Redensarten: das Gegenbild jeglichen Knstlers. Strauß hat seiner Energie keinen der starken Accente geraubt, indem er ihre natrliche Zuneigung zu wilden Geberden mßigte; er ist in seiner Form nicht schwchlich geworden, weil er gleichsam den Echo-Pltzen auswich, wo jede gesprochene Sylbe ffend widerhallt.
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Was eine zurckhaltende Darstellung intensiver Menschen und Zustnde ohne Beihilfe des Absichtlichen und Pikanten, das aus diesem Gegensatze geholt werden kann, zu leisten vermag, durch den epischen Vortheil einer solchen Darstellung allein, das hat Strauß thatschlich in den Schriften seiner Reife geleistet. Mit der gedmpften Lebhaftigkeit seiner Farbengebung und seines Vortrages erçffnet er uns einen Spielraum unserer eigenen Thtigkeit, nachdem er vorher sorgfltig jede Thr und jedes Pfçrtchen verschlossen hat, zu dem ein wichtiger Posten hinaus oder, ein vernichtender Widerspruch herein kçnnte. Mitunter wirft seine Linse die Gegenstnde in eine etwas knstliche Ferne, so daß wir zuweilen an die unnatrlich verkleinerten Bilder, die ein umgedreht vor’s Auge gehaltenes Opernglas uns darbietet, denken mssen. Immer aber sind die Umrisse scharf und klar, ist alles ablenkende Beiwerk vermieden, ohne daß wir ber Aermlichkeit des Details zu klagen, ber eine auf Kosten der Anschaulichkeit erworbene Deutlichkeit zu murren htten. Seiner Sprache ist nicht die Vorsicht Varnhagen’s aufgeprgt, hinter der sich etwas Verschlagenes oder Boshaftes stille verhlt; ihr ist ein edler Vorbehalt, ein weises Verschweigen, etwas Respectvolles gegen den gerne selbst zu Ende denkenden Leser eigenthmlich; und sie wirkt umso lebensvoller und eindringlicher, als sie gegen die Dreistigkeit des Vorwurfs, der sie doch erzeugt hat, wundersam absticht, etwan wie das Benehmen eines scheuen Sohnes gegen den ungebunden sich gebenden Vater. Mit seinen Gleichnissen ist er sparsam, wenn aber eines sich meldet, so ruft es einen ganzen Ideengang verstrkt in uns zurck und leuchtet in alle Winkel und Nischen desselben, Verstndniß fçrdernd, hinein. Eine besondere Virtuositt entfaltet er in vielgliederigen Parallelen, deren Fden er mit eben solcher Schnelligkeit als Leichtigkeit und Przision anfaßt, verschlingt und lçst. Ich erinnere an seine Gegenberstellung Klopstock’s, Herder’s und Wieland’s, Schiller’s und Goethe’s im Eingange zu dem Jugendleben des genannten, an das Bild von der schwbischen Dichterstaude, die gerne dreibltterig treibe, womit er den Aufsatz ber Ludwig Bauer beginnt. – Inbrunst und hymnische Trunkenheit werden wir bei ihm nicht suchen, wie wir uns nicht an Fallmerayer oder Carlyle wenden werden, wenn wir die leichten Hllen der Sprache gehoben wnschen. Der ruhig niederfallende Zorn jedoch steht seinem Worte allerdings zu Gebote und mit redlicher Erbitterung kargt seine Sprache niemals, wann er irgend einen Frevel zu brandmarken und fr das bedrohte Gute einzustehen hat. Den Herzog Karl von Wrttemberg z. B. ereilt sein Haß aller Orten, wo er dieses Dichterpeinigers ansichtig wird, und Verzeihung kennt er nicht und gibt er nicht, wo Einer Knechtesdienste von der Wahrheit heischt. Da wren nun die charakteristischen Vorzge des Schriftstellers angedeutet, jenes Schriftstellers, dem der Professor Nietzsche eine so nichtsnutzige Strafrede gehalten hat. So sieht nach meiner und vieler Anderen Wahrnehmung der Autor aus, der in dem Gesichtsfelde des Professors Nietzsche bald als Schmierer, bald
452 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung als tnzelnder Magister, der abwechselnd als Sudler, als graziçser Religionsstifter, als Ignorant, als leichtgeschrzter Geck unter dem Beifalle der culturlosen Deutschen der Vergessenheit entgegentaumelt. Nietzsche’s Haar strubt sich, indem er die Unwissenheit Straußens sich vergegenwrtigt, und er ist sprachlos vor Erstaunen, ein solches Pachyderma einen classischen Prosaschreiber nennen zu hçren. Als Herr Furia in der Longus-Affaire gegen Paul Louis Courier ausrief: „Un frisson glac s’empara de tous mes membres stupides!“ da erwiderte Courier das unvergngliche Wort: „Le voil stupide; il l’assure, et c’est la seule assertion qui soit prouve par son livre.“ Merkt es euch, ihr Deutschen, Straußens Sprache excellirt durch die „ußerste Nchternheit und Trockenheit, eine wahrhaft angehungerte Nchternheit,“ Strauß ist ein „Sprachverhunzer“, „der das Mysterium aller unserer Deutschheit entweiht hat“. Nietzsche hat es gesagt. „Schon mit diesem Augenblicke,“ prophezeit er, seherhaft vor sich hinstarrend wie Ezechiel, „schon mit diesem Augenblicke, in dem wir seine stylistischen Snden in’s schwarze Buch schreiben, beginnt die Dmmerung seines Ruhmes.“ Ist uns doch zu Muthe, als ob es an der Decke der Sixtina plçtzlich mit Zungen zu reden anfinge! Wir haben Grund zur Vermuthung, daß gleichzeitig die Morgendmmerung des Nietzsche’schen Ruhmes angebrochen sei. Es fgt sich hbsch, daß, wie Nietzsche die Einleitung zu seinen „Unzeitgemßen Betrachtungen“ mit Goethe’schen Initialen verziert hat, wir diese kritischen Bemerkungem mit Goethe endigen kçnnen. Wie durch ein anchronistisches Wunder nmlich ist Professor Nietzsche schon von Goethe beurtheilt worden, 1795, in dem Aufsatze: „Litterarischer Sansculottismus“, wozu ihm ein in dem „Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmackes“ enthaltener Schmhartikel den Anlaß gegeben hat: „Wir sind berzeugt, daß kein deutscher Autor sich selbst fr classisch hlt,und daß die Forderungen eines jeden an sich selbst strenger sind, als die verworrenen Prtensionen eines Thersiten, der gegen eine ehrwrdige Gesellschaft aufsteht, die keineswegs verlangt, daß man ihre Bemhungen unbedingt bewundere, die aber erwarten kann, daß man sie zu schtzen wisse. Ferne sei es von uns, den belgedachten und belgeschriebenen Text, den wir vor uns haben, zu commentiren. Nicht ohne Unwillen werden unsere Leser jene Bltter am angezeigten Orte durchlaufen, und die ungebildete Anmaßung, womit man sich in einen Kreis von Besseren zu drngen und sich an ihre Stelle zu setzen denkt, diesen eigentlichen Sansculottismus, zu beurtheilen und zu bestrafen wissen.“
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Reaktionen Emil Kuh an Gottfried Keller, 14. 11. 1873: „Ist Ihnen etwas ber die Person des Professors Friedrich Nietzsche in Basel bekannt? Derselbe hat eine Schandbroschre gegen Strauß geschnellt und ein wahnwitziges Buch ber die ,Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik‘ zu Ehren Richard Wagners dieses betrunkenen Schulmeisters, geschrieben. Ich frage deshalb, weil ich vier Wochen angestrengter Arbeit an eine Kritik ber Nietzsche schon gewendet habe, welche ich selbstndig herauszugeben gedenke. Ich bin gleichwohl kein Bewunderer des ,Alten und des neuen Glauben‘.“ Schmidt, Irmgard/Streitfeld, Erwin (Hrsg.) (1988): Briefwechsel Gottfried Keller – Emil Kuh. Zrich, S. 74 Gottfried Keller an Emil Kuh, 18. 11. 1873: „Das knbische Pamphlet des Herrn Nietzsche gegen Strauß habe ich auch zu lesen begonnen, bringe es aber kaum zu Ende wegen des gar zu monotonen Schimpfstiles ohne alle positiven Leistungen oder Oasen. Nietzsche soll ein junger Professor von kaum 26 Jahren sein, Schler von Ritschl in Leipzig und Philologe, den aber eine gewisse Großmannssucht treibt, auf anderen Gebieten Aufmerksamkeit zu erregen. Sonst nicht unbegabt, sei er durch Wagner-Schoppenhauerei [sic] verrannt und treibe in Basel mit ein paar Gleichverrannten einen eigenen Kultus. Mit der Straußbroschre will er ohne Zweifel sich mit einem Coup ins allgemeine Gerede bringen, da ihm der stille Schulmeisterberuf zu langweilig und langsam ist. Es drfte also zu erwgen sein, ob man einem Spekulierburschen dieser Art nicht noch einen Dienst leistet, wenn man sich stark mit ihm beschftigt. Doch werden sie wohl am besten selbst das Bedrfnis hiefr beurteilen. Ich halte den Mann fr einen Erz- und Cardinalphilister; denn nur solche pflegen in der Jugend so mit den Hufen auszuschlagen und sich fr etwas anderes als fr Philister zu halten, gerade weil dieses Whnen etwas so Gewçhnliches ist.“ Schmidt, Irmgard/Streitfeld, Erwin (Hrsg.) (1988): Briefwechsel Gottfried Keller – Emil Kuh. Zrich, S. 77 f Emil Kuh an Gottfried Keller, 27. 11. 1873: „Ihre Mitteilungen ber den ,Petrulierburschen‘214 in Basel [Nietzsche] besttigen die Ansicht und den Eindruck, welche ich nach der Lektre seiner Schandschrift gegen Strauß sofort gewonnen habe. Um zu erfahren, ob der freche Angreifer auch etwas positives bieten kann, das er in dem Pamphlet nicht geboten hat, ließ ich mir seine Broschre ber die ,Geburt der Tragçdie usw.‘ kommen, die allerdings Positives leistet, aber in der Sphre des Wahnsinns. Mir fiel dabei nur ein Wort Hebbels ein, der einst ber ein verrcktes Drama zu mir gesagt: ,Sehen Sie, das ist der 214 Kuh deutet Kellers schwer lesbare Handschrift in diesem Falle unrichtig, vielleicht in Anlehnung an frz. Petroleur – Mordbrenner, Keller schrieb Spekulierbursche.
454 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung Wahnsinn eines Stuhls, nicht eines Menschen! Die Tollheit des Verstandes, nicht der Phantasie oder des Gemts!‘ Leider gebe ich trotz meinen 45 Jahren zuweilen immer noch wilden Regungen des rgers ohne weiteres nach, und so habe ich mich hinreißen lassen, meine wichtige biographische Arbeit zu unterbrechen und vier Wochen an das Zerpflcken der Broschren des Herrn Nietzsche zu wenden. 70 Seiten meiner engen Hand habe ich darber geschrieben; vielleicht daß noch ein Auszug aus dem Manuskript in der ,Deutschen Zeitung‘ in Wien verçffentlicht wird.215 Herr Nietzsche ist Schopenhauern nicht als ,Jnger‘ gefolgt, er hat ihn vielmehr schamlos ausgeschrieben und des Philosophen hin und wieder unhaltbaren Strafkodex in betreff der deutschen Sprache auf den Stil Straußens angewendet. AperÅus ber die Unterschiede zwischen Kultur und Bildung hat er ohne Angabe der Quelle einem Aufsatz des Schweizers Rochholz entlehnt. Mit einem Wort ein Lump.“ Schmidt, Irmgard/Streitfeld, Erwin (Hrsg.) (1988): Briefwechsel Gottfried Keller – Emil Kuh. Zrich, S. 80 f David Friedrich Strauss an Ernst Rapp, 19. 12. 1873: „Der Nietzsche hat es ja den Leuten fçrmlich angethan. Es ging mir hier, wie es in der Entfhrung heißt: Erst gekçpft und dann gehangen…
Freilich, wenn es ihm gelungen ist, einen schon Gekçpften auch noch zu hngen, so war das Aufsehen, das er machte, nicht unverdient! Ihr seht brigens, wie vergeblich eure Bemhungen sind, einen schon 2fach Getçdteten wieder zu beleben. Auch wre es kaum wnschenswerth; denn in der Entfhrung heißt es weiter: Dann gespießt auf heiße Stangen; Was ja noch schmerzhafter als Hngen und Kçpfen sein muß.
Mir ist an dem Patron nur das psychologische Problem merkwrdig; wie man zu einer solchen Wut kommen kann gegen einen Menschen, der einem nie ins Gehege gekommen, – kurz, das eigentliche Motiv seines leidenschaftlichen Hasses begreife ich nicht. Doch lassen wir die Fratzen, und wenden uns den Musterbildern des Schçnen und Guten zu.“ Zeller, Eduard (Hrsg.) (1895): Ausgewhlte Briefe von David Friedrich Strauß. Bonn, S. 570 N an Carl von Gersdorff, 11. 2. 1874: „Gestern hat man in Ludwigsburg David Strauss begraben. Ich hoffe sehr dass ich ihm die letzte Lebenszeit nicht erschwert habe und dass er ohne etwas von mir zu wissen gestorben ist. – Es greift mich etwas an.“ KGB II/3, Bf. 345, S. 200 215 Das erwhnte Manuskript wurde erst aus Emil Kuhs Nachlaß verçffentlicht.
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Emma Guerrieri-Gonzaga an Nietzsche, 15. 5. 1874: „Als ich von Ihrer Schrift gegen Strauss hçrte und wie grob Sie darin seien, wollte ich dieselbe nicht lesen, denn ich verehre Strauss wie einen ehrlichen Kmpfer, der viel gethan hatte um den Sturz des morschen Gebudes der Vergangenheit herbeizufhren.Zum Aufbauen hatte er das Zeug nicht und hat sich in dieser Beziehung berschtzt; vielleicht hat er alle seine Krfte beim umreißen verausgabt. Aber ich zrnte Ihnen, daß Sie ihn so mißhandelten und wendete mich von Ihnen ab! – “. KGB II/4, Bf. 542, S. 470 Heinrich Kçselitz an Franz Overbeck, 14. 11. 1878: „Ich finde noch einen Zettel vor mir mit der Notiz aus der ,Neuen Freien Presse‘ (20. Okt. M): 20. Heft (II. Jahrg.) von Edlinger’s ,Literaturblatt‘ (Verlag I. Klinckhardt, Wien) ,Professor Nietzsche und David Friedrich Strauß.‘ Eine kritische Studie von E. Kuh. III. – Ist diess der, soweit ich ihn kenne, einen sehr intelligenten Eindruck machende Kuh, von dem Hebbel’s Biographie stammt, und ber welchen herzuziehen Gutzkow neuerlich sich gemssigt gefhlt hat? Soviel ich aber weiß ist dieser Kuh todt.“ Hoffmann, David Marc/Peter, Niklaus/Salfinger, Theo (Hrsg) (1998): Briefwechsel Heinrich Kçselitz – Franz Overbeck. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 3), S. 8 N, Nachgelassene Fragmente August – September 1885: „ – ich lachte ein armes anmaaßliches moderiges Buch çffentlich zu Tode, in das sich die deutsche Bildung venarrt hatte. – nun man kann auf Erden noch manchen gefhrlicheren Gebrauch von seinem Gelchter machen! Vielleicht habe ich selbst unversehens dabei einen alten Mann, den alten wrdigen David Strauß, virum optime meritum, ,umgebracht‘ – man giebt es mir zu verstehen.“ KGW VII/3, S. 423 N, Ecce Homo, Oktober 1888: „Drittens: ich greife nie Personen an, – ich bediene mich der Person nur wie eines starken Vergrçsserungsglases, mit dem man einen allgemeinen, aber schleichenden, wenig greifbaren Nothstand sichtbar machen kann. So griff ich David Strauss an, genauer, den Erfolg eines altersschwachen Buches bei der deutschen ,Bildung‘, – ich ertappte diese Bildung dabei auf der Tat.“ KGW VI/3, S. 272
Bauer, Bruno: Zur Orientirung ber die Bismarck’sche ra. Chemnitz, 1880, S. 287 f. Fr eine neue Auflage seiner [Treitschkes] Schriften mçchten wir ihm aber noch das Studium der Werke Friedrich Nietzsche’s empfehlen. Dieser deutsche Montaigne, Pascal und Diderot wird ihm in das Geschichtsleben, in die Charaktere
456 VI David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. Erste Unzeitgemße Betrachtung der Vçlker und in die Seele der alten und neuen Litteraturen Blicke erçffnen, die ihn ber die Beengtheit seiner particularistischen Ekstasen erheben kçnnten. Mçge er z. B. mit der Schrift des genannten Denkers ber „David Strauss den Bekenner und den Schriftsteller“ den Anfang machen. Vielleicht wird er durch die schçnen Erçrterungen Nietzsche’s ber die auch von Strauss getheilte Anbetung des Erfolges und ber den „Irrthum der çffentlichen Meinung, dass (nicht nur die Armee, sondern) auch die deutsche Cultur (im Krieg des Jahres 1870) gesiegt habe“, an seiner eigenen Befangenheit irre und ahnet er etwas von der Wahrheit des Nietzsche’schen Satzes, jener Irrthum sei „im Stande den Sieg (der Waffen) in eine vçllige Niederlage zu verwandeln: – in eine Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reichs. Mçge er durch die ferneren Ausfhrungen Nietzsche’s, dass von einem Siege der deutschen Cultur „aus den einfachsten Grnden nicht die Rede sein kçnne, weil (auch nach jenem Erfolg der militrischen Waffe) die franzçsische Cultur fortbesteht wie vorher und wir von ihr abhngen werden wie vorher“ sich zu einem grndlichen Studium der nationalen Culturen anreizen lassen und fr die Fortsetzung seiner historischen Arbeiten ber das neue Deutschthum sich von einem seiner schdlichsten Irrthmer befreien. Reaktionen N an Heinrich Kçselitz in Venedig, 20. 3. 1881: „Dagegen freilich hat der Verfasser der Aera Bismarcks mich ,den deutschen Montaigne Pascal und Diderot‘ genannt. Alles auf Ein Mal! Wie wenig Feinheit ist in solchem Lobe, also: wie wenig Lob!“ KGB III/1, Bf. 94, S. 73 Heinrich von Treitschke an Franz Overbeck, 11. 9. 1881: „Dein Unglck ist dieser verschrobene Nietzsche, der sich so viel mit seiner unzeitgemßen Gesinnung weiß und doch bis ins Mark angefressen ist von dem zeitgemßesten aller Laster, dem Grçßenwahn.“ Cornicelius, Max (Hrsg.) (1920): Heinrich von Treitschke. Briefe. Bd. 3, Leipzig, S. 535 N in Ecce homo: „Unbedingt fr mich entschieden sich nur einige alte Herren, aus gemischten und zum Theil unerfindlichen Grnden. […] Insgleichen der alte Hegelianer Bruno Bauer, an dem ich von da an einen meiner aufmerksamsten Leser gehabt habe. Er liebte es, in seinen letzten Jahren, auf mich zu verweisen, zum Beispiel Herrn von Treitschke, dem preussischen Historiographen, einen Wink zu geben, bei wem er sich Auskunft ber den ihm verloren gegangnen Begriff ,Cultur‘ holen kçnne.“ KGW VI/3, S. 315 f
VII
Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben. Zweite unzeitgemße Betrachtung. Reaktionen
Cosima Wagner, 25. 2. 1874: „Die Schrift unseres Freundes bildet den Gegenstand unserer Gesprche, der feurige Witz, mit welchem sie geschrieben ist, ist ganz erstaunlich.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In: Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 2, S. 1149 ff., 25. 2. 1874 Jacob Burckhardt an N, 25. 2. 1874: „Vor Allem ist mein armer Kopf gar nie im Stande gewesen, ber die letzten Grnde, Ziele und Wnschbarkeiten der geschichtlichen Wissenschaft auch nur von ferne so zu reflectiren wie Sie dieses vermçgen.“ KGB II/4, Bf. 512, S. 394 Richard Wagner an N, 27. 2. 1874: „In aller Krze htte ich Ihnen nur das Eine zuzurufen gehabt, dass ich einen schçnen Stolz empfinde, nun nichts mehr zu sagen zu haben, und Ihnen Alles Weitere berlassen zu kçnnen.“ KGB II/4, Bf. 513, S. 396 N an Carl von Gersdorff, Ende Februar 1874: „J. Burckhardt hat mir einen schçnen Brief geschrieben.“ KGB II/3, Bf. 348, S. 205 N an Erwin Rohde, 19. 3. 1874: „Gute Briefe habe ich, von vielen Seiten. Burckhardt, mein College, hat mir in einer Ergriffenheit ber die Lecture der ,Historie‘ etwas recht Gutes und Characteristisches geschrieben“. KGB II/3, Bf. 353, S.211 Erwin Rohde an N, 24. 3. 1873: „Du deducirst allzu wenig, sondern berlssest dem Leser mehr als billig und gut ist, die Brcken zwischen Deinen Gedanken und Stzen zu finden […] Noch einen Fehler habe ich zu rgen. Du verfolgst, so scheint mir, nicht ganz glckliche, oft recht stark hinkende Bilder, zuweilen weiter, als fr ihre Wirkung ersprießlich ist […] Noch Eins brigens, lieber Freund. Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob einzelne Stcke und Abschnitte zuerst fr sich fertiggearbeitet worden wren, und dann ohne in dem Fluß des Metalls vçllig aufgelçst worden zu sein, dem Ganzen eingefgt worden wren.“ KGB II/4, Bf. 525, S. 421 f
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VIII Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben
Malwida von Meysenbug an N, 8. 4. 1874: Aber warum schreibe ich Ihnen nur von so traurigen Dingen, wenn ich Ihnen doch lieber sagen sollte wie ich jetzt Ihre Schrift [2. Unzeitgemße Betrachtung. Vom Nutzen und Nachtheil, vgl. KGB Abt II, Bd 7/2, S. 628] zum zweiten Mal mit steigender Freude lese. Freilich ist es auch eine tragische Freude, aber alle wahre Freude ist das im Grunde und es erquickt wie Meerluft zu sehen wie in einer jugendlichen Seele die Kraft des Zorns und der gerechten Empçrung zur Flamme wird die wie das Morgenroth einer besseren Zukunft leuchtet. KGB II/4, Bf. 530, S. 433 Cosima Wagner, 9. 4. 1874 ber Wagners Ansichten ber das Buch: „Es ist die Schrift eines sehr bedeutenden Menschen, und wenn er sehr berhmt werden sollte, wird auch diese Schrift einst beachtet werden. Sie ist aber noch sehr unreif, alle Anschaulichkeit fehlt ihr, weil er niemals Beispiele aus der Geschichte gibt und doch viele Wiederholungen und keine eigentliche Eintheilung hat. Diese Schrift ist zu schnell erschienen. Ich weiß niemanden, dem ich sie zur Lektre geben kçnnte, weil ihm kein Mensch folgen kann. Die Grundidee hat Schopenhauer schon ausgesprochen. Nietzsche htte sie viel mehr vom pdagogischen Standpunkt aus erleuchten sollen.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. In Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (Hrsg.) (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. S. 1149 ff., 9. 4. 1874
Anonym: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben. In: Der Literaturfreund. Ein Fhrer fr Buchliebhaber und Bcherfreunde. Stuttgart, Bd. 1, Nr. 2, Okt. 1872 – Sept. 1873, S. 154. Dr. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemße Betrachtungen. Zweites Stck: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben. Leipzig. E. W. Fritzsch. 1874 Die Ereignisse der letzten vier Jahre haben ohne Zweifel dazu beigetragen, uns Deutsche von dem Fehler, der uns so oft vorgeworfen wurde, der Ideologie, zu heilen, unsere ganze Anschauungsweise mehr und mehr auf die Basis des Realen zu stellen. Eine solche Richtung mußte auch einer gesunden und lebendigen Auffassung der Aufgaben der Geschichte gnstig sein, und dem Titel nach ließ sich etwas der Art von der obigen Abhandlung erwarten: aber wir mssen gestehen, daß wir uns beim Durchgehen derselben vollkommen getuscht fanden. Auf mehr als hundert Seiten lateinischer Schrift fanden wir nichts als hçchst unklare, philosophisch sein sollende und prtentiçs klingende, vornehm thuende, mit dem jetzigen Zustand der Welt unzufriedene Aeußerungen, ohne auch nur einem einzigen Gedanken oder unter den vielen Anfhrungen auch nur einem Citat zu begegnen, das geeignet wre, ein neues Licht oder berhaupt
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nur Licht in den Gegenstand zu bringen. Diese Betrachtungen erscheinen uns dergestalt unzeitgemß, daß wir annehmen mçchten, sie seien in ihrem innersten Wesen nicht bloß vor dem Jahre 1870, sondern auch vor 1848 geboren; damals wurde Manches der Art geschrieben, aber, seitdem das politische Gewitter die Luft gereinigt hatte, nicht mehr gelesen. Und dabei wird es auch jetzt bleiben.
Carl Fuchs: Georg Riemenschneider. Composition fr Orchester. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 5, Nr. 23ff vom 5.,12., und 16. 6. 1874, S. 278 f, 292 f, 306 f. ber Nietzsches UB II S. 307. So hoffe ich denn auch, dass dieser „prliminarische“ Excurs mir nicht verargt werden soll, besonders wenn ich zu meiner Entschuldigung aus Fr. Nietzschens jngsten „Unzeitgemssen Betrachtungen“216 ein leider recht zeitgemsses Citat hiehersetze, eine Stelle, die, nirgends wahrer und wichtiger als in ihrer Anwendung auf Musik, wohl geeignet war, dem Kritiker eines musikalischen Wochenblattes Kopfschmerzen zu machen und ihn vor einer neuen Kritik wenigstens zu einer profession de foi in diesem Puncte zu drngen. Es heisst a.a.O. p. 51 – 52: „Es mag das Erstaunlichste geschehen, immer ist die Schaar der historisch Neutralen auf dem Platze, bereit, den Autor schon aus weiter Ferne zu berschauen. Augenblicklich erschallt das Echo: aber immer als „Kritik“, whrend kurz vorher der Kritiker von der Mçglichkeit des Geschehenden sich nichts trumen liess. Nirgends kommt es zu einer Wirkung, sondern immer nur wieder zu einer „Kritik“; und die Kritik selbst macht wieder keine Wirkung, sondern erfahrt nur wieder Kritik. Dabei ist man bereingekommen, viel Kritiken als Wirkung, wenige als Misserfolg zu betrachten. Im Grunde aber bleibt, selbst bei sothaner Wirkung, Alles beim Alten: man schwtzt eine Zeitlang etwas Neues und thut inzwischen Das, was man immer gethan hat. Die historische Bildung unserer Kritiker erlaubt gar nicht mehr, dass es zu einer Wirkung im eigentichen [sic] Verstande, nmlich zu einer Wirkung auf Leben und Handeln komme: auf die schwrzeste Schrift drcken sie sogleich ihr Lçschpapier, auf die anmuthigste Zeichnung schmieren sie ihre dicken Pinselstriche, die als Correcturen angesehen werden sollen; da wars wieder einmal vorbei.“
216 Zweites Stck „Ueber den Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben“. Leipzig, 1874, E. W. Fritzsch. – 100 S. 1 Thlr.
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VIII Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben
Hillebrand, Karl: Ueber historisches Wissen und historischen Sinn. In: Neue freie Presse. Wien, Morgenbltter Nr. 3542 und 3544 vom 7. und 9. 7. 1874. Ueber historisches Wissen und historischen Sinn. (Dr. Friedrich Nietzsche: „Unzeitgemße Betrachtungen.“ Zweites Stck: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben.“ Leipzig 1874.)217 Herrn Nietzsche’s Schriften haben immer das Verdienst, den Leser anzuregen, sei es zum Widerspruch, sei es zum Beifall, sei es zum Nachdenken. Sie sind stets schçn und lebendig geschrieben, in einer Sprache, welche bei aller Erregtheit rein, bei aller Bildung eigenthmlich bleibt. Die Gedanken haben zuweilen wol etwas Herausforderndes in ihrer paradoxalen Haltung, aber sie sind immer geistvoll. Der Verfasser nennt selber seine beiden letzten Schriften „unzeitgemße“; wir mçchten sie recht im Gegentheil „zeitgemße“ nennen: sie sind doch offenbar aus der Reaction gegen die Zeit hervorgegangen, wenden sie sich doch an die Zeit.218 Herr Nietzsche spricht in der That im Namen einer ganzen Classe von Deutschen und er spricht gegen eine ganze Classe anderer Deutschen. Sind seine Schriften etwas jugendlich, unfertig, mehr negativ als positiv, und werden sie dennoch mit eifriger Zustimmung Vieler, mit heftiger Einsprache der Mehrzahl gelesen, so ist das eben ein Beweis, wie unklar ghrend noch Alles in jener aufstrebenden Classe von Deutschen ist, wie sehr die andere, conservative sich in ihrem Besitze bedroht fhlt. Es ist wohl der Mhe werth, ehe wir Herrn Nietzsches These nher beleuchten, einen Augenblick ber den Zusammenhang dieser fast noch embryonischen Entwicklung einer neuen Geistesrichtung in Deutschland nachzudenken. Die Kriege von 1866 und 1870 haben die eigenthmliche Wirkung gehabt, einerseits wol dem deutschen Philister eine hohe behagliche Selbstzufriedenheit einzuflçßen und den deutschen Gelehrtenhochmuth bis zum Paroxysmus zu steigern, andererseits aber auch eine große Anzahl gelehrt Gebildeter zur Einkehr in sich selbst, zum Nachdenken ber ihre eigene Thtigkeit und den Werth 217 Die Artikel finden sich auch in: Hillebrand, Karl: Zeiten, Vçlker und Menschen. Bd 2, Berlin 1875. S. 311 – 338, allerdings ohne untenstehende Anmerkung der Redaktion und wenigen, inhaltlich unbedeutenden nderungen. 218 Die erste dieser Schriften, welche gegen David Strauss gerichtet ist, hat in weiten Kreisen den belsten Eindruck gemacht. Herr Nietzsche behandelt darin den berhmten Kritiker wie einen Schulknaben, dem man den deutschen Aufsatz corrigiren msse, und schilt ihn in geradezu pçbelhafter Weise herunter. Das thut derselbe Mann, der aus Anlaß seiner Schrift: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ sich wissenschaftlich die compromittirendsten Dinge mußte nachsagen lassen. Wenn wir nun die folgenden Feuilletons geben, so geschieht es weniger um der besprochenen Schrift, als um der geistvollen Reflexion willen, die unser geehrter Mitarbeiter an dieselbe knpft. D. Red.
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derselben anzuregen. Die Ueberlegenheit deutscher Wissenschaft sowol ber die anderen Vçlker und Zeiten als auch ber alle anderen Thtigkeiten dieser Epoche und der deutschen Nation war in den letzten zwanzig Jahren zu einem recht monotonen Schlagwort, mehr noch, zu einem unanfechtbaren Glaubensartikel geworden. Ja, wer damals nach Deutschland hingehorcht htte, dem wre es wol vorgekommen, als ob alles nationale Leben sich in den Regionen concentrire, wo man eben jener Wissenschaft ex professo oblag, oder sich hçchstens bis zu den Kreisen ausdehne, welche, von jenen Regionen ausgehend, mit ihnen in stetem Zusammenhang bleibend, nach ihnen hinblickend, in den Kammern und in der Presse die çffentliche Erçrterung staatlicher Fragen sich ausschließlich angemaßt hatten. Mit welch vornehmer Verachtung sprach man nicht in solchen Kreisen von der geistlosen Bureaukratie, dem pedantischen Militrwesen, dem eitel-unwissenden Junkerthum, welche das deutsche Staatsleben berwuchernd erstickten. Da kommt unerwartet der entscheidende Augenblick der That, und siehe da, anstatt jener vielverlumdeten SchmarotzerVegetation zeigt sich ein hochgebildeter, patriotischer Beamtenstand, ein Nationalheer, wie’s noch kein Volk gekannt, und ein zahlreicher Kleinadel, der das Beispiel des Muthes, der Pflichttreue, der gediegensten Kenntniß seiner Profession giebt. Whrend nun die Mehrzahl jener gelehrt Gebildeten, obschon es ihnen unbehaglich zu Muthe wird, doch fortfhrt, sich als die Nation, diese so plçtzlich und so glnzend hervorgetretenen Elemente aber nur als Resultate ihrer Thtigkeit, ihrer Bestrebungen zu betrachten, fangen andere in diesen Kreisen an, irre zu werden an sich selbst, an ihren Lehrern, an deren Lehren. Entweder fragen sie sich, ob denn wirklich ihr Vaterland vornehmlich in diesen ihren Sphren lebt, oder sie fassen den Muth, sich diese Sphre nher anzusehen, zu prfen, ob die nationale Lebenskraft, die sie einst in sich geschlossen, noch immer da ist oder ob sie nicht mittlerweile in andere Gegenden, auf andere Schichten des Volkes bergegangen ist. Da merken sie denn bald zweierlei: erstens, daß jene emsigen Bienenkçrbe, trotz aller Arbeit, alles Schwirrens, nur noch sehr wenig Honig sammeln und daß, wenn die rastlosen Arbeiterinnen in denselben jeden fremden Ein- oder Andringling so heftig mit ihren Stacheln verfolgen und forttreiben, sie wol das unheimliche Bewußtsein einer Unfruchtbarkeit haben, die sie gerne verbergen mçchten. Zweitens aber wird der Prfende bald erkennen, wie wenig Zusammenhang zwischen der Arbeit und den Arbeitenden ist. Er staunt, daß diese unausgesetzte Beschftigung mit der Wissenschaft die Menschen, die sich ihr hingeben, nicht tiefer berhrt, mit anderen Worten, daß die Wissenschaft ihre bildende Kraft verloren zu haben scheint. Vergleicht er nun den lrmenden Hochmuth und die relative Sterilitt der modernen deutschen Gelehrsamkeit mit der Bescheidenheit und den ungeheuren Erfolgen, welche Handel, Beamtenstand und Heer in aller Stille vorbereitet und so vollstndig erzielt haben, so wird er wol bitter gegen seine
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Standes- und Fachgenossen und wirft ihnen in heftigen Worten ihre Schuld vor. Diese Erbitterung steigert sich noch, wenn er sieht,daß jene Herrscher im deutschen Geistesleben, jene geistigen Erzieher des deutschen Volkes auch nach Außen hin Manches gehemmt und gelhmt, in allem aber die wirkliche Nation – Handels-, Beamten- und Militrstand – anstatt ihren Geschmack zu bilden, in ihrer Formlosigkeit und ußeren Rohheit bestrkt haben. Da ereifert er sich und, wie es zu gehen pflegt, wird er recht ungerecht in seinem Eifer. Er meint, wenn er nur darauf losschlge, nur das hohle Gebude zertrmmere, in dem die Schatten vergangener Zeiten ihr Wesen treiben, so habe er schon eine gute That gethan. So hat sich unter den jngeren Gelehrten eine Art radicaler Opposition gebildet, welche nur allzu gern das Kind mit dem Bade ausschttet und sich, im dunklen Bewußtsein dessen, was ihr selber fehlt, manchmal gar wild geberdet. Es ist wieder eine Schaar von Strmern und Drngern im Anzug, wie im Jahre 1770, und Herr Nietzsche ist einer ihrer geistvollsten und muthigsten Huptlinge, aber – der Herder ist er doch nicht, der dem dunklen Drange der Mitstrebenden Richtung und Ziel wiese: er lßt es frs erste beim Niederreißen bewenden. Vielleicht soll dieser Sturm und Drang berhaupt seinen Herder nicht haben, wie auch jener der Romantiker ihn nicht fand; denn er ist, was auch Herr Nietzsche, der selber tief drinnen steckt, dagegen sagen mag, ein Sturm und Drang der Verneinung, der Reue, der regrets; er hat seinen Ursprung im Gefhle des verfehlten Weges, den man eingeschlagen; keinem jungen Manne aus den Kreisen, in denen heute das nationale Leben pulsirt, wird es einfallen, sich an diesem Sturm und Drang zu betheiligen; den berlsst er uns Gelehrten, die zu alt sind, umzusatteln, zu jung – und zu ehrlich – sich in dem wesenlosen Getriebe ihrer Sphre behaglich zu fhlen. Die Sache ist: Deutschland hat die Bedeutung der Wissenschaft berschtzt; die Trger derselben haben sich als Vertreter der Nation betrachtet, und die draußen stehende ungehuere Mehrzahl der Nation hat sich in rhrender Bescheidenheit vor ihnen zurckgestellt, sie in ihrer Selbstberschtzung bestrkt. Staat, Religion, Kunst, Gesellschaft wurden der Wissenschaft untergeordnet oder sollten doch von ihr inspirirt werden.Und es ist ganz natrlich, daß es so gekommen. Die deutsche Wissenschaft – und ich spreche hier wie in dieser ganzen Ausfhrung allein von den historischen Wissenschaften – hat am Ende des vorigen und am Anfange dieses Jahrhunderts so Gewaltiges geleistet, whrend Staat und Handel, Kunst und Religion so wenig zuwege brachten; sie hat damals so offenbar die besten Krfte der Nation an sich gezogen, in ihrem Dienste verwendet,daß es nicht auffallen kann, wenn man des leise eingetretenen Umschwunges nicht gewahr wurde. In der That sind dem rckwrts Schauenden schon in den Dreißiger – Jahren die Symptome dieses Umschwunges bemerkbar. Das bedeutendste, das in die Augen fallendste unter diesen Symptomen hat Jeder schon genannt: es ist der Zollverein, der erste nationale Erfolg des preußischen Beamtenthums. Indessen trieben’s die Leute
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noch dreißig Jahre lang so weiter, gruben fort in den Schachten, die ihre Vter geçffnet, indem sie die von ihnen berkommenen Werkzeuge und Methoden noch vervollkommneten. Am Ende ward ihnen natrlich die Methode die Hauptsache; sie fuhren fort zu graben und zu graben, nachdem schon lngst kein Gold – oder doch gar wenig Gold – mehr zu finden war in den Minen, und bemerkten gar nicht, daß unterdessen draußen die Nation auf den gewaltigen Gedanken jener großen Vter das neue Gebude in ruhigem, anspruchslosen Fleiße auffhrte, unter dem sie ein neues Leben beginnen wollte. Da es nun auf einmal so strahlend und herrlich dastand, fiel’s plçtzlich einigen Jngeren da drinnen ein, daß doch vielleicht ihr „methodisches“ Arbeiten nicht Alles sei, daß einige vereinzelte Goldadern – und wer wollte leugnen, daß gar mancher historische Bergknappe der letzten dreißig Jahre noch beraus kostbares Metall an den Tag gefçrdert? – sie ber den Werth des ganzen Treibens geblendet und getuscht. Sie mçchten umkehren; aber es ist zu spt, und so meutern sie in ungerechtem Zorne gegen ihre Fhrer – als ob sie nicht selber diese Fhrer, diese Thtigkeit gewhlt! Ein Grundirrthum dieser jugendlichen Mnner und speziell dieses ihres Wortfhrers kommt daher, daß sie Deutschland noch immer fr eine große Universitt halten und meinen, jeder Deutsche sei ein Privatdocent oder Professor der Geschichte und Philologie. Gingen sie einmal nach Hamburg oder Chemnitz, so wrden sie schon genug und nur zu viele „unhistorische“ Deutsche finden, und blickten sie ein wenig in die Berufsthtigkeit deutscher Beamten und Offiziere, so wrden sie sich schon berzeugen, daß die „hypertrophische Tugend“ der Historik sie nicht am raschen, sicheren, dem Augenblick gemßen Handeln hindert. Andererseits, wie sehr sich auch unsere Gelehrten berheben mçgen, wir mssen doch auch ihre Verdienste in dieser Richtung nicht verkennen. Die deutsche historische Wissenschaft der letzten dreißig Jahre war ihrem ganzen Charakter nach national und protestantisch. Die Herren Professoren mçgen sich noch so viele Illusionen ber ihre Objectivitt machen, ber ihre wissenschaftliche Unbestechlichkeit und Gewissenhaftigkeit, ber die Unfehlbarkeit ihrer wunderbaren Methode – und ich glaube wirklich, kme heute Thukydides vor’s Publikum, ein Privatdocent aus Leipzig oder Gçttingen wrde dem unglcklichen Historiker, der nicht aus dem Ranke’schen oder Waitz’schen Seminar hervorgegangen, in irgend einem „literarischen Centralblatt“ schon seinen Mangel an Methode recht grndlich auseinanderzusetzen wissen – unsere akademischen Lehrer der Geschichte mçgen sich noch so sehr ber die Unsicherheit alles historischen Wissens und ber die Unmçglichkeit aller Feststellung anderer als der grçbsten, summarischesten Thatsachen zu tuschen suchen; sie haben, ohne es zu wollen und zu wissen, den protestantischen und nationalen Interessen gedient, ihnen zuliebe die Geschichte gebeugt, in diesem Sinne die Thatsachen gesichtet und zusammengestellt. Die Beamten, welche einst auf der
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Universitt diesen Studien nahegekommen, haben den Wust des Wissens bald genug abgeschttelt und vergessen; die nationale und protestantische Tendenz ist ihnen allein von all dem Detail geblieben. Die Brger und Officiere, welche sich durch die Werke jener Gelehrten durchgearbeitet oder aus den Zeitungsartikeln, sei’s den Nachklang, sei’s den Auszug solcher Werke aufgenommen haben, kmmern sich wenig um das „Quellenstudium“, auf das die Herren Verfasser so stolz sind; sie folgen der Richtung, welche der Schriftsteller in der geschichtlichen Entwicklung findet, oder in sie hineingelegt, oder gar von seinen Lesern selber sich aufzwingen lßt – und das ist die nationale und protestantische. So, und nur so, haben unsere Gelehrten am Gang der deutschen Dinge mitgewirkt; die Nation war von dem nationalen und anti-katholischen oder vielmehr anti-christlichem Geiste bewegt seit den Zwanziger-Jahren; diesen Geist theilte sie der Gelehrtenwelt mit und war derselben dankbar, wenn sie von ihr mit einem ungeheuren Aufwande von Forschung, Kritik und System autorisirt ward, diesen ihren Geist als legitim zu betrachten. In Frankreich und in England bereiteten geistvolle Politiker, wie Thiers und Macaulay, der Nation ihre historische Nahrung; in Deutschland waren es die Professoren. Was Wunder, wenn sie etwas trocken schmeckte, was Wunder, wenn die Lehrer und Schriftsteller, welche dem wirklichen Staatsleben so ganz fern standen, das Wichtige vom Unwichtigen, das Nçthige vom Unnçthigen nicht zu unterscheiden wussten? Die Nation hat doch aus alledem das ihr Zusagende heraus gesprt und sich zunutze gemacht. Fr’s praktische Leben freilich hat sie dabei nicht lernen kçnnen, was ein Grieche und Rçmer, ein Franzose und Englnder aus ihren Historikern lernen mochten. Es ist eben mit der deutschen Historik wie mit der deutschen Philosophie und dem grçßten Theile der deutschen Literatur: sie ist vorzugsweise von Gelehrten fr Gelehrte geschrieben, und selbst dem Laien, der sich mit ihr beschftigt, bleibt stets ein wenig Staub auf den dadurch gewonnenen Anschauungen und Gedanken sitzen, den er dann große Mhe hat, wieder abzuschtteln; denn der Deutsche, selbst der, welcher nicht den gelehrten Kreisen ex professo angehçrt, wird gewçhnlich erst nachdem er die Dreißiger zurckgelegt, wieder jung und verhltnismßig frisch, natrlich in Urtheil, Auffassung, Aufnahme von Eindrcken. Das System, die Abstraction, das fertig ihm aufgezwungene Urtheil haben ihm die natrliche, unmittelbare Anschauung stets schon getrbt; und wenn sie auch nicht tief genug eingedrungen sind, um ihn in seinem Handeln zu hemmen, so hindern sie ihn doch entschieden daran, daß er die Gegenstnde unbefangen und direct auf sich wirken lasse. Das dunkle Gefhl, daß dem so sei, war es auch, was die Strmer und Drnger, was zwanzig Jahre spter die Romantiker, was in unserem Jahrhundert das junge Deutschland zum Kampf gegen die gelehrte Bildung im Allgemeinen und gegen das Treiben der Universitts-Professoren im Besonderem aufregte, und zwar stets mit der Uebertreibung und Heftigkeit, welche den Abtrnnigen eigen zu sein pflegt. Nie hat ein Grieche, ein Rçmer, ein Englnder
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oder ein Franzose, die Alle aus dem Leben herausschrieben, das Recht des Lebens auf Heinse’sche, Friedrich Schlegel’sche, Heine’sche Weise gegen die Schule geltend gemacht. Die ewige Forderung, Literatur und Leben zu versçhnen, sich gegenseitig durchdringen zu lassen, welche jede aufsteigende Generation wieder in Deutschland erlebt, hçrt man dort nie; eben weil die gegenseitige Durchdringung dort bestand und besteht. Wir sind aber alle, Herr Nietzsche nicht ausgenommen, entkuttete Schulmeister; daher unsere Wuth gegen die Schulstube und – unsere Unbeholfenheit im Gebrauche der errungenen Freiheit, unsere Tppigkeit, wenn wir uns als Cavaliere geberden wollen, ohne unsere Bildung daheim zu lassen, „die Bnke zu hten“. Herr Nietzsche ist aber auch ungerecht gegen die deutschen Gelehrten selber, wie er es gegen ihre Wirksamkeit ist. Ihre Untugenden sind doch nur die ihres Standes, nicht unserer Zeit, unseres Volkes. Der Gelehrte, der aus der Wissenschaft seinen Broterwerb macht, nimmt stets eine unvortheilhafte Stellung ein und er gleicht dem Priester, der von seinem Altar lebt. Mit der Idee der Wissenschaft, wie mit der Religion, verbindet sich immer die der Uneigenntzigkeit,und die Vertheidigung der persçnlichen, irdischen Interessen, welche uns bei anderen Stnden ganz natrlich erscheint, ducht uns hier verletzend, unzart; wir protestiren sofort gegen den Geist der Coterie, sobald sich diejenigen gereizt zur Abwehr zusammenschaaren, welche uns durch ihre Thtigkeit selber ganz besonders zur Duldung oder zur Verachtung der Gegner verpflichtet scheinen. Wie im Allgemeinen der Widerspruch zwischen der hohen, gçttlichen Mission des Priesters mit der schwachen menschlichen Natur stets einen Missklang hervorrufen muß, sobald der Trger jener Mission sich dieser seiner Schwche und Unzulnglichkeit nicht ganz bewußt bleibt; wie speciell der Gegensatz zwischen der gepredigten Demuth und dem gebten Hochmuth uns am Geistlichen so sehr beleidigt; ebenso ist uns die Rohheit der Gemther oder der Formen bei Menschen, die mit dem gerhmten Bildungsmittel der Wissenschaft fortwhrend umgehen, ganz besonders verletzend. Das war aber Alles gerade so in den Tagen und dem Vaterlande Filelso’s und Poggio’s wie heute im gelobten Lande der Universitts-Professoren. Man irrt sich eben ber die bildende Wirkung der historischen Wissenschaft. Diese Wirkung bt die Geschichte nur aus, so lange sie knstlerisch oder philosophisch oder politisch angeschaut und betrieben wird. Und dies fhrt uns wieder zu Herrn Nietzsche’s eigentlicher These zurck; denn seine Unterscheidungen der historischen Betrachtungsweisen, so sonderbar auch die Benennungen sein mçgen, laufen auf das soeben Gesagte hinaus. II. Herr Nietzsche meint, man kçnne sich der Vergangenheit gegenber auf dreierlei Weise verhalten: entweder historisch, indem man sie als ein Wirkliches vor Augen behalte, oder unhistorisch, indem man sie vergesse, oder endlich berhistorisch, indem man sie contemplativ betrachte. Er ist mit Recht der
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Ansicht, der handelnde Mensch msse wechselweise historisch und unhistorisch zu sein wissen, das heißt sich bald den Zusammenhang mit der Vergangenheit lebhaft vergegenwrtigen, bald ihn ganz außer Augen lassen, bald sich selber als Fortsetzung einer Entwicklung, bald als Centrum derselben ansehen. Auch verhehlt er nicht, obschon er sich fr diesesmal nur an den Handelnden wendet, daß ihm im Grunde der „berhistorische“ Mensch, der die Geschichte knstlerisch oder philosophisch, das heißt als die ewige Einerleiheit des Willens zum Leben in den verschiedensten Erscheinungsformen auffasst, hçher steht als der historische oder unhistorische Mensch. Bei dem Lebendigen nun, dem Handelnden, sei kein Gleichgewicht in Deutschland, meint der „Unzeitgemße“, da herrsche die historische Seite vor, berwuchere, ersticke das frische, unbefangene, naiv-egoistisch unhistorische Leben und Handeln. In der That kçnne man die Historie auf drei Weisen auf sich wirken lassen, die alle ihre Vortheile fr das Leben htten, freilich auch ihre Nachtheile; diese aber berwçgen jene im heutigen Deutschland. Die Historie wirkt monumental – wir wrden statt der bizarren Bezeichnung lieber den Ausdruck „exemplarisch“ vom Juristen entlehnen – wenn vergangene Grçße uns vorschwebt, sei’s um uns zur That aufzumuntern, indem sie uns die Mçglichkeit des Großen zeigt, den Ruhm vorhlt, den die Geschichte dem Handelnden bereitet; sei’s um uns von der That abzuschrecken, indem sie uns die eigene Kleinheit ins Gedchtniß ruft oder, den trivialen Ausdruck zu gebrauchen, mit den Todten die Lebendigen todtschlgt. Die Historie kann aber auch antiquarisch behandelt werden, welche Behandlungsweise im conservativen Sinne ihren Ursprung hat und conservativ auf das Leben wirkt. Piett und Trieb nach Aufrechterhaltung des Zusammenhanges mit der Vergangenheit fhren zu dieser Art von Historik, welche wohlthtig bleibt, so lange sie nicht in unterschiedslose Werthschtzung alles Vergangenen, das heißt in blinden Conservatismus oder „gelehrtenhafte Gewçhnung“ ausartet. Endlich kann man der Geschichte auch kritisch gegenberstehen, indem man ihre tausend Fesseln, mit denen uns die Vergangenheit belastet hat, zerreißt, damit das Leben wieder Raum gewinne – ein gar gefhrliches und schmerzliches Vorgehen,das man aber mit dem unhistorischen Sinne zu verwechseln sich hten muß; dieser vergißt die Vergangenheit und lebt und handelt, als wre es nie gewesen. Der kritische Sinn richtet sich gegen sie, um sie zu zertrmmern; er wre es, den man als den Reactionr par excellence darstellen sollte, whrend er in der That als der Revolutionr verschrien ist. Alle diese drei Behandlungsweisen der Geschichte nun wirken nur noch in ihrem schlimmsten Sinne auf Deutschland, wenn wir Herrn Nietzsche Glauben schenken sollen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Historie Wissenschaft zu werden prtendirt hat. Daher sei es gekommen, daß all unsere Bildung „nur ein Wissen um Bildung“ geworden, daß „ein merkwrdiger Gegensatz eines Innern, dem kein Aeußeres, eines Aeußeren, dem kein Inneres
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entsprche“, entstanden sei, daß „der moderne Mensch eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herumschleppe“. Mit anderen Worten, die Geschichtswissenschaft hat Deutschland daran verhindert, eine nationale Cultur zu haben. Wie aber hat das die Geschichtswissenschaft zuwege gebracht? Durch die Verußerlichung des Wissens, antwortet Herr Nietzsche; sie hat den Menschen in sich entzweit, den Wissenden vom Handelnden und Fhlenden getrennt und so die Persçnlichkeit geschwcht. Sie hat ein solches Gewicht auf die Objectivitt gelegt, daß das Subject, der eigentliche Trger der Geschichte und das auch allein sie zu schreiben, berufen sein sollte, sich dabei ganz selbst aufgegeben hat oder aufgegeben zu haben glaubt. – Zweitens hat die Geschichtswissenschaft die Einbildung unserer Zeit gefçrdert, „daß sie die seltenste Tugend, die Gerechtigkeit, in hçherem Grade besitze als jede andere Zeit“, indem sie meint, jene ihre gerhmte Objectivitt sei nichts Anderes als Gerechtigkeit, whrend doch diese nur von starken Richtern, nicht von gleichgiltigen Eunuchen gebt wird. – Drittens wurden durch dieses Uebermaß von historischem Wissen „die Instincte des Volkes gestçrt und der Einzelne nicht minder als das Ganze am Reifwerden gehindert“. Schon frh wird der sichere Blick getrbt und geblendet durch „allzu helles, allzu plçtzliches, allzu wechselndes Licht. Die Masse des Einstrçmenden ist so groß, das Befremdende, Barbarische und Gewaltsame dringt so bermchtig . . . . . auf die jugendliche Seele ein, daß sie sich nur mit einem vorstzlichen Stumpfsinn zu retten weiß“; das heißt, man ist blasirt, ehe man noch das Leben kennt. – Viertens aber wird durch jenes Uebermaß „der jederzeit schdliche Glaube an das Alter der Menschheit, der Glaube, Sptling und Epigone zu sein, gepflanzt“. Unsere ganze geschichtliche Bildung strebt also verkappt dahin, wohin das Christenthum offen strebte: die Zukunft als werthlos darzustellen, die pflanzende, schaffende Thtigkeit, welche auf jene Zukunft als etwas Wirkliches hinwirken mçchte, zu lhmen, als werthlos darzustellen, uns stets als Erben, nie als Erblasser zu betrachten, uns zu beweisen, „daß es gut sei, alles Geschehene zu wissen, weil es zu spt dafr sei, etwas Besseres zu thun“. Dieser sterile Hochmuth nun, der unsere Generation als Zweck und Vollendung der weltgeschichtlichen Entwicklung hinstellt (wie das Christenthum Natur, Menschheit, Universum fr die Anhnger der alleinseligmachenden Kirche geschaffen glaubte), bringt endlich fnftens eine Zeit „in die gefhrliche Stimmung der Ironie ber sich selbst und aus ihr in die noch gefhrlichere des Cynismus; in dieser aber reist sie immer mehr einer klugen, egoistischen Praxis entgegen, durch welche die Lebenskrfte gelhmt und zuletzt zerstçrt werden“. Aus dieser, fr Herrn Nietzsche namentlich durch E. v. Hartmann vertretenen, tçdtlichen Weltanschauung kann uns nur die Jugend retten. Sie leitet unser Geschlecht „zu einem Proteste gegen die historische Jugenderziehung des modernen Menschen“, sie fordert, daß „der Mensch vor Allem zu leben lerne und nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie gebrauche“. So allein kçnnen wir
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wirklich zu dem kommen, was uns so sehr fehlt, einer nationalen Kultur, welche „nur aus dem Leben hervorwachsen und herausblhen kann“. . . Die deutsche Jugenderziehung dagegen bezweckt eine ußerliche, vom Leben getrennte Cultur, d. h. ein Wissen. „Ihr Ziel, recht rein und hoch gedacht, ist gar nicht der freie Gebildete, sondern der Gelehrte, der wissenschaftliche Mensch, und zwar der mçglichst frh nutzbare wissenschaftliche Mensch, der sich abseits von dem Leben stellt, um es recht deutlich zu erkennen; ihr Resultat, recht empirischgemein angeschaut, ist der historisch-sthetische Bildungsphilister, der altkluge und neuweise Schwtzer ber Staat, Kirche und Kunst . . .“ Mit dieser Erziehung muß gebrochen werden, und jeder Jngling muß sich vor Allem von der Abwesenheit einer deutschen Cultur berzeugen, er muß wieder „unhistorisch“ werden und vergessen lernen und zugleich „berhistorisch“, indem er seinen Blick auf Kunst und Religion richtet. Freilich wird die erste Generation dadurch nicht zum Ziele gelangen, sie muß sich aufopfern fr die nachfolgende. Sie muß thun, was einst die Griechen gethan, als sie mitten im Chaos von auslndischen, semitischen, babylonischen, lydischen, egyptischen Formen und Begriffen sich auf sich selbst zurckbesannen, jenes Chaos organisierten und eine eigene Cultur schufen. Anstatt Convention und Maskerade, wie jetzt, werden Kunst und Religion diese Cultur anpflanzen, welche in der „Einheit des deutschen Geistes und Lebens nach der Vernichtung des Gegensatzes von Form und Inhalt, von Innerlichkeit und Convention“ bestehen soll. Dies das drre Gerippe des Nietzsche’schen Raisonnements, daß der talentund geistvolle, selbstdenkende, erregte Verfasser mit dem Fleische einer lebendigen, originellen, stellenweise hinreißenden Sprache umkleidet hat; und es hat uns wahrlich nicht wenig Ueberwindung gekostet, so unbarmherzig den Kern der merkwrdigen Schrift aus seiner schçnen Schale loszulçsen. Fragen wir uns nun aber, ob wir trotz aller Sympathien auch mit dem Kopfe immer des Schriftstellers Partei nehmen, seine Thesen zu den unsrigen machen kçnnen, so mssen wir sofort unsere Reserven machen. Ja, im Allgemeinen scheint uns Herr Nietzsche das Richtige getroffen zu haben; aber auch im Einzelnen? Und namentlich, hat er in seiner Zerstçrungswuth nicht gar zu sehr vergessen, daß, wer uns so viel nimmt, uns auch etwas geben muß? Nur vorbergehend wollen wir uns noch einmal an das schon in unserem ersten Aufsatze Gesagte erinnern, indem wir die Prmisse der ganzen Schrift fr viel zu weit gegriffen erklren. Herr Nietzsche spricht, als ob die ganze deutsche Nation eine akademische Erziehung genossen und im historischen Wissen erstickt wre. Dies ist durchaus auf die schriftstellernden Deutschen zu beschrnken, oder es ist doch jedenfalls festzustellen, wie wir es gleichfalls schon gethan, daß die nicht-schriftstellernden Deutschen, welche eine solche historische Ueberbildung erhalten, dadurch wol in ihren Anschauungen und Urtheilen, keineswegs aber in ihrem Handeln gelhmt und irre gemacht werden. Das haben sie im Kriege gezeigt, das zeigen sie schon lange jedem Aufmerksamen in
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ihrem Auftreten außerhalb der Sphre unserer Civilisation, sei es als Reisende im Himalaya und an den Quellen des Nil, sei es als Kaufleute in Japan und China, sei es als Abenteurer in Mexico und San Francisco. Wrden sich endlich einmal unsere Romanschriftsteller, Historiker, Reisebeschreiber, Dichter, Dramatiker unter freien Menschen recrutieren, anstatt unter freigelassenen oder noch im Joche ziehenden Kathedermnnern, so wrde wol auch unsere Literatur jenen abstracten Character verlieren. Man lese nur heute die politischen Reden von 1862 eines deutschen Kammerredners, wie Herrn Professor Virchow’s oder selbst Herrn Professor Gneist’s, und vergleiche sie mit denen Bismarck’s, die heute noch gerade so frisch, inhaltsvoll und anregend sind als vor zehn Jahren, und man wird sofort verstehen, was wir meinen. Warum sollte nicht auch frher oder spter ein knstlerisch begabter Officier uns eine Geschichte des deutschfranzçsischen Krieges geben? Es ist ohne Zweifel ein großer Irrthum der deutschen Professoren gewesen, aus der Geschichte eine Wissenschaft machen zu wollen, was sie ihrer Natur nach nicht sein kann, aber es ist ihnen doch glcklicherweise bis jetzt nicht gelungen, die Geschichte als Wissenschaft in die Jugenderziehung, speciell in den Gymnasial-Unterricht einzufhren. Es mag Ausnahmen geben, aber im Allgemeinen lßt der Lehrer der Geschichte seine Kritik vor der Schulstubenthr und lehrt die Geschichte, sei’s dogmatisch, sei’s erzhlend, wie der Lehrer des Griechischen wol auch seine Conjecturen und Emendationen dem Schler meistens nicht vortrgt, sondern ihm den gedruckten Text seines Alten als das Gegebene, Unzweifelhafte in die Hand gibt. Daß beide aber selber daheim die Details geprft, ist eine Nothwendigkeit. Nicht daß wir unfehlbare Methoden htten, um hinter den historischen Thatbestand oder den ursprnglichen Text eines Schriftstellers zu kommen, wol aber weil nur wer alles Einzelne geprft, das Ganze so besitzen kann, daß er es Anderen mitteilen darf. Das will nicht sagen, daß unser sowie berhaupt das europische Unterrichtssystem nicht einer tiefgehenden Vernderung bedrfe; wir glauben sogar, daß aller Geschichtsunterricht in den niederen Classen sich auf das Lesen des Herodot, des Plutarch, des Cornelius Nepos, Joinville’s, Muntaner’s u.s.w., in den hçheren Classen auf das Einprgen der Rahmen beschrnken msste, welche der Schler frher oder spter durch Lectre auszufllen htte. Wir sind ferner der Ueberzeugung, daß das Studium der alten Sprachen fnf Jahre spter als es geschieht, das heißt erst nach vollendetem dreizehnten Lebensjahre begonnen, die Grammatik von der robusteren Intelligenz des Knaben in zwei Jahren im Wesentlichen erlernt und die drei bis vier brigen Jahre ausschließlich dem cursiven Lesen der Classiker gewidmet werden kçnnten. Wir halten endlich dafr, daß die ersten sechs Jahre des Unterrichts nur zur Strkung des Gedchtnisses und des Beobachtungsvermçgens verwendet werden sollten219 aber 219 Der Schreiber dieses war zu der Ueberzeugung von der Ntzlichkeit dieser Reform durch
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aus Alledem folgt noch gar nicht, daß die Kenntniß des Vergangenen keinen Theil des Jugendunterrichts mehr ausmachen, noch weniger, daß unsere Lehrer nicht fortfahren sollten, auf der Universitt sich eine gelehrte Bildung zu erwerben. Oder glaubt Herr Nietzsche, daß die deutschen Gymnasial-Lehrer je aus der Reihe der Geschftsleute, der Staatsmnner oder der Knstler hervorgehen kçnnten? Nur eines halten wir fr ein wirkliches Unheil, und das ist, daß unsere Historiker sich nicht aus diesen Kreisen recrutiren, wie es Herodot und Thukydides, Sallust und Csar, Macchiavelli und Guicciardini, Clarendon und Grote, Mignet und Thierry gethan. Wie sehr die Theilnahme am wirklichen Staatsleben, sei sie auch noch so indirect – dem Historiker zugute kommt, sieht man auf den ersten Blick, wenn man ein Werk Sybel’s oder Treitschke’s mit einem Werke Wachsmuth’s oder Schfer’s, ja Leo’s und Schlosser’s vergleicht. Man fhlt schon den Uebergang aus der absurden Methode der „wissenschaftlichen“ Behandlung der Geschichte zur knstlerischen und politischen, welche die allein statthaften sind, solange man sie nicht eben „berhistorisch“, d. h. philosophisch betrachten will. Warum aber Geschichte nimmer, wie Physik oder Chemie, eine Wissenschaft werden kann, das haben hervorragende Denker, wie Montesquieu, Wilhelm v. Humboldt und Schopenhauer, so unwiderleglich dargestellt, daß es uns als eine unnçthige Dreistigkeit erscheinen kçnnte, wollten wir diese ihre Darweisung hier abgeschwcht noch einmal vorbringen. Herr Nietzsche meint, der historische Sinn, welcher doch eigentlich die Grundlage der ganzen deutschen Bildung von Winkelmann bis auf Hegel ausmacht, sei vom Uebel; er habe uns gelehrt, ber dem Werden das Sein zu vergessen, er habe uns das Gefhl und damit auch die Kraftlosigkeit des Epigonenthums eingeimpft. Ueber den Werth des historischen Sinnes an sich wollen wir nicht rechten. Man darf nie vergessen, wie er sich in Deutschland nur als Reaction gegen den Mechanismus und Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts entwickelt hat. Daß er allein jenen „berhistorischen“ Standpunkt, der Herrn Nietzsche mit Recht so berlegen dnkt, mçglich macht, scheint uns unwiderleglich; daß er aber durchaus in den Augen seiner ersten Verknder, vor allem Hamann’s und Herder’s, nicht eine Vernichtung oder nur Geringschtzung der Persçnlichkeit implicirte, beweist ein Blick auf ihre Schriften. Denn recht im Gegentheile dachten und sagten sie, als sie das Wachsen dem Machen, das Werden dem Absoluten, den Organismus dem Mechanismus entgegensetzten, der hçchste, herausgewachsene und gewordene Organismus sei die große Individualitt, und ebenso sei sie auch wiederum das wirksamste, schçpferischste Element in der geschichtlichen Weiterentwicklung. Niemand hat mehr fr die Totalitt der individuellen Thtigkeit gegen die Arbeitstheilung geeifert als sie, und wer sie Nachdenken und Erfahrung gekommen; er hat sie seitdem in Holland mit dem grçßten Erfolg durchgefhrt gesehen und erfhrt, daß dasselbe auch in Schweden geschehen ist.
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richtig versteht, wird, anstatt zu einem stumpfen Fatalismus, gerade zum Handeln, Eingreifen, Geltendmachen seiner Persçnlichkeit getrieben werden. Auch unseren Cultus des Erfolges scheint uns der Verfasser nicht ganz richtig aufgefasst zu haben. Freilich sind wir historisch und philosophisch gebildeten Deutschen in unserer Geschichtsbetrachtung alle Darwinianer vor Darwin gewesen; wir glaubten und glauben, daß in der Weltgeschichte wie in der Natur stets dem Strkeren der Sieg bleibt. Aber es fllt durchaus nicht uns Allen ein, wie Hegel es implicite that, hinzuzufgen: dem Besten. Mit anderen Worten, wir begngen uns, Thatsachen zu constatiren; wir wollen mitnichten ihren moralischen Werth abwgen. Jenes Gesetz wird uns von Geschichte und Natur offenbart, wir haben es zu erkennen, wie uns die Unfreiheit des Willens aus dem Rckblicke auf unseren eigenen empirischen Character wie auf den anderer als Gesetz offenbart wird, was uns durchaus nicht hindert, im praktischen Leben zu handeln, als ob wir freien Willen htten. Ja, Mnner wie Knox, Calvin und Luther haben, sollten wir meinen, ganz anders energisch gehandelt, als alle Prediger der Willensfreiheit. Wir behaupten z. B., daß der Jesuitismus im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert in Spanien und sterreich gesiegt habe, weil er der Strkere war; es ist uns aber nie eingefallen, ihn deßwegen als den besseren hinzustellen. Ja, wir gehen noch weiter, wir bekmpfen ihn, seine Folgen, seine Nachwchse mit dem Gefhle, daß wir, die wir uns als die Besseren fhlen, wol am Ende auch wieder die Strkeren werden kçnnten. Htten wir diese Hoffnung nicht, so wrden wir nicht streiten; deß kann man sich versichert halten. Wir fhlen uns als Epigonen, meint Herr Nietzsche, und in Einem Sinne hat er wol Recht: unserer Wissenschaft, unserer Literatur gegenber sind wir es auch; aber wie mancher – Herr Nietzsche einer der Ersten – fhlt sich nicht auch als Progone? Mag sein, daß sich einige „Bildungsphilister“ und Professoren recht Wagner-Millisch stolz fhlen, daß sie es so unendlich weit gebracht; wir kennen aber auch gar viele, und nicht die Schlimmsten, welche die literarische Inferioritt unserer Zeit wohl fhlen und anerkennen. Mag sein, daß manch junger Privatdozent sich wertherisch blasirt und ohnmchtig fhlt in dieser Erkenntniß. Der gebildeten deutschen Jugend im großen Ganzen ist doch etwas anderes aufgegangen in den letzten Jahren: sie stehen da als Hoffende, als Strebende; sie sehen, daß die literarische Productivitt der Nation fr den Augenblick erschçpft ist, daß die staatliche, bislang auf so falschem Wege, endlich ins richtige Geleise gebracht worden ist. Sie mçchten diese neuen Wege gehen, aber doch das Erbtheil der Vter nicht zurcklassen; sie sind keineswegs gewillt, nordamerikanisch-„unhistorisch“ zu sein; sie wollen anknpfen an die Grnder deutscher Literatur wie an die Grnder des modernen Staates, an Schiller und Goethe, wie an Friedrich und Stein, die Universalitt bewahren und doch sie selber sein, in der neuen nationalen Existenz sich die humane Gesinnung einer Zeit bewahren, wo der nationale Staat noch nicht existirte. Sie
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haben das Gefhl ihrer Formlosigkeit und das Bedrfniß, sich Formen anzueignen, und zwar Formen, die jener Bildung der Vter entsprechen. Mit anderen Worten, sie wollen, was Herr Nietzsche so sehnlichst herbeiwnscht: eine nationale Cultur. Wodurch aber wird diese nationale Cultur erlangt werden? Ist’s durch mçglichst unhistorische Realschulbildung? Ist’s durch den ausschließlichen Betrieb der Naturwissenschaften? Ist’s, wie unser Verfasser meint, durch eine neue Kunst und Religion? Uns will bednken, unsere Cultur ist schon im Anzuge, und wir glauben schon die charakteristischen, nicht eben immer angenehmen Zge derselben unterscheiden zu kçnnen. Erstehen in ausgebildeten Formen kann sie erst, wenn die allernchste Vorbedingung zu ihr da ist: Wohlstand, der Muße und Freiheit im Gefolge fhrt, ohne welche keine Cultur denkbar ist.Wir sind keine Sdlnder; das Zusammentreffen hoher geistiger Bildung mit ursprnglich einfachen, natrlichen Sitten, aus denen die Cultur des Perikles’schen Zeitalters und, obschon in geringerem Grade, diejenige des italienischen Quattrocento hervorging, wird uns nie ganz zu Teil werden kçnnen; aber eine Cultur wie die franzçsische oder englische, wenn auch verschieden von diesen in Wesen und Form, kann das neue Deutschland wol noch schauen. Einer nationalen Religion wird sie freilich entrathen mssen, denn der Glaube der gebildeten Deutschen – und nur die Gebildeten nennen wir die Nation – ist entweder ganz negativ oder ganz unbestimmt: in beiden Fllen unproductiv, wenn es sich darum handelt, dem Leben Formen zu geben. Doch ist der metaphysische Sinn, der Idealismus, wenn man will, noch nicht aus der deutschen Weltanschauung gewichen – die immer grçßere Verbreitung Schopenhauer’s und die Gleichgiltigkeit gegen den englischen Positivismus beweisen es – und wenn dieser vage Idealismus nicht gengt, dem Leben bestimmte Formen zu geben, so verhindert er doch, daß verknçchernde Formen je die Seele unserer kommenden Cultur ersticken. Auch die deutsche Kunst – die Musik – ist mehr dazu angethan, die Volksseele zu erwrmen und auf das metaphysische Princip hinzulenken, als Lebensformen zu schaffen; aber sie ist doch ein mchtiger Kampfgenosse der Cultur gegen Verwilderung. England hat eine Cultur, d. h. eine Einheit des inneren und ußeren Lebens, ohne irgendeine Kunst, außer der Poesie, aus sich heraus geschaffen. Warum sollte es Deutschland nicht? Das einzige, was ihm dazu noththut, und darin treffen wir hoffentlich Herrn Nietzsche’s Billigung vollstndig, ist das Aufgeben nicht des classischen Jugendunterrichts, sondern des Lesens von Bchern ber Bcher und Werke der Kunst. Sobald der deutsche sich dazu wird entschließen kçnnen, alle Literaturund Kunstgeschichten, Aesthetiken und Kritiken beiseite zu lassen und er ohne Anleitung seinen Goethe wird lesen, seinen Drer schauen, seinen Mozart hçren wollen, braucht es nichts weiter. Fr den Rest werden schon die neuen Lebensverhltnisse sorgen. Wenn Herr Nietzsche aber jene Schmarotzer-Literatur unter „historischer Bildung“ versteht, so mssen wir ihm beistimmen: sie ist
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vom Uebel. Doch irrt er sich, wenn er meint, wir Deutschen litten daran mehr als andere Nationen. Auch im Auslande gibt es „altkluge und neuweise Schwtzer ber Staat, Kirche und Kunst“ genug; auch in Frankreich und Italien, vor Allem aber in Russland und England greift das Wissen um die Dinge anstatt der Kenntniß der Dinge, das Abstrahiren anstatt des concreten Anschauens, die krankhafte sterile Vielseitigkeit anstatt gesunder Ausschließlichkeit, das Allemgerechtwerden statt des muthigen Verdammens und Anerkennens immer mehr um sich und untergrbt tglich mehr den Charakter ehemals scharfgezeichneter Culturen. Welches aber wird der bestimmende Factor in der deutsch-nationalen Cultur sein? In England war’s, trotz aller Ausdehnung des Handels, die LandAristokratie, in Frankreich war’s der Hof, in Italien das stdtische Patriciat.Wir zweifeln nicht, daß es in Deutschland das Heer sein wird. Die allgemeine Wehrpflicht hat in wenig Jahren dem Rheinlnder die preußische Physiognomie aufgedrckt; dem von Außen Zuschauenden verrth sich schon etwas Aehnliches bei dem Sddeutschen. Diese Physiognomie mag weniger angenehm sein als die des englischen Gentleman, des franzçsischen Hçflings, des italienischen Patriciers, eine Physiognomie ist es immerhin, und zwar eine stark ausgeprgte. Je mehr einerseits der Wohlstand steigt, je nationaler andererseits das Heer wird, desto mehr schleift diese Physiognomie ihre eckigen brandenburg’schen Formen ab, ohne sie doch ganz zu verlieren. Dazu kommt das Gefhl des eigenen Werthes, der Anerkennung, welche das Ausland zollt, um dem Auftreten Sicherheit zu geben; es kommt die philosophische Bildung hinzu, um dem Handeln und Scheinen idealen Rckhalt zu sichern. Warum sollte nicht die Zeit kommen, wo ein wohlhabender Deutscher, der nach classischer GymnasialBildung und einjhrigem Dienst im Heere in den Handel, in den Beamtenstand, in die Diplomatie, in den Ackerbau, auf das Forum, in das Heer selber bertritt, bei aller Persçnlichkeit den Stempel einer nationalen Cultur tragen wrde? Dann wre ja jene Einheit wiederhergestellt, die Herr Nietzsche herbeisehnt, und wer weiß, ob uns dann nicht eine Poesie oder eine Kunst erstehen wird, welche so universell ist, als Goethe’s und Beethoven’s, aber zugleich sich so enge an’s çffentliche und nationale Leben anschließt, als Shakespeare’s oder Moliere’s Schçpfungen. Reaktionen Emma Guerrieri-Gonzaga an N, 15. 5. 1874: „Ein gtiges Schicksal fhrte mich von Neuem zu Ihnen: ich las Ihre kleine Schrift ber Homer, die mir unendlich gefiel. Und jetzt das 2te Stck Ihrer ,Unzeitgemßen Betrachtungen‘ die fr mich wie eine Offenbarung waren und ich glaube nicht daß ich Ihnen im Geiste wieder untreu werden kann! “. KGB II/4, Bf. 542, S. 470
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N an Karl Hillebrand, Mitte April 1878: „Nach einem Winter schwerer Erkrankung genieße ich jetzt im Wiedererwachen der Gesundheit Ihre vier Bnde ,Vçlker Zeiten Menschen‘ und freue mich wie als ob es Milch und Honig wre. O Bcher, aus denen eine europische Luft weht, und nicht der liebe nationale Stickstoff! Wie das den Lungen wohltut! […] Wie danke ich Ihnen, daß Sie diese Aufstze gesammelt haben! Sie wren mir sonst fast ganz entgangen, da ich weder Zeitungen noch Zeitschriften lese und berhaupt, der Nhe der Erblindung wegen, sehr wenig lese (und schreibe). Dies erinnert mich auch daran, daß Sie auch ber meine Schriften gesprochen haben: es ist bei weitem das Einzige, was mir von dem, was mir von Urtheilen ber dieselben bekannt geworden ist, wirklich Freude gemacht hat.Denn hier urtheilt ersichtlich die berlegenheit (in Erfahrung und Geschmack und einigen andren Dingen – ), da ergreift der Beurtheilte, wenn er kein Narr ist, mit Vergngen gegen sich selber Partei. Und wie gerne man von Ihnen lernt!“ KGB II/5, Bf. 711, S. 318 f Karl Hillebrand an Ernst Schmeitzner, Juli 1879: „Ich nehme das grçßte Interesse an Nietzsche’s Person und Schriften und mache unter der Hand soviel Propaganda dafr als mçglich. Nachdem ich aber zwei ausfhrliche Essays ber zwei seiner Schriften (historisches Wissen und Schopenhauer) verçffentlicht und auf sein letztes Werk energisch hingewiesen, drfte es als Koteriesache herauskommen, trte ich noch einmal, anders als parenthetisch, in seiner Sache auf. Das muß bei der großen Gegnerschaft, die er hat, auf das Strengste vermieden werden. Dagegen werde ich ihn vorbergehend so oft als mçglich als einen der bedeutendsten jngeren Schriftsteller citiren. Ich weiß, es ist ein schlechtes Geschft gediegene Autoren zu geben, allein es zahlt doch, freilich spt, aber dann um so sicherer: in zehn, fnfzehn Jahren werden Nietzsche’s Schriften eine gewaltige Nachfrage finden, daher seien Sie sicher und verlieren Sie den Muth nicht. Ich werde mich sonst fr Nietzsche bemhen, ohne daß er’s erfhrt.“ KSA 15/106 f N an Karl Knortz220, 21. 6. 1888: „,In Vçlker, Zeiten, Menschen‘ von Karl Hillebrand stehen ein paar sehr gute Aufstze ber die ersten Unzeitgemßen. […] Die Schrift gegen Strauß erregte einen großen Sturm; die Schrift ber Schopenhauer, deren Lektre ich besonders empfehle, zeigt, wie ein energischer und instinktiv jasagender Geist auch von einem Pessimisten die wohlthtigsten Impulse zu nehmen versteht.“ KGB II/5, Bf. 1050, S. 340
220 Karl Knortz (1841 – 1918), deutsch-amerikanischer Schriftsteller, stellte einen Essay in einer amerikanischen Zeitschrift in Aussicht.
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Jean Bourdeau221 an N, 27. 12. 1888: „J’avais lu autrefois dans le volume du regrett M. Hillebrand, intitul Wlsches und Deutsches, une analyse de vos Unzeitgemße Betrachtungen.“ KGB III/6, Bf. 636, S. 403
Sturzenegger, Bartholomus: ber den Werth der Geschichte nach Nietzsche. In: Reform: Zeitstimmen aus der Schweizer Kirche. Bern, Bd. 4, Nr. 16 vom 7. 8. 1875, S. 275–279. ber den Werth der Geschichte nach Nietzsche. Professor Friedrich Nietzsche in Basel, welcher frher einmal in diesem Blatte wegen seiner Schrift ber Strauß als seltsamer Kauz eine kurze Wrdigung gefunden, hat im zweiten Stck seiner „Unzeitgemßen Betrachtungen“, betitelt: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben“, Gedanken entwickelt, welche auch von jedem Theologen gewrdigt und beherzigt zu werden verdienen; ganz besonders aber wre zu wnschen, daß sie in der Behandlung des zweiten, der Predigergesellschaft gestellten Thema’s bercksichtigt wrden: „Welche Anforderungen stellt die Gegenwart an den Bildungsgang des evangelischen Geistlichen?“ Was hier geboten wird, will keine Recension der Schrift sein; nur die bedeutsamsten, oft mit wunderbarer „Schçnheit, Macht und Tiefsinn“ dargelegten Gedanken sollen wiedergegeben werden, wobei die Anwendung auf das gegenwrtige Studium der Theologie, besonders der historischen, Jedem selbst berlassen werden kann. – Ausgehend von Gçthe’s Wort: „Ueberhaupt ist mir Alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Thtigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben“, legt der Verfasser erstlich den Werth und Unwerth der Historie fr das Leben dar, unterwirft dann das historische Virtuosenthum der Gegenwart einer herben, zermalmenden Kritik, und gewhrt zuletzt in krftiger Anrede an die Jugend und ihre gesunden Instinkte einen Hoffnungsblick in eine gesundere Zukunft. Das Leben braucht den Dienst der Historie, aber ein Uebermaß derselben schadet dem Lebendigen und muß ihm daher mit Recht „verhaßt“ sein. Es giebt eine dreifache Art der Historie: 1) eine monumentale fr den Thtigen und Strebenden, der aus kleiner Zeit und kraftloser Umgebung zu den großen Bildern und Denkmlern der Vergangenheit pilgert, um da zu glauben, daß das Große mçglich und ewig ist (man denke an Schiller); 2) eine antiquarische fr den Bewahrenden und Verehrenden, der mit Treue und Liebe dahin blickt, wo er herkommt, und den das Bewußtsein, nicht wurzel- und zusammenhanglos dazustehen, mit biederer 221 Jean Bourdeau (1848 – 1928), franzçsischer Schriftsteller und Essayist. Nietzsche plante, GD von ihm bersetzen lassen.
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Piett erfllt und vor thçrichten Wnschen, Auswanderungslust und kosmopolitischem Whlen und Suchen nach Neuem und Anderem bewahrt; 3) eine kritische fr den Leidenden und der Befreiung Bedrftigen, der von Zeit zu Zeit eine Vergangenheit richten und zerbrechen muß, um in der Gegenwart leben zu kçnnen. Jede dieser drei Arten, allein und im Uebermaß getrieben, birgt aber auch ernstliche Gefahren fr das Leben und den Lebendigen. Die monumentale Art der Historie wird gerne schçnrednerisch, thut der Individualitt und den bestimmten Verhltnissen Zwang an, tuscht durch Analogien aus der großen Vergangenheit und reizt daher nicht selten den Muthigen zu Verwegenheit und Fanatismus, eine frhere That in gleicher Art zu erzwingen, whrend sie den Schwachen zum Frage- und Antwortspiel verleitet: Was brauchen wir das Große? Es ist ja schon da. Noch gefhrlicher kann die zweite Art, die antiquarische werden. Ihr gilt alles Alte gleich ehrwrdig und sie lehnt darum auch alles Neue und Werdende gleich entschieden ab; sie untergrbt das hçhere Weiterleben und conservirt nicht nur, sondern mumisirt die Vergangenheit, denn nur zu gerne wird bei den Menschen die Piett zur zhen gelehrtenhaften Gewçhnung. Hier tritt darum nothwendig die kritische Art ein, die nicht als Gerechtigkeit und Gnade, sondern als Leben, als „jene, dunkle, treibende, unersttlich sich selbst begehrende Macht“ ber irgend eine alte Sitte der Vter, ein Privilegium, ein Kaste, eine Dynastie etc. zu Gericht sitzt, die in ihrem Uebermaß jedoch oft grausam ber alle Pietten hinwegschreitet und gar oft nur beim Erkennen des neuen Bessern stehen bleibt, ohne es zum Thun desselben zu bringen. Das ist der Werth und Unwerth der dem Leben dienenden Historie, legen wir sie jetzt als Maßstab an unsere Zeit. „Wohin ist alle Klarheit, alle Natrlichkeit und Reinheit jener Beziehung zwischen Leben und Historie, wie verwirrt, wie bertrieben, wie unruhig fluthet jetzt dieß Problem vor unsern Augen!“ Ein feindseliges Gestirn hat sich zwischen beide gelegt, ein leuchtendes und herrliches Gestirn: „die Wissenschaft, die Forderung, daß die Historie Wissenschaft sein soll.“ Diese reißt die Grenzpfhle des gesunden Lebens ein; Alles, was einmal war, strzt auf den Menschen zu; sie, die Wissenschaft des universalen Werdens çffnet Stoff und Blick in’s Unendliche, aber sie zeigt Alles dieses, mit der gefhrlichen Khnheit ihres Wahlspruches:“fiat veritas, pereat vita“; oder – der Verfasser wird erlauben – : fiat notitia, pereat vita. Aus unversieglichen Quellen strçmt das historische Wissen hinzu und hinein, das Fremde und Zusammenhanglose drngt sich, das Gedchtnis çffnet alle seine Thore, um die fremden Gste zu empfangen, zu ordnen und zu ehren, Gste, die doch oft selbst mit einander im Kampf sind, so daß recht bald die Gewçhnung an ein solches unordentliches, strmisches und kmpfendes Hauswesen zur zweiten Natur wird. Der Mensch trgt eine Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum; Inneres und Aeußeres, Form und Inhalt entsprechen einander nicht mehr, denn er hat die „plastische Kraft“ eingebßt, d. h. das Vermçgen, aus sich herauszubilden, eigenartig zu wachsen; er ist nicht
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mehr concentrirt, findet fr seinen bunten Inhalt keine entsprechende Form mehr, hat vor der Menge der Kenntnisse kein eigenes Urtheil abzugeben, mit einem Wort: er ist zur „schwachen Persçnlichkeit“ geworden, denn „die Geschichte wird nur von starken Persçnlichkeiten getragen und ertragen, die schwachen lçscht sie vollends aus.“ Kçstlich sind die Schilderungen des historischen Virtuosen der Gegenwart, der an sich unselbstndig, gleichsam subjektlos, nur objektiv die Dinge betrachtet, des ausgehçhlten Bildungsmenschen, der ber Werk und That hinwegsieht und zuerst nach der Historie des Autors fragt, des historisch-sthetischen Bildungsphilisters, dessen unersttlicher Magen doch nicht weiß, was ein rechtschaffener Hunger und Durst ist, der schon als korrekter Jngling, als „vorlauter Bursche“ mit den Rçmern umgeht, als wren sie seinesgleichen, der durch alle Kriege und Jahrhunderte gepeitscht wird, bevor er weiß, was eine kriegerische Aktion ist, der in einer Stunde Resultate verschlingt, deren Motive Jahre und Jahrhunderte verlangten, der in irgend einem ganz isolirten Kapitelchen der Vergangenheit nach der Seciermethode und dem vornehmen Ton des Meisters kritisirt, wo er sich von der Mçglichkeit des Geschehenden noch nichts trumen lßt. Eine solche Art Historie erdrckt den Einzelnen, lßt ihn nicht reif werden und verdammt ihn zu ewiger Subjektlosigkeit, die es zu keinem derben Wollen und Streben mehr bringt; sie zerstçrt damit auch die gesunden Instinkte des Volkes und nhrt jenen schdlichen Glauben an das Alter, die schon eingetretene „Grauhaarigkeit“ der Menschheit, den Glauben, Sptling und Epigone zu sein, der zuletzt nothwendig zur Ironie ber sich selbst und zum Cynismus fhrt. „Wenn nur uns noch die Scholle trgt!“ Dieser verruchte Egoismus ist seine letzte Weisheit. Wie nahe liegen hier Parallele und Anwendung! Giebt es denn gar kein Gegenmittel, kein „Gegengift“ gegen die historische Krankheit, welche die plastische Kraft des Lebens angegriffen hat? Doch, der Verfasser nennt zwei Gegenmchte, schlummernd und herrschend in dem gesunden Herzen der Jugend: „das Unhistorische“, d. h. die Kunst und Kraft, vergessen zu kçnnen und sich in einen begrenzten Horizont einzuschließen, und „das Ueberhistorische“, d. h. die Mchte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt, zu Kunst und Religion. Diese beiden sind ihm die ternisirenden Mchte, die ein Seiendes, Ewiges bieten, wo die Historie nur ein Gewordenes sieht, welches durch seinen ruhelosen Wechsel den Betrachter heimatlos macht und ihn an der Festigkeit aller Sitten und Begriffe verzweifeln lßt, so daß er in schwermthiger Gleichgiltigkeit Meinung auf Meinung an sich vorbergehen sieht. Mit diesen Mchten ausgerstet soll die Jugend in tapferer, unbesonnener Ehrlichkeit und mit dem begeisternden Troste der Hoffnung die gegenwrtigen Begriffsungeheuer von „Bildung“ und „Gesundheit“ erschttern, sich selbst erkennen, d. h. sich auf sich selbst und ihre chten Bedrfnisse besinnen, die Scheinbedrfnisse absterben lassen, sich dagegen struben, immer nur nachzusprechen und nachzuahmen und so selbst auf
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den Trmmern einer ganzen dekorativen Cultur eine schçnere, lebensvollere und frohmthigere Zukunft anbahnen. – Dieß sind einige Hauptgedanken des geistvollen, bisweilen mit hinreißender Beredtsamkeit geschriebenen Buches, des mchtigen Protestes, welchen Nietzsche unserer Zeit entgegengeschleudert hat, einer Zeit, die gerade auf ihre historische Bildung und Wissenschaft stolz ist; darum der Name „unzeitgemß“. Bitter sind oft die Anklagen und herb der Ton, aber ber dem vielen Wahren und Gerechten, sowie ber dem ernsten, moralischen Pathos kann man jenes bersehen und mit in den Kauf nehmen. Der Theologe besonders wird nicht ohne mchtige Anregung das Buch aus den Hnden legen, welches allerdings weniger einen Gesammteindruck hinterlßt, als vielmehr durch seine einzelnen schçnen, ergreifenden Stellen anzieht und darum auch fr einen Auszug weniger gnstig ist. Die Anwendung auf das theologische Studium ergiebt sich beim Lesen so von selbst, daß man bisweilen ordentlich erschrickt. Besonders was ber Werth und Nachtheil der antiquarischen und kritischen Art der Historie gesagt ist, kann dem Theologen in Theorie und Praxis nicht unverstndlich sein. Wenn der Verfasser ferner den Kunstjnger lieber in die Werksttte des Meisters und der Natur als durch Concertsle [sic] und Bildergallerien fhren will, so mag auch der Theologe den Wink verstehen, seine Folianten und Commentare auch von Zeit zu Zeit zuklappen und auf die Interpretation eines gesunden Laien hçren, auch wenn diese anmuthlos und er unverschmt wre; von jener Lssigkeit in der Form, jenem Zwiespalt zwischen Aeußerem und Innerem, Inhalt und Form mag auch mancher Pfarrer Notiz nehmen, der in jeder Predigt die ganze Heilsçkonomie aufstellen zu mssen glaubt, es aber fr einen Raub hlt, dem gçttlichen Inhalt eine entsprechende Form zu geben. Diesen und dann besonders denen, welche in ihren Predigten immer nur kritisiren zu mssen glauben, gilt das Wort: „Schafft euch den Begriff eines „Volkes“, den kçnnet ihr nie edel und hoch genug denken. Dchtet ihr groß vom Volke, so wret ihr auch barmherzig gegen dasselbe und htetet euch wohl, euer historisches Scheidewasser ihm als Lebensund Labetrunk anzubieten.“ Das ironische Selbstbewußtsein und die muthlose Skepsis, von welcher im Buche die Rede ist, ist auch bei manchen Geistlichen nicht unbekannt, wie sich andererseits Viele an dem ungestmen Glauben des Verfassers an eine bessere Zukunft aufrichten kçnnten. Nietzsche ist ja ein Schler und Verehrer Schopenhauers, und was wollen seine Gedanken in diesem Blatte, da er doch gerade in besprochenem Buche der neueren Theologie und dem Protestantenverein solche Derbheiten gesagt hat? Nun, der Verstndige weiß, daß man auch von Gegnern lernen kann und stimmt darin mit dem Verfasser berein, daß man zuerst nach Werk und That, nicht nach der Historie des Autors fragen soll.
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Reaktionen Bartholomus Sturzenegger an N, 8. 8. 1875: „Sehr verehrter Lehrer! Sie werden gtigst entschuldigen, daß ich in der Reform einen gedrngten Auszug aus dem 2ten Stck ihrer Unzeitgemßen Betrachtungen gegeben habe. Es drngte mich, die trefflichen Gedanken wiederzugeben und meinen Collegen, die das Buch nicht lesen kçnnen, bekannt zu machen. Ueben Sie Nachsicht, wenn ich Sie etwa nicht berall sollte verstanden haben, das Buch ist aber keine leichte, flache Speise. Gegenwrtig lese ich mit Begeisterung Ihr 3tes Stck ,Schopenhauer als Erzieher‘ und habe nur den einen Wunsch, noch recht Manches lesen und studieren zu kçnnen. Grßen Sie mir auch Herrn Overbeck. Mit ungetheilter Hochschtzung und Ergebenheit. Ihr dankbarer Schler.“ KGB II/6/1, Bf. 703, S. 189 f
Zdekauer, Ludwig: Lavori sulla storia medioevale d’ Italia. In: Archivio storico italiano. Florenz, Bd. 5, Nr. 164, 167, 1888, S. 401–416, S. 204–220. ber Nietzsche Nr. 167, S. 220. Interesser anche un lavoro di Carrire sul concetto filosofico dei tempi della riforma,222 che contiene un capitolo importante su Giordano Bruno. L’ ambiente generale e le diverse correnti intellettuali della Germania restano infine caratterizzati da uno scritto, che avremmo dovuto mettere in testa di questa capitolo: dalle„Considerazioni inopportune“ di Federigo Nietzsche,223 nelle quali l’autore, filologo di grido, che si dedicato agli studi filosofici, discute l’utilit degli studi storici ed i danni, che essi portano seco. La lettura di questo breve scritto suggerisce al giovane lettore un giusto apprezzamento della nostra scienza, la quale oggi montata in tanta stima, che dobbiamo sapere grado a chi ci consiglia non avvalorare troppo la sua intrinseca a danno delle scienze limitrofe.
222 Moritz Carriere: Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart. 2.te Aufl., 2 Teile, Leipzig, Brockhaus 1887. 223 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemsse Betrachtungen (Considerazioni inoppurtune). Fasc. II Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben. 2.a ediz. Lipsia, E. W. Fritzsch 1886.
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Reaktionen Ludwig Zdekauer an Heinrich Kçselitz, 8. 4. 1888: „Indem ich den ersten Bericht ber die deutsche Literatur frs ,Archivio storico‘ abschließen will, erinnere ich mich einer Schrift von Friedrich Nietzsche ,ber den Nutzen und Nachtheil der historischen Studien‘ oder so hnlich, welche mir einen besonderen Eindruck hinterlassen hat und von der ich gerne ein Wort sagen mçchte. […] Jedenfalls, (wenn sie nur nicht vor 1879 zurckgeht) wre ich ihnen dankbar, wenn Sie mir den genauen Titel, Verleger, Datum etc) schicken wollten, damit ich sie citiren kann. Es ist ein krftiges Ferment, das vielleicht in einem italienischen Hirne die seltsamsten Blten treiben kann. – “ KGB III/7/3, 2, Bf. 50, S. 985 Ludwig Zdekauer an Heinrich Kçselitz, 10. 4. 1888: „Ich danke Ihnen auf das verbindlichste fr die umgehende Erwiderung und bin sehr erfreut darber dass Nietzsche’s Buch eine zweite Aufl. erlebt hat. Es ist lcherlich, zu glauben, dass ich ,fr‘ oder ,wieder‘ dasselbe reden wrde, als ob ich mich zum Richter darber aufwerfen wollte. Sie halten mich doch fr einen rechten Esel; trotz Ihres grossen Lehrers! Ich habe zu ,berichten‘ und nicht zu ,recensiren‘, dazu bin ich nicht geboren, und htte Auftrag dazu nicht angenommen. Auf Bonis Berufung aus Minsterne [unsichere Lesart] sollen Sie keinen Wert legen. Wenn Sie wssten, wie es dort zugeht! – Wenn der Artikel ber die Historie nicht zu lang ist, wrde ich (sofern nur Nietzsche einverstanden ist) eine bersetzung davon machen lassen, und in ein gutes Periodico geben: jedenfalls aber Anzeige und Riassunto davon verçffentlichen.“ KGB III/7/3, 2, Bf. 51, S. 985 N an Ernst Wilhelm Fritzsch, ca. 14. 4. 1888: „Eben meldet man mir, daß ein im Auftrag des Florentiner Archivio storico gemachter sehr umfnglicher Gesammtbericht ber neuere deutsche Geschichtsliteratur meine Gesichtspunkte aus der 2. Unzeitgemßen B[etrachtung] sehr zu Ehren bringt: diese italinische Publikation des genannten Archivio Stor[ico] luft in das Lob meiner Ansichten aus.“ KGB III/5, Bf. 1020, S. 296 N an Georg Brandes, 4. 5. 1888: „Aus Italien meldet man mir eben, daß die Gesichtspunkte meiner 2. Unzeitgemßen Betrachtung in einem Berichte ber deutsche Geschichts-litteratur sehr zu Ehren gebracht seien, den ein Wiener Gelehrter Dr. von Zdekauer im Auftrage des Florenzer Archivio storico gemacht hat. Der Bericht luft in dieselben aus.“ KGB III/5, Bf. 1030, S. 309 N an Franz Overbeck, 27. 5. 1888: „Das archivio storico in Florenz gedenkt in seiner letzten Publikation (ein Gesammtbericht ber deutsche Geschichtslitteratur) mit Auszeichnung meiner allgemeinen Gedanken ber Historie (2. Unz
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[eitgemße] Betrachtung); die Abhandlung luft darauf aus. Ich erzhle das Dir gerade, lieber Freund, weil Du der einzige bist, der mir bisjetzt ein Interesse an jenen Gedanken ausgedrckt hat.“ KGB III/5, Bf. 1040, S. 323 Ludwig Zdekauer an Heinrich Kçselitz, 24. 7. 1888: „Mein deutscher Bericht im Archivio storico wird in zwei Abschnitten gedruckt; der eine ist schon heraus, der zweite, in welchem Nietzsches ,Consid[erazione] inopp[ortuna]‘ angezeigt wird, erscheint Ende August. Sobald ich die Separatdrucke habe, erhalten Sie sogleich ein Exemplar.“ KGB III/7/3, 2, Bf. 55, S. 1008
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Schopenhauer als Erzieher. Dritte Unzeitgemße Betrachtung Reaktionen
Cosima Wagner an N, 26. 10. 1874: „Diess ist meine Unzeitgemsse […] und ich danke Ihnen von Herzen fr die freudige Erregung welche mir durch die Lesung derselben geworden ist. Gefhle, Gedanken, Einflle, Erkenntniss, Kçnnen und Wissen haben mich darin staunen gemacht, und an dem Begeisterungsfeuer welches Alles durchglht, habe ich mich wiederum erwrmt, wie an der Geburt der Tragçdie.“ KGB II/4, Bf. 599, S. 591 Emma Guerrieri-Gonzaga an N, 7. 12. 1874: „Ihre letzte Schrift hat mir einen deprimirenden Eindruck hinterlassen trotz mancher großer Gedanken, die mich wie Blitze durchleuchteten und mir ein Besitz fr‘s Leben geworden sind! Aber Sie stoßen die ganze bestehende Welt in einen dstern Abgrund, in dem Alles chaotisch sich umherwlzt und nie und nimmer sich zum Lichte emporzuschwingen vermag! Sie lassen dem Sehnenden, Strebenden keine Brcke, auf der er mit langsam zçgerndem Schritte aus der ihn umgebenden schlechten Welt hinberschreiten kçnnte in jenes hçhere Reich der Wahrheit, Schçnheit, Liebe! Und doch ht uns die Natur keine Flgel gegeben! – Wir mssen jede hçhere Erkenntniß mit schwerem Leide zahlen, – und wenn wir uns sehnen die hçhere Ahnung, den hçheren Glauben, das hçhere Wissen ins Leben zu bertragen, wenn wir hinanzuklettern streben, bei jedem Schritte gehemmt oft zurckgeworfen, durch Fehltritte verwundet, wo finden wir dann die nçthige Hlfe zu der allmhlichen Verwandlung? – Hilft es uns etwa wenn Einer sagt: ,Alles was Ihr durch Geburt, Erziehung, durch den Einfluß der Euch umgebenden Luft geworden seid, mßt Ihr erst mit Stumpf und Stil ausrotten, darauf ein neues Reis pflanzen und nun seht zu ob Ihr gedeiht?‘ Ach, mir graut vor dieser Radikalkur, und ich ziehe den Erzieher vor, der, indem er das wenige Gute in mir bejaht, mich leise zum Besseren hinanzieht und so allmhlich mein Wesen durch langsames Werden zum hçheren Sein heranreifen lßt! – Verstehen Sie, verehrter Freund, wie ich es meine, wenn ich glaube daß Sie zu sehr mit Keulenschlgen dreinschlagen, zu tief verletzen, um auf das Innere des Menschen eine Wirkung auszuben? Ich fr meinen Theil verstehe und achte die Leidenschaft, die unbekmmert wo und wie sie trifft, das bestehende Schlechte mit unbndigem Hasse verfolgt! Ich fhle aber, daß der wahre Erzieher anders verfahren muß, nmlich mit der Leuchte des hçchst erkannten Zieles in der
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helfenden Hand, eine Sttze sein muß denen, die sich kaum aufgerafft von der schmutzigen, klebrigen Erde, noch kaum zu stehen vermçgen, und nur mit Hlfe der Besten und Edelsten das in weiter Ferne strahlende, ihren blçden Augen verhllte Ziel zu erkennen und ach! so schwer, so selten zu erreichen vermçgen! Ich liebe Schopenhauer wie Sie, auch mir war es eine Offenbarung, als ich den ersten Blick in sein tiefes, weites Geistesleben that! Herrlich zutreffend fand ich Ihr Wort: ,Er hat das Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich genommen.‘ Auch Schopenhauer fuhr mit Keulenschlgen drein, aber er war mehr Schçpfer als Kritiker, in Einsamkeit und Stille berwand er das Leben, schaffte das Tiefste aus seinem tiefen Geiste an’s Tageslicht hervor,und dann fuhr er los mit dem lange zurckgehaltenen Grimme des Siegers“. KGB II/4, Bf. 610, S. 616 f
Hillebrand, Karl: Schopenhauer und das deutsche Publikum. In: Allgemeine Zeitung. Augsburg, Beilage der Nr. 352 vom 18. 12. 1874. Schopenhauer und das deutsche Publicum. Hrn. Nietzsche’s jngste „unzeitgemße Betrachtung“ soll mir heute nur zum Anlaß dienen ein paar Worte zur Verstndigung ber den Denker und Schriftsteller zu sagen der, nach langer Nichtbeachtung, der Gegenstand großer und verbreiteter Bewunderung wie heftigster Anfeindung geworden ist. Herr Nietzsche sagt uns224, vielleicht etwas zu ausfhrlich und doch nicht bestimmt genug, in welcher Weise die Bekanntschaft mit Schopenhauer, die er vor etwa neun Jahren machte, auf ihn gewirkt und wie sie auf andere Jnglinge wirken drfte. Er hat den Philosophen als Erzieher im Auge, und ich gestehe ihm hier nicht berall folgen zu kçnnen. Indeß will ich keineswegs meine persçnlichen Erfahrungen und Eindrcke denen Hrn. Nietzsche’s gegenberstellen; denn das Publikum hat ein Recht nur von ganz eminenten Menschen Persçnliches anzunehmen.225 Auch will ich nicht zu beweisen unternehmen, daß Herr Nietz224 „Unzeitgemße Betrachtungen“ von Dr. Friedrich Nietzsche. Drittes Stck: Schopenhauer als Erzieher. Schloß-Chemnitz 1874. 225 Nur um meine Unabhngigkeit von jeder Schule oder Modestrçmung in der Frage, wo nicht zu beweisen, doch wahrscheinlich zu machen, erlaube man mir jene berechtigte Abneigung des Publikums einmal unbeachtet zu lassen, und in zwei Worten aufzuzeichnen wie, wo und wann ich Schopenhauers Werke zuerst kennen gelernt. Mein Vater hatte zwar schon in der ersten Ausgabe (1845) seiner Nationalliteratur viel Lobendes von Schopenhauer gesagt, wovon ich aber natrlich auf den Schulbnken nichts erfahren hatte. Als ich nun die zweite Auflage jenes Werkes, etwa 1852, in der Fremde las, war ich ganz in Hegel, namentlich in die Aesthetik, versenkt und wenig vorbereitet zu der
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sche, indem er sich nun gegen die philosophische Richtung der Deutschen wendet, wie er sich frher gegen ihre historische Ueberbildung und nationalpolitische Selbstzufriedenheit wandte, weit ber sein Ziel hinausschießt und sich der schreiendsten Ungerechtigkeit gegen den deutschen Gedanken, namentlich gegen den einflußreichsten Reprsentanten desselben, Hegel, schuldig macht. Seine Absicht ist offenbar die beste; aber um sich mit Erfolg gegen die Herrschaft der Autoritt aufzulehnen, muß man selber nicht so vollstndig unter der infalliblen Autoritt der Meisters stehen, wie es mit ihm, Schopenhauer gegenber, der Fall ist. Nicht einsehen wollen, daß Hegel eigentlich den Grundgedanken der deutschen Bildung in ein System gebracht – folglich auch zuweilen ad absurdum getrieben – heißt entweder die geistige Geschichte Deutschlands, von Herder bis auf Feuerbach, ignoriren, oder Deutschlands Beitrag zur europischen Civilisation als werthlos darstellen. Aber neben diesem Grundgedanken – dem der historischen Entwicklung, der alle Wissenschaften durchdrungen und erneuert, der sogar der politischen Anschauung des deutschen Volks zu Grunde liegt – hat sich auch, natrlich verkannt, wie es bei solchen mchtigen Geistesstrçmungen stets zu gehen pflegt, eine andere fast entgegengesetzte, ich mçchte sagen geschichtsverachtende, Weltauffassung behauptet, ist durch den Geist des Widerspruchs gegen die herrschende Richtung auf die Spitze getrieben worden, und hat sich dann endlich, als jener Strom schwcher zu fließen begann, vorgedrngt. Daher die Popularitt Schopenhauers seit den 60er Jahren – eine Reaction gegen die historische Richtung, wie diese eine Reaction gegen die rationalistische des vorigen Jahrhunderts gewesen war. Neben dieser Popularitt nun, die viel von der Mode an sich hat und manchmal gar sonderbar motivirt ist, wie denn auch die dem Meister entlehnten Schlagworte nicht eben immer die bestgewhlten sind, macht sich aber Lectre seines heftigsten Gegners. Allein jene Beurtheilung aus der Feder eines so durchaus unparteiischen, leidenschaftslosen Richters von so strengem Geschmack imponirte mir sehr, und ich ruhte nicht, bis ich, nicht ohne Schwierigkeiten aller Art, das Hauptwerk und die Abhandlung ber den zureichenden Grund erhalten. Sie waren im Herbst 1854 zwei Monate lang die einzigen Bcher, welche ich in vollstndigster Einsamkeit in einem Frstenhause mitten im Kiefernwalde der atlantischen Oceanskste zur Hand hatte. (Jenes Fçrsterhaus, im Vorbeigehen sei’s gesagt, war in Wirklichkeit der Thurm einer im Sande vergrabenen Kirche, ber deren Dach man, ohne die ber die Oberflche hervorragenden Trmmer des Chors, unvermerkt, wie ber den brigen Waldgrund, weggegangen wre. Die ganze Kirche, einst die Kathedrale einer betrchtlichen, jetzt spurlos verschwundenen Stadt, Soulac soll seitdem ausgegraben wurden sein.) Nach Bordeaux zurckgekehrt, las ich dann nach und nach die andern Werke, und war sehr erstaunt, als ich nach neunjhrigem Exil zum erstenmal wieder nach Deutschland kam (1858), zu sehen, daß der Philosoph noch immer den meisten Gebildeten im Vaterland unbekannt war. Die seitdem ihm zutheil gewordene Popularitt – ich glaube, sie begann gegen 1860 – hat mir den Schriftsteller und Denker nicht zu verleiden vermocht.
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auch, namentlich in den Schulen Deutschlands, eine Opposition gegen den Frankfurter Philosophen geltend, die mir ebenso unbegrndet und – ich will nur das gerade in den betreffenden Kreisen so beliebte Wort gebrauchen – recht oberflchlich scheint. Nur selten wird es einem so gut, unparteiische, wohlunterrichtete Mnner, auf gebhrende Weise von Schopenhauer reden zu hçren. Meist geht es in der gelehrten Sphre auf ein einfaches Absprechen hinaus, wie denn noch jngst Heinrich v. Treitschke in seinen schçnen Aufstzen ber den Socialismus und seine Gçnner in einer Weise ber Schopenhauers Pessimismus ganz im Vorbergehen abgeurtheilt hat, die eines so geschmackvollen und unabhngigen, gewçhnlich so genau unterrichteten Schriftstellers, einer Zierde unserer Prosaliteratur, nicht ganz wrdig war. Widerlegungen der Schopenhauer’schen Philosophie ex cathedra, wie die Jrgen Bona Meiers, oder vom Standpunkte des sogenannten Menschenverstandes, wie die David Strauß’, sind ebenfalls noch sehr hufig zu lesen, und werden von vielen ohne weitere Prfung als begrndet angenommen, whrend sie doch auf keinerlei Weise in den Gegenstand eingehen. Selbst ein so gewissenhafter Historiker wie Zeller lßt sich, mehr als billig, von dem beherrschen, was ihm in Schopenhauers Charakter oder Auftreten antipathisch ist, und glaubt seine, brigens durchaus sachliche, tiefgehende, wrdig gehaltene Analyse und Besprechung des Schopenhauer’schen Systems mit der Bezeichnung desselben als „einer im besten Falle geistreichen Paradoxie“ schließen zu mssen, weil er darin eine gewisse Anzahl von Widersprchen aufgedeckt. Als ob nicht jedes philosophische System, eben weil es System ist, Widersprche enthielte. Man kann Schopenhauer als Philosophen oder als Schriftsteller betrachten, im Philosophen wieder den Metaphysiker und Logiker, den Psychologen und Moralisten unterscheiden; im Schriftsteller den Humoristen, den Polemiker und den Lehrer. Nun ist es sehr natrlich und sehr erlaubt, ihn nicht in allen diesen Eigenschaften billigen zu wollen, ja, ihn aufs entschiedenste zu bekmpfen; nur soll man anerkennen, daß man es mit einem Großen zu thun hat, und demgemß seinen Tadel und Widerspruch mit Wrde und mit Ehrerbietung vorbringen. Goethe’s Farbenlehre wird von den meisten Gelehrten als irrig verworfen, und der leidenschaftliche Ton des Dichters in diesem Werke muß wohl, gleich dem Schopenhauers, manchmal unangenehm berhren; deshalb wird jedoch z. B. Helmholtz, wenn er Goethe’s Untersuchungen bespricht, nie den Ton der hçchsten Achtung beiseite legen. Eine andere Sprache ist nur der Ignoranz und der anmaßlichen Impotenz gegenber gestattet. Nun wird Niemand, der Schopenhauer’s Abhandlung ber den zureichenden Grund, seine Kritik Kants, seine Schriften ber die Freiheit des Willens, seine Skizzen zur Geschichte der Philosophie gelesen hat, den Verfasser derselben fr einen Ignoranten in der speciellen Fachgelehrsamkeit oder fr einen oberflchlichen Denker, einen kritiklosen Kritiker erklren wollen. Seine Schriften ber den „Willen in der Natur“ und ber „Sehen und Farben“ scheinen, dem Laien
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wenigstens, ganz andere Kenntnisse zu verrathen als die Schelling’sche Naturphilosophie, ja auf ganz ebenso genauer Bekanntschaft mit der modernen Naturwissenschaft zu beruhen als z. B. Lotze’s Werke, dem doch Niemand Ignoranz vorwerfen wird. Was nun die allgemeinen Kenntnisse anbelangt, Sprachen, Poesie, Geschichte, so gibt es wohl eingestandenermaßen kaum einen Schriftsteller, der ihn bertrfe. So viel ber die Unwissenheit. Die geistige Ueberlegenheit Schopenhauers, sein metaphysisches Genie beweisen zu wollen, hieße, fr Jeden, der den so anregenden Denker wirklich gelesen hat, Eulen nach Athen tragen. Die große Einheit des Grundgedankens, dem sich alles in seinem System unterordnet, wre, selbst wenn er durchaus als falsch bezeichnet werden mßte, ein hinreichender Beweis von philosophischer Begabung; und auch Originalitt wird man ihm nicht absprechen wollen. Nun ist es aber mit der Metaphysik ein eigenes Ding. Es gibt darin eben keine absolute Beweisfhrung wie in der Astronomie oder Mechanik; folglich wird es immer verschiedene Philosophien geben; die Frage ist nur: ob die Verschiedenheit des philosophischen Glaubensbekenntnisses zur Mißachtung der Andersdenkenden berechtigt. Hat man ein Recht, weil man den Geist als das Allesbewegende gesetzt hat, denjenigen als einen des Philosophen-Namens Unwrdigen zu betrachten, der die Materie oder den Trieb, den Willen, als das primum novens setzt? Dieß berlasse man doch den Theologen und Politikern. Aristoteles ist noch kein Verbrecher, auch kein Thor, noch weniger ein oberflchlicher Paradoxenhndler, weil er andere Wege geht als Platon. Muß durchaus jeder Leibnizianer den Spinoza als einen Charlatan ansehen? Schopenhauer hat es freilich so mit Fichte, Schelling und Hegel gehalten; aber es ist dies eben nicht das Schçnste an ihm, obwohl noch immer zu entschuldigen, wenn man an die unverdiente Mißachtung denkt, deren Opfer er so lange war. Fr die Nachgebornen gibt es keinerlei solcher Entschuldigung. Darin geben uns die Auslnder ein zu beherzigendes Beispiel: es fllt keinem Franzosen der materialistischen Schule bei, den Cartesius aus der Schaar der Philosophen zu verbannen, und selbst der verstockteste englische Positivist wird nicht daran denken, Berkeley wegen seines absoluten Idealismus den Namen eines Philosophen abzustreiten. In den Bchern vieler deutschen Professuren wird noch immer Schopenhauer entweder ignorirt oder aber als ein geistreicher Paradoxenjger, wenn nicht als amsanter Witzbold dargestellt. Ein anderer Vorwand zur Anfeindung Schopenhauers ist seine Moral, oder vielmehr, was man fr seine Moral ausgibt: man frchtet seinen schlimmen Einfluß. Die eigentliche Grundlage der Schopenhauer’schen Moral ist bekanntlich das Mitleiden; diese Grundlage aber und die ganze darauffolgende Ausfhrung lassen die Gegner oder vielmehr Verchter des Frankfurter Philosophen gewçhnlich beiseite, um sich gegen seinen Pessimismus zu wenden. Dieser wende die Menschen von der brgerlichen Thtigkeit dieser Welt ab, und da nur die Wenigsten, nicht einmal der Philosoph selber, das Schopen-
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hauer’sche Ideal der Heiligkeit erreichen kçnnten, so wre die Folge, daß man sich ganz gehen lasse, im besten Fall ein rein beschauliches Leben fhre. Hier wre nun zuvçrderst zu wiederholen, daß es auf die Resultate gar nicht ankommt bei einer wissenschaftlichen Frage, sondern auf die Wahrheit; daß, wenn die Schopenhauer’sche Theorie zur Vernichtung alles dessen fhrte, was wir fr gut und schçn zu halten gewohnt sind, sie doch anerkannt werden mßte, sobald wir sie fr wahr erkannt. Man suche Schopenhauers Pessimismus – der auch Leopardi’s und vieler andern Großen Weltauffassung war – zu widerlegen, wie man Larochefoucault’s System des Egoismus zu widerlegen gesucht hat; man komme aber nicht dogmatisch, wie der Priester, heran, und sage: „Larochefoucault’s und Schopenhauer’s Theorien sind vom Uebel.“ Das ist schimpfen, man verzeihe mir das Wort, nicht argumentiren. Leider ist dieser Pfaffenton, namentlich unter den Liberalen – das Wort kommt doch von liber – stark eingerissen, und wenn man von Jemanden gesagt hat: er ist ein Reactionr, oder ein Frommer, oder ein Skeptiker, oder ein Pessimist, so meint man den Betreffenden unberufbar verurtheilt zu haben: genau wie ein Orthodoxer einen Menschen gebrandmarkt zu haben whnt, wenn er ihn einen Atheisten schilt. Ich muß gestehen, daß mir die Auffassung des Liberalismus, die dem Mitbrger die Freiheit schmlern will, nach Gefallen ein Reactionr oder Pessimist zu sein, keineswegs als ein Fortschritt erscheint. Weiter aber ist hinzuzufgen, daß zwischen einer metaphysischen Theorie und ihrer praktischen Anwendung kein so nothwendiger directer Connex ist wie man es wohl anzunehmen pflegt. Luther’s und Calvin’s Determinismus haben weder Luther und Calvin, noch die Vçlker und Generationen, die ihre Lehre angenommen, verhindert zu handeln als wren sie frei. Kant selber setzte der reinen Vernunft die praktische gegenber. Der absoluteste Skeptiker nimmt im Leben die Realitt an, und so kann man den Schopenhauer’schen Pessimismus theoretisch vollstndig annehmen, und doch sich in allem Thun und Lassen von dem auf instinctivem Optimismus beruhenden Selbsterhaltungstriebe leiten lassen. Es kommt nur darauf an, daß man beim Besinnen – was uns doch eigentlich allein ber das Thier erhebt, dessen instinctivem Handeln unser bewußtes und intelligentes Handeln allein gar nicht so sehr berlegen wre – nie vergesse, daß dieses reelle Leben nicht das Ding selber sei; daß alles Vergngliche nur ein Gleichniß ist. Ob die immer mehr durchdringende Schopenhauer’sche Weltanschauung das deutsche Volk, individuell und als Nation, zur „Verneinung des Willens zum Leben“ gefhrt, das mçge die Geschichte der letzten Jahre beweisen. Oder spricht aus unserer Naturforschung, dem Aufschwung unseres Handels, unserm Staatsleben ein Geist der Entmuthigung und des praktischen Pessimismus? Ich kçnnte aber mehr als einen unserer eifrigsten Forscher, unserer thtigsten Geschftsleute, unserer thatkrftigsten Politiker nennen, die berzeugte Schopenhauerianer sind.
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Endlich und vornehmlich thut uns ein Lehrer sehr wohl der uns, bei der im Allgemeinen ganz berechtigten Strçmung, welche unser Geschlecht erfaßt hat, daran gemahnt, daß es noch etwas anderes als den Staat gibt: daß Kunst, Wissenschaft, Religion, Familie nicht nur um des Staates willen da sind, sondern gleichberechtigt, eher hçherberechtigt, neben und in ihm stehen; womit jedoch keineswegs gesagt sein soll, daß der Staat eine simple gegenseitige Versicherungsanstalt zu werden habe und keinerlei sittliche Individualitt besitze. Schopenhauer hat nie und nirgends Staat und Nationalitt verneint: er hat die bertriebene Betonung dieser zwei Factoren im Leben bekmpft, ihrem Vordrngen Schranken setzen wollen, uns nicht den Brger und Patrioten, sondern den Denker und Menschen als Ideal hingestellt. Und da muß denn entschieden darauf hingewiesen werden, daß dieser Standpunkt ein hçherer ist. Nicht alle Menschen kçnnen Staatsmnner, nicht alle kçnnen Denker sein oder Knstler, wie Schiller es als Ziel der Civilisation hinstellte. Jenes Geschlecht mochte bertreiben; aber auch das unsrige bertreibt im entgegengesetzten Sinne, und es ist gut, daß nicht alle sich hinreißen lassen: denn es ist durchaus nicht gleichgltig, ob eine Nation dieses oder jenes Ideal verehrt, gleichviel ob es von vielen Einzelnen erreicht wird, oder nicht. Oder meint man wirklich, es wre ein großer Fortschritt damit erzielt, wenn ein Volk Aristides ber Platon, Pitt ber Locke stelle? Die grçßten Staatsmnner aber, ein Perikles, ein Friedrich, waren zugleich Philosophen, und wenn sie zum Besinnen die Muße fanden, so empfanden sie wohl, daß ihre interesselose Geistesthtigkeit eine edlere war, als ihre praktische, so segenbringend diese auch sein mochte. Auch fr das Geistige, so gut wie fr das Sittliche, gilt die Moral Jesu in Bethanien; und wenn Martha zu loben ist, so soll man uns Maria drum nicht schelten. Schopenhauer aber ist nicht nur ein wohlgeschulter Denker und ein gelehrter Philosoph; seine Welterklrung, seine Aesthetik, seine Moral, ob man sie nun billige oder mißbillige, mssen nicht nur von jedem Unbefangenen als originelle und tiefe Gedankenerzeugnisse angesehen werden – die Aesthetik ist auch von den entschiedensten Gegnern als ein solches anerkannt – Schopenhauer ist auch ein großer Schriftsteller. Cartesius, Spinoza, Leibniz, Locke, wie Kant und Hegel, haben eigentlich nur in dem Inhalte, nicht in der Form ihrer Schriften ihre dauernde Bedeutung; Schopenhauer aber ist zugleich Knstler, gemeinverstndlicher Schriftsteller. Nun haben wir wahrlich in Deutschland der großen Prosaiker nicht so gar viele, daß wir einen bedeutenden Stylisten ohne Weiteres perhorresciren sollten, weil seine Ideen unsern wissenschaftlichen Obertribunalen nicht mundgerecht sind. Speciell aber sind wir ganz besonders arm an geistreichen Moralisten – oder meint man, in stolzem Nationalbewußtsein, unser Knigge wiege allein Montaigne und Pascal, Larochefoucault und Labruyre, Vauvenargues und Chamfort auf ? Nun haben wir endlich an Schopenhauer unsern Montaigne gefunden – und wir sollten ihn nicht gelten lassen, weil er ein „trostloser Pessimist?“ Da drften uns denn doch die Fran-
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zosen eine Lection geben. Wo ist der einseitigste Idealist oder Spiritualist in Frankreich, dem es einfiele Montaigne herabzusetzen, weil er einem „trostlosen Skepticismus“ gehuldigt? Wo der verstockteste Materialist, der, Pascal nicht als eine Grçße seines Vaterlandes reclamirte, weil er orthodox gewesen? Wenn ich solche wegwerfende Aeußerungen ber Schopenhauer hçre, so muß ich mir immer eins oder das andere denken: entweder man hat ihn nicht gelesen, ist vielleicht vom wissenschaftlichen Apparat der einleitenden Abhandlung und der beiden ersten Bcher des Hauptwerkes vom weiteren Vordringen abgeschreckt worden; oder man hat die „Parerga und Paralipomena“ zur Hand genommen, und hat gefunden, daß der Denker – proh pudor! – amsant zu sein wagte. Die Begriffe amsant und grndlich, unterhaltend und gediegen gelten aber noch vielfach bei uns fr Gegenstze, unvereinbare Gegenstze. Wer doch die Schopenhauer’schen Digressionen, seine Aufstze „ber Lesen und Bcher“, „ber Lrm und Gerusch“, „ber die Weiber“, „ber Schriftstellerei und Styl“, „ber die Metaphysik der Geschlechtsliebe“, seinen wundervollen Dialog ber Religion, einmal ganz unbefangen lesen wollte, wie er einen Leopardi’schen Dialog liest, d. h. ohne alle Hintergedanken von Partei und Schule, aber auch ohne sich durch das Fremdartige und Ungewohnte der Gedanken gleich zum Schlusse hinreißen zu lassen, daß er es hier mit Paradoxen zu thun habe: der mßte, wie mir scheint, an dieser Lectre noch mehr Gefallen finden, als an der Montaigne’s. Spricht der Verfasser doch die Sprache unseres Landes und unseres Jahrhunderts; ist er doch dadurch allein uns um ebenso viel nher als der „Faust“, uns nher denn „Lear“ oder „Macbeth“ ist. Auch seine Kunst der Citate, in der er mit dem großen Zweifler wetteifert, spricht uns Moderne mehr an, da er ein ungeheures literarisches Gebiet, von Shakespeare und Calderon bis auf Goethe, in seinen Bereich zieht, welche Montaigne nicht kannte. Seine Sprache hat nicht den alterthmlichen Reiz Montaigne’s; ihm fehlt die lchelnde Ironie des Gascogners; dagegen glht eine erwrmende Leidenschaft in dem Ostpreußen, die jenem abging, und hat seine Sprache eine Lebendigkeit und Klarheit, die man in dem etwas schleppenden Periodenbau der Essays nicht findet. In der Sprache wßte ich ihm in der That von den großen Moralisten Frankreichs nur einen – den grçßten Prosaiker seiner an schçner Prosa so reichen Literatur – an die Seite zu stellen, Pascal. Die Propriett der Ausdrcke, die Flle der schçnen Gleichnisse, die durchsichtige An- und Unterordnung der Gedanken, die Leichtigkeit und Correctheit des Satzballes, die Farbe und, das Leben dieses Styls sind beinahe einzig in unserer Literatur. Nichts Pedantisches, keinerlei Rhetorik und keinerlei Liederlichkeit, keine Magerkeit und kein unntzes Fllsel; hinter jedem Worte ein Gedanke und der Gedanke durchgngig so originell wie das Wort. Schopenhauer ist im hçchsten Grad anregend, suggestiv, wie die Englnder sagen; und das ist ja das hçchste Lob eines Schriftstellers. Sind denn alle diese Vorzge so gar nichts? Ist denn ein solcher Schriftsteller nur ein Possenreißer oder ein griesgrmiger Grobian, weil er hie
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und da in Vorreden ober Anmerkungen etwas derb und gehssig ber seine Gegner hergezogen, und weil er das Steckenpferd des jetzigen Geschlechts nicht reitet? Wir Deutschen haben eine einzige Kunst uns unsere besten Dinge zu verderben oder zu verleiden. So hat man es einst mit Wieland’s „Leichtfertigkeit“, dann mit Goethe’s „Aristokratismus“, endlich mit Heine’s „Gesinnungslosigkeit“ gethan, und es hat erst Jahre lang gebraucht, ehe sich die tonangebenden chefs de file unseres Publikums dazu verstanden, die beanstandete Waare passiren zu lassen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß der streng philosophische Theil von Schopenhauer’s Werk je populr werde, einerseits weil es berhaupt nicht in der Natur streng philosophischer Werke liegt, je populr zu werden, und wren sie selbst die Erzeugnisse eines Spinoza oder Kant; andrerseits weil selbst die verschwindend kleine Zahl, die sich heute noch mit strenger Speculation befaßt, fast ausnahmslos zu Schopenhauer’s Gegnern gehçrt und alle Positionen besetzt hlt. Doch wird hoffentlich der Tag nicht fern sein, an welchem die gemeinverstndlichen Schriften des genialen Denkers, seine geistreichen Beobachtungen ber Menschen und Dinge – Leidenschaften, Handlungen, Zustande, Schicksal, Kunst, Wissenschaft, Staat, Religion, – meinetwegen getrennt und losgelçst vom „System“, in der Bibliothek jedes gebildeten Deutschen neben Lessing und Goethe stehen, wie in jedem franzçsischen Hause, und sei es das frçmmste, neben Molire und Racine nie ein Montaigne vermißt wird. Reaktionen Carl von Gersdorff an N, 3. 12. 1874 ber das von ihm an Leopold Rau gesandte Exemplar von Schopenhauer als Erzieher: „Er hat gleich Deine N. 3 vorgenommen und fast in einem Zuge durch gelesen und schreibt in seiner einfachen Weise folgendes: ,Ich danke Ihnen recht herzlich fr Nietzsches ,Schopenhauer‘; heut bekam ich ihn und habe ihn schon fast durchgelesen. Es ist das erste gute Buch ber Schopenhauer. Ich bekomme zu Nietzsche immer mehr Liebe, je mehr ich von ihm lese, er ist ein Mensch, der nicht nach der Schablone denkt; sondern frei, wie ein Kçnig durch das Reich der Gedanken geht, nicht wie die Anderen, die es im besten Falle zu verantwortlichen Ministern bringen, verantwortlich den Philistern und der angelernten Historie im Innern. Es wird mir dies das liebste Buch von den Unzeitgemssen bleiben; ich habe das Gefhl beim Lesen, als ob es fr mich geschrieben wre; die beiden ersten sollen mehr eine Zuchtruthe fr die Spitzbuben im Geiste sein, dieses dritte ist fr die anstndigen Leute im Geiste; man fhlt sich wohler beim Anschauen und Erkennen eines Genius als beim Kampf mit dem Gemeinen.‘“ KGB II/4, Bf. 609, S. 615
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Cosima Wagner an N, 31. 12. 1874: „Aber Hillebrandt! Was haben Sie zu dessen Aufsatz in der A[lugsburger] A[llgemeinen] Z[eitung] gesagt? Hatte ich nicht recht mit dem Bchlein? Ein ganz verhegelter Kopf, dem Ihre Schrift nichts anderes eingegeben hat, als den Wunsch nun auch sein Wçrtchen ber Schopenhauer zu sagen, und zwar von oben herab, mild verstndnisvoll – Oh! –“ KGB II/4, Bf. 619, S. 643 Theodor Opitz an N, 21. 12. 1874: „Schopenhauer als Erzieher“ Dies Bchlein ber Arthur Schopenhauer Ergreift, wie allerbeste Poesie, Die Seele mchtig, und ein Freudenschauer Durchzuckt befreiend und erhebend sie. Ein tapfres Bchlein ist’s, voll Geist und Feuer, Ja, eine Wetterthat der Leidenschaft: Der Blitzstrahl flammt, es rollt der Donner neuer Belebung stark mit reinigender Kraft. Und hinter diesem brausenden Gewitter Wçlbt sich des ew’gen Himmels stilles Blau; Und vor uns steht der Wahrheit ernster Ritter In seiner vollen Grçße, welche Schau! „Unzeitgemß“ ist freilich Alles sehr, Doch darum zeitgemß just umso mehr. KGB II/4, Bf. 617, S. 639 f
N an Theodor Opitz, 21. 12. 1874: „Nun schon zum zweiten Male habe ich von Ihnen, geehrtester Herr, ein Zeichen sympathischen Einverstndnisses erhalten. Will ich versuchen Ihnen dafr zu danken, so mssen Sie mir auch freistellen, es auf meine Weise zu thun, ich meine hier nmlich, auf eine recht bescheidenhochmthige Art. Ich sehe von dem persçnlichen solcher Begegnungen ab und vergesse, daß Sie mich gelobt und geehrt haben, denke mir aber, daß Sie und ich ber irgend etwas sehr Wesentliches Einer Meinung und daß wir Beide Recht haben. Darauf kommt es nmlich an, wirklich glauben zu kçnnen, daß man mehr recht hat mit seinen unzeitgemßen Meinungen als die ganze Zeit mit ihren zeitgemßen: da steckt das Hochmthige, von dem ich sprach, da aber auch das Bescheidene. Denn es ist gar kein Verdienst dabei von einer grnen Thr zu sagen sie sei grn und von der Wahrheit, sie sei wahr. Wir thun damit doch eben nur das Unvermeidliche und nehmen den Steinen die Mhe ab, die ja, wenn wir schweigen, schreien mssten. Denn ber Schopenhauer etwas zu sagen war fast schon zu spt. Mir scheint es, hier haben schon die Steine geschrieen.“ KGB II/3, Bf. 409, S. 282 f
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Erwin Rohde an N, 27. 2. 1875: „Von Deiner Nr 3 [Schopenhauer als Erzieher] versprt man noch keine Wirkung; ich denke aber, nchstens werden die Herren lossprudeln. Hier besitzen wir, in Herrn Pfleiderer, einem Urschwaben, auch ein philosoph[isches] Prachtstck. Dieser theilte mir neulich mit: ,ja, Ihr Freind ischt halt sehr uhngehalten darber, daß es nit lauter Schenies gibt, mein Gott, es muß doch auch Mittelmßige geben, u.s.w. Er ischt nun aber halt sackgrob u.s.w.‘ So fasst dieses Schenie den Inhalt Deiner Schrift auf! ich ließ ihn natrlich dabei. – “ KGB II/6,1, Bf. 642, S. 51
Anonym [Monod, Gabriel]: Schopenhauer als Erzieher. In: Revue critique d’histoire et de litterature. Paris, Bd. 9, Nr. 4 vom 23. 1. 1875, S. 63–64. F. Nietzsche. Unzeitgemæsse Betrachtungen. Drittes Stck: Schopenhauer als Erzieher. Schloss Chemnitz, Schmeitzner. In-88, 113p. – Prix: 8 fr. Cette troisime brochure a t pour nous une dception. Le titre nous avait fait esprer une œuvre d’une tout autre porte; nous pensions qu’aprs avoir, au nom de la philosophie de Schopenhauer, attaqu Strauss et l’rudition des Universits allemandes, l’auteur allait mettre en regard l’education telle que Schopenhauer l’a comprise et telle qu’elle devrait Þtre dirige d’apres ses thories. Au lieu de cela, M. Nietzsche s’est content de faire une troisime satire contre ses compatriotes en gnral et contre les savants allemands en particulier. Ses critiques manquent de varite et leur exagration leur enlve une partie de leur force. Il descend mÞme des personnalits aussi dpourvues de convenance que de vrit, par exemple quand il crit: „J’aime mieux lire Diogne Laerce“ que Zeller, car je retrouve du moins chez lui l’esprit des anciens philosophes, „tandis que chez Zeller je ne retrouve ni leur esprit ni aucun autre“ (p. 101). Le sujet choisi par M. N. tait pourtant du plus haut intrÞt. Schopenhauer, aprs avoir vcu pendant de longues annes au milieu de l’indiffrence universelle, est devenu aujourd’hui le plus lu et le plus got des philosophes allemands. Les officiers l’emportent avec eux en campagne, les hommes du monde et les femmes mÞmes s’en nourrissent avec passion. Il vaut certes la peine de se demander quelle influence il peut exercer et quelle ducation il donne ceux qui se mettent son cole. M. N, aurait pu expliquer plus qu’il ne l’a fait le rle prdominant que Schopenhauer assigne l’art et au-dessus de l’art la saintet dans la vie humaine, et les prceptes hroques qu’il tire de sa conception pessimiste, du monde. Il aurait cherch rfuter ceux qui voient dans le pessimisme outr de Schopenhauer, dans son mpris de l’action, dans le cynisme avec lequel il dmontre l’homme non-seulement le nant, mais la bassesse de ses plus sublimes motions, dans la maldiction dont il frappe la nature entire,
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les signes d’une philosophie de dcadence, faits pour une poque blase et impuissante. Au lieu de cela, M. N. se contente de retourner sur toutes ses faces une seule ide; il rpte sous cent formes diverses que Schopenhauer tait un homme complet, et non un pdant, et que le vrai philosophe doit Þtre avant tout un homme, non un savant, doit Þtre instruit par la vie, non par les livres. On retrouve bien dans certaines parties de cette brochure la verve et l’nergie pittoresques que nous avons signales dans les prcdentes, mais l’ensemble est faible et abondant en redites. Quand M. N. se moque de ceux qui comme Strauss pensent que la fondation de l’empire allemand a port un coup mortel au pessimisme philosophique, ou de ces vainqueurs de 1870 qui n’ont rien de plus press que de copier avec plus d’ardeur que jamais les modes et les actes des vaincus comme des barbares qui auraient t pou r la premire fois en contact avec la civilisation, nous ne pouvons que le fliciter de sa franchise et de son courage; mais nous ne saurions approuver sans restriction ses attaques contre la science allemande et les savants allemands. Au milieu de la dcadence morale et intellectuelle que M. N. signale en Allemagne et que nous n’avons garde de nier, les travaux scientifiques qui sortent des Universits devraient Þtre pour lui un sujet de consolation et non de colre. Les modestes et laborieux rudits d’aujourd’hui amassent des matriaux qu’utiliseront un jour des esprits gnralisateurs et crateurs. Quant aux pdantisme et tous les vices qui en sont la consquence, ce ne sont pas les protestations de M. N. qui le feront fuir, ni mÞme cette destruction sauvage de tous les livres qu’il prdit avec une sorte de joie; une seule belle œuvre de posie ou d’art fera plus pour mettre les pdants en droute que toutes les injures, plus mÞme que les plus loquentes apostrophes. Ce n’est pas l’rudition des Universits qui empÞche les Allemands d’avoir des crivains, des potes, des peintres, des musiciens; s’ils n’ont en ce moment que des savants, c’est qu’ils ne peuvent pas produire autre chose; mais grce ces savants, ils font encore assez bonne figure en Europe. Reaktionen N an Ernst Schmeitzner, 10. 2. 1875: „Die ,Kritik‘ muss wohl eher von einem franzçsischen Kellner sein als von einem franzçsischen Gelehrten.“ KGB II/5, Bf. 426, S. 22 Ernst Schmeitzner an N, 12. 2. 1875: „Es war mir unangenehm, daß die erste Kritik ber die 3. Betrachtung, die ich Ihnen schicken konnte, gerade diese der revue war; nun hoffentlich haben die Schreiber der nchsten eintreffenden Recensionen das ,Buch auch wirklich gelesen‘ was bei dem betreffenden Franzosen vielleicht gar nicht der Fall war.“ KGB II/6,1, Bf. 632, S. 32
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N an Carl von Gersdorff, 21. 5. 1875 „Weisst Du etwas von Frl von Meysenbug? Haben wir sie verletzt? Ich habe seit unsrer Sendung nicht von ihr gehçrt. Ich frchte sehr, die Monod-Geschichte, Du weisst, die Recension!“ KGB II/5, Bf. 447, S. 53
Anonym: Aus der philosophischen Literatur. In: Neue Evangelische Kirchenzeitung. Berlin, Nr. 21 vom 22. Mai 1875, Spalte 335. In der Rubrik „Aus der philosophischen Literatur“ wird Nietzsches UB III erwhnt: Zu der letzteren Klasse [des Pessimismus] zhlen wir nicht die Schrift des Schopenhauerianers Dr. Friedr. Nietzsche in Basel „ber Schopenhauer als Erzieher“. Dieselbe enthlt nicht nur eine Verherrlichung des Meisters, sondern wesentlich eine, nach Art der Schule, derbe und herbe Anklage gegen die heutige Cultur und ganz besonders gegen die heutige „Universittsphilosophie“. KGB II/7,3,2, S. 542 Reaktionen Ernst Schmeitzner an N, 26. 7. 1875: „Mit dem Absatz Ihrer 3. Betrachtung bin ich immer noch sehr zufrieden, wir hatten 1874 ja nur 2 Monate zum Verkaufen! Ueber diese Betrachtung sind Recensionen erschienen: Neue evangel. Kirchenzeitung 21. Theol. Literaturblatt X. 14 Bl. f. literar. Unterhaltung 28.
Die beiden letzten sende ich Ihnen unter Kreuzband. Die erste davon (Literaturbl.) wrde recht sehr zum Lachen sein, wenn sie nicht gar so albern wre! Da sie mir vom Verlage gratis geschickt wurde, sende ich sie Ihnen auch zu, sie wird Sie hoffentlich recht gleichgltig lassen und darum nicht ungnstig auf Ihre Cur einwirken.“ KGB II/6,1, Bf. 696, S. 173
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Langen, Heinrich: Schopenhauer. In: Theologisches Literaturblatt. Bonn, Bd. 10, Nr. 14 vom 4. 7. 1875, Sp. 328–330. Schopenhauer Unzeitgemße Betrachtungen von Dr. Friedrich Nietzsche, ordentl. Professor der classischen Philologie an der Universitt Basel. Drittes Stck: Schopenhauer als Erzieher. Schloß- Chemnitz, E. Schmeitzner, 1874. 113 S. 8. 3 M. Der Verfasser der genannten Schrift ist ein aufs hçchste begeisterter Verehrer Schopenhauers. Die Schopenhauer’sche Weltanschauung bietet ihm allein die Mçglichkeit einer eigentlichen Erlçsung der Menschheit; es erscheint ihm daher notwendig die Letztere zu jener Anschauung heranzubilden. Von sich selbst sagt der Verf., dass er sich rhmen kçnne, in Schopenhauer seinen „Lehrer und Zuchtmeister“ gefunden zu haben. Ein solcher Erzieher aber, meint N., ist fr die jetzige Welt im hçchsten Grade erforderlich; denn statt das ererbte Kapital von Sittlichkeit, welches unsere Vorfahren anhuften, zu mehren, verstehen wir nur noch es zu verschwenden (S. 12). Wie das dereinst siegende Christenthum seinen Einfluß auf die Sittlichkeit der alten Welt gehabt hat, so wird sich auch die Rckwirkung des in unserer Zeit unterliegenden Christenthums geltend machen. Der moderne Mensch vermag nicht zur idealen Hçhe des Christenthums emporzusteigen, ebenso wenig aber zur antiken Tugend zurckzukehren. In diesem Hin und Her, zwischen Christlich und Antik, zwischen verschchterter oder lgnerischer Christlichkeit und ebenfalls muthlosem und befangenem Antikisieren lebt der moderne Mensch und befindet sich schlecht dabei; die vererbte Furcht vor dem Natrlichen, die Begierde irgend wo einen Gott zu haben, die Ohnmacht seines Erkennens, das zwischen dem Guten und Bessern hin und her taumelt, alles dies erzeugt eine Friedlosigkeit, eine Verworrenheit in der modernen Seele, welche sie verurtheilt, unfruchtbar und freudelos zu sein (S.13). Dazu kommt dann noch, nach der Ansicht des Verf., die allgemeine Unehrlichkeit und Verstellung, zu der unsere Zeit den Menschen nçthigt. In solchem „Elend des Lebens“ ist ein Befreier fr die „moderne Seele“ allerdings ußerst wnschenswerth. Einen solchen Befreier glaubt N. in Schopenhauer wiedergefunden zu haben. Er soll der Menschlichkeit der Fhrer werden, welcher ihr heraushilft, aus der „Hçhle des skeptischen Unmuthes“ und sie emporfhrt „zur Hçhe der tragischen Betrachtung.“(S. 26) Alles Leben ist ja nach Schopenhauer Leiden, weil der Wille als stets gehemmtes Streben in die Erscheinung tritt. Von dieser Unseligkeit befreit uns das Schopenhauer’sche Erkennen, ausgehend vom reinen Subjecte, welches, sich erhebend ber die Erkenntißformen von Raum, Zeit und Qualitt, den Gegenstand vçllig objectiv
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als Idee auffasst, wodurch der Intellect sich von der Dienstbarkeit des Willens losreißt, und das Subject ein dienstfreies, willen- und schmerzlos wird. Eine Erhçhung dieser Schmerzlosigkeit ist dann die Heiligkeit, begrndet in der hçhern Erkenntnis, dass der „Wille zum Leben“ voll Widerstreit, Richtigkeit und deshalb voll Leiden ist. Daraus folgt die Verneinung des Willens zum Leben, d. i. die absolute Entsagung. Und so fhrt auch N. aus, wie der Mensch nach Schopenhauers Anleitung Einsicht gewinnen msse in das eigene Elend und Bedrfnis, in die eigene Begrenztheit, um die Gegenmittel und Trçstungen kennen zu lernen: nmlich Hinopferung des Ichs, Unterwerfung unter die edelsten Absichten (S. 27). Schopenhauer selbst soll uns hierin ein Vorbild sein.“Er trug mit Grçße und Wrde seinen Beruf als siegreich Vollendeter.“ Allerdings wird man unserer Ansicht nach das Selbstlob, die maßlose Ruhmsucht, die rohen Schmhungen Schopenhauers ber Andersdenkende, die „Philosophaster“ und „summi philosophi“ u.s.w. mit dieser „Grçße und Wrde“ schlecht in Einklang bringen kçnnen. Aber „auch ber den grçßten Menschen erhebt sich sein eigenes Ideal“, fgt der Verf. mit einem Hinblick auf Schopenhauers „Stimmung“ bei. Ein Hauptverdienst seines verehrten Erziehers sieht N. darin, daß er eben gegen eine Zeit angegangen sei; das msse auch unsere große Aufgabe sein. Ich ergçtze mich an der Vorstellung, dass die Menschen bald einmal das Leben satt bekommen werden und die Schriftsteller dazu, dass der Gelehrte eines Tages sich besinnt, kein Testament macht und verordnet, sein Leichnam solle inmitten seiner Bcher, zumal seiner eigenen Schriften verbrannt werden… Es wre mçglich, daß einem sptern Jahrhundert vielleicht gerade unser Jahrhundert, als saeculum obscurum gelte, weil man mit seinen Producten am eifrigsten und lngsten die Oefen geheizt htte (S. 35). Daß das Vorgenannte nur eine „Vorstellung“bleiben wird, drfte eine nicht allzukhne Annahme sein. Inwiefern jene Vorstellung eine mehr oder weniger „ergçtzliche“ ist, bleibt natrlich Geschmackssache. Bei Gelegenheit der obigen Ausfhrung fllt dann auch nach Schopenhauer’scher Art etwas fr die deutschen Philosophie-Professoren ab. Sie treiben eine „ekelhafte, zeitgçtzendienerische Schmeichelei“ mit dem neuen deutschen Reich. Und wenn man dem Verf. aufs Wort glauben soll, so sind einige gar der Ansicht, dass durch eine „politische Neuerung“ die Menschen „ein fr allemal zu vergngten Erdenbewohnern zu machen“ seien (S. 37). Wir kçnnen vor der Hand noch nicht annehmen, dass irgendein Professor der Philosophie diese Ansicht habe, auch nicht die an dieser Stelle genannten Professoren Harms in Berlin, Jrgen Bona Meyer in Bonn und Carrire in Mnchen. Nach N. befinden wir uns auch jetzt noch im „eistreibenden Strome des Mittelalters.“ Der Staat „wnscht, dass die Menschen mit ihm denselben Gçtzendienst treiben mçchten, den sie mit der Kirche getrieben haben… Die Revolution ist nicht zu vermeiden“ (S. 41) In alledem kann uns nur „das Bild des Schopenhauer’schen
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Menschen“ helfen. Er nimmt „dass freiwillige Leiden wahrhaftig auf sich, und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertçdten und jene vçllige Umwlzung und Umlehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu fhren der eigentliche Sinn des Lebens ist“ (S. 45). Praktisch soll der „Schopenhauer’sche Mensch“ auf die Erziehung dadurch einwirken, dass man dem Zçgling einpflanze, sich als ein „mißlungenes Werk der Natur zu verstehen,“ welches er zu corrigieren trachten soll (S. 61). Dieses ist auch der Weg, der zur Cultur fhrt. Die Erziehungsanstalten mssen deshalb beim jetzigen Zeitgeiste, der nichts von dem Ziele der Cultur weiß, entgegen, in Grund und Wesen umgestaltet werden. Allerdings wird es, wie der Verf. meint, unsgliche Mhe kosten, bis Grundgedanken unseres jetzigen Erziehungswesens, das seine Wurzeln im Mittelalter hat, mit einem neuen Grundgedanken zu vertauschen (S. 82). Die ersten Bedingungen einer solchen Erziehung, in denen der „philosophische Genius“ trotz aller Gegenwirkungen dennoch in unserer Zeit entstehen kann, sind beim Verf. „freie Mnnlichkeit des Charakters, frhzeitige Menschenkenntnis, keine gelehrte Erziehung, keine patriotische Einklemmung, kein Zwang zum Broderwerben, keine Beziehung zum Staate, – kurz: Freiheit und immer wieder Freiheit“ (S. 94). Wie man sieht, zum Teil recht eigenthmliche und nicht gerade leichte Bedingungen. Gegen Schluß der Schrift wird den Professoren der Philosophie wieder eine lngere hçchst unschmeichelhafte Strafrede gehalten, in welcher sie als „falsche Diener und Unwrdentrger der Philosophie“ bezeichnet werden, bis zu „lcherlichen und gleichgltigen“ Personen geworden seien (S. 113). Wie aus der ganzen Spaltung der Schrift ersichtlich ist, hat sich der Verf. von seinem „Zuchtmeister“ Schopenhauer noch mehr angeeignet, als gerade dessen philosophische Trumereien. Das menschliche „Elend“ aber wird zu unserer Ueberzeugung noch nicht durch die Schopenhauer’schen Ideen weggezaubert werden. Jede Zeit hat ihre Schattenseiten; auch gewiß die unsere. Zur vollendeten Vollkommenheit wird die Menschheit niemals gelangen. Was sie aber stets vollkommener machen kann, das sind die unvergnglichen Ideen des Christenthums. Eine Hauptaufgabe der Erziehung wird deshalb darin bestehen mssen, die christlichen Ideen, die keineswegs in Widerstreit stehen mit der Wissenschaft, noch mit der Idee des Staates, noch mit der rechten Freiheit, in dem Menschen zu verwirklichen und bei dem zu Erziehenden darauf zu sehen, daß dieselben sowohl ohne Entstellung und Verzerrung zum Bewusstsein gebracht werden, als auch thatschlich ins Leben bergehen. Reaktionen Schmeitzner an N, 26. 7. 1875: „Ueber diese Betrachtung sind Recensionen erschienen:
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Neue evangel. Kirchenzeitung 21 Theol. Literaturblatt X.14 Bl. fr lit. Unterhaltung
Die beiden letzten sende ich Ihnen unter Kreuzband. Die erste davon (Literaturbl.) wrde recht sehr zum Lachen sein, wenn sie nicht gar so albern wre! Da sie mir vom Verlage gratis geschickt wurde, sende ich sie Ihnen zu, sie wird Sie hoffentlich recht gleichgltig lassen und darum nicht ungnstig auf ihre Cur einwirken.“ KGB II/6,1, Bf. 696, S. 173
Asher, David: Eine neue Stimme ber Schopenhauer. In: Bltter fr litterarische Unterhaltung. Leipzig, Nr. 28, Juli 1875, S. 443 ff. Eine neue Stimme ber Schopenhauer Unzeitgemße Betrachtungen von Friedrich Nietzsche. Drittes Stck. Schopenhauer als Erzieher. Schloß-Chemnitz, Schmeitzner. 1874. Gr. 8. 3 M. In meinem 1871 verçffentlichten Buche: „Arthur Schopenhauer. Neues von ihm und ber ihn“, habe ich unter derselben Ueberschrift wie obige ber alle die Stimmen berichtet, welche sich kurz vor jener Zeit ber ihn hatten vernehmen lassen. Bei der Besprechung der vorliegenden Schrift werde ich jedoch an Goethe’s Ausspruch, den auch der Dekan Stanley unlngst in seiner zu Aberdeen gehaltenen Rectoratsrede so trefflich verwendet hat, erinnert: daß es nmlich viele Echos auf der Welt gebe, aber nur wenige Stimmen. Denn wenn unter jenen manche nur als Widerhall des großen Philosophen betrachtet werden kçnnten, so ist es diesmal (unter ihnen war freilich auch eine gegnerische Stimme, die Victor Hugo’s) wirklich eine Stimme226, die sich hat hçren lassen und von der wir wol noch manches hçren werden; aber, um ein Gleichniß von Jean Paul anzuwenden, dieses Buch ist ein Selbstlauter – so nennt er bekanntlich die Englnder –, hier sind wirklich selbstndige Ansichten, neue Anschauungen, die uns geboten werden, neue Gesichtspunkte, von denen aus der vielbesprochene Schopenhauer betrachtet wird. Das Buch gemahnt an die Schriften eines Carlyle und Emerson; letzterer besonders scheint des Verfassers Vorbild gewesen zu sein; er fhrt ihn auch mit augenscheinlicher Vorliebe an, und auch ich muß ihm hierin nachahmen und zur Kennzeichnung des Geistes, in welchem Nietzsche den großen Meister 226 Auch Karl Hillebrand hat sich in der augsburger „Allgemeinen Zeitung“ in einem vortrefflichen, Schopenhauer richtig wrdigenden Artikel aufs gnstigste ber diese Schrift ausgesprochen.
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behandelt hat, die Stelle, die er am Schluß seines Buchs dem amerikanischen Denker entlehnt, gleich am Anfang reproduciren. Sie lautet: Seht euch vor, wenn der große Gott einen Denker auf unsern Planeten kommen lßt. Alles ist dann in Gefahr. Es ist wie wenn in einer großen Stadt eine Feuersbrunst ausgebrochen ist, wo keiner weiß, was eigentlich noch sicher ist und wo es enden wird. Da ist nichts in der Wissenschaft, was nicht morgen eine Umdrehung erfahren haben mçchte, da gilt kein literarisches Ansehen mehr, noch die sogenannten ewigen Berhmtheiten; alle Dinge, die dem Menschen zu dieser Stunde theuer und werth sind, sind dies nur auf Rechnung der Ideen, die an ihrem geistigen Horizonte aufgestiegen sind und welche die gegenwrtige Ordnung der Dinge ebenso verursachen, wie ein Baum seine Aepfel trgt. Ein neuer Grad der Cultur wrde augenblicklich das ganze System menschlicher Bestrebungen einer Umwlzung unterwerfen. So Emerson. Seit 1871 ist die Meinungsstrçmung immer mehr der pessimistischen Grundanschauung Schopenhauer’s zuwider: selbst derjenige, welcher unter dessen Flagge segelnd in allerneuester Zeit die Aufmerksamkeit Deutschlands, ja der civilisirten Welt, darf man wohl sagen, auf sich gezogen, der dem Pessimismus scheinbar noch mehr Nachdruck gegeben und den Meister darin noch berboten hat, diesen Schein von sich abzuwenden gesucht und fllt immer mehr von der anfangs eingenommenen Stellung ab. Ich meine natrlich Eduard von Hartmann, der namentlich erst wieder krzlich in seiner in „Unsere Zeit“ verçffentlichten Abhandlung ber Schelling fr diesen gegen Schopenhauer auftrat und ihn unter anderm von diesem Philosophen das sagen lßt, was er ber Hegel geußert. Was die von David Strauß versuchte Widerlegung des Schopenhauer’schen Pessimismus betrifft, so stimmt Lange – dem brigens die Frage, ob Pessimismus oder Optimismus die richtigere Weltanschauung sei, ins Gebiet der Ideologie gehçrt und blos eine subjektive ist – in seiner vortrefflichen „Geschichte des Materialismus“ mit mir darin berein, sie als einen argen Trugschluß zu bezeichnen (vgl. II, 2, Anmerk. 38, S. 508, 1875, und meine Besprechung der smmtlichen Werke Arthur Schopenhauer’s in der „Gegenwart“, Nr. 8, 1874). Viele andere vor, mit und nach Strauß haben nun auch seit den großen deutschen Siegen und der Grndung des neuen Deutschen Reichs in dasselbe Horn gestoßen und die Ankunft oder Wiederkehr der Herrschaft des Optimismus unter Fanfaren und Panen verkndet. Hçren wir nun, wie Nietzsche sich ber diesen Punkt ußert: Freilich, hundertmal grçßer wre das Glck, wenn bei dieser Untersuchung herauskme, dass etwas so Stolzes und Hoffnungsreiches wie dies Zeitalter noch gar nicht dagewesen sei. Nun gibt es auch augenblicklich naive Leute in irgend einem Winkel der Erde, etwa in Deutschland, welche sich anschicken, so etwas zu glauben, ja die alles Ernstes davon sprechen, dass seit ein paar Jahren die Welt corrigirt sei, und dass derjenige, welcher vielleicht ber das Dasein seine schweren und finstern Bedenken habe, durch die „Thatsachen“ widerlegt sei.
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Denn so stehe es: die Grndung des neuen deutschen Reiches sei der entscheidende und vernichtende Schlag gegen alles „pessimistische“ Philosophiren, – davon lasse sich nichts abdingen. – Wer nun gerade die Frage beantworten will, was der Philosoph als Erzieher in unserer Zeit zu bedeuten habe, der muss auf jene sehr verbreitete und zumal an Universitten sehr gepflegte Ansicht antworten, und zwar so: es ist eine Schande und Schmach, dass eine so ekelhafte, zeitgçtzendienerische Schmeichelei von sogenannten denkenden und ehrenwerthen Menschen aus- und nachgesprochen werden kann – ein Beweis dafr, dass man gar nicht mehr ahnt, wie weit der Ernst der Philosophie von dem Ernst einer Zeitung entfernt ist. Solche Menschen haben den letzten Rest nicht nur einer philosophischen, sondern auch einer religiçsen Gesinnung eingebsst und statt alles dessen nicht etwa den Optimismus, sondern den Journalismus eingehandelt, den Geist und Ungeist des Tags und der Tagebltter. Jede Philosophie, welche durch ein politisches Ereigniß das Problem des Daseins verrckt oder gar gelçst glaubt, ist eine Spaß- und Afterphilosophie. Es sind schon çfter, seit die Welt steht, Staaten gegrndet worden; das ist ein altes Stck. Wie sollte eine politische Neuerung ausreichen, um die Menschen ein fr alle Mal zu vergngten Erdenbewohnern zu machen? Von der Erde kçnnte dabei schon gar nicht die Rede sein, sondern immer nur von dem betreffenden Lande, welches vom Geschick begnstigt worden. Diese mit den „Thatsachen“ rechnende und auf ihnen fußende Philosophie wre demnach eine hçchst einseitige und mßte noch ihr seit 1871 der Pessimismus ebenso in Frankreich herrschen, wie der Optimismus in Deutschland. Man sollte es kaum fr mçglich halten, daß es nothwendig sein kçnne, solche Dinge sagen, solche Behauptungen widerlegen zu mssen, und daß diese Behauptungen solche Vertreter wie die von Nietzsche genannten haben kçnnten; und doch ist dem so. Kein Wunder, wenn Nietzsche dabei die Galle berluft und er sich in heftigen Ausdrcken ergeht. Doch hçren wir ihn weiter: Hier erleben wir aber die Folgen jener neuerdings von allen Dchern gepredigten Lehre, daß der Staat das hçchste Ziel der Menschheit sei, und daß es fr einen Mann keine hçheren Pflichten gebe, als dem Staate zu dienen: worin ich nicht einen Rckfall in’s Heidenthum, sondern in die Dummheit erkenne. Es mag sein, dass ein solcher Mann, der im Staatsdienste seine hçchste Pflicht sieht, wirklich auch keine hçheren Pflichten kennt; aber deshalb gibt es jenseits doch noch Mnner und Pflichten – und eine dieser Pflichten, die mir wenigstens hçher gilt als der Staatsdienst, fordert auf, die Dummheit in jeder Gestalt zu zerstçren, also auch diese Dummheit. Hier ist dem Verfasser allerdings etwas Menschliches begegnet; denn er hat augenscheinlich vergessen, daß jeder Dienst, den man seinen Nebenmenschen leistet, auch dem Staate geleistet ist, und umgekehrt, da ja, wie nicht die Huser, sondern deren Bewohner die Stadt, so auch die Staatsbrger den Staat bilden. Und wem es mçglich wre, das zu besiegen, was selbst die Gçtter vergebens
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bekmpfen, der wrde sich gewiß ein um so grçßeres Verdienst um den Staat, d. h. die Brger desselben, also um die Menschheit oder doch einen Theil derselben erworben, haben. Nietzsche fhrt nun fort: Deshalb beschftige ich mich hier mit einer Art von Mnnern, deren Teleologie etwas ber das Wohl eines Staates hinausweist, mit den Philosophen, und auch mit diesen nur hinsichtlich einer Welt, die wiederum von dem Staatswohle ziemlich unabhngig ist, der Cultur. Von den vielen Ringen, welche, durcheinander gesteckt, das menschliche Gemeinwesen ausmachen, sind einige von Gold und andere von Tomback. Wie sieht nun der Philosoph die Cultur in unserer Zeit an? Sehr anders freilich als jene in ihrem Staat vergngten Philosophieprofessoren. Fast ist es ihm, als ob er die Symptome einer vçlligen Ausrottung und Entwurzelung der Cultur wahrnhme, wenn er an die allgemeine Hast und zunehmende Fallgeschwindigkeit, an das Aufhçren aller Beschaulichkeit und Simplicitt denkt. Die Gewsser der Religion fluthen ab und lassen Smpfe oder Weiher zurck; die Nationen trennen sich wieder auf das feindseligste und begehren sich zu zerfleischen. Die Wissenschaften, ohne jedes Maß und im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern und lçsen alles Festgeglaubte auf; die gebildeten Stnde und Staaten werden von einer großartig verchtlichen Geldwirthschaft fortgerissen. Niemals war die Welt mehr Welt, nie rmer an Liebe und Gte. Die gelehrten Stnde sind nicht mehr Leuchtthrme oder Asyle inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung; sie selbst werden tglich unruhiger, gedanken- und liebeloser. Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige Kunst und Wissenschaft mit einbegriffen In diesem Tone, dem ich fr meinen Theil vollkommen beistimme, geht es fort; hier muß nur eins befremden: daß nmlich ein so eifriger Anhnger der sogenannten Zukunftsmusik, wie Nietzsche es bekanntlich ist, auch die Kunst auf dem Wege zur Barbarei erblickt, oder doch die Musik nicht von der allgemeinen Verurtheilung ausnimmt. Inwiefern kann nun Schopenhauer bessernd und erziehend wirken? Diese Frage finden wir unter anderm in einer Stelle in folgender Weise beantwortet: Also, unverhohlen gesprochen: es ist nçthig, dass wir einmal recht bçse werden, damit es besser wird. Und hierzu soll uns das Bild des Schopenhauer’schen Menschen ermuthigen. Der Schopenhauer’sche Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich, und dieses Leiden dient ihm, seinen Eigenwillen zu ertçdten und jene vçllige Umwlzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu fhren der eigentliche Sinn des Lebens ist. Nietzsche hatte vorher den Rousseau’schen und Goethe’schen Menschen betrachtet. Das Bild, welches der erstere vom Menschen aufgestellt, habe das grçßte Feuer und sei der populrsten Wirkung gewiß; das Goethe’s sei nur fr die wenigen gemacht, welche beschauliche Naturen im großen Stile sind, und
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werde von der Menge misverstanden. Schopenhauer’s Bild fordere die thtigsten Menschen als ihre Betrachter: nur diese werden es ohne Schaden ansehen; denn die Beschaulichen erschlafft es, und die Menge schreckt es ab. Er weist auf Schopenhauer’s Ausspruch hin, nach welchem das Hçchste, was der Mensch erlangen kçnne, ein heroischer Lebenslauf sei. Einen solchen, sagt der Philosoph weiter, fhre der, welcher in irgendeiner Art und Angelegenheit fr das allen irgendwie zugute Kommende mit bergroßen Schwierigkeiten, kmpft und am Ende siegt, dabei aber schlecht oder gar nicht belohnt wird. Wir kçnnen uns, fhrt dann Nietzsche weiter aus, mit dem großen Ideale des Schopenhauer’schen Menschen dadurch verbinden, daß wir „die Erwgung des Philosophen, des Knstlers und des Heiligen in uns und außer uns fçrdern und dadurch an der Vollendung der Natur arbeiten“. Das Ziel der Cultur ist ihm die Erzeugung des Genius, welches Ziel indessen von der Selbstsucht der Erwerbenden, des Staats und aller derer, welche Grund haben sich zu verstellen und durch die Form zu verstecken, nicht anerkannt wird. Zu diesen gehçren die Diener der Wissenschaft – die Gelehrten. Die Auslassungen des Verfassers ber diese im allgemeinen und namentlich ber die Philosophie-Professoren insbesondere sind nicht minder scharf und erbittert, als die Schopenhauer’s ber die letztern, nur daß sie im Munde eines Professors (der Philologie freilich, nicht der Philosophie) noch befremdender und – wirkungsvoller sind als bei dem, welcher außerhalb des gefeiten Kreises stand oder nicht zur Zunft gehçrte. In Schopenhauer erblickt Nietzsche den Richter der ihn umgebenden sogenannten Cultur, durch sein Leben habe er jenen falschen Dienern und Unwrdentrgern der Philosophie gegenber bewiesen, daß die Liebe zur Wahrheit etwas Furchtbares und Gewaltiges sei. „Dies und jenes“, so schließt er in echt Carlyle-Emersonscher Weise, „bewies Schopenhauer – und wird es von Tag zu Tage mehr beweisen.“ Zum Schluß kann ich die Bemerkung nicht zurckhalten, daß man von einem Schriftsteller, der an David Strauß wegen seiner Sprachfehler so viel auszusetzen hat, einen solchen Schnitzer, wie er sich einmal zu schulden kommen lßt, indem er „misgebraucht“ fr „gemisbraucht“ setzt, nicht htte erwarten sollen. Reaktionen N an Erwin Rohde, 1. 8. 1875. „Du, lieber Freund Rohde, kamst Nachmittag zum Milchkaff an, zusammen mit Schmeitzn[er] und Asher!“ KGB II/5, Bf. 474, S. 94 Schmeitzner an N, 26. 7. 1875: „Ueber diese Betrachtung sind Recensionen erschienen:
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Die beiden letzten sende ich Ihnen unter Kreuzband. Die erste davon (Literaturbl.) wrde recht sehr zum Lachen sein, wenn sie nicht gar so albern wre! Da sie mir vom Verlage gratis geschickt wurde, sende ich sie Ihnen zu, sie wird Sie hoffentlich recht gleichgltig lassen und darum nicht ungnstig auf ihre Cur einwirken.“ KGB II/6,1, Bf. 696, S. 173 Franz Overbeck an N, 27. 7. 1875: „In einem Caffee stiess mir nun doch neulich David Asher mit einer Anzeige Deiner letzten Betrachtung in den Blttern fr litt. Unterhaltung auf. Er zeigte sich Dir ganz geneigt, so gut es eben eine schopenhauersche alte Jungfer sein kann, schloss brigens mit einer dicken, aber im sichersten Schulmeisterton vorgetragenen Dummheit ber ,missgebraucht‘.“ KGB II/6,1, Bf. 697, S. 175
Anonym: Schopenhauer als Erzieher. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 27, Nr. 25 vom 17. 6. 1876. Nietzsche, Dr. Friedr., Prof., unzeitgemße Betrachtungen. 3. Stck: Schopenhauer als Erzieher. Schloß-Chemnitz, 1875. Schmeitzner (113 S. gr. 8.) 3 Mk. Der barocke Verfasser der „unzeitgemßen Betrachtungen“ hat seiner Vergçtterung Wagner’s und Verunglimpfung Strauß’ens eine Apotheose von Schopenhauer nachgesandt, den er der gegenwrtigen Menschheit als „Beispiel“ vorstellt. Zunchst den „Philosophieprofessoren“, die sich bisher, wie der Verf. ihnen vorwirft Kant zum Beispiele genommen und es „unter Collegen und Studenten ertragen haben“, statt sich wie Schopenhauer zu „separieren“; dann aber auch allen anderen Fachprofessoren, auf die der Verf. ebenso schlecht zu sprechen ist wie auf die Universitten, die Wissenschaft, den Staat und die Gegenwart berhaupt. Denn „um gar keinen Zweifel brig zu lassen, was er meine: was gilt die Existenz eines Staates, die Fçrderung der Universitten, wenn unsglich mehr daran gelegen ist, daß ein Philosoph auf Erden entsteht, als daß ein Staat oder eine Universitt besteht (S. 111). Da nun der Philosoph des Verf.’s, Schopenhauer, trotz Staat und Universitten entstanden ist, so wird der Verf. wohl großmthig gestatten, daß letztere beiden noch bis auf Weiteres fortbestehen drfen.
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Schlemm, Oscar: Ueber gymnasiale Erziehung. In: Bayreuther Bltter. Bd. 8, Nr. 4–6, 1883, S. 157–187. ber Nietzsche S. 185 f. Die Aufgabe der Gymnasien sei, um einen großen Ausdruck Fr. Nietzsche’s zu gebrauchen: die Erzeugung des Philosophen, des Knstlers und des Heiligen in uns und ausser uns zu fçrdern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten. 227 Es soll damit keineswegs gesagt sein, dass die Gymnasien nur solche Schler aufnehmen sollen, von denen sich voraussehen lsst, dass sie spter bedeutende Mnner im reiche des Geistes, der Schçnheit und des Guten werden; – wer kann das voraussehen?
227 Dr. Friedr. Nietzsche, unzeitgemsse Betrachtungen, drittes Stck; Schopenhauer als Erzieher. S. 58.
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Richard Wagner in Bayreuth. Vierte Unzeitgemße Betrachtung. Reaktionen
Malwida von Meysenbug an N, 13. 7. 1876: „Theurer Freund, ich htte Ihnen augenblicklich fr Ihre Gabe [Wagner in Bayreuth] danken mçgen, htte ich nicht vorher sie lesen wollen um Ihnen im vollen Gefhl des Eindrucks zu schreiben. Nun habe ich sie gelesen und bin so begeistert davon dass ich Ihnen nur sagen kann: konnte Etwas die tiefe Glcksempfindung, die mich hier durchstrçmt, verstrken, so ist es Ihre Schrift gewesen, der unbertrefflich schçne Ausdruck fr Alles was man selbst diesem Menschen und seinem Werke gegenber, empfindet. Zu dem seltnen, einzigen Glcke Wagners – nach so vielem bitterem Unglck und Leiden – gehçrt auch dieses, einen so reinen Spiegel gefunden zu haben, in dem sein Bild sich zeigt wie es auf ewig den Erkennenden und Verstehenden fest stehen muss. Und was Wagner mit seinen Werken, das thun Sie mit Ihren Schriften, Sie zeigen der Menschheit ihre heiligen Ziele wie es noch Keiner gethan, selbst Schopenhauer nicht, schon im 3ten Stck, nun wieder in diesem und wenn die Zeit kommt von der Sie reden, wo man Wagner verstehen wird, wo er sein Volk gefunden haben wird, dann wird man auch erst Sie ganz erkennen und mit tiefer Liebe umfassen.“ KGB II/ 6,1, Bf. 796, S. 360 f N an Elisabeth Nietzsche, 28. 7. 1876: „Heute Abend kommt der Kçnig [nach Bayreuth]. Er hat ber meine Schrift [Wagner in Bayreuth] telegraphiert, dass sie ihn entzckt habe.“ KGB II/5, Bf. 545, S. 180 Ferdinand Schrmann an N, 25. 11. 1876: „Ein Jnger der Wissenschaft, zu deren Meistern Sie zhlen, wendet sich hiermit an Sie. Kurz vor meiner Abreise nach Bayreuth erhielt ich das vierte Stck der ,Unzeitgemßen Betrachtungen‘ und verschlang es gradezu mit begeisterungsvoller Hast. Nach meiner Heimkehr vertiefte ich mich wiederum in die Lektre dieser mich wahrhaft entzckenden Abhandlung. Wer kçnnte es nunmehr mir verdenken, wenn ich mit ernstgemeinten und aus meinem tiefsten Innern entspringenden Worten Ihnen den vollsten Dank meines Herzens auszusprechen wage?“ KGB II/6,1, Bf. 842, S. 440
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Anonym: Richard Wagner in Bayreuth. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 27, Nr. 44 vom 28. 10. 1876, Spalte 1467 f. Nietzsche, Dr. Friedr., Prof., unzeitgemsse Betrachtungen. 4. Stck: Richard Wagner in Bayreuth. Schloss-Chemnitz, 1876. Schmeitzner. (98 S. gr. 8.) 3 Mk. Der Verf., der unter diesem paradoxen Titel schon mehrere Monographien herausgegeben hat, zieht mit diesem vierten Stck auch den Helden des Tages, R. Wagner, in das [sic] Bereich seiner, in diesem Falle sicher nur „zeitgemßen“ Betrachtungen. Ein Hauch jugendlichster Begeisterung durchdringt seine Sprache und wirkt mit packender Gewalt auf den Leser, sogar auf den, der seinen Standpunkt außerhalb des Stromes dieser Begeisterung zu behaupten gedenkt. Goethe sagt einmal, dass berwltigenden Vorzgen gegenber uns nichts weiter brig bleibe als von Herzen zu lieben; es geht dem Verfasser so mit dem Helden, den er bespricht. Die unbedingte neidlose Anerkennung, Eigenschaften gezollt, welche in unseren Tagen eine in ihrer Art einzige Erscheinung hervorgerufen haben, die in ihrem innersten Wesen ein Abbild unserer Zeit giebt, kann nicht anders als wohltuend und belebend auf Jeden wirken, der dieselbe sich in dem Gewande einer wahrhaft begeisterten Sprache entgegentreten fhlt. Es fllt uns nicht im entferntesten ein, einer mit solcher Wrme der Empfindung ausgesprochenen Ueberzeugung von dem Vorhandensein eines Ideales, das sich ihm in dem Schçpfer der Bayreuther Bhnenspiele verkçrpert zu haben scheint, mit kalten kritischen Bemerkungen entgegen treten zu wollen; im Gegentheil wnschen wir von Herzen, daß recht Viele sich von dem Feuer ergreifen lassen, das in dieser kleinen Schrift lebt. Nur einen Umstand mçchten wir dem Herrn Verf., der auf dem Gebiete des classischen Altertumes so wohl zu Hause ist, zu bedenken geben. Bei den Griechen ging mythologische Dichtung und Entwicklung Hand in Hand. Wer wsste nicht, wie sich aus der Welt eines maßlosen Titanentums die maßvolle olympische Gçtterwelt entwickelt hat und wie es von dieser Hçhe keinen weiteren Aufschwung gab, zufolge des Maßes, das, als Norm der Schçnheit errungen, fortan unantastbar blieb. Sollte bei uns, und das wre in der That ein bedenkliches Zeichen, nicht gerade der umgekehrte Prozeß durchgemacht werden? Wir haben in der Musik unsere olympische Zeit gehabt und hoffentlich auch schtzen gelernt, und gerathen in neuester Zeit, nicht ohne Einfluß derselben, in ein ungeheuerliches Titanenthum. Wohin gelangen wir auf diesem Wege? mçchten wir mit einiger Besorgniß um unsere Kunst fragen.
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Falckenberg, Richard: Richard Wagner in Bayreuth. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 7, Nr. 48 f vom 10. und 17.11. 1876, S. 639 f, 655 ff. Dr. Friedrich Nietzsche, ord. Prof. der classischen Philologie an der Universitt Basel, Unzeitgemsse Betrachtungen. Viertes Stck: Richard Wagner in Bayreuth. 1876. Schloss-Chemnitz, E. Schmeitzner. 3 Mark. Ich bezweifle, dass die „Unzeitgemssen Betrachtungen“ bei der lesenden und schreibenden Welt bis jetzt diejenige Beachtung gefunden haben, welche sie verdienen. Wo sich in wissenschaftlichen oder populren Blttern beurtheilende Stimmen erhoben, da geschah es, wenigstens soweit ich davon Kenntniss erhalten, fast immer in einem feindseligen oder doch ablehnenden Tone, und im Eifer des Protestirens vergass man den Dank fr die Flle von Anregungen, die auch der Widerwillige und wenigst Einverstandene davontrgt. Ein Buch erwartet ja nicht, berall auf Lob und jubelnde Beistimmung zu treffen; oft sehnt es sich von Herzen danach, recht grndlich widerlegt zu werden. Es stellt Fragen an den Leser und mçchte ein Gesprch anknpfen, aber wenn es auf seine Behauptungen Nichts als ein trockenes Nein zur Antwort erhlt, so kann sich daraus keine gedeihliche Unterhaltung entwickeln. Eine blos negative Kritik ist unfruchtbar und unntz. Darauf freilich muss Jeder gefasst sein, der zu einem ernsten Tadel den Mund aufthut oder die Feder in die Hand nimmt, dass man ihn achselzuckend fragt, wer denn ihn zum Richter berufen habe. Der Verfasser selbst wird ber den dumpfen und misstçnenden Widerhall, den seine Worte bei den Zeitgenossen geweckt, kaum verwundert sein. Er wusste, dass er sich mit seiner Zornrede ber die moderne Cultur und deren Wirkung auf den Charakter des Zeitalters und mit seiner Mahnung zur Einsicht und zur bessernden That doch eben nur an Die wenden konnte, die selber unbewusst an dem bekmpften Uebel kranken und daher jeden Schnitt in die Wunde als Gefhrdung ihrer Gesundheit empfinden. Er wusste, dass der unzeitgemssen Menschen, auf deren Theilnahme an der rettenden That zu rechnen wre, nur wenige sind. Von Schopenhauer und Wagner, an denen er gross geworden und die er hoch verehrt, hat Nietzsche die pessimistische Weltansicht, von Letzterem dazu den Thatendrang geerbt. Diese Beimischung von Unruhe und Energie unterscheidet seine Grundanschauung auf das Bestimmteste von der unserer vielgelesenen Modephilosophen und ist wohl der Grund, dass die Anhnger von Schopenhauer und Hartmann ihn nicht begierig als einen der Ihrigen begrssen. Denn es hat fr Viele seinen Reiz, im Lehnstuhl sitzend zu vernehmen, wie die Welt ein nichtswrdiges Institut, die Menschen (mit Ausnahme des Lesers natrlich) entweder Schurken oder Narren, das Leben nicht lebenswerth, die
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Summe der erreichbaren Lust zu gering und der der unabweisbaren Unlust weit unterlegen sei; so lange nmlich die Mçglichkeit, an diesen Zustnden etwas zu ndern, nicht zur Sprache kommt oder geleugnet wird. Sobald aber an den Leser die Anmuthung gestellt wird, selber an der Beseitigung der Uebelstnde in der Welt und der Uebelstnde im eigenen Innern krftig mitzuarbeiten, hçrt der Pessimismus auf, behaglich zu sein und wird unbequem. Nietzsche erscheint mit seinen Betrachtungen als ein Erneuerer des Unternehmens, zu dem sich im Anfange unseres Jahrhunderts der Philosoph Fichte entschloss, der – mit hnlichem Feuer und vielleicht grçsserer Zuversicht – in populren Vortrgen (Vorlesungen ber die Grundzge des gegenwrtigen Zeitalters und Reden an die deutsche Nation) sich ber die Gebrechen der Zeit und ber die Mittel und Wege zur Abhilfe vernehmen liess. Er theilt mit ihm, ausser dem ebenso warmherzigen wie thatbereiten Idealismus und der seltenen Gabe eindringlicher Rede, den Unmuth ber die bestehenden Culturverhltnisse, insbesondere das heutige Gelehrtenthum, den Eifer fr eine grndliche Erziehungsreform, endlich das Vertrauen auf die im innersten Kerne unzerstçrbare Tchtigkeit des deutschen Volkes. Es ist zu bedauern, dass Nietzsche sich gewçhnt hat, die Gestalt seines Vorgngers durch die Schopenhauer’sche Brille anzusehen, die ihm alle Zge des herrlichen Menschen und grossen Denkers verzerrt zeigt. Es wre unbillig, die oben erwhnte Abneigung der Kritiker auf persçnliche Motive zurckzufhren und etwa anzunehmen, sie htten sich durch die Grobheiten, welche gelegentlich den Bildungsphilistern, den Historikern und (nach Schopenhauer’s Vorgang) den Philosophie-Professoren gesagt werden, getroffen oder verletzt gefhlt. Um ihnen den Betrachter unsympathisch zu machen, haben neben seiner Schwarzsichtigkeit im Allgemeinen vielleicht vornehmlich einige Zge beigetragen, die in Schopenhauer’s und Rousseau’s Denkweise ihren Ursprung haben und sich kurz und ungenau bezeichnen lassen als Hass gegen die Unbedeutendheit, gegen den Staat, und gegen die Cultur. Natrlich die heutige; aber nicht berall treten die Grenzen deutlich hervor zwischen der modernen und der Cultur berhaupt. Er berschtzt die Natur und unterschtzt die Vernunft als Herrscherin der Triebe. In der Einschrnkung der Natur sieht er die grçsste Gefahr, in ihrem Gewhrenlassen das sicherste Heil; ihre Zgelung und Leitung, (als deren socialer Ausdruck sich die Einrichtungen der Cultur und des Staates darstellen) erscheint ihm leicht als Unterdrckung und Irreleitung. Er berschtzt ferner die Begabung mit ihren Wirkungen ins Grosse auf Kosten eines bescheidenen und achtungswerthen Wirkens im kleinen Kreise – ein ausgesprochen aristokratischer Zug. Neben den idealen Zielen einer bevorzugten Natur verblassen ihm die nchternen der brgerlichen Thtigkeiten. So kommt das Grosse hçher zu stehen als das Brave, das Aristokratische hçher als das Moralische. In dem intellectuellen Vermçgen des Genies scheint ihm zugleich die Gte des Wollens gewhrleistet. Er ber-
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schtzt endlich, in Schopenhauer’scher Weise, die Anschauung gegenber dem Verstandesbegriff, z. B. die knstlerisch intuitive Anlage im Philosophen gegenber der Schrfe des logischen Denkens. Daher die mehrfach kundgegebene Hochachtung vor dem dichterischsten aller Denker: Platon. – Diese einzelnen Zge mçgen nicht Jedermann sympathisch sein; dennoch hat das Antlitz, in dem sie sich zerstreut vorfinden, als Ganzes fr den unbefangenen Betrachter etwas ungemein Anziehendes und Fesselndes. Er empfindet dankbar, dass ein eminent begabter Kopf und ein begeisterungsvolles Herz ihn einer nicht minder erhebenden als belehrenden Ansprache wrdigt. Die Schreibweise der „Unzeitgemssen Betrachtungen“ ist durchaus eigenartig, krftig und schçn; sie verrth den Einfluss hellenischer Vorbilder. Anschaulich, ohne mit Bilderschmuck berladen zu sein, feierlich, doch weder akademisch noch pastoral, gross und einfach, zuweilen von Psalmenwrde, ungemein treffend im Charakterisiren, schlicht und klar im Definiren, trgt dieser Stil das Geprge einer vornehmen, ernsten, kraftvollen, obwohl beschaulichen und zum Sinnen geneigten Individualitt. Das Ideal der Darstellung, dem dieser Mann nachgeht, macht es sehr begreiflich, dass ihm die leichtfertige Eleganz der Strauss’schen Prosa kein sonderliches Behagen bereiten konnte. Wenn die ersten beiden Hefte (David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller, 1873; Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, 1874) einen vorwiegend polemischen Charakter zeigten, so offenbaren das dritte (Schopenhauer als Erzieher) und das vorliegende vierte Stck eine parainetische Tendenz; sie stellen der Jetztzeit einen Philosophen und einen Knstler als Vorbilder auf. Das Letztere war als Vorbereitung auf das Bayreuther Ereigniss entworfen und sollte erklren, was Rich. Wagner mit diesem grossen Unternehmen eigentlich meine. Wem das Buch nicht als Vorwort gedient hat, dem sei es als Nachwort empfohlen, und zwar zu grndlicher und wiederholter Lecture. Er wird es aus der Hand legen mit dem Gefhl, dass er Einen von den Wenigen getroffen, die Wagner wirklich verstanden haben. Wir versuchen im Folgenden, kurz den Gedankengang der Schrift zu skizziren, wohl wissend, dass damit allenfalls der Bau des Gerippes nachgezeichnet, doch von der blhenden Flle und den geflligen Linien der Fleischbekleidung nicht die geringste Vorstellung gegeben werden kann. Vielleicht ist eine solche Uebersicht auch deshalb nicht ganz unwillkommen, weil der Verfasser die von ihm hochgehaltene und Strauss abgesprochene „Kunst, ein Buch zu schreiben“ bisweilen so khn handhabt, dass ngstliche, ordnungsliebende Seelen, von einem unvermutheten Capitelanfang erschreckt, glauben kçnnen, sie htten den Faden verloren. Es lsst sich eben nicht Alles nach der Schnur messen.
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II. Der erste, einleitende Abschnitt stellt das Thema. Er bezeichnet die ernsten und verstndnissvollen Zuhçrer in Bayreuth als unzeitgemsse Menschen, indem der „Gebildete“ der Gegenwart in Wagner’s Kunst stets nur einen Gegenstand des Lachens und der Parodie gesehen, und fordert uns, die Jnger, auf, jenen Blick nachzuschauen, den der Meister an dem Tage der Grundsteinlegung von diesem Gipfelpuncte aus auf sein Leben zurckgeworfen habe, das Nchste wie das Fernste in ein Bild zusammendrngend. Abschnitt 2 – 8 beantwortet die Frage, wie Wagner wurde, mit einer geistvollen, freimthigen und, trotzdem sie auf biographisches Detail einzugehen verschmht, erschçpfenden Darlegung des Entwickelungsganges, den der grosse Mensch und Knstler durchlaufen. Nachdem ihn der vordramatische Theil seines Lebens, seine (wenig naive) Kindheit und Jugend der Gefahr des Dilettantisirens und der Zersplitterung nahegebracht, beginne das eigentliche Drama seines Lebens mit einer Vereinfachung seiner Natur, die sich in zwei gewaltige Triebe spalte, und bestehe in dem Kampfe einer lichten, schçpferischen Sphre, in deren Kunstgestalten auf die mannigfaltigste Weise das eine Problem der „Treue“ verherrlicht sei gegen einen dunkeln, tyrannischen, nach Macht verlangenden Willen. Inmitten aller Leiden des Zweifels und einer kurzathmigen zu maass- und fruchtlosen Versuchen treibenden Hoffnung entfaltet er eine ungewçhnliche Begabung des Lernens, aber die Flle, des vielseitigsten Wissens erdrckt nicht seinen Willen zur That, und der Gebrauch, den er von Geschichte und Philosophie macht, hebt ihn auffallend von der gegenwrtigen Zeit ab, welche beide Wissenschaften zu optimistischen und apologetischen Zwecken verwendet und von der Beschftigung mit ihnen hauptschlich eine beruhigende und trçstende Wirkung erwartet. Wagner ist der Gegensatz eines Polyhistors; und wenn der Gang der bisherigen Culturgeschichte durch das rhythmische Spiel der beiden Factoren „Orientalisirung und Hellenisirung der Welt“ bestimmt wird, so darf er unter den Hellenisirern ein Gegen-Alexander genannt werden, der gekommen ist, zu binden und das Zusammengezogene zu beseelen, er ist ein Vereinfacher der Welt. Mit der Bewltigung seiner engeren und nheren Aufgabe einer Theaterreform erfllt er zugleich die hçhere und fernere einer Reformirung des modernen Menschen. Um sich von der ganzen Gemeinheit unserer heutigen Kunstzustnde zu berzeugen, an die sich unsere Gebildeten wie an etwas Selbstverstndliches gewçhnt haben, halte man nur die einstmalige Wirksamkeit des griechischen Theaters dagegen! Dass es aber selbst jetzt Menschen gibt, denen die bisherigen Einrichtungen nicht gengen, beweist die Thatsache von Bayreuth, welche fr jene Gebildeten eine tiefe Niederlage bedeutet. Bayreuth ist die Morgenweihe am Tage des Kampfes gegen die moderne Cultur. Denn es ist uns nicht allein um die Kunst zu thun. Sie ist nur fr die Ruhepausen, sie soll nur zu muthiger Ausdauer sthlen, sie soll uns durch den Schein einer verein-
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fachten Welt die „tragische Gesinnung“ erzeugen, indem sie uns lehrt, Lust am Rhythmus der grossen Leidenschaft und am Opfer derselben zu haben. Wagner fand ein Verhltniss zwischen Musik und Leben, und zwischen Musik und Drama. Er fragt verwundert: was will die Musik in diesem Zeitalter? Die Sprache ist erkrankt; sie verlor, indem sie zum Ausdruck von Gedanken emporgeschroben wurde, ihre ursprngliche Fhigkeit der Verstndigung ber Gefhlserregungen zu dienen; in unserem sprachlichen Verkehr handelt es sich um Mittheilung von Begriffen, nicht von Empfindungen und Bedrfnissen; wo eine Kundgebung der einfachsten Lebensnçthe versucht wird, da verstehen wir einander nicht. Diesen Nothstand hat die Convention verschuldet, die Musik aber bringt die richtige Empfindung, die Feindin aller Convention zum Erklingen, sie ist wiederhergestellte und gereinigte Natur. Wagner hat noch eine zweite Antwort auf die Frage, was die Musik in unserer Zeit zu bedeuten habe: das Verhltniss von Musik und Leben entspricht zugleich dem zwischen Hçrund Schauwelt, zwischen Innerem und Erscheinung. Die richtige Empfindung will zur Erscheinung kommen, „Form“ gewinnen (im Sinne einer nothwendigen Gestaltung, nicht eines geflligen Anscheins), die Seele der Musik will sich einen Leib gestalten, will sichtbar werden in Bewegung, That und Sitte, sie verlangt nach ihrer Schwester: der Gymnastik. Dazu ist nçthig, dass die bisherige Cultur und Kunstbung und ihre Vertheidiger bekmpft werden, ja der erklrte Kunstfeind sei uns ein ntzlicher Bundesgenosse gegen den heutigen „Kunstfreund“. Das gebruchliche Kunstnaschen ist vom Uebel, denn es verhindert einen gesunden Hunger und wirkliches Kunstbedrfniss. Die Aufgabe der modernen Kunst war: Stumpfsinn oder Rausch, Einschlfern oder Betuben. In der Seele des dithyrambischen Dramatikers vollzieht sich eine wunderbare Kreuzung der Empfindungen, nmlich zwischen einer Weltentfremdungund einer sehnschtigen Liebe zu eben dieser Welt. Sein Wesen besteht in einer grossartigen Selbstentusserung und Uebertragbarkeit seiner Natur, welche ihn befhigt, das Sichtbare zum Tçnen frs Ohr, das Hçrbare zum Erscheinen frs Auge gelangen zu lassen. Eine schauspielerische Urbegabung, gehindert, sich auf dem nchsten Wege zu befriedigen, drngt Wagner, sich in allen Knsten zugleich auszusprechen, er wird, als Alldramatiker, der Wiederhersteller der Einund Gesammtheit des knstlerischen Vermçgens. Als sich seiner der herrschende Gedanke bemchtigte, dass vom Theater aus die grçsste Kunstwirkung gebt werden kçnne, da entbrannte jener oben angedeutete Kampf zwischen dem schçpferischen Triebe des Dramatikers und dem finstern, Macht begehrenden persçnlichen Willen. Er wollte siegen und erobern, wollte unvergleichliche Wirkung ben – wodurch? auf wen? Kaum hatte er es mit den Mitteln der Grossen Oper versucht, da erkannte er den Irrthum, durchschaute den modernen Erfolg und das moderne Publicum, und als Kritiker des „Effects“ begann er seine eigene Luterung, deren Fortschritte dadurch bezeichnet werden, dass beide Grundkrfte seines Wesens (das hçhere,
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zarte und reine Selbst und der irdische, mchtige und ungestme Trieb) sich immer enger zusammenschliessen. Gegen die frhere Periode des Irrthums und die sptere der Vollendung grenzt sich eine Zwischenstufe ab: er wird zum socialen Revolutionr aus Liebe zum Volke, in dem er den einzigen bisherigen Knstler und den einzigen Zuschauer seines Kunstwerkes erkennt. Er betritt mit seinem neuen Kunstwerk („Tannhuser“ und „Lohengrin“) als Herrscher das Gebiet des Dramas als eines Zwischenreiches zwischen Musik und Mythus. Dem Missverstndniss, dem seine Schçpfungen allenthalben begegnen, sucht er durch theoretische Schriften abzuhelfen, doch nur um abermals missverstanden zu werden. Endlich die Periode der Meisterschaft, in der der letzte Rest von Rcksicht auf sofortige Wirkung bei den Zeitgenossen fallen gelassen wird, schenkt uns den „Tristan“, die „Meistersinger“, die „Nibelungen“. Whrend er in Stille den viertheiligen Riesenbau seines grçssten Werkes fçrdert, kommen die Freunde, eine unterirdische Bewegung vieler Gemther ihm anzukndigen, er sieht die Deutschen im grossen Kriege zwei echte Tugenden: schlichte Tapferkeit und Besonnenheit bewhren, das erinnert ihn an eine hohe unerfllte Pflicht. Er durfte sein herrliches Vermchtniss an die Nachwelt ihr nicht nur als schweigende Partitur anvertrauen, es galt, sein neuestes Werk vor den missverstndlichen Erfolgen der frheren zu retten, den neuen Stil fr seinen Vortrag çffentlich zu zeigen und durch dies Beispiel eine Stilberlieferung zu begrnden. So erfand er den Gedanken von Bayreuth. Die letzten drei Abschnitte beschftigen sich mit der Frage, was Wagner ist und was er sein wird. Der neunte betrachtet ihn als Dichter und Sprachbildner, als Plastiker, als Musiker und als Knstler berhaupt. In letzterer Hinsicht wird er mit Demosthenes verglichen. Dieses Capitel bietet nicht gerade berraschend Neues, aber das Bekannte in so schlichter Klarheit, dass es sich wohl, namentlich fr die Musiker, einer besonderen Beachtung desselben verlohnt. Die Sprache der Dichtungen wird vortrefflich charakterisirt (dabei brigens einzelnes Absonderliche, hufige Dunkelheiten des Ausdrucks und Umschleierungen des Gedankens zugegeben), und Wagner’s Streben nach hçchster Verstndlichkeit – das ihn zu jener dreifachen Verdeutlichung jedes dramatischen Vorganges durch Wort, Geberde und Musik gefhrt hat – mit Recht nachdrcklichst betont. Ganz besonders lichtvoll und lehrreich ist die Auseinandersetzung ber die Musik des Pathos (der Leidenschaft oder der inneren Vorgnge, nach dem Gesetz des dramatischen Processes) im Gegensatz zu der Musik des Ethos (der Stimmung oder des Zustandes, nach dem Gesetz der Beharrung und des einfachen Contrastes). Erstere ist die Wagner’s, Letztere die der vor-Beethoven’schen Componisten. Beethoven selbst wird eine Mittelstellung angewiesen, sofern er die Musik zwar die Sprache der Leidenschaft reden liess, aber in den berlieferten Formen der Stimmungsmusik. In seinen grçssten und sptesten Werken jedoch habe er den Versuch, das Pathos mit den Mitteln des Ethos sich aus-
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sprechen zu lassen, aufgegeben und ein neues Mittel geschaffen: er nahm aus der Flugbahn der Leidenschaft einzelne Puncte heraus und deutete sie mit der grçssten Bestimmtheit an, damit der Zuhçrer aus ihnen die ganze Bogenlinie errathe, sodass nun jeder einzelne Theil scheinbar einen beharrenden Zustand, in Wahrheit aber einen Augenblick im dramatischen Verlauf der Leidenschaft darstellte. Ich halte diese Anschauung nicht blos fr geistreich, sondern fr richtig. Den Uebergang zu der Erwgung, was Wagner der Zukunft sein werde, macht eine Betrachtung seiner Freunde und Anhnger. Obwohl er sein Leben lang jeder Gestaltung von Parteien ausgewichen sei, habe sich hinter jeder Phase seiner Kunst ein Kreis von Anhngern zusammengeschlossen, die ihn eben so gern wie seine Feinde htten dogmatisiren mçgen. Andere seien der Gefahr unterlegen, durch die Freunde ihre Freiheit einzubssen, ihm seien sie nicht zur Schranke geworden. Er wolle keine Componistenschule grnden, und soweit er sich Schler erziehe, suche er sie durch Belehrung ber die Stilgesetze des dramatischen Vortrags zu tchtigen Meistern der Darstellung und Ausbung heranzubilden. Dem unersttlichen Triebe nachgebend, Alles, was sich auf jene Begrndung des Stils und auf die Fortdauer seiner Kunst bezieht, mitzutheilen, habe er jede Gelegenheit wahrgenommen, seine Gedanken durch ein Beispiel zu erklren. So habe er, wo ihm verwehrt war, zu „Kçnnenden“ zu reden, sich mit schriftlichen Aufzeichnungen an Lesende d. h. Nichtknstler gewandt. Die folgende Stelle ber Wagner als Schriftsteller ist so herrlich, dass es mir schwer wird, sie nicht wçrtlich herzusetzen. Doch mich drngt es, meine Uebersicht zu schliessen. Wagner, obwohl er sich mit seiner Kunst an Menschen der Zukunft wendet, ist kein Utopist; er erwartet kein goldenes Zeitalter, er erwartet nur eine Welt, welche der Kunst wahrhaft bedrftig sein wird. Es werden die Motive der Wagner’schen Dramen, am ausfhrlichsten der „Ring des Nibelungen“ besprochen und endlich gefragt: Ward das fr Euch gedichtet, Ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen? Drft Ihr in den geschilderten Helden Euer Ebenbild erkennen? Zeigt mir einen Wotan, eine Brnnhilde! Wo sind die Siegfriede unter Euch? – Uns ist Wagner der Seher einer Zukunft, dem Volke der Zukunft aber wird er der Deuter und Verklrer einer Vergangenheit sein. Reaktionen Marie Baumgartner an N, 30. 12. 1876: „ – Sehr gefreut haben Sie mich durch die Mittheilung der schçnen Kritik in der musikalischen Zeitung, ich bitte sehr um Erlaubniß die Hefte noch ein wenig behalten zu drfen, ich mçchte sie gerne der Familie Overbeck zeigen, und diese ist jetzt in Zrich.“ KGB II/6,1, Bf. 857, S. 471
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Elisabeth Nietzsche an N, 24. 3. 1877: „Hast Du das musikalische Wochenblatt gelesen worin eine so amsante Beschreibung Deines Aussehens und edeln Charakters gestanden hat? Anna Krug erzhlte davon, ich will mir das Blatt zu verschaffen suchen, wenn Du es noch nicht kennst.“ KGB II/6,1, Bf. 882, S. 524 N an Elisabeth Nietzsche, 31. 3. 1877: „Das musik. Wochenblatt ber mich kenne ich.“ KGB II/5, Bf. 603, S. 227
Falckenberg, Richard: Carl Fr. Glasenapp: Richard Wagner’s Leben und Wirken. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 9, Nr. 18 f vom 26.4. und 3. 5. 1878, S. 223 f, S. 231 f. ber Nietzsche S. 232. Es wre unbillig, von dem Verfasser dieser Lebensbeschreibung jenen Weit- und Tiefblick zu erwarten, mit dem ein Nietzsche das Charakterbild unseres grossen Zeitgenossen zu erfassen und zu zeichnen verstanden hat. Die Aufgabe, die hier gelçst sein wollte, war eine ganz andere: nicht in der Hçhe des Standpunctes, sondern in der stillen Sorgfalt emsiger Einzelforschung, in der Herbeischaffung und Gruppirung des empirischen Baumaterials zu dem dort errichteten philosophischen Gerst liegt die Verdienstlichkeit ihrer Lçsung. Hatte jenes wundervolle Heft der „Unzeitgemßen Betrachtungen“ mit festen Strichen die gewaltige Gestalt des Allknstlers genial und richtig umrissen, so galt es hier vielmehr die Einzelvorgnge des dort angegebenen Grundgeschehens, die Ursachen und Folgen der dort gekennzeichneten Stimmungen, Eigenschaften und Entschlsse festzustellen. Die Kleinarbeit, die die Ort, Tag, Stunde und Nebenumstnde fleissig ermittelt, soll nicht gering geschtzt werden. Statt also in dem einem Werke Das zu vermissen, was das andere enthlt, sollten wir uns beider Erscheinungen freuen und schweigend die gegenseitige Ergnzung vollziehen. Reaktionen Gustav Morsch228 an N, 23. 7. 1878: Verzeihen Sie wenn ich so frei bin Ihnen fr einen Genuß, den ich beim Lesen Ihres Buches – Richard Wagner in Bayreuth – empfand, meinen tiefgefhlten Dank ausspreche. Ich wohnte der 228 aus Kçln stammender Professor fr Musik am Eton College, England.
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dritten Auffhrung des Ringes des Nibelungen in Bayreuth bei und ersehe es als eine Wohlthat, wenn ich in Ihrem Buche dasjenige ausgedrckt finde, was ich ber Wagner und seiner großen Musik nur heiß empfinden konnte. KGB II/ 6,2, Bf. 1095, S. 937 Ernst Schmeitzner an N, 15. 11. 1878: „Der Frau Baumgartner hoffe ich in einigen Wochen eine Rezension ber Wagner Bayreuth schicken zu kçnnen, die ein begeisterter Wagnerfreund Mr. Lequime im Brsseler Artiste bringen wird“. KGB II/6,2, Bf. 1126, S. 995
Ral: (d.i. Lequime, Leon): Richard Wagner a Bayreuth. In: L‘Artiste. Courrier hebdomadaire. Artistique – Littraire – Musical. Brssel, Bd. 3, Nr. 42 vom 21. 12. 1878, S. 331. Richard Wagner a Bayreuth229 Tel est le titre d’un ouvrage de Frdric Nietzsche, professeur de philologie classique de l’universit de Ble, traduit recemment par Mme Marie Baumgartner (En vente chez M. Kiessling et Cie, Montagne (de la Cour, Bruxelles). Nous nous sommes souvent occup des questions wagnriennes et nous aimons mettre nos lecteurs mÞme de s’clairer sur la question si palpitante et si controverse de l’influence de Wagner sur l’art en gnral et la musique en particulier. L’ouvrage que nous citons, s’occupe de cette question d’une faÅon fort leve. Les fÞtes musicales de Bayreuth ont t apprcies diffrents points de vue. D’abord, comme reprsentations thtrales proprement dites. Ensuite, comme rforme musicale ou dramatique. Nietzsche voit dans les buehnenfestspiele, la plus haute manifestation de l’oeuvre de Wagner, le point culminant de son entreprise rformatrice; mais il y trouve autre chose qu’une forme nouvelle du thtre mis au service des besoins de luxe et de plaisir de la socit moderne. Il la considre comme un moyen de civilisation et de transformation de cette socit. L’art de Wagner, n’est pas exclusivement dramatique ou musical ou dclamatoire mais il emprunte la posie, la musique et la dclamation ce qu’elles ont de meilleur, de plus naturel et de moins conventionnel pour en faire un tout aussi parfait que possible. Cet art remonte aux sources de la posie et de la nature pour raliser l’ide dominante de Wagner: c’est par le thtre que l’art peut exercer la plus grande des influences. 229 Laut KGB II/7/3, 2, S. 988 nicht zu ermitteln. Zeitschrift im Besitz des Herausgebers.
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L’auteur commence par tudier Wagner, dans sa vie et dans ses facults gnrales. Il nous le montre en lutte contre les sductions des honneurs et du succs, mais restant fidle son idal de l’art; rpudiant des loges que lui ont valu ses concessions primitives aux prjugs et la routine du sicle pour marcher inbranlable la conquÞte de l’art libre. Nous le voyons s’assimilant avec ardeur toutes les connaissances et dbrouillant le chaos de tous les systmes philosophiques, dominer de son regard d’aigle, la culture hellnique et la civilisation orientale et tenter la reconstitution sur de nouvelles bases de l’art pur son degr civilisateur le plus lev. Bayreuth, d’aprs Nietzsche, n’a pas l’art seul en vue. Bayreuth personnifie la lutte avec la puissance, la loi, l’usage, la convention, etc. Bayreuth, c’est le dfi port aux esprits soit disant „cultivs“. C’est la croisade de la libert contre les influences dmoralisatrices des prjugs et de la routine. Wagner possde le sentiment tragique. Sa puissante intelligence est doue de ce pouvoir de concentration qui transforme l’individu en quelque chose d’impersonnel, ce qui est le but principal de la tragdie. Il atteint son objet en dcouvrant les rapports qui existent entre la musique et la vie, comme entre la musique et le drame et en substituant au langage de convention, l’expression retrouve du sentiment juste rendue plus claire encore par la dclamation simple et naturelle. L’art de nos jours n’a qu’un but: amuser ou etourdir. L’art de Wagner veut clairer, et faire triompher la vrit. La vie du rformateur, c’est--dire, le dveloppement du dramatiste dithyrambique. a t une lutte continuelle contre lui-mme, ou en d’autres termes, contre les sductions du monde. Ce qui l’effrayait, ce n’taient point les attaques de ses ennemis; c’etaient les concessions auxquelles ses amis cherchaient a l’entraner, les succs de Tannhaeuser et Lohengrin ds ce qu’ils renfermaient de moins parfait. C’est alors qu’il essaya de faciliter par des crits esthtiques la comprhension de ses ides. Il puisa dans les critiques dont il fut l’objet, l’nergie ncessaire pour secouer tout joug et se mit faire de l’art pour l’art. Tristan et Isolde et les Maitres Chanteurs sont les deux sublimes et si diffrentes manifestations de sa pense pure. Puis, rafrachi et repos, il put terminer loisir le gigantesque difice qui avait t le but de ses penses pendant vingt annes: L’Anneau du Nibelung. A partir de cette poque ses admirateurs formrent un noyau puissant qui songea bientt donner une ralit au rÞve que Wagner avait peine os faire. La ttralogie qu’il avait compose sans espoir de la voir jamais excuter, trouva un thtre et des interprtes dignes d’elle. Le rformateur put ds lors songer fonder une tradition de style dont il sentait la ncessit et poser son principal ouvrage dans son rhythme lui. C’est ainsi que naquit l’ide de Bayreuth.
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Nietzsche examine ensuite ce qu’est l’artiste dans Wagner. Sa facult potique, dit-il, se montre en ceci, qu’il pense en fait visibles et sensibles et non en notions, c’est--dire, qu’il pense d’une faÅon mystique comme de tous temps i pense le peuple. Il fit rtrograder la langue jusqu’ une phrase primitive o elle ne pense pas encore en notions, o elle n’est encore que posie, qu’image et que sentiment. Il improvisa pour chaque oeuvre un langue nouvelle et donna chaque nouveau sentiment une forme nouvelle et un nouveau son. Contrairement au drame parl qui exagre l’expression des sentiments et tombe souvent dans le faux et le ridicule, le maitre de Bayreuth rend chaque action dramatique intelligible de trois manires diffrentes par la parole, par le geste et par la musique; de sorte que la musique fait passer immdiatement les sentiments des acteurs du drame dans l’me des auditeurs qui voient alors dans les gestes la manifestation visible de ces faits intimes et en perÅoivent dans les paroles une seconde image plus affaiblie, transforme en une volont rflchie. Le pote musicien peut donc se passer de tous les expdients dont le pote a besoin pour donner ses pisodes la chaleur, et l’clat ncessaires. La langue se dpouille de l’ampleur rhtorique pour en revenir la concision expressive du sentiment. La passion chante, rclame galement plus de temps pour s’exprimer que la passion parle, le chanteur est donc forc de matriser l’animation trop peu plastique des mouvements du drame parl et donnant plus de noblesse ses gestes, se rapproche de l’idal de la beaut. Avant Wagner la musique s’appliquait des tats permanents de l’homme ce que les Grecs nomment thos. Beethoven adopta le pathos, c’est--dire, le langage de la passion, c’est ce langage que Wagner a applique, dans de plus vastes limites au drame lyrique. Il nous y donne l’application de la science de la grande dclamation et lgue au monde la tradition d’un style. L’espace nous manque pour entrer dans de plus grands dveloppements. Qu’on lise l’ouvrage, on y trouvera maintes apprciations intressantes sur le gnie qui s’est donn pour mission de ramener l’art au sentiment vrai et l’on comprendra la signification de ce titre Wagner Bayreuth.
Hanslick, Eduard: Musikalische Stationen. Neue Folge der „Modernen Oper“. Berlin, 1880. Im Kapitel „Kritische Nachfeier von Bayreuth“, S. 254 f ber Nietzsches UB IV. Diejenigen Kritiker, welche, wie Ehlert, Mohr, Lindau, Naumann, Schletterer, Engel, Ehrlich, Kalbeck, ruhig und unbefangen das Bayreuther Festspiel beurtheilt und dabei auf jede polemische Wiedervergeltung verzichtet haben, errin-
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gen unsere Achtung schon durch diese Selbstbeherrschung, denn nach der Lectre der mit der Peitsche „vorbereitenden“ Flugschriften von Nietzsche, Porges, Wolzogen, Hagen ec., war es schwer, in ganz ungereiztem Gemthszustand das Weichbild von Bayreuth zu betreten. Der Philologe Friedrich Nietzsche, durch Talent und Bildung wol der hervorragendste, in seinen Uebertreibungen zugleich der abenteuerlichste unter Wagner’s Kmpen, betrachtet diesen gar nicht als Tondichter – er scheint sich fr Musik kaum zu interessiren – sondern als großen, neben Goethe gestellten Dichter, als nationalen Helden, als Stifter einer neuen erlçsenden Religion und Philosophie, mit Einem Wort, als einen Messias, an dem zu zweifeln Frevel ist. Das Bayreuther Festspiel ist ihm „die erste Weltumseglung im Reiche der Kunst, wobei nicht nur eine neue Kunst, sondern die Kunst selber entdeckt wurde. Alle bisherigen modernen Knste sind dadurch halb und halb entwerthet“. Seine Sorge ist nur, „ob die, welche das Festspiel erleben, seiner wrdig sein werden“. Es fehlt nur, daß die Zuhçrer verhalten wrden, frher das Altarssacrament zu empfangen, um „im Stande der Gnade“ Alberich und den Rheinnixen entgegenzutreten. Herrn Nietzsche sind wirklich die Besucher des Wagner-Theaters „geweihte Zuschauer, Menschen, die sich auf dem Hçhenpunkte ihres Glckes befinden“, und Bayreuth bedeutet ihm „die Morgenweihe am Tage des Kampfes“. Und weiter heißt es: „Lernt es, selbst wieder Natur zu werden, und laßt euch dann mit und in ihr durch meinen Liebes- und Feuerzauber verwandeln! Es ist die Stimme der Kunst Wagner’s, welche so zu den Menschen spricht. Daß wir Kinder eines erbrmlichen Zeit alters ihren Ton zuerst hçren durften, zeigt, wie wrdig des Erbarmens gerade dieses Zeitalter sein muß. Mußte die wahre Musik erklingen, weil die Menschen sie am allerwenigsten verdienten, aber am meisten ihrer bedurften?“ Man sieht, Nietzsche schlgt genau denselben Ton an, fast dieselben Worte, womit unsere Religionsbcher von Jesus Christus sprechen. Mit hnlichem Pathos, nur mit mehr musikalischem Interesse und Verstndniß, versucht Heinrich Porges in die tiefsten Tiefen Wagner’scher Kunst- und Weltbedeutung zu dringen. […]Sprechen Nietzsche und Porges als eine Art Ober-Priester ihres Gottes, so begngt sich Hanns v. Wolzogen (Sohn des wahrscheinlich nicht sehr erfreuten Kunstschriftstellers Alfred v. Wolzogen) mit der Mission eines Wagner-Cicerone und explicirt in seinem „Thematischen Leitfaden“ die neunzig verschiedenen Leitmotive der „Nibelungen“ und in seiner „Poetischen LautSymbolik“ die psychische Wirkung jedes von Wagner irgendwo verwendeten Consonanten und Stabreims.
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Nohl, Ludwig: Wagner. Leipzig, 1883, S. 94–96 (Musiker Biographien Bd. 5). Von dem Eindrucke [der Bayreuther Festspiele] sagen wir diesmal, weil uns der Raum fehlt, alles zu sagen, – nichts, geben aber, um wenigstens eine Vorstellung von dem Vorgange zu gewhren, der da die Geister festbannte und die Gemther in einem Zwange hielt, der sich erst mit der letzten Note lçste, aber dabei auch eine ganze Welt im eigenen Innern aufdmmern ließ, einen kurzen Aufriß seines die Welt ausdeutenden Wesens, sowie ihn jener geistvolle Freund und Patron, der Professor Nietzsche in Basel, kernvoll krftig hingezeichnet hat. „Im Ring des Nibelungen,“ sagt er, „ist der tragische Held ein Gott (Wotan), dessen Sinn nach Macht drstet und der, indem er alle Wege geht, sie zu gewinnen, sich durch Vertrge bindet, seine Freiheit verliert und in den Fluch, welcher auf der Macht liegt, verflochten wird. Er erfhrt seine Unfreiheit gerade darin, daß er kein Mittel mehr hat, sich des goldenen Ringes, des Inbegriffes aller Erdenmacht und zugleich der hçchsten Gefahr fr ihn selbst, solange derselbe im Besitz seiner Feinde ist, zu bemchtigen: die Furcht vor dem Ende und der Dmmerung aller Gçtter berkommt ihn und ebenso die Verzweiflung darber, diesem Ende nur entgegensehen, nicht entgegenwirken zu kçnnen. Er bedarf des freien furchtlosen Menschen, welcher ohne seinen Rath und Beistand, ja im Kampf wider die gçttliche Ordnung von sich aus die dem Gotte versagte That vollbringt: er ersieht ihn nicht, und gerade dann, wenn eine neue Hoffnung noch erwacht, muß er dem Zwange, der ihn bindet, gehorchen, durch seine Hand muß das Liebste vernichtet, das reinste Mitleiden mit seiner Noth bestraft werden. „Da ekelt ihn endlich vor der Macht, welche das Bçse und die Unfreiheit im Schooße trgt: sein Wille bricht sich, er selbst verlangt nach dem Ende, das ihm von ferne droht, und jetzt geschieht erst das frher Ersehnteste: der freie furchtlose Mensch erscheint, er ist im Widersprche gegen alles Herkommen entstanden; seine Erzeuger bßen es, daß ein Bund wider die Ordnung der Sitte sie verknpfte: sie gehen zu Grund, aber Siegfried lebt. „Im Anblick seines herrlichen Werdens und Aufblhens weicht der Ekel aus der Seele Wotans. Er geht dem Geschicke des Helden mit dem Auge der vterlichsten Liebe und Angst nach. Wie Dieser das Schwert sich schmiedet, den Drachen tçdtet, den Ring gewinnt, dem listigsten Truge entgeht, Brnnhilde erweckt, – wie der Fluch, der aus dem Ring ruht, auch ihn, den Unschuldigen, nicht verschont, ihm nah und nher kommt, wie er, treu in Untreue, das Liebste aus Liebe verwundend, von den Schatten und Nebeln der Schuld umhllt wird, aber zuletzt lauter wie die Sonne heraustaucht und untergeht, den ganzen Himmel mit seinem Feuerglanze entzndend und die Welt vom Fluche reinigend, – dies alles schaut der Gott, dem der waltende Speer im Kampfe mit dem Freiesten gebrochen ist und der seine Macht an ihn verloren hat, voller Wonne
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am eigenen Unterliegen, voll Mit-Freude und Mit-Leiden mit seinem Ueberwinder. Sein Auge liegt mit dem Leuchten einer schmerzlichen Seligkeit auf den letzten Vorgngen: er ist frei geworden in Liebe, frei von sich selbst!“ Dies der tiefsinnige Inhalt eines Werkes, das uns der Welt tragisches Wesen aufdeckt! – Reaktionen N an Heinrich Kçselitz, 20. 6. 1888: „In der Bibliothek des Hotels fand ich ein Leben Wagners von Nohl, das in einem kostbaren Stil abgefaßt ist. Ich selbst komme darin vor, als ,der geistvolle Freund und Patron‘ wçrtlich!“ KGB III/5, Bf. 1049, S. 338
Kulke, Eduard: Richard Wagner, seine Anhnger und seine Gegner. Prag, Leipzig, 1884 ber Nietzsches UB IV S. 212–222. Vielleicht der einseitigste, zugleich aber der hervorragendste von Wagners Anhngern ist der schon frher genannte Professor der klassischen Philologie Dr. Friedrich Nietzsche. Sein Buch „Die Wiedergeburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ zeigt sofort eine ernste tiefangelegte Natur, zugleich aber auch eine starke Neigung zu extremen Behauptungen. Seine spteren Schriften wie „David Strauß“, „Schopenhauer als Erzieher“, „Richard Wagner in Bayreuth“ besttigen nicht nur den ersten Eindruck: sie gehen so weit, daß sie beim ruhigsten und besonnensten Leser den Geist des Widerspruchs aufs heftigste erregen. Fr unsern Zweck ist hier nur die letztgenannte Arbeit ins Auge zu fassen. Das Unternehmen in Bayreuth nennt Nietzsche (S. 6) „die erste Weltumseglung im Reiche der Kunst: wobei, wie es scheint, nicht nur eine neue Kunst, sondern die Kunst selber entdeckt wurde. Dagegen wurde gegnerischerseits das Bayreuther Unternehmen als Schwindel bezeichnet. Ist eine solche Gegeneinanderstellung nicht hçchst belehrend? […] Friedrich Nietzsche ist, das habe ich schon frher gesagt, eine tiefe Natur, wie fast jeder Musiker. Wagners Kunst kommt seinem Mysticismus entgegen; seine Vorliebe fr dieselbe ist daher begreiflich. Nur davon wird uns Nietzsche keine berzeugung beibringen, daß der Mysticismus im Stande sei, alles Andere entbehrlich zu machen. Der Mysticismus erklrt uns die Welt nicht, im Gegentheil er macht das Rthsel nur verworrener. Nietzsche verfhrt auch vollkommen consequent, die Wissenschaft zu bekmpfen,denn sie ist die erklrte Feindin des Mysticismus. […] Mit einem
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Worte: die Religion, zu welcher sich Friedrich Nietzsche bekennt, ist in Bayreuth nicht gestiftet worden. Er hat zwar ber „Heiterlinge“, denen die Kunst ein bloßes Zerstreuungsmittel ist, sowie ber die Bildungsphilister, welche jeder starken tragischen Erschtterung aus dem Wege gehen, einige sehr gute und beherzigenswerthe Bemerkungen gemacht, das aber kann er nicht verlangen und darf es auch nicht erwarten, dass wir uns durch das Bhnenfestspiel in Bayreuth zur Religion der „Trauerlinge“ bekehren werden. […] Gegenber Nietzsches aphoristischen Luftballonfahrten im Reiche der Ideen versucht Porges seinen Gedanken einen mehr logischen Zusammenhang zu geben.
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Hoffmann, Franz: Unzeitgemsse Betrachtungen von Friedrich Nietzsche. In: Psychische Studien. Monatliche Zeitschrift, vorzglich der Untersuchung der wenig gekannten Phnomene des Seelenlebens gewidmet. Leipzig, Bd. 1, Nr. 12, Dezember 1874, S. 563–569. Auch in Hoffmann, Franz: Philosophische Schriften. Bd. 7. Erlangen, 1881, S. 120–126. Unzeitgemsse Betrachtungen von Dr. Friedrich Nietzsche, ordentl. Prof. der klass. Philologie a. d. Univ. Basel. Erstes Stck: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller. (Leipzig, Fritzsch, 1873.) Zweites Stck: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben. (Daelbst, 1874.) Drittes Stck: Schopenhauer als Erzieher. (Schloss-Chemnitz, Ernst Schmeitzner; 1874.) 3 Mark. Recensirt von Professor Dr. Franz Hoffmann. Schopenhauer hat bereits eine kleine philosophische Schule hervorgerufen. Unter Andern zhlen dazu vorzglich Eduard von Hartmann, Julius Bahnsen, Arnold Lindwurm, Friedrich Nietzsche. Zum Theil liegen sie schon mit ihrem Meister in Hader, noch mehr aber unter sich selbst. Diess ist bei einer so widerspruchreichen und ausschweifenden Philosophie, wie die Schopenhauer’sche, nicht im Geringsten verwundersam, noch weniger als bei der Hegel’schen Schule. Denn diese spaltete sich doch nur in zwei Flgel, einen rechten und einen linken, da das sogenannte Centrum, „Rosenkranz“, sich im Grund auf dem rechten Flgel angesiedelt hatte, whrend von den Jngern Schopenhauer’s jeder Einzelne eine besondere Sektion darstellt. Mnner von Talent und Kenntnissen sind sie unstreitig, aber man braucht nur die Schriften Hartmann’s, Bahnsen’s und Lindwurm’s zu vergleichen, um zu finden, wie sie sich selber unter einander mehrfach ernstlich bestreiten und doch nur verschiedene Irrwege im Besondern eingeschlagen haben. Die Widersprche Hartmann’s sind hinlnglich aufgedeckt, z. B. von Haym und Knauer, zum Theil auch von dem Referenten. Der geistreiche Bahnsen sucht entgegen dem Monismus Hartmann’s einen pluralistischen Thelematismus (Willenslehre) aufzustellen, der analog wie der auf die Atome gebaute Materialismus und der Herbart’sche nichtmaterialistische Realismus
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schon an der Unmçglichkeit der Vielheit absoluter Wesen scheitert.230 Lindwurm dagegen behauptet, es gebe wohl Geist, aber nie und nimmer Geister, denn diese setzten eine zhlbare Vielheit voraus, welche gar nicht gedacht und vorgestellt werden kçnne.231 So kçnnte also nicht gedacht werden, dass Platon und Aristoteles, Demokrit und Diogenes, Kant und Krug, Schopenhauer und Lindwurm unterschiedene Personen und also Geister, denn Personen sind Geister und Geister sind Personen, seien? [sic] Dieser etwas Weniges Schopenhauerisch gefrbte Lindwurmismus erinnert stark an den arabischen Philosophen Averro s (Abu Walid M…. Ibn Roschd), nach welchem der Geist nicht eines (jeden), sondern des Menschen, unsterblich sein sollte.232 Wie oft soll noch dieser wiederaufgewrmte Averrosmus widerlegt werden? Was Lindwurm S. 179 ff., 181 ff., 193 ff., 211 ff. seines Buchs gegen die Unsterblichkeit der geistigen Individuen, ber Zeit und Ewigkeit, Sterblichkeit und Unsterblichkeit sagt, ist guten Theils leeres, hohles Gerede, zum Theil burschikoses Gefasel. Oder kann ein Passus, wie der folgende, milder bezeichnet werden? „DieTheologen233 sind ganze Kerle, die lassen die Geister reiten, fahren, ziehen, fliegen, Alles auf Kosten der glubigen Schafe. Wir aber, die wir nicht angestellt sind, die Menschen dumm zu machen, sondern aufzuklren, wir drfen uns nicht einmal (!) so abfinden, wie es Poeten drfen: „Der Mond, der scheint so helle, Die Todten reiten schnelle; Graust, Liebchen, Dir vor Todten?“
„Wir haben die Dinge ernsthafter, nchterner zu untersuchen, und da ergiebt sich, dass uns die Verwerfung des Satzes: kein Kçrper ohne Geist, flugs in die Gespenster hineinbringt. Wer also keine Gespenster will, wer klar in der Welt und in die Welt zu sehen entschlossen ist, sich und Andern nichts vorlgen mçchte, der muss sich gewçhnen (!), sich unter dem Worte Geist etwas Anderes zu denken, als er sich bis dahin gedacht hat, oder aber berhaupt (!) bei dem Worte zu denken, falls er diess bis dahin nicht zu thun gewohnt war.“ Danach hinge es also ganz von dem Willen des Herrn Lindwurm ab, ob Geister existiren 230 Beitrge zur Charakterologie und zum Verhltniss zwischen Willen und Motiv von J. Bahnsen. 231 Praktische Philosophie von A. Lindwurm S. 160. 232 Grundriss der Gesch. der Philos. von Erdmann. 2. A. I., 308. 233 Warum die Theologen und nicht die theistischen Philosophen? Haben die Theologen die Unsterblichkeitslehre in Pacht? Und wenn Manche von ihnen dieselbe unphilosophisch auffassen, ist damit die Unsterblichkeitsfrage abgethan? Hat sich Lindwurm ernstlich bei tchtigen Theologen umgesehen? Vorbehaltlich einer nheren Kritik kann doch gesagt werden, dass der katholische Theologe (wenn gleich Prof. der Philos.) Dr. Ludwig Schtz in seinem „Vernunftbeweis fr die Unsterblichkeit der menschlichen Seele“, und der protestantische Theologe Dr. Ebrard in seiner Apologetik ungleich Grndlicheres und Vernnftigeres ber Unsterblichkeit vortragen als Lindwurm.
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oder ob sie nicht existiren und er wre der Zauberer, der sie existiren oder auch nicht existiren machen kçnnte, whrend allein die Frage ist, ob ihre Existenz thatschlich, wie philosophisch erwiesen oder widerlegt werden kann. Denn die Mçglichkeit ihrer Existenz kann a priori schlechterdings nicht geleugnet werden. Aber es kommt noch besser. Der erschrecklich spasshafte Mann versteigt sich (S. 208) zu folgender Tirade: „Die Sorte Welt, welche fr sich selbst einen Zweck zulsst, ist Pfaffenspuk. Sie setzt neben sich eine andere Welt voraus, also „Welten“, „Alle“, „Wirklichkeiten“, von denen jede mit Brettern zugenagelt ist, damit man sie von der anderen unterscheiden kçnne. Es gibt allerdings Pfaffen, welche sich das Ding anschaulicher machen, von so vielen Welten trumen, als Sterne da sind. Von einem Stern hpfen dann die Seelen, nachdem sie daselbst die hohe Schule der Schicksalsprfungen unter der hochwohlweisen Anleitung ruhmreicher Pfaffen durchgemacht haben, zu immer hçherer Vollkommenheit hinauf, bis ….. bis dass jeder Schweinetreiber ein so vollendetes Geschçpf geworden ist, wie ein bechorrockter Pastor.“ Solchen erbrmlichen frivolen Auslassungen gegenber wre fr unsere Leser jedes Wort der Kritik reine Verschwendung. Es gibt ein Witzigwerdenwollen aus Verzweiflung, welches dann zu einer Mischung des Burlesken und Frivolen ausschlgt, und diess umsomehr, fr je geistreicher der Verzweifelnde sich hlt in der ihm brillant und tiefsinnig zugleich scheinenden Auffassung der Welt und des Weltprocesses als einer anfangs mhlosen Verkettung unendlich vieler sich selbst bildender und abbrennender Feuerwerke. Wenden wir uns zu unserem eigentlichen Ziele, von dem Schopenhauer natrlich berstrahlenden, sich im Burlesken gefallenden „stndigen Wanderlehrer fr Verbreitung von Volksbildung“ zu Friedrich Nietzsche, dem klassischen Philologen, so begegnet uns ein Schriftsteller aus der Schopenhauer’schen Schule, der es zeitgemss fand, mit „Unzeitgemssen Betrachtungen“ hervorzutreten, wovon bereits drei Stcke vorliegen. Ueber das erste Stck hat sich Referent im „Allgemeinen literarischen Anzeiger“ (von Andre, Cramer u. Zçckler) verbreitet, wonach sich der Wissbegierige umschauen mag. Hier sei nur bemerkt, dass Nietzsche David Strauss als Bekenner und als Schriftsteller einer Kritik unterzieht, die unter Austheilung von Kolbenschlgen im Wesentlichen darauf hinaus luft, dass ihm Strauss den Atheismus zu sehr in einer Mischung von Hegel, Feuerbach und Bchner, und nicht, wie er nach Nietzsche gesollt htte, echt Schopenhauerisch betrieben hat. Dabei wird behauptet, dass in Deutschland der reine Begriff der Kultur verloren gegangen sei, dass jene hçchst zweideutige und jedenfalls unnationale „Gebildetheit“ der Deutschen jetzt in Deutschland mit gefhrlichem Missverstande Kultur genannt werde und dass der verderbliche Wahn, als habe die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt, drohe, unseren Sieg in die Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des „Deutschen Reiches“. Wenn Nietzsche unsern Sieg im Jahre 1870 mit patriotischer Freude mitgefeiert htte, wovon keine Spur
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wahrzunehmen ist, so htte er sich das Recht der Warnung vor Erschlaffung der nationalen geistigen Bildungstriebe allenfalls erworben; allein auch dann htten wir ihn fragen mssen, worein er denn die zu erstrebende national-deutsche Kultur setze, da er aus eigener Bewegung darber so gut wie nichts gesagt hat. Soll aber die Hindeutung auf Schopenhauer uns den Weg zeigen, an dessen Ziel uns der verlangte Aufschluss werden solle, so gerathen wir erst recht in Erstaunen, da uns gerade Schopenhauer als das rechte Widerspiel eines deutschen Mannes und Philosophen erscheint, dessen Lehren und Thaten auf Erhebung zu einer erhabeneren Kulturstufe begeisternd zu wirken vermçchten. Der atheistische und folglich antispiritualistische Charakter der Nietzsche’schen Weltanschauung, welcher der Unsterblichkeitsglaube und umsomehr das Hereinragen der Geisterwelt in die irdische von Grund aus verhasst ist, offenbart sich im zweiten Stck seiner Schrift deutlich genug fr Jeden, der, von den hochtçnenden Redensarten unverblendet, auf den oft genug sich verrathenden Hintergrund seiner Gedanken blickt. Es liegt den Aufgaben der „Psychischen Studien“ zu ferne, auf die Betrachtungen dieses Stckes: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben“, nher einzugehen. Im Ganzen machen sie den Eindruck eines vergeblichen Beschwichtigungsversuchs der innern Verzweiflung, welche stets der Negation anhaftet, ohne dass sie sich dieselbe ganz gestehen will und nun auf forcirte Aktion hindrngt, um das Gefhl der innern Hohlheit, so viel als mçglich, los zu werden.234 Dazu wird eine Menge mehr geistreicher als wahrer Gedanken aufgeboten, die aus einem verdsterten Gemth aufquellen, welches nicht inne wird, woher die Krankheit der Melancholie kommt. Diese Melancholie hindert den Mann aber nicht, grimmigen Hass gegen Hegel und Eduard von Hartmann zu sprhen. Gegen Hegel, weil er der falschen und berdiess geistlosen Geschichtsauffassung Schopenhauer’s eine zwar gleichfalls irrige, aber doch wenigstens geistreiche gegenber gestellt hat, und gegen Hartmann, weil er den verhassten Hegel mit Schopenhauer ineinander zu schweissen versucht hat. Glcklich ist dieser khne Versuch allerdings nicht, aber es nimmt sich wie Hass und Eifersucht aus, wenn Nietzsche die Hartmann’sche Philosophie als ein Schelmenstck hinzustellen die Miene macht. Es gengt Nietzsche nicht, dass Hartmann mit ihm die Persçnlichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Geister verneint und fr den Spiritualismus nur Spott brig behlt: er soll das Alles auch genau nach der Manier Schopenhauer’s vollbringen, sonst wird ihm Krieg bis auf das Messer angekndigt.
234 Aller Pantheismus wie aller Atheismus bewegt sich nur in den Extremen des Quietismus und des Revolutionismus. In Asien begnstigt er berwiegend den Quietismus, in Europa berwiegend alles Revolutionre. Sollte in Europa der Pantheismus allgemein werden, was wir nicht glauben wollen, so wrde es schliesslich dem Schicksal Indiens verfallen.
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Im dritten Stck der „Unzeitgemssen Betrachtungen“ begegnen wir der wundersamsten Verherrlichung Schopenhauer’s. Dieser Philosoph wird uns als Erzieher, als Muster und Vorbild empfohlen. Hauptschlich ist es die Offenheit und Aufrichtigkeit, womit er seine Negationen und Positionen aussprach, welche ihm diesen hohen Rang sichern sollen neben der angeblich Alles berstrahlenden Tiefe seiner wohlstylisirten Weltanschauung. In den Augen Nietzsche’s wird jene Aufrichtigkeit nicht im Geringsten durch die mit ihr verbundene grimmige Schmhsucht und zornmthige Verkleinerungssucht Andersdenkender getrbt, und seine philosophische Weltanschauung verliert bei ihm nichts an Bedeutung durch die widerspruchvolle Zusammenschweissung seines Idealismus mit seinem Realismus, welche sich nur in gewissen Durchlçcherungen der Consequenz ber das Niveau eines mystischen Naturalismus oder naturalistischen Mysticismus erhebt. Wer und was Schopenhauer als Charakter und Denker war, hat besonders Haym in seiner Abhandlung ber ihn genugsam dargethan, woraus sich ergibt, dass kein Philosoph von Genie weniger als Sch. Anspruch darauf hat, uns als Vorbild zu dienen.235 Der Atheismus Schopenhauer’s wrde die Welt nicht besser, sondern noch ungleich schlechter und leidenvoller dazu machen, als sie ist, und auf das Strengste beweisen, dass sie, wie sie jetzt ist, noch lange nicht die schlechteste unter allen mçglichen genannt zu werden verdient. Aller Atheismus ist Geistleugnung, Leugnung des Gottesgeistes und damit zugleich des Menschengeistes, und setzt Gott zu einer blinden Naturmacht, den Menschen zum rsonnirenden Thier herab, und soweit das Letztere Schopenhauer noch nicht ganz gethan hat, wrden seine Jnger nachhelfen und mit der vçlligen Verthierung des Menschen endigen.236 Gesteht doch Nietzsche mit drren Worten, dass er die Lehren des (warum doch nur?) verhassten Hegel vom souverainen Werden, von der Flssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten, von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier fr wahr, aber fr tçdtlich halte (2. Stck S. 93), und er frchtet – er, der Bewunderer und Verherrlicher der unumwundenen „Auf235 Sch. wre unfhig gewesen, sich wie Fichte und Schiller aus den beengendsten widrigsten Verhltnissen, charaktervoll emporzuarbeiten. Nur die reiche Erbschaft von seinem Vater hat ihm jene bis zum grellsten Excess getriebene Offenherzigkeit und Ungenirtheit seiner Aussprache und Angriffe gegeben. 236 Wir kçnnen uns diesem fast allzu gestrengen Urtheil ber Schopenhauer nicht anschliessen, sondern halten uns an das mildere Fichte’s in seinem jngsten Werke: ,,Die theistische Weltansicht und ihre Berechtigung etc.“ (Leipzig, Brockhaus, 1873.) S. 25 ff., und wollen nicht vergessen, dass ihn Prof. Krçnig in „Das Dasein Gottes und das Glck der Menschen etc.“ (Berlin, E. Staude, 1874) S. 244 ff besonders deshalb tadelt, weil Schopenhauer nicht allein an animalischen Magnetismus und Somnambulismus, Sympathie, schwarze und weisse Magie, sondern auch an Hexen und Gespenster glaubte! Er war eben ein Philosoph, der geistige und psychische Thatsachen gelten liess, wie sonderbar auch seine Erklrung derselben war. Das drfen wir hier nicht unbeachtet lassen. Die Redaction.
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richtigkeit und Wahrheitsliebe“ seines „grossen“ Lehrers, der (3. St. S. 45) das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich genommen habe, – dass, wenn Hegels Lehren noch ein Menschenalter in der jetzt blichen Belehrungswuth in das Volk geschleudert werden, dieses an Selbstsucht zu Grunde gehen werde!!! Da der Unsterblichkeitsglaube haltbar nur auf die Ueberzeugung von der Geistigkeit und also Persçnlichkeit Gottes gegrndet werden kann,237 so ist der die Unsterblichkeitslehre vertheidigende Spiritualismus unvertrglich mit jeder Form des Materialismus, Naturalismus, Pantheismus und Atheismus, hat den Kampf mit allen diesen Verirrungen des Denkens zu bestehen und durchzufechten und darf die Waffen der Philosophie nicht am Nagel hngen lassen, whrend er die Colonnen wohlbeglaubigter Erfahrungen in das Feld fhrt. Erfahrungen allein, ohne philosophische Verwerthung, kçnnen, im besten Falle die zeitliche Fortdauer abgeschiedener Menschen, niemals aber die ewige (endlose) Unvergnglichkeit derselben beweisen. Unter diesen Umstnden ist sich nicht zu verwundern, dass es in den Schriften aller Sorten von Pantheisten und Atheisten an schlecht orientirten Ausfllen auf den Spiritualismus wimmelt, wohl aber ist sich darber zu verwundern, dass die weitaus grçsste Zahl der Unsterblichkeitsglubigen die Verwstungen der Atheisten unthtig mit ansieht und sich so wenig um die Vorkmpfer des Spiritualismus (wie z. B. Wallace) als um diejenigen Forscher kmmert, welche die Erscheinungen des sogenannten Spiritismus bis auf den Grund geprft wissen wollen. Auf die Ungeheuerlichkeiten Nietzsches einzugehen, ist hier nicht der Ort, und es mag nur bemerkt werden, dass sich dergleichen nicht weniger, nur andere, in den Schriften v. Hartmann’s, Lindwurms etc. gleichfalls finden.
Anonym: Contemporary Literature. Theology and Philosophy. In: Westminster Review and Foreign Quarterly Review. London, Bd. 47, Nr. 2 vom 1. 4. 1875, S. 501ff U. a. Rezension der UB I-III. Positive thought in some form will, we hope, triumph in the end over the barren and bewildering metaphysics of Germany. The successive builders of ontological 237 Unter den Pantheisten ist es J. G. Fichte, der nur den im ethischen Kampfe auf Erden siegreichen Geistern ewige Fortdauer im Jenseits zuschreibt, was darauf deutet, dass ihm der Theismus, trotz jenem vielbenutzten Ausspruch von dem angeblichen Widerspruch des Bewusstseins mit der Schrankenlosigkeit Gottes, innerlichst viel nher stand, als es den Anschein hatte. Die Persçnlichkeitspantheisten lehren die Unsterblichkeit, wie Schelling, Weisse, Fechner, Lotze etc., wiewohl zum Theil (z. B. Weisse) unter Einschrnkungen.
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card-castles happily do their best to destroy all faith in their nugatory method, and to shake their tremulous edifices till they topple to their fall. Dr. Friedrich Nietzsche238 still retains his faith in the most destructive of all the priori cosmogonists, Arthur Schopenhauer. The literary merit, the humour, the candour, the often deadly force of Schopenhauer’s logic make him deservedly a favourite with persons who have no faith, and as little hope. The genius and cheerful serenity of the giant-killing philosopher seem fairly to have overpowered Herr Nietzsche’s unconformable temperament, and to have compelled him to recognise a master spirit and great religious reformer in the paradoxical manufacturer of an occidental buddhism. According to Schopenhauer and his admiring pupil, existence is a lying puppet show and endless game of nonsense, which the booby Time plays before us and with us. This wonderful universe, with all its variety of life, is hollow, deceptive, stale and unprofitable; human nature is without dignity, human love without beauty, human destiny without grandeur. The solution of the problem, which man proposes is to be sought in the destruction of a world that never is, but only seems; in contempt for human virtues, human vices, human wellbeing, in hopelessness, in self-immolation. A happy life is impossible, the highest attainable life is the heroic life. The man who realizes this life is the ideal man – the man of Schopenhauer, a man far exalted above the man of Sentiment, the man of Rousseau, or even the man of Contemplation – the man of Goethe. In some of these representations there is, no doubt, truth to be found, and amid the dismal notes of this great lamentation over life, a strain of higher mood from time to time is heard. The imperfection of Nature is undeniable, and moral evil, both in kind and degree, apalling; but the pessimism of Schopenhauer is surely as exaggerated as the optimism of Leibnitz. The ordinary view of the world appears to us nearer the truth than that of the paradox-loving Schopenhauer. Good and evil, like light and darkness, co-exist, but the material, no less than the spiritual order, is capable of improvement; and life is sometimes enjoyment, not always renunciation. The representatives of human nobleness are, according to Dr. Nietzsche, philosophers, artists und saints. The philosopher of course must have „a fine eye for consequences,“ and, if possible, see a soul of evil in things good, the artist represents genuine culture in opposition to intellectual Philistinism; the saint, who commits spiritual suicide, is exalted into a region of higher life and thought, the clouds of earth depart, the glory of summer evenings is round him. This transcendent saintliness however, does not preclude the exercise of privileges which are usually supposed to be incompatible with moral predilections. Schopenhauer, at least, on one of the papers in his „Parerga“, pleads strongly for the restoration of polygamy, maintains the unreasonableness 238 „Unzeitgemasse [sic] Betrachtungen.“ Von Dr. Friedrich Nietzsche, Ordentl. Professor der classischen Philologie an der Universitt Basel. Leipzig: Frizsch. 1874.
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of expecting men to put a restraint on their passions, while, with that impartiality which becomes a philosopher and a saint, he insists on padlocking the lying, lover-hunting, round-shouldered, broad-hipped female sex. The saint of Schopenhauer it seems must renounce the world, and very likely the devil, but he may make amends to injured virtue by amiable capitulations to the third of our spiritual enemies, „Low morals and High Church“ being thus triumphantly reconciled. From the eulogistic estimate of the sublime philosophy contained in the third of Dr. Nietzsche’s opposition pamphlets, we trace our way back to the first of the three, in which an attempt is made to damage the reputation of truth-loving, high-hearted man, whose aim was not so much to construct a philosophy as to explain the origin of a religion. Strauss undoubtedly pushed his mythical hypothesis too far in his first „Leben Jesu“, but the general principle which he laid down even in that work, that the evangelical narrative is partly myth, partly legend, partly fact, has, in our opinion, been amply confirmed, and in his popular Life of Jesus there is but little for future criticism to correct. That the conclusions at which Strauss arrived would be opposed to those of many estimable persons is a matter of course; but an occidental Buddhist would object but little if at all, to the most trenchant negations of the dreaded theologian. In fact, his battery seems principally directed against the confession of Strauss in the little work entitled „The Old and New Faith“. We should have thought that the religious belief of a man of Strauss’s learning and experience would possess a legitimate interest for all thoughtful men in these days of mental anarchy, and that long and laborious inquiry was a sufficient justification for such an avowal from such man. Dr. Nietzsche, however, regards Strauss’s Confession as a blunder, and criticises it, perhaps not without occasional success, in a bitter and denunciatory spirit. As Schopenhauer represents the purest culture, so Strauss seems to be chosen as a type of the Philistine intellect. Surely Strauss’s ample knowledge, his penetrating sagacity, his devotion to art, his love of poetical composition, his biographical productivity, should have exempted him from inclusion in the circle of men of narrow parochial minds and cittish tastes, to whom the term Philistine would appropriately applied. No doubt the work of Strauss is not that of a Darwin or a Goethe, but it is noble and necessary work, manfully conceived and honestly executed; not purely destructive, though it destroys, but in some degree exhibiting the strength of the building hand, and the splendour of the illuminating mind. In the second or intermediate division of the present work the author’s expression of antipathy becomes general. We are far from thinking that his censure on the abuse of historical composition or historical acquirement wholly undeserved. A mind overloaded with facts loses sight of the principle that interprets them, and an exhaustive minuteness is a poor substitute for that comprehensive and centralizing treatment, which, as in Gibbon’s „Decline and Fall,“ impresses by its magical condensation the life of a period on the receptive intellect. The essay, as we understand it, is directed
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against useless prolixity and multifarious pedantry. The author contends that interests men as actual possessors of life, serving them in their external activity, corresponding to their instincts of conservation and veneration, and appealing to them as suffering creatures needing moral liberation. History accordingly takes a threefold division: it is monumental, antiquarian, or critical. Reaktionen N an Carl Gersdorff, 8. 5. 1875: „In der Westminster Review ist ein grçßerer Aufsatz ber meine 3 ersten Unzeitgemßen, hçre ich, er soll ziemlich wthend sein. Doch freut’s mich, dass Englnder mich lesen.“ KGB II/5, Bf. 443, S. 48 Ernst Schmeitzner an N, 9. 10. 1875: „Im April-Heft der Westminster Review ist eine Recension ber Sie erschienen, entweder ber die dritte Betrachtung oder ber alle drei, ich weiß dies nicht genau.“ KGB II/6,1, Bf. 718, S. 232 Helen Zimmern an N, 25. 5. 1876: „Your kind favor news reached me until the 21st of this month, and I should certainly have written long ago to thank you for the ,Unzeitgemße Betrachtungen‘ which I have read with extreme pleasure, as yet only once, because I wanted to write to you as soon as possible, but I now intend to give it a more careful second reading, for I have found a great deal that is most thought suggesting in your pages. The piquante title of your work had already attracted my notice in an bookseller’s catalogue and I had determined to read it, but I value it doubly as a direct gift from the author and tender you my most sincere thanks. As regards Schopenhauer I can say of him as he said of Goethe ,he has educated me anew‘.“ KGB II/6,1, Bf. 765, S. 315 f George Croom Robertson an N, 20. 9. 1877: „Though it is a long time since we parted at Rosenlaui, I am now able to fulfil my promise and send you word about the notice in the Westminster Review. It appeared in the number dated April 1875, and deals with the essays on Schopenhauer, on Strauss and on History. […] I do not know if it was worth while making these citations, but if they satisfy you as to the drift of the notice and save you from the trouble of ever hunting it up, then it was worth while. […] My wife sends her kind regards. We both look back with much pleasure upon that time at Rosenlaui.“ KGB II/ 6,2, Bf. 978, S. 701 f Ferdinand Tçnnies: „In Leipzig [Wintersemester 1873/74] fand ich Nietzsches Unzeitgemße Betrachtungen, erstes Stck ,David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller‘. Es bezog sich auf den mir wohlbekannten ,Alten und neuen Glauben‘. Keineswegs die erste Kritik, die ich kennen lernte, aber die erste, die
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starken Eindruck auf mich machte. Eines Tages sah ich dann in einem Buchladen die ,zweite Unzeitgemße‘: ,Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben‘. Ich kaufte sie mir und war tief bewegt. Seitdem habe ich jedes Nietzsche-Werk gleich nach Erscheinen mir zu eigen gemacht, wenn auch mit allmhlich abnehmender Begeisterung.“ hnlich hatte Tçnnies schon zum Tode Nietzsches an die Schwester geschrieben: „ich habe ihn geliebt, seit frhen Tagen; seit ich im Jahre 1873 das ,Zweite Stck der Unzeitgemßen Betrachtungen‘ erwarb und mir zu eigen machte; nachdem ich schon die ,Geburt der Tragçdie‘ mit wahrem Entzcken, ,David Strauß‘ mit tiefinnerlicher Zustimmung gelesen hatte […] ich darf mich freuen, daß ich gar manche auf den großen Autor aufmerksam gemacht habe, in jenen Jahren; ich glaube, daß auch Georg Brandes seinen Namen zuerst von mir gehçrt hat, im Winter 1879/80 im Hause Friedrich Paulsens.“ Brief vom 1. 9. 1900, abgedruckt in: Brockdorff, Baron Cay von (1937): Zu Tçnnies Entwicklungsgeschichte. Kiel, S. 14 f.
Wundt, Wilhelm: Philosophy in Germany. In: Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy. London, Bd. 2, 1877, S. 493–518. ber Nietzsches UB II-IV S. 509 It was not without hesitation that I agreed, at the request of the Editor of MIND, to give an account of the present state of philosophy in Germany and I did so only in the hope that the reader would not expect from me anything like a review of our latest philosophical literature. All I shall attempt is a short description of the principal currents composing the present philosophical movement in Germany. I shall of course refer to some of the most striking productions, in which it finds expression, but I cannot touch on everything that may lay claim to philosophical significance. Should, therefore, this article be read by German philosophical writers, many will doubtless find their names passed over, while perhaps some less important works than theirs are mentioned. I can only hope that I shall be pardoned for the omission, partly on the ground of the declared object of the paper, and partly because (as I think no writer studying the works of others will deny) our time is so fruitful in literary production that it is even for the most active reader to take account of everything of value that appears. This might not, indeed, be so difficult in itself, were it not necessary to wade through so much that is mediocre; unfortunately, the worth of books does not stand written on their fronts. Then it is just that which does not possess permanent scientific value, that may be most specially characteristic of the time; for a very inadequate picture of the history of science
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would be given if the history of errors were excluded. And I have besides to direct attention not only to our philosophical literature, but also to the state of philosophical instruction, of which perhaps still less is known. […] The philosophy of Schopenhauer has still indeed numerous adherents, who give expression to their views in writings not always of a strictly philosophical character, while they accept as much as suits them from Hartmann or other pessimists. A prominent representative of this pessimistic strain in our literature is Prof. Friedrich Nietzsche of Basel, the successive parts of whose Unzeitgemsse Betrachtungen 239 have drawn much notice. In the writings of Nietzsche and others of the same stamp, the pessimistic mood is combined in a very particular way with an enthusiastic devotion to certain ideas closely related to religious mysticism. Richard Wagner and his music are ardently worshipped by this sect of pessimists. The great composer himself won over to Schopenhauer by the philosopher’s profound views of the nature of music, and his enthusiastic admires declare that the Will has been revealed as cosmical principle in the Nibelungen. Reaktionen N an Paul Ree, Anfang August 1877: „Von Wundt erscheint im nchsten Hefte [von Mind] ein grosser Aufsatz ,die Philosophie in Deutschland‘; hier in Rosenlaui wird er bersetzt.“ KGB II/5, Bf. 643, S. 266 N an Malwida von Meysenbug, 4. 8. 1877: „Dann habe ich mit einem Englnder Ms G Croom Robertson und dessen Familie Neigung um Neigung eingetauscht, es that mir weh, ihn heute scheiden zu sehen. Er ist Professor in University College London und Herausgeber der besten philosoph[ischen] Zeitschrift (nicht nur fr England, sondern berhaupt: hçchstens Th. Ribot’s Revue philosophique steht ihr gleich) Ihm ist gelungen, was Monod in Betreff aller franzçs[ischen] Autoritten der Historie mit seiner revue gelungen ist: an seiner Zeitschrift Mind arbeiten alle philos[ophischen Grçßen]“. KGB II/5, Bf. 644, S. 268 Emerich Dumont an N, 14. 10. 1877: „Durch Siegfried Lipiner auf Ihre Schriften aufmerksam gemacht, habe ich dieselben mit dem grçßten Interesse gelesen. Ich bin Lipiner sehr zu Dank verpflichtet, da ich als literarischer Rekrut meinen Vorgesetzten noch nicht kannte, und deshalb vielleicht noch lngere Zeit nicht mit Ihren Werken bekannt geworden wre. Setzen Sie mich, geehrter 239 Zweites bis viertes Stck, Leipzig, 1874 – 76 – Vom Nutzen und Nachtheil der Historie, Schopenhauer als Erzieher, Wagner in Bayreuth.
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Herr, auf die Liste Ihrer wrmsten und aufrichtigsten Verehrer, und gestatten Sie mir, einen kleinen Dankeszoll durch die Zusendung meines beiliegenden Erstlingswerkes zu entrichten. – Meine Verehrung fr den großen Schopenhauer und meine Abneigung fr den ,Bildungsphilister‘ David Strauss ermuthigen mich zu diesem Schritte, obgleich ich in meiner beiliegenden Schrift historisch philosophire, was brigens bei Erçrterung meines Themas nicht leicht zu vermeiden war.“ KGB II/6,2, Bf. 997, S. 732 Julius Bahnsen an N, 22. 1. 1878, durch DuMont zur „genaueren Lektre“ Nietzsches angeregt, anlßlich Schopenhauers 90. Geburtstag: „Allein trotz solchen fundamentalen Abweichungen bleiben, glaube ich, zwischen uns doch der Berhrungspunkte genug, ja wirklicher Coinzidenzpunkte prinzipieller Auffassungen. Auch sie betonen ja mit Vorliebe den Ur- und Welt-Widerspruch, welcher das Thema meiner ,Realdialektik‘ ausmacht; auch Sie sind ein offener Verchter materialistischer Logik und warmer Verfechter intuitiver Erkenntniß, und bis in Einzelheiten hinein ist der Consensus unserer Meinungen oft ein frappanter.“ KGB II/6,2, Bf. 1034, S. 803 Ludwig Schemann240 an N, 22. 2. 1878: „Seit ich damals in Bayreuth das nur zu flchtige Glck einer kurzen persçnlichen Begegnung mit Ihnen genoß, blieb es mein glhendster Wunsch, meine schçnste Hoffnung, noch einmal dahin zu gelangen, daß ich […] zu Ihren Fßen niedersitzen, von Ihnen lernen, Sie ganz verstehen lernen mçchte, wie ich Sie ganz lieben gelernt hatte!“. KGB II/6,2, Bf. 1035, S. 806 Alfons Bilharz241 an N, 31. 8. 1879: „Gestatten Sie einem Unbekannten, daß er sich fr den Genuß, den ihm die Lektre ihrer wundervollen ,Unzeitgemßen Betrachtungen‘ verschafft haben, bedanke. Ich habe zunchst den Aufsatz ber Schopenhauer im Auge, dessen Anschauungen nher zu treten, mein Schicksal gewesen ist.“ KGB II/6,2, Bf. 1223, S. 1154
240 Ludwig Schemann (1852 – 1938), N hatte den spteren Historiker und Rasseforscher 1876 in Bayreuth flchtig kennengelernt. 241 Alfons Bilharz (1816 – 1902) sandte N sein Buch „Der heliozentrische Standpunkt der Weltbetrachtung“.
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Mnz, Sigmund: Karl Hillebrand. Ein deutscher Schriftsteller. In: Frankfurter Zeitung. Bd. 29, Morgenblatt Nr. 306 vom 1. 11. 1884. Ein deutscher Schriftsteller Aber in demselben Werke [Zeiten, Vçlker, Menschen. Bd. 2, Wlsches und Deutsches] wurde er einem damals jungen Schriftsteller Friedrich Nietzsche gerecht, den man in Deutschland, weil er mit offenem Visir und mit unerschrockenem Mute hervortrat, verketzert hat. Hillebrand sprach sich da in einem Essay „Einiges ber den Verfall der deutschen Sprache und der deutschen Gesinnung“ sehr abfllig ber manche moderne Schriftsteller aus, die die Polemik wie Steine handhaben und ohne Geschmack und ohne Noblesse in’s Feld ziehen, um mehr persçnlich als sachlich zu kmpfen: „Uns Deutschen fehlt es durchaus nicht an polemischer Literatur; aber unsere Polemik ist gerade keine Zierde unseres Vaterlandes: Lessing und Lichtenberg sind vielleicht die einzigen deutschen Schriftsteller, welche an Pascal oder Paul Louis Courier erinnern, berall sonst finden wir plumpe Invektive, meist hervorgerufen durch verletzte Eitelkeit, oder aber schweres Artilleriefeuer unbeholfener Gelehrsamkeit, bei dem der Laie Mhe hat, sich in den massenhaften und komplizirten Bewegungen des schwerflligen Materials zurecht zu finden.“ Nietzsche hatte den Verfall des Idealismus in Deutschland beklagt, die Plattheit im literarischen Leben, die Niedrigkeit der deutschen Journalistik, die Unbildung so vieler Journalisten, die in einer dem Publikum leicht faßbaren Sprache schreiben, da diese Sprache keine Gedankeninhalte habe, und Hillebrand begrßte Nietzsche’s „Unzeitgemße Betrachtungen“ als das erste Anzeichen „einer Rckkehr zum deutschen Idealismus, wie ihn unsere Großeltern angestrebt, einer Reaktion gegen die platte positivistische Auffassungsweise, die seit einem oder zwei Jahrzehnten sich bei uns vordrngt, als ein khnes Wiederanpflanzen des alten guten Banners deutscher Humanitt gegen die Beschrnkung nationaler Selbstbewunderung, als einen Mahnruf ber unseren materiellen Erfolgen nicht unsere geistigen Pflichten zu vergessen und, wie die Grnder unserer Kultur, es uns angelegen sein zu lassen, der Nation bei aller Geistesfreiheit, das religiçse Gefhl und den spekulativen Sinn zu bewahren, ihr, ohne sie der Konvention gefangen zu geben, schçnere Formen des Lebens zu schaffen.“ Reaktionen N an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 4./5. 11. 1884: „Hillebrandt ist nun todt – der Einzige, der bisher Etwas fr mein Bekanntwerden gethan hat! In dem Necrolog der Frankfurter Zt. wird es ihm zur Ehre angerechnet, daß er fr
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mich eingetreten sei (,Nietzsche, den man in Deutschland, weil er mit offenem Visir und mit unerschrockenem Muthe hervortrat, verketzert hat‘).“ KGB III/1, Bf. 552, S. 552 f
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Menschliches, Allzumenschliches Reaktionen
N an Richard und Cosima Wagner, Anfang Januar 1878 (Entwurf ): „Indem ich [dieses Buch Menschliches Allzumenschliches] bersende, lege ich mein Geheimniß vertrauensvoll in Ihre und Ihrer edlen Gem[ahlin] Hnde und nehme an daß es nunmehr auch Ihr Geh[eimnis] sei. Dies Buch ist von mir: ich habe meine innerste Empfind[ung] ber Menschen und Dinge darin ans Licht gebracht und zum ersten Mal die Peripherie meines eigenen Denkens umlaufen.“ KGB II/5, Bf. 676, S. 298
Schmeitzner, Ernst: Ein neues Werk von Friedr. Nietzsche. Bçrsenblatt fr den deutschen Buchhandel. Leipzig, Nr. 87 vom 13. April 1878, S. 1493. Ein neues Werk von Friedr. Nietzsche. Ende April gelangt zur Versendung: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister. Dem Andenken Voltaire’s geweiht zur Gedchtnißfeier seines Todestages des 30. Mai 1778 von Friedrich Nietzsche. Preis brosch. 10 M. ord., 7 M. 50 netto, 7 M. baar; gebundene Exempl. 1 M. 50 theurer.
Der Verfasser ist durch seine frher erschienenen Schriften „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ und die „Unzeitgemßen Betrachtungen“ bereits gengend bekannt, so daß es einer besonderen Anempfehlung dieses neuen Buches nicht bedarf. Ich erklre, daß ich nur auf Verlangen expedire – also nicht unverlangt, auch nicht an Handlungen, die Nova annehmen. Gebundene Exemplare gebe ich nur fest oder baar. Die Continuationen auf die „Unzeitgemßen Betrachtungen“ werden durch dieses Werk nicht berhrt, da der Autor dieselben hçchst wahrscheinlich spter fortsetzen wird. Ich bitte um Ihre gef. Verwendung fr dieses Werk und zu verlangen. Hochachtungsvoll Chemnitz, Ernst Schmeitzner. N an Paul Ree, 24. 4. 1878: „Machen Sie mit dem bersandten Bchelchen, was Sie wollen. Ihnen gehçrts, – den Andern wird’s geschenkt.“ KGB II/5, Bf. 717, S. 324.
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Marie Baumgartner an N, 28. 4. 1878: „Ich habe den Freitag zum Lesen desselben [Menschliches] verwendet und werde diesen Tag nicht vergessen; ein Gewitter wthete am Himmel ber unserm Thal, und der Sturm den das Buch in mir weckte war nicht geringer. Ich kann Ihnen nur so viel sagen daß ich – wie beim Gewitter – vor Bewunderung und Schrecken abwechselnd gezittert habe; daß ich noch niemals eine solche Ehr-Furcht vor Ihnen empfunden; daß es mir aber heute zu Muthe ist als sei in mir Etwas abgestorben – ich muß ein Wenig Zeit haben um darber Leid zu tragen, um Athem zu schçpfen, das Weh ist so sehr plçtzlich gekommen!“ KGB II/6,2, Bf. 1061, S. 843 Ernst Schmeitzner an N, 9. 5. 1878: „Ihre neue Schrift, Herr Professor, hat bis jetzt noch gar nicht Fuß fassen kçnnen.“ KGB II/6,2, Bf. 1065, S. 851 Paul Ree an N, 10. 5. 1878: „Ich bin ganz außer mir vor Vergngen und habe mich gleich wie ein hungriges Raubthier darber hergestrzt.“ KGB II/6,2, Bf. 1066, S. 852 N an Paul Ree, 12. 5. 1878: „Nun, das wre ja herrlich, wenn ich Ihnen, mein geliebter Freund, zu einer Freude durch mein Buch verholfen htte – denn sonst habe ich Verdruß Mißverstndniß Entfremdung hervorgerufen, so scheint es, nach allen Brief-Erfahrungen. […] Jacob Burckhardt ausgenommen, der den hbschen Ausdruck erfunden hat ,das souverne Buch‘.“ KGB II/5, Bf. 720, S. 325 Hans von Blow an Jessie Laussot, 22. 5. 1878: „A propos, das Buch von Nietzsche ist doch gut, stellenweise sogar sehr gut. Mçge mein voreiliges Urtheil Dich von der Bekanntschaft damit nicht abschrecken.“ Blow, Hans von (1907): Briefe und Schriften, Bd. 6, Leipzig, S. 504 Cosima Wagner, 24. 5. 1878: „Um Mittag Ankunft einer neuen Schrift von Freund Nietzsche – banges Gefhl davor nach einem kurzen Einblick; Richard meint, er erweise dem Autor ein Gutes, wofr dieser ihm spter danken wrde, wenn er es nicht lese. Mir scheint viel Ingrimm und Verbissenheit darin, und Richard lacht herzlich, wie ich ihm sage, dass, wenn unter allen Menschen einer, der hiermit gefeierte Voltaire die Geburt der Tragçdie nicht verstanden haben wrde.“ Tagebucheintragungen Cosima Wagners. Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (Hrsg.)(1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Bd. 2, S. 1149 ff., 24. 5. 1878 Ernst Schmeitzner an Heinrich Kçselitz, 26. 5. 1878: „Wagner liest Nietzsche’s Buch nicht. Er hat es Wolzogen gegeben, der soll das ,beste‘ daraus excerpiren. Wagner ist rcksichtslos und herrisch genug um Nietzschen vermeintlich todt zu
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schweigen. Mir sagte er daß man Nietzschen doch nur lese soweit er sich an ihn (Wagner) anschmiege. Wagner ist ganz fabelhaft eingebildet.“ KSA 15/84 f N an Heinrich Kçselitz, 31. 5. 1878: „Nehme ich zu Ihnen die Beiden noch hinzu, welche sich wirklich ber mein Buch erfreut gezeigt haben, Re und Burckhardt (der es wiederholt ,das souverne Buch‘ genannt hat), so habe ich einen Wink darber, wie die Menschen beschaffen sein mßten, wenn mein Buch eine schnelle Wirkung thun sollte. […] Von Bayreuth aus ist es in eine Art Bann gethan: und zwar scheint die große Excommunikation ber seinen Autor zugleich verhngt. Nur versucht man, meine Freunde doch noch festzuhalten, whrend man mich verliert […].“ KGB II/5, Bf. 723, S. 329 Otto Ribbeck an Heinrich Gelzer, 6. 6. 1878: „Welche Abgrnde unnatrlicher, sich selbst berschlagender, alles Ideale vernichtender Grbelei in diesem widerwrtigen neuesten Buch von Nietzsche! Er ist unheilbar krank.“ Otto Ribbeck (1901): Ein Bild seines Lebens. Stuttgart. S. 309 Erwin Rohde an Franz Overbeck, 16. 6. 1878: „Auch fr mich war natrlich N’s neuestes Buch mit dem verunglckten Titel durch die letzten Wochen hindurch ein fortwhrender Gegenstand des Erstaunens und zum grçßten Theil des schmerzlichen Erstaunens.“ Patzer, Andreas/Hçlscher, Uvo (Hrsg.) (1989): Briefwechsel Franz Overbeck – Erwin Rohde. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 1). Nr. 13, S. 25 Reinhard von Seydlitz an N, 19. 6. 1878: „alles ist gar sehr real, […] wann endlich schreiben Sie wieder ein Nietzschesches Buch?“ KGB I/6, 2, Bf. 1084, S. 901 Ernst Schmeitzner an Heinrich Kçselitz, 6. 8. 1878: „Es wird Sie interessieren, daß ich Nietzsche, Menschliches an Bismarck nach Kissingen geschickt habe. Heute frh traf ein anstndiges Dankschreiben von ihm ein, mit der Bemerkung, daß sich aber deutscher Text in lateinischen Lettern gerade so schwer lese, als wie franzçsischer Text in deutschen Lettern.“ KSA 15/91 N an Ernst Schmeitzner, 6. 8. 1878: „Nun, geehrtester Herr Verleger, da haben Sie ja die große Handschrift des großen Mannes[Bismarck]. Trotz dem daß er so artig dankt, glaube ich, im Vertrauen gesagt, er wirft, wenn er wirklich im Buche liest, es an die Wand. Dies gilt aber dann mir, nicht Ihnen.“ KGB II/5, Bf. 742, S. 345 N an Paul Ree, 10. 8. 1878: „Alle meine Freunde sind jetzt einmthig, daß mein Buch von Ihnen geschrieben sei und herstamme: weshalb ich zu dieser neuen
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Autorschaft gratulire (falls Ihre gute Meinung sich nicht verndert hat) heute ein ungeheurer Brief Lipiners [32 Seiten lang, nicht erhalten] ganz gegen Sie gerichtet.“ KGB II/5, Bf. 743, S. 346 Malwida von Meysenbug an Heinrich von Stein, 11. 9. 1878: „Was haben Sie zu Nietzsches letztem Buch gesagt? Alle seine nchsten Freunde sind empçrt darber, und mir mißfllt es auch durch den leichtfertigen Ton, mit dem es sich auf einem Gebiet bewegt, auf welchem N. nie einheimisch war und wo er daher inkompetent und oberflchlich ist.“ Malwida von Meysenbug an Heinrich von Stein (1926). Unverçffentlichte Briefe, mitgetheilt von Dr. Gçtz von Selle. In: Der Thrmer. Stuttgart, 28. Jg., Nr. 4, Januar, S. 297 Hermann Pachnicke an N, 6. 12. 1878: „Ihr Buch ber Menschliches und Allzumenschliches habe ich studirt, ich frohlockte inwendig, denn es war wesentlich aus meiner Seele geschnitten, ja, wenn viele Gedanken die Stimmung erhoben, trat die Keckheit in den engen hellen Raum: das httest Du gemacht, wenn Er es nicht getan, auch eine Confession, spt, wie Herbstes Bltter vom Baume fallen; vielleicht ist das Vermessung, wie der dumpfe Schalle im weiten Gewçlb, aber auch Kant empfand, daß die Jugend nach ihrem Gesetz leben soll, und es bringt keine Gefahr bei objektiver Behandlung seiner selbst, jeden Falls fhle ich die Keime der Congenialitt, obzwar Manches in Ihrem Werke, fr das mir die Zeit noch nicht gereift erscheint, unbegreiflich ber mir steht.“ KGB II/ 6,2, Bf. 1131, S. 1004
Wagner, Richard: Publikum und Popularitt. In: Bayreuther Bltter. Bd. 3, Nr. 8, August 1878, S. 213–222. Ablehnung von MA ohne Namensnennung Nietzsches, S. 220. Hiergegen wirken die stets sich mehrenden Entdeckungen der Physik, und vor allem eben der Chemie, als wahre Entzckungen auf die spezifische Philosophie, an welchen selbst die Philologie ihren ganz eintrglichen Antheil zu nehmen ermçglicht. Hier, in dieser letzteren, ist nmlich gar nichts recht Neues mehr hervorzuholen, es msse denn den archologischen Schatzgrbern einmal gelingen, bisher unbeachtete Lapidar-Inschriften, namentlich aus dem lateinischen Alterthume, aufzuzeigen, wodurch einem waghalsigen Philologen es dann ermçglicht wird, z. B. gewisse bisher bliche Schreibarten oder Buchstaben umzundern, was dann als ungeahnter Fortschritt dem großen Gelehrten zu erstaunlichem Ruhme verhilft. Philologen und Philosophen erhalten aber, namentlich wo sie sich auf dem Felde der sthetik begegnen, durch die Physik im
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Allgemeinen, noch ganz besondere Ermunterungen, ja Verpflichtungen, zu einem, noch gar nicht zu begrenzenden Fortschreiten auf dem Gebiete der Kritik alles Menschlichen und Unmenschlichen. Es scheint nmlich, daß sie den Experimenten jener Wissenschaft die tiefe Berechtigung zu einer ganz besonderen Skepsis entnehmen, welche es ihnen ermçglicht, sich von den bisher blichen Ansichten abwendend, dann in einer gewissen Verwirrung wieder zu ihnen zurckkehrend, in einem steten Umsichherumdrehen zu erhalten, welches ihnen dann ihren gebhrenden Antheil am ewigen Fortschritte im Allgemeinen zu versichern scheint. Je unbeachteter die hier bezeichneten Saturnalien der Wissenschaft vor sich gehen, desto khner und unbarmherziger werden dabei die edelsten Opfer abgeschlachtet und auf dem Altar der Skepsis dargebracht. Jeder deutsche Professor muß einmal ein Buch geschrieben haben, welches ihn zum berhmten Manne macht: nun ist ein naturgemß Neues aufzufinden nicht jedem beschieden; somit hilft man sich, um das nçthige Aufsehen zu machen, gern damit, die Ansichten eines Vorgngers als grundfalsch darzustellen, was dann um so mehr Wirkung hervorbringt, je bedeutender und grçßtentheils unverstandener der jetzt Verhçhnte war. Reaktionen Ernst Schmeitzner an N, 1. 8. 1878: „Dann erlaube ich mir Sie im Voraus auf die nchste (August-) Nummer der Bayr[euther] Bltter aufmerksam zu machen. Wagners Artikel Publikum und Popularitt ist die Antwort auf Ihr letztes Werk (Menschliches und Unmenschliches, wie es Wagner nennt. Den Verfasser fhrt er nicht an.) Er kann die ,historische Schule‘ nicht leiden, nur Darwin getraut er sich nicht rundheraus zu verwerfen.“ KGB II/6,2, Bf. 1101, S. 956 N an Ernst Schmeitzner, 25. 8. 1878: „Daß W[agner] gegen mich Einwendungen çffentlich macht, ist mir sehr erwnscht, ich hasse alle Dunkelei und Munkelei der Gegnerschaft; anderseits wnsche ich um Alles nicht mit den Tendenzen der B[ayreuther] B[ltter] verwechselt zu werden. Sie auch nicht, lieber Herr Verleger!“ KGB II/5, Bf. 745, S. 347 N an Ernst Schmeitzner, 3. 9. 1878: „Gestern las ich W[agner]’s bitterbçse, fast rachschtige Seiten gegen mich. Himmel, wie ungeschickte Polemik!“ KGB II/ 5, Bf. 751, S. 350 N an Franz Overbeck, 3. 9. 1878: „W[agner]’s bitterbçse unglckliche Polemik gegen mich im Augustheft der Bayr[euther] Bl[tter] habe ich nun auch gelesen: es that mir wehe, aber nicht an der Stelle, wo W. wollte.“ KGB II/5, Bf. 752, S. 351
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Ernst Schmeitzner an N, 16. 1. 1879: „Rubinstein wollte von einem Riß zwischen Ihnen und Wagner gar nichts wissen. Ihr Buch sei nur ein ,Durchgangsstadium‘ und daß Wagner in einem Artikel ,ber Publikum und Popularitt‘ auch einige Stellen aus Ihrem Buch verwendet habe, sei doch weiter nichts gewesen. – Gelesen hat man in Bayreuth Ihr Buch und das auch sehr oft, das sagte mir Rubinstein.“ KGB II/6,2, Bf. 1143, S. 1020
Anonym: Menschliches, Allzumenschliches. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 29, Nr. 42 vom 19. 10. 1878, Sp. 1370 f. Nietzsche, Friedr.: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister. Dem Andenken Voltaire’s geweiht zur Gedchtnissfeier seines Todestages, den 30. Mai 1878. Chemnitz, 1878. Schmeitzner. (377 S. Lex. – 8.) M. 10. Der durch seine „unzeitgemßen Betrachtungen“ hinlnglich bekannte Verfasser war frher begeisterter Anhnger Schopenhauer’s und Richard Wagner’s und als solcher natrlich congenialer Anbeter des Genius, worin er mit seinem Antipoden Strauß zusammentraf. Im Laufe der letzten Jahre hat er, wie das vorliegende Buch zeigt, eine innere Wandlung erlebt, deren Abschluß und Durchfhrung zu einer einheitlichen Weltanschauung freilich noch zu erwarten ist. Indessen erscheint sie doch schon bedeutend genug, um erkennen zu lassen, daß sein glnzend angelegter und durch ausgebreitete und ernste Studien gebildeter Geist sich wenigstens principiell von den Irrwegen frherer Jahre abgewandt und die Vorzge des wissenschaftlichen methodischen Denkens vor allen geniemßigen Gedankensprngen und Gedankenspnen wrdigen gelernt hat. Nur die Form des Buches erinnert noch stark an die Ungebundenheit des Genius; von manchen Sentenzen lßt sich nicht erkennen, warum sie gerade in diesen und nicht in einen anderen Zusammenhang gestellt sind, wie berhaupt zuweilen der innere Zusammenhang auch grçßerer Partien vermißt wird. Aber das Buch als Ganzes kann allen „freien Geistern“ bestens empfohlen werden. Der Verf. hat die Offenheit, wie man vielleicht etwas euphemistisch sagen kann, Alles, was er denkt, unverhllt in meist drastischer Form auszusprechen, ohne sich durch die bliche Reaction des Publicums dagegen im Geringsten beirren zu lassen. Daher wird er sich auch nicht besonders darber grmen, daß sein neuestes Werk den grçßten Anstoß erregen wird, nicht obgleich, sondern weil es zu sachlichen Ausstellungen weit weniger als seine frheren Schriften Veranlassung giebt. Wenigstens werden alle die gewaltig darber zetern, welche ber die Richtigkeit ungewohnter und darum unbequemer Meinungen berhaupt nicht nachdenken, sondern, weil sie die Gewohnheit als einzigen Maßstab der Wahrheit haben, alles Ungewohnte von vorn herein verwerfen und, statt
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sachliche Gegengrnde beizubringen, die Person des Autors irgendwie zu verdchtigen suchen. Diesen hlt der Verf. einen Spiegel vor, in welchem sie sich bei einiger Aufmerksamkeit und Objectivitt unschwer wieder erkennen werden: „Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwgt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begngt sich, sie zu hassen … Selbstndige und vorsichtige Haltung der Erkenntniß schtzt man beinahe als eine Art der Verrcktheit ab.“ „Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist, sondern in dem Glauben hngen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfing, ist unter allen Umstnden eben wegen dieser Unwandelbarkeit ein Vertreter zurckgebliebener Culturen; er ist gemß diesem Mangel an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverstndig, unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdchtiger, ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar nicht begreifen kann, daß es andere Meinungen geben msse.“ Die gewissenhafte Erwgung und Beherzigung dieser nicht auf der Oberflche der Alltagsmeinungen liegenden Stze ist die unerlßliche Vorbedingung zum vollen Verstndniß dieses Werkes, welches mehr als die meisten anderen modernen Schriften den radicalen Bruch mit allen Traditionen predigt und alles Bestehende, Religion, Staat, Gesellschaft, moderne Bildung ec., unbarmherzig kritisiert. Daß diese Kritik einigermaßen wirkt, wird davon abhngen, ob es ihrem Verfasser vergçnnt ist, seine Ueberzeugung in mehr zusammenhngender, systematischer Form, außerdem befreit von mancherlei Widersprchen dem Publicum vorzulegen. Reaktionen N an Schmeitzner, 23. 11. 1878: „Das litterarische Centralblatt Zarncke’s (das erste Gelehrtenblatt D[eutschland]’s.) soll sehr anstndig von M.A. geredet haben. In Edeling’s Litteraturz[ei]t[ung] ber G[eburt] d[er] Tr[agçdie] und ,Strauß‘. Ich sehe nichts davon und will’s nicht. Ich liebe die Trommel nicht, aber ich verstehe auch, daß Sie nichts gegen Janitscharenmusik htten?“ KGB II/5, Bf. 774, S. 366 Emerich Dumont242 an N, 22. 12. 1878: „Obgleich Sie Sich mit den Ansichten meines Buches in keiner Weise einverstanden erklren, so hat mir Ihr freund-
242 Emerich DuMont (1846-?), philosophischer Schriftsteller in Graz, sandte Nietzsche sein Buch „Das Weib. Philosophische Briefe ber dessen Wesen und Verhltnis zum Mann. Leipzig 1879“, auf das er sich im obigen Brief bezieht und in dem er Nietzsches „Geburt der Tragçdie“ auf S. 8 erwhnt: „Bcher zeugen wieder Bcher, die unsterblichen Werke des Genius bilden Menschen heran, und mit Recht konnte daher Friedrich Nietzsche in
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licher Brief dennoch große Freude gemacht. Ich wußte ziemlich genau, daß Sie mir nicht Recht geben wrden, da ich mich ja auch, wie Ihnen mein Brief aus Ungarn gezeigt, mit so vielen Ansichten Ihres letzten Buches: ,Menschliches, allzu Menschliches!‘ nicht befreunden konnte. Das Zeugniß aber aus Ihrem Munde, daß ,Das Weib‘ nicht schlecht geschrieben sei, erfllte mich mit Stolz, da ich Sie in Bezug auf den Styl seit langer Zeit als die erste deutsche Autoritt betrachte.“ KGB II/6,2, Bf. 1133, S. 1006 Ernst Schmeitzner ber Verbot von Menschliches durch Censur in Rußland an N, 11. 1. 1879: „Ich kçnnte aber die Russen fr dieses Verbot umarmen; denn das ist mir doch zehnmal mehr werth als zehn Rezensionen. Jetzt bersieht niemand mehr das Buch mit dem schçnen Kreuzbandstreifen.“ KGB II/6,2 Bf. 1148, S. 1030 f
Hillebrand, Karl: Halbbildung und Gymnasialreform. Ein Appell an die Unzufriedenen. In: Deutsche Rundschau. Berlin, Bd. 5, Nr. 6 vom Mrz 1879, S. 422–451. ber Nietzsche S. 425. Friedrich Nietzsche ist, obschon kein Neuling, doch ein Werdender, dessen Ansichten sich noch nicht ganz geklrt haben; wenn er auch den Weg von Damaskus umgekehrt zu sein scheint,so hat er doch eine zu kleine Strecke darauf zurckgelegt, um der praktischen Wirklichkeit, wie sie als zu bewltigende Aufgabe uns vorliegt, sehr nahe gekommen zu sein. Man wird seine fragmentarischen Bemerkungen ber Religion und Moral, Kunst und Staat, Cultur und Familie mit dem lebhaften Interesse lesen, welches eigene Gedanken in einer musterhaften Sprache stets zu erwecken pflegen; aber man wird vergeblich darin nach einer zusammenhngenden Erçrterung der Ursachen suchen, aus denen die herrschende Hypochondrie Deutschlands hervorgegangen, noch vergeblicher nach bestimmten Vorschlgen, wie man der Krankheit wehren kçnnte. Erwin Rohde an Franz Overbeck, 31. 5. 1879: „So von Kçrperplage und Arbeitslast geplagt, habe ich denn auch ber Nietzsches letztes Buch meine Empfindung niederzuschreiben, keine freie Stunde gefunden. Mein dissensus trug daran wahrlich keine Schuld. Ich finde im Gegenteil – daß Nietzsche aus seinen ,Unzeitgemßen Betrachtungen‘ von einem Goethe’schen, einem Rousseau’schen, einem Schopenhauer’schen Menschen reden.“
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seiner Kreisbahn aus den Gegenden, wo nur einzelne Paradoxe wohnen, sich in diesem ,Nachtrag‘ wieder bewhrten und weniger bertrieben heißen oder kalten Gegenden nhert. Das Retum ist weniger dogmatisch geworden und das ist ein Glck: denn durch solches Festhalten an dogmatisch genommenen Paradoxen gewinnt man freilich die Mçglichkeit, durch einfaches durchkonfigurieren dieser Paradoxen in den Anhang auf alle mçglichen Verhltnisse sehr leicht eine Reihe geistreich aussehender Sentenzen (die im Grund immer wesentlich dasselbe sagen) zu schmieden. Aber man verbaut sich doch dadurch jede freie Aussicht in die Dinge und das Menschenleben: ich kann nicht finden, daß dabei der ,Freie Geist‘ besonders viel gewinnt. Von diesem Dogma aber nun scheint Nietzsche in dem neuesten Buch etwas zurckgekommen zu sein, er sieht freier um sich und gewinnt sein eigentmliches Wesen wieder, das er vorher offenbar durch forcierte Freigeisterei niedergekmpft. Ob es freilich recht ist, alle diese Wandlungen gleich vor dem Publikum zu vollziehen, ist zweifelhaft, ganz naturgemß verliert, wer allen solchen Wegen folgt, das rechte Vertrauen zu einem Geiste, der mit solcher Virtuositt alle mçglichen Standpunkte nach Belieben einnehmen kann, und sich dessen noch rhmt, was unsereiner als einen Mangel empfindet, nmlich die Freiheit von jenem Zwange, die Welt in einer ganz bestimmten Beleuchtung zu sehen, welcher vom Talent des Genies so gut wie freilich auch den Dummkopf unterscheidet. Immerhin will man einmal ein ,freier Geist‘ sein (ein wunderlicher, rein negativer, unfruchtbarer Begriff ), so soll man denn auch keinen Dogmenzwang dulden: Nietzsche hat so scheint, den kalten Fçhn des Reismus, nach dem hitzigen des Wagnertums schon zum grçßten Teil berwunden.“ Patzer, Andreas/Hçlscher, Uvo (Hrsg.) (1989): Briefwechsel Franz Overbeck – Erwin Rohde. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 1), Nr. 17, S. 33 f Karl Hillebrand an Ernst Schmeitzner, Juli 1879: „Ich nehme das grçßte Interesse an Nietzsche’s Person und Schriften und mache unter der Hand soviel Propaganda dafr als mçglich. Nachdem ich aber zwei ausfhrliche Essays ber zwei seiner Schriften (historisches Wissen und Schopenhauer) verçffentlicht und auf sein letztes Werk energisch hingewiesen, drfte es als eine Koteriesache herauskommen, trte ich noch einmal, anders als parenthetisch, in seiner Sache auf. Das muß bei der großen Gegnerschaft, die er hat, auf das strengste vermieden werden. Dagegen werde ich ihn vorbergehend so oft als mçglich als einen der bedeutendsten jngeren Schriftsteller citiren. Ich weiß, es ist ein schlechtes Geschft, gediegene Autoren zu heben, allein es zhlt doch, freilich spt, aber dann um so sicherer: in zehn, fnfzehn Jahren werden Nietzsche’s Schriften eine gewaltige Nachfrage finden, daher seien sie sicher und verlieren Sie den Muth nicht. Ich werde mich noch sonst fr Nietzsche bemhen, ohne daß er’s erfhrt.“ KSA 15/106 f
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Emerich von DuMont an N, 5. 9. 1879: „Ich habe den ,Anhang‘ genauso wie das Hauptwerk wiederholt gelesen […]. Im ganzen hat mich das Werk peinlich berhrt. Ihr Abfall von Schopenhauer und Ihre Bekehrung durch Paul Ree haben mir weh gethan, in einzelnen Dingen aber stimme ich Ihnen vollkommen bei, und selbst dort, wo ich Ihnen widersprechen muß, kann ich Ihnen meine Bewunderung nicht versagen.“ KGB II/6,2, Bf. 1225, S. 1156 f Otto Busse an N, 31. 10. 1879: „Das neue Buch Menschliches – Allzumenschliches habe ich […] mit ganzer Liebe in mir aufgenommen. Es hat mir liebgewordene Anschauungen zerrissen, aber es hat mir mehr gegeben, als ich verloren […].“ KGB II/6,2, Bf. 1249, S. 1205 Malwida von Meysenbug an Heinrich von Stein, 3. 11. 1879: „Wissen Sie etwas ber Nietzsche? Indirekt ging mir die Nachricht zu, er sei tot, doch habe ich noch keine direkte Besttigung, Ich kann es nur wnschen, denn seine Zukunft wre nur Qual gewesen.“ Malwida von Meysenbug an Heinrich von Stein (1926). Unverçffentlichte Briefe, mitgetheilt von Dr. Gçtz von Selle. In: Der Thrmer. Stuttgart, 28. Jg., Nr. 4, Januar, S. 301 Erwin Rohde an N, 22. 12. 1879: „Der Schluß Deines Buches reißt Einem durch die Seele, es sollen und mssen noch sanftere Accorde nach dieser abgerissenen Disharmonie kommen […] Leb wohl, mein lieber Freund: Du bist immer der Gebende, ich immer der Empfangende: was kçnnte ich Dir geben und sein?“ KGB II/6,2, Bf. 1267, S. 1247 f N an Erwin Rohde, 28. 12. 1879: „Habe Dank, theuerer Freund! Deine alte Liebe, neu besiegelt – das war das kçstlichste Geschenk am Abend der Bescheerung. Selten ist mir’s so gut gegangen: gewçhnlich war das persçnliche Schlußergebnis eines Buches fr mich, daß ein Freund mich gekrnkt verließ (wie es mein Schatten macht). Ich kenne das Gefhl der freundelosen Vereinsamung recht gut, daß herrliche Zeugniß Deiner Treue hat mich ganz erschttert.“ KGB II/5, Bf. 920, S. 474
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Graue, Georg Heinrich: Darwinismus und Sittlichkeit. Berlin 1879 (Deutsche Zeit- und Streitfragen. Flugschriften zur Kenntnis der Gegenwart. Bd. 8, Nr. 124/125). ber Nietzsche S. 15–18, 84 f. Freilich, es wrde nicht bloß die Grenzlinie zwischen Thier und Mensch, sondern auch die zwischen Gutem und Bçsem hier nicht mehr zu ziehen sein, wenn es sich so verhielte, wie P. Re und Fr. Nietzsche 243 behaupten, daß der Mensch ursprnglich das Gute nur um des Nutzens willen gelobt habe, den es fr die menschliche Gesellschaft hat, der er angehçrt, und daß, wenn wir jetzt das Gute an und fr sich lieben und loben, das Schlechte an und fr sich verwerfen und tadeln, wir das nur thun, weil wir von Jugend auf daran gewçhnt seien. P. Re meint, die Menschen htten bald erkannt, nicht nur, daß ein Jeder seine Leidenschaften bndigen msse, wenn nicht ein Krieg Aller gegen Alle jeden menschlichen Verkehr unmçglich machen und mit der menschlichen Gesellschaft die Wohlfahrt Aller vernichten solle, sondern auch, daß die menschliche Gesellschaft nur dann in ihrem Bestande gesichert sei, wenn der Einzelne nicht bloß durch die Furcht vor den Strafen des Gesetzes abgehalten werde, Anderen Unrecht zu thun, sondern durch unegoistische Gesinnung getrieben werde, Anderen hlfreich beizustehen und ihnen Gutes zu thun. Nur dadurch, daß die Menschen dies eingesehen htten, seien sie dazu gefhrt, das Unegoistische gut zu nennen und zu loben, das Egoistische, worin der Mensch z. B. aus Habsucht einen Mord begeht, schlecht zu nennen und zu verwerfen. Nun ist ja das richtig und darf nicht bersehen werden, daß erst im menschlichen Gemeinschaftsleben, erst nachdem sich gewisse soziale Kçrperschaften in der Menschheit gegliedert hatten, die Begriffe von Recht und Unrecht sich ausgebildet haben. Aber Recht oder Unrecht hieß ursprnglich nur, was ußerlich in Wort und That mit den bestehenden Gesetzen der Gesellschaft bereinstimmte oder in Widerspruch trat; und die Gesinnung, aus welcher dieses Recht oder Unrecht hervorging, wurde so lange nicht beachtet, so lange nicht das Bewußtsein in den Menschen erwacht war, daß außer dem weltlichen Richter, der nur das ußere Gebahren sieht und richtet, noch ein anderer, gçttlicher Richter da ist, der das Herz erforschet, der den innersten Sinn des Menschen und seine verborgensten Beweggrnde siehet und richtet. Erst nach und nach, namentlich auf Grund und mit Hlfe des religiçsen Glaubens, erhob sich die Menschheit von der bloß socialen Auffassung des Unterschiedes von Recht und Unrecht zu der moralischen Auffassung desselben; und was die 243 Dr. P. Ree, der Ursprung der moralischen Empfindungen. – Fr. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. –
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Sitten- und Religionsgeschichte der Vçlker bezeugt, das erkennt auch Darwin ausdrcklich an, nmlich daß ohne den Glauben an einen allsehenden Gott die Menschen nicht zu wahrhaft moralischen Eigenschaften htten gelangen kçnnen. Wie wenig dagegen die Re’sche Erklrung ausreicht, den Ursprung der moralischen Empfindungen zu erklren, und daß hier eine und zwar die wesentlichste der „Lcken“ ist, die er selber in seiner Schrift vorhanden findet, liegt klar auf der Hand. Denn er giebt ja ausdrcklich zu, daß auch der Egoismus fr die Gesellschaft Ntzliches leisten kçnne, und daß es durchaus nicht fr den Bestand derselben nothwendig sei, daß alle Handlungen der Menschen aus unegoistischen Beweggrnden geschehen, beziehungsweise alle Menschen aus solchen Beweggrnden handeln; er giebt auch zu, daß die Menschen dies eingesehen haben. Folglich wrde die Einsicht, daß nicht bloß durch Furcht vor der Strafe die menschliche Gesellschaft gesichert, sondern auch unegoistische Handlungen dazu erforderlich seien, nicht ausgereicht haben, wirklich moralische Empfindungen hervorzurufen; ganz abgesehen von der Frage, ob diese Einsicht nothwendig entstehen mußte, oder ob nicht eine andere Einsicht sich aufgedrngt haben kçnnte. Denn jene Einsicht mußte allerdings den Wunsch hervorrufen, daß sich recht Viele finden mçgen, die unegoistisch handeln; aber der diesen Wunsch hegte, hatte deshalb keineswegs schon die moralische Ueberzeugung, daß unegoistische Handlungen nothwendig als gute, egoistische nothwendig als schlechte zu bezeichnen sind. Vielmehr weil der Egoismus in dem Menschen von Haus aus herrschend ist, muß angenommen werden, daß jener Wunsch meistens mit der Ueberzeugung sich verband, die egoistischen Handlungen seien an und fr sich eben so gut oder so schlecht, wie die unegoistischen, und daß derselbe nur das Bestreben hervorrief. Anderen einzureden, die egoistischen Handlungen seien moralisch schlecht, damit diese Anderen, die dann nachher als die dummen Gutmthigen heimlich verspottet wurden, mçglichst viele unegoistische Handlungen thun und dadurch zum Nutzen der „klugen“ Egoisten den Bestand der menschlichen Gesellschaft erhalten helfen. Darauf luft ja auch im Wesentlichen das hinaus, was Fr. Nietzsche schreibt: „Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Nothlge, damit mir von ihr nicht zerrissen werden“; nur daß in diesem Falle die Bestie nur in Denen belogen wird, welche nach der Konsequenz der Re’schen Ansicht „dumm“ genug sind, sich belgen zu lassen. Daß die Herren, welche solchen und hnlichen Ansichten von der Moral huldigen, sich einem kraft- und marklosen Pessimismus berliefern ist allerdings kein Wunder. Wo aber noch sittliches Kraftgefhl und Vertrauen auf die Macht des sittlichen Guten lebendig ist, da lobt der Mensch das Gute und tadelt das Schlechte nicht bloß deshalb, weil er von Jugend auf so gewçhnt worden ist, sondern weil er aus eigener Erfahrung weiß: „Vor Jedem steht ein Bild deß, was er werden soll; so lang’ er das nicht ist, ist nicht sein Frieden voll“, und weil er von diesem idealen Bilde sich unwillkrlich angezogen fhlt, zugleich aber, in demselben das ihm von
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Gott vorgehaltene ewige Sittengesetz erkennend, sich verpflichtet und durch einen „kategorischen Imperativ“ sich getrieben fhlt, das Gute zu lieben, das Bçse zu hassen. Was wir durch Gewçhnung von Jugend auf in dieser Beziehung uns aneignen, das sind gewisse moralische Meinungen und Anschauungen, und zwar solche, welche von Jahrhundert zu Jahrhundert wechseln und, durch mancherlei Irrungen hindurchgehend, sich allmalig vervollkommnen. Was aber nicht durch Gewçhnung, sondern durch nothwendige innere Entwickelung unseres wahren menschlichen Wesens uns zu eigen wird, das ist zwar nicht die Form und Gestalt des sittlichen Ideals, – denn diese, im Laufe der Zeit wechselnd, hngt grçßtentheils von Ueberlieferung und Gewçhnung ab, – wohl aber dieses Ideal selber, welches uns mchtig anzieht und zugleich als die Offenbarung des gçttlichen Gesetzes uns gebietet: „du sollst“, uns bestimmte unabweisbare Pflichten auflegt, durch deren Erfllung wir je lnger je mehr die Fertigkeit, sie zu, erfllen, die sittlichen Tugenden erlangen. Aber, so kçnnte man uns fragen, zeigen sich nicht Pflichten und Tugenden auch bei den Thieren? Bekundet nicht das Pferd, der Hund, die Ameise und so manche andere thierische Gattung unter Umstnden gerade wie der Mensch ein lebhaftes Pflichtgefhl? Ist nicht die Treue des Hundes sprichwçrtlich geworden? Giebt es nicht rhrende Beispiele von seiner Dankbarkeit? Und empfindet er nicht offenbar Furcht und Reue, zeigt er nicht Spuren eines bçsen Gewissens, wenn er ein Gesetz seines Herrn bertreten hat? Nun, daß eine Verwandtschaft zwischen den sozialen Instinkten der Thiere und den sittlichen Ideen der Menschen stattfindet, daß erst durch das soziale und staatliche Gemeinschaftsleben der Menschen diese Ideen aus jenen Instinkten sich allmlig entwickelt haben, habe ich ausdrcklich anerkannt. Hier aber gilt es, die Grenzlinie zu erkennen, welche gerade an diesem Punkte Mensch und Thier scharf von einander scheidet. Deshalb muß zunchst festgestellt werden, daß das Thier darum, weil es kein Selbstbewußtsein hat, auch kein eigentliches Pflichtbewußtsein haben kann, daß vielmehr diejenigen Lebensußerungen desselben, in welchen sich ein Pflichtgefhl kund zu geben scheint, auf einem sozialen Instinkte beruhen, welchen das Thier berall da am weitesten entwickelt hat, wo es entweder am festesten in einen thierischen Gesellschaftsstaat eingefgt ist, also z. B. bei der Ameise, der Biene, oder wo es am besten von dem Menschen dressirt und an das Innehalten gegebener Regeln und Schranken gewçhnt worden ist, wie z. B. bei dem Hunde, dem Pferde. Auch der Mensch handelt oft instinktiv; und so lange er bloß instinktmßig handelt, hat er seine moralische Anlage noch nicht zur Entwickelung gebracht. Whrend aber der Mensch, wie die Erfahrung beweist, bei normaler Entwickelung sich zu selbstbewußtem, sittlichem Handeln und dadurch ber das instinktive Handeln erhebt, ist das Thier, weil ihm das Selbstbewußtsein fehlt, eben deshalb nicht im Stande, ber seine Handlungen und Beweggrnde so nachzudenken und von denselben die einen so zu billigen, die anderen so zu verwerfen, daß es daraus ein festes, fr
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alle Flle gltiges Gesetz seiner knftigen Beweggrnde und Handlungen entnhme, ein Gesetz wie dasjenige, welches wir bei dem Menschen das Sittengesetz nennen; und wo ein solches Gesetz nicht ist, da giebt es auch keine Pflicht. […] Setzen wir aber den Fall, daß diese Consequenzen in einer knftigen menschlichen Gesellschaft vollstndig durchgefhrt wren, was wrde das Ergebniß sein? Unzweifelhaft mßte dann die Menschheit mehr als Ein Mal alle Schrecknisse einer sozialen Revolution durchmachen, in welcher smmtliche thierische Leidenschaften der Menschen ihre scheußlichen Triumphe feiern. Wenn aber endlich der verstndige Egoismus der Mehrzahl einshe, daß durch solche Revolutionen die Menschen nur gegenseitig sich zerfleischen und ein allgemeines Elend sich bereiten, dann wrde derselbe Egoismus nicht, wie P. Re meint, zu der Einsicht kommen, daß unegoistische Handlungen zum Bestnde der Gesellschaft nothwendig seien, sondern er wrde die Furcht vor den Staatsgesetzen dadurch verstrken, daß er, um die Bestialitt der großen Masse im Zaume zu halten, einen Despotismus aufrichten hlfe, der mit grausamer Tyrannei jede selbstndige Regung des „Volksgeistes“ und „freie Wissenschaft“, wie „freie Lehre“ unterdrckte. Je mehr der Egoismus ein klug verstndiger wre, desto deutlicher wrde er einsehen: daß unegoistische Handlungen sich nicht durch einen Betrug der Bestie im Menschen, la Nietzsche, hervorrufen lassen, am allerwenigsten auf die Dauer sich erhalten lassen, sondern daß man, wenn man die sittliche Weltordnung, das absolut gltige Sittengesetz mit seinem kategorischen Imperativ und jede objektive Realitt der sittlichen Ideale lugnet, dann die bestialischen Leidenschaften im Menschengeschlecht nur durch eine ußere Gewaltherrschaft niederzuhalten suchen muß, welche aller brgerlichen Freiheit den Garaus macht. Ich gestehe daher, daß ich kaum begreifen kann, wie liberale politische Zeitungen dazu kommen, in ihren Spalten Anpreisungen des Hckel’schen Monismus und seiner moralischen Consequenzen zu verçffentlichen; denn das ist nach meiner Ueberzeugung nichts Anderes, als in der liberalen politischen Presse das Grab des politischen Liberalismus bereiten helfen. Schon jetzt ist, weil ein großer Theil unseres Volkes seiner ideellen Habe, seines religiçs-sittlichen Halts durch die socialdemokratischen Agitatoren mehr oder weniger beraubt worden ist, eine wesentliche Beschrnkung der politischen Freiheit nothwendig geworden. Wrde aber unser ganzes Volk seine sittlichen und religiçsen Ideale sich jemals nehmen lassen, so wre es rettungslos der Tyrannei ußerer Machthaber und ihrer Soldateska verfallen, wie einst das alte Rom der Herrschaft grausamer Kaiser und ihrer Prtorianer; und nicht nur die Formen politischer Freiheit, sondern was unendlich viel mehr werth ist, die sittliche Kraft und Freiheit, welche in diesen Formen ungehinderter sich entfalten und voller sich bethtigen kçnnen, als in den Formen des politischen Absolutismus, wre dann verloren. Allein unser Volk, davon bin ich berzeugt, wird jene Ideale sich ebenso wenig nehmen lassen, als es an dem Dualismus
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Gefallen finden kann, in welchen Hckel mit seinem Monismus dadurch gerathen ist, daß er fr seine Person eine ideale Sittlichkeit festhlt, dagegen in seiner monistischen Philosophie die Grundlage dieser Sittlichkeit verneint. Vielmehr gerade die deutsche Nation, die von jeher, im Unterschied von den romanischen Vçlkern, nach der inneren Einheit und Harmonie des wissenschaftlichen Denkens und der religiçs-sittlichen Ideen und Anschauungen energisch getrachtet hat, wird einerseits die wissenschaftlichen Fehler des Naturphilosophen Hckel mit klarem logischem Denken korrigiren, andrerseits den Formen ihrer Ideale willig die Gestalt geben, in welcher dieselben mit den gesicherten Resultaten einer wirklich „exakten“ Wissenschaft harmonisch zusammenstimmen, und dadurch allen ihren Gliedern, auch den jetzt leider von socialistischen Agitatoren verhetzten, verbitterten und verblendeten, diese Ideale zum festen Eigenthum machen und zur unversiegbaren Quelle edler Geisteskrfte und Geistesfreuden. Reaktionen Erwin Rohde an Franz Overbeck, 7. 1. 1880: „Seine neueste Schrift lese ich nur in kleinen Dosen und immer mit einem wahren Gefhl des Herzkrampfes: soviel Kraft, Feinheit, Freiheit des Geistes, aber das alles bricht nun wie durch krampfhaft und gewaltsam zusammengebissene Lippen, die sich Zwang anthun mssen, um nicht in verzweiflungsvolle Klagen und Jammertçne auszubrechen, ber sein frchterliches Leiden. In jedem Worte fast fhle ich, wie es einer vçlligen Verzweiflung an allem persçnlichem Behagen und Glck abgerungen ist, ngstlich schnell, ehe es Nacht wird und mit der Sonne auch alle Schatten schwinden. Das lange anzusehen thut weh.“ Patzer, Andreas/Hçlscher, Uvo (Hrsg.) (1989): Briefwechsel Franz Overbeck – Erwin Rohde. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 1), Nr. 21, S. 41 Ernst Schmeitzner an N, 8. 1. 1880: „Auch Menschliches Anhang wird jetzt von der russsischen Zensur zurckgewiesen, also auch ,in Russland verboten‘.“ KGB III/2 Bf. 5, S. 13 Hans Herrig an N, 22. 4. 1879: „Ihr Buch hatten sich hier mehrere sogenannte ,Wagnerianer‘ gekauft. Mit Einzelnen sprach ich darber und merkte zu meiner Freude, daß diese guten Leute von dem, was nach ihrer Ansicht doch geradezu der Teufel sein muß, gar nichts gemerkt hatten – ihnen war das Alles nicht einmal eine Weiterentwicklung sondern ein Appendix Ihrer frheren Schriften. […] Und so will ich wenigstens in einem mir zu Gebote stehenden Literaturblatte einen kleinen Protest dagegen erheben.“ KGB II/6,2, Bf. 1187, S. 1101
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Herrig, Hans: Ein moderner „Freigeist“. In: Die Gegenwart. Wochenschrift. Berlin, Bd. 18, Nr. 32 vom 7. 8. 1880, S. 85–87. Ein moderner „Freigeist“. Es ist ein eigenthmlicher Unterschied unserer Literaturepoche von frheren Zeiten, daß dieselbe im Ganzen so wenig psychologisch interessante Vorgnge darbietet. Wenn ein Schriftsteller einmal einen bestimmten Platz eingenommen und dem Publicum nach irgend einer Richtung hin als ein besonderer Charakter bekannt geworden, so hlt er an Beiden so fest wie mçglich und bleibt, wenigstens vor den Augen Dritter, nach besten Krften immerfort derselbe. Die Grnde hierfr sind verschiedener Art. Die vornehmlichste Ursache indessen scheint mir in der Hrte zu liegen, mit welcher gegenwrtig in unserer civilisirten Gesellschaft der Kampf ums Dasein gefhrt werden muß. Wer in diesem einmal eine Position errungen, der mag sie nicht leichthin wieder aufgeben und sich den Gefahren neuen Kmpfens aussetzen. Dazu kommt, daß der Lohn um so grçßer zu sein pflegt, je schwerer der Kampf war. Die Frchte, welche sich nach und nach einstellen, wirken zu verfhrerisch, als daß man die Ernte stehen lassen und ein anderes noch unbeackertes Feld von Frischem bestellen mçchte. Je seltener aber derartige Erscheinungen sind, um so mehr verdienen sie Beachtung. Wenn ein Mann von Geist und Verstand plçtzlich seine Anschauungen ndert, so wird nur der bornirte Pedant ber Inconsequenz zetern. Wo der Gedanke an interessirte Absichtlichkeit ausgeschlossen ist, spricht es im Gegentheil fr ein Gehirn, daß es die Fhigkeit besitzt, den Dingen von zwei Seiten nahe zu kommen, fr den Forschenden aber wirft sich die Frage auf, wie es geschehen, daß die Gedanken so zu sagen auf die andere Seite der Dinge hingelangt sind. Die Dinge freilich, so verschieden ihre Seiten sind, bleiben im Grunde immer dieselben. Das letzte Ziel muß es deshalb sein, sie nicht etwa von irgend einer Seite anzuschauen, sondern gleichsam zu durchschauen, die sich scheinbar widersprechenden Momente in einer hçheren Einheit aufzulçsen. Dies gelingt leider nur den grçßten Geistern; andere werden an dem entdeckten Gegensatze festhalten und deshalb kann auch ihre geistige Entwickelung und Wandlung nicht den Eindruck eines in sich vermittelten geistigen Processes machen, sondern erscheint als ein gleichsam plçtzlicher Uebergang, wobei freilich die Mçglichkeit nicht ausgeschlossen bleibt, daß der Strebende doch endlich die nothwendige Vermittelung erreichen werde. Es ist ein Geist der zweiten Art, auf den wir hinweisen mçchten, aber ein solcher, bei dem wir in Anbetracht seiner Strke und Tiefe die Hoffnung auf die Gewinnung des letzten Zieles nicht aufgeben. Der Name Friedrich Nietzsches, des Baseler Professors, ist in unserer Literatur nicht unbekannt.
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Mit seinen ersten Schriften, der „Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ und den „Unzeitgemßen Betrachtungen“ fhrte sich derselbe als glhender Verehrer Schopenhauers und Wagners ein. Besonders in Bezug auf das Kunstwerk der Zukunft vergaß er jene Goethe’sche Mahnung, „daß die Muse zu begleiten, doch zu leiten nicht versteht,“ und sah in ihm halb und halb die Panacee gegen alle die Uebel, welche er an der modernen Zeit wahrnahm oder doch in derselben wenigstens subjektiv empfand. Es kam natrlich auf den Leser an, wie er sich zu diesen Anschauungen stellen wollte; Unterzeichneter, der aus seiner Bewunderung und Liebe fr Schopenhauer und Wagner kein Hehl macht, bekennt, daß sie ihn theilweise durchaus sympathisch berhrt. Ohnedies fehlt ihm der nçthige Autorittsglaube, als daß er an den Angriffen Nietzsches gegen David Friedrich Strauß oder seinen Ausfhrungen ber den Philosophen des Unbewußten Anstoß genommen htte. Eins indessen war von vornherein in allen diesen philosophischen Diatriben und unzeitgemßen Betrachtungen auffllig: der Hang zum Superlativischen, Excessiven. Das zeigte schon der Stil, der von Schopenhauer und Wagner ausging, aber, wie Wagner seit seiner Bekanntschaft mit Schopenhauer sich diesem anschließend vielfach in Uebertreibungen der Schopenhauer’schen Eigenthmlichkeiten gefllt, so diesen Wagner’schen Schopenhauer noch um ein Gehçriges zu berbieten suchte. Es ist nun eine oft bewhrte Erfahrung, daß die Extreme in ihr Gegentheil umschlagen. Sie hat sich auch bei Nietzsche besttigt. Anderthalb Jahre nach dem Ereignisse von Bayreuth, zum hundertjhrigen Todestage Voltaire’s, erschien eine Sammlung von Aphorismen, „Menschliches, Allzumenschliches, ein Buch fr freie Geister“, dem 1879 ein Anhang, „Vermischte Meinungen und Sprche“, 1880 endlich ein zweiter Anhang, „Der Wandrer und sein Schatten“244 folgte. Von dem frheren Nietzsche ist hier nichts mehr brig. War Schopenhauer sonst der Prophet, auf dessen Worte er schwor, so bekennt er sich jetzt zu Voltaire und Helvetius; huldigte er sonst der mystischen Kunstanschauung Richard Wagners, so hat er sich jetzt zum Evangelium des Klassicismus bekehrt. Nur eins ist geblieben: die alte Neigung zum Superlativischen. Hierfr ließen sich die mannichfachsten Beispiele anfhren. Mehr zum Scherze mçge eins genannt werden. Niemand ist çfters ungerecht verspottet, als Eckermann wegen seiner „Gesprche mit Goethe“. Es ist daher gewiß ersprießlich, zuweilen auf den unbestreitbaren Werth dieses Buches aufmerksam zu machen. Wie aber thut dies Nietzsche? Er nennt es schlechtweg das beste deutsche Buch! Das Interessanteste an jenen Nietzsche’schen Schriften ist vielleicht die Neubelebung des Begriffes „Freigeist“, dem der „gebundene Geist“ gegenbergestellt wird. Abgesehen indessen von der allgemeinen philosophischen Bedeutung dieser Begriffe, haben sie hier eine durchaus subjective. Der Verfasser selber ist ein gebundener Geist gewesen, hat die Verba magistrorum wie Ketten 244 Smmtlich bei Ernst Schmeitzner in Chemnitz erschienen.
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getragen und fhlt sich jetzt, wo er auf eigene Faust zu denken beginnt, erleichtert und beglckt. Davon finden sich mannichfache Spuren. So apostrophirt er die „Großen der Kunst“ einmal: „Jene Begeisterung fr eine Sache, welche Du Großer in die Welt hineintrgst, lßt den Verstand Vieler verkrppeln. Dies zu wissen, demthigt. Aber der Begeisterte trgt seinen Hçcker mit Stolz und Lust: insofern hast Du den Trost, daß durch dich das Glck in der Welt vermehrt ist.“ Ein andermal heißt es: „In einer Partei gab es einen Menschen, der zu ngstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu widersprechen; man brauchte ihn zu jedem Dienst, man verlangte von ihm Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen mehr als vor dem Tode frchtete, es war eine erbrmliche schwache Seele. Sie erkannten dies und machten auf Grund der erwhnten Eigenschaften aus ihm einen Heros und zuletzt gar einen Mrtyrer. Obwohl der feige Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit den Lippen immer Ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er fr die Ansichten seiner Partei starb: neben ihm nmlich stand einer seiner alten Genossen, der ihn durch Wort und Blick so tyrannisirte, daß er wirklich auf die anstndigste Weise den Tod erlitt und seitdem als Mrtyrer und großer Charakter gefeiert wird.“ Das trifft zwar nicht den Charakter des Verfassers, der stets den grçßten Muth bewiesen hat, zieht aber offenbar die Konsequenz aus einer Stimmung, die ihn oft genug befallen haben mag. Welches ist nun die neue Erkenntniß, welche der gedrckten Seele des Denkers die Freiheit gebracht hat? Er selbst meint, man kçnne seine Philosophie eine Tragçdie nennen. Dies ist sie in der That, insofern das Wesen der Tragçdie in der Resignation beruht. Sie ist ein Verzicht auf alle bisherigen Ideale, eine Resignation auf alle Ansprche des productiven Denkens. Nicht Jeder wird hierzu geeignet sein. Nietzsche meint, es komme hauptschlich auf das Temperament an, welche Nachwirkung die Philosophie auf das Gemth ausbe. Daß er fr sich von der seinigen Beruhigung empfangen, beweist folgende Ausfhrung: „Ich kçnnte mir ebenso gut eine Nachwirkung denken, vermçge deren ein viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstnde, als das jetzige ist: so daß zuerst zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens noch Kraft htten, aus alter, vererbter Gewçhnung her, allmhlich aber unter dem Einflsse der reinigenden Erkenntniß schwcher wrden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwrfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu frchten hatte. Man wre die Emphasis los und wrde die Anstachelung des Gedankens, daß man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden. Freilich gehçrte hierzu, wie gesagt, ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tcken und plçtzlichen Ausbrchen auf der Hut zu sein brauchte und in ihren Aeußerungen nichts von dem knurrendem Tone und der Verbissenheit an sich trge, – jenen bekannten, lstigen Eigenschaften alter Hunde und Men-
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schen, die lange an der Kette gelegen haben. Vielmehr muß ein Mensch, von dem in solchen Maße die gewçhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, daß er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruß verzichten kçnnen, ihm muß als der wnschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben ber Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkçmmlichen Schtzungen der Dinge gengen. Die Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit und er hat vielleicht nichts Anderes mitzutheilen, – worin freilich eine Entbehrung, eine Entsagung mehr liegt. Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird er mit wohlwollendem Kopfschtteln auf seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der That, und vielleicht ein wenig Spott nicht verhehlen: denn mit dessen Freiheit hat es eine eigene Bewandtniß.“ Es ist nicht meine Absicht, eine ausfhrliche Analyse von Nietzsches Anschauung zu geben, zumal ich damit den Zweck, den ich im Auge habe, wenig fçrdern wrde. Ich selbst theile diese Anschauungen nur in einzelnen Fllen, eine Analyse wrde also stets auf den Versuch einer Widerlegung herauskommen. Der Zustand der Kritik ist aber in Deutschland ein solcher, daß damit der Bearbeitung eines Buches der grçßte Schaden geschieht. Indem das Publicum daran gewçhnt ist, selbst Mittelmßiges, womçglich ohne jede Klausel gelobt zu hçren, nimmt es jeden Einwurf fr einen positiven Tadel und meint damit der Mhe berhoben zu sein, sich nher auf das besprochene Werk einzulassen. Nun aber dnken mich Nietzsches Aphorismen im hçchsten Grade anregend und lesenswerth, geeignet, sich ber die eigene Meinung zu orientiren und sich feste Grenzen seines Denkens abzustecken. Deshalb wnsche ich ihnen die grçßtmçgliche Verbreitung, an der es im Augenblick noch so sehr fehlt, daß gar Viele nicht einmal etwas vom Gesinnungswechsel des Autors erfahren haben. Nietzsche ist dadurch in einer schlimmen Lage. Sein Publicum rekrutirte sich bisher durchaus aus den Anhngern Wagners. Nun gibt es zwar berall, wo Kunst und Philosophie Parteien bilden, Leute, die nichts von der Sache verstehen und am lautesten schreien. Daß unter diesen Mancher auch jetzt noch im guten Glauben Nietzsches Bcher kauft, im Wahn, daran Homilien im Sinne Schopenhauers und Wagners zu besitzen, bin ich um so mehr berzeugt, als ich selbst Exemplare kennen gelernt habe. Allein Solcher sind doch immer nur Wenige. Die Einen vergessen ihn, die Anderen lernen ihn nicht kennen. Aber ein Werk sollte durchaus aus sich selbst beurtheilt werden. Wohl meint Jeder im Besitze der Wahrheit zu sein, allein es ist heut zu Tage zu verlangen, daß er dieselbe nicht fr die absolute hlt und den Geist auch im Gegner anerkennt. Gerade der Verehrer Schopenhauers und Wagners wird von der Lecture Nietzsches ein eigenthmliches Vergngen haben. Eine große Menge seiner Sentenzen liest sich wie Entgegnungen und Antworten: wir hçren vor unseren Ohren gleichsam einen Satz Schopenhauers oder Wagners klingen und Nietzsche tritt ihm mit dem denkbar schrfsten Widerspruch entgegen. Beide hielten
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und halten sich fr Mnner der Zukunft; nach unsern Philosophen reprsentiren sie die Reaction. Er geht direct auf die Encyklopdisten und die franzçsische Kunst des 18. Jahrhunderts zurck. Zu ihrer Manier fgt er die Errungenschaften der modernen Naturwissenschaften. Er beruft sich nicht nur auf Darwin, wir finden auch Anklnge an andere neuere englische Denker. So stçßt man gleich zum Beginn auf folgende Bemerkung: „Im Traume glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfnglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum htte man keinen Anlaß zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch die Zerlegung in Seele und Leib hngt mit der ltesten Auffassung des Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also die Herkunft alles Geisterglaubens und wahrscheinlich auch des Gçtterglaubens. „Der Todte lebt fort; denn er erscheint dem Lebenden im Traume“: so schloß man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch.“ Bekanntlich ist dies der Ausgangspunkt von Tylors berhmten Werke ber die Anfnge der Cultur. Zum Darwinismus macht Nietzsche folgende geistvolle Bemerkung: „Selten ist eine Entartung, eine Verstmmelung, selbst eine Last und berhaupt eine kçrperliche oder sittliche Einbuße ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der krnkere Mensch z. B. wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, fr sich zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden – insofern scheint mir der berhmte Kampf ums Dasein nicht der einzige Gesichtspunkt zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Strkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklrt werden kann. Vielmehr muß zweierlei zusammenkommen: einmal die Mehrung einer stabilen Kraft durch Bindung der Geister im Glauben und Gemeingefhl; sodann die Mçglichkeit zu hçheren Zielen zu gelangen dadurch, daß entartende Naturen und in Folge derselben theilweise Schwchungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade die schwchere Natur, als die zartere und feinere, macht alles Fortschreiten berhaupt mçglich. Ein Volk, das irgendwo angebrçckelt und schwach wird, aber im Ganzen, noch stark und gesund ist, vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: ihn so fest und sicher hinzustellen, daß er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlgt zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedrfniß entstanden sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles oculirt werden.“ Es versteht sich von selbst, daß auf Nietzsches jetzigem Standpunkte von keiner Metaphysik die Rede sein kann. Ja selbst das metaphysische Bedrfniß wird fr eine Selbsttuschung erklrt, die nur geeignet sei, die Menschheit zu verwirren. Die Mçglichkeit einer metaphysischen Welt lasse sich zwar nicht abstreiten; mit ihr kçnne man indessen nichts anfangen, geschweige denn, daß
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man Glck, Heil und Leben von einer solchen Mçglichkeit drfe abhngen lassen. Wenn der Verfasser das metaphysische Problem freilich auf die Frage reducirt, was von der Welt noch da wre, wenn man den Menschenkopf abschnitte, so mag dies richtig geschlossen sein, allein das heißt doch Schopenhauer ein wenig oberflchlich auffassen. Es handelt sich nicht um den Menschenkopf allein, sondern um das Subject im Allgemeinen, und das Problem lautet in Wahrheit, ob ein Object ohne Subject denkbar ist. Whrend der verwegenste Idealismus das Object leugnet, besteht aller Materialismus darin, daß er nur an die Existenz von Objecten glaubt. In diesem Glauben scheint mir auch die materialistische Ethik zu wurzeln, die Wunders was nachgewiesen zu haben whnt, wenn sie ausfhrt, daß auch die anscheinend moralischsten Handlungen und Gefhle ihren Ursprung in egoistischen Trieben haben. Der ganze Beweis luft nmlich schließlich darauf hinaus, daß sie sich auf das thtige Ich beziehen. Aber es ist denn doch die Frage, ob die Strkung der Moral geradezu mit der Schwchung des Ichgefhles identisch ist. Uebrigens hat diese materialistische Ethik denselben Vorzug wie die materialistische Naturanschauung. Sie befçrdert entschieden die exacte Forschung, als welche sich eben an das Object allein zu halten hat. Nicht umsonst enthlt die franzçsische Literatur von Larochefaucould bis Chamfort einen solchen Schatz feinster psychologischer Beobachtungen. Auch Schopenhauers Befhigung zu solchen ist zum Theil durch seine materialistische Ader befçrdert. An ihnen nun sind auch Nietzsches neuere Werke berreich. Mit vollem Bewußtsein pflegt er die psychologische Sentenz, preist seine Vorbilder und tadelt die Vernachlssigung, welcher die Kunst derselben im 19. Jahrhundert anheim gefallen ist. Nach dieser Richtung gehçrt die Lecture Nitzsches [sic] zu den fruchtbarsten; daß von der frheren Erhitztheit seines Stiles nichts mehr zu spren ist, er sich vielmehr im Anschluß an jene franzçsischen Muster eine klare und abgerundete Schreibweise angewçhnt hat, wie sie heutzutage in Deutschland leider selten ist, drfte der Leser aus den mitgetheilten Proben bereits ersehen haben. In die khle Atmosphre, welche hier weht, paßt begreiflicher Weise auch die Aufregung des Wagner’schen Kunstwerkes nicht mehr recht hinein. Wenn der Autor der Welt die metaphysische Bedeutung abstreitet, so will er von einer solchen bei der Musik erst recht nichts wissen. Sie ist fr ihn keine hçhere unmittelbarere Erkenntniß des Dinges an sich (welches es berhaupt nicht gibt), sondern verhlt sich zu der Erkenntniß des Verstandes, wie der Mondschein zum Sonnenschein. Nicht wir Deutsche sind auf den Spuren der Griechen gewandelt, sondern die Franzosen, der einzige Versuch zu einer wirklichen Kunstform seit den Tagen des Sophokles ist die franzçsische Tragçdie. Wenn man Voltaires Mahomet lese, so sehe man recht, wie viel durch den Abbruch der Tradition verloren gegangen sei, zu der Goethe in seinem spteren Alter umsonst zurckgestrebt habe. In allen diesen Ausfhrungen findet sich gleichfalls viel Richtiges und Beherzigenswerthes – wer wird freilich leugnen, daß gerade hier
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den Autor seine Vorliebe fr das Excessive oftmals zu weit fortreißt? Die Polemik gegen das Uebermaß der Musik muß zwar auch ihr grçßter Freund billigen, falls er sich anders noch die klaren Gedanken bewahrt hat, denn ohne Zweifel droht dasselbe die geistige Kraft der Nation zu schwchen und ihr das Verstndniß fr jede ernste Kunstaufgabe, die sich nicht mit dem musikalischen Dmmerlichte begngen kann, zu rauben, und so setze ich zum Schluß noch einen bezeichnenden Mahnruf des Philosophen hin: „Die Gefahr in der neuen Musik liegt darin, daß sie uns den Becher des Wonnigen und Großartigen so hinreißend und mit einem Anschein von sittlicher Extase an die Lippen setzt, daß auch der Mßige und Edle immer einige Tropfen zu viel von ihr trinkt. Diese Minimal-Ausschweifung, fortwhrend wiederholt, kann aber zuletzt eine tiefere Erschtterung und Untergrabung der geistigen Gesundheit zu Wege bringen, als irgend ein grober Exceß es vermçchte: so daß nichts brig bleibt, als eines Tages die Nymphengrotte zu fliehen und, durch Meereswogen und Gefahren, nach dem Rauch von Ithaka und nach den Umarmungen der schlichteren und menschlicheren Gattin sich den Weg zu bahnen.“ Reaktionen Ernst Schmeitzner an Elisabeth Nietzsche, 19. 8. 1880: „Unter Kreuzband lasse ich Ihnen eine Nummer der ,Gegenwart‘ zugehen, welche einen Artikel Hans Herrig’s ber die letzten drei Bcher Ihres Herrn Bruders enthlt. Ich glaube mit diesem Artikel eine Ausnahme machen zu mssen und ihn Herrn Professor Dr Nietzsche zur Einsehung zu bersenden; da mir aber der gegenwrtige Aufenthaltsort Ihres Herrn Bruders unbekannt ist, erlaube ich mir sie, hochgeehrtes Frulein zu bitten die Weiterbefçrderung der betr. Zeitung gtigst bernehmen zu wollen.“ KGB III/7,1, Bf. 8, S. 847 N an Elisabeth Nietzsche, 23. 8. 1880: „Die ,Gegenwart‘ kam: hast Du sie gelesen? Es ist nichts draus zu lernen, aber Schmeitzner’s wegen mag sie gelobt sein!“ KGB III/1, Bf. 51, S. 39
Laban, Ferdinand: Die Schopenhauer-Literatur. Leipzig, 1880, S. 18 ff. Unbertrefflich in ihrer schlichten Gedrngtheit und schlagenden Argumentation ist die Darstellung Nietzsche’s in folgenden Stzen: „Die Geschichte der Empfindungen, vermçge deren wir jemanden verantwortlich machen […] aus Furcht vor den Folgen.“ [Zitat aus Menschliches, 2. Hauptstck, 39. Die Fabel von der intelligiblen Freiheit. KGW IV/2, S. 60ff ] – Man mçchte darunter
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setzen: um Widerlegung wird gebeten! Denn man wird dagegen immer nur widersprechen.
Luthardt, Christoph Ernst: Die modernen Weltanschauungen und ihre praktischen Konsequenzen. Vortrge ber Fragen der Gegenwart aus Kirche, Schule, Staat und Gesellschaft im Winter 1880 zu Leipzig gehalten. Leipzig, 1880, S. 258. Ein recht charakteristisches Beispiel dieser eitlen Blasiertheit, die sich bis zu geistreich sein sollenden Blasphemien steigert, ist z. B. Nietzsche’s „Der Wanderer und sein Schatten“ (Chemnitz 1880) – ein Pessimismus auf eigene Faust. Nur ein paar Stellen daraus. S. 15: „Hat ein Gott die Welt geschaffen, so schuf er den Menschen zum Affen Gottes, als whrenden Anlaß zur Erheiterung in seiner altzulangen Ewigkeit.“ S. 40: „Der Gewissensbiß ist wie der Biß des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit.“ S. 60: „Erst das Christenthum hat die Snde in die Welt gebracht, nmlich den Glauben daran.“ S. 105: „Steht einer anders zum Christenthum als kritisch, so kehren wir ihm den Rcken.“ S. 106: „Zrnen und strafen ist unser Angebinde von der Thierheit her. Der Mensch wird erst mndig, wenn er dies Wiegengeschenk den Thieren zurck gibt. – Hier liegt einer der grçßten Gedanken vergraben, welche Menschen haben kçnnen, der Gedanke an einen Fortschritt aller Fortschritte.“ (!) S. 174: „Niemals der Reue Raum geben, sondern sich sofort sagen: das hieße ja der ersten Dummheit eine zweite zugesellen.“
Conrad, Michael Georg: Madame Lutetia! Neue Pariser Studien. Leipzig, 1883, S. 289 f Ich bin keineswegs mit dem hochachtbaren Denker Friedrich Nietzsche einverstanden, wenn er das Paradoxon aufstellt: „Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen“. Denn wenn man auch die nationalen Unterschiede nur im Unterschiede verschiedener Kulturstufen finden wollte, wie Nietzsche thut, so ist damit noch nichts ber den inneren Wert dieser Unterschiede selbst ausgesagt. Wenn man aus einem gegebenen Nationalcharakter heraus gegen die Auslndereien argumentiert, so geschieht dies eben unter steter Hervorkehrung des Wesentlichen, Eigentmlichen, Wurzelhaften, Bleibenden der Volksseele, und auf die Frage: was ist deutsch? lassen wir uns nicht mit der ironischen Gegenfrage abspeisen: was ist gerade jetzt deutsch? Gerade jetzt deutsch ist ja auch einmal die Auslandereisucht gewesen, whrend wir heute im tiefsten
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Grunde unseres germanischen Wesens empfinden, daß sie nichts Dauerndes, Gesundes, Heilvolles, sondern etwas Zuflliges, Krankhaftes, Fatales war, das berwunden werden mußte. Man ziehe die Moral aus der Geschichte! Man berechne den Verlust an geistigen, sittlichen und materiellen Weiten, der uns aus der entnervenden Allerweltsvergçtterei, aus dem Mangel an Konzentration und nationalem Schicklichkeitsgefhl, aus der kaleidoskopischen Zersplitterung unserer Interessen erwachsen ist! Reaktionen N an Franz Overbeck, 29. 4. 1883: „Gestern las ich mich citirt, mit einiger Verwunderung, weil ich vergessen hatte, so ein Wort gesagt zu haben. Nmlich: ,Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen‘ [Menschliches II, Aphorismus 323].“ KGB II/5, Bf. 410, S. 370 Eugen Aragon an Malwida von Meysenbug, Anfang Juni 1884: „Sehr erfreulich ist es, auch zu sehen, dass Herr Nietzsche mit jedem neuem Buch an Reife, Kraft und Sicherheit bedeutend zunimmt: die beiden Bnde ,Menschliches, Allzumenschliches‘ 1878, 1879 sind besser als die vorangegangenen ,Unzeitgemssen Betrachtungen‘ […].“ KGB III/7,1, Bf. 115, S. 979
Wirth, Moritz: Die Zukunft der Reminiscenz. Variationen ber Themen von Friedrich Nietzsche. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 18, Nr. 37 vom 8. 9. 1887, S. 441–443. Die Zukunft der Reminiscenz. Variationen ber Themen von Friedrich Nietzsche. Von Moritz Wirth. Eine Reminiscenz ist, wenn Jemand einen Fund thut, der keiner ist. Aus den Wolken, aus der Gçtter Schoosse, wie Schiller singt, sollte es kommen, es kam aber nur aus der Feder eines Vorgngers, vom Dache, auf dem es die Spatzen pfeifen, aus der Luft, in der es als neuestes Bakterion herumschwimmt. Whrend es der mit ihm Beschenkte als Gold und Perlen begrsst, welche ihm die vorberfliegende Glcksgçttin zuwirft, ist es nur Teufelsgold, das ihm die Fenster in den Frhbeeten seines Ruhmes zerschlgt, die guten jungen Pflnzlein der erkltenden Nachtluft preisgibt und sich sehr bald in den Teufelsdreck gemeinen Sandes und Kieses verwandelt. Nur Einer hat dann noch seine Freude daran: Nachbar Neidhart, der Kritiker, und seine Spatzen. Sie gebrden sich, als
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ob das von ihnen Gepfiffene auch ihr selbst geschaffenes, ihnen selbst entquollenes Eigenthum gewesen sei, und, geben dem unglcklich Beglckten die Originalmelodie in allen Lagen und Tonarten zu hçren, verziert und umrauscht von den Trillern, Lufern und Wirbeln ihres ihnen allein wahrhaft eigenen, hçllisch-hçhnischen: „Dieb, Dieb!“ Obwohl die Meinungsverschiedenheit in musikalischen Dingen, wie die Sage von Orpheus lehrt, mit dieser Kunst selbst auf die Welt gekommen zu sein scheint, so kann sie doch kaum ber irgend Etwas in ihr grçsser sein als ber die Reminiscenz. Grausamer noch als jene spartanische Behçrde, welche ber Leben und Tod der neugeborenen Kinder entschied, verhngen viele Kritiker gerade auf Grund von Reminiscenzen die Lebensunfhigkeit nichts blos ber die Werke, die deren enthalten, sondern auch ber die mtterlichen Geister, welche diese Werke hervorgebracht haben. Und gleichwohl gibt es noch Tollkhne, welche ihren Notenkopf gegen eine Recensentenfeder aufzusetzen wagen! Oder hat vielleicht jene Todtenrichterei ihr eigenes Gegenmittel aus sich selbst erzeugt, da sie so feinfhlig geworden ist, dass die Menge den Gegenstand ihrer Verdammungsurtheile und Hetzrufe oft gar nicht mehr wahrzunehmen vermag? Was konnte es z. B. wohl Wagner schaden, dass ein sehr ehrenwerther Leiter seiner Zeit im „Parsifal“-Motive eine „an das Walhalla (so!)-Motiv erinnernde Wendung“ entdeckte? Die wollige Heerde konnte diesen Meistersprung unmçglich nachthun, weil ihr sein Wie? Warum? Wohin? gnzlich unerfassbar bleiben musste. Auf der anderen Seite beweisen die Herren Tondichter freilich auch nicht selten eine Unbefangenheit, die nicht minder erstaunlich ist. So begegnete ich auf den ersten Blttern einer jung-Wagnerischen Partitur dem leibhaftigen, heutigen Tages doch kaum mehr unbekannten Schwanmotive aus „Lohengrin“. Es stand mehrmals an aufflligster, durch Nichts dazu herausfordernder Stelle; der Componist hatte sich Nichts dabei gedacht. Indessen wre es doch wnschenswerth, dass diese Thtigkeit in Musikerkçpfen etwas heimischer wrde. Was mich veranlasste, einigen Zukunftsgedanken ber die Reminiscenz nachzuhngen, waren einige Stellen in Friedrich Nietzsche’s geistvollem Buche „Menschliches, Allzumenschliches“ (Leipzig, E. W. Fritzsch) I, 171 ff.: „An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom „Willen“, vom „Dinge an sich“; das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter whnen, welches den ganzen Umfang des inneren Lebens fr die musikalische Symbolik erobert hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt. … Whrend zuerst die Musik, ohne erklrenden Tanz und Mimus (Gebrdensprache), leeres Gerusch ist, wird, durch lange Gewçhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung, das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Hçhe des schnellen Verstndnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. … Unsere Ohren sind, vermçge der
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ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung der neuen Musik immer intellectualer geworden.“ Wie das ganze merkwrdige Buch stets nur in Aphorismen nach den verschiedensten Richtungen seine elektrischen Gedankenstrahlen ausschickt, so entbehren auch diese Blitze in das musikalische Reich der ruhigen Dauer des gegenstandserfllten, sonnigen Tagessehens. Versuchen wir es, die Hand, die sich schon wieder auf die Kurbel der Maschine legt, festzuhalten? Bringen wir den schweifenden Lichtkegel zum Stehen, bis wir Zeit gewonnen haben, aus der verschwimmenden Ferne feste Umrisse herauszulesen? Also unsere Ohren seien immer intellectualer geworden! Wir seien geschult worden, die Tonfiguren sofort auszudeuten und sie ohne anderweitige Nachhilfe zu verstehen! So meint Nietzsche. Hat er Recht? Vielleicht fr sich und ein paar seiner Freunde, da er sich die Tragweite seines Ausspruches vermuthlich an einigen lebenden Beispielen klar gemacht haben wird; vielleicht auch fr unsere grossen Componisten, von denen Berlioz einmal sagte, dass die Musik Alles darstellen kçnne, sogar das Umlegen einer Cravatte, whrend Wagner die gesammte Kunst der Mienen und Augen der Schauspieler durch seine Motive und Harmonien ersetzen will. Das so bedingungslos hingeworfene „unsere Ohren“ wird in voller Breite jedoch wohl erst da Geltung haben, wo sich Nietzsche’s durch die Zeiten fliegender Ausspruch in das Dunkel einer Zukunft verliert, in welcher jede ussere Aehnlichkeit mit der Gegenwart aufgehçrt haben wird und wir, um noch Etwas sehen zu kçnnen, gleich den Tiefseefischen, die Welt von innen heraus erleuchten mssen. Und was werden wir dann sehen, wenn Nietzsche Recht behalten soll? Die blosse Ohrmusik, der schçne Klingklang des schon jetzt nirgends und fr Niemand mehr in voller Reinheit vorhandenen Tonkaleidoskops wird dann gnzlich verstummt sein. Schon der einzelne Ton wird nicht schlechtweg nur Klang sein, sondern wird, gleich dem Protoplasma der Lebewelt, das auch mehr als blosser Stoff ist, noch einen Anfangsschimmer dessen in sich tragen, was wir jetzt stolz Seele, Geist, Bewusstsein nennen. Und jedem Tone wird seine besonders geartete, nur ihm eigene allerkleinste Seele zugehçren, welche aus dem Klangleibe heraus ebenso wunderbar und ebenso vernehmlich zu uns sprechen wird, wie eine Menschenseele aus einem Menschenleibe. Und weiter wird die Verbindung der Tçne zu Intervallen und Accorden, die zeitliche Zusammenordnung derselben zu Harmonien, Motiven und Melodien von neuen Entfaltungen des Tongeistes begleitet sein. Es wird dies ganz in derselben Weise geschehen, wie auch ein Freundes-, ein Liebes-, ein Ehepaar, ein Stamm oder Volk einen besonderen Geist aus sich entwickelt, der keinem einzelnen Theilnehmer allein eigen ist, obwohl Alle zu ihm beitragen, indem sie sich zu jenen Verbindungen zusammenschliessen.
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Die grossen Tonwerke aber, die Symphonien Beethoven’s, die symphonischen Dichtungen von Berlioz, Liszt und ihrer zuknftigen Nachfolger, werden uns dann ihre Gegenstnde nicht mehr nur gleichsam von Weitem, in einen oder ein paar Gesammteindrcke verschwommen vorfhren; sondern sie werden es genau so mit einer klar verstandenen Bedeutsamkeit jedes einzelnen und kleinsten ihrer Bestandtheile thun, wie in einem Gesange von Homer oder Dante, in einem Drama von Shakespeare oder Goethe jedes Wort an der Idee und der Gesammtwirkung des Ganzen im vollen Lichte des Bewusstseins mit bauen hilft. Den allerwunderbarsten Anblick aber wird ein Wagner’sches Drama bieten. Sein Text und die Vorgnge auf der Bhne werden sich zu seiner im Sinne Nietzsche’s intellectualisirten Musik verhalten, wie der natrliche Anblick eines unserer Glieder zu demselben Gliede, wenn wir es in einige tausend mikroskopische Schnitte zerlegt vor uns shen. Aber freilich, die an uns vorberrauschende Musik werden wir in der mikroskopischen Feinheit ihrer Gestaltungen und Vorgnge wirklich erleben. Wir mssen sie also, wenn unser Gleichniss nicht hinken soll, vielmehr dem wirklichen mikroskopischen Leben des gesunden Gliedes vergleichen, wenn wir dieses mit einem Auge, das uns heute noch fehlt, zugleich von innen betrachten kçnnten, ohne dass uns darber unsere jetzigen Augen verloren gingen, die uns den usseren Anblick des Gliedes vermitteln. Dieses goldene Zeitalter der Programmmusik und Programmohren wird aber zugleich das classische Zeitalter der Reminiscenz sein. Dies scheint berraschend, whrend es nur natrlich ist. Wie wre eine Intellectualisirung der Musik berhaupt mçglich, wenn nicht auf Grund fester Zugehçrigkeit der Gefhle, Begierden, Stimmungen oder Leidenschaften zu stets denselben Tonverbindungen? Es ist leicht zu sehen, wie bedeutsame Motive, Melodien u.s.w. schon durch geringe Vernderungen um allen Ausdruck gebracht, ja geradezu unkenntlich gemacht werden kçnnen. Gegen Nietzsche also zugegeben, dass die Bedeutsamkeit nicht schon in den Tongebilden liege, so wird sie ihnen doch auch keineswegs beigelegt ohne Rcksicht auf ihre Gestaltung. Mit der Ersteren wird daher die Letztere wiederkehren mssen: die Reminiscenz wird geboren. Und wo endlich eine ganze Innenwelt darnach drngt, das bunte Wechselspiel ihres die Wiederholung vielmehr liebenden, als meidenden Inhaltes in einer parallelen Welt von Tçnen zu offenbaren, da wird ihr eine ganze Welt stets dienstbereiter Reminiscenzen entsprechen mssen. Man kçnnte sich den gesammten Vorrath an Reminiscenzen, ber den jene fernen Zeiten verfgen werden, in einem grossen Lexikon vereinigt denken. Ein solches musikalisches Lexikon wrde dann nicht nur ein Nachschlagebuch des menschlichen Herzens und Gemthes sein, in welchem deren feinste Regungen mit einer auf andere Art nicht zu erreichenden Genauigkeit und Vollstndigkeit verzeichnet stnden, sondern es wrden auch smmtliche Musiker jenes Zeit-
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alters aus jenem Lexikon genau in derselben Weise schçpfen, wie die Dichter einer Zeit aus dem Wçrterbuche ihrer Sprache. Die Forderung der Selbstndigkeit und Eigenartigkeit eines Musikers wrde sich dann nicht mehr auf die einzelnen Steine, aus denen er seine Tonbauten auffhrt, sondern nur noch auf deren Zusammenfgung erstrecken kçnnen, gerade so, wie auch der Vers: „Heraus in eure Schatten, rege Wipfel“ wohl nur bei Goethe vorkommt, whrend seine Bestandtheile kaum in einem grçsseren Gedicht, geschweige denn bei einem Dichter fehlen drften. Whrend uns jetzt die Reminiscenz, weil sie uns nur erst vereinzelt entgegentritt, noch auffllt und je nachdem das Entzcken oder die Verwnschung der Hçrer hervorruft, wird sie nachher, im Zeitalter ihrer unbedingten Herrschaft, etwas ganz Natrliches und Gewçhnliches geworden sein, dem wir, als Einzelnem, nur ebenso geringe Aufmerksamkeit schenken werden, wie einem einzelnen Worte aus dem obigen Verse. Dieser eigenthmliche Fortschritt der musikalischen Entwickelung regt aber die Frage an, ob nicht ein hnliches Schicksal auch die Verbindungen der Reminiscenzen zu musikalischen Gedanken und Dichtungen, auf welchen dann der ganze Reiz dieser Kunst beruhen wird, bedrohen kçnnte? Nietzsche weist in seinem schon genannten Buche einmal darauf hin (S. 127), dass „in der antiken Welt eine unermessliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist, um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren“; dass aber gleichwohl der Kreis der natrlichen Empfindungen durchlaufen wurde, und dass, als er hundert Mal durchlaufen gewesen, die Seele ihrer mde wurde. Die antike Welt ging zu Grunde in einer inneren Erschçpfung ihrer Lebensreize. Welche Fragen strmen nicht mit dem Hinweise auf diesen merkwrdigsten Vorgang der menschlichen Geschichte, den vielbestaunten, grausigen und noch heute nicht ganz entrthselten Untergang der alten Welt auf uns ein! Kçnnen wir seine Bedeutsamkeit fr uns zurckweisen? Kçnnen wir die Erschçpfbarkeit der Reize auch unseres Lebens, oder mindestens der Kunst, die den grçssten Reiz desselben bildet, der Musik, mit irgend einem Schein des Rechtes leugnen? Kçnnten wir es selbst dann nicht, wenn wir die Zahl der Elemente, aus denen die Lustquellen der Musik bestehen oder sich combiniren, viel hçher anschlagen drften, als diejenigen aller Knste des Alterthums? Gewinnen wir es ber uns, nach jenem letzten Finale hinzuhorchen, mit dem einst die Musik ihre der Menschheit gegebene symphonisch-dramatische Abendunterhaltung beschliessen wird. Schon stieg aus der gelegentlichen Frage nach der Zukunft der Reminiscenz in vollen Accorden das Gçtterdmmerungsmotiv der Musik empor. Es ist das rollende Rad des Entwickelungsgedankens, welches uns die unerbittliche Antwort bringt. Auch das Zeitalter der Reminiscenz, dem wir, mde der erschçpften Reize des Klingklangs hinter uns, jetzt so hoffnungsfreudig entge-
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gengehen, wird nicht ewig dauern. Die Kraft zu immer neuen intellecterfllten Tongestalten wird nicht unendlich sein; noch weniger folglich die Zahl ihrer Verbindungen. Nur dann wre dies nicht der Fall, wenn sowohl die physikalische Mçglichkeit musikalischer Combinationen, als auch die psychologische einer immer reicher sich entwickelnden, nach jenen verlangenden Innenwelt ins Unendliche fortgehen kçnnten. Wenn aber nur die Eine dieser Reihen ein Ende erreicht, hinter welchem keine Mçglichkeit einer Neuschaffung mehr steht, wenn die Seele der Menschheit auch der letzten Aushilfe, das schon hundert Mal Gehçrte immer von Neuem zu durchlaufen, mde geworden sein wird, dann wird das Ende der Musik herbeigekommen sein. Fr die Nacht, welche dann hereinbrechen wird, wird es kein Licht mehr geben, weil selbst das aus der Tiefe unseres Inneren strçmende die Kraft, aus der es sich speiste, aufgezehrt haben wird. So mag denn auch der Musiker an dem schwermthigen Vorrechte der Physiker und Astronomen Theil nehmen, die Zukunft zu errechnen. Wie Jene auf der Regenbogenbrcke des Gedankens von einem Sonnensystem und einem Sonnenalter zum anderen fliegen, um zurckgekehrt uns am Himmel und auf Erden die ersten messbaren Spuren des Aufhçrens der Umdrehung der Erde, ihrer knftigen Vereisung und so fort bis zum Stillstand alles Lebens und aller Bewegung im Weltall zu enthllen, so mag auch der Musiker von der Reise an das Ende seiner Kunst bessere Gedanken ber die Zeichen der Zeit und Vorzeichen der Zukunft zurckbringen, als sich auf den Promenadewegen der Grossstadt zwischen Theater, Concert und Cafe auflesen lassen. Es sind oft die besten Namen, ber welche sein Urtheil verlangt werden kann. Mozart fand die vom Herztone der Empfindung bewegte Tongestalt fr die Worte seiner Donna Anna: „mio caro padre“ und „quegli il carnefice“ (Breitkopf & Hrtel, Clavierauszug S. 22, 89). In denselben Tçnen klagte Beethoven im Esdur-Quatuor Op. 74, Weber in der „Euryanthe“ (Breitkopf & Hrtel, Clavierauszug S. 170). Wagner benutzte diese Figur zu dem schneidenden Weherufe, welcher den 2. Aufzug von „Tristan und Isolde“ als eines seiner Hauptmotive durchzieht und als Klageruf im „Parsifal“ wiederkehrt. Cyrill Kistler endlich jammert in denselben Tçnen in seinem Drama „Kunihild“ (Clavierauszug S. 32 ff., Verlag von E. W. Fritzsch, Leipzig). Wo ist nun hier die Grenze zwischen eigener Erfindung und Reminiscenz im Sinne unserer Kritiker? Reicht Erstere wenigstens noch bis Beethoven? Beginnt vielleicht Weber die Reihe der musikalischen Elstern, und hat die „sinkende Kraft des alternden Wagner“ sogar kein Bedenken getragen, sich selbst auszuschreiben, whrend von dem Wagnerianer Kistler nichts Anderes erwartet werden kann, als dass er bei dem „Meister“ eine Anleihe gemacht habe? Oder wollen wir Ernst mit der Phantasie von der Zukunft der Reminiscenz machen? Wollen wir in ihrem Sinne alle diese gleichgestalteten Motive anerkennen als die durch den Stempel des Intellects beglaubigten doppelgesichtigen
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Vorboten unausweichlichen fernen Endes, aber auch nchsterwarteten, neuen, freudigsten Aufschwunges unserer Kunst? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Was, wie ber sich selber durchgepaust, stets mit dem nmlichen Gesicht wiederkehrt und, wie das eingangs erwhnte Schwanmotiv, nur den Intellect ber sich in Verlegenheit setzt, mag unseren Kritikern und ihren Spatzen verfallen bleiben. Dagegen die wahre Reminiscenz im Sinne der Zukunft wird ihren Ursprung aus dem Geiste des Dichters dem Geiste des Hçrers durch die Vielseitigkeit der Verbindungen darthun, welche sie mit anderen Reminiscenzen eingeht. Als solche haben aber nicht blos die anderen, vorzugsweise so genannten Motive zu gelten, welche an das Erstere immer nur herantreten kçnnen, sondern auch diejenigen Elemente, mit denen die melodische Linie eines Motives weit inniger verschmilzt: die Intervalle, zu welchen sie sich ausreckt oder zusammenzieht, die Accorde, durch die sie harmonisirt wird, die Verschiedenheit der Instrumentation, des Rhythmus, des Tempos, der Schallstrke, unter denen sie auftritt. Indem jedes dieser Elemente fhig sein muss, mit der fortschreitenden Intellectualisirung der Musik Trger einer bestimmten, wenn auch noch so leisen Schattirung des Seelenlebens zu werden, und demgemss den Grundzug des Motives, mit welchem es sich combinirt, nher zu bestimmen, muss jene Flle feinster Ausdrucksmittel entstehen, durch welche einst die Musik allen anderen Knsten so wesentlich berlegen sein wird. Irgendwer hat die Menschen mikroskopische Monaden im Weltraume genannt, denen es, um sie aus selbstzufriedener Versumpfung aufzurtteln, trotz Leibniz, von Zeit zu Zeit vergçnnt sei, ein Fenster zu çffnen und einen Blick in die Unendlichkeit zu thun. Mçgen die Nebelbilder, die wir in der hintersten Ferne entdeckten, Manchen erschrecken, Manchem zweifelhaft erscheinen, so war es doch auf dem Wege dahin, dass unsere Blicke auf den neuen Begriff der Reminiscenz fielen. Von Nietzsche’s Gedankenlichtern beleuchtet, hat er uns zurckscheinend gezeigt, was uns noch fehlt, um die Werke unserer grossen Meister ganz zu verstehen, was unsere Componisten noch lernen mssen, bevor sie mit Recht deren Schreibweise sich aneignen. Halten wir diesen Begriff fest, wenn uns daran liegt, die Musik der Zukunft endlich in eine Musik der Gegenwart zu verwandeln, und erneuern wir uns, um dies zu kçnnen, sooft als mçglich die Reminiscenz der Zukunft. Reaktionen N an Meta von Salis, 14. 9. 1887: „Eben ist ein erbrmlicher Aufsatz angelangt, von einem Spiritisten und Wagnerianer abgefaßt, des Titels: ,Variationen ber Themen von Friedrich Nietzsche‘.“ KGB III/5, Bf. 908, S. 151
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N an Ernst Wilhelm Fritzsch, 15. 9. 1887: „Fr die ,Variationen‘ jenes spiritistischen Herrn bedanke ich mich schçnstens, in Hinsicht auf guten Willen: doch zweifle ich daran, daß er zur Verdeutlichung meiner Gedanken beitrgt.“ KGB III/5, Bf. 909, S. 151
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Morgenroethe. Gedanken ber die moralischen Vorurtheile Reaktionen
Heinrich Kçselitz an N, 26. 1. 1881, nach Empfang des Manuskripts der Morgenrçthe: „Sie haben mich heute zum glcklichsten Menschen gemacht! Ich bin erstaunt ber ihre Fruchtbarkeit, von der ich nicht dergleichen vermuthete; noch mehr aber ber die Hoheit der ganzen Gesinnungen und Ziele, die dieses Manuscript behandelt.“ KGB III/2, Bf. 55, S. 134 Jacob Burckhardt an N, 20. 7. 1881: „In Ihrem ungeheuer reichen Buche bin ich noch immer am Durchblttern und Naschen. Gar Manches darin ist mir allerdings, wie Sie erriethen, wider den Strich, aber mein Strich braucht ja nicht der einzig wahre zu sein. Vorzglich und insbesondere dankbar bin ich (wie schon bei Anlaß aller Ihrer frhern Sachen, zumal des Buches ,Menschliches‘ etc) fr die khnen Perspectiven aus welchen Sie das Wesen des Alterthums erblicken; von Einigem hatte auch ich Anfnge einer Ahnung, Sie aber sehen klar und dabei sehr viel mehr und weiter. Fr den capitalen Abschnitt ber die sog. classische Erziehung werden Sie viele Mitempfindende haben. In den brigen Partien des Buches sehe ich als alter Mann mit einigem Schwindel zu wie Sie schwindelfrei auf den hçchsten Gebirgsgraten sich herumbewegen. Vermuthlich wird sich im Thal ganz allgemach eine Gemeinde sammeln und anwachsen, welche allermindestens sich an diesen Anblick des khnen Gratwandlers attachirt. Fr Ihre Gesundheit meine besten, herzlichsten Wnsche.“ KGB III/2, Bf. 80, S. 178 N an Franz Overbeck, 20. 9. 1881: „Denke Dir, daß Freund Rohde Buch und Brief, vor 3 Monaten ihm zugesandt, unbeantwortet gelassen hat! Was mag den wieder qulen!“ KGB III/1, Bf. 150, S. 129 N an Heinrich Kçselitz, 22. 9. 1881: „Der grçßere Theil derer, welchen ich mein Buch geschickt habe, hat, in 3 Monaten, nicht einmal ein Wort des Dankes fr mich gehabt.“ KGB III/1, Bf. 153, S.131 Erwin Rohde an Franz Overbeck, 3. 10. 1881: „Nietzsches ,Morgenrçthe‘ die mich traurig und eher abendrçthlich [ansieht].“ Patzer, Andreas/Hçlscher, Uvo
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(Hrsg.) (1989): Briefwechsel Franz Overbeck – Erwin Rohde. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 1), Nr. 28, S. 51 Ida Overbeck an N, 30. 12. 1881: „Ich liebe immer die ersten Kapitel Ihrer Bcher ganz besonders. Der Eindruck Ihrer geschlossenen, das Denken u. weit die Vergangenheit, ihre verwickeltsten geistigen Processe beherrschenden Persçnlichkeit ist mir da immer berwltigend. Meinen Augen sagt das Licht zu welches Sie erfinden u. verbreiten, trotzdem Sie kçrperlich genommen einer scharfen Helle entgegen sind u. nichts von elektrischen wissen mçgen.“ Meyer, Katrin/Reibnitz, Barbara von (Hrsg.) (2000): Briefwechsel Friedrich Nietzsche/ Franz und Ida Overbeck. Weimar, Bd. 1, S. 162 Ida Overbeck: „Ich weiß nicht, welches Buch oder Manuskript er Re und Frulein Salom Frhsommer 1882 gegeben hatte. Er war unglcklich, daß die beiden ihn auslachten. Er sagte damals zu meinem Manne und mir flsternd etwas wie: er msse eben doch immer wieder etwas anderes haben, die reine Aufklrung genge ihm nicht, und die beiden verstnden davon nichts. Ich war wie vom Schlage gerhrt, daß bereits solches Mißtrauen, solchens Wissen von Nichtzusammengehçrigkeit vorhanden sei. Ich bin aber durchaus nicht sicher, ob die beiden ihn wirklich ausgelacht haben. Nietzsche war oft bersensitiv, und seine Einbildung spielte ihm leicht Streiche.“ Bernoulli, Carl Albrecht (1908): Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft. Jena, Bd. 1, S. 338
Anonym [Lanzky, Paul]: Morgenroethe. Gedanken ueber die moralischen Vorurtheile. In: La Rivista Europea. Florenz, Bd. 26, Nr. 4 vom November 1881, S. 636–638. Morgenroethe. Gedanken ueber die moralischen Vorurtheile. Von Friedrich Nietzsche. Chemnitz, Ernesto Schmeitzer, 1881. Quando leggemo, or sono due anni un’ altra opera dello stesso autore e precisamente: Menschliches, Allzumenschliches, colla appendice Vermischte Meinungen, ei maravigliammo altamente di non aver sentito parlare che una sola volta di quella larga e sublime mente che ci si rivel in quelle pagine. Oggi dovremmo stupirne ancora di piu, perch questi Aforismi dei pregiudizi umani ci rivelano vieppi uno scrutatore profondo del cuore umano; un moralista indipendente non solo da qualsiasi dommatismo, ma da qualunque tradizione irriflessiva, il quale nondimeno s’inalza alla vera virt ; uno scrittore infine quasi impareggiabile, sia per il pensiero, sia per la forma nella quale l’ esprime.
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Ma tant’ : la verit molto dura; ed la verit ch’ ei ci dice. Siamo da un pezzo positivisti; ma quando si tratta della morale, siamo subito l ad affermarla quale ci venne trasmessa, e liberi pensatori e materialisti vogliamo seguire una virtffl magari piffl pura di quella del Nazzareno. Solo non badiamo o non abbiamo il coraggio di confessare che, se i motivi delle nostre azioni non sono a cercarsi nella spontaneit piffl o meno assoluta del nostro animo, anche le ragioni puramente psichiche non hanno l’origine divina che attribuimmo loro; e se non v’ha un vero, un buono, un bello assoluto, non v’ha neanche una virtffl stabile, non forse virtffl quel che crediamo oggi tale ed i motivi che vi ci spingono o sono mentiti o ignorati ed in ogni maniera non tali quali pretendiamo che siano. Infatti chi non crede ancora che la compassione, il sacrifizio di se medesimo, la tolleranza, la sottomissione, la pazienza, il perdono, l’indulgenza, la gratitudine ecc. siano delle virt pi o meno grandi e talvolta sublimi? E l’odio, l’ egoismo, la crudelt ognora e tutto il rovescio? Eppure l’esperienza bene osservata dimostra che non sentiamo nulla per un altro, non gli diamo o sacrifichiamo niente, nonch tutto, senza una intima soddisfazione nostra in qualcosa, vale a dire senza egoismo. La compassione non affatto intimamente congiunta alla sofferenza altrui, colla quale formi quasi la medesima cosa, ma sentita da noi come male, solo in altra maniera che dalla persona afflitta. Essa cosi una sofferenza speciale, nata in noi all’ aspetto d’un male, della quale appunto cerchiamo per sbarazzarci con azioni che sollevino o distruggano quel male altrui, e questo non solo per toglierci un sentimento di depressione, ma per acquistare colle riconoscenza ed il successo una lieta impressione, che del resto in parte, sebbene per lo pi inconsapevolmente, gi possediamo, trovandoci pi o meno sani e lieti in faccia d’un malanuo che non tormenta noi se non per un debole riflesso. Certamente questo un risultato che per le vedute odierne della moralit teorica sociale sa di tutt’ altro che di morale e d’una morale spregiudicata e pura. Ma non per nulla ha intitolato l’autore il suo libro Aurora: vale a dire i primi raggi d’una et novella, ch’ preveduta da pochi, ma la quale nondimeno verr, aizzasse pure una guerra pi accanita, ma pi nasco sta e perfida, dell’ uomo contro l’ uomo. Quale religione non ha predetto il finimondo dopo che i suoi dommi fossero distrutti? Chi non afferm necessario, se non vero, lo scopo finale del mondo, il libero arbitrio nell’uomo, l’ immortalit del’ anima? E pure il mondo non caduto oggi che di ci si dubita, che lo neghiamo. L’ umanit non si sterminer neanche nella lotta per l’esistenza, quando ognuno sapr che non gli si pu domandare di pi del suo proprio bene, solo fin dove non sia in arbitraria ostilit al bene collettivo ed a quello individuale del prossimo. Anzi crediamo che vi saranno sempre i cuori grandi, anche se sapranno che i sacrifizi portati ad altri nol sono se non per godere pi la soddisfazione di tali passi che non sarebbe stato loro possibile il godimento materiale diretto. Allora cerche-
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remo le virt nell’essere veritieri verso noi e gli amici, magnanimi verso i deboli e vinti, coraggiosi nei perigli delle cose e degli uomini e sempre gentili. Con uno sguardo d’aquila ha veduto l’ autore col l’ avvenire. Ma quel che vale di pi : egli vi si slanciato intellettualmente senza perdere di vista le aspirazioni pi reali degli uomini. Ei non condanna, non rifiuta la vita: l’afferma, guardandola da lontano. Forse per queste lontane perspettive egli rimasto ottimista, stimando la conoscenza del vero una ricompensa sufficiente della vita. Essendo d‘ altra persuasione, ammiriamo tanto pi la sua forte anima, che, distrutte tutte le illusioni ideali, non si ferm a piangerne infruttuosamente, ma si abbandon con una sete inestinguibile all’ indagazione del vero, mentre un male terribile lo insidiava, al quale adesso si dice sia soggiaciuto. Per la natura si pot allora vendicare della spoglia mortale: il nome, taciuto dai contemporanei, sar nominato dai posteri, vi vr accanto a quei che ci sono una fiaccola sul nostro cammino. E col la vera immortalit: come la vera vita e non nelle illusioni dei preti, dei sognatori e spensierati; non nelle visioni dei mistici, nemmeno nelle azioni degli operosi ed affaticati ; ma nelle scoperte del filosofo, nella penetrazione e conoscenza della verit: in ci che fu bene supremo allo Stagirita come a Platone. Paul Lanzky, 1894 rckblickend: „Nach „Menschliches, Allzumenschliches“ las ich die „Vermischten Meinungen und Sprche“, dann die „Morgenrçte“ und die „Frçhliche Wissenschaft“, welche letzteren ich im „Magazin fr die Literatur des Aus- und Inlandes“ und in der „Rivista Europea“ besprach.245“ Paul Lanzky in: Friedrich Nietzsche. In: Sphinx, Bd. 18, Nr. 99, 1894, S. 333–340, S. 334.
245 In dem Magazin fr die „Litteratur des In- und Auslandes“, Dresden Nr. 21, 1885 S. 328 f. erschien eine schwrmerische Rezension Paul Lanzkys ber die ersten drei Teile von Z, eine Rezension der FW lsst sich in der Zeitschrift nicht nachweisen, s. Krummel (1998) Bd.1, S. 114, Anmerkung 130.
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Spatzier, Dr. Hans: Kritische Rundschau. Morgenrçthe. Gedanken ber die moralischen Vorurtheile. In: Literarischer Merkur. Mitteilungen aus dem geistigen Leben der Gegenwart und Nachrichten fr Bcherfreunde ber empfehlenswerte Neuigkeiten des In- und Auslandes. Leipzig, Bd. 2, Nr. 4–6 vom 15. 11. 1881, S. 5 f. Kritische Rundschau Morgenrçthe. Gedanken ber die moralischen Vorurtheile. Von Friedrich Nietzsche. Der Verfasser wird sehr vielen unserer Leser bekannt sein durch seine geistreichen „Unzeitgemßen Betrachtungen“, durch sein fr freie Geister bestimmtes Buch: „Menschliches, Allzumenschliches“ und durch seine Gedankensammlung „Der Wanderer und sein Schatten“. Die Vorzge dieser Schriften sind ja bekannt; die uns vorliegende hat dieselben in erhçhtem Maße. – Mit den Worten der Rigveda „Es giebt so viele Morgenrçthen, die noch nicht geleuchtet haben“ leitet der Verfasser sein Werk ein und begrndet damit einmal den Titel „Morgenrçthe“, sodann auch mit welchem Rechte er dasselbe der ffentlichkeit bergiebt; denn in der Tat enthlt es vieles, was entweder noch nicht gesagt ist oder nicht in gleicher Form. Das Buch ist gleich seinem „Der Wanderer und sein Schatten“ eine Gedankensammlung, und zwar beschftigt es sich mit den moralischen Vorurtheilen. Das Ganze zerfllt in fnf Bcher und 575 einzelne abgerissene, unter einander nicht in unmittelbarem Gedankenzusammenhang stehende Betrachtungen, die 3 Zeilen bis 4 Seiten lang sind. In diesen „Gedanken“ ist eine Flle des mannigfaltigsten, geistig anregendsten Inhalts geboten, der fr Jedermann ebenso wichtig wie interessant ist, da der Verfasser berall in jene Debatte eingreift, welche das Tagesinteresse am lebhaftesten beschftigt. Vollstndigkeit in der Behandlung der moralischen Vorurtheile zu geben, lag nicht in der Absicht des Verfassers; damit fiel aber auch die systematische Anordnung fort. Nach unserer Ansicht giebt er blos das, was ihm eben eingefallen ist, ihm der Mittheilung werth schien und noch nicht, wenigstens nicht ganz ebenso, gesagt worden ist, also etwa eine sehr lesenswerthe Nachlese zu dem auf diesem unabsehbaren Felde von ihm und Anderen Geleisteten. Ueberall weiß Nietzsche mit großer Klarheit und mit anschaulicher Schçnheit den philosophischen Gedanken zu formen und aus der Schulsprache die Gedanken in eine leuchtende und durchsichtige Darstellung zu bersetzen; berall zeigt sich ein tiefes wissenschaftliches Streben, ein lebhaftes Gefhl fr das Schçne, ein nach den verschiedenen Richtungen ausgebildeter Geschmack – kurz ein idealer Zug in der Natur des Verfassers. – Whrend Nietzsche in seinen frheren Schriften als ein begeisterter Anhnger Schopenhauers auftrat, hat er sich jetzt mehr und mehr von ihm entfernt; es ist zwar in dem vorliegenden Buche eine vielfache Anregung Schopenhauers nicht zu
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verkennen, der Verfasser verwahrt sich aber mehrfach und selbst ironisch gegen die Schopenhauersche Theorie, wie er sich berhaupt in diesem Werke von jeder positiven Philosophie entfernt. Einen solchen Standpunkt, der außerdem seine Ansichten nur aphoristisch zur Kenntnis bringt, irgendwie zu kritisiren, unternehmen wir nicht. – Fr diejenigen, welche sich den Auffassungen des Verfassers nicht gar zu sehr entgegensetzen, namentlich in religiçser Beziehung, wird das Buch einen angenehme Lectre sein; wegen seines vielseitigen, anregenden Inhalts und seiner aphoristischen geistreichen Darstellungsweise kçnnen wir die „Morgenrçthe“ ein Erbauungsbuch fr Denkende nennen!
Anonym: Morgenrçthe. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 33, Nr. 12 vom 18. 3. 1882, Spalte 387 f. Nietzsche, Fr., Morgenrçthe. Gedanken ber die moralischen Vorurtheile. Chemnitz 1881. Schmeitzner.(363 S. Roy. – 8.) M. 10. Es ist bedauerlich, daß der Verf. hier wiederum seine Gedanken in aphoristischer Form ohne allen systematischen Zusammenhang giebt, wie er es schon in seinen letzten Bchern „Menschliches, Allzumenschliches“ und den Nachtrgen dazu gethan hat. Wir finden in dem vorliegenden Werke eine Sammlung von 575 meist auf das ethische Gebiet sich beziehenden Sentenzen, bald ganz kurze, zum Theil orakelhaft klingende Sprche, bald mehrere Seiten fllende Auseinandersetzungen. Manches Alte, aber auch viel Neues begegnet uns, das Alte aber wenigstens fast immer in einer neuen Wendung, in einer neuen Beleuchtung, so daß es nicht trivial erscheint, das Neue oft paradox klingend, aber doch geistreich und fast immer von selbstndigem Denken und feiner Beobachtungsgabe zeugend. Die Sprache erhebt sich hufig ber das Gewçhnliche, es fehlt ihr hier und da der Schwung der Begeisterung nicht, im Ganzen hlt sie sich aber in den Grenzen des Maßvollen und Schçnen. Zum Durchlesen und Vorlesen ist das Buch freilich nicht, wie Nietzsche selbst, ohne Zweifel mit Beziehung auf dasselbe, S. 300 sagt, „sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reifen, man muß den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken kçnnen und nichts Gewohntes um sich finden“. Und worauf luft nun der Inhalt des Buches hinaus? Die moralischen Vorurtheile sollen bloßgelegt werden, aber statt dieser bis jetzt blichen nicht etwa moralische „Urtheile“ fest begrndet, sondern im Gegentheil soll alle Sittlichkeit aufgehoben werden; nichts von Moralismus, nur Naturalismus! Wie weit hat sich der Verf. von Schopenhauer entfernt und wie geringschtzig spricht er von dessen sittlicher Theorie des Mitleids, wenn auch bisweilen die alte Liebe noch zum Durchbruch kommt! Nietzsche lugnet berhaupt die Sittlichkeit,
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insofern er in Abrede stellt, daß die sittlichen Urtheile auf Wahrheit beruhen. Diese sind allerdings Motive des Handelns, aber es treiben auf diese Weise eben Irrthmer, als Grund alles sittlichen Urtheilens, die Menschen zu ihren Handlungen, wiewohl doch der Verf. ein Mißtrauen im Sinne Rochefoucauld’s nicht unterdrcken kann, daß hufig sogenannte sittliche Motive fr das Handeln angegeben werden, obgleich etwas Anderes zu demselben fhre. Im Ganzen lugnet er aber die Sittlichkeit, wie er die Alchymie lugnet, d. h. er lugnet ihre Voraussetzungen, obgleich er nicht lugnen will, „daß viele Handlungen, welche unsittlich heißen, zu vermeiden und zu bekmpfen sind“, ebensowenig, „daß viele, die sittlich heißen, zu thun und zu fçrdern sind, aber aus anderen Grnden als bisher“. Nur haben wir „umzulernen“, um endlich „umzufhlen“. Freilich scheint es, als ob wir, wenn wir uns in dieser Art auch gendert haben, doch auf „eine Art Sittlichkeit“ wieder hinauskommen wrden. Auch andere Anzeichen finden sich in dem Buche, daß der Verf. nicht von aller Sittlichkeit fern bleiben kann, z. B. wenn er vier Cardinaltugenden aufstellt. Was soll die Tugend, wenn die Sittlichkeit nicht da ist? So werden wir nach Nietzsche selbst dabei verharren mssen, daß die Nivellierung aller Handlungen noch nicht gelungen ist und auch vor der Hand noch nicht gelingen wird, sollten wir auch den als „egoistisch verschrieenen Handlungen“ ihren Werth wiedergeben und ihnen das „bçse Gewissen“, wie Nietzsche es will, rauben mssen. Hufig genug sind bei allem Lugnen die Spuren von sittlichem Idealismus in den eigenen Bemerkungen des Verf.’s zu finden, obwohl er sich als durchaus freier Geist hinstellt, als einen Denker, der vor keinen Konsequenzen zurckscheut, auch was Religion und das Christenthum insbesondere betrifft. Daß die ausgesprochenen Ansichten keine durchgefhrte und tiefere Begrndung finden, liegt in der ganzen Anlage des Buches. Reaktionen Eugen Aragon an Malwida von Meysenbug, Anfang Juni 1884: „Die vier Bnde des Herrn Nietzsche, zumal die beiden jngsten, reifsten, haben mich geradezu entzckt. In seinem Buch ,Morgenrçthe‘ erweist er sich als ein eminent krftiger Kopf und als ein hçchst couragierter Denker. Die Punkte, in denen Herr Nietzsche von Schopenhauer abgewichen ist, sind – (erwiesen sich zu meinem freudigem Erstaunen als) – gerade dieselben, in welchen auch ich von ihm abgewichen bin, nur dass Herr Nietzsche seine Gegenargumente krftiger, deutlicher, grndlich eingehender darlegt als ich es kçnnte, und in einer Weise, dass sich nichts dagegen sagen lsst.“ KGB III/7, 1, Bf. 115, S. 979
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f., b. [vmtl. Fçrster, Bernhard]: Der bekannte Philosoph und Schriftsteller Friedrich Nietsche [sic]. In: Deutsches Tageblatt. Berlin, Nr. 59 vom 28. 11. 1882, S. 2. b. f. Der bekannte Philosoph und Schriftsteller Friedrich Nietsche [sic], den sein Augenleiden vor etwa drei Jahren nçthigte, seine Professur in Basel niederzulegen, weilt augenblicklich in Genua und befindet sich, abgesehen von seinem Uebel, das sich einer vçlligen Erblindung genhert hat, besser als frher. Mit Hlfe einer Schreibmaschine ist er wiederum schriftstellerisch thtig, und ein neues Buch in der Weise seiner letzten Werke ist somit zu erwarten. Bekanntlich stehen seine neuesten Arbeiten in bemerkbarem Kontrast zu den ersten sehr bedeutenden Leistungen, namentlich dem geistvollen Buche „Geburt der Tragçdie“ und den 4 Heften „Unzeitgemße Betrachtungen“. Indessen glauben wir, daß der edle und denkende Gelehrte sich noch zu einer neuen Wandelung seiner philosophischen Auffassung entschließen wird. In seinem Alter – er steht Mitte der Dreißiger – pflegt der Deutsche noch nicht „abgeschlossen“ zu haben. Reaktionen N an Franz Overbeck, 17. 3. 1882: „Ein Bericht des Berliner Tageblattes ber meine Genueser Existenz hat mir Spaass gemacht – sogar die Schreibmaschine war nicht vergessen.“ KGB III/1, Bf. 210, S. 180
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Die frçhliche Wissenschaft Reaktionen
N an Jacob Burckhardt, 2./3. 8. 1882: „Nun, mein hochverehrter Freund – oder wie soll ich Sie nennen? – empfangen Sie mit Wohlwollen das, was ich Ihnen heute sende, mit einem vorgefaßten Wohlwollen: denn, wenn Sie das nicht thun, so werden Sie bei diesem Buche ,die frçhliche Wissenschaft‘ nur zu spotten haben (es ist gar zu persçnlich, und alles Persçnliche ist eigentlich komisch).“ KGB III/1, Bf. 277, S. 234 Carl von Gersdorff an N, 11. 9. 1882: „Liebster Freund, gestern frh entstieg der Posttasche Dein neuestes Buch. Mich lchelte der hellgrn blaue Deckel wie ein schçner Sommermorgenhimmel an, der Titel und das Emersonsche Motto stimmten mich frçhlich und heute noch sollst Du meinen herzlichsten Dank erhalten: denn meine Freude ist groß, beim heiligen Januarius! Von allen Deinen Schriften, seit dem Du die Bahn der Freiheit betreten hast, gefllt mir diese letzte am besten. Es ist eine Stimmung darin, die mich anmuthet wie die Luft eines schçnen klaren Septembertages, wo man sich gerne sonnt und dem Lichte nicht mehr ausweicht. Heil Dir, daß Du so siegreich Deine Bahn fortwandeln konntest. Wenn es einem nicht mçglich ist, nach Deiner Philosophie und Deinen Schriften zu leben, so will ich wenigstens gar gerne mit ihnen leben. Das giebt guten Ozongehalt in das Quantum Luft, welches unser einer mit anderen Philistern theilen muß, und bewahrt vor Philisterei. Fr Frauen ist diese Kost nicht zubereitet, aber die meinige sah hinein und schien sich angezogen zu fhlen.“ KGB III/2, Bf. 142, S. 285 Jacob Burckhardt an N, 13. 9. 1882: „Vor drei Tagen langte ihre ,Frçhliche Wissenschaft‘ bei mir an und Sie kçnnen denken in welches neue Erstaunen das Buch mich versetzt hat. Zunchst der ungewçhnliche Gçthe’sche Lautenklang in Reimen, dessen Gleichen man gar nicht von Ihnen erwartete – und dann das ganze Buch und am Ende der Sanctus Januarius! Tusche ich mich oder ist dieser letzte Abschnitt ein spezielles Denkmal, das Sie einem der letzten Winter im Sden gesetzt haben? es hat eben sehr einen Zug. Was mir aber immer von Neuem zu schaffen giebt, ist die Frage: was es wohl absetzen wrde, wenn Sie Geschichte dozierten? Im Grund wohl lehren Sie immer Geschichte und haben in diesem Buch manche erstaunliche historische Perspektive erçffnet; ich meine aber: Wenn Sie ganz ex professo die Weltgeschichte mit Ihrer Art von Lichtern und unter den Ihnen gemßen Beleuchtungswinkeln erhellen wollten? Wie
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hbsch vieles kme – im Gegensatz zum jetzigen Consensus populorum – auf den Kopf zu stehen[…] Im brigen geht gar Vieles (und ich frchte, das Vorzglichste) was Sie schreiben, ber meinen alten Kopf weit hinaus; – wo ich aber mitkommen kann, habe ich das erfrischende Gefhl der Bewunderung dieses ungeheurn, gleichsam comprimirten Reichthums umd mache mir es klar, wie gut man es in unserer Wissenschaft haben kçnnte wenn man vermçchte mit Ihrem Blicke zu schauen.“ KGB III/2, Bf. 144, S. 288 f N an Gottfried Keller, 16. 9. 1882: „Hochverehrter Mann, ich wnschte, Sie wssten, daß Sie das fr mich sind – ein sehr hoch verehrter Mann, Mensch und Dichter. So brauchte ich mich heute nicht zu entschuldigen, daß ich Ihnen krzlich ein Buch zusendete. Vielleicht thut Ihnen dieses Buch trotz seinem frçhlichen Titel wehe? Und wahrhaftig, wem mçchte ich weniger gern wehe tun als gerade Ihnen, dem Herz-Erfreuer! Ich bin gegen Sie so dankbar gesinnt!“ KGB III/1, Bf. 306, S. 261 Gottfried Keller an N, 20. 9. 1882: „Empfangen Sie meinen herzlichen Dank fr Ihre literarische Zuwendung und Gabe ebenso wohlwollend, wie Sie diese brieflich begleitet haben. Wenn ich auch den Umfang Ihrer Gte nur wenig zu verdienen und auszufllen mir bewußt bin, Ihre frheren Werke nur stckweise kenne und dazu noch mich stckweise im inneren Widerspruch dazu befunden habe, so bleibt immer noch mehr als genug bestehen, um mich auf die Aeußerungen Ihrer Freundlichkeit eitel machen. Die frçhliche Wissenschaft habe ich einmal durchgegangen und bin jetzt daran, mit gesammelter Aufmerksamkeit das Buch zu lesen, befinde mich aber zur Stunde noch im Zustand einer alten Drossel, die im Walde von allen Zweigen die Schlingen herunterhngen sieht, in welche sie den Hals stecken soll. Doch wchst die Sympathie und ich hoffe, der Idee des Werkes so nahe zu treten, als mein leichtfertiges Novellistengewerbe es erlaubt.“ KGB III/2, Bf. 146, S. 290 f
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Wagner, Ernst: Friedrich Nietzsche’s neuestes Buch: „Die frçhliche Wissenschaft“. In: Schmeitzners Internationale Monatsschrift. Chemnitz, November 1882, S. 685–695. Friedrich Nietzsche’s neuestes Buch: „Die frçhliche Wissenschaft.“246 Friedrich Nietzsche ist den Lesern dieser Zeitschrift kein Unbekannter, seine frher erschienenen Werke bildeten einmal den Gegenstand einer ausfhrlichen Besprechung, und er selbst andrerseits ist der bisher einzige Poet247 dieser Zeitschrift gewesen. Demjenigen, welcher die schriftstellerische Entwicklung Nietzsche’s aufmerksam verfolgt hat, kommt es eigentlich nicht mehr berraschend, den Philosophen auch wirklich als Dichter auftreten zu sehen, denn jede Zeile seiner frheren Werke verrth unverkennbar den mit knstlerischer Gestaltungsgabe schaffenden Geist des Autors, der mit klarem Ausdruck und strengem Ernst seiner Gedanken eine formvollendete, und auch knstlerisch bedeutsame Darstellung derselben zu verbinden weiss. Die Erwartungen, die man nach solchen Anzeichen von dem Dichter Nietzsche hegen durfte, finden sich nun in diesem seinem neuesten Buche reichlich besttigt durch eine Anzahl Gedichte, welche der Verfasser unter dem Titel: „Scherz, List und Rache, Vorspiel in deutschen Reimen“ dem Werke an Stelle einer Einleitung vorangeschickt hat. Sie sind meist in epigrammatischer Ausdrucksweise gehalten, und erinnern in Form und Inhalt lebhaft an Gçthe’s: Zahme Xenien; durch ihre Gedankentiefe und feine Schalkhaftigkeit stehen sie den brigen geistigen Erzeugnissen ihres Verfassers vollkommen ebenbrtig zur Seite – namentlich zeichnen sich die drei letzten durch ihre Schçnheit aus. Es wre nicht zu verwundern, wenn Nietzsche, der, von der Betrachtung der Kunst ausgehend, zur Wissenschaft gefhrt wurde, jetzt, nach langer mhevoller Forscherthtigkeit wieder zur Kunst zurckgelangte, und sich so der Kreis seines Werdens harmonisch ineinanderschlçsse! Ganz abgesehen zunchst von dem bedeutenden Inhalte, erweckt die Lectre der Werke Nietzsche’s schon ein grosses Interesse durch den plastischen und prgnanten Ausdruck der Gedanken und die Classicitt der Sprache. Es liegt ein Hauch griechischen Geistes in dieser Schreibweise, die in freier Natrlichkeit dahinfliesst und Kopf und Herz des Lesers unfehlbar gefangen nimmt; man kann an Nietzsche’s eigenen Worten die Wichtigkeit ermessen, die er dem Ausdruck des Gedankens beilegt, wenn er sagt: „den Stil verbessern, heisst den Gedanken verbessern, und gar nichts weiter! Wer dies nicht sofort zugiebt, ist 246 Chemnitz 1882. Verlag von Ernst Schmeitzner. 247 Ernst Wagner meint Nietzsches „Idyllen aus Messina“ die in Schmeitzners Internationaler Monatsschrift im Band 1, Nr. 5, Mai 1882, S. 269 – 275 abgedruckt wurden.
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auch nie davon zu berzeugen“. Nicht minder fesselt der Verfasser durch die ideale Heiterkeit seines wahrhaft mnnlichen Geistes und seine grosse Milde im Urtheilen und Verurtheilen; der Gebrauch der Satire tritt bei ihm, der allen Erscheinungen auf den Grund zu gehen sucht, immer mehr zurck, da nach seiner Ansicht alles Menschliche in Hinsicht auf seine Entstehung die ironische Betrachtung verdient: „deshalb ist die Ironie in der Welt so berflssig!“ Wer den Philosophen Nietzsche aus seinem letzten Werke zuerst kennen lernt, wird ber die eigenthmliche Art des Autors mit seinem Leser zu verkehren, die sich hier sehr ausgeprgt darstellt, erstaunt sein. Es ist, als ob mit ihm die Philosophie zu einem ihrer ltesten Geschichte angehçrenden Zustande zurckkehren wollte: statt der fortlaufenden systematischen Darstellungsart finden wir hier eine usserst freie aphoristische Form, eine Ausdrucksweise, die nicht selten zur rein dichterischen wird, und eine geradezu antike Einfachheit der ganzen Terminologie. Vor allem jedoch muss die unbedingte Wahrhaftigkeit des Autors sympathisch auf den Leser wirken; nichts kann ihn bewegen, auf eine Partei, einen Stand Rcksicht zu nehmen; wer so klar wie er in das Getreibe des menschlichen Lebens hinein schauen will, darf sich durch keinerlei Bedenken oder Scheu vor dem als ehrwrdig Ueberlieferten und dem Hergebrachten bestimmen lassen. Nietzsche will weder verschweigen noch schonen, Erkenntniss ist seine Sache, und kein Irrthum soll bestehen bleiben, wenn er auch noch so reizvoll die rauhe Wirklichkeit verhllt, wenn seine Ausmerzung auch noch so schmerzlich sein mag – der Weg zur Erkenntniss ist durch Leiden! Darin liegt das Heroische in Nietzsche’s Leben, wie es sich in seinen Werken darlegt, es ist der verfeinerte Heroismus, den der Freigeist im Leben bethtigen muss; diese mnnliche Unerschrockenheit in der Betrachtung aller der Fragen, vor deren Lçsung die Menschheit Jahrhunderte lang zitterte, deren Beantwortung bisher als das Wichtigste gegolten, ist eine Tapferkeit auf dem Felde der Geisteskmpfe, die der auf dem Felde der Ehre nicht nachsteht. Er erkennt keine Autoritt als bindend an, auf Niemanden sttzt er sich blind vertrauend; ihm gilt allein das als bewiesen und daher glaubwrdig, wofr auf dem Wege wissenschaftlichen Erkennens Beweise zu erbringen sind – von Gebieten, auf denen unbefangene wissenschaftliche Forschung nie zu ermçglichen ist, oder die unabsichtlich verschlossen bleiben sollen, wendet er sich schweigend ab. Dies ist ein Grundsatz, der auch in dem vorliegenden Werke wiederholt Ausdruck findet. Er prcisirt geradezu seine erkenntnisstheoretische Methode mit den Worten: „Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, soweit dies nur mçglich ist,“ aber fhrt zugleich fort: „nicht in dem Glauben, dass wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen festzustellen.“ Diese Ansicht ber die Relativitt aller menschlichen Erkenntniss finden wir pag. 143 weiter ausgefhrt, wo die Begriffe „Ursache und Wirkung“
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als allein der Beschrnktheit der Erkenntnisskraft entstammend betrachtet werden: „Erklrung nennen wir’s, aber Beschreibung ist es, was uns vor ltern Stufen der Erkenntniss und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser – wir erklren ebenso wenig wie alle Frheren. Wir haben da ein vielfaches Nacheinander aufgedeckt, wo der naive Mensch und Forscher lterer Culturen nur Zweierlei sah, Ursache und Wirkung, wie die Rede lautete; wir haben das Bild des Werdens vervollkommnet, aber sind ber das Bild, hinter das Bild nicht hinausgekommen.“ –„Wie soll Erklrung auch nur mçglich sein, wenn wir alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde! Es ist genug, die Wissenschaft, als mçglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben.“ Gegen diese und sich hieran anschliessende Darlegungen werden die Forscher der exacten Wissenschaften schwerlich etwas einzuwenden haben, fr die es von hçchster Wichtigkeit ist, die Grenzen genau zu bestimmen, welche durch die Unvollkommenheit der menschlichen Organe der Erkenntniss gesetzt werden. Dieser Grundanschauung streng entsprechend fordert Nietzsche, dass man endlich einmal aufhçre, von dem „Ding an sich“ zu reden – „Warum sieht der Mensch die Dinge nicht? Er steht selber im Wege, er verdeckt die Dinge.“248 Diese und die hieran sich anschliessenden erkenntnisstheoretischen Stze Nietzsche’s sind nicht alle durchaus neu und unerhçrt, aber es ist auch nicht die Absicht des Autors, ein neues philosophisches System zu begrnden, vielmehr betrachtet er es als seine Aufgabe, der Philosophie der Aufklrung, die mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts eine vollstndige Unterbrechung ihrer gesunden Fortentwickelung erlitten hat, neues Leben und neue Wirksamkeit zu verleihen. So tritt er gewissermaassen die Erbschaft der Encyclopdisten an, vor allem aber Voltaire’s; in dessen Sinne an der Befreiung des Geistes von den Fesseln der Tradition weiter zu arbeiten, ist seine verdienstvolle Thtigkeit. Indessen ist er den Freigeistern frherer Perioden gegenber insofern im Vortheil, als ihm einerseits die reichen Resultate eines ganzen Jahrhunderts weiterer wissenschaftlicher Forschung zu schrferer Begrndung und strengerer Beweisfhrung zu Gebote stehen, er andrerseits nicht mehr gezwungen ist, seine Kraft durch bestndigen Kampf mit einer fr unanfechtbar gehaltenen Dogmatik in unfruchtbaren Wiederlegungen zu erschçpfen, da ihm hierin seine Vorgnger am meisten vorgearbeitet haben, und er freie Bahn fr eine nicht mehr bloss negative, sondern neu auferbauende Thtigkeit vorfindet. So kann er sich in Ruhe seinem Hange zur vita contemplativa hingeben – und er bewegt sich als Denker vorzugsweise auf dem Gebiet der Moralphilosophie, nicht sowohl weil er als Moralprediger die meiste Aussicht htte das allgemeine Interesse fr sich zu 248 Er nennt es letzte Skepsis, wenn er in den „Wahrheiten“ nur die unwiderlegbaren Irrthmer des Menschen erblickt.
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gewinnen, sondern vielmehr weil ihm eine vorurtheilsfreie Kritik der bestehenden Sittenlehre und eine Untersuchung ihrer Entwicklung zunchst als das Wichtigste erscheint. Seine moralphilosophischen Untersuchungen nehmen in seinen Werken den grçssten Raum ein, denn seine zahlreichen Betrachtungen ber den Verkehr des Menschen mit sich und anderen schliessen sich diesen ungezwungen an. Dem Einflsse des Christenthums auf die Gestaltung unserer Lebensanschauungen widmet er eine ganz besondere Aufmerksamkeit; es ist hçchst interessant, zu beobachten, wie er das christliche Element trotz vielfacher Verwandlungen schliesslich auch in den unbedeutendsten Zgen entdeckt; er wird nicht mde hervorzuheben, wie fremd wir, trotz aller Classicisten und classischen Erziehung doch dem griechischem Geiste gegenberstehen, wie nothwendig eine Ausscheidung der christlichen Vorstellungsweise fr uns ist, um wieder zu einer unbefangenen Betrachtung alles Menschlichen gelangen zu kçnnen. Er unterschtzt die civilisatorische Bedeutung des Christenthums nicht, hebt aber um so nachdrcklicher die Mngel hervor, die ihm aus seinem orientalischen Ursprnge anhaften, und die der Hervorbringung einer wahren Humanitt so verhngnissvoll geworden sind. Seine hierauf bezglichen Aufstze gehçren zu dem Werthvollsten in seinen Schriften; in der „frçhlichen Wissenschaft“ ist der Betrachtung der Religion und des Christenthums ein Theil des dritten Buches gewidmet. Er wendet sich energisch gegen die kritiklose Verdammung des Egoismus, gegen die unmçgliche Forderung der unbeschrnkten Nchstenliebe und des Mitleidens; das Bedenkliche in der Einfhrung eines Begriffes wie der „Snde“ im christlichen Sinne wird von ihm klar dargelegt – auf Grund seiner Auseinandersetzung ist es leicht zu einer Einsicht zu gelangen, weshalb die Seelenmartern und die „humiliation before Christ“ eine so grosse Rolle bei den fanatischen christlichen Sektirern spielen. Namentlich die der Betrachtung des Christenthums gewidmeten Abschnitte seiner Werke sind es, denn das „rein Philosophische“ lsst man fr gewçhnlich als ungefhrlich hingehen, bei denen allemal das Feldgeschrei der um den Bestand der „Religion und Gesellschaft“ Besorgten, also der Philister und Armen im Geiste, erschallen wird, dass Nietzsche ein Volksverfhrer sei, der mit der Verneinung des Christenthums, und aller Religion berhaupt, revolutionre Gesinnungen verbreiten wolle. Doch liegt ihm nichts ferner als dies; am schçnsten und auch den Bedenklichsten beruhigend spricht er im „Wanderer und sein Schatten“ aus, was ihm die Aufklrung bedeutet, wie er sie verstanden wissen will; indem er beschreibt, wie die Aufklrung zu der Verbindung mit der „revolutionren Substanz“ gekommen ist, fhrt er fort: „Die Aufklrung, die im Grunde jenem Wesen so fremd ist, und fr sich waltend, still wie ein Lichtglanz durch Wolken gegangen sein wrde, lange Zeit zufrieden damit, nur die Einzelnen umzubilden; sodass sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen der Vçlker umgebildet htte. Jetzt aber, an ein gewaltsames und plçtzliches Wesen gebunden, wurde die Aufklrung selber gewaltsam und plçtzlich.
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Ihre Gefhrlichkeit ist dadurch fast grçsser geworden, als die befreiende und erhellende Ntzlichkeit, welche durch sie in die grosse Revolutionsbewegung kam. Wer dies begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu lutern hat, um dann, an sich selber das Werk der Aufklrung fortzusetzen und die Revolution nachtrglich in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen.“ Hiernach ist auch Nietzsche’s ganze Schreibart zu beurtheilen; er schreibt nur fr diejenigen, die lieber in dem reinen Aether strenger wissenschaftlicher Erkenntniss, als im Nebel der Metaphysik leben wollen, die sich nicht davor scheuen, die durch Tradition und Autoritt geheiligten religiçsen Vorstellungen furchtlos in den Bereich vorurtheilsloser Forschung zu ziehen. Er beschrnkt sich darauf, durch die Frchte seines Denkens alle die an der Freude des Denkers theilnehmen zu lassen, welche redlich gewillt sind, sich zu seinem hohen Standpunkte empor zu arbeiten; er schreibt so, dass „weder der Pçbel, noch die populi, noch die Parteien aller Art ihn lesen mçgen; folglich diese Meinungen nie çffentliche sein werden; er schreibt weder ntzlich noch angenehm – fr die genannten Drei!“ – Trotz seines strengen Positivismus werden viele nicht abgeneigt sein, ihn sogleich als Pessimisten zu bezeichnen und ihn mit Eduard von Hartmann in eine Reihe zu stellen, Schopenhauer’s nicht zu gedenken, wenn er in dem Egoismus die Haupttriebfeder der menschlichen Handlungen sieht, wenn er z. B. die sexuelle Liebe den unbefangensten Ausdruck des menschlichen Egoismus nennt, oder auf die Ueberschtzung des bewussten Handelns und Denkens hinweist; doch wre es eine arge Verkennung der Philosophie Nietzsche’s, ihr einen pessimistischen Charakter beizulegen. Gegen Schopenhauer sind mannichfache Widerlegungen gerichtet, ber dessen Lehre vom Willen der Autor unter anderem ussert, Schopenhauer habe mit seiner Annahme, dass Alles, was da sei, nur etwas Wollendes sei, eine uralte Mythologie auf den Thron gehoben. Mit der Leugnung einer sittlichen Weltordnung gelangt er vielmehr dazu, gegen den ferneren Gebrauch der Worte Optimismus und Pessimismus Protest zu erheben, da diese Begriffe nur einem Widerspiel theologischer Weltbetrachtung ihre Entstehung verdanken, und inhaltslos werden, sobald man erwgt, dass „gut“ und „bçse“ allein in Bezug auf den Menschen einen Sinn haben. Ferner unterscheidet er sich dadurch wesentlich zu seinem Vortheil von den genannten Philosophen, dass er davon absieht, auf Grund einer neuen Vorstellung ber die Erkenntniss und das Wesen der Dinge sogleich die ganze Welt in ein neues System hineinzuzwngen, und ihr wieder eine neue, daraus entspringende, Ethik und Metaphysik aufzubrden. Im Gegentheil polemisirt er gegen die Systembauer aller Zeiten, da die Incongruenz aller philosophischen Systeme mit der Wirklichkeit stets offenbar wird; er steht nicht an, zu erklren: „alle Ethiken waren zeither bis zu dem Grade thçricht und widernatrlich, dass an jeder von ihnen die Menschheit zu Grunde gegangen sein wrde, falls sie sich der Menschheit bemchtigt htte“,
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und er htet sich demnach, seinerseits durch eilfertige Errichtung eines neuen Systems, die Zahl der als unbrauchbar erkannten zu vermehren. – Allen freigeistigen Werken Nietzsche’s ist daher der Zug gemeinsam, den Eindruck des Abgeschlossenen, Systematischen zu vermeiden, es widerspricht durchaus dem Wesen dieser Schriften, in streng durchgefhrtem, pdagogisch angeordnetem Lehrgange die erhaltenen Resultate zu entwickeln; charakteristisch ist fr den Autor das Epideiktische seiner Ausdrucksweise, er weist oft nur darauf hin, wie er etwas verstanden wissen will, und berlsst es hufig dem Leser eine Schlussfolgerung selbst zu ziehen, denn er setzt bei seinen Lesern das „intellectuale Gewissen“ voraus. Dies ist ein neuer Begriff, mit dem er in prgnanter Form das Verlangen des Menschen bezeichnet, sich Gewissheit ber die Grnde zu verschaffen fr alles, woran er glaubt und wonach er lebt. Nur an denen, die sich eines solchen Gewissens rhmen kçnnen, findet er seine richtigen Leser; aber um die Eigenschaften, Sitten, Institutionen der Menschen von allen Seiten kennen zu lernen, alle Grnde fr und wider vorgetragen zu hçren, dazu bedarf es auch originaler Geister, wie Nietzsche es ist, indem wir seine Definition des originalen Denkers auf ihn selbst anwenden: „Nicht dass man etwas Neues zuerst sieht, sondern dass man das Alte, Altbekannte, von Jedermann Gesehene und Uebersehene wie neu sieht, zeichnet die eigentlich originalen Kçpfe aus.“ Es ist des Autors grçsster Vorzug, dass er das bietet, was er von einem originalen Denker vor allem fordert; er weiss stets einen Standpunkt der Betrachtung zu finden, von dem aus die scheinbar trivialsten, lngst erschçpfend abgehandelten oder fr ganz unwesentlich gehaltenen Verhltnisse in einem neuen fremdartigen Licht erscheinen – fr ihn sind nur diejenigen Dinge Adiaphora, deren Erkenntniss fr gewçhnlich eine unermessliche Wichtigkeit beigelegt zu werden pflegt. Sein Interesse an allem Menschlichen hat ihn zu einer reichen Lebenserfahrung gefhrt, und seine oft berraschenden Betrachtungen ber das Leben in der Gesellschaft und in der Einsamkeit sind einer praktischen Philosophie an Werthe gleich zu achten. Bemerkenswerth erscheint die Wandlung, welche sein Urtheil ber die Frauen im Laufe der Zeit erfahren hat; anfangs nicht selten geringschtzig und ironisch abweisend, allerdings mit scharfer Unterscheidung zwischen dem, was er als Typus wahrer und edler Weiblichkeit hinstellt, und dem, was sich in der Majoritt als Weiblichkeit zu prsentiren pflegt, zeigt er sich in diesem Buche hçchst rcksichtsvoll und mit grçsster Milde urtheilend. Ein kleiner Aufsatz ber die weibliche Keuschheit in der modernen Erziehung giebt mancherlei zu denken, und man kann nicht umhin, den Autor als einen billig urtheilenden zu bezeichnen, wenn er mit den Worten schliesst: „man kann nicht mild genug gegen die Frauen sein!“ Dass Nietzsche wie bisher der Kunst und den Knstlern seine besondere Aufmerksamkeit zuwendet, ist wohl zu erwarten, da er selbst einen knstlerischen Geist in sich trgt, doch glaubt man in seinen Urtheilen zu fhlen, dass
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die Werthschtzung der Kunst bei ihm noch nicht ganz frei von einer gewissen Voreingenommenheit gegen dieselbe ist, denn er spricht sich hier mit besonderer Schrfe aus; doch mag ihre anscheinende Unterschtzung zum grossen Theil auf Rechnung des Umstandes gehen, dass man unwillkrlich stets das Urtheil Nietzsche’s ber die Kunst aus seiner frheren Periode zum Vergleich heranzieht, wobei denn allerdings erhebliche Incongruenzen wegen der vernderten Voraussetzungen hervortreten mssen. Es wrde zu weit fhren, auch nur das Wesentliche alles dessen anzufhren, was durch Nietzsche’s geistvolle Betrachtungsweise ein erneutes Interesse gewonnen hat, nur Einiges sei noch erwhnt. Seine Ausfhrungen ber die Bedeutung des jdischen Volkes fr unsere Zeit zeugen von Wohlwollen, aber auch von Unkenntniss der thatschlich bestehenden Verhltnisse – wer brigens in der Entstehung des Christenthums aus dem jdischen Monotheismus eine Ursache mannichfacher Unvollkommenheiten unsrer Moral erblickt, kann kein unbedingter Freund des Judenthums sein. Die Vegetarianer werden ihm zu Dank verpflichtet sein, auch ihre Principien wieder in den Kreis einer philosophischen Betrachtung gezogen zu sehen, aber er wird schwerlich auf ihre Zustimmung zurechnen haben, wenn er vorzugsweise in dem Vegetarismus den Antrieb zu Narkoticis, und in feinerer Nachwirkung zu narkotisch wirkenden Denk- und Gefhlsweisen findet. Dies gilt aber, wie die Vegetarianer oft genug nachzuweisen in der Lage sind, fr alle andren Lebensweisen noch mehr als fr die ihrige; durch zweckmssige Anordnung der ganzen Lebensweise, und nicht bloss durch Reisessen, soll das Verlangen nach narkotischen Mitteln jeder Art mçglichst verringert, und damit Klarheit des Geistes und Nchternheit des Denkens gefçrdert werden. Dass natrlich auch im Vegetarismus, wie anderswo ebenfalls, alles Fanatische und Extreme bedenklich ist, wird niemand bestreiten wollen; da brigens die menschliche Natur zu Zeiten ein Narkoticum zu begehren scheint, wird man ihr einige wohl oder bel zubilligen mssen; wem das edelste, der Rausch der Begeisterung durch die Kunst, und das vornehmste materielle Narkoticum, der Wein, verwehrt oder unzugnglich ist, behilft sich eben mit Branntwein und noch grçberen, bis zum methodistischen Revivalmeeting! Es mangelt nicht an Stellen, welche einen Widerspruch herausfordern, aber dies entspricht dem Geiste des Werkes durchaus, da Nietzsche nichts Unumstçssliches predigen, sondern wohldurchdachten Stoff und energischen Antrieb zum selbstthtigem Weiterdenken darbieten will; und der Geist des Widerspruches ist es, der das Leben rege erhlt – „das Widersprechenkçnnen, das erlangte gute Gewissen bei der Feindseligkeit gegen das Gewohnte, Ueberlieferte, Geheiligte ist das eigentlich Grosse, Neue, Erstaunliche unsrer Cultur, der Schritt aller Schritte des befreiten Geistes“ – so wie er selber, soll jeder fr sich in seinem eignen Leben der Wahrheit nachgehen, und sich nicht scheuen, auch mit einer ihm bisher widersprechenden Anschauung einen Versuch zu machen.
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Damit haben wir einen Gedanken gestreift, der mit zu den bemerkenswerthesten des neuen Werkes gehçrt. Nietzsche nennt es seinen befreienden Gedanken: „dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein drfe, und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhngniss, nicht eine Betrgerei!“ „Wir sind Experimente, wollen wir es auch sein, wir selber wollen unsere Experimente und Versuchsthiere sein.“ Als jngster Anhnger des alten, ewig jungen Epikur darf er dies khnlich aussprechen; fr ihn ist es nicht mehr, wie ehedem, da die Lehre von den letzten Dingen eine so grosse Rolle spielte. „Denn damals hing das Heil der armen „ewigen Seele“ von ihren Erkenntnissen whrend des kurzen Lebens ab; sie musste sich von heute zu morgen entscheiden – die Erkenntnisse“ hatten: eine entsetzliche Wichtigkeit.249 Wir haben den guten Muth zum Irren, Vermuthen, Vorlufignehmen wieder erobert – es ist alles nicht so wichtig! „Jetzt nun thut in Hinsicht auf jene letzten Dinge nicht Wissen gegen Glauben noth, sondern Gleichgiltigkeit gegen Glauben und angebliches Wissen auf jenen Gebieten!“ Demnach lautet sein Wahlspruch: Memento vivere; es macht ihn glcklich zu sehen, dass die Menschen den Gedanken an den Tod durchaus nicht denken wollen. „Ich mçchte gern etwas dazuthun, endet er auf pag. 199 eine Betrachtung, ihnen den Gedanken an das Leben noch hundertmal denkenswerther zu machen.“ Eine Reihe von Fragen und Antworten die wir auf pag. 194 zusammengestellt finden, kçnnte man eine Art Katechismus der Freigeister nennen; er zeichnet sich durch Krze und Fasslichkeit aus, weicht allerdings aber wesentlich von dem ab, was man bisher vorzugsweise Katechismus zu nennen pflegte. Nach alle dem verstehen wir jetzt, was mit der „frçhlichen Wissenschaft“ gemeint ist; zuerst begegnet uns diese Zusammenstellung zweier fr gewçhnlich sehr wenig zusammenpassend erachteter Begriffe auf pag. 24, noch deutlicher tritt vielleicht ihr Sinn hervor an der Stelle, wo er vom „Ernstnehmen“ spricht: „Der Intellect ist bei den Allermeisten eine schwerfllige, finstere und knarrende Maschine, welche bel in Gang zu bringen ist, sie nennen es die Sache ernst nehmen, wenn sie mit dieser Maschine arbeiten und gut denken wollen. Und wo Lachen und Frçhlichkeit ist, da taugt das Denken Nichts“ – so lautet das Vorurtheil gegen alle „frçhliche Wissenschaft“ – Wohlan! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist!“ Sehr sympathisch berhren die Hoffnungen, die er auf ein zuknftiges Zeitalter setzt, ein Zeitalter, das vor allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird, und den Heroismus in die Erkenntniss trgt, und Kriege fhrt um der Gedanken und ihrer Folgen willen – seine Gedanken, in denen er die 249 Hier ist zu erinnern, dass an dieser Stelle das angewendete Argument der Sterblichkeit der Seele ohne zwingende Beweiskraft ist, denn wenn man von der Wichtigkeit der Entscheidung in diesem Leben nach christlichen Anschauungen absieht, gelten Nietzsche’s Betrachtungen unverndert.
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vorbereitenden tapferen Menschen deren es dazu bedarf, beschreibt und glcklich preist, gehen frwahr einen hohen Gang! Der Schluss des Buches, Incipit tragoedia betitelt, ist hçchst eigenthmlich, man hat ihn als einen Hinweis des Autors auf seine zuknftigen Absichten, als eine Verheissung ber sich selbst zu verstehen, in Form einer Erzhlung, wie sie dem knstlerischen Stile Nietzsche’s durchaus angemessen erklingt. Man kçnnte vielleicht sein hauptschliches Streben, das sich durch seine Werke hindurchzieht, in dem Gedanken zusammenfassen, dass er bemht ist, ganz zu verwirklichen, was Schiller einst in seinem Gedicht: „Die Gçtter Griechenlands“ so tief beklagte, die Entgçtterung der Natur durch die fortschreitende Erkenniss. Wann, ruft er aus, werden wir die Natur ganz entgçttlicht haben! Wann werden wir anfangen drfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlçsten Natur zu vernatrlichen! Wer sollte hier nicht der Worte des greisen Faust gedenken, die er ausspricht, ehe ihn der Anhauch der Sorge erblinden macht! Wir aber wssten fr Nietzsche’s grossartiges Bestreben und das Ziel seiner Wirksamkeit keinen besseren Ausdruck zu finden, als die Worte, mit welchen in Gustave Flaubert’s: „Tentation de Saint Antoine“, dem heiligen Antonius zuletzt Hilarion erscheint: „Mon royaume est de la dimension de l’univers; et mon dsir n’a pas de bornes. Je vais toujours, affranchissant l’esprit et pesant les mondes, sans haine, sans peur, sans piti, sans amour, et sans Dieu. On m’appelle la Science“. Reaktionen N an Heinrich Kçselitz, 10. 1. 1883: „Lesen Sie doch einmal die NovemberNummer von Schmeitzner’s Zeitschrift. Da ist ein Aufsatz ber die ,frçhliche Wissenschaft‘ aus einer mir unbekannten Feder. Nicht bel! Zum ersten Mal las ich seit 6 Jahren etwas ber mich ohne Ekel. Sonst stinkt das Blatt nach Dhring und Judenfeindschaft“ KGB III/1, Bf. 368, S. 317 Franz Overbeck an N, 28. 1. 1883 „Von einem kleinen Aufsatz im Novemberhefte der Internat. Monatsschrift hast Du, wie ich durch Kçselitz erfahre, schon Kunde. Es gehçrt zum Erfreulichsten was ich in der Art ber Dich gelesen.“ KGB III/2, Bf. 170, S. 331
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D., H.: Friedrich Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft. In: Die Gegenwart. Wochenschrift. Berlin, Bd. 23, Nr. 3 vom Januar 1883, S. 46. Friedrich Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft. (Chemnitz 1882, Ernst Schmeitzner.) Nietzsches eigentliche Domne ist die Seelenprfung, doch schttet er in der Kritik unserer moralischen Urtheile oft das Kind mit dem Bade aus, und viele seiner Analysen sind vçllig unhaltbar. Er gehçrt zu jenen Geistern, welchen die Opposition zur zweiten Natur geworden ist, und denen es gengt, daß eine Anschauung, eine Meinung besteht, um sie als Irrthum zu bezeichnen. Mçgen wir aber auch oft weit entfernt sein, seine Ansichten zu theilen, so mssen wir doch immer seine Gedankenflle, seine stilistische Meisterschaft bewundern, Nietzsche beschrnkt sich nicht auf Kritik und Analyse, er hat auch ein Bild des Menschen hingestellt, wie er ihn liebt, wie er ihn will. Man kann sagen, daß er mit diesem Bilde dem modernen Individualismus den intensivsten Ausdruck verliehen hat. Der oberste Satz seines Idealmenschen lautet: „Werde das, was du bist.“ Er lßt sich durch keine Moralgesetze, keinen kategorischen Imperativ, keinen Autorittsglauben gngeln, er folgt nur der Stimme und der Vorschrift seiner eigenen Natur, kann nur thun, was sie gebietet; er hat kein „moralisches“, dafr aber ein „intellectuelles Gewissen“, er handelt niemals, weil die „Pflicht“ es will, sondern weil die eigene Einsicht es vorschreibt. Ihm widersteht die stoische Moral der Selbstbeherrschung, denn die Natur will Entfaltung und Entwicklung der Krfte, nicht minder widersteht ihm die christliche Moral der Selbstentußerung, des Mitleids, denn sie involvirt die Abschwchung des Individuellen, und Nietzsches Mensch will vor Allem individuell sein, er will sich selbst angehçren, seine eigenen Wege verfolgen. Sein hçchstes Streben – sofern dasselbe auf seine Person gerichtet ist – besteht darin, ein Kunstwerk aus sich zu machen, seine Krfte in Harmonie zu bringen. So wenig er sich selbst der Moral unterwirft, will er ber Andere moralisch zu Gerichte sitzen, wohl aber ihnen durch sein Beispiel zur inneren Befreiung verhelfen, Nietzsches Mensch ist der Heroische, der Unabhngige und, weil unabhngig – auch von den Dingen – der Frçhliche und seine Wissenschaft die frçhliche Wissenschaft. Das ist freilich ein hohes, aber in mancher Hinsicht auch unsympathisches Ideal. Wie erhaben die Unabhngigkeit sein mag, darf sie Selbstbeherrschung, Piett und Sympathie doch nicht ausschließen. Nietzsche sieht nicht ein, daß im Conflicte zwischen Piett und „intellectuellem Gewissen“ der Sieg der ersteren gleichwohl oft das Vornehmere sein kann, und daß das Mitleid ja selbst ein individueller Zug ist, der einem Menschen sein eigenthmliches Geprge geben und dessen „eigenen Weg“ bestimmen kann. Hatte Shelley z. B. keine Individualitt?
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Reaktionen Franz Overbeck an N, 28. 1. 1883 „Aber auch in N8 3 des laufenden Jahrgangs der Lindau‘schen Gegenwart finde ich krzlich, mit H. D. gezeichnet, eine kurze Anzeige, gewiss von keinem Freunde, aber sehr anstndig gehalten und der Anregung des Interesses fr den besprochenen Schriftsteller nur gnstig, und zwar hçheren Interesses als Bltter dieser Art sonst selbst fr ihre Gnstlinge in Anspruch zu nehmen pflegen.“ KGB III/2, Bf. 170, S. 331
Anonym: Die frçhliche Wissenschaft. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 34, Nr. 19 vom 5. 5. 1883, Spalte 644 f. Nietzsche, Friedr., die frçhliche Wissenschaft. Chemnitz, 1882, Schmeitzner. (255 S. Roy. 8.) M. 6, 40. Dreihundertzweiundvierzig meist moralisierende Aphorismen, denen dreiundsechzig kurze, ebenfalls moralisierende Gedichte unter der etwas rthselhaften Ueberschrift: „Scherz, List und Rache“ vorausgehen. Auch der Titel des ganzen Buches ist willkrlich gegriffen. Doch wird in dem ersten lngeren Stck wenigstens ber „die frçhliche Wissenschaft“ gesprochen, als dem Zustand, in dem sich das Lachen mit der Weisheit verbndet hat. Und zwar soll dies vielleicht dann stattfinden, wenn der Satz: „die Art ist Alles, Einer ist immer Keiner“, sich der Menschheit einverleibt haben wird, und jedem der Zugang zu der letzten Befreiung und Unverantwortlichkeit offen steht. Vor der Hand leben wir nach Nietzsche freilich noch in den Zeiten der Tragçdie, in der Zeit der Moralen und Religionen; die Komçdie des Daseins ist sich selber noch nicht bewußt geworden. – Sonst beziehen sich die einzelnen Stcke auf die verschiedensten Gebiete des menschlichen Lebens und zeugen wie die frheren Sammlungen des Verf.’s von Menschenkenntniß, feiner psychologischer Beobachtungsgabe und von selbstndigem, vorurtheilsfreiem Denken, das uns nur nicht zur vollen Einheit gekommen zu sein scheint, und in der Sprache bieten sie fast nur Schçnes. Lobenswerth ist es, wie richtig Nietzsche S. 119 ff die Anhnger Schopenhauer’s, unter ihnen den bedeutendsten, Richard Wagner, beurtheilt. Freie Geister, oder solche, die wenigstens frei werden wollen, werden diese Aphorismen nicht unbefriedigt aus der Hand legen. Hoffen wir, daß Nietzsche gesundheitlich bald in den Stand gesetzt wird, etwas zusammenhngendes und mehr Abgerundetes zu schaffen! Warum er berhaupt schreibt, obgleich er sich selbst darber rgert und sich alles Schreibens schmt, das verrth er uns S. 114: „Im Vertrauen gesagt: ich habe bisher noch kein anderes Mittel gefunden, meine
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Gedanken los zu werden. – Und warum willst du sie los werden? – Warum ich will? Will ich denn? Ich muß.“ Reaktionen N an Franziska Nietzsche, 21. 6. 1883 „NB. ich vergaß fr die Abschrift der Recension zu danken. Das ist nun freilich die schchternste und befangenste Art, von mir zu reden. In Anbetracht aber, daß es ein Leipziger Professor ist, der so schreibt, so ist vielleicht sogar noch der Muth anzuerkennen! – Im Vergleiche zu diesem armen Volke lebe ich freilich im ,siebenten Himmel‘ der Erkenntniß!“ KGB III/1, Bf. 426, S. 385
XIV Also sprach Zarathustra Reaktionen Heinrich Kçselitz an N, 3. 2. 1883: „Z[dekauer] in Wien schrieb mir dieser Tage, Ihre letzten Schriften wrden von intelligenten Mnnern in Wien eifrig gelesen und erregten viel Aufmerksamkeit.“ KGB III/2, Bf. 171, S. 332 N an Ernst Schmeitzner, 13. 2. 1883: „Zufllig erfahre ich sowohl aus Wien wie aus Berlin, daß unter ,intelligenten Mnnern‘ viel von mir geredet wird. Ich mache Sie auf Herrn Brandes, den Culturhistoriker aufmerksam, der jetzt in Berlin ist: es ist der geistreichste der jetzigen Dnen. Ich erfahre, daß er sich eingehend mit mir beschftigt hat.“ KGB III/1, Bf. 375, S. 328 Julius Piccard, Mrz 1883: „Seine letzte Reise nach Sizilien sei jmmerlich gewesen, klagte er traurig und resigniert; gegenwrtig lege er sein jhrliches Ei, damit meinte er ein Buch; aber, fgte er noch trauriger hinzu: ,Sie werden es totschweigen‘.“ Erinnerungen von Prof. Julius Piccard. In: Bernoulli, Carl Albrecht (1908): Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft. Jena, Bd. 1, S. 171 Heinrich Kçselitz an N, 2. 4. 1883: „Sie machen es mir mit jedem neuen Buch schwerer, nur auf die Ordnung der Buchstaben zu sehen! Die prachtvolle Wendung Ihres Geistes, die Kraft Ihrer Sprache, die Flle der Erfindung bis in’s Kleinste hinein, die Gluth und Majestt Ihrer Empfindung – machen mich staunen, regen mich auf, zittern in mir nach, soweit es mein Vermçgen hergiebt. […] Diesem Buch ist die Verbreitung der Bibel zu wnschen, ihr kanonisches Ansehen, ihr Commentarengefolge, auf dem dieses Ansehen zum Theil beruht. Aber ach – die langen Zeitstrecken! Es macht mich schon traurig, zu wissen, daß der nchste Venusdurchgang am 2. Juni 2004 statt findet; wie traurig wrde ich, wenn ich erfhre, wann ihr Buch in der Verbreitung und dem Ansehen der Bibel stehn wrde.“ KGB III/2, Bf. 184, S. 359 f N an Heinrich Kçselitz, 6. 4. 1883: „Lieber Freund, beim Lesen Ihres letzten Briefes berlief mich ein Schauder. Gesetzt, Sie haben Recht – Es wre also mein Leben doch nicht mißrathen? Und gerade jetzt am wenigsten, wo ich es am meisten geglaubt habe?“ KGB III/1, Bf. 301, S. 357 f
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Franz Overbeck an N, 15. 4. 1883: „Von Zarathustra weiss man brigens schon etwas in der Welt. ,Von Schmeitzner hçre ich‘, schrieb mir Fuchs Ende Mrz, ,daß N[ietzsche] jetzt ein Buch vorhabe: So spricht Z[arathustra], das „etwas anders geschrieben“ sein solle als die letzten. Vielleicht strçmt das wieder. Auch wenn es strmt vertrag ich’s. Aber alle sechs Schritt stillstehen wie auf einem Friedhof, auch wenn ich nicht Grber, nur Auferstehungsorte she – es erschçpft auf die Dauer meine Geduld.‘ Das schreibt ein Leser Deiner Aphorismen, dessen gleichen sie nicht viele gefunden haben werden, und dem Du doch ja Deinen Zarathustra zukommen lassen solltest.“ KGB III/2, Bf. 188, S. 360 Ferdinand Laban an N, 17. 4. 1883: „Seitdem ich Ihre Schriften kenne, also seit etwan einem halben Decennium, hatte ich immer die Empfindung, in der Gesellschaft eines Menschen und nicht bloß eines Buches zu sein. Sie selbst also tragen die Schuld davon, daß es mir nun nicht lnger mehr mçglich ist, das Verlangen zu unterdrcken, jenen Menschen endlich einmal auch leibhaftig vor mir zu sehen. […] so bitte ich Sie herzlich, mir Ihr Bildniß zu senden.“ KGB III/2, Bf. 190, S. 368 f N an Kçselitz, 21. 4. 1883: „Ich habe mich nie von der Meinung Anderer ber mich fhren lassen, aber mir fehlt die Menschenverachtung und die glckliche Mitgift des Brenfells – und so bekenne ich, zu allen Zeiten des Lebens sehr an der Meinung ber mich gelitten zu haben. […] Meine neuen Schriften werden an den Universitten als Beweise meines allgemeinen ,Verfalls‘ ausgelegt; man hat eben etwas zuviel von meiner Krankheit gehçrt. Aber das thut mir weniger wehe, als wenn mein Freund Rohde sie als ,kalt-behaglich‘ empfindet und als ,wahrscheinlich sehr zutrglich fr die Gesundheit‘.“ KGB III/1, Bf. 405, S. 365 N an Jacob Burckhardt, 1. 5. 1883: „Was das beifolgende Bchlein betrifft, so sage ich nur dies: irgendwann schttet Jeder einmal sein Herz aus und die Wohlthat, die er sich damit erweist, ist so groß, daß er kaum begreifen kann, wie sehr er eben damit Allen Anderen am meisten wehthut. Ich ahne etwas davon, daß ich dies Mal Ihnen noch mehr wehe thue als bisher geschehen ist: aber auch das, daß Sie, der Sie mir immer gut gewesen sind, von jetzt ab mir noch guter sein werden. Nicht wahr, Sie wissen, wie ich sie liebe und ehre?“ KGB III/1, Bf. 411, S. 371 N an Gottfried Keller, 1. 5. 1883: „Hochverehrter Herr, als Antwort auf Ihren gtigen Brief und zugleich als Besttigung Ihres darin ausgesprochenen Gedankens – daß der große Schmerz die Menschen beredter mache als sie es sonst sind – : mçchte sich Ihnen das beifolgende Bchlein empfehlen, das den Titel trgt:
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,Also sprach Zarathustra.‘ […] Die Frucht dieser Tage liegt nun vor Ihnen: mçge Sie sß und reif genug sein, um Ihnen – einem verwçhnten im Reiche des Sßen und Reifgewordnen! – wohlzuthun.“ KGB III/1, Bf. 412, S. 371 f Franz von Lenbach an N, 24. 5. 1883: „Fr Ihre große Gte sage ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank und ich habe inzwischen mit grçßtem Interesse das merkwrdige Werk [Also sprach Zarathustra] gelesen.“ KGB III/2, Bf. 196, S. 379 N an Elisabeth Nietzsche, Ende Juli 1883: „Es gab in diesem Frhjahr auch von Overbeck’s Seite einen Brief, den ich mir hinter die Ohren geschrieben habe: er demonstrirte, ich htte als Schriftsteller jedes erlaubte Maaß dessen berschritten, was die Leser sich gefallen lassen kçnnten und drfe mich gar nicht wundern, wenn man sich gegen mich wende (nebst Bemerkungen darber, daß meine Aphorismen-Form auch die beste Geduld zuletzt zur Verzweiflung bringe: ungefhr dies der Sinn.)“ KGB III/1, Bf. 444, S. 416 N an Heinrich Kçselitz, 26. 8. 1883: „Auch die erste Besprechung des ersten Zarathustra, die mir zugesandt wird (von einem Christen und Antisemiten, und, sonderbarerweise, im Gefngnisse entstanden) macht mir Muth, insofern auch da sofort die populre Position, die einzig an mir begriffen werden kann, eben meine Stellung zum Christenthum, gut und scharf begriffen ist. ,Aut Christus, aut Zarathustra!‘ Oder auf Deutsch: es handelt sich um den alten lngstverheißenen Antichrist – so empfinden es die Leser. Da werden alle Vertheidiger ,unsrer Lehre vom Welt-Heilande‘ feierlich herbeigerufen (,umgrtet euch mit dem Schwerte des heiligen Geistes‘!!) gegen Zarathustra. und dann heißt es: ,Bezwingt ihr ihn, so wird er der Eure und wird treu sein, denn an ihm ist kein Falsch; bezwingt er Euch, so habt ihr euren Glauben verwirkt: das ist die Buße, die ihr dem Sieger zahlen mßt!‘ Hier, lieber Freund, so lcherlich es Ihnen vielleicht klingen mag, hçrte ich zum ersten Male von außen her, was ich von Ihnen her lange hçrte und weiß: ich bin einer der furchtbarsten Gegner des Christenthums und habe eine Angriffs-Art erfunden, von der auch Voltaire noch keine Ahnung hatte.“ KGB III/1, Bf. 457, S. 435 f Carl von Gersdorff an N, 7. 9. 1883: „Lieber Freund, hab Dank fr den Zarathustra. Das ist ganz herrlich. Was fr ein Weg von der Geburt der Tragçdie bis hierher. Du bist wie ein guter Ackersmann, der nicht hinter sich sieht, oder wie ein guter Bergsteiger. Manchen wird es schwindelig auf Deiner Hçhe werden, aber es weht ozonhaltige Luft da oben.“ KGB III/2, Bf. 206, S. 395 Jacob Burckhardt an N, 10. 9. 1883: „Bei meiner Heimkehr letzten Freitag fand ich Ihren werthen Brief und Ihr ,Also sprach Zarathustra‘ vor. Dießmal sind es
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nicht mehr fixirte Einzelbeobachtungen wie in Ihren letzten Schriften, sondern eine fortwhrende mchtige Rede ber das Ganze des Lebens, aus Einem Munde. Mir scheint es muß in deutschen Landen an diejenigen Adressen gelangen, wo es – durcheinander – begeisternd und erzrnend wirken wird. Letzteres kann wohl nicht ausbleiben, denn, verehrter Herr und Freund, Sie machen es dießmal den Sterblichen ganz besonders schwer, aber das Buch wird Die, welche ihm gezrnt, doch immer wieder anziehen. Fr mich ist ein ganz eigenthmlicher Genuß dabei, Jemanden auf so hoch ber mir befindlicher Warte ausrufen zu hçren, welche Horizonte und welche Tiefen er sieht. Ich erfahre dabei, wie oberflchlich ich zeitlebens gewesen bin und bei meiner Art von relativer Emsigkeit auch wohl bleiben werde, denn in meinen Jahren ndert man sich nicht mehr, hçchstens wird man lter und schwcher.“ KGB III/2, Bf. 207, S. 395 f Karl Hillebrand an Hans von Blow, 16. 9. 1883: „Mit dem Zarathustra ist mir’s sonderbar ergangen. Im Mai ehe ich Florenz verlassen, schickte mir’s N[ietzsche], […] Ich finde wirklich Bewundernswerthes, geradezu Großes darin: aber die Form lßt keine rechte Freude daran aufkommen. Ich hasse das Apostelthum und die Apostelsprache, und gar diese Religion, als Der Weisheit letzter Spruch, bedarf der Einfachheit, Nchternheit, Ruhe im Ausdruck. Auch hab’ ich keine rechte Sympathie mit Menschen, die nach dem 40. Jahre noch Wertherisch an sich herumlaboriren, anstatt frank und frei vor sich in den Tag hinein zu leben; deßhalb bedauere ich solche Geisteskranke, denn das sind sie, nicht minder. Aber Nachdenken ber sich selber und nicht Herauskommen aus sich selber ist eine bçse Kinderkrankheit; die sollte man mit dem 30. Jahre berwunden haben.“ Blow, Hans von (1907): Briefe und Schriften, Bd. 6, Leipzig, Bd.7, S. 222 Heinrich von Stein an N, 4. 10. 1883: „Die Gesinnungen und Ansichten, welche Sie in Ihrem neuesten Buche ansprechen, muthen mich so verwandt und vertraut an, wie ich diess nicht erwarten konnte.“ KGB III/2, Bf. 210, S. 401 Erinnerungen Ida Overbecks, ca. Ende 1883: „Nietzsche rechnete sich damals zu der Gesellschaft jener aristokratischer Moralisten, und litt schon in diesen Jahren, da er bei uns verkehrte, sehr darunter, daß er so wenig gekannt und gelesen sei. Er hoffte nach jeder Verçffentlichung begeisterte Zusprache zu erhalten, als ein aufgehendes Gestirn in der ffentlichkeit begrßt zu werden, Anhnger und Jnger zu finden. Erinnerungen von Frau Ida Overbeck. In: Bernoulli, Carl Albrecht (1908): Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft. Jena, Bd. 1, S. 240
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Josef Paneth an seine Verwandten, 26. 12. 1883: „Er [N] war ungemein freundlich, es ist auch nicht eine Spur von falschem Pathos oder Profetenthum in ihm, wie ich nach dem letzten Werke wohl befrchtet hatte […].“ Krummel, Richard Frank (1988): Josef Paneth ber seine Begegnung mit Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 17, S. 478 f Heinrich Kçselitz an N, 29. 2. 1884: „Ja, dieser Zarathustra! Er giebt Einem das Gefhl, als sollte als sollte man von ihm an die Zeit neu datieren. Man wird und muß Sie einst hçher verehren als die asiatischen Religionsstifter, und hoffentlich auf weniger asiatische Art und Weise.“ KGB III/2, Bf. 223, S. 420 Ferdinand Laban an N, 5. 3. 1884: „Natrlich habe ich ,Zarathustra‘ sogleich gelesen. Es berrascht und freut mich, daß noch ein dritter Theil erscheinen soll. Es macht den Eindruck, als ob Sie bloß mhelos die Hand auszustrecken brauchen, um die reifsten Frchte einzuheimsen. Das wirkt um so wohlthtiger gerade auf mich, da ich aus einem krampfhaften Ringen nicht herauskomme: und zwar ist es die Form, in der ich mich mittheilen soll, die ich nicht zu finden vermag. Ich bitte, verzeihen Sie mir diese Bemerkungen: ber Ihre Werke zu reden ziemt mir nicht.“ KGB III/2, Bf.224, S. 423 N an Heinrich Kçselitz, 25. 7. 1884: „Das Spaaßhafteste, was ich erlebte, war J Burckhardts Verlegenheit mir etwas ber den Zarathustra sagen zu mssen: er brachte nichts Anderes heraus als – ,ob ich es nicht auch einmal mit dem Drama versuchen wolle‘.“ KGB III/1, Bf. 522, S. 515 Gottfried Keller an N, 28. 9. 1884: „Fr Ihren Zarathustra danke ich herzlichst bei diesem ersten Anlasse, denn bei dieser wie einer frheren gtigen Zusendung, war mir nicht klar ersichtlich, wohin ich htte einen Dankbrief htte adressiren kçnnen.“ KGB III/2, Bf. 243, S. 457 N an Elisabeth Nietzsche, 15. 11. 1884: „Ich – fr meinen Theil – will durch die Klage vor Allem das erreichen, daß Schm[eitzner] meine Schriften so schnell als mçglich verkauft: ich habe mich in Zrich (mit Hlfe des Lese-Museums) berzeugt, daß diese Schriften in seinem Winkel gleichsam verfaulen: seit langem ist mein Name in den smmtlichen wissenschaftlichen Verçffentlichungen des In- und Auslandes nicht mehr genannt worden (dies privatissime unter uns!) Er sendet keine Redaktions-Exemplare, macht keine Anzeigen usw.“ KGB III/1, Bf. 556, S. 557 N an Carl von Gersdorff, 12. 2. 1885: „(das Wort , ffentlichkeit‘ und ,Publikum‘ klingt mir, in Bezug auf meinen ganzen Zarathustra, ungefhr so wie ,Hurenhaus‘ und ,çffentliches Mdchen‘ – Pardon!)“ KGB III/3, Bf. 572, S. 9
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Anonym: Also sprach Zarathustra. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Bd. 36, Nr. 12 vom 14. 3. 1885, Spalte 378. Nietzsche, Friedr., Also sprach Zarathustra. Ein Buch fr Alle u. Keinen. 1.2.3. Chemnitz 1883/84. Schmeitzner. (114; 103; III, 119. S. 8.) M. 3, 30; 3; 3, 30. Zarathustra steigt von dem Gebirge, auf dem er zehn Jahre seiner Einsamkeit und seines Geistes genossen hat, herab, weil er zu viel gesammelt und nun der Hnde bedarf, die sich ausstrecken, weil er verschenken und austheilen will. So beginnt „Zarathustra’s Untergang“. In der Vorrede sagt der Weise dann, daß er die Menschen den „Uebermenschen“ lehren will, welcher der Sinn der Erde sei, und beschwçrt die Menschheit, der Erde treu zu bleiben und denen nicht zu glauben, welche von berirdischen Hoffnungen reden; denn Giftmischer seien dies, mçchten sie es wissen oder nicht. – Hierauf folgen die Reden Zarathustra’s zu den verschiedensten Menschen, bei mannigfachster Gelegenheit und ber die scheinbar heterogensten Gegenstnde, ber die Fliegen des Marktes, wie ber die Erlçsung, ber die Seligkeit wider Willen, Tanzlieder wie ein Grablied, Reden hohen sprachlichen und bilderreichen Schwunges, aber auch tiefer, bisweilen schwer zu entrthselnder, etwas mystischer, halb trunkener Weisheit, frei sich ergehend, ohne irgend welche systematische Form, Reden, aus denen man den selbstndigen, ber alle Seiten des Lebens reflectierenden, von Autoritten ganz losgelçsten Denker, der dem Dichter die Hand reicht, erkennt. Scheinbar subjective Empfindungen wechseln mit Gedanken, die objectiv gelten sollen. Beispiele, wenigstens fr beides und zugleich fr die Sprache Nietzsche’s, aus denen man leicht die Strke des Verf.’s, aber auch seine Schwchen ersehen kann: „den ziehenden Wolken bin ich gram, diesen schleichenden Raubkatzen: sie nehmen dir (dem Himmel) und mir was uns gemein ist, das ungeheure Ja- und Amensagen. Diesen Mittlem und Mischem sind wir gram, den ziehenden Wolken: diesen Halb- und Halben, welche weder segnen lernten, noch von Grund aus fluchen. Lieber will ich noch unter verschlossenem Himmel in der Tonne sitzen, als dich, Lichthimmel mit Ziehwolken bedeckt sehen“. Und in derselben Rede „Vor Sonnenaufgang“ heißt es weiterhin: „Von Ohngefhr, das ist der lteste Adel der Welt, den geb ich allen Dingen zurck, ich erlçste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke. Diese Freiheit und Himmels-Heiterkeit stellte ich gleich azurner Glocke ber alle Dinge, als ich lehrte, daß ber ihnen und durch sie kein ewiger Wille – will. Diesen Uebermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte: bei Allem ist Eins unmçglich – Vernnftigkeit. – Oh Himmel ber mir, du Reiner, hoher! das ist mir nun deine Reinheit, daß es keine ewige Vernunft – Spinne und – Spinnennetze giebt: daß du mir ein Tanzboden fr
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gçttliche Zuflle, daß du mir ein Gçttertisch bist fr gçttliche Wrfel und Wrfelspieler.“ Von einem grçßeren Kreise werden diese Reden kaum aufmerksam gelesen werden, aber Ref. kann wohl glauben, daß, wie es der Fall sein soll, manche besonders geartete Naturen mit Entzcken Nietzsche’s Worten lauschen. Reaktionen Heinrich Kçselitz an N, 26. 3. 1885, nach Erhalt des Zarathustra IV: „Alles von Ihnen erquickt und erhebt mich, und ich fhle, wie viel Schçnheit, Hoheit, Strenge und Milde, Gte und Weisheit wieder von diesem Werke ausgeht! Die ersten 4 Bogen, welche Sie wohl erhalten haben, erregen meine Wissbegier nach dem Zusammenspiel der Charaktere in der Hçhle und nach dem Ende, das ich nicht richtig zu errathen mir zutraue. […] Mit den zwei Lorbeerzweigen, die ich unter Rosen, Nelken und Veilchen am Tag nach der Direktion meiner Ouvertre erhielt, bekrnzte ich Ihr Bild, das in meinem Zimmer hngt.“ KGB III/ 4, Bf. 274, S. 14 f
Lanzky, Paul: Also sprach Zarathustra. In: Das Magazin fr die Literatur des Inund Auslandes. Leipzig, Bd. 54, Nr. 21, 1885, S. 328 f. Also sprach Zarathustra. Ein Buch fr Alle und Keinen von Friedrich Nietzsche Chemnitz, Ernst Schmeitzner. Drei Teile. Zarathustra ist nicht der Verfasser des Zend-Avesta. Gleich dem parsischen Weisen, seinem Vorbilde nur hierin, hat er sich in tiefer Einsamkeit unter dem reinen Auge des Tagesgestirns zu einer großen Botschaft vorbereitet, aber als Denker an der Schwelle des XX. Jahrhunderts. So lehrt er, als er wieder unter die Menschen tritt, keine neuen Gçtter, sondern erlçst sie vom Banne der Verstorbenen, vom Alp des Bçsen, der Qual, der Besorgnis, von der Furcht vor Grab und Tod und allen jenseitigen Gespenstern. Und nicht genug, das Leid von ihnen zu nehmen, zeigt er seinen Jngern den Pfad der Freude zu einem neuen erreichbaren Ideale, schaut er einen Tag ohne Nacht, erringt selbst eine „Seligkeit wider Willen“ und stimmt einen Hymnus auf das Leben an, wie er nie gesungen worden ist, auf das Leben, dessen „ewige Wiederkunft“ fr jeden einzelnen er feiert. „Der Mensch ist etwas, das berwunden werden muss“: das ist der Beweggrund des Weisen, der die Schçne und Freudigkeit des „Uebermenschen“ im Bild geschaut hat, nach dessen Verwirklichung im Sein es ihn verzehrt. Aber wenige werden Sinn fr seine Lehren haben. Nicht die Guten
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und Frommen, denn sie sagen, das die Erde des Teufels und nicht den Menschen sei, den sie Tugend, Verachtung des Leibes, der Freude, der Selbstsucht, der Herrschsucht, aller Lebensgter lehren und ihn auf Tod und ewiges Leben nach demselben verweisen. Auch die Schmerzerfllten werden das Haupt ber der neuen Lehre schtteln, denn es bestrickt sie nichts außer der Leidlosigkeit in ewiger Ruhe. Die Anderen aber, welche der Materie und dem flchtigen Genuss huldigen, wollen diesen nicht von der Zukunft erwarten, ob dadurch auch das Heil der Menschheit verloren ginge. Und ihnen vermag der Weise kaum zu fluchen, denn fr ihn giebt es kein Gesetz der Freiheit und absoluten Verantwortlichkeit, wie selbst Mitleid, Nchstenliebe, Gerechtigkeit ihre Bedeutung fr ihn gendert haben, Krieg und Verfolgung ihm notwendig geworden sind. Wie verantwortungsvoll auch diese Loslçsung von Religion, Sitte und Gewohnheit von Menschen und Idealen erscheint, die unseren Lebensgehalt ausmachen, so ist doch nicht zu verkennen, dass das Phantom, welches den Denker verfhrt, in wunderbarer Reinheit erglnzt. Es war nicht der Geist des Wissenden, welcher es schuf, noch der Lçwenmut des Helden, welcher es vermag: es bedurfte der vorurteilsfreien Seele dessen, der alles Ueberlieferte von sich getan, alles Erlernte erst selbst erlebt, alle Wertschtzungen noch einmal erwogen und den Dingen ihre Bedeutung zurckgegeben hat. Nur von diesem Punkte aus ist der Denker zu verstehen, nur dadurch darf sein Schritt nicht nur entschuldigt, sondern ermutigt werden. Und wer unter den Erkenntnissuchenden ihm folgen und zu seinen Jngern zhlen will, der muss vor allem gleich ihm den berlieferten Glauben an das Ueberirdische und alles transcendente Leben opfern. Sodann weihe er sich der Erde und betrachte sich als „Brcke“ zum hçheren Menschen, nicht als Selbstzweck, obwohl er als Individuum ber den Mitmenschen stehen kann und soll, denn das Gesetz der Gleichheit ist eine Lge. Diesem Uebermenschen, den er so schaffen helfen wird, soll eine lichte Zukunft werden. Sie zu erringen, dienen aber nicht die Weltmden, die Zagen und Nimmerfrohen, whrend die Verchtlichen sich zum Opfer zu bringen nicht bereit sind. Geistiger Krieg also allem, was das Leben verneint oder hindert und schwcht; Krieg den eigenen mden und niedrigen Empfindungen und allem, was sie strkt; Erbarmungslosigkeit gegen das unheilbar Kranke und was verzweifeln will, sollten wir selbst uns in den Abgrund strzen mssen. Hart gegen uns, hart gegen die anderen. Bewusstes Wollen vor allem unseres hçchsten Zieles, der Vervollkommnung des Menschen, in Uebereinstimmung mit den physischen Gesetzen der Natur, denn Wollen ist Schaffen und Machterringen und verwandelt alles Zufllige in ein Bestimmtes: alles „du musst “in ein „ich will “, alles „so war es“ in ein „so wollte ich es“. Darin allein liegt unsere Erlçsung, denn es ist ein Wahn, das ein Nichtwollen eintreten kçnne, da es ein großes Jahr des Werdens gebe, das uns immer wieder gebre.
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Wer wird den neuen Weisen ernst nehmen und ihm folgen? Wer wird nur eine seiner Reden lesen, wre es auch nur um des rhythmischen und wahrhaft poetischen Gewandes willen, das sie fr jedermann auszeichnen? Sehr wenige wahrscheinlich, nach dem Bekanntwerden der frheren Schriften des Verfassers zu urteilen, welche zum allgemeinen Verstndnis der gegenwrtigen notwendig sind. „Doch was tuts“ wird er meinen! „Habe ich fr alle und habe ich nur fr die Zeitgenossen geschrieben?“
Widemann, Paul: Erkennen und Sein. Lçsung des Problems des Idealen und Realen, zugleich eine Erçrterung des richtigen Ausgangspunktes und der Principien der Philosophie. Karlsruhe und Leipzig, 1885, S. 239. Auf welche Weise die Philosophie sich zu einer solchen Lehre von der „Lebensfhrung nach Wirklichkeits-Idealen“ zu erweitern hat, dieß hat uns Eugen Dhring in seinem „Ersatz der Religion durch Vollkommeneres“ mit ebenso besonnenem als weitschauenden Geiste gezeigt, whrend uns Friedrich Nietzsche in seinem tiefsinnigen Evangelium vom bermenschen „Zarathustra“ in dichterischer Einkleidung ein lebendiges Stck solcher Lebensfhrung und eine klassische Formulirung des hçchsten Ideals alles menschlichen Strebens geboten hat. Reaktionen N an Franz Overbeck, Anfang Dezember 1885: „Schm[eitzner] selbst hlt meine Bcher jetzt fr Blei (sie werden berall unter die ,antisemitische Literatur‘ gerechnet, wie mir von den Leipziger Buchhndlern besttigt wird –, und nun macht mir gar der gute Widemann den Streich, mich in einem Athem mit dem greulichen Anarchisten und Giftmaule Eugen Dhring zusammen zu loben!) Vom Zarathustra sind nicht hundert Exemplare verkauft (und diese fast nur an Wagnerianer und Antisemiten!!)“ KGB III/3, Bf. 649, S. 117 N an Heinrich Kçselitz, 6. 12. 1885: „Zuletzt ist mir noch niemals eine solche Verunglimpfung zu Theil geworden als durch seine [Widemanns] Zusammenstellung der Namen ,Dhring‘ und ,Zarathustra‘: – an diesem Zeichen habe ich genug. Die Antisemiterei vernichtet allen feineren Geschmack, auch bei Zungen, die von Anfang an nicht belegt sind.“ KGB III/3, Bf. 650, S. 120
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Druskowitz, Helene: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886, S. 43–59. Zu den bemerkenswerthen Bemhungen, das uns beschftigende Problem zu lçsen, zhlt auch Friedrich Nietzsche’s originelles Buch: „Also sprach Zarathustra“.250 Es ist gar nicht daran zu zweifeln, daß der Verfasser, der in mancher Hinsicht eine exzeptionelle Stellung unter den Schriftstellern unserer Tage einnimmt, mit diesem Werke ein neues Evangelium geschaffen zu haben glaubt. Strebt er doch sogar die Form und den Ton der heiligen Bcher wiederzugeben, was ihm, dem Meister der Form, allerdings vortrefflich gelingt. Nietzsche’s zahlreiche Werke sind bis jetzt von Publikum und Kritik in hohem Maße unbeachtet geblieben. Bekannt, ja, eine hochverehrte Persçnlichkeit ist Nietzsche thatschlich nur in gebildeten, musikalischen Kreisen und dies sowohl infolge einer langjhrigen intimen Freundschaft mit Richard Wagner, als durch die Abhandlung: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“, welche nach dem Urtheile der Kenner die genialste Darstellung des Geistes der Wagnerschen Musik enthlt, und durch die glnzende Festschrift: „Richard Wagner in Bayreuth“, die auch in’s Franzçsische bersetzt wurde. Im Uebrigen wird der Name Nietzsche wohl oft genannt, als ein großer anerkannt, ohne daß man immer wßte, worauf dieser Ruhm sich grnde. Wir gestatten uns daher, bevor wir auf sein hier hauptschlich in Frage kommendes Werk eingehen, einige allgemeine Bemerkungen ber diesen Schriftsteller, sowie eine kurze Charakterisirung und Kritik seiner in frheren Werken niedergelegten Hauptgedanken, – eine Kritik, die freilich im Wesentlichen negativ ausfallen wird. Nietzsche ist vor allem ein knstlerischer Geist, ein Poet, was Empfindung, Feinsinnigkeit, Anschauungskraft und harmonische Schçnheit der Rede anbetrifft und als Stilist drfte er nur wenig Ebenbrtige haben. Er besitzt ferner eine von allem Schablonenhaften entfernte Denkweise, eine erstaunliche Geistesflle, einen großartigen Ueberblick ber die verschiedenen Gebiete des Lebens, der Kunst und Wissenschaft und ein sehr bestimmtes, ja souvernes Urtheil. Mit dieser Anerkennung drfte Nietzsche jedoch kaum zufrieden sein. Es ist gewiß, daß er sich wenigstens seit dem Erscheinen seines Werkes „Menschliches Allzumenschliches“ (1878) fr einen Philosophen hlt. Ist er dazu berechtigt, sind seine Werke philosophische Werke? Jedenfalls enthalten sie eine große Anzahl philosophischer Gedanken, seine Sammlungen von lngeren oder krzeren Reflexionen und Aphorismen, die er unter den zum Theil paradoxen Titeln „Menschliches Allzumenschliches“, „der Wanderer und sein Schatten“, „Morgenrçthe“ und „die frçhliche Wissenschaft“ herausgegeben hat, und in denen er, 250 Chemnitz, 1883 und 1884.
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Gedanken von verschiedenstem Gewichte und Werthe meist ganz unmethodisch aneinanderreihend, fast alle wichtigeren Fragen berhrt. Es ist in der That außerordentlich viel Geist in diesen Werken niedergelegt. Welchen Werth aber haben speziell die philosophischen Gedanken, die der Verfasser uns darin bietet? Da ist vor Allem zu bemerken, daß Nietzsche kaum ein Problem eingehend behandelt hat. Er gefllt sich darin, wo andere gearbeitet haben, in Winken und Andeutungen und geistreichen Bildern sich zu ergehen, er gefllt sich berhaupt mehr in der Rolle eines wissenschaftlichen Aufgabenstellers, als eines wissenschaftlichen Arbeiters. Ist er dazu berechtigt? Nach unserem Dafrhalten scheint seine Strke doch hauptschlich auf einem genialen Reproduktionsvermçgen zu beruhen. Er besitzt die Ueberlegenheit des Ausdrucks und der Form, und in der That hat er durch manches treffende Wort, durch manche neue Bezeichnung, durch manches glckliche Bild Resultate der Forschung und Spekulation in einer neuen Beleuchtung gezeigt, wodurch er freilich oft zu einer Stellungnahme den eigentlichen Urhebern dieser Gedanken gegenber gelangt, welche die Bescheidenheit vermissen lßt. Daß es in seinen Werken aber auch nirgends an originellen Gedanken, an feinen psychologischen Analysen und genialen Lichtblicken fehlt, kann nicht geleugnet werden. Im Allgemeinen lßt sich von seinen philosophischen Reflexionen sagen, daß die Behandlung der Probleme nicht mit ihrer Wichtigkeit harmonirt, daß Aussprche chter Weisheit mit nutzlosen Klgeleien und bedenklichen Sophistereien, Proben chten Scharfsinnes mit Paradoxien und mitunter recht bedauerlichen Mißgriffen wechseln, und daß sich der Verfasser fast in jedem Punkte widerspricht. Immerhin mssen wir besonders sein ungewçhnliches Reproduktionsvermçgen auf philosophischem Gebiete bewundern. Doch zeigt sich die Grenze seiner philosophischen Begabung, sobald er sich daran begibt, letzte Aufgaben und Ziele aus eigener Einsicht festzustellen. Sofort offenbart sich dann ein auffallender Mangel an gesundem Sinn fr die Wirklichkeit, an Befhigung, die richtige Mitte zu treffen. Obwohl Nietzsche von gewissen modernen Gedankenstrçmungen ergriffen ist, steht er andererseits den praktischen Fragen des Lebens vollkommen ferne, ist ein extremer Idealist, wenn es wirklich Idealist sein heißt, der Wirklichkeit keine Rechnung zu tragen. Antike Ideale und Zustnde schweben seinem Geiste vor, die keine Anwendung auf unsere Zeit finden, whrend er vielen der besten und edelsten zeitgençssischen Bestrebungen kalt gegenbersteht. Kein Wunder, wenn das Publikum auch ihm kalt gegenbersteht. Seinen großen Mangel an Befhigung zu einer gerechten und richtigen Schtzung des Lebens und des Menschen hat er sogleich in seiner ersten philosophischen Schrift, „Schopenhauer als Erzieher“251 (1874) bewiesen, wo der Gesellschaft die Aufgabe gestellt wird, den Genius hervorzubringen. Und nicht 251 Die Abhandlung bildet das dritte Stck der „Unzeitgemßen Betrachtungen“.
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etwa einer knftigen, idealen Gesellschaft, in welcher die Menschen ihre Menschenwrde zu wahren gelernt, in welcher sie allgemein eine grçßere geistige Reife und Bildung errungen, wird diese Aufgabe gestellt, sondern der Gesellschaft unserer Zeit der Imperativ: „Du sollst den Genius hervorbringen und fçrdern“ zugerufen. Freilich wrde dieser Imperativ jeder Gesellschaft als eine seltsame Forderung erscheinen mssen, aus dem einfachen Grunde, weil es nicht in ihrer Macht liegt, ihn zu erfllen. Nietzsche ist nun freilich von dem Gegentheile berzeugt. An dem Beispiele Schopenhauer’s, von dem er zur Zeit, als er die fragliche Schrift verfaßte, in geradezu unangenehmer Weise befangen war, will er zeigen, was die Gesellschaft zu lernen hat, um die Wiedergeburt des Genius und speziell Schopenhauer’s, um den es Nietzsche hier in erster Linie zu thun ist, oder des philosophischen Genius zu erleichtern, da dieselben Grnde die Entstehung des Genius verhindern mssen, welche seine Wirksamkeit erschweren. Was war nun wesentlich Schuld, frgt Nietzsche, daß Schopenhauer so lange harren mußte, bis endlich der Tag kam, wo er in einem freilich schmerzlich berhrenden Triumphe ausrief: legor et legar! Mangel an Einfachheit und Natrlichkeit seiner Zeitgenossen, lautet die Antwort. Deshalb meint Nietzsche, mßten die Freunde und Verehrer Schopenhauer’s gesammelt werden, um durch sie eine Strçmung zu erzeugen, welche die Wiedergeburt des philosophischen Genius erleichtere. Ein stark verirrter Heroencultus, eine vollstndige Kopfstellung des wirklichen Sachverhalts, des thatschlichen Verhltnisses zwischen Genius und Gesellschaft! Der Genius erçffnet der Gesellschaft, indem er sich entweder im Gegensatz zur Zeitstrçmung entwickelt, oder dem Ausdruck verleiht, was die Zeitgenossen nur dunkel empfinden, eine neue geistige Domne, von der die Gesellschaft oft nur allmhlich Besitz ergreifen lernt, die sie aber eben nicht schon vor dem Auftreten des Genius kennen kann, um sich gewissermaßen fr sein Erscheinen vorzubereiten. Mit der bloßen Natrlichkeit des Denkens und Empfindens ist gewiß nicht genug gethan. Die Gesellschaft bedarf einer gewissen geistigen Reife, um den Genius zu verstehen, diese kann der Gesellschaft aber nur wieder durch den Genius gegeben werden. So sehen wir, daß Nietzsche das Verhltniß zwischen Genius und Gesellschaft vollkommen schief faßt, ja den eigentlichen Sachverhalt vçllig umkehrt. Wie sich Nietzsche endlich die Fçrderung der Wiedergeburt des Genius durch die Gesellschaft vorstellt, ist uns ganz unerfindlich. An dem Gedanken, daß es der Natur nur auf den „heroischen Menschen“ ankomme, hat Nietzsche bis jetzt immer festgehalten. Als Nietzsche die Schrift ber Schopenhauer schrieb, hielt er sich selbst noch fr keinen Philosophen, noch glaubte er jemals einer zu werden, wie er
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ganz offen selbst eingestand252 ; er war damals nur ein enthusiastischer Anhnger Schopenhauer’s. Bald darauf vollzog sich in ihm eine vçllige Ablçsung von seinem alten Meister. Nietzsche war des unbedingten Anbetens mde geworden, sein Selbstgefhl war gewachsen und es ist kein Zweifel, daß er in „Menschliches Allzumenschliches“ einen bedeutungsschweren, selbstndigen Gedanken ausgesprochen zu haben meinte. Nietzsche war nmlich zur schmerzlichen Ueberzeugung gelangt, daß wir in all unseren Handlungen durch Motive determinirt seien und er zog, wie dies gewçhnlich der Fall ist, daraus den grundfalschen Schluß, daß es keinen Unterschied zwischen gut und bçse, daß es also weder moralische noch unmoralische Handlungen gebe, daß die Tugend keine Bewunderung verdiene, daß es ein logischer Irrthum sei, sich ber das Laster zu erzrnen und den Verbrecher zu bestrafen. Bei dieser Erkenntniß konnte Nietzsche sich jedoch nicht beruhigen, bis ein trçstlicher Gedanke ihm zu Hlfe kam. „Dafr aber gibt es einen Trost“, lesen wir zum Schlusse des Kapitels „Zur Geschichte der moralischen Empfinden“253, „solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Hlle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreißt sie, da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit fhig sind – wie wenige werden es sein! – wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit aus einer moralischen in eine weise Menschheit verwandelt werden kçnne. … Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthmlichen Schtzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluß der wachsenden Erkenntniß wird sie schwcher werden; eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Ueberschauens, regt sich allmhlich in uns auf demselben Boden, und er wird in Tausenden von Jahren vielleicht mchtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen, unschuldbewußten Menschen ebenso regelmßig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewußten Menschen – das heißt, die nothwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem – hervorbringt.“ Die Mçglichkeit einer weisen Menschheit ist ein Gedanke, auf den in der That vorher niemand verfallen ist. Spinoza hielt eine Denkergemeinde fr mçglich, in der Niemand Aergerniß geben wrde. Zu dem Gedanken einer „weisen Menschheit“ wrde er den Kopf geschttelt haben. Der Verstand sollte wirklich je die Macht haben kçnnen, Herr ber die ursprnglicheren Gewalten der Gefhle zu werden? Und gesetzt, er sollte ein solcher Zauberer zu werden vermçgen, wrden mit den ethischen Empfindungen nicht auch die stheti252 Man bringe folgende Stellen in Zusammenhang: p. 92: „Ein Gelehrter kann nie ein Philosoph werden“ und p. 97: „Aber schon Kant war, wie wir Gelehrte zu sein pflegen, rcksichtsvoll und unterwrfig.“ 253 p. 91
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schen schwinden und schließlich außer einem untrglichen Verstande nur mehr die niedrigsten Empfindungen brig bleiben? Wenn ein Herbert Spencer von einem Zukunftszustande der Gesellschaft trumt, in welchem die persçnlichen und allgemeinen Interessen sich in vollkommener Harmonie befinden werden, so ist dies ein schçner Traum und es gibt Momente, wo man an seine Verwirklichung glauben kann, whrend Nietzsche’s Utopie ein hçchst unerquickliches Zukunftsbild bietet. Es lßt sich um so weniger begreifen, daß Nietzsche sich bei diesem Gedanken beruhigte, da er sich kurz vorher folgendermaßen ußert254 : „Es sind nur die allzunaiven Menschen, welche glauben kçnnen, daß die Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden kçnne; wenn es aber Grade der Annherung an dieses Ziel geben sollte, was wrde nicht Alles auf diesem Wege verloren gehen mssen!“ Uebrigens kçnnen wir uns auch mit diesem Ausspruche nicht fr einverstanden erklren, da wir die ihm zu Grunde liegende Anschauung, daß unsere moralischen Urtheile auf Irrthmern des Intellekts beruhen, verwerfen mssen. Doch erachten wir es nicht als unsere Aufgabe, an dieser Stelle unsere eigene Anschauung ber diesen Punkt zu entwickeln. Wenn Nietzsche an einer Stelle der „Morgenrçthe“ (1881) dem Gedanken Ausdruck giebt, daß man den Menschen das Vertrauen zu ihren als egoistisch verschrieenen Handlungen zurckgeben solle, da man dadurch dem Leben den bçsen Anschein nimmt und der Mensch aufhçrt, bçse zu sein, wenn er sich nicht mehr fr bçse hlt, so ist das eine sehr gewagte Behauptung. Geradezu befremdend ferner ist die Stellung, welche Nietzsche dem Mitleid gegenber einnimmt. Er sieht darin nur eine Manifestation des Machtgefhls, eine „angenehme Regung des Aneignungstriebes“, das angenehmste Gefhl bei solchen, welche wenig stolz sind und wenig andere Eroberungen machen kçnnen. Es ist ihm nichts als eine moralische Mode und der Mitleidige nur eine spezielle Art Egoist. Nietzsche hat ja tausendmal Recht, wenn er die intellektuelle Leichtfertigkeit tadelt, mit welcher gewçhnlich Wohlthaten erwiesen werden, und, mit Hinblick auf Comte’s Lehre, vor den Gefahren des zu weit getriebenen Altruismus warnt. Doch unterscheidet Nietzsche nicht zwischen dem plumpen, beleidigenden Zufahren derjenigen, die zu keiner hçheren Gefhlskultur gelangt, ihren Impulsen folgen, und den edlen Formen des wahrhaften Mitgefhls. Das chte Mitgefhl, dessen nur der wahrhaft sittliche, phantasievolle und verstndige Mensch fhig ist, will nicht Gewalt ben, will nicht beleidigen. Wie fast in jedem Punkte widerspricht sich Nietzsche auch in diesem. In „Die frçhliche Wissenschaft“ heißt es: (Nr. 74) „Was ist das Menschlichste? Jemandem Scham ersparen.“ Aber ist Jemandem Scham ersparen nicht auch eine Form des Mitgefhls? Der tiefste Grund, weshalb Nietzsche das Mitleid so 254 p. 33
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geringschtzig behandelt, ist das Bewußtsein, daß es Flle gibt, wo das Wohl des Nchsten einem hçheren Zwecke geopfert werden muß. So heißt es in dem Abschnitte „Auch ber den Nchsten hinweg“ in „Morgenrçthe“255 : „das Wesen des wahrhaft Moralischen liege darin, daß wir die nchsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen fr den Andern in’s Auge fassen und uns darnach entscheiden? Dies ist nur eine enge und spießbrgerliche Moral, wenn es auch eine Moral sein mag. Aber hçher und freier scheint es mir gedacht, auch ber diese nchsten Folgen fr den Andern hinwegzusehen und entferntere Zwecke, auch unter Umstnden durch das Leid des Anderen, zu fçrdern, zum Beispiel die Erkenntniß zu fçrdern, auch durch die Einsicht, daß unsere Freigeisterei zunchst und unmittelbar die Andern in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird.“ Wir mssen Nietzsche dankbar sein, daß er diesen Gesichtspunkt krftig hervorgehoben. Weil es aber in gewissen Fllen hçhere Rcksichten giebt, als das Wohl der Mitmenschen, so sind dies eben doch nur Ausnahmeflle und wie wrde das Leben verarmen, wenn das Mitgefhl daraus schwinden wrde! Was uns bei Nietzsche am Sympathischsten berhrt, das ist sein Betonen der Mitfreude, deren Bestehen manche Philosophen, z. B. Hobbes, geleugnet; des intellektuellen Gewissens, welches in der That nur bei den Allerwenigsten sich geltend macht und seine muthige freudige Lebensbejahung mit einem stolzen Ausblick in die Ferne, doppelt wohlthuend bei einem einstigen Jnger Schopenhauer’s. Dieselbe hat in „Also sprach Zarathustra“, Nietzsches letztem Werke, zu dem wir sofort bergehen werden, den intensivsten, doch freilich einen verfehlten Ausdruck erhalten. Sympathisch endlich berhrt auch Nietzsche’s krftiger Individualismus, nur daß Nietzsche auch darin zu weit geht, wenn er im Widerspruch mit seiner Geringschtzung des Durchschnittsmenschen, Jeden fr ein Unicum hlt und die Berechtigung allgemein bindender Gesetzte verneint. Was will Nietzsche schließlich in „Also sprach Zarathustra“ lehren? Wir erwhnten bereits, daß Nietzsche mit diesem Werke offenbar ein neues Evangelium geschaffen zu haben glaubte und daß er darin selbst die Form der heiligen Bcher wiedergegeben hat, ohne daß wir dies billigen kçnnten. Wenn die alte Sprache auch den Vortheil einer grçßeren Wucht und Kraft bietet, so ist sie doch nicht fhig unsere modernen verfeinerten Empfindungen und Gedanken wiederzugeben. Wer sich deshalb dieser Sprache bedient, wird einer vergrçbernden Rckwirkung auf seine Gedanken nicht entrathen kçnnen, wie sich auch in Nietzsche’s Werk nur zu deutlich zeigt. Da hat W. M. Salter in dem Buche, das wir bald besprechen werden, den Ton weit richtiger getroffen, in dem man heute eine Lehre vortragen muß, um die Herzen zu entflammen. 255 p. 142 (Nr. 146)
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Der „Zarathustra“ zu Grunde liegende Gedanke ist eine Consequenz des Darwinismus und schon vor Nietzsche wiederholt ausgesprochen worden. Doch muß Nietzsche das Verdienst eingerumt werden, denselben affektiver erfaßt zu haben, als irgend ein Anderer. Freilich wird Nietzsche durch den Affekt, wie so oft, dazu verleitet, weit ber das Ziel hinauszuschießen. Wir citiren die Hauptstelle aus Zarathustra’s erster Rede, die er an die versammelte Volksmenge richtet, damit der Leser aus den Worten des Helden den Hauptgedanken des Buches entnehme und sich eine Vorstellung von der Art bilde, wie der Verfasser Zarathustra sprechen lßt256 : „Ich lehre euch den Uebermenschen. Der Mensch ist etwas, das berwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu berwinden?“ „Alle Wesen bisher schufen etwas ber sich hinaus und ihr wollt die Ebbe dieser großen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurckgehn, als den Menschen berwinden?“ „Was ist der Affe fr den Menschen? Ein Gelchter und eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch fr den Uebermenschen sein, ein Gelchter und eine schmerzliche Scham.“ „Ihr habt den Weg vom Wurm zum Menschen gemacht und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wret ihr Affen und jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe.“ „Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und Gespenst. Aber heiße ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden?“ „Seht, ich lehre euch den Uebermenschen! Der Uebermensch ist der Sinn der Erde! Euer Wille sage: der Uebermensch sei der Sinn der Erde!“ „Ich beschwçre euch, meine Brder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von berirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.“ „Verchter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde mde ist: so mçgen sie dahinfahren!“ „Einst war der Frevel an Gott der grçßte Frevel, aber Gott starb und damit starben auch diese Frevelhaften. An der Erde zu freveln, ist jetzt das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen hçher zu achten als den Sinn der Erde.“ … „Was ist das Grçßte, das ihr erleben kçnnt? Das ist die Stunde der großen Verachtung, die Stunde, in der euch auch euer Glck zum Eckel wird und ebenso eure Vernunft und euere Tugend.“ „Die Stunde, wo ihr sagt: Was liegt an meinem Glcke! Es ist Armuth und Schmutz und ein erbrmliches Behagen. Aber mein Glck sollte das Dasein selber rechtfertigen.“ 256 p. 9 ff.
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„Die Stunde, wo ihr sagt: Was liegt an meiner Vernunft! begehrt sie nach Wissen, wie der Lçwe nach seiner Nahrung? Sie ist Armuth und Schmutz und ein erbrmliches Behagen!“ „Die Stunde, wo ihr sagt: Was liegt an meiner Gerechtigkeit! Ich sehe nicht, daß ich Gluth und Kohle wre! Aber der Gerechte ist Gluth und Kohle!“ „Die Stunde, wo ihr sagt: Was liegt an meinem Mitleiden! Ist nicht Mitleid das Kreuz, an das der genagelt wird, der die Menschen liebt? Aber mein Mitleiden ist keine Kreuzigung!“ „Spracht ihr schon so? schriet ihr schon so? Ach, daß ich euch schon so schreien gehçrt htte! Nicht eure Snde – eure Gengsamkeit schreit zum Himmel, euer Geiz selbst in euern Snden schreit gegen Himmel!“ „Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge leckte? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden mßtet?“ „Seht, ich lehre euch den Uebermenschen, der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!“ …… „Der Mensch ist ein Seil, geknpft zwischen Thier und Uebermensch – ein Seil ber einem Abgrunde!“ „Ein gefhrliches Hinber, ein gefhrliches auf dem Wege, ein gefhrliches Zurckblicken, ein gefhrliches Schaudern und Stehenbleiben.“ „Was groß ist im Menschen, das ist, daß er eine Brcke und kein Zweck ist; was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Uebergang und ein Untergang ist!“257 Zunchst ist zu bemerken, daß die Stellung, die dem Menschen von Zarathustra eingerumt wird, eben keine erfreulich ist. Soll der Mensch auch in eine hçhere Ordnung bergehen, so ist es ein hßlicher und unwrdiger Gedanke, ihn zu dieser in einem Verhltniß stehend zu denken, gleich demjenigen des Affen zum Menschen. Welche Zumuthung, daß der Mensch darnach streben soll, einen hçheren Typus hervorzubringen, dem er nur ein „Gelchter und eine schmerzliche Scham“ sein wird! Und was soll man zu dem Ausspruche sagen, daß der Mensch allein bis jetzt nichts ber sich hinausgeschaffen hat, 257 Daß der Gedanke von diesem „Uebergang“ und „Untergang“ des Menschen ganz plçtzlich in Nietzsche erwacht ist, ersehen wir aus folgender Stelle in „Morgenrçthe“, woselbst Nietzsche der entgegengesetzten Anschauung Ausdruck giebt (p. 44 Nr. 49): „Ehemals suchte man zum Gefhl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf eine gçttliche Abkunft hinzeigte; dies ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thre steht jetzt der Affe nebst anderem greulichen Gethier. … So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung. Der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottes Verwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es Nichts! … Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben mçge – und vielleicht wird sie gar tiefer als am Anfange stehen! – es giebt fr sie keinen Uebergang in eine hçhere Ordnung, so wenig wie die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer Erdenbahn zur Gottesverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen.“
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whrend alle anderen Lebewesen es thaten? Man muß bedauern, bei einem Schriftsteller wie Nietzsche einen so schiefen Gedanken zu finden. Ferner: es kann immer nur als Mçglichkeit hingestellt werden, daß der Mensch einst in eine hçhere Ordnung bergehen werde, keineswegs aber als Gewißheit. Es ist eine außerordentliche Vollkommenheit des Menschen denkbar, ohne daß die Idealwesen der Zukunft den menschlichen Typus bereits berschritten htten. Jene Eigenschaften, welche Nietzsche als fr den Uebermenschen charakteristisch hervorhebt, sind thatschlich in menschlichen Genies verkçrpert gewesen, da der Uebermensch aber offenbar auch das Genie berragen muß, so giebt uns Nietzsche im Grunde keine Anhaltspunkte dafr, wie wir uns denselben vorzustellen haben. Ist der Uebermensch aber keine Gewißheit, so lßt er sich schon aus diesem Grunde nicht als Ziel des menschlichen Strebens hinstellen. Es ließe sich dies jedoch selbst dann nicht, gesetzt jener Uebergang wre sicher verbrgt, weil wir die Bedingungen des Entstehens eines neuen Typus nicht kennen, und weil das Ideal des menschlichen Strebens berhaupt keine bestimmte Verkçrperung duldet. Es wchst mit des Menschen Wachsthum, je hçher der Mensch, um so hçher sein Ideal. Auch der Uebermensch wre nur die Realisirung einer bestimmten Entwicklungsstufe des Ideals, – er kann also nicht als letztes Ziel hingestellt werden. So erweist sich der Grundgedanke des „Zarathustra“ in jeder Hinsicht als ein irriger. Nichtsdestoweniger gehçrt das Werk als Ganzes betrachtet zu den eigenthmlichsten Erscheinungen der paradoxen Literatur. Reaktionen N an Carl Spitteler, 17. 9. 1887: „(Die kleine Litteratur-Gans Druscowicz ist Alles Andere als meine ,Schlerin‘…).“ KGB III/5, Bf. 914, S. 159
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I., H.: Leserbrief in der Antisemitischen Correspondenz mit Erwhnung Zarathustras. In: Antisemitische Correspondenz, und Sprechsaal fr innere Partei-Angelegenheiten. Leipzig, Nr. 7, September 1886, S. 7 f. Herrn Th. Fritsch, Leipzig. Geehrter Herr! Jena, den 23. Juli 86. Wie agitirt man am wirksamsten? Wenn diese Frage bisher keine Beantwortung in der „A. C.“ gefunden hat, so ist sie selbst schuld. Die beiden vorhergehenden Fragen bezogen sich auf einen einheitlichen Gegenstand, der jeden dazu auffordert, sein Maß von Vernunft oder Unvernunft daran auszulassen; dagegen handelt es sich hier um eine Verkehrsfrage, die nicht gut in ihrer Allgemeinheit zu beantworten ist, weil sie so viele Antworten zulßt, als es Persçnlichkeiten und Verhltnisse zwischen Personen giebt. Der Eine benutzt jede Gelegenheit, Verstndniß zu erwecken, auch – dort, wo er scheinbar gar kein Verstndniß findet, auf das treue Beharren seinerseits und den hieraus hervorgehenden, berzeugenden Einfluß fußend, der Andere hlt sich von Allen, die noch stumpf geblieben sind, fern; vielleicht erreicht er, indem er zwischen sich und allem Judenfreundlichen das Tischtuch zerschneidet, noch mehr als jener; und so ließe sich die Frage, wie man agitiren soll, noch in mancher anderen Weise beantworten, je nach Maßgabe der Personen und Beziehungen. Die Frage ist aber nicht so wichtig, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag; es liegen eine Flle antisemitischer Anregungen in der Luft, daß jeder schrfer Urtheilende sich unterrichten kann; an denjenigen aber, welche auch jetzt noch wegen Stumpfheit, Roheit oder Fremdartigkeit diese schrille Dissonanz unseres Lebens bersehen, ist so viel nicht gelegen, als daß man sich um ihretwegen viele Mhe geben sollte. Eine Reihe Halber- und Viertelspersonen, die noch zu gewinnen sind, bleiben besser von einer ganzen Sache fern, wenn diese Sache nicht selbst zu einer Halben- oder Viertelsache werden soll. Es ist sicher ein Vorurtheil, wenn man alles Wnschenswerthe von einer antisemitischen Volksmehrheit erwartet; eine solche Mehrheit, von der manche sprechen, ist nur wegen der Unfhigkeit der Deutschen und Fhigkeit der Juden im Verdrehen und Verrcken – ein Unding; wir sollten dagegen das Vertrauen zu der personenbildenden Macht unseres Volksthums pflegen, daß sich ber ein Kurzes diejenige wrdevolle Persçnlichkeit finden wird, welche ber den Kçpfen der Masse (alles Große geschieht ber den Kçpfen der Masse) mit den Juden abrechnet, sei das nun ein Erbe des preußischen Kçnigsthrons, oder ein aus dem Volke stammender Verbesserer und Reiniger. Vielleicht ist er schon
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unter uns! Diese Hoffnung aber ist dazu angethan, das Agitationsfeld in die eigene Brust zu verlegen und diejenige Getragenheit und Klarheit anzustreben, die immer in einer grçßeren Anzahl von Menschen vorhanden sein muß, ehe aus ihrer Mitte ein großer Reiniger hervorgeht. Alles Große ist aristokratisch, wenn es auch nicht an die buchfhrenden Adelsgeschlechter geknpft zu sein braucht. Wenn nun zwischen den beiden eingangs dieser Zeilen angedeuteten Arten zu agitiren die Wahl gestellt ist, so mçchte ich die zurckweisende; sie erçffnet noch die Aussicht, daß alle Judenfreunde eines Tages bettelnd zu uns kommen, weil ihre Nchternheit ihnen selbst zum Ekel geworden ist und weil sie Hunger nach wirklicher auf dem Boden des Ursprnglich-Eigenen erwachsenen Kost empfingen, was doch sicher auch ein agitatorischer Erfolg wre. Dazu kommt, daß alles große geschichtliche Geschehen vorhergehender Ruhe bedarf, tiefen ungestçrten Athmens und Krftesammelns. Wir alle thun gut, den Lrm und das Geschrei der Massen zu fliehen und wie Buddha eine Zeitlang in die Wste zu gehen. „Fliehe dorthin, wo raue starke Luft weht. Also sprach Zarathustra“. (s. Nietzsche.) Auch darber mssen wir uns klar sein, daß die Judenfrage nur ein wenn auch besonderes greifbares Stck unserer Zukunftstragçdie ist, in der es sich um „Sein oder Nichtsein“ handelt.
Stoltheim, Roderich F. [d.i. Fritsch, Theodor]: Leserbrief. In: Antisemitische Correspondenz, und Sprechsaal fr innere Partei-Angelegenbeiten. Leipzig, Nr. 8, November 1886, S. 8. Geehrte Redaction! Hannover, den 23. Sept. 1886. Aehnliches wie die Ansichten des Herrn Dr. H-I ber „Agitation“ habe ich schon çfters gehçrt. Es sind diese Ansichten aber Frchte der weltentrckten Studirstube. Das Geheimniß des practischen Lebens hat sich solchen Leuten noch nicht entschleiert. Entgegen der Meinung des Herrn Dr. H-I behaupte ich, daß die Agitations-Frage die allerwichtigste ist. Die „antisemitischen Anregungen“ liegen fr den im Alltagsleben Stehenden durchaus nicht so zahlreich in der Luft, und wenn sie auch vorliegen, so fehlt es doch der Mehrzahl noch an dem geeigneten Gesichtspunkte – gewissermaßen an der Bri11e, um diese Verhltnisse richtig zu erkennen. Es sind nicht blos Leute voll „Stumpfheit und Rohheit“, die „diese schrille Dissonanz des Lebens bersehen“, sondern vielen der edelsten und ge-
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wecktesten Menschen ist die ganze Semitenfrage noch ein Buch mit sieben Siegeln, weil man ihnen bisher diese Angelegenheit stets unter einem falschen Gesichtswinkel gezeigt hat. Und wie bei der heutigen Staats-Verfassung ein Einzelner „ber die Kçpfe der Masse hinweg“ die Judenfrage lçsen soll, ist mir auch unverstndlich. Mßte das nicht ein Dictator sein? Und was wrde das verblendete Volk zu Maaßregeln sagen, deren Grund und Zweck es nicht begriffe? Wrde es nicht mit Erfolg von den Junden [sic] gegen einen solchen Machthaber zum Aufruhr verleitet werden? – Nein, diese Frage ist nicht ohne die Masse zu 1çsen! Es ist ja ein Stck neue Welt-Anschauung, die im Antisemitismus liegt, und was kann es fr Sinn haben, dabei die Masse ausschließen zu wollen? Man htte dann frher ebenso gut sagen kçnnen: Wir wollen das Christenthum einfhren, aber ohne daß die Masse etwas davon erfhrt! Und der Antisemitismus hat – wie hier schon wiederholt ausgesprochen worden ist – noch eine hçhere Aufgabe, als die bloße Lçsung der Judenfrage. Er ist ein Cultur-Moment, das einen dauernden Segen nach sich zieht. Er hebt das Menschenthum auf ein hçheres Niveau der Erkenntniß und der sittlichen Reife; er ist ein Volks-Erziehungs-Mittel! Dieses wichtigen Momentes wrden wir uns begeben, wenn wir die Judenfrage „ber die Kçpfe der Masse hinweg“ lçsen wollten. Wir wrden damit dem Volke etwas schenken, dessen Werth es gar nicht begriffe, und frher oder spter wrde es dieselbe Thorheit begehen und dem semitischen Lug und Trug aufs Neue zum Opfer fallen. Nein, Alle mssen sie mitarbeiten an dieser Selbstluterung des Volksthums. Jeder einzelne an sich und an seiner Umgebung muß diesen Kampf mit durchkmpfen helfen. Nur dann ist der Sache gengt! Ich weiß nicht, was Herr Dr. H-I noch „in der eignen Brust“zu agitiren und zu reformiren hat. Ich bin mit dieser Arbeit bei mir fertig und empfinde den Drang und die Pflicht, Anderen bei dieser Arbeit behilflich zu sein. Und deshalb muß ich agitiren! Fr mich ist dieses behagliche Selbstverschließen, das sich immer schon an der eignen Gte genug sein lßt und die Uebrigen ihrem Schicksal anheimgiebt, unverstndlich. Freilich rt Zarathustra: „Fliehe dorthin, wo rauhe starke Luft weht!“ – in die Einsamkeit, – aber nicht um dort zu bleiben. Sondern, wenn du dich selbst gelutert und geklrt hast, so bringe dein Erkanntes der brigen Menschheit. Die erbarmende Weisheit lßt sich nicht an sich selbst gengen, sie will Anderen ihr Licht und ihre Wrme spenden. Deshalb trat Zarathustra, als er 10 Jahre in der Einsamkeit gelebt hatte, eines Morgens vor die Sonne hin und sprach: „Du großes Gestirn! Was wre dein Glck, wenn du Die nicht httest, denen du leuchtest! – Siehe, ich bin meiner Weisheit berdrssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat; ich bedarf der Hnde, die sich ausstrecken. – Ich mçchte verschenken uns austheilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres
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Reichthums froh werden, – Dazu muß ich in die Tiefe steigen, wie du des Abends thust, wenn du hinter das Meer gehst. Also sprach Zarathustra.“ – Lasset uns hingehen und das Gleiche thun!
Busse, Otto: Leserbrief. In: Antisemitische Correspondenz, und Sprechsaal fr innere Partei-Angelegenbeiten. Leipzig, Nr. 9, Januar 1887, S. 8. Sehr geehrter Herr Fritzsch! In Nr. 7 und Nr. 8 der Antisemitischen Correspondenz sind zweimal an Sie gerichtete Schreiben enthalten, in welchen jedesmal Stellen aus einem der Werke von Friedrich Nietzsche – „Also sprach Zarathustra“ – citirt wurden. In dem ersten der beiden Schreiben heißt es: „Es ist sicher ein Vorurtheil, wenn man alles Wnschenswerte von einer antisemitischen Volksmehrheit erwartet,“ – und dann wird darauf verwiesen, daß wir es aller Wahrscheinlichkeit nach nur von einzelnen hervorragenden Persçnlichkeiten zu erwarten haben wrden; – der andere Verfasser scheint derselben Ansicht zuzuneigen, – sich aber einen Sieg erst von der Mitwirkung zahlreicher kleiner Krfte im Volke versprechen zu kçnnen – darum sollen diese Krfte herangezogen werden und wenn ich unter Bercksichtigung des schçnen Citates aus Nietzsches Werken recht verstanden habe, sollen besonders auch gemeinsame Aeußerungen unsrer edleren Wnsche herbeigefhrt werden. – Das scheint mir auch richtig zu sein, – denn wann und wo berall Wnsche des Volkes geußert werden, lernen wir sie kennen und desto eher finden sich hervorragende Persçnlichkeiten, welche darnach trachten, das Werthvollere der Wnsche zu erfllen oder dafr zu sorgen, daß sie erfllet werden. Diese Neigung liegt nun mal in der arischen Natur; so kam ja auch die Einigung Deutschland’s zu Stande. – Unsre Wnsche beziehen sich auf unser Glck, – aber nicht alles Gewnschte ist des Wnschens wert. – Das Wnschenswerte haben wir von Denen zu erwarten, welche die thatschlichen Wnsche unseres Volkes kennen, – außerdem aber auch zu entscheiden vermçgen, welche von diesen Wnschen fr unser Volk das Wnschens werte oder Wnschens wrdige sind. – Jemehr wir von dieser Art Persçnlichkeiten haben, um so besser. – Wie Kinder mit ihren Wnschen zu den Eltern kommen und auch zu Leuten, zu denen sie Vertrauen haben, – und wo sie nicht kçnnen, fhlen sie sich unglcklich, – so mßten sie in reiferem Alter in Gemeinschaften zum Kçnige kommen kçnnen und die Krone legte die geluterten Volkswnsche einer Ehrfurcht-gebietenden Mnnerversammlung zur Entscheidung darber
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vor, ob dieselben das Wnschens-Werte sind oder nicht; – demgemß wrden sie von der Krone zu Gesetzen erhoben oder nicht. – Nach einem solchen leitenden Grundstze – „dem Wnschen und Entscheiden des Wnschenswerten“ – wrde sich unser Gesetzgebungsverfahren in vortrefflicher Weise ordnen lassen. – Weise Mnner, welche ber jeden Partei-Standpunkt erhaben sind, wrden sich mit der Zeit immer leichter untereinander aufzufinden wissen und ein Areopag von hundert derart ausgezeichneten Persçnlichkeiten mçchte sich in Deutschland bilden lassen. Wenn dies aber mçglich ist, wird es in Zukunft auch nicht nçtig sein, – „Gesetzgeber zu whlen.“ Angenommen aber, es wrde der Ausnahmefall eintreten, wie in dem ersten der beiden Schreiben erdacht, das unter uns ein aus dem Volke stammender Verbesserer und Reiniger aufstnde von der Bedeutung des Zarathustra – (und das ist wohl Friedrich Nietzsche’s großartiger Gedanke, bei dem ich so gern verweile und wer mçchte es nicht mit ihm wnschen, daß es geschhe) – der Reinheit im Denken, Reden, Handeln hochhlt, in der arischen Bevçlkerung von Neuem zur Geltung bringt, der gleich andern großen Gesetzgebern sich auszeichnet dadurch, daß er sowohl fr die Gegenwart, als auch ber die Gegenwart hinaus fr viele kommende Geschlechter zu denken und zu sorgen versteht, uns zu einfachen, das heißt großen Gesetzen verhilft. Was wrde dieser Mann in’s Werk setzen – wie wrde er den von ihm als heilsam, erkannten gesellschaftlichen Einrichtungen unter den heutigen Verhltnissen Eingang verschaffen – was wrde er reinigen – verbessern!? – Das sind Gedanken – Fragen, welche die beiden Verfasser sehr gut anzuregen verstehen und mir gefllt es namentlich auch, daß sie so ausnehmend schçne Citate zu whlen wissen. – Reaktionen N an Heinrich Kçselitz, 30. 3. 1881: „Nun noch ein Wort von unseren Bekmmernissen! Herr Otto Busse macht seinen Verwandten und Freunden die grçßte Sorge (– voller Grçßenwahn, (in Bezug auf sich und mich!)) und diese wenden sich nun an mich! – meinend, ich htte ihm etwas in den Kopf gesetzt! Das soll ich nun wieder hinausschaffen! Er hlt sich fr den Reformator der Deutschen und mich fr die ,Autoritt der Autoritten‘ – kurz: Muhammed und Allah! Er behauptet, daß ,wissenschaftliche Werke‘ von ihm in meinen Hnden seien! fr die die Deutschen noch nicht reif seien! u.s.w. Alles unter sieben Siegeln Ihnen anvertraut.“ KGB III/1, Bf. 97, S. 78
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N an Heinrich Kçselitz, 27. 11. 1881: „Dieser Herr Busse! Aber es waren ein paar so delikate Empfindungen in seinem Briefe, daß ich ergriffen war – ergriffen und voller Spott ber mein Schicksal! Niemand (wenn ich einen einzigen Menschen ausnehme –) hat mich bis jetzt so geehrt wie dieser arme Herr Busse. Senden Sie nur seine Sendschreiben, ich will ihm sogar antworten – : er ist mein ganzes ,Publikum‘.“ KGB III/1, Bf. 171, S. 143 Otto Busse an N, 9. 2. 1887: „In der Nr. 9 der Antisemitischen Correspondenz, einem Blatte, welches bei Herrn Theodor Fritsch in Leipzig erscheint, ist ein an denselben gerichtetes Schreiben von mir vom 18. Dezember v. J. abgedruckt worden, in welchem ich mehreremale Ihres geschtzten Namens und Ihrer Werke Erwhnung getan.“ KGB III/6, Bf. 432, S. 17 f N an Theodor Fritsch, 23. 3. 1887: „Sie erweisen mir in Ihrem eben angelangten Briefe so viel Ehre, daß ich nicht umhin kann, Ihnen noch eine Stelle aus meiner Litteratur zu verrathen, die sich mit den Juden beschftigt: sei es auch nur, um Ihnen ein doppeltes Recht zu geben, von meinen ,schiefen Urtheilen‘ zu reden. Lesen Sie, bitte, ,Morgenrçthe‘ p. 194. Die Juden sind mir, objektiv geredet, interessanter als die Deutschen: ihre Geschichte giebt viel grundstzlichere Probleme auf. Sympathie und Antipathie bin ich gewohnt bei so ernsten Angelegenheiten aus dem Spiele zu lassen: wie dies zur Zucht und Moralitt des wissenschaftlichen Geistes und – schließlich – selbst zu seinem Geschmack gehçrt“ KGB III/5, Bf. 819, S. 45 N an Theodor Fritsch, 29. 3. 1887: „hiermit sende ich Ihnen die drei bersandten Nummern Ihres Correspondenz-Blattes zurck, fr das Vertrauen dankend, mit dem Sie mir erlaubten, in den Principien-Wirrwarr auf dem Grunde dieser wunderlichen Bewegung einen Blick zu thun. Doch bitte ich darum, mich frderhin nicht mehr mit diesen Zusendungen zu bedenken: ich frchte zuletzt fr meine Geduld. Glauben Sie mir: dieses abscheuliche Mitredenwollen noioser Dilettanten ber den Werth von Menschen und Rassen, diese Unterwerfung unter ,Autoritten‘, welche von jedem besonneren Geiste mit kalter Verachtung abgelehnt werden (z. B. E. Dhring, R. Wagner, Ebrard, Wahrmund, P. de Lagarde – wer von ihnen ist in Fragen der Moral und Historie der unberechtigste, ungerechteste?), diese bestndigen absurden Flschungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe ,germanisch‘, ,semitisch‘, ,arisch‘, ,christlich‘, ,deutsch‘ – das Alles kçnnte mich auf Dauer ernsthaft erzrnen und aus dem ironischen Wohlwollen herausbringen, mit dem ich bisher den tugendhaften Velleitten und Pharisismen der jetzigen Deutschen zugesehen habe. – Und zuletzt, was glauben Sie, das ich empfinde, wenn der Name Zarathustra von Antisemiten in den Mund genommen wird?…“ KGB III/5, Bf. 823, S. 51
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N in Nachgelassene Fragmente Ende 1886 – Frhjahr 1887: „Inzwischen hat ein sonderbarer Herr, Namens Theodor Fritsch aus Leipzig mit mir correspondiert: ich konnte nicht umhin, da er zudringlich war, ihm ein paar freundliche Fußtritte zu versetzen. Diese jetzigen ,Deutschen‘ machen mir immer mehr Ekel.“ KGW VIII/1, S. 203 N in Nachgelassene Fragmente Ende 1886 – Frhjahr 1887: „Neulich hat ein Herr Theodor Fritsch aus Leipzig an mich geschrieben. Es giebt gar keine unverschmtere und stupidere Bande in Deutschland als diese Antisemiten. Ich habe ihm brieflich zum Danke einen ordentlichen Fußtritt versetzt. Dies Gesindel wagt es, den Namen Z[arathustras] in den Mund zu nehmen! Ekel! Ekel! Ekel!“ KGW VIII/1, S. 329 N an Franz Overbeck, 24. 3. 1887: „Anbei ein komisches Faktum, das mir mehr und mehr zu Bewußtsein gebracht wird. Ich habe nachgerade einen ,Einfluß‘, sehr unterirdisch, wie sich von selbst versteht. Bei allen radicalen Parteien (Socialisten, Nihilisten, Antisemiten, christl[ichen] Orthodoxen, Wagnerianern) genieße ich eines wunderlichen und fast mysteriçsen Ansehens. Die extreme Lauterkeit der Atmosphre, in die ich mich gestellt habe, verfhrt … Ich kann meine Freimthigkeit selbst mißbrauchen, ich kann schimpfen, wie es in meinem letzten Buche geschehen ist – man leidet darunter, man ,beschwçrt‘ mich vielleicht, aber man kommt nicht von mir los. In der ,antisemitischen Correspondenz‘ (die nur privatim versandt wird, nur an ,zuverlssige Parteigenossen‘) kommt mein Name fast in jeder Nummer vor. Zarathustra ,der gçttliche Mensch‘, hat es den Antisemiten angethan; es giebt eine eigne antisemitische Auslegung davon, die mich sehr hat lachen machen.“ KGB III/5, Bf. 820, S. 48.
XV Jenseits von Gut und Bçse Reaktionen N an Heinrich Kçselitz, 5. 7. 1886: „Helfen Sie, lieber Freund auch hierin – C. G. Naumann schickt mir beifolgenden Entwurf einer Anzeige meines Buchs fr das Buchhndler-Bçrsenblatt. Bitte machen Sie eine kleine Redaktion und Verbesserung; ein paar signifikantere Ausdrcke sind zu finden, – ich selbst bin dazu ganz unfhig und ungeduldig. Auch will ich’s gar nicht wieder sehen: Sie lieber Freund, ersparen mir’s, meine eigene Reklame machen zu mssen, nicht wahr?“ KGB III/3, Bf. 719, S. 202 N an Bernhard und Elisabeth Fçrster, 2. 9. 1886: „Bei C. G. Naumann habe ich vor wenigen Wochen etwas Neues von Stapel laufen lassen: , Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.‘ Bis jetzt ist schon die Hlfte der Auflage abgesetzt, Naumann schrieb sehr vergngt, – es ist als ob ein Bann von meinen Bchern genommen wre, seit der lhmende und compromittirende Schmeitzner abgeschafft ist. Zuletzt freilich liegt mir nicht genug daran, von diesen gegenwrtigen Deutschen gelesen zu werden: sie haben Andres im Kopfe und in den Hnden. Ich will nur, daß sie meine Bcher kaufen, nicht um mich zu bereichern, sondern exakt, daß ich, vollkommen unabhngig von Verlegern, etwas drucken kann und wieder zu meinen Druckkosten komme. So probiere ich’s eben.“ KGB III/3, Bf. 741, S. 240
Anonym: Ein neues Werk von Friedrich Nietzsche. In: Bçrsenblatt fr den Deutschen Buchhandel. Leipzig, Nr. 182 vom 9. 8. 1886, S. 4251. Ein neues Werk von Friedrich Nietzsche, Verfasser von: „Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“, „Unzeitgemße Betrachtungen“, „Menschliches, Allzumenschliches“, „Der Wanderer und sein Schatten“, „Morgenrçthe, „Die frçhliches Wissenschaft“, „Also sprach Zarathustra“ u.s.w. Soeben erschienen in meinem Verlag: Jenseits von Gut und Bçse Vorspiel einer Philosophie der Zukunft von Friedrich Nietzsche.
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Das Werk umfaßt ca. 18 Bogen und zerfllt in 9 Hauptstcke: I. Von den Vorurteilen. – II. Der freie Geist. – III. Das religiçse Wesen. – IV. Sprche und Zwischenspiele. – V. Zur Naturgeschichte der Moral. – VI. Wir Gelehrten. – VII. Unsere Tugenden. – VIII. Vçlker und Vaterlnder. – IX. Was ist vornehm? – Aus hohen Bergen. Nachgesang. Fr den wissenschaftlichen Sortimenter drfte es von Wichtigkeit sein, diesem in jeder Hinsicht bedeutenden Buch die gebhrende Aufmerksamkeit zu schenken. Nietzsches Leserkreis ist im In- und Auslande von Jahr zu Jahr gewachsen; bei dem wohlfeilen Preis und der eleganten Ausstattung wird jeder Aesthetiker, jedes lehrende oder hçrende Glied der philosophischen Fakultt, berhaupt jeder wahrhaft vorwrts Strebende gern das Werk kaufen; namentlich drften aber die Abnehmer der frheren Arbeiten des Verfassers mit Freuden zu dieser seiner neuen Gabe greifen. Durch zahlreiche Inserate und alsbald erfolgende lngere Besprechungen in gelehrten und illustrirten Zeitschriften werde ich meinerseits fr leichten und sicheren Vertrieb Sorge tragen. Da infolge meiner vorlufigen Anzeige zahlreiche Bestellungen eingingen und bereits eine im Verhltnis zu der nicht hoch bemessenen Auflage bedeutende Anzahl von Exemplaren ausgeliefert wurde, bitte ich solche Handlungen, welche noch Aussicht auf Absatz haben, unverweilt verlangen zu wollen. Preis der broschierten Exemplare: 5 M ord., 3M 75 netto, 3 M bar und 13/12 A.cond. wird nur bei gleichzeitiger fester Bestellung abgegeben. Leipzig, den 5. August 1886 C.G. Naumann.
Anonym: Jenseits von Gut und Bçse. In: Das Magazin fr die Litteratur des Inund Auslandes. Leipzig, Bd. 55, Nr. 37 vom 11. 9. 1886, S. 587. Im Verlage von C. G. Naumann in Leipzig erschien soeben ein beachtenswertes Werk von Friedrich Nitzsche [sic] unter dem Titel „Jenseits von Gut und Bçse“, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. N in Nachgelassene Fragmente, September 1886: „Eine theologische Unschuld gab mir zu verstehn, mir liege gar nichts an der Logik, sondern einzig an ,schçnem Stile‘: wie kçnne man ernst nehmen, was ich selbst so wenig ernst nhme?“ KGW VIII/3, S. 343 Erwin Rohde an Franz Overbeck, 1. 9. 1886: „Das Meiste habe ich mit großem Unmuthe gelesen. Allermeist sind das doch Discurse eines Uebersttigten nach dem Essen durch die Weinanregung hie und da gehoben aber voll einer wi-
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derlichen Verekelung an Allem und Jedem. Das eigentlich Philosophische daran ist so drftig und fast kindisch wie das Politische wo es berhrt wird albern und weltunkundig. Und doch sind ja manche sehr geistreichen Apercu’s darin auch einige fortreißende dithyrambische Stellen. Aber alles bleibt willkrlicher Einfall; von Ueberzeugung ist gar nicht mehr die Rede; es wird nach Laune, ein Gesichtspunct eingenommen und von da aus nun alles abgewandelt – als ob es auf der Welt nur diesen einen Gesichtspunct gbe! Und natrlich wird dann auch das nchste Mal ebenso einseitig der entgegengesetzte Gesichtspunct genommen und gepriesen. Ich bin nicht mehr im Stande diese ewigen Metamorphosen ernst zu nehmen. Es sind Einsiedlervisionen und Gedankenseifenblasen die zu bilden gewiß dem Einsiedler Vergngen und Zerstreuung gewhrt; aber warum das wie eine Art Evangelium der Welt mittheilen? Dabei ist mir dies ewige Ankndigen ungeheurer Dinge haarstrubender Khnheiten des Gedankens die dann zur langweiligen Enttuschung des Lesers gar nicht kommen! – dies ist mir unsagbar widerwrtig. […] zuletzt ist es ein Ausbruch eines geistreichen aber zu dem was es eigentlich mçchte, eben doch unfhigen ingeniums – ein ganz unerquickliches Schauspiel. Daß dergleichen keine Wirkung thut finde ich ganz gerechtfertigt; es kommt ja wirklich nichts dabei heraus; alles rinnt Einem wie Sand durch die Finger; zuletzt – um welchen greifbaren Gedanken weiser wurde man wohl entlassen? Ein Flimmern und Flackern vor den Augen kein schçnes stetiges verklrendes Licht geht von dem Buche aus! Ganz gut ist ja was von dem Heerdencharakter der ,Jetztmenschheit‘ gesagt wird aber wie soll man sich wohl ausdenken was N von der dictatorisch aufzuerlegenden Kannibalenmoral seiner Philosophie sich zurechtphantasirt? welches Zeichen der Zeit weist auf diese gespreizten Berserker der Zukunft hin? (deren Bild er uns auch schon oft genug dnkt mich an die Wand gemalt hat um selbst endlich daran genug zu haben.) – Kurz offen gestanden mich hat das Buch ganz besonders verdrossen und mehr als alles die gigantische Eitelkeit des V[erfassers] die sich weniger darin zeigt daß er geheim und offen sich zum Modell des erhofften Messias nimmt mit allen seinen persçnlichsten Zgen – als darin daß er jede andre Richtung jede andre Beschfligung sogar als die ihm nun eben diesmal beliebende gar nicht mehr als menschlich und in irgend welchem Sinne werthvoll begreifen kann. Das ist bei der Sterilitt, die denn doch zuletzt berall bei diesem wesentlich auch nur nach- und zusammenempfindenden Geiste herausguckt empçrend. Bei einem in noch so gewaltsamer Einseitigkeit positiven Geiste wre so etwas erklrlich: aber N ist und bleibt zuletzt ein Kritiker und der sollte fhlen daß ihm die Einseitigkeit des Productiven doch nur sitzt wie das Lçwenfell dem Esel. – Das Buch thut mir weher fr uns wie fr ihn: er hat den Weg nicht gefunden auf dem er zum Selbstgengen gelangen kçnnte wirft sich nun krampfhaft hin und her und verlangt daß man das fr Entwicklung nehmen soll. Wir andern gengen uns selbst auch nicht aber wir verlangen auch keine absonderliche Verehrung fr unsre Mangelhaftigkeit. Ihm wre nçthig einmal
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ganz ehrbar und handwerkmßig zu arbeiten, dann wrde ihm wohl aufgehen was dieses Herumtasten an allerlei Dingen das passive Ueberfressensein mit Eindrcken und Einfallen fr einen Werth hat: gar keinen! […] wissen Sie was ich fr Nietzsches sptere Jahre frchte und vor mir sehe? er wird zum Kreuze kriechen aus Ekel an allem und wegen seiner Veneration alles Vornehmen, die ihm immer im Blute steckte nun aber eine recht unangenehme theoretische Verherrlichung bekommen hat. – Zur Abkhlung lese ich Ludwig Richters Selbstbiographie, ein sehr lesenswerthes Buch, eine Selbstschilderung eines wahren ,Stillen im Lande‘.“ Patzer, Andreas/Hçlscher, Uvo (Hrsg.) (1989): Briefwechsel Franz Overbeck – Erwin Rohde. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 1), Nr. 67, S. 108 f Franz Overbeck an Erwin Rohde, 23. 9. 1886: „[…] recht fern von der Stimmung, in welche der anspruchsvoll-erhabene Titel des Buchs versetzt, ist es dieses mal besonders ausgefallen, so fern, dass ich dadurch zumal besorgt darber geworden bin, wie lange es Nietzsche so noch aushlt, wenn ich auch nicht gerade schwçren mçchte, dass ,zu Kreuze kriechen‘ das Ende wrde. Auch hat mich wenigstens das Buch nicht im Geringsten weiter ber die Ziele, die letzten Ein- und Absichten des Verf[assers] aufgeklrt, es ist mir berhaupt nach Zarathustra wie der reine Rckfall vorgekommen, was bei solchen Einsiedlerbchern besonders bedenklich ist. Uebermssig verletzend ist auch nach meinem Gefhl manches im Buche, vielfach wahr zB, bisweilen fragwrdig, durchgngig fast giftgeschwollen aber was darin ber Frauen gesagt wird. Sie sehen, ich mçchte, wie keines Dinges so auch nicht und, ich gestehe es, ganz besonders nicht, dieses Buches Apologet sein, dennoch lese ich in der Litteratur des Tages kaum ein Anderes mit solchem geistigen Vergngen und verspreche mir insbesondere, auf die Gefahr hin, meinen Geschmack ins Licht usserster Corruption bei Ihnen zu stellen, nicht halb so viel von Richters Biographie. Bei allem, wie mir nach dem neuesten Buch fast scheint, zunehmenden Dilettantismus, fhren N’s Bcher den Gelehrten oder doch den Gelehrten in mir intimer in die Dinge ein als die Denkmler eines methodischeren Verfahrens, die sich gemeinhin gegenwrtig sonst erheben. Und den Verf[asser] selbst betreffend: Sie sprechen von riesenmssiger Eitelkeit. Ich kann nicht durchaus widersprechen; und doch hat es mit dieser Eitelkeit eine eigene Bewandniss. Selbst im Buche scheint mir, auch fr den Leser, dem der Verf[asser] sonst fremd ist, ein ganz anderes Gefhl sich damit zu kreuzen. Ueberhaupt kenne ich keinen Menschen, der sich’s soviel kosten liesse, mit sich zurechtzukommen wie N. Dass diess so monstrçs herauskommt braucht in einem Zeitalter, wo sich Alle so heidenmssig zu produziren pflegt, keineswegs nur die Schuld der Person zu sein. Und so ist es bei dein Meisten was Sie einwenden: Ich bin an und fr sich und zunchst einverstanden und im Ganzen und schliesslich doch ganz anderer Meinung […].“ Patzer, Andreas/Hçlscher, Uvo (Hrsg.) (1989): Brief-
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wechsel Franz Overbeck – Erwin Rohde. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 1), Nr. 68, S. 112 f.
Widmann, Josef Victor: Nietzsche’s gefhrliches Buch. In: Der Bund. Bern, Bd. 37, Nr. 256 f vom 16. und 17. 9. 1886 Nietzsche’s gefhrliches Buch. Motto. Erlauben Sie, ich hatte einmal einen Kameraden, Lambert; dieser sagte mir, schon als er fnfzehn Jahre alt war, daß, wenn er einmal reich wrde, es sein Genußreichstes werden solle, Hunde mit Brot und Fleisch zu fttern, whrend die Kinder der Armen vor Hunger strben, und wenn es den Armen an Holz mangelte, den ganzen Vorrath eines Holzhofes aufzukaufen, auf freiem Felde aufstapeln und dort verbrennen lassen. Das war sein Gefhl! Nun sagen Sie, welche Antwort mßte ich diesem Vollblutschuft auf die Frage geben, warum er durchaus anstndig sein sollte? (Stelle aus dem Roman „Junger Nachwuchs“ von F. M. Dostojewskij, deutsche Uebersetzung bei W. Friedrich in Leipzig, 1886. Erster Band, S. 81) Jene Dynamitvorrthe, die beim Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, fhrten die schwarze, auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge. Ganz nur in diesem Sinne sprechen wir von dem neuen Buche des Philosophen Nietzsche als von einem gefhrlichen Buche. Wir legen in diese Bezeichnung keine Spur von Tadel gegen den Autor und sein Werk, so wenig als jene schwarze Flagge jenen Sprengstoff tadeln sollte. Noch weniger kçnnte es uns einfallen, den einsamen Denker durch den Hinweis auf die Gefhrlichkeit seines Buches den Kanzelraben und den Altarkrhen auszuliefern. Der geistige Sprengstoff, wie der materielle, kann einem sehr ntzlichen Werke dienen; es ist nicht nothwendig, daß er zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht werde. Nur thut man gut, wo solcher Stoff lagert, es deutlich zu sagen: Hier liegt Dynamit. Das ist also die Meinung des Titels, den wir unserer Anzeige eines neuen Buches von Friedrich Nietzsche gegeben haben. Das merkwrdige Buch heißt: „Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“. Bei C. G. Naumann in Leipzig ist es vor wenigen Wochen erschienen. Wie der Leser aus dem Titel schon ahnt, setzt sich der Verfasser in diesem Werke die Aufgabe, ber den Moralbegriff hinauszuschreiten und eine Welt als vernnftige Welt zu konstruiren, in welcher Das, was bisher als festester Grund des Menschenlebens gegolten hat, das Bewußtsein von Gut und Bçse, keine Geltung mehr haben soll.
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„Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, knstliches und undurchsichtiges Thier, den andern Thieren weniger durch Kraft, als durch List und Klugheit unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um seine Seele einmal als einfach zu genießen; und die ganze Moral ist eine beherzte lange Flschung, vermçge deren berhaupt ein Genuß im Anblick der Seele mçglich wird.“ „Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief in die geistigste, in die anscheinend klteste und voraussetzungsloseste Welt gedrungen und zwar, wie es sich von selbst versteht, schdigend, hemmend, blendend, verdrehend.“ „Gesetzt, daß man mit dem spçttischen und unbetheiligten Auge eines epikurischen Gottes die wunderlich schmerzliche und eben so grobe wie feine Comçdie des europischen Christenthums zu berschauen vermçchte, ich glaube, man fnde kein Ende mehr zu staunen und zu lachen: scheint es denn nicht, daß Ein Wille ber Europa durch achtzehn Jahrhunderte geherrscht hat, aus dem Menschen eine sublime Mißgeburt zu machen.“ „Die Juden haben jenes Wunderstck von Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht, dank welchem das Leben auf der Erde fr ein paar Jahrtausende einen neuen und gefhrlichen Reiz erhalten hat: – ihre Propheten haben ,reich‘,,gottlos‘, ,bçse‘, ,gewaltthtig‘, ,sinnlich‘ in Eins geschmolzen und zum ersten Male das Wort ,Welt‘ zum Schandwort gemnzt. In dieser Umkehrung der Werthe liegt die Bedeutung des jdischen Volks: mit ihm beginnt der Sklavenaufstand der Moral.“ Diese fnf Citate gengen wohl, uns deutlich erkennen zu lassen, was dieser philosophische Versuch will. Es handelt sieh um nichts Geringeres, als um die Ueberwindung jenes klaffenden Abgrundes, der die naive Welt der Geschçpfe, Das, was wir schlechtweg die Natur nennen, von einer mit den Begriffen „Gut und Bçse“ arbeitenden, reflektirenden Menschenwelt scheidet und der als qulender Dualismus von allen tiefern Denkern empfunden wird. Schalten wir hier gleich ein, daß Nietzsche sehr wohl weiß (und es in seinem Buche auch ausspricht), wie diese Einfhrung des Moralbegriffs in eine naiv sinnliche Welt keineswegs nur das Werk der jdischen Propheten ist, sondern ebenso in andern Vçlkern, und gerade im naiv sinnlichsten Volke, bei den Griechen, in Plato ihren mchtigsten Fçrderer fand, worauf dann das Christenthum, in Zusammenfassung der Ideen Plato’s mit der Weltfeindschaft der jdischen Ascese in sich die hçchste Potenzirung der moralischen Weltbetrachtung darstellte. Was uns hiebei allein wundert, ist die Thatsache, daß Nietzsche nirgends in seinem Buche Herder nennt, der wie kein Anderer der beredte Vertheidiger dieser jdisch platonisch-christlichen Weltbetrachtung ist, dieß namentlich an jener Stelle seines Buches: „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, wo er den Menschen als den Mittelring bezeichnet, in welchem zwei Systeme der Schçpfung, die sinnliche Erdorganisation und ein hçheres geistiges Reich, in einander greifen. Die Duplizitt menschlichen Wesens erklrt Herder aus dieser Zwei-Weltlichkeit der Menschennatur. Diese
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Herder’sche Hypothese, – als mehr hat Herder selbst seine Menschheitsdeutung nicht ausgegeben, – hat vor der Naturwissenschaft unseres Zeitalters wenig Chancen mehr; aber sie sollte immer erwhnt werden, wo es sich darum handelt, den großen Dualismus zu berwinden. Vergegenwrtigen wir uns, um die Khnheit des Nietzsche’schen Unternehmens einigermaßen zu wrdigen, was es mit diesem Dualismus auf sich hat. Der in die Denk- und Fhlweise von Gut und Bçse hineingezchtete und hineinerzogene Mensch – also Jeder von uns sieht sich umgeben von einer Natur (und setzen wir nur gleich herzhaft hinzu:) hineingespannt in eine Weltgeschichte, in welcher nach Macht, aber nicht nach Moral die Vorgnge sich vollziehen. Wir sind mitleidig; aber die denkbar grausamste Natureinrichtung wirft ein Geschçpf dem andern zum Fraße hin und hat fr alle die ausgesuchtesten Leiden. Wir sind schamhaft und durch niedere Triebe zum Schamlosen verurtheilt. Wir sind gerecht, und sehen, daß nicht der Gerechte, sondern der Starke obsiegt. Der beste Mensch, wenn seine Lungen aufgebraucht sind, geht elend zu Grunde, mochte er auch noch so Schçnes und Gutes noch in sich tragen, das der Welt htte zu Nutzen gereichen kçnnen. Hier gab es nun bisher zwei hauptschliche Arten, sich mit dem durch solchen Kontrast zwischen unserm sittlichen Fhlen und der brutalen Natur erzeugten peinlichen Dualismus abzufinden. Die alte Art war die, daß man – wie es die Religionen thun, – kurzweg den Moralbegriff als auch fr die Natur und Geschichte geltend erklrte mit dem selbstverstndlichen Beisatze, unsere zu trben Augen vermçchten dermalen noch nicht zu erkennen, wie das Alles sich eigentlich harmonisch verhalte und sich dereinst in eitel Wohlgefallen und Herrlichkeit auflçsen wrde. Die andere, neuere Art, war eigentlich eine Unart, d. h. das Verhalten eines unartigen Kindes, das sich in den Schmollwinkel setzt. Wir meinen den Pessimismus, der alle Uebelstnde der Welteinrichtung aufdeckt und mit dem trben Gestndnisse schließt: Alles Glck ist Illusion, wir sind tief unglcklich. Eine Lçsung gibt es fr diese Weltdeuter nur im Weltuntergang, in der Vernichtung. Nietzsche nun ist der Erste, der einen neuen Ausweg weiß, aber einen so furchtbaren, daß man ordentlich erschrickt, wenn man ihn den einsamen, bisher unbetretenen Pfad wandeln sieht. Wenn jene Erstgenannten den Moralbegriff auf die Natur bertrugen, willkrlich, ohne andere Berechtigung als den frommen Wunsch, so schçn mçchte die Lçsung sein, so bertrgt Nietzsche umgekehrt den Machtbegriff der Natur auf die Menschheit und sagt: Schafft Euer moralisches Denken ab, seid, statt Sittlichkeitsmenschen, Machtmenschen, und aller Dualismus ist weg. Ihr braucht kein Mitleid mehr, keine Scham, keine Gerechtigkeit; dann fhlt Ihr auch nicht den Mangel solcher Ideen in der Natur. Dann seid Ihr wieder Eins mit der Welt, freie Gçttersçhne.
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Professor Nietzsche sagt diese Dinge viel feiner, mit hundert geistreichen Wendungen und Blendungen; er muß entschuldigen, daß, wenn eine Tageszeitung von seinem Buche, das ihr zugeschickt worden, Notiz nehmen soll, die Sprache alltglicher und plumper tçnt, dafr deutlich fr Jedermann. „Aber das ist ja eine schreckliche Philosophie!“ Gewiß. Nietzsche gibt sich auch durchaus keiner Illusion ber die Menschenart hin, die entstehen mßte, wenn diese Philosophie aus der Theorie in die Praxis sich bertragen sollte. So lßt er den Gott Dionysos in einer Art Vision zu ihm (Nietzsche) sprechen: „Der Mensch ist mir ein angenehmes, tapferes, erfinderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen hat; es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm gut: ich denke oft darber nach, wie ich ihn noch vorwrts bringe und ihn strker, bçser und tiefer mache, als er ist, auch schçner.“258 Konsequenter Weise wird ein Cesare Borgia als ein „gesndester Mensch“ gefeiert: „Man mißversteht das Raubthier und den Raubmenschen (z. B. Cesare Borgia) grndlich, man mißversteht die Natur, so lange man noch nach einer Krankhaftigkeit im Grunde dieser gesndesten aller tropischen Unthiere und Gewchse sucht, oder gar nach einer ihnen eingeborenen „Hçlle“, wie es bisher fast alle Moralisten gethan haben.“ Solche Menschen sind ihm tropische Prachtexemplare, denen gegenber man nicht zu Gunsten der gemßigten Zone pldiren drfe. Thue man es dennoch, so sei das nichts anderes als „die Moral der Furchtsamkeit“. Mit diesem „Moral der Furchtsamkeit“ wird Nietzsche natrlich jeden Einwand niederschlagen, der ihm vom praktischen Standpunkte gegen seine Philosophie der Zukunft kçnnte gemacht werden. Wenn also z. B. ein Vater ihm entgegnet, daß es eben fr das Familienleben doch wesentlich angenehmer sei, weder einen Cesare, noch eine Lucrezia Borgia zu Kindern zu haben, so wird Nietzsche hiezu verchtlich die Achseln zucken und von seinem philosophischen Standpunkte damit ganz Recht haben, da der Denker sich nicht um die praktischen Folgen seiner Denkresultate zu bekmmern braucht. Ueberhaupt ist Nietzsche durchaus nicht der Meinung, daß es der Vielheit der Menschen besser ergehen solle, daß ihre Mhen sich mindern, ihre Leiden abgeschafft werden 258 Wir wissen es nicht bestimmt, glauben aber, es gehçrt zu haben, daß Professor Nietzsche ein kçrperlich schwer leidender Mann ist. Als solcher befindet er sich jedenfalls in der gegenwrtigen rcksichtsvollen Moralwelt besser, als in seiner Zukunftsgewaltwelt. In letzterer ist nur fr robuste Naturen Platz. Ein krnklicher Philosoph z. B. wrde bei jenen „starken, bçsen, schçnen und tiefen“ Riesen nicht eine wesentlich andere Rolle spielen, als die des verachteten Zwerges, den man Nachmittags zum Spaßmachen auf ein Stndchen aus dem Hundestall heraufkommen lßt. Sind berhaupt solche Zustnde nicht schon dagewesen, im Mittelalter auf den Faustrechtschlçssern, in unserem Jahrhundert bei einem Kçnig Theodorus in Abessinien und herrschen sie nicht tagtglich noch bei allen wilden Vçlkern?
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sollten, und hierin begegnet er sich mit Pythagoras, von dem das Wort citirt wird: „Man muß nicht Schuld sein, daß sich die menschlichen Mhen verringern, und wohl helfen, eine Brde aufladen, aber nicht sie abnehmen“. Wie sehr dieß letztere dem allgemeinen Denken und Trachten der Zeit zuwiderluft, braucht nicht erst gesagt zu werden. Gerade darin aber liegt der Werth solcher origineller Gedanken. Ein so muthiger und krftiger Schwimmer gegen den Strom ist an und fr sich eine angenehme Erscheinung. In ihrem tiefsten Grunde verstehen wir sie jedoch aus dem durch und durch knstlerischdichterischen Naturell dieses einsamen Philosophen. Eigentlich ist ja auch diese ganze ber die Begriffe von Gut und Bçse hinausgehende Zukunftsphilosophie nichts anderes als der Versuch, die Welt, auch die Menschenwelt, rein sthetisch zu nehmen und zu begreifen. Uebrigens stellt dieses Buch, das der Verfasser selbst „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ zubenannt hat, nur ein freies Prludium vor; die große Fuge soll erst kommen. Wenigstens wird auf dem Umschlag des Buches als in Vorbereitung befindlich angekndigt: „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. (In vier Bchern.)“ Auf dieses Werk wird man zu warten haben, ehe man ber die originellen, mehr nur in aphoristischer Form gegebenen Einflle des vorliegenden Buches ein endgltiges Urtheil fllt. Viele dieser Aphorismen haben mehr einen dichterischen als philosophischen Werth, was so weit wahr ist, daß man an ihnen, d. h. an ihrer lebhaften und schçnen Form, noch Wohlgefallen empfindet, wenn man ihren Inhalt auch als grundfalsch erkennt. Was diese grundfalschen Aussprche anbetrifft, so sind es namentlich Nietzsche’s Ausflle gegen Demokratie, Volksaufklrung und hçhere Bildung des Weibes, die an einem so reifen Denker befremden. Wohl ist in allen diesen Ausfllen ein Kçrnchen berechtigter Polemik, aber noch viel mehr eingeschlossene Studierstubenluft, zu wenig Sonnenschein des wirklichen Taglebens. Schließen wir diese unsere Anzeige mit der einigermaßen beruhigenden Mittheilung, daß Nietzsche, der von sich und Seinesgleichen bereits als „wir Immoralisten“ spricht, Eine Tugend doch noch gelten lßt, als die Tugend, „von der auch wir freien Geister nicht loskçnnen“: die Redlichkeit. Diese Redlichkeit hat er wahrhaftig genugsam bewiesen durch dieses Buch, das noch vor zwei Jahrhunderten den Autor unfehlbar auf ’s Schaffot wrde gebracht haben und das auch heute Vielen einen peinlichen Eindruck machen muß. Denn wie die Menschen essen und trinken, ohne sich darum zu kmmern, ob ihnen ein Philosoph beweist, Essen und Trinken seien keine Wirklichkeiten, so mssen die Menschen auch auf jene Frage, die wir als Motto dieser kleinen Abhandlung vorangestellt haben, eine bndige Antwort im Vorrath haben. Diese Antwort wurde bisher aus dem Moralkodex herbezogen und das wird noch lange so der Fall sein. Daher wird man Denjenigen, der „Gut und Bçse“ antastet, wie Einen
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ansehen, der das verschleierte Bild von Sais entweihend aufdeckt, auch wenn man logisch ihm Recht geben mßte. Reaktionen N an Constantin Georg Naumann, 19. 9. 1886: „Eben fand ich, im Berner Bund, einen Aufsatz ber dasselbe, mit dem Titel ,Nietzsches gefhrliches Buch‘, man kann sich keine strkere Verlockung zum Kaufen denken als sie dieser Artikel giebt.“ KGB III/3, Nr. 749, S. 249 N an Franziska Nietzsche, 19. 9. 1886: „Der Himmel erbarme sich des europischen Verstandes, wenn man den jdischen Verstand davon abziehen wollte! Man erzhlte mir von einem jungen Mathematiker in Pontresina, der vor Aufregung und Entzcken ber mein letztes Buch ganz die Nachtruhe verloren habe; als ich genauer nachfragte, siehe da war es auch wieder ein Jude (ein Deutscher lßt sich nicht so leicht im Schlafe stçren – ). Verzeihung fr die Scherze, meine gute Mutter.“ KGB III/3, Nr. 750, S. 249 f N an Heinrich Kçselitz, 20. 9. 1886: „Der ,Bund‘ hat, aus der Feder des Redakteurs V. Widmann, einen starken Aufsatz ber mein Buch, unter dem Titel Nietzsche’s gefhrliches Buch. Gesammt-Urtheil ,das ist Dynamit‘.“ KGB III/3, Nr. 751, S. 251 N an Jacob Burckhardt, 22. 9. 1886: „Hoffentlich hat inzwischen C. G. Naumann seine Schuldigkeit gethan und mein letzthin erschienenes ,Jenseits‘ in Ihre verehrten Hnde gelegt. Bitte, lesen Sie dies Buch, (ob es schon dieselben Dinge sagt, wie mein Zarathustra, aber anders, sehr anders – ). Ich kenne niemanden, der mit mir eine solche Menge Voraussetzungen gemein htte wie Sie: es scheint mir, daß Sie dieselben Probleme in Sicht bekommen haben, – daß Sie an den gleichen Problemen in hnlicher Weise laboriren, vielleicht sogar strker und tiefer als ich, da Sie schweigsamer sind.“ KGB III/3, Nr. 754, S. 254 N an Ernst Wilhelm Fritzsch, 22. 9. 1886: „Der ,Bund‘ hatte zwei Artikel ber das genannte Werk unter dem Titel: Nietzsches gefhrliches Buch. Der Anfang lautete: ,Jene Wagen […] trugen eine schwarze, auf Todesgefahr deutende Flagge…‘ Der ganze Aufsatz war ein Muster von unfreiwilliger Reklame.“ KGB III/3, Nr. 755, S. 256 Johannes Brahms an Josef Victor Widmann, 23. 9. 1886: „Auf den Nietzsche habe ich freilich gleich ein italienisches Novellenbuch gelegt, damit ich mir’s
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doch zweimal berlege, ob ich unter blauem oder grauem Himmel spazieren will.“ Johannes Brahms. Briefwechsel. Bd. 8, Berlin 1915, S. 50 f N an Malwida von Meysenbug, 24. 9. 1886: „So sende ich denn diese Zeilen nach Rom: wohin ich auch vor kurzem ein Buch adressirt habe. Sein Titel ist ,Jenseits von Gut und Bçse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft‘. (Verzeihung! Sie sollen es nicht etwa lesen, noch weniger mir Ihre Empfindungen darber ausdrcken. Nehmen wir an, daß es gegen das Jahr 2000 gelesen werden darf…) […] Zum Schluß schreibe ich Ihnen ein paar Worte ber mich ab, die im ,Bund‘ (16.und 17. Sept) zu lesen sind. berschrift: Nietzsche’s gefhrliches Buch. ,Jene Dynamitvorrthe […] Hier liegt Dynamit!‘. Seien Sie mir also, verehrte Freundin, dafr hbsch dankbar, daß ich mich von Ihnen ein wenig ferne halte. … Und daß ich mich nicht darum bemhe, Sie auf meine Wege und ,Auswege‘ zu locken. Denn, um nochmals den Bund zu citiren: ,Nietzsche ist der Erste, der einen neuen Ausweg weiß, aber einen so furchtbaren, daß man ordentlich erschrickt, wenn man ihn den einsamen, bisher unbetretenen Pfad wandeln sieht!‘“ KGB III/3, Nr. 756, S. 257 f Jacob Burckhardt an N, 26. 9. 1886: „Vor Allem meinen ergebensten Dank fr die bersendung Ihres neuesten Werkes, welches richtig in meine Hnde gekommen ist, und meinen Glckwunsch zu der ungebrochenen Kraft welche in demselben lebt. Leider berschtzen Sie nur zu sehr, wie Ihr seither eingelangtes Schreiben zeigt, meine Fhigkeit. Problemen wie die Ihrigen sind, bin ich nie im Stande gewesen nachzugehen oder mir auch nur die Prmissen derselben klar zu machen. Zeitlebens bin ich kein philosophischer Kopf gewesen und schon die Vergangenheit der Philosophie ist mir so viel als fremd. Ich kçnnte noch lange nicht einmal diejenigen Ansprche machen welche manchen Gelehrten die Schilderung auf Seite 135 zugezogen haben. Wo bei der Betrachtung der Geschichte allgemeinere Geistesthatsachen sich mir an den Weg stellten, habe ich immer nur das unumgnglich Nothwendige dafr gethan und auf bessere Authoritten verwiesen. Was mir nun in Ihrem Werke am ehsten verstndlich ist, sind die historischen Urtheile und vor allem Ihr Blick in die Zeit: ber den Willen in den Vçlkern und dessen zeitweilige Lhmung; ber die Antithese der großen Assecuranz des Wohlbefindens gegenber der wnschbaren Erziehung durch die Gefahr; ber die Arbeitsamkeit als Zerstçrerin der religiçsen Instincte; ber den jetzigen Heerdenmenschen und dessen Ansprche; ber die Demokratie als Erbin des Christenthums; ganz besonders aber ber die zuknftigen Starken auf Erden! Hier ermitteln und schildern Sie deren vermuthliche Entstehungs- und Lebensbedingungen in einer Weise welche die hçchste Theilnahme erregen muß. Wie befangen nehmen sich daneben die Gedanken aus welche sich Unser einer bei Gelegenheit ber das allgemeine
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Schicksal der jetzigen europischen Menschheit zu machen pflegt! – Das Buch geht eben weit ber meinen alten Kopf und ich komme mir ganz blçde vor wenn ich Ihre erstaunliche bersicht ber das ganze Gebiet der jetzigen Geistesbewegung und Ihre Kraft und Kunst zu nuancirenden Bezeichnung des Einzelnen inne werde.“ KGB III/4, Nr. 403, S. 221 f N an Franz Overbeck, 12. 10. 1886: „Ein Aufsatz des Dr. Widmann im Bund (vom 16. und 17. Sept., lies ihn!) gab mir die Besorgniß, daß das Auge der Polizei auf mich vorzeitig gelenkt werde; der Titel des Aufsatzes war ,Nietzsches gefhrliches Buch‘, der erste Satz lautete ungefhr: ,jene Dynamitvorrthe, die beim Bau der Gotthardbahn verwendet wurden, fhrten die schwarze auf Todesgefahr deutende Warnungsflagge.‘ – Meine Adresse ist von nun an wieder: Nizza (France) poste restante. – ber meine ,Stimmung‘ darfst Du unbesorgt sein; ich sollte denken, die aggressive und militrische Laune meines letzten Buches sei ein gutes Symptom? – J. Burckhardts Brief, der krzlich anlangte, betrbte mich, trotzdem er voll von der hçchsten Auszeichnung fr mich war. Aber was liegt mir jetzt daran! Ich wnschte zu hçren ,das ist meine Noth! Das hat mich stumm gemacht!‘“ KGB III/3, Nr. 761, S. 264 f Heinrich Kçselitz an N, 13. 10. 1886: „Von Naumann habe ich keine zwei Nummern des ,Bund‘ erhalten; vielleicht gingen sie verloren?“ KGB III/4, Nr. 405, S. 225 N an Gottfried Keller, 14. 10. 1886: „Hochverehrter Herr, inzwischen habe ich mir die Freiheit genommen, einer alten Liebe und Gewohnheit gemß, Ihnen mein letztes Buch zu bersenden; mindestens bekam mein Verleger C. G. Naumann den Auftrag dazu. Vielleicht geht dies Buch mit seinem FragezeichenInhalte wider Ihren Geschmack: vielleicht nicht seine Form. Wer sich ernsthaft und mit herzlicher Neigung um die deutsche Sprache bemht hat, wird mir schon einige Gerechtigkeit widerfahren lassen mssen: es ist Etwas, so sphynxartige und stummgeborne Probleme, wie die meinen sind, zum Reden zu bringen.“ KGB III/3, Nr. 763, S. 267 N an Heinrich Kçselitz, 31. 10. 1886: „Der Artikel im ,Bund‘ war zum Frchten; berschrift ,Nietzsches gefhrliches Buch‘. Anfang: ,Jene Dynamitvorrthe […] In diesem Sinne usw. usw.‘ Ich fand zu meinem Bedauern, daß der Artikel in Sils unter den braven Einwohnern stark gelesen und interpretirt wurde. Vielleicht war ich zum letzten Mal in Sils.“ KGB III/3, Nr. 770, S. 274 Heinrich Kçselitz an N, 28. 11. 1886: „Naumann hat mir sechs Recensionen geschickt, darunter die Widmann’sche. Ich schriebe gerne eine 7., aber wie? und
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wo? Die sddeutsche Presse, ein nationalliberales Blatt, wrde einen Aufsatz nur nehmen, wenn er in vagen Ausdrcken gehalten wre, sodass man Ihre Tendenz nicht erkennte. Ihre musikalischen Ansichten etwa im ,Musikal[ischen] Wochenbl[att]‘ besprechen lassen, von mir, dazu wird sich Fritzsch kaum entschliessen kçnnen. Andere Zeitungen, denen ich unbekannt bin, wrden einen Aufsatz, auch wenn er noch so angepasst wre, wieder zurckschicken, – das weiß ich ja aus mehreren Erfahrungen. Gleichwohl will ich sehn, ob ich Zeit und Stimmung zu einer solchen Arbeit finde.“ KGB III/4, Nr. 417, S. 242 Franz Overbeck an N, 2. 1. 1887: „Schçnsten Dank fr die Mittheilung des beiliegenden Artikels, der immerhin erfreulicheren Geistes ist als der Widmannsche. Von dem was hier und da neuerdings auch in Deutschland ber Deine Bcher erschienen ist wirst Du wohl durch deinen offenbar regsameren Verleger in Kenntniss gesetzt sein. Mir ist ein Artikel im Centralblatt vorgekommen und etwas absolut dummes von Konrad Hermann in den Blttern fr litterarische Unterhaltung.“ KGB III/6, Nr. 425, S. 5 Constantin Georg Naumann an N, 22. 2. 1887: „Sie lßt aber auch erkennen, daß sich ein eigentlich großer Absatz nur dann erreichen lßt, wenn die Neugierde des Publikums durch witzige Recensionen und scharfe Controverse geweckt wird. Ich hatte ja, diesen Erwgungen nachgehend, die smtlichen eingelaufenen Besprechungen an Herrn Heinrich Kçselitz in Mnchen mit Ihrem Einverstndnis abgegeben, damit mich genannter Herr mit geeignetem Material versehen kçnne, d. h. kleine Artikel in ihm nahestehenden Zeitungen unterbringen mçchte. Herr Kçselitz teilte mir inzwischen mit, daß er in seiner augenblicklich etwas bedrngten Lage hierzu weder Zeit noch Gelegenheit finde. Ich hoffe, diese Verhltnisse haben nur vorbergehende Geltung, und werde mich daher gleich nach der Ostermesse nochmals an Herrn Kçselitz wenden.“ KGB III/6, Nr. 436, S. 23 Heinrich Kçselitz an N am 18. 3. 1887: „Wissen Sie auch noch, dass das unpassende Motto ber Widmann’s Aufsatz im ,Bund‘ aus Dostojewsky’s Roman ,Junger Nachwuchs“ war?“ (Leipzig, W. Fritzsch 1886). KGB III/6, Nr. 444, S. 35 N an Franz Overbeck, 14. 4. 1887: „Ich glaube, man hielte mich einfach fr toll, wenn ich verlauten ließe, was ich von mir selber halte […]. (Diesen Winter habe ich mich reichlich in der europischen Literatur umgesehen, um jetzt sagen zu kçnnen, daß meine philosophische Stellung bei weitem die unabhngigste ist, so sehr ich mich auch als Erbe von mehreren Jahrtausenden fhle: das gegenwrtige Europa hat noch keine Ahnung davon, um welche furchtbaren Entscheidungen mein ganzes Wesen sich dreht, und an welches Rad von Problemen
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ich gebunden bin – und daß mit mir eine Katastrophe sich vorbereitet, deren Namen ich weiß, aber nicht aussprechen werde.)“ KGB III/5, Nr. 831, S. 57 f N an Franz Overbeck, 8. 6. 1887 (Entwurf ): „Facta loquuntur: kein deutscher Verleger wagt es mit mir noch (oh sie haben Recht, diese Herren!), ich habe in den letzten 3 Jahren bei den Unbefangensten und Muthigsten immer nur das harte Wçrtchen ,Nein‘ zu hçren bekommen. Andererseits ist mir die deutsche Presse abgeneigt (oh sie hat ein Recht dazu, diese Dame!) sie mçchte am liebsten meinen Namen gar nicht vorbringen, wie das mir von Litteraten selbst bezeugt ist, dazu gehçrt z. B. daß von den 50–60 Recensionsex[emplaren] meines Buches kaum 1/5 die Wirkung gehabt hat, die man von einer derartigen Zusendung erwartet. […] es sind, wie bei der Ostermesse constatirt wurde, im Ganzen nur 114 Exemplare verkauft worden. [von Jenseits]“ KGB III/5, Nr. 858, S. 89 N an Ernst Wilhelm Fritzsch, 24. 6. 1887: „Ein Exemplar der frçhl[ichen] Wissenschaft soll Dr. V. Widmann (Redaktion des ,Bund‘, Bern) erhalten: er hat vorigen Sommer etwas sehr intelligentes ber mein damals erschienenes Jenseits von G[ut] und B[çse] verçffentlicht.“ KGB III/5, Nr. 865, S. 97 N an Josef Victor Widmann in Bern, 28. 6. 1887: „Hochgeehrter Herr Doktor, vorigen Sommer haben Sie mich in keinen kleinen Schrecken versetzt: ich fand eines Tages hierselbst im Caf die vortrefflichen Einwohner von Sils ber ihren regelmßigen Sommer-Gast stutzig und nachdenklich geworden, – sie hatten allesammt den Bund gelesen. ,Wie! dieser anscheinend so harmlose Einsiedler und Hçhlenbr ist also im Grunde etwas ganz Gefhrliches?‘ – Das las ich in aller Augen. Ich selbst, nachdem auch ich den Bund gelesen, hatte freilich einen anderen Eindruck: nmlich als ob ich ber mich etwas sehr Liebenswrdiges und Wohlwollendes gelesen htte. Ein paar Aeußerungen, die sich im Munde des Redacteurs eines demokratischen Blattes ganz von selbst verstanden, habe ich vielleicht berhçrt oder vergessen – in der Hauptsache muß ich Ihnen dankbar bezeugen, nach Jahresfrist nunmehr, daß Ihre Besprechung jedenfalls bei weitem die ,intelligenteste‘ gewesen ist, die dieses unsymphatische Buch bisher erfahren hat. Die Dichter sind nun einmal ,divinatorische‘ Wesen: ein solches Rthselbuch wird zuletzt immer noch eher von einem Dichter errathen und ,aufgeknackt‘, als von einem sogenannten Philosophen und ,Fachmann‘.“ KGB III/5, Nr. 869, S. 101 f N an Franz Overbeck, 30. 8. 1887: „Trotzdem jmmerlicher Abschluß der Rechnung, buchstblich 106 Exemplare verkauft, Alles sonst remittirt. Kaum der fnfte Theil der Redaktionen hat Notiz von der Zusendung genommen; entschiedene Zeichen von Abneigung und principieller Ablehnung gegen Alles,
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was von mir kommt, fehlen nicht. Und nicht Eine in Betracht kommende Anzeige!“ KGB III/5, Nr. 831, S. 140 N an Ferdinand Avenarius, 10. 9. 1887: „brigens gibt man mir diese meine ,Enthaltsamkeit‘ artig genug zurck: man ,enthlt sich‘ meiner. Wenigstens sagt mir dies Gottfried Keller ( – ,mein Name sei in deutschen Zeitschriften so gut wie nicht mehr vorhanden‘.) Ich selbst, drei und vierzig Jahre alt, berdies, wie ich frchte, Vater von fnfzehn Bchern (vielleicht verzhle ich mich? die Ziffer ist schrecklich) – ich selbst habe ber mich noch nicht drei Zeilen gelesen, die mich interessiert htten, irgend etwas Grndliches, Kluges, psychologisch-Zurechnungsfhiges. Dies als factum, nicht als Seufzer.“ KGB III/5, Nr. 904, S. 146 N an Ernst Wilhelm Fritzsch, 15. 9. 1887: „Dr. Widmann hat im vorigen Sommer einen lngeren sehr intelligenten Essai ber mein ,Jenseits von Gut und Bçse‘ gebracht; er war mir bis dahin unbekannt.“ KGB III/5, Nr. 910, S. 153 N an Franziska Nietzsche, 10. 10. 1887: „Ich fand hier beieinander, was in den deutschen Zeitschriften Alles ber mein letztes Buch gedruckt worden ist: ein haarstrubendes Kunterbunt von Unklarheit und Abneigung. Bald ist mein Buch ,hçherer Blçdsinn‘, bald ist es ,diabolisch berechnend‘, bald verdiente ich, dafr aufs Schafott zu kommen (wenigstens nach der Art der frheren Zeiten, sich gegen unangenehme Freigeister zu wehren) bald werde ich als ,Philosoph der junkerlichen Aristokratie‘ verherrlicht, bald als zweiter Edmund von Hagen [dieser besuchte N Ende Mrz 1891, sich kaum von Nietzsches Wahnsinn berzeugen lassend, Erich F. Podach: Der kranke Nietzsche. 1937, S. 115] verhçhnt, bald als Faust des neunzehnten Jahrhunderts bemitleidet, bald als „Dynamit‘ und Unmensch vorsichtig bei Seite gethan. Und dies Stck Erkenntniß in Bezug auf mich hat ungefhr 15 Jahre Zeit gebraucht; htte man etwas von meiner ersten Schrift ,Geburt der Tragoedie‘ verstanden, so htte man schon damals in gleicher Weise sich entsetzen und bekreuzigen kçnnen. Aber damals lebte ich unter einem hbschen Schleier und wurde vom deutschen Hornvieh verehrt, gleich als ob ich zu ihm gehçrte. Nun, dies hat seine Zeit gehabt. Unzweifelhaft werde ich immer noch einige Jahre frher in Frankreich ,entdeckt‘ sein, als im Vaterlande.“ KGB III/5, Nr. 924, S. 164 f N an Franziska Nietzsche, 18. 10. 1887: „Die Urtheile, die ich Dir schrieb, stammen sammt und sonders aus der Sphre der unkirchlichsten Parteien, die es jetzt giebt, das waren keine Theologen-Urtheile. Fast jede dieser Kritiken (die zum Theil von sehr intelligenten Kritikern und Gelehrten stammten) wehrte sich ausdrcklich gegen den Verdacht, als ob sie etwa mich durch den Hinweis auf die Gefhrlichkeit meines Buchs ,den Kanzelraben und den Altarkrhen
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ausliefern‘ wollte. Der Gegensatz, in dem ich mich befinde, ist hundert Mal radikaler, als daß dabei die religiçsen Fragen und Confessions-Schattirungen ernstlich in Betracht kmen.“ KGB III/5, Nr. 929, S. 170 f N an Carl Spitteler, 10. 1. 1888: „Ein letztes Fragezeichen: warum ist mein ,Jenseits‘ verschwiegen? Ich weiß sehr wohl, daß dasselbe als verbotenes Buch gilt – aber trotzdem enthlt es den Schlssel zu mir, wenn es einen giebt. Man muß es zuerst lesen. (Ich lege zwei Besprechungen dieses Buches bei: die des Dr. Widmann und die der Nationalzeitung. Letztere, abgeneigt und unehrerbietig, wie sie ist, stellt trotzdem den Gedankengang des Buches mit leidlicher Deutlichkeit hin)“. KGB III/5, Nr. 988, S. 247 N an Carl Spitteler, Anfang Sept. 1888: „Werther Herr. Sie unterschtzen mich ganz und gar. Ich habe es bisher durchaus nicht an Humanitt gegen meine Zeitgenossen ( – die Zeit: sonst habe ich nichts mit ihnen gemein) fehlen lassen. – Ich kçnnte Ihnen 2 Flle erzhlen, die sie verstehen wrden. – Ihr Freund W [idmann] hat einmal ber ein Buch von mir die unanstndigsten Dummheiten, die es nur geben kann, drucken lassen: ich machte mir den Scherz, ihm zu sagen ,er habe mich verstanden‘ . . . er hats geglaubt. Was Hr. Sp[itteler] betrifft, so hat er einmal eine wahre Wuth darber ausgedrckt, Schriften von mir lesen zu mssen; er hat eine Schrift, die ihm mein Verleger anbot, sogar abgewiesen (,Jenseits von Gut und Bçse‘) Bisher habe ich geglaubt, daß eine Creatur dieser Zeit sich eine unverdiente Ehre anthut, wenn sie ein Buch von mir in die Hand nimmt. Bisher war ich ebenfalls gewohnt, daß, wer in meine Bcher kam, die Schuhe auszog . . . Die Herren Widmann und Spitteler haben nicht einmal die Stiefeln ausgezogen – und was fr Stiefeln! . . . Ich habe mich ber die Deutschen in puncto Verstndnis lustig gemacht: zweifeln Sie nicht daran, daß ich auch ber schweizerisches Hornvieh meine Erfahrungen habe.“ KGB III/5, Nr. 1099, S. 407 f N, Nachgelassene Fragmente, September 1888: „Dies alles mag noch hingehen: aber ich habe Flle erlebt, wo das ,Verstndniß‘ das Maaß des Menschlichen berschritt und an’s Thierische streifte. Ein Schweizer Redakteur, vom ,Bund‘, wußte dem Studium des genannten Werks nichts Anderes zu entnehmen als daß ich mit demselben die Abschaffung aller anstndigen Gefhle beantragte: man sieht er hatte sich bei den Worten ,Jenseits von Gut und Bçse‘ wirklich etwas gedacht… Aber einem solchen Falle war meine Humanitt noch immer gewachsen. Ich dankte ihm dafr, ich gab ihm selbst zu verstehn, Niemand habe mich besser verstanden – er hat’s geglaubt …“ KGW VIII/3, S. 343 N, Gçtzendmmerung: „Ein Schweizer Redakteur, vom ,Bund‘, gieng so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Muth zu solchem Wagniss auszudrcken,
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den Sinn meines Werkes dahin zu ,verstehn‘, dass ich mit demselben die Abschaffung aller anstndigen Gefhle beantragte. Sehr verbunden! – Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden sind. Dass alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen…“ KGW VI/3, S. 131 N, Ecce Homo, Oktober 1888: „Zuletzt war es nicht Deutschland, sondern die Schweiz, die die zwei extremen Flle geliefert hat. Ein Aufsatz des Dr. V. Widmann im ,Bund‘, ber ,Jenseits von Gut und Bçse‘, unter dem Titel ,Nietzsche’s gefhrliches Buch‘, und ein Gesammt-Bericht ber meine Bcher berhaupt seitens des Herrn Karls Spitteler, gleichfalls im Bund, sind ein Maximum in meinem Leben – ich hte mich zu sagen wovon … Letzterer behandelte zum Beispiel meinen Zarathustra als hçhere Stilbung, mit dem Wunsche, ich mçchte spter doch auch fr Inhalt sorgen; Dr.Widmann drckte mir seine Achtung vor dem Muth aus, mit dem ich mich um die Abschaffung aller anstndigen Gefhle bemhe. – Durch eine kleine Tcke von Zufall war hier jeder Satz, mit einer Folgerichtigkeit, die ich bewundert habe, eine auf den Kopf gestellte Wahrheit: man hatte im Grunde Nichts zu thun, als alle ,Werthe umzuwerthen‘ um, auf eine sogar bemerkenswerthe Weise, ber mich den Nagel auf den Kopf zu treffen – statt meinen Kopf mit dem Nagel zu treffen.“ KGW VI/3, S. 298 Salis-Marschlins, Meta von: „Ich sagte ihm, daß ich Jenseits von Gut und Bçse eben gelesen htte. Er charakterisirte es als ein Buch, bei dem man die Zhne zusammenbeissen msse, und ich entgegnete lakonisch: ,Ich habe sie zusammengebissen.‘“ Meta von Salis-Marschlins, Philosoph und Edelmensch. Ein Beitrag zur Charakteristik Friedrich Nietzsches. 1897, S. 23-
Glogau, Gustav: Jenseits von Gut und Bçse. In: Deutsche Litteraturzeitung. Bd. 7, Nr. 44 vom 30. 10. 1886, Sp. 1555 f. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Leipzig, C. G. Naumann, 1886. VIII u. 272 S. gr. 88. M. 5 Bist du, geehrter Leser, bei einer Sturmflut oder bei einem Unwetter im Hochgebirge mitten im Grausen der entfesselten Elemente gestanden? Oder kennst du die Schlacht, wenn das Bataillon in geschlossener Linie vorgeht, und unter dem Hagel feindlicher Geschosse die Leute rechts und links niederstrzen, wie wenn man Pflaumen im Herbste schttelt? Hast du dergleichen erfahren, nicht wie eine Sache passiv und stumpf hinnimmt, was ussere Mchte ber sie
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verfgen: dann hast du die Urgewalten neu sich erheben sehen, die uralte Nacht, das Chaos, dem nach schweren Kmpfen die Lichtgçtter entstiegen, welche die Natur und die Menschenwelt durch ein allwaltendes Gesetz in die Bande fester Ordnungen fgten. Dem hnlich ist es, was dieses Buch dir zu schmecken gibt. Es ist nicht fr den „Gelehrten“ geschrieben, der in den lange bewhrten Geleisen logischer Ordnung sicher einherfhrt und berwundene Mythologien sich berlegen vom Leibe hlt. Es ist nichts Dogmatisches drin, das man schlechthin aufnehmen oder ablehnen kçnnte, nichts fr gradlinige und nichts fr schwache Geister. Sondern die auseinandergefahrenen Stcke der Weltanschauung der Menschheit schlagen dir betubend um Kopf und Sinne. Kein Komçdiant ist es, der zu dir spricht, vielmehr der Edelsten einer. „Ein Halbgott hat sie zerschlagen!“ Das ist eine andre Art Freigeisterei als die demokratische Aufklrung der letzten Jahrhunderte, welche Nietzsche mit souverner Verachtung zertritt. Die Urkraft in N., der das Wehe und die Narrheit dieser wolgeordneten Welt bis auf die Hefe hat kosten mssen, reagiert vielmehr gegen alle ihre Werte und setzt sich nun selbst als das Letzte hin. „Im Anfang war die Tat“ sagt auch dieser Faust des 19. Jhs. Alle Absichten-Moral ist ihm ein Vorurteil, das durch sich selbst zu berwinden ist, in der interesselosen Hingebung liegt ihm zuviel Zauber und Zucker. Der Wille der Macht tritt schlechthin an die Stelle des absoluten Gesetzes, des Guten, das ihm als ein willkrlicher, „plçtzlich herausbrechender Entschluss zur Unwissenheit“ gilt (S. 180). Daran muss dieser wie der alte Faust zu Grunde gehen. Er hat sich, wie wir gleich hçren werden, wissentlich selber dem Teufel bergeben. N. hat nicht bloss die Philosophie aller Zeiten durchaus studiert mit heissem Bemhen, auch „Juristerei und Medicin und leider auch Theologie“ – er lebt und atmet in den besten Hervorbringungen der Geschichte. Aber ihm ist das Alles, an sich gross und bedeutend, ein noch allzumenschlicher Dogmatismus, ein Vorspiel der Wahrheit, wie die Astrologie der Astronomie vorangieng. Nun durchwhlt er die Eingeweide des Lebens, dass einem Hçren und Sehen vergehen kann, wenn das Herz nicht lngst siegreich durch den gleichen Kampf gegangen ist. Von Schopenhauer ausgegangen, lsst er die Modephilosophie weit hinter sich. „Schopenhauer hat es mit seiner unintelligenten Wut auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur herauszubrechen, welche Cultur, Alles wol erwogen, eine Hçhe und divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist, aber Schopenhauer selbst war grade an dieser Stelle bis zur Genialitt arm, unempfnglich, undeutsch“ (S. 137). Er sagt vom Leiden „wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhçhungen des Menschen bisher geschaffen hat?“ (S. 172). Das Leiden gilt nur dem „Geschçpf im Menschen“; daher ist Mitleid „die schlimmste aller Verzrtelungen und Schwchen“ (S. 173). Der Umsturzgedanke also, der N. nicht ruhen lsst, liegt ganz wo anders. Es ist der faustische
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Drang nach allumfassender, vorurteilsloser Erkenntnis, denn: „alles Unbedingte gehçrt in die Pathologie“ (S. 99). Dies ergibt freilich mittelbar einen vornehmeren Pessimismus: „der Teufel hat die weitesten Perspectiven fr Gott, deshalb hlt er sich von ihm so ferne“! (S. 95). Die Folge aber davon nennt S. 98: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund in dich hinein“; und die letzte Ursache endlich S. 255: „Es muss eine Art Widerwille in mir geben, etwas Bestimmtes ber mich zu glauben“. – Es wre kindisch, hier kritisieren zu wollen. – Doch „Heilig ist das Unglck!“ Wenn Gçtter strafen, weine der Mensch und lerne.
Und zu lernen haben wir alle. Dem erst wird der Blick fest, klar und zugleich beweglich, der, aus der Alltglichkeit aufgerttelt, unerschrockenen Mutes das Unerhçrte geschaut hat. – Doch, heisst es bei Goethe, „die Sonne glnzt heiss, und man glaubt wider an Gott“.
H., E. [Hanslick, Eduard?]: Jenseits von Gut und Bçse. In: Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung. Berlin, Sonntagsbeilage der Nr. 44 vom 31. 10. 1886. Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Von Friedrich Nietzsche. Leipzig, C. G. Naumann, 1886. „Es ist die Wissenschaft der Tod der Poesie. Die selbst einst war die Lebenslust der Erden. Tod sucht ein hçhres Sein; so sucht Philosophie zuletzt nur hçhre Poesie zu werden“.
Hat er recht – der Rckert? Hat er unrecht? Hat es ein gewisser Schiller vielleicht schon fertig gebracht, Philosophie in Poesie zu wandeln? Manche Leute behaupten es. Wie aber? wenn es Leute gbe, die – als ehemalige Philologen eine andere „Lesart“ erhrten: „Es sucht Philosophie zuletzt nur hçherer B1çdsinn noch zu werden?“ Wer wagt zu lcheln? Wehe ihm, in der Rangordnung der Lachenden wird Friedrich Nietzsche ihn auf die Armsnderbank setzen. Nur das goldene Gelchter sitzt obenan. Es ruft Roseggers Geist in SilsMaria? oder gar der Geist Edmund v. Hagens? Du erfreust Dich an kurzen Sprchen, lieber Leser? Ich auch. So wollen wir einen Spruch von Friedrich Nietzsche hçren: „Ein Mensch mit Genie ist unaussteh1ich, wenn er nicht mindestens noch zweierlei dazu besitzt: Dankbarkeit und Reinlichkeit“. Du bist hoffentlich nicht boshaft und beziehst diesen Spruch auf seinen Urheber – ihn, der ein so dankbarer – Zwerg ist gegen die „brbeißigen“ Geistesriesen vor ihm, der so beraus reinlich ist in dem logischen – Mischmasch seiner Fantastereien. „Jenseits von Gut und Bçse“ – ist ein Wunderland. „Dahin, dahin, mçcht ich
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mit dir geliebter Leser ziehn“. Doch was sehe ich? Was steht auf diesem Wegweiser? Spr. 14, 7
Hermann, Conrad: Neuere philosophische Literatur. 3. Jenseits von Gut und Bçse. In: Bltter fr literarische Unterhaltung. Leipzig, Dezember 1886, S. 715 f. Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Von Friedrich Nietzsche. Leipzig, C. G. Naumann. 1886. Gr. 8. 5 M. Der Verfasser dieses geistreichen Buchs scheint an alles Uebel in der Welt gedacht zu haben, nur nicht an die Noth, welche er seinem Recensenten damit bereitet hat. Es scheint in der That wie bei dem alten Heraklit von Ephesus eines delischen Schwimmers zu bedrfen, um den Kern seiner Weltauffassung zu heben und verstndlich zu machen. Wir mçchten das Ganze mit dem Ausdruck Fragmente eines edeln Pessimisten bezeichnen. Einen Auszug hieraus zu geben, ist wegen der sich in subjectiv beschaulicher Breite ergehenden Darstellungsweise schlechthin unmçglich. Der Verfasser nennt sich selbst einen Philologen und bemerkt von manchen Philosophen nicht mit Unrecht, daß sie einen Text gegeben htten ohne die nçthige Interpretation. Sollte aber sein Buch jemals einer sptern Generation in die Hnde fallen, so wrde dasselbe eine unerschçpfliche Fundgrube fr den mannichfaltigsten Scharfsinn und Tiefsinn der Erklrungskunst sein. Es ist alles ohne Zweifel sehr gut gemeint, aber fr alles andere eher als fr ein einfaches, unmittelbares und sofortiges Verstndniß eingerichtet. Der Verfasser schießt aus dem ihn umgebenden Nebel seiner eigenthmlichen Vorstellungen und Ideengnge Pfeile nach allen Seiten hin ab, und man hat immer erst Mhe, die Ziele oder Objecte aufzufinden, fr die sie bestimmt sind. Hierbei gefllt er sich fortwhrend in halben Andeutungen, geheimnißvollen Aposiopesen u.s.w., und lßt uns aus seinen verschleierten Orakelsprchen immer nur die unergrndliche Tiefe seiner Weltanschauung ahnen. Es kommen auch einige mal Worte vor, die einer dem Verfasser vielleicht bekannten, uns aber unbekannten Sprache angehçren. Der Verfasser erwartet, wie es scheint, ein neues Geschlecht von Philosophen, durch welches der bestndige Kampf von Gut und Bçse aus der Welt geschafft werden soll. Er ist offenbar ein Mann, der viel gedacht, beobachtet und gelesen hat, und sein Buch mag sinnigen und ahnungsreichen Gemthern vielleicht eine grçßere Befriedigung gewhren, als die des Recensenten bei der unmçglichen Aufgabe einer kurz zusammengefaßten Skizzirung seiner Weltansicht sein konnte.
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Reaktionen Franz Overbeck an N, 2. 1. 1887: „Schçnsten Dank fr die Mitteilung des beiliegenden Artikels, der immerhin erfreulicheren Geistes ist als der Widmannsche. Von dem was hier und da neuerdings auch in Deutschland ber Deine Bcher erschienen ist wirst Du wohl durch deinen offenbar regsameren Verleger in Kenntniss gesetzt sein. Mir ist ein Artikel im Centralblatt vorgekommen und etwas absolut dummes von Konrad Hermann in den Blttern fr litterarische Unterhaltung.“ KGB III/6, Bf. 425, S. 5
Michaelis, P.[aul]: Jenseits von Gut und Bçse. In: Nationalzeitung. Berlin, Bd. 39, Nr. 672 vom 4. 12. 1886, S. 1 f. Jenseits von Gut und Bçse. Unter diesem sonderbaren Titel hat Friedrich Nietzsche bei C. G. Naumann in Leipzig ein noch sonderbareres Buch erscheinen lassen, das trotz seiner Paradoxien und Wunderlichkeiten wohl einer eingehenden Betrachtung werth ist, sei es auch nur, um es zu bekmpfen. Nietzsche geht von einem radikalen Skeptizismus aus. Der Grundglaube der Metaphysik, sagt er, war bisher der Glaube an die Gegenstze der Werthe, so daß sich Wahrheit und Irrthum, Selbstlosigkeit und Eigennutz gegenber stehen und nicht aus einander entstehen kçnnen. Aber giebt es wirklich diese Gegenstze? Und wenn es diese giebt, muß nicht vielleicht dem Scheine, der Tuschung, der Begierde ein hçherer Werth zugeschrieben werden? Vielleicht besteht der Werth der guten Dinge gar darin, mit den schlimmen, scheinbar entgegenstehenden verknpft, ja wesensgleich zu sein. Alle wollen Wahrheit. Aber ist es nicht bloß ein Vorurtheil, ist es nicht die schlechtest bewiesene Annahme in der Welt, daß Wahrheit mehr werth ist als Schein? Ueberhaupt sollten die Philosophen doch ehrlich sein. Sie stellen sich, als ob sie ihre Meinung durch die Selbstentwickelung einer kalten, reingçttlichen Dialektik entdeckt htten, whrend sie doch nur einen abstrakt gemachten Herzenswunsch vertheidigen. Es ist einfach der Instinkt, der das bewußte Denken heimlich fhrt und in bestimmte Bahnen lenkt. Nichts ist verkehrter, als Philosophie fr reine Liebe zur Wahrheit zu halten. Die Philosophen sind Advokaten, Frsprecher ihrer Vorurtheile, die sie Wahrheit zu nennen belieben. Nicht der „Trieb zur Wahrheit“ philosophirt, sondern ein anderer menschlicher Trieb, der in dem betreffenden Philosophen der mchtigste ist. Am Philosophen ist ganz und gar nichts Unpersçnliches. So sind seine Urtheile und die Wahrheit, die er findet, selbstverstndlich nicht absolute Wahrheit.
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Auch mit der Moral ist dies der Fall. Die Philosophen nehmen sie als gegeben an und betrachten es als ihre Aufgabe, diese gegebene Moral zu begrnden. Noch Schopenhauer hat in verehrungswrdiger Kinderunschuld als den eigentlichen Satz aller Moral hingestellt: Niemanden zu verletzen, sondern allen so viel als mçglich zu helfen. Es war vielmehr vorher nçthig, eine Beschreibung und umfassende Darstellung der Moral zu geben, die wieder nur mçglich ist durch eine Vergleichung der Moralen. Denn in der That giebt es verschiedene Moralen, was sich schon daraus erklrt, daß es verschiedene Affekte giebt und die Moral nichts anderes ist als die Zeichensprache der Affekte. So lange eine Gemeinde, ein Stamm um seine Existenz ringen muß, werden die starken und gefhrlichen Triebe: Unternehmungslust und Tollkhnheit, Rachgier und Herrschsucht nicht nur geehrt, sondern groß gezogen. Eine Moral der Nchstenliebe giebt es noch nicht. Die Triebe des Mitleids, der Billigkeit, der Milde, wenn sie auch vorhanden sind, gehçren nicht zu den Tugenden. Sobald aber die ußern Feinde berwunden sind, werden jene rauhen Triebe in ihrer Gefhrlichkeit empfunden und schrittweise verleumdet und als unmoralisch gebrandmarkt. Nun kommen die sanften Triebe zu Ehren. jetzt ist alles, was Furcht erregt, bçse. Eine Gesellschaft kann so verweichlichen, daß ihr schon die Vorstellung von Strafe und Strafensollen wehe thut, und daß sie fr den Verbrecher Partei nimmt. Diese letztere Moral regiert heute in Europa. Der Gehorsam ist bisher so lange den Menschen angezchtet worden, daß jedem eine Art formalen Gewissens angeboren ist, das ihm sagt: Du sollst. Dieser Instinkt des Gehorsams geht so weit, daß die Unabhngigen, die Befehlshaber, kaum wagen, zu befehlen, und sich gleichsam selbst tuschen mssen, als ob auch sie gehorchten, nmlich der Verfassung, den Gesetzen oder Gott. Der Heerdenmensch giebt sich heute das Ansehen, als sei er die einzige erlaubte Art Mensch; die Eigenschaften, vermçge deren er zahm, vertrglich und der Heerde ntzlich ist, stellt er als die eigentlich menschlichen Tugenden hin. Wo man einen Fhrer braucht, macht man Versuche, durch Zusammenaddiren kluger Heerdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen; hierher gehçren die reprsentativen Verfassungen. Friedrich Nietzsche ist der Vorlufer einer Philosophie der Zukunft. Es sind freie Geister, diese neuen Philosophen, d. h. man verstehe ja nicht diejenigen darunter, die sich bisher mißbruchlich diesen Namen beilegten, die beredten, schreibfingerigen Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner „modernen Ideen“, die Nivellirer, die unfrei und oberflchlich sind, schon mit ihrem Vorurtheil, die Ursache alles menschlichen Elends und Mißrathens in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft zu sehen, deren beide am reichlichsten abgesungene Lieder, „Gleichheit der Rechte“ und „Mitgefhl fr alles Leidende“ heißen, die das Leben womçglich abschaffen mçchten und mit allen Krften das allgemeine Weideglck der Herde mit Sicherheit, Behagen, Erleichterung des Lebens fr jedermann erstreben. Umgekehrt, die neuen Philosophen sind die
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Antipoden der modernen Ideologie. Sie sehen, daß der Mensch am krftigsten unter den umgekehrten Bedingungen gewachsen ist; die Gefahr seiner Lage muß sich steigern, sein Geist unter langem Druck und Zwang sich in’s Feine und Verwegene entwickeln; Hrte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Versucherkunst und Teufelei jeder Art trgt mindestens ebenso viel zur Erlçsung der Gattung Mensch bei, als sein Gegentheil. Die demokratische Bewegung ist in Nietzsche’s Augen nicht bloß eine Verfallsform der politischen Organisation, sondern eine Wertherniedrigung des Menschen selbst. Was erlçsen kann, das sind die neuen Philosophen. Das sind Geister, stark und ursprnglich genug, um ewige Werthe umzuwerfen, Wagnisse und Gesammtversuche von Zucht und Zchtung vorzubereiten, um der schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die Geschichte hieß, ein Ende zu machen; Mnner, vor deren Bilde alles, was auf Erden an furchtbaren und wohlwollenden Geistern da war, blaß und verzwergt sich ausnimmt. Es ist die Sorge Nietzsche’s, daß diese imaginren Fhrer der Menschheit ausbleiben oder mißrathen oder entarten kçnnten. Denn an wie vielen Zuflligkeiten hngt nicht ihre Entwicklung! Was ist nicht alles aus dem Menschen noch zu zchten, aber an welchen erbrmlichen Dingen zerbrach nicht bisher gewçhnlich ein werdendes Genie hçchsten Ranges! Aber jedenfalls ist die Zchtung nçthig. Ein Recht auf Philosophie im großen Sinne hat man nur Dank seiner Abkunft; die Vorfahren, das Geblt entscheidet auch hier. Man sieht schon hier, daß eine andere Moral als die Heerdenthiermoral nçthig ist. Freilich, heute thut diese, als ob sie die einzige sei. Und das ist leider geschehen mit Hlfe des Christenthums. Nietzsche ist keineswegs gesonnen, den Werth der Religion an sich zu unterschtzen. Die grçßten Menschen, meint er, haben sich noch immer vor dem Heiligen gebeugt. Er spottet der Freidenker, die den religiçsen Menschen als minderwerthigen Typus behandeln, ber den sie hinausgewachsen sind. Dennoch weiß auch Nietzsche mit der Religion nichts anderes anzufangen, als sich ihrer zu seinem Zchtungs- und Erziehungswerke, ebenso wie der politischen und wirthschaftlichen Zustnde zu bedienen. Religion ist nmlich fr die Starken und zum Befehlen Bestimmten ein Mittel mehr, den Widerstand zu brechen. Die Religion ist ein Band zwischen Herrschern und Unterthanen, das die Gewissen der letztern, ihr Verborgenes und Innerlichstes, das sich gern dem Gehorsam entziehen mçchte, den erstern verrth und den Herrschern berantwortet. Zugleich hat die Religion das Gute, die große, sklavische Mehrzahl der Menschen in eine hçhere Scheinordnung der Dinge zu stellen und ihnen damit ein Gengen an der wirklichen Ordnung zu gewhren. Leider aber lßt sich die Religion manchmal einfallen, Selbstzweck sein zu wollen, dann wird sie unbequem. In der Menschheit ist nmlich ein Ueberschuß von Mißrathenen, Kranken, Entarteten. Und das Christentum nimmt grundstzlich Partei fr diese Leidenden, es sucht im Leben zu erhalten, was sich nur irgend erhalten lßt, es giebt allen denen
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Recht, die am Leben wie an einer Krankheit leiden. Diese schonende und erhaltende Frsorge ist schuld, daß der Typus Mensch bisher auf einer niedern Stufe festgehalten wurde. Die Religion erhlt zu viel, was zu Grunde gehen sollte, so arbeitet sie an der Verschlechterung der europischen Rasse. Sie stellte alle Werthschtzung auf den Kopf. Alles Große, Schçne und Starke wurde zerbrochen, bis endlich aus dem Menschen eine sublime Mißgeburt gemacht war. Die Religion mit ihrem „gleich vor Gott“ ist schuld an dieser kleinen, lcherlichen Art, an diesem krnklichen, mittelmßigen Geschçpf, an diesem Heerdenthier, dem heutigen Europer. Sie war den sublimsten Heerdenthierbegierden zu Willen und muß es nun bßen. Die Demokratie wird das Christenthum beerben. Diese Autonomie der Heerde aber ist fr Nietzsche, was fr den Truthahn das rothe Tuch. Er kann sich nicht genugthun in Tiraden gegen die Revolutionsideologen und Demokraten und gegen ihren anscheinenden Gegensatz, die Anarchisten, da sie doch alle denselben Wahlspruch haben: „ni Dieu, ni matre.“ Die jetzt herrschende Moral ist die Sklavenmoral. Sie zieht alle Eigenschaften ans Licht, die dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern. Hier ist die Entstehung des Gegensatzes von Gut und Bçse. „Bçse“ ist nmlich, was Furcht erregt. Nietzsche stellt dagegen eine andere Moral auf, eine Herrenmoral. Nach dieser erregt gerade der Gute Furcht. In ihr werden die stolzen Zustnde der Seele, das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende als gute empfunden. Alle andern Wesen, an denen das Gegentheil solcher stolzer Zustnde zum Ausdruck kommt, erscheinen dem „Guten“ als verchtlich. Verachtet wird der Feige, der Aengstliche, der Kleinliche, der an die enge Ntzlichkeit Denkende; ebenso der Mißtrauische, die Hundeart von Menschen, der Schmeichler, der Lgner. Er urtheilt: was mir schdlich ist, das ist an sich schdlich. Es ist Herrenrecht, Werthe zu schaffen. Der Gute in diesem Sinne hat ein hartes Herz. Er ist stolz darauf, nicht zum Mitleiden gemacht zu sein. Aber weil er sich selbst ehrt, deshalb versteht er wieder zu ehren. Tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und dem Herkommen, das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren. Und, was die Herde am wenigsten begreifen kann, Strenge des Grundsatzes, daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten habe, whrend man gegen alte Wesen niederen Ranges nach Gutdnken handeln drfe. Hier ist man ber den eigentlichen Gegensatz von Gut und Bçse offenbar hinaus, man ist jenseits dieser Begriffe. Der Gegensatz ist jetzt vielmehr „vornehm“ und „verchtlich“. Diese Herrenmoral aber muß herrschen, wenn die Spezies Mensch zu ihrer hçchsten Entwickelung gelangen soll. Denn Leben ist wesentlich Aneignung, Unterdrckung, Hrte, Ausbeutung, denn Leben ist Wille zur Macht. Die Ausbeutung gehçrt in das Wesen des Lebendigen, und wenigstens als Realitt ist sie das Urfaktum der Geschichte. Es ist eben, wie in der Natur. Freilich reden demokratische Physiker von ihrer Gesetzmßigkeit. „Ueberall Gleichheit vor dem Gesetz in der Natur.“ Aber aus derselben Natur kann man, und wohl mit
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mehr Recht, die tyrannische, unerbittliche Durchsetzung von Machtansprchen herauslesen und in ihr einen unbedingten Willen zur Macht finden. Natrlich ist diese Erhçhung des Typus Mensch das Werk der aristokratischen Gesellschaft. Aus dem Unterschied der Stnde, aus dem bestndigen Herabblicken der herrschenden Kaste auf Unterthnige und Werkzeuge, aus ihrer bestndigen Uebung im Gehorsam und Befehlen erwchst das Pathos der Distanz, das wieder auf die Seele einwirkt und sie erhçht. Ueber die Entstehung dieser aristokratischen Gesellschaft darf man sich keiner Tuschung hingeben. Raubmenschen im Besitz ungebrochener Willenskrfte und Machtbegierden warfen sich auf friedliche Rassen oder altersschwache Kulturen und erdrckten sie. Die Vornehmen waren im Anfang immer Barbaren. Und diese Aristokratie erhlt sich nur, so lange sie an sich selbst glaubt, so lange sie glaubt, daß die Gesellschaft nur Unterbau und Gerst sei, an dem sich eine hçhere Art Wesen zu ihrer hçheren Aufgabe und berhaupt zu einem hçheren Sein emporzuheben vermag. Das klassische Land in seiner erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens ist die Mark in ihren adeligen Reprsentanten. In Nietzsche ist ein neuer Philosoph entstanden, der alle andern abthut, vom großen Chinesen Kant bis zum kindlich naiven Schopenhauer. Auch Schopenhauer, trotzdem Nietzsche doch, wie mich dnkt, so viel von ihm gelernt hat. Am Ende ist seine neue Entdeckung vom „Willen zur Macht“ nichts anderes, als der in’s aristokratische gewandelte „Wille zum Leben“ Schopenhauer’s. Aber er hat noch mehr von ihm gelernt, nmlich die Sprache. Nicht, daß er sich die Mhe gbe, seine Gedanken systematisch darzustellen. Dazu ist er zu „vornehm.“ Er schreibt nicht fr die große Masse. Man muß den schlechten Geschmack abthun, mit vielen bereinstimmen zu wollen. Wie mag’s ein Gemeingut geben? Das Wort widerspricht sich selbst, was gemein sein kann, hat immer nur wenig Werth. Allerweltsbcher sind immer belriechende Bcher. Der Geruch der kleinen Leute klebt daran. Wo das Volk ist und trinkt, selbst wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Dabei sehen wir doch aber in diesen krzern oder lngern Abschnitten berall den Meister in der Behandlung der Form. Bisweilen witzig, bisweilen ernst, bisweilen schneidend satirisch, am hufigsten mit der lchelnden Miene eines Einsiedlers, der von der hohen Alpe das Rennen und jagen der Menschen als unbetheiligter Zuschauer betrachtet. Ueberhaupt ist der Grundgedanke, wie wir ihn darzustellen versuchten, vielleicht das am wenigsten Interessante an diesem „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“. Es ist vielleicht nicht einmal so ernsthaft gemeint. Manchmal will es fast scheinen, als sei die ganze Schrift eine Satire auf die unmßigen Ansprche der Aristokratie. Nietzsche spielt bisweilen mit den hçchsten Dingen, um sich die interessante Blsse des Gedankens zu geben. Und es soll ja auch keine neue Philosophie sein, was er uns giebt, sondern nur ein Vorspiel, eine Ouvertre. Da klingen und singen mannichfaltige Stimmen und Melodien, bald kaum angedeutet, bald weiter ausgesponnen. Was wird da nicht alles abgehandelt, Mozart
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und Wagner, Frauenemanzipation und Antisemitismus, Stil- und Rassenunterschiede. Nietzsche ist am anziehendsten, wo man ihm widerspricht. Aber um die Summa zu ziehen: man sieht, die aristokratische Strçmung unserer Zeit hat nun auch ihren philosophischen Vertreter gefunden. Nietzsche spricht nur aus, was, wenn auch unbewußt, heute die leitenden und treibenden Gedanken eines großen Theils der „vornehmen“ Gesellschaft sind. Er ist der Philosoph der junkerlichen Aristokratie und aller derer, die „Carriere machen“ wollen. Vielleicht hindert nur seine unbequeme Offenherzigkeit, daß er offen von ihnen allen anerkannt wird. Sein Princip ist: Unbegrenzte Devotion nach oben, unbegrenzte Verachtung nach unten. Ein Skeptizismus, dem nichts heilig ist, der vor nichts Halt macht, der selbst am Zweifel zweifelt, eine diabolische Begierde, an allem Bestehenden zu rtteln, und daneben eine kaltbltige, berechnende Benutzung des Bestehenden zum Zweck der Machtvergrçßerung der „Herren“, der „Vornehmen“, sagen wir es offen: des Adels. Die Religion ist ein Anachronismus, ein berwundener Standpunkt, aber sie ist ein Mittel, das Gewissen der Heerde zu kontrolliren. Auch die Moral ist nur fr den Pçbel, die „Herren“ haben ihre eigene, d. h. sie setzen sich ber die Moral hinweg. Ihr Grundsatz lautet: Macht geht vor Recht. Darum ist dies Buch ein charakteristisches Merkmal einer ganz bestimmten Richtung in unserem modernen Leben. Was mit Nietzsche versçhnt, das ist die naive Unverfrorenheit, mit der er seine Gedanken ausspricht. Je besser man seinen Gegner kennt, um so leichter kann man sich vor ihm hten. Nur eins mçchten wir ihm zu bedenken geben. Wenn nun einmal auch die „Heerde“ sein Lebensprincip, den Willen zur Macht, sich aneignen wollte? Nietzsche redet mit grçßter Verachtung von den Anarchistenhunden, die durch die Gassen Europas heulen und doch scheint es, als ob sie nichts anderes thun wollten, als mit seinem Princip einmal Ernst gegen die „hçheren“ Menschen zu machen. Reaktionen N an Franz Overbeck, 24. 9. 1887: „Ein guter (aber feindseliger) Aufsatz ber ,Jenseits‘ in der Nationalzeitung (4 Dezemb. 1886) hier mir erst zu Gesicht kommend.“ KGB III/5, Bf. 918, S. 161 N in Nachgelassene Fragmente, September 1887: „Ein Referent der Nationalzeitung verstand das Buch als Zeichen der Zeit, als echte rechte Philosophie, zu der es der Kreuzzeitung [d.i. die konservative Neue preußische Zeitung, Berlin] nur an Muth gebreche.“ KGW VIII/3, S. 343
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N, Entwurf an Carl Spitteler, ca. 10. 2. 1888: „P. Michaelis Recension von ,Jenseits von Gut und Bçse‘, Nationalzeitung, Berlin 4. 12. 1886, ist die achtbarste Recapitulation meines Gedankengangs, die ich bisher gelesen habe: daß sie mit Abneigung gemacht ist, verarge ich dem Referenten durchaus nicht: – ihre relative Objektivitt ist mir um so ehrenwerther ( der schließliche Versuch, den er macht mich als Symptom einer gegenwrtigen, socialen Strçmung zu verstehn, liegt natrlich abseits von meinen Interessen)“. KGB III/5, Bf. 987, S. 246 N an Carl Spitteler, 10. 2. 1888: „(Ich lege zwei Besprechungen dieses Buchs bei: die des Dr. Widmann und die der Nationalzeitung. Letztere, abgeneigt und unehrerbietig, wie sie ist, stellt trotzdem den Gedankengang des Buchs mit leidlicher Deutlichkeit hin)“. KGB III/5, Bf. 988, S. 247 N an Ernst Wilhelm Fritzsch, 21. 3. 1888: „Inzwischen ist mir noch jemand bekannt geworden, der auf eine intelligente Weise das Bekanntwerden meiner Schriften fçrdert: das ist Herr P. Michaelis, Domhlfsprediger in Bremen. Derselbe ist fr die Nationalzeitung thtig, welche in den letzten zwei Jahren bereits zwei Mal ber mich (resp. ber Bcher von mir) Aufstze gebracht hat. Ersichtlich kennt er die ,Morgenrçthe‘ und die ,Frçhliche Wissenschaft‘ nicht: ich wrde Ihnen vorschlagen, diese beiden Bcher ihm zu bersenden zugleich mit der beiliegenden Karte von meiner Seite. Adresse: Bremen Am Deich 55.“ KGB III/5, Bf. 1006, S. 274
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Heinrich Welti an Constantin Georg Naumann in Leipzig, vor dem 19. 9. 1886: „Mit grossem Interesse und Freude habe ich vom Erscheinen eines neuen Werkes des genialen Friedrich Nietzsche gehçrt und mich sofort entschlossen, demselben eine Besprechung in meinen ,Litteraturbriefen‘ fr die ,Neue Zrcher Zeitung‘ zu widmen. Da eine Anzeige in dem hervorragendsten Blatte der deutschen Schweiz den Absatz des Buches zweifelsohne fçrdern wird, darf ich Sie wohl einladen, mir zum Behufe der Recension ein Exemplar des Werkes ,Jenseits von Gut und Bçse‘ senden zu lassen. Beleg wird s. Z. geliefert werden.“ KGB III/ 7/3, 2, Nr. 2, S. 860 f
Welti, Heinrich: Litteraturbriefe IV. In: Neue Zrcher Zeitung, Bd. 66, Nr. 346 vom 13. 12. 1886. Litteraturbriefe IV Mit dem Philosophiren ist es gerade so beschaffen wie mit dem Bergsteigen; es ist gesund aber gefhrlich, und ein einsichtiger Menschenberather wird daher immer in Zweifel sein, ob er als Menschenfreund es empfehlen oder als Menschenkenner davor warnen soll. So gewiß ein tchtiger Marsch aus engem und dumpfem Thale auf die freien Berge die Lungen strkt und Nerv und Muskel sthlt, so gewiß erquickt und erfrischt den Geist ein Aufstieg aus der ewigen Dasselbigkeit des Lebens zu weiter und freier Weltanschauung. Aber, wie selbst Gesunde und Krftige – von den Schwchlichen und Kranken nicht zu reden – ob der ungewohnten Anstrengung leicht ermden, in dem unbekannten Gebiet und auf den abschssigen Pfaden straucheln und selbst lebensgefhrlich strzen kçnnen, so ergeht es auch gar Manchen, die tieferer Drang oder bloße Neugierde dazu drngt, die Hçhen des Geistes zu erklimmen. Die meisten erlahmen lange bevor sie ans Ziel kommen, viele verunglcken, indem sie die Ruhe und das Gleichgewicht der Seele verlieren und von den Seltenen, die den Gipfel erreichen, sind es auch nur Wenige, die sich dort fr die Mhen belohnt finden und sich dauernd heimisch fhlen; der Mehrzahl weht da droben eine zu scharfe Lust. Und trotz alledem erlischt die Sehnsucht nach den lichten Hçhen der Erkenntniß in der Menschheit nicht und tglich treten khne und lebensmuthige Geister die beschwerliche Wanderung an. Da ist es denn gut und von Wichtigkeit, einen Fhrer zu haben, der wenigstens vor den ersten Fehltritten und Irrgngen warnen und schtzen kann, damit Kraft und Frische nicht schwindet, ehe auch nur der erste Abhang erstiegen ist. Einen solchen Fhrer verehren wir in Friedrich Nietzsche; er ist ein feiner und grndlicher Kenner seines Gebietes, sein Auge ist klar, sein Schritt sicher, sein Geist groß und khn genug, auch den Muth des Fehlens zu besitzen.
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Es sind nun 15 Jahre seit die erste philosophische Schrift dieses seltenen Mannes erschien, eine ganze Reihe gewichtiger Bcher sind ihr gefolgt, tiefer Gedankengehalt, heiliger Ernst zur Sache, hçchste Wahrhaftigkeit ist ihnen allen eigen, aber dieser Vorzge ungeachtet ist die Zahl seiner Leser noch eine kleine im Verhltniß zum Werth und der Bedeutung seiner Werke. Woran das liegt? Ei natrlich an Nietzsche selbst. Wer wird sich denn einem Philosophen vertrauen wollen, der selbst noch sucht und irrt, da wir doch solche besitzen, die de omnibus rebus et quibusdam aliis Bescheid wissen und berdem ihre Erkenntniß fein suberlich in ein System gebracht haben, das Einem, nimmt man nur die Prmissen an, mit einem Schlage in Besitz einer fixen und fertigen Weltanschauung setzt? Wer wird sich bemhen, aus Hunderten von Fragmenten und Aphorismen das Gesammtbild einer neuen Lebens – und Weltanschauung zusammen zu setzen, da es doch Philosophen genug gibt, welche ihre Lehre in klarer Uebersichtlichkeit und festem Zusammenhang vorzutragen wissen? Wer wird sich mit der Erwgung von Paradoxen, mit dem Errathen von Rthseln plagen, wenn er anderswo der Welt ganze Weisheit ohne eigenen Denkens Mhe und Anstrengung erlangen kann? Mußten nicht schon Titel wie „Menschliches, allzu Menschliches“, „Der Wanderer und sein Schatten“, „Morgenrçthe“, „Die frçhliche Wissenschaft“, „Also sprach Zarathustra“ gegen die Wissenschaftlichkeit dieser Philosophie Verdacht erregen? Und nun gar das Ansinnen Nietzsche’s, alle unsere moralischen Begriffe, mit denen die Menschheit nun doch schon seit Jahrhunderten auskommt, mit denen doch bereits die mannigfachen Philosophien aufgebaut worden sind, umzudenken, unsere Werthe umzuwerthen! Wahrlich Grnde genug, die geringe Verbreitung dieser Schriften zu erklren, ohne auch den Geist derselben und dessen Verhltniß zu den modernen Lebensanschauungen in Betracht zu ziehen; Grnde genug aber auch fr uns, den nachdenklichen und reifen Leser auf diese eigenthmliche, bald anziehende, bald abstoßende, immer aber mchtig anregende tiefe Forscher- und Denkernatur hinzuweisen. Friedrich Nietzsche, dessen neuestes Buch „Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“259 vor uns liegt, ist, was man so gemeinhin einen Freigeist nennt; aber man wrde ihm schweres Unrecht zufgen, wollte man ihn zur großen Schaar Derer zhlen, die er selbst als die Nivellirer, diese flschlich genannten „freien Geister“, diese beredten und schreibfingrigen Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner „modernen Ideen“ bezeichnet. Was er ist und wie er es geworden, sagt er uns selbst in dem bedeutungsvollen Schluß des zweiten Hauptstckes im vorliegenden Werke. Hçren wir seine eigene Aussage. „In vielen Lndern des Geistes zu Hause, mindestens zu Gaste gewesen; den dumpfen angenehmen Winkeln immer wieder ent259 Leipzig, Verlag von C. G. Naumann.
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schlpft, in die uns Vorliebe und Vorsatz, Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Bchern, oder selbst die Ermdungen der Wanderschaft zu bannen schienen; voller Bosheit gegen die Lockmittel der Abhngigkeit, welche in Ehren, oder Geld, oder Aemtern, oder Begeisterungen der Sinne versteckt liegen; dankbar sogar gegen jede Noth und wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgend einer Regel und ihrem „Vorurtheil“ losmachte, dankbar gegen Gott, Teufel, Schaf und Wurm in uns, neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen Fingern fr Unfaßbares, mit Zhnen und Mgen fr das Unverdaulichste, bereit zu jedem Handwerk, das Scharfsinn und scharfe Sinne verlangt, bereit zu jedem Wagniß, Dank einem Ueberschuß von „freiem Willen“, mit Vorder- und Hinterseelen, denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit Vorder- und Hintergrnden, welche kein Fuß zu Ende laufen drfte, Verborgene unter den Mnteln des Lichts, Erobernde, ob wir gleich Erben und Verschwendern gleich sehen, Ordner und Sammler von frh bis Abend, Geizhlse unsres Reichthums und unserer vollgestopften Schubfcher, haushlterisch im Lernen und Vergessen, erfinderisch in Schematen, mitunter stolz auf Kategorientafeln, mitunter Pedanten, mitunter Nachteulen der Arbeit auch am hellen Tage; ja wenn es noth thut, selbst Vogelscheuchen – und heute thut es noth: nmlich insofern wir die geborenen, geschworenen, eiferschtigen Freunde der Einsamkeit sind, unserer eigenen, tiefsten, mitternchtlichen, mittglichsten Einsamkeit: eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister! Diese Selbstschilderung lßt auf den ersten Blick erkennen, daß wir es mit einem Revolutionr auf dem Gebiete der Philosophie zu thun haben, mit einem großen Zweifler am Werth aller bisherigen metaphysischen Systeme und einem khnen, mit allen Mitteln des Wissens ausgersteten Pfadsucher einer neuen Welt und Lebensanschauung. Von welcher Beobachtung ausgehend der in den philosophischen Werke aller Zeiten und Vçlker wohl belesene Mann zu dieser gegnerischen Stellung gegen die verschiedenen philosophischen Systeme gelangt ist, erfahren wir gleich zu Beginn seines neuesten Buches, wo er den „Glauben an die Gegenstze“ als die Grundlage aller bisherigen metaphysischen Lehren bezeichnet. Aus diesem Vorurtheil, aus diesem Glauben heraus, sagt er, bemhen sich die Metaphysiker um ihr Wissen, um Etwas, das feierlich am Ende als Wahrheit getauft wird. Ein Vorurtheil aber ist jener Glaube, da man nmlich zweifeln darf, erstens „Ob es Gegenstze berhaupt gibt, und zweitens, ob jene volksthmlichen Werthschtzungen und Werthgegenstze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrckt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schtzungen sind, nur vorlufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Froschperspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern gelufig ist.“ Aus dieser Erwgung und der Erkenntniß, daß das meiste bewußte Denken eines Philosophen durch seine Instinkte heimlich
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gefhrt und in bestimmte Bahnen gezwungen werde, daß alle großen Philosophien in erster Linie als Selbstbekenntnisse ihrer Urheber zu betrachten sind, und daß in ihnen die moralischen oder unmoralischen Absichten den eigentlichen Lebenskeim ausmachen, gelangt Nietzsche schließlich zu der Ueberzeugung, daß Psychologie nunmehr der Weg sei zu den Grundproblemen, daß die Psychologie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werden msse, zu deren Dienste und Vorbereitung die brigen Wissenschaften da sind. Die Unzulnglichkeit der lteren Psychologie ist aber Nietzsche nicht entgangen und er bringt als einen treffenden Beweis dafr ihre Versuche zur Erklrung des religiçsen Wesens, der religiçsen Neurose, als deren letzten epidemischen Ausbruch und Aufzug er die „Heilsarmee“ bezeichnet. „Fragt man sich aber“, sagt er, „was eigentlich am ganzen Phnomen des Heiligen den Menschen aller Art und Zeit, auch den Philosophen, so unbndig interessant ist, so ist es ohne allen Zweifel der ihm anhaftende Anschein des Wunders, nmlich der unmittelbaren Aufeinanderfolge von Gegenstzen, von moralisch entgegengesetzt gewertheten Zustnden der Seele: man glaubte hier mit Hnden zu greifen, daß aus einem ,schlechten Menschen‘ mit Einem Male ein ,Heiliger‘, ein guter Mensch werde. Die bisherige Psychologie litt an dieser Stelle Schiffbruch: sollte es nicht vornehmlich darum geschehen sein, weil sie sich unter die Herrschaft der Moral gestellt hatte, weil sie an die moralischen Werth-Gegenstze selbst g1aubte und diese Gegenstze in den Text hinein sah, hinein las, hinein deutete?“ Ob freilich unser Weiser damit, daß er die ganze Psychologie als Morphologie und Entwickelungslehre des Willens zur Macht faßt, das Welt- und Daseinsrthsel zu lçsen vermçgen wird, muß dahin gestellt bleiben, genug fr uns, daß er von diesem eigenen und neuen Standpunkt aus eine Flle klarer und lebenswahrer Anschauungen und tiefer Erkenntnisse gewinnt, die nicht nur fr die geistige Erfassung der Welt und des Lebens, fr eine Philosophie der Zukunft fçrderlich sind, sondern auch als Bausteine zur Ethik kommender Zeiten von grundlegender Bedeutung sein werden. Ein starker, gewaltiger Strom geistiger Anregung drngt dem Vorurtheilslosen und Gedankenfreien aus diesem seltenen und eigenartigen Buche entgegen und um dessen willen schon soll es den Ernsten und Sinnenden empfohlen sein. Nicht jeder Trank, den sie daraus schçpfen, wird ihnen munden, aber wer das Ganze in sich aufgenommen und selbstndig verarbeitet haben wird, kann, selbst wenn er bei ganz verschiedenen Anschauungen verharrt oder zu entgegengesetzten Erkenntnissen durchdringt, die geiststrkende Art und die ernste Wahrhaftigkeit des Werkes nicht verkennen. Allen aber, die sich in die gewaltige Flle von Gedanken und Ansichten vertiefen wollen, die Nietzsche in den 9 Stcken seines neuesten Werkes, deren Titel wir hier zur Charakteristik aufzeichnen: 1) Von den Vorurtheilen der Philosophen, 2) Der freie Geist, 3) Das religiçse Wesen, 4) Sprche und Zwischenspiele, 5) Zur Naturgeschichte der Moral, 6) Wir Gelehrten, 7) Unsere Tugenden, 8) Vçlker und Vaterlnder, 9) Was ist vornehm?,
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niedergelegt hat, mçchten wir zwei Sprche aus unseres Weisen vorletztem Werke zurufen: „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen“. „Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfllt? Htet euch, daß euch nicht eine Bildsule erschlage!“ Einem solchen Lehrer und Fhrer, ducht uns, darf man wenigstens trauen.
Reaktionen Heinrich Kçselitz an N, 13/14. 12. 1886: „Heute las ich ganz zufllig eine Recension ber Ihr letztes Buch in Nr. 346 der ,Neuen Zricher Zeitung‘ (13. Dec.), unbedeutend, aber sehr ehrfurchtsvoll. Man sieht, der Schreiber, ein Dr. Heinrich Welti in Mnchen, hatte einen tiefen Eindruck von Ihnen.“ KGB III/4, Nr. 420, S. 249 N an Heinrich Kçselitz, 22. 12. 1886: „Gestern bekam ich den Bericht des Dr. Welti (Sohn des alten Schweizer Bundesprsidenten) aus Zrich zugeschickt – durch wen? Durch Frl. von Salis. Es thut mir wohl, eine Zeit lang noch in diesem harmlosen clair-obscur fortzuleben.“ KGB III/3, Nr. 781, S. 291 N an Franziska Nietzsche, 22. 12. 1886: „Gestern langte auch ein Brief des Frl. von Salis an, sie betrachtet es ,als eine der segensvollsten Fgungen ihres Lebens, meine Philosophie kennen gelernt zu haben‘. Sie sandte einen Artikel ber mich mit, der in der Zrcher Zeitung gestanden hat, von jenem Dr. Welti, dem Sohn des alten Bundesprsidenten der Schweiz. Sehr ehrfurchtsvoll.“KGB III/3, Nr. 782, S. 293 N an Franz Overbeck, 25. 12. 1886: „Anbei eine sehr gutmthige Anzeige von J. v. G. u. B., die sich zu mir verirrt hat. Man sagt mir, dieser Dr. Welti sei der Sohn des Alt-Bundesprsidenten Welti. – Sonst berall die Tonart des Widmann. – “ KGB III/3, Nr. 783, S. 295 N an Meta von Salis, 1. 1. 1887: „Aus den Worten Ihres Briefs habe ich Eins herausgenommen, das Wort Gegner: habe ich Gegner? Da ist eine Lcke in meinem Bewußtsein; zum Mindesten habe ich noch nicht daran zu leiden gehabt. Das Mißverstndnis ber mich ist einstweilen zu groß, als daß ich wirkliche Gegner oder wirkliche Freunde haben kçnnte; auch werde ich mich weder darber beklagen, noch die Geduld verlieren. Gewiß ist, daß mir meine ,Freunde‘ hundert Mal mehr Noth gemacht haben als irgendwelche Abge-
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neigtheiten. Auch der Dr. Welti, der mich durch ein liebenswrdiges clairobscur von Verehrung hindurch sieht, macht es nicht besser, wie mir scheint.“ KGB III/5, Nr. 786, S. 6 N an Franziska Nietzsche, 30. 1. 1887: „Die Idee, daß nahe Verwandte von mir sich in Sdamerika mit Holzhandel bereichern wollen, ist so fremd fr mich als ihnen meine ,Ideen‘ sein mçgen (ber welche sich der beiliegende Dr. Welti im Grunde zu artig und gutmthig ausdrckt als daß ich seinem Urtheile großen Werth beizulegen vermçchte)“. KGB III/5, Nr. 796, S. 17 N an Franz Overbeck, 12. 2. 1887: „Beilufig: Mir ist diese letzten Monate (wo ich mehr als mir lieb war mich gençthigt sah, meine frhere Litteratur zu bercksichtigen) zum Bewußtsein gekommen, daß in fnfzehn Jahren auch nicht eine einzige werthvolle sachlich-tiefe, interessante und interessirte Recension ber eins meiner Bcher geschrieben worden ist – und daß ich’s nicht vermißt habe (was das beste daran ist!) Dagegen will ich keinen Augenblick leugnen, daß ein andres Faktum mir schrecklich weh thut und mir auch bestndig gegenwrtig ist: daß in eben diesen fnfzehn Jahren auch nicht Ein Mensch mich ,entdeckt‘ hat, mich nçthig gehabt hat, mich geliebt hat, und daß ich diese lange erbrmliche schmerzenberreiche Zeit durchlebt habe, ohne durch eine chte Liebe getrçstet worden zu sein.“ KGB III/5, Nr. 798, S. 20 N an Franziska Nietzsche, 4. 3. 1887: „Meine alte Mutter, daß Du mir keinen Mißbrauch mit der Welti-Recension treibst! Sie ist ja etwas Jmmerliches; aber nur darum, weil sie beweist, daß man mich immer noch in der Schweiz mit großer Achtung behandelt, habe ich sie Dir geschickt.“ KGB III/5, Nr. 811, S. 37
Schlaf, Johannes: Jenseits von Gut und Bçse. In: Allgemeine Deutsche Universittszeitung. Berlin, Bd. 1, Nr. 2 vom 8. 1. 1887, S. 22. Jenseits von Gut und Bçse. Von Friedrich Nitzsche [sic]. Leipzig 1886. Vorliegendes Buch soll ein Grundriss zu einer Philosophie der Zukunft sein. In der That bringt aber der Verfasser bei seiner aphoristisch-Emerson’schen Manier nur einzelne Bausteine, denen man’s wahrhaftig nicht ansieht, wie sich einst aus ihnen ein festgefgtes System gestalten soll, die vielmehr recht verteufelt danach aussehen, als brçckle mal wieder ein Stck Philosophie ab und bewahrheite sich die trbe Weisheit vieler Skeptiker von dem Bankrotte der Philosophie. – Was dieser Aphorismenweisheit einigermaßen Rckgrat giebt, ist die bei Licht besehen nicht gerade sehr originelle Idee vom „Willen zur Macht“ und die von
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einer „Umwertung der Werte“. Ueber letztere ist manches recht Beachtenswerte beigebracht, wie denn im einzelnen sehr viel, leider oft zu geistreiche AperÅus und viel ganz richtige und leidlich vernnftige Ansichten entwickelt werden. Leider kommt man nicht zum rechten Genuß derselben, da die Idee vom „Willen zur Macht“ den Verfasser zu einem geradezu krankhaften Kult der Persçnlichkeit und zu einem recht dnkelhaften Selbstbewußtsein verleitet, das sich recht frevelhaft und recht tçricht ber die nach Ausgestaltung ringenden Strçmungen der Gegenwart hinwegsetzt. – Es giebt einen bertriebenen Begriff der Individualitt, ein krankhaft gesteigertes Selbstbewußtsein, das Menschen zu eigen ist, die ganz isolirt von der Gesellschaft stehen, mit ihr nichts zu thun haben wollen, sie verachten, obgleich sie doch ohne sie nicht mçglich sind. Leute, die nehmen, geduldet sein wollen, aber nichts geben, nicht fçrdern: Parasiten. Die Gesellschaft nennt sie, soweit sie ihr nicht wirklich gefhrlich sind: Narren. Solche Leute, die manchmal solche Schrullen haben, daß sie vielleicht den Dionysoskult ernstlich in’s XIX.-Jhdt. versetzen, man trifft deren gerade heute viel – ein Zeichen der Zeit – kçnnte die Philosophie des Verfassers zchten. Reaktionen N an Franz Overbeck, 12. 2. 1887: „Beilufig: Mir ist diese letzten Monate ( wo ich mehr als mir lieb war mich gençthigt sah, meine frhere Litteratur zu bercksichtigen) zum Bewußtsein gekommen, daß in fnfzehn Jahren auch nicht eine einzige werthvolle sachlich-tiefe, interessante und interessirte Recension ber eins meiner Bcher geschrieben worden ist – und daß ich’s nicht vermißt habe (was das beste daran ist!) Dagegen will ich keinen Augenblick leugnen, daß ein andres Faktum mir schrecklich weh thut und mir auch bestndig gegenwrtig ist: daß in eben diesen fnfzehn Jahren auch nicht Ein Mensch mich ,entdeckt‘ hat, mich nçthig gehabt hat, mich geliebt hat, und daß ich diese lange erbrmliche schmerzenberreiche Zeit durchlebt habe, ohne durch eine chte Liebe getrçstet worden zu sein.“ KGB III/5, Bf. 798, S. 20 N an Heinrich Kçselitz, 7. 3. 1887: „Ich habe es noch nicht einmal zu Widersachern gebracht; seit 15 Jahren ist berhaupt ber keines meiner Bcher eine tief gemeinte, grndliche, sach- und fachgemße Recension erschienen – kurz, man muß dem Fritzsch Einiges zu Gute halten. – […] Dabei erfuhr ich, wie selbst im Tbinger Stift meine Schriften heimlich und gierig verschluckt werden; ich gelte dort als einer der ,negativsten Geister‘.“ KGB III/5, Bf. 814, S. 40
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mk: Jenseits von Gut und Bçse. In: Nord und Sd. Breslau, Bd. 41, Mai 1887, S. 31. Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Von Friedrich Nietzsche, Leipzig, C. G. Naumann. Ein eigenartiges Buch, wie Nietzsches Schriften alle. Formell ist es eigenartig, inhaltlich hat es zum mindesten den Schein der Eigenartigkeit. Die Form und der Inhalt fesselt den Leser und reizt theils zum Protest, theils zum Beifall. Sogleich der erste Satz der Vorrede charakterisirt es in beider Hinsicht: „Vorausgesetzt, daß die Wahrheit ein Weib ist –, wie? ist der Verdacht nicht gegrndet, daß alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? …“ Es enthlt gegen dreihundert lngere oder krzere Aphorismen, welche, in neun Hauptstcke gefaßt, durch die Einheit eines moralphilosophischen Grundgedankens gebunden werden. Der wie bei den meisten Schriften des Verfassers etwas absonderliche Titel deutet ihn an. Gut und Bçse nmlich, diese vermeintlich obersten Kategorien fr das sittliche Handeln, taugen nichts als Werthmesser. Sie haben ihren Ursprung in der zwar landlufigen, aber unechten „Sklavenmoral“. Dieser gegenber steht als des Verfassers Ideal einer Moral die „Herrenmoral“, fr welche es ein Gut und Bçse nicht giebt. Diese „Moral der Vornehmen“ liegt jenseits von Gut und Bçse, die Frage nach dem, was sittlich ist, ist auf diesem Boden Machtfrage. Man sollte meinen, es mßte schier unmçglich sein, die Idee der Macht als Moralprincip zu fructificiren, und stellenweise muthet das Buch einen wirklich an wie eine im hçchsten Grade geistreiche Caricatur irgend einer modernen philosophischen Ethik, eine Caricatur etwa in der Weise, wie Caspar Schmidt (Max Stirner) durch sein ehemals viel gelesenes Buch „Der Einzige und sein Eigenthum“ Ludwig Feuerbach ironisch caricirte durch eine „Negation der Moral zu Gunsten des Egoismus“. Bei Nietzsches „Willen zur Macht“ denkt man unwillkrlich an Schopenhauers tyrannischen, bermchtigen „Willen zum Leben.“ Aber die Verschiedenheiten sind doch zu augenfllig, als daß man nicht sofort dahinter kme, daß es dem Verfasser nicht um eine witzige Persiflage zu thun, sondern daß es ihm damit Ernst ist. Denn Schopenhauers Moral luft aus in die Forderung der Negation des Willens zum Leben, Nietzsches Herrenmoral fordert Bejahung des Willens zur Macht, – dort schwarzgalliger Pessimismus, hier „frçhlicher“ Optimismus. Jene Wurzel einer neuen Moral, wie sie sich der Verfasser denkt, ist, so unfruchtbar sie scheint, so absonderlich sie ist, nur unfruchtbar eingesenkt in den Boden der modernen Cultur und ihre Sittlichkeitsbegriffe, an sich betrachtet ist sie triebkrftig: die vornehme Art Mensch fhlt sich als werthbestimmend, sie ist werthschaffend. Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie: eine solche Moral ist Selbstverherrlichung. Im Vordergrund
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steht das Gefhl der Flle, der Macht die berstrçmen will, das Glck der hohen Spannung, das Bewußtsein eines Reichthums, der schenken und abgeben mçchte. Soll diese Moral Geltung gewinnen, so muß es natrlich die erste Aufgabe des Philosophen sein, mit dem, was berall jetzt als werthbestimmend das Denken und Leben beherrscht, aufzurumen, dadurch, daß er die gegenwrtigen moralischen Begriffe und Ideen umprgt, die „Werthe umwerthet“. Diese Umprgung nimmt das vorliegende Buch in Angriff, daher nennt es der Verfasser ein „Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft“. Man sieht sofort, diese Zukunftsphilosophie wird eine Philosophie des Willens sein, nicht des Willens schlechthin, sondern des Willens zur Macht, und zwar eher eine Phnomenologie als eine Metaphysik desselben, nach der Art, wie Nietzsche hier den Problemen zu Leibe geht, zu schließen. Inzwischen sind schon wieder neue Schriften aus seiner emsigen Feder angekndigt worden, deren eine wenigstens, wie ihr Titel „Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwerthung aller Werthe“ anzudeuten scheint, sich in der Richtung des vorliegenden Buches weiterbewegen wird. Wir behalten uns vor, seinerzeit auf Nietzsches interessante Philosophie, aus welcher mancher mannigfache Anregung schçpfen drfte, auch wenn er sich nicht zu ihr bekennt, zurckzukommen. Reaktionen N an Franz Overbeck 13. 5. 1887: „Ich lege eine ,Recension‘ meines letzten Buches bei, die, ganz ausnahmsweise, dies Mal in meine Hnde gelangt ist. (Meine Verleger haben im Allgemeinen die Weisung, mich mit dergleichen zu verschonen) ,Nord und Sd‘: ist das nicht das Blatt des Paul Lindau? [richtig, Lindau war in Berlin Redakteur von Nord und Sd] – Was mir immer an deutschen Bcher-Anzeigen auffllt, ist die Stumpfheit des Blicks fr das eigentlich Charakteristische und ,In die Augen-Springende‘ eines Buchs. Dieser Recensent z. B. ist ersichtlich beim Lesen im Zweifel darber gewesen, ob es sich nicht am Ende um eine ,witzige Persiflage‘ handelt: whrend Taine, wie es sich von selbst versteht, zu allererst an meinem Buche das ,Tief-Leidenschaftliche‘ empfand.“ KGB III/5, Bf. 847, S. 73 f N an Heinrich Kçselitz, 18. 7. 1887: „Dr. Widmann vom ,Bund‘ hat mir geschrieben, enthusiastisch; auch von Brahms, mit dem er zusammen ist (letzterer ,lebhaft interessiert von Jenseits‘, jetzt im Begriff sich frçh[liche] Wissenschaft zu Gemthe zu fhren.“ KGB III/5, Bf. 878, S. 114
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N an Franziska Nietzsche, 12. 8. 1887: „Man schreibt mir, daß der berhmte Componist Johannes Brahms (jetzt in der Schweiz) sich sehr mit meinen Bchern abgiebt.“ KGB III/5, Bf. 887, S. 126 Jacob Burckhardt an N, 26. 9. 1887: „Das Buch geht weit ber meinen alten Kopf.“ KGB III/4, Bf. 403, S. 222
Gizycki, Georg von: Briefe ber die neuere philosophische Literatur. In: Deutsche Rundschau. Berlin, Bd. 13, Nr. 11, 1887, S. 305–317. ber Nietzsches JGB S. 312 f Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Unter diesem Titel bietet uns Friedrich Nietzsche 260 eine Sammlung stylistisch vollendeter, geistreicher, origineller, jedoch großentheils barocker und bizarrer Aphorismen dar, – Gedanken unter denen manches Schçne, Feine und – Pikante sich findet, mehr aber leider, was ( um das Wenigste zu sagen) hart an die Sphre des Pathologischen, Psychiatrischen streift. Aus dem Buche spricht ein hinlnglich starkes Maß von Selbstbewußtsein, aber auch Verbitterung und eine tiefe Unzufriedenheit mit allem Bestehenden, und dabei Haß gegen das, was die „Democraten“ und die „tçlpelhaften Philosophaster und Brderschaftsschwrmer, welche sich Socialisten nennen“ fr Ideale ansehen. Fast mçchte man sagen, dieser „freie, sehr freie Geist“ (wie er sich nennt) ist ein „Artist der Zerstçrung und Zersetzung“ – ein Geist der stets verneint. In der That gefllt er sich nicht selten darin, etwas den Mephistopheles zu spielen. Beitrge zu wirklicher Wissenschaft habe ich in dem Buche nicht finden kçnnen. Das wird der Verfasser als ein Compliment ansehen; denn „was ist der wissenschaftliche Mensch?“ Nietzsche antwortet: „Zunchst eine unvornehme Art von Mensch“: und er liebt vor Allem das „Vornehme“. Lassen Sie mich – zur Erheiterung inmitten so vieles Ernsten – einige Proben aus dem wunderlichen Buche anfhren. „Allerweltsbcher sind immer belriechende Bcher: der Kleine-LeuteGeruch klebt daran. Man soll nicht in Kirchen gehen, wenn man reine Luft athmen will.“ „Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, daß Wahrheit mehr werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt gibt.“ „Es kçnnte selbst zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehçren, daß man an seiner vçlligen Erkenntniß zu Grunde ginge.“ „Es liegt viel daran, daß so wenig Menschen wie mçglich ber Moral nachdenken.“ „Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; „dumm bis zur 260 Leipzig, C. G. Naumann. 1886.
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Heiligkeit“, sagt man in Rußland.“ „Menschen, nicht vornehm genug, um die abgrndlich verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu sehen – solche Menschen haben, mit ihrem „Gleich vor Gott“ bisher ber dem Schicksale Europa’s gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lcherliche Art von Herdenthiel, etwas Gutwilliges, Krnkliches und Mittelmßiges herangezchtet ist, der heutige Europer.“ „Moral ist heute in Europa großentheils Herdenthier-Moral.“ „Der Egoismus gehçrt zum Wesen der vornehmen Seele; ich meine jenen unverrckbaren Glauben, daß einem Wesen, wie „wir sind“, andere Wesen von Natur unterthan sein mssen und sich ihm zu opfern haben.“ „Sklaverei … eine Bedingung jeder hçheren Cultur, jeder Erhçhung der Cultur.“ „Fast Alles, was wir „hçhere Cultur“ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit . . . Was die schmerzliche Wollust der Tragçdie ausmacht, ist Grausamkeit.“ „Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudmonismus: alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heißt nach Begleiterscheinungen und Nebenfachen den Werth der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetten, auf welche ein Jeder, der sich gestaltender Krfte und eines Knstlergewissens bewußt ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid, herabblicken wird.“ Die Utilitarier sind „Unbegeistert, ungespßig, Unverwstlich-mittelmßig, Sans gnie et sans esprit!“
„Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen und eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen! Auch der große Chinese von Kçnigsberg war nur ein großer Kritiker“ „Es gibt freie, freche Geister, welche verbergen und verleugnen mçchten, daß sie zerborstene, stolze, unheilbare Herzen sind.“ Reaktionen Franz Overbeck an N, 9. 9. 1887: „Gisycki’s Anzeige Deines Jenseits in der Deutschen Rundschau wirst Du kennen. Es fiel mir dabei nur die Nichtigkeit auch im Ausdruck [der] fr den academischen Dozenten der Gegenwart tausend Mal begreiflichen Abneigung auf.“ KGB III/6, Bf. 471, S. 70 N an Constantin Georg Naumann, 9. 11. 1887: „Die Anzeigen von ,Jenseits von G[ut] und B[çse]‘ im litterar. Centralblatt, so wie in der litterar. Rundschau habe ich noch nicht gesehn. Bitte senden Sie dieselben! (Alles Andre las ich in Venedig, bei Herrn Kçselitz)“ KGB III/5, Bf. 947, S. 189
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N in Nachgelassene Fragmente, nach September 1887: „Ein kleines Licht der Berliner Universitt erklrte in der ,Rundschau‘, offenbar in Rcksicht auf seine eigne Erleuchtung, das Buch fr psychiatrisch und citierte sogar Stellen dafr: Stellen, die das Unglck hatten, Etwas zu beweisen.“ KGW VIII/3, S. 343
K., A.: Jenseits von Gut und Bçse. In: Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig, Nr. 38 vom 17. 11.1887, Spalte 1291 f. Nietzsche, Friedr., Jenseits von Gut u. Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Leipzig, 1886. C. G. Naumann. (VII, 271 S. 8) M. 5. Einer grndlichen Wrdigung dieser ohne Frage bedeutenden Arbeit wrde nur Jemand gewachsen sein, der mit dem ganzen Entwickelungsgang ihres Verf.’s vertraut wre; denn einem so problematischen Kopfe gegenber verschlagen die blichen Mittel und Wege der kritischen Analyse nicht, und die Anlegung des allgemein gltigen Urtheilsmaßstabes wrde sein neuestes Buch muthmaßlich auf den wissenschaftlichen Index bringen. Ref. bekennt nun, daß er seit dem letzten Heft der unzeitgemßen Betrachtungen die Fhlung mit ihrem Autor verloren und sie trotz sorgfltigen Studiums auch nicht wiedergefunden hat; was hier von ihm dem Publicum vorgelegt worden ist, muthet ihn wie ein Rthsel an. Herr Nietzsche hat sich auf einsiedlerischem Horste niedergelassen und ist dem zu Folge der Erde und ihren Bewohnern immer fremder geworden; er sieht von den Hçhen seines Schauplatzes die Wirklichkeit nicht, sondern nur deren Caricaturen; er versteht sie nicht, er richtet sie nur. Und er richtet mit einer Wage, die nicht heidnisch nicht christlich, nicht antik nicht modern, nicht naturalistisch nicht idealistisch ist, einer Wage, deren Mechanismus wahrscheinlich nur sein „bereuropisches“ oder „berasiatisches Auge“ zu controlieren vermag. Uns Anderen, denen solche Organe versagt sind, drfte daher die stille Bescheidung in die gefllten Machtsprche am besten anstehen. Das wrde sich fr Jeden empfehlen, nur nicht fr den Ref., der ber das Was und Wohin eine Auskunft geben soll. Herr Nietzsche steht in leidenschaftlich empfundenem Gegensatz zu dieser Zeit, deren Schden er mit Seherblick aufzuspren und offen zu legen weiß. Unter der Herrschaft dieses Affects, dem er rettungslos verfallen scheint, entstrçmen ihm Empfindungen, Ahnungen, Gedanken in schneller Flucht, alle nur zusammengehalten durch den einen Glauben an den unaufhaltsamen Ruin der Gegenwart, whrend sie im Uebrigen den ausgesprochenen Character zusammenhangsloser Fulgurationen tragen, bald leuchtend wie echte Geistesblitze, bald Himmel und Erde erdrckend wie undurchdringliches Gewçlk. Einst hatte er die Heilung in der Kunst Wagner’s und der Weisheit Schopenhauer’s gesucht, es waren die Tage seines verheißenden
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Morgenrothes; beide Idole sind ihm inzwischen entwerthet worden. Welche Umstnde sonst dazu beigetragen haben, ist dem Ref. unbekannt. Nach dieser Schrift konnte einem Manne, der die Philosophie des Antichrist erwartet, der Concipient des Parsifal nicht lnger als ein Messias erscheinen, und dem Denker eines „Jenseits von Gut und Bçse“, der nicht mehr als richtweisender Philosoph gelten, der die Bedeutung der Welt allein im Moralischen suchte. Aber vielleicht Spinoza? an den das Thema des Buches so lebhaft erinnert. Er ist ein „einsiedlerischer Kranker“. Kant? Er ist der „große Kçnigsberger Chinese“. Shakespeare? Er ist die „erstaunliche spanisch-maurisch-schsische Geschmackssynthesis“, und wir lassen uns bei ihm „von den widrigen Dmpfen und der Nhe des englischen Pçbels, in welchen seine Kunst und Geschmack lebt“ leider zu wenig stçren. Die Griechen? Herr Nietzsche verzeiht dem ganzen Griechenthum seine Existenz um des einen Aristophanes willen, „gesetzt, daß man in aller Tiefe begriffen hat, was da alles der Verzeihung bedarf“. Der extractive Geist der Weltgeschichte? Nein, denn „er hat die ungeheuerliche Zuflligkeit erkannt, welche bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte, ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein Finger Gottes mitspielte; er hat das Verhngniß errathen, das in der blçdsinnigen Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der modernen Ideen, noch mehr in der ganzen christlich europischen Moral verborgen liegt“. Was bleibt nun brig? Die Aussicht auf eine kommende Musik, „welche vor dem Anblick des blauen wollstigen Meeres und der mittellndischen Himmelshelle nicht verklingt, vergilbt, verblaßt, wie es alle deutsche Musik thut, eine bereuropische Musik, die noch vor den braunen Sonnenuntergngen der Wste Recht behlt, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter großen, schçnen, einsamen Raubthieren heimisch zu sein und zu schweifen versteht“, und die Zchtung einer regierenden Kaste, welche dem willenslahm gewordenen Europa fr ein Jahrtausend ihr Gesetz aufzwingt und damit den Typus Mensch den noch unerschçpften Mçglichkeiten seiner Erhçhung entgegenfhrt. Mçchte diese Erhçhung in erster Linie (denn Europa far da se) nicht sowohl dem Autor, von dessen hoher Geistigkeit wir ganze Gewißheit haben, als seinen zuknftigen Publicationen zu Gute kommen: sie sndigen nach dem vorliegenden Beispiele derartig, daß der Glanz, den jene ausstrçmt, von den Excentricitten dieser leicht ganz verdunkelt werden kann. Reaktionen N an Constantin Georg Naumann, 9. 11. 1887: „Die Anzeigen von ,Jenseits von G[ut] und B[çse]‘ im litterar. Centralblatt, so wie in der litterar. Rundschau habe ich noch nicht gesehn. Bitte senden Sie dieselben! (Alles Andre las ich in Venedig, bei Herrn Kçselitz)“ KGB III/5, Bf. 947, S. 189
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N in Nachgelassene Fragmente, nach September 1887: „Das litterarischen Centralblatt gestand ein, ,den Faden‘ fr mich verloren zu haben (wann hat es ihn gehabt?–) und citirte zur Begrndung, ein paar Worte ber den ,Sden in der Musik‘: als ob eine Musik, die nicht in Leipziger Ohren geht, damit aufhçre, Musik zu sein.“ KGW VIII/3, S. 343
Frey, Thomas [d.i. Fritsch, Theodor]: Der Antisemitismus im Spiegel eines „Zukunfts-Philosophen“. In: Antisemitische Correspondenz, und Sprechsaal fr innere Partei-Angelegenheiten. Leipzig, Nr. 19 f., November/Dezember 1887, S. 10–15. Der Antisemitismus im Spiegel eines „Zukunfts-Philosophen“ I. Difficile est, satyram non scribere! „Philosophen sind Leute, die sich auf den Kopf stellen, um ber die Andern hingwegzusehen.“ – So kam es uns vor, als wir das neueste Werk Friedrich Nietzsche’s durchbltterten, das den ominçsen Titel fhrt: „Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“. – Das Buch, das in aphoristischer Zerrissenheit alle mçglichen Dinge und Undinge berhrt, bçte an sich Stoff zu langen Auseinandersetzungen, denn es enthlt neben vielem Absonderlichen und Wirren auch manchen dmmernden Gedanken eigner Art – freilich meist, wie das Ganze, das Kennzeichen der Unfertigkeit tragend. Nun, es soll ja auch nur ein Vorspiel sein; warten wir also die fertige „Zukunfts-Philosophie“ ab. Was uns heute ausschließlich an dem Buche interessieren soll, das ist die Berhrung der Judenfrage und eine Aburteilung ber den Antisemitismus; die sich darin findet. Um freilich das, was der Verfasser ber diese Dinge sagt, richtig zu verstehen, mssen wir den Leser notwendiger Weise erst mit dem Standpunkt Nietzsche’s einigermaßen bekannt machen. Wir werden dabei eine Anzahl Dinge – oder richtiger Begriffe zu berhren haben (denn von wirklichen Dingen versteht ein „Philosoph“ gewçhnlich nichts, da er nur in „Begriffen“ lebt) – Begriffe also, die keineswegs mit dem Antisemitismus zu thun haben, die zu berhren aber fr jeden Denklustigen immerhin von Interesse sein muß. (Um ein Verzeihen mçchte ich den Leser zuvor noch bitten: Ich bin eine empfngliche Natur und lasse mich leicht anstecken – von ußerlichen Manieren heißt das – und notabene – wenn sie nicht ganz schlecht sind. Wenn ich also – gegen meine Art – dann und wann in Nietzsche’schen „Kunst-Perioden-
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Bau“ verfallen sollte, so mag der gtige Leser darin nur das ehrliche Bestreben erblicken, auch in Hinsicht der Form einen bescheidenen Abglanz vom Geiste des kritisirten Autors zu liefern.) Nietzsche gelangt, wie gesagt, im Verlaufe seiner Betrachtungen zu einer Art Verherrlichung der Juden und zu einer schroffen Verurteilung des Antisemitismus. Das kann eigentlich nicht befremden bei Jemandem, der sich „jenseits von Gut und Bçse“ bewegt. Wer alle festen Grundzge der Moral leugnet, wer die Grenzen zwischen sittlich und unsittlich, zwischen Lge und Wahrheit verwischt – und das heißt es doch, wenn man sich jenseits von Gut und Bçse stellt – dem mssen allerdings die Juden mit ihrer „freien Moral“ so recht in den Wurf laufen, whrend wiederum die Juden ihrerseits sich keinen besseren Propheten wnschen kçnnen. Als echter „Philosoph“, d. h. Begriffsspieler, findet Nietzsche ein genialkindliches Vergngen an der Kopfstellung aller Dinge. Kinder, wie geniale Geister, fragen in bermtiger Stimmung sich wohl: Warum mssen denn gerade die Dinge an dem Platze so aufrecht stehen, wie sie stehen? Warum nicht einmal umgekehrt? – Dann setzt der kleine Hans der Katze Großvater’s Hornbrille auf, zieht dem Apollo einen von Onkel’s Wasserstiefeln ber den Kopf und kehrt die Uhr an der Wand um, daß der Perpendikel nach oben steht. Bei Kindern werden leider solche philosophische Versuche schlecht gewrdigt und mit Hilfe ungebrannter Holz-Asche in die nchterne, unphilosophische Alltglichkeit zurckgefhrt. Erwachsene Kinder hingegen, die das SchwabenAlter berschritten haben und deren Schlaf nicht mehr das Gespenst von Papa’s Rute schreckt, kçnnen sich der „Umkehrungs-Philosophie“ in ausgedehntem Maße widmen. Im allgemeinen wird mit dieser Verkehrungs-Kunst nur Verwirrung und Unordnung gestiftet, aber es ist schon vorgekommen, daß dabei auch etwas Brauchbares entdeckt wurde. Diese letztere Mçglichkeit ist es, die den Leuten von mangelnden positiven Ideen die Kopfstellungs-Philosophie als ein verlockendes Gebiet erscheinen lßt. Wer will das einem „Philosophen“ wehren, der nichts Besseres zu thun weiß, als auf seinem hoch ber der Alltglichkeit schwebenden Kanapee mit Begriffen Fangball zu spielen? Zum Glck wird die „Welt der Wirklichkeit“ von den Mhlrad-hnlichen Umwlzungen im Philosophen-Hirne nicht in Mitleidenschaft gezogen. Nietzsche beginnt damit, daß er den „Willen zur Wahrheit“ unter die Loupe nimmt. Da das Ding keine Beine hat, auf denen es notwendiger Weise stehen muß, so kann man es auch umstlpen, sagt er sich. Warum muß es gerade Wahrheit sein, nach der wir suchen? Warum nicht lieber Unwahrheit, Ungewißheit, ja Unwissenheit? – „Der Jngling sieht den Grund nicht ein.“ So tritt das Problem vom „Werke der Wahrheit,“ eine neue Sphinx, vor ihn hin. Da die Unwahrheit viel mannigfaltiger, rtselhafter, verschleierter erscheint, so dnkt sie ihm viel interessanter.
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Nun, man begreift, wenn Jemand auf die „Umwertung aller Werte“ hinzielt, daß ihm dann Unwahrheit, Lge und Unrecht erhabener erscheinen mssen, als Wahrheit und Recht. Indem er das Unterste zu oberst kehrt, verliert Nietzsche alle Grundlagen der sittlichen Begriffe. Denn der „Trieb zur Wahrheit“ ist auf sittlichem und geistigem Gebiete genau dasselbe, was die Schwerkraft an realen Dingen ist. Hçrt die Schwerkraft auf, so beginnt das Chaos. Warum mssen wir denn die Wahrheit suchen? – Einfach deshalb, weil wir nur auf der Grundlage der wahren Erkenntnis der Dinge und Zustnde richtige Schlußfolgerungen auf unser Verhltnis zu denselben und auf den knftigen Verlauf der Thatsachen finden kçnnen; – einfach deshalb, weil jede falsche Erkenntnis, jede Unwahrheit, jeder Irrtum zu Mißgriffen und Verirrungen fhrt, die frher oder spter schdigend und verderbend auf uns zurckwirken. So lange uns also der Selbst-Erhaltungs-Trieb, der Lebens-Wille beseelt, so lange mssen wir notgedrungen die Wahrheit suchen, d. h. die richtige Erkenntnis des Zusammenhanges der Dinge erstreben. Freilich kann der Irrtum, die Tuschung, vorbergehend einen befriedigenden Wahn erzeugen, der dem „Glcke“ nahe kommt, aber wahres dauerndes Glck kann nur auf der Grundlage der Wahrheit beruhen. Und nun wollen wir Herrn Nietzsche auch sagen, was Gut und Bçse ist. Ich weiß nicht, ob die „Philosophen“ schon eine erschçpfende Bestimmung dieser Begriffe gefunden haben; es scheint mir aber nicht so. Ein junger „intelligenter“ Jude, mit dem ich in der Studienzeit verkehrte, pflegte etwa so zu „philosophiren“: „Gut und Bçse sind relative Begriffe; was uns dabei als Maßstab dient, ist nur unser Egoismus. Wir nennen gut, was uns ntzlich und angenehm ist, bçse was uns schdlich und zuwider ist.“ – Fr einen Juden war diese Anschauung vollkommen zutreffend, denn dieser besitzt ja in der That keinen anderen Maßstab fr die Dinge als die Selbstsucht. Der Diebstahl ist deshalb in den Augen des Juden etwas Gutes, wenn er Vorteil bringt, ohne daß man dabei ertappt werden kann; er ist aber etwas Bçses, wenn man ertappt wird, denn dann bringt er Zuchthaus, und das ist „unangenehm und zuwider.“ Wie unterscheidet sich denn nun unsere arische Auffassung von dieser jdischen? Zunchst darin, daß wir nie blos den Vorteil und das Wohl des einzelnen eitlen Ich, sondern das Wohl der Gesamtheit zum Maßstab fr Gut und Bçse machen. Wir fordern deshalb vom Einzelnen, daß er nçtigenfalls bereit sei, zu entsagen, Schmerzen zu dulden, ja unterzugehen, wenn es das Gesamtwohl erheischt. Wir fordern die Fhigkeit der Selbst-Aufopferung. Die Selbstlosigkeit, die Fhigkeit allen Eigen-Vorteil hintanzusetzen, die Fhigkeit, fr Wahrheit, Ehre und Recht zu stehen, ist das Grund-Erfordernis fr den arischen Cha-
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rakter. Deshalb ist auch die Selbst-Aufopferung am Kreuze fr das Wohl Aller das Symbol der arischen Sittenlehre. Von diesem weiteren und hçheren Gesichtspunkte aus ergeben sich fr uns die Begriffe Gut und Bçse wie folgt: Gut nennen wir, was in der Summe seiner Wirkungen sich schaffend und erhaltend ußert; Bçse nennen wir das Zersetzende und Zerstçrende – immer mit dem Hinblick auf die Gesamtheit, mit Hintansetzung des Einzelwohles.
Wir nennen deshalb die Wahrheit gut, weil sie uns die wirklichen Beziehungen der Dinge und Verhltnisse lehrt, – weil sie es ermçglicht, richtig und heilsam mit den Thatsachen zu rechnen und hierdurch den Bestand der Dinge zu sichern. – Die Lge bewirkt Irrtum, Mißgriffe, Verwirrung; sie wirkt darum stçrend, verderbend, und deshalb nennen wir sie bçse. Die Ordnung nennen wir gut, weil sie geeignet ist, den Bestand der Dinge zu sichern; Unordnung wirkt auflçsend und zerstçrend und ist deshalb schlecht und verwerflich. – Freiheit ist gut, soweit sie den Bestand der Individuen und ntzlichen Dinge im Interesse der Gesamtheit sichert; sie ist bçse, sobald sie zur Unordnung, Verwirrung und Auflçsung fhrt. „Freiheit“ ist deshalb ein unklarer Begriff, denn die Freiheit der guten, schaffenden Krfte ist heilsam, die Freiheit der zerstçrenden Krfte ist verderblich. Freiheit darf deshalb wohl den guten, aber nicht den bçsen Wesen gewhrt werden. Diese wenigen Andeutungen drften zur Erluterung der Begriffe gut und bçse gengen. Nietzsche bekmpft nun die „Gegenstze der Werte“ als einen Wahn der Metaphysiker. Nach seiner Meinung sind alle Dinge gleich gut, eine Ohrfeige so gut wie ein Kuß. Er zweifelt, daß es berhaupt Gegenstze gibt. Gewiß sind manche Wertschtzungen nur relativ, nur darnach bemessen, wie sie auf uns einwirken; aber wir haben das Recht und die Pflicht, diese „egoistischen“ Scheidungen vorzunehmen; die Pflicht der Selbst-Erhaltung gebietet es. Freilich, wer in Wolken-Kuckuksheim, hoch erhaben ber aller Realitt schwebt, fr den mag Schwefelsure dasselbe sein, wie Rosen-Oel – beides eitel „Flssigkeit“. – Vielleicht schmeckt solchen Philosophen in ihrem „umgekehrten Geschmack“ auch Leberthran besser als Honigseim. Diese Darlegungen sind notwendig, um die groben Verirrungen zu verstehen, in welche sich unser „Philosoph“ bei Beurteilung politischer Dinge, insonderheit der Juden und Antisemiten, verliert. Einmal dmmert unserm Philosophen eine Wahrheit – ohne daß er sie recht begeift; er sagt: „Das meiste bewußte Denken eines Philosophen (der alten Schule!) ist durch seine Instinkte heimlich gefhrt und in bestimmte Bahnen gezwungen“, – und das findet er verchtlich. Aber wohin das instinktlose Philosophiren fhrt, dafr bietet Nietzsche selbst ein abschreckendes Beispiel.
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Der Instinkt ist eben jene tiefe, halb unbewußte Ahnung des innersten Grundes und Zusammenhanges aller Dinge und Wesen, jener feinere Genius, der nie die Fhlung mit der Natur und Vernunft verliert, jenes innig-durchdringende gefhlsmßige Erfassen der Urschlichkeit, das sich in nackten Worten und kalten Begriffen nie ausreichend wiedergeben lßt. Der Instinkt, der viel verschmhte und geringgeschtzte Instinkt, ist eben die Urseele des Genies; – und aller Verstandes-Kram bleibt Fratzenwerk, wenn ihn nicht der Instinkt fhrt, lutert und durchgeistigt. Der bloße Verstand ist eine ganz armselig jmmerliche Gabe; er kann eben nur „verstehen“ und nicht begreifen, nicht ergrnden, und deswegen nicht schaffen. Verstand und ein wenig Witz hat auch der Satan, aber Instinkt und Genie hat er nicht; Verstand hat auch der Verbrecher, aber Vernunft ist ihm fremd. Ein verstand-begabtes aber instinktloses Geschçpf haben wir im Juden. Mit all seinem Verstande fhlt sich der Jude fluchbeladen und unfruchtbar. Er be- und zernagt mit seinem Verstandes-Witz Alles, aber die Fhlung mit der Natur fehlt ihm. Darin liegt auch ewig das Schicksal des Juden: Mit eitlem Verstandes-Raffinement lgt, stiehlt und flickt er eine Scheinwelt zusammen, erklettert auf ihr eine Scheinhçhe, – aber unversehens bricht der Trugbau zu Boden – und der Verstandes-Affe sich selbst das Genick. Dem Juden fehlt eben das beste Teil zum Menschen. Was Wunder, wenn ein philosophischer SeichtFischer wie Herr Nietzsche, dessen Netz nicht zu den Perlen der Wahrheit auf den Grund hinabreicht, die Verstandes-Schaumblasen der modernen ErfolgsAffen auffischte und die Goldfische der Schacher-Bçrse fr das wahre Gold der tiefsten Weisheit hinnahm. Was Wunder, meine ich, wenn solch ein Philosoph seinen Narren am Juden fraß. Aber hçren wir ihn selbst: „Was Europa den Juden verdankt? – Vielerlei Gutes und Schlimmes und vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist; den großen Stil in der Moral, die Fruchtbarkeit und Majestt unendlicher Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen Fragwrdigkeit – und folglich gerade den anziehendsten, verfnglichsten und ausgesuchtesten Teil jener Farbenspiele und Verfhrungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unserer europischen Kultur, ihr Abend-Himmel, glht, vielleicht verglht.“ Zunchst, Herr Philosoph aus dem Jenseits von Gut und Bçse: wie drfen Sie von Gutem und Schlimmem reden? Sie haben doch wohl noch ein Bein in dem Diesseits gelassen, weil der Boden da drben noch nicht recht tragfhig ist? Also den „großen Stil in der Moral“ haben wir von den Juden gelernt? O ja! Man sagt „eine Sache im großen Stil handhaben“ wenn man Fnfe gerade sein lßt, Mein und Dein verwechselt u.s.w. Allerdings, in dieser Hinsicht sind die Juden sehr großstilig in der Moral. Aber wir unpolitischen Diesseits-Menschen nennen diesen, hauptschlich bei Hochstaplern und Massen-Mçrdern vertre-
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tenen „großen Stil in der Moral“ einfach unmoralisch und sperren, da die Welt fr die Bethtigung dieses großen Stiles zu eng ist, die Trger derselben hinter Schloß und Riegel. „Fruchtbarkeit und Majestt unendlicher Forderungen?“ – ja, das nennen wir „Unverschmtheit;“ – „Die Erhabenheit der moralischen Fragwrdigkeit“ – das heißen wir „unerhçrte Schurkerei.“ „Und Romantik?“ –ja Romantik ist daran. Es ist nun einmal nicht zu leugnen, daß schlichte Ehrlichkeit und Wahrheits-Liebe nicht so „romantisch“ sind als Lge, Intrigue, Verstellung und Heuchelei. Aber der Teufel hol’ die Romantik, wir sind keine sensationsbedrftigen alten Jungfern! Diese „Romantik“ mag „romantisch“ sein, germanisch ist sie in vielen Stcken nicht. Und der „glhende Nachschimmer“ am europischen Kulturhimmel? Es ist wohl nur das phosphoreszirende Leuchten von Fulnis-Bacillen, die sich auf unsere Kultur gesenkt, als wir sie unvorsichtiger Weise einem muffigen Hauche aus den verwesten Reichen des Orients und untergegangener verschimmelter Jahrtausende ausgesetzt. Etwas scharfe Lauge aus „bermenschlichsaurem Kali“ wird den ganzen Bacillen-Schleim wieder heruntersplen. Freilich, Experimentir-Fexe werden das bedauern, denn ein „gesunder Bacillen-Herd“ gilt ihnen mehr als die alte langweilige Menschheit. Sie suchen nach interessanten „Problemen“, und eine Eiterbeule ist ihnen interessanter, als ein gesundes Glied. Einen so guten Geschmack haben diese Herren! – Das beginnende Chaos war fr sie eine Lust: „Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafr den Juden – dankbar,“ setzt unser Weiser hinzu. – Unser „Philosoph“ sitzt hinter der Welt, wie ein Kind hinter dem Guckekasten: Er will „Farbenspiele“ sehen; je bunter desto schçner: Mord und Totschlag, Feuersbrunst, Wassersflut, Erdbeben, das ergçtzt ihn; er will „anziehende“, „verfngliche“ und „ausgesuchte“ Bilder sehen; was kmmert es den „Ueber-Weltler“, wie die Menschheit sich dabei befindet! Die „gemeine Not“, der „gemeine Schmerz“, sie reichen nicht hinauf an seinem „Dreh-Schemel der Erhabenheit“. – (Daß wir nur so dumm sind und solche Ueber-Weltler auch noch fttern; mçgen sie sich doch von ihrem selbst gebauten Kohl nhren. – Ja, wir sollten bei Zeiten diesen Ueberschraubten das Weltbrger-Recht kndigen.) Nein, nein! Herr Nietzsche hat sich nur einen Spaß mit uns gemacht. Er ist ein „Artist“ und liebt deshalb die Verblmtheit. Er hat die deutsche Rede-und Schreibekunst neu entdeckt und liebt das Kunstvolle im Ausdruck. Seit Luther’s Bibel ist Nietzsche’s „Zarathustra“ das erste „deutsche Buch“ wieder, denn das Andere ist alles nur „Litteratur“, wie er sagt. Er hat uns necken wollen und seine Wahrheit hinter trgendem Schein verborgen. Uebersetzen wir uns sein „Artisten-Deutsch“ in’s Unartistische zurck, so lautet es wçrtlich: Was verdankt Europa den Juden? –Die Unmoral, die Unverschmtheit, die Anmaßung, die sittliche und geistige Begriffs-Verwirrung, die Corruption, – jenes
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Kunterbunt und Chaos, woran Charakter- und teilnahmlose Subjekte ihre helle Freuden haben. Denn: „Zuschauer“ wollt Ihr sein bei dem verzweifelten Ringen der Menschheit um ihre heiligsten Gter und um ihre Existenz? – Es ist frivol, an einem Krankenbette, wo Einer sich in Schmerzen windet, den mßigen Zuschauer zu spielen: – Einen Stiefel-Absatz auf eure vorwitzige Nase, schamlose Zaun-Gucker! II. In seiner dnkelhaft verbohrten Welt-Entrcktheit fehlt unserm „Philosophen“ naturgemß auch all und jedes Verstndnis fr nationales Wesen. Die Erstarkung des National-Bewußtseins erscheint ihm als „Verdummung“ – d. h. an den Deutschen; – an den Juden ist sie selbstverstndlich eine unendlich erhabene, anstaunenswrdig und rtselhafte Tugend. – Dennoch gesteht Herr Nietzsche, daß er in einem unbewachten Augenblicke von der Hçhe seiner „Uebermenschlichkeit“ herabzusinken drohte und sich soweit vergaß, ber die Judenfrage nachzudenken, – bis ihm plçtzlich ein erleuchtender Einfall kam, wie ihn faule Buche und Vorsichts-Kandidaten çfters haben: „Was geht mich denn die ganze Geschichte an!“ dachte er. – Gewiß, „Hinter-Weltler“ sollen sich nicht um reale Dinge kmmern! Im brigen aber fragen wir: Welche Dinge gehen einen Mann von Geist und Charakter nichts an? Jedoch: Lassen wir unsern bermenschlichen Jenseitler ersteinmal ausreden! Auf Seite 210 des in Rede stehenden Buches („Jenseits von Gut und Bçse“) heißt es: „Man muß es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden will – mancherlei Wolken und Stçrungen ber den Geist ziehn, kurz kleine Anflle von Verdummung, zum Beispiel bei den Deutschen von Heute bald die antifranzçsische Dummheit, bald die antijdische, bald die antipolnische, bald die christlich romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preußische, (man sehe sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitschke und ihre dick verbundenen Kçpfe an –) und wie sie Alle heißen mçgen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens. Mçge man mir verzeihn, daß auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr infizirtem Gebiete, nicht vçllig von der Krankheit verschont blieb und mir wie alle Welt, bereits Gedanken ber Dinge zu machen anfing, die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum Beispiel ber die Juden: man hçre. – Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wre; und so unbedingt auch die Ablehnung der eigentlichen Antisemiterei von Seiten aller Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefhl selber,
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sondern nur gegen seine gefhrliche Unmßigkeit, insbesondere gegen den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck dieses unmßigen Gefhls, – darber darf man sich nicht tuschen. Daß Deutschland reichlich genug Juden hat, daß der deutsche Magen, das deutsche Blut Not hat (und noch auf lange Zeit Not haben wird), um auch nur mit diesem Quantum „Jude“ fertig zu werden – so wie der Italiener, der Franzose, der Englnder fertig geworden sind, infolge einer krftigeren Verdauung –! das ist die deutsche Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man hçren, nach welchem man handeln muß. „Keine neuen Juden mehr hinein lassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Oesterreich) zu die Thore sperren!“ also gebietet der Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist, so daß sie leicht verwischt, leicht durch eine strkere Rasse ausgelçscht werden kçnnte. Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die strkste, zheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie verstehn es selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar, als unter gnstigen), vermçge irgend welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln mçchte, – Dank vor Allem einem resoluten Glauben, der sich vor den „modernen Ideen“ nicht zu schmen braucht; sie verndern sich, wenn sie sich verndern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, – als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist –! nmlich nach dem Grundsatze „so langsam als mçglich!“ Ein Denker, der die Zukunft Europa’s auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen Entwrfen, welche er bei sich ber diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunchst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren im großen Spiel und Kampf der Krfte. Das, was heute in Europa „Nation“ genannt wird und eigentlich mehr eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln hnlich sieht –) ist in jedem Falle etwas Werdendes, Junges, Leicht-Verschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein solches aere perennius, wie es die Juden-Art ist: diese „Nationen“ sollten sich doch vor jeder hitzkçpfigen Konkurrenz und Feindseligkeit sorgfltig in acht nehmen! Daß die Juden, wenn sie wollten – oder wenn man sie dazu zwnge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen – jetzt schon das Uebergewicht, ja ganz wçrtlich die Herrschaft ber Europa haben kçnnten, steht fest; daß sie nicht darauf hin arbeiten und Plne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wnschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden? sie drsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem „ewigen Juden“ ein Ziel zu setzen –; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jdischen Instinkte ausdrckt) wohl beachten und ihm entgegen kommen: wozu es vielleicht ntzlich und billig wre, die antisemitischen Schreihlse des Landes zu verweisen. Mit aller Vorsicht entgegen kommen, mit Auswahl; ungefhr so wie der englische Adel es thut. Es liegt auf der Hand, daß am unbedenklichsten noch sich die strkeren und bereits fester geprgten Typen
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des neuen Deutschtums mit ihnen einlassen kçnnten, zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark: es wre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens – in Beiden ist das bezeichnete Land heute klassisch – das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt –) hinzuthun, hinzuzchten ließe. Doch hier ziemt es sich, meine heitere Deutschtmelei und Festrede abzubrechen: denn ich rhre bereits an meinen Ernst, an das europische Problem, wie ich es verstehe: „an die Zchtung einer neuen ber Europa regierenden Kaste. –“ Soweit unser „Zukunfts-Philosoph“! Zunchst zum „nationalen Nervenfieber“ und „politischen Ehrgeize“. – Das Wesen der Nationalitt und des nationalen Wettstreites ist leider noch heute vielen Deutschen unfaßbar und unverstndlich. Am rgsten war die „Nationslosigkeit“ in der Zeit der politischen Unreife, der politischen Kindischkeit. Wir wollen und kçnnen uns hier nicht aufhalten mit einer Auseinandersetzung des Wesens und der Berechtigung des National-Bewußtseins; dasselbe ist in der That wesentlich Gefhls-Sache; wir werden aber in der Folge kennen lernen, welche Art von Gefhl erforderlich ist, um national und politisch zu empfinden. Das Verhçhnen aller „Politik“ ist ein Merkmal eitler unmnnlicher Naturen. Unpolitische Kçpfe sind unreife und unmnnliche Kçpfe. Denn unter „Politik“ im weiteren Sinne verstehen wir eben das Lenken und Gestalten aller realen Gesamt-Verhltnisse in Gesellschaft und Staat, und dazu ist Mannessinn und Manneskraft nçtig. Und diese suchen wir bei unserem „Philosophen“ allerdings vergeblich. In der ganzen Nietzsche’schen Denkweise liegt etwas Weibisch-Verwaschenes, und zwar weibisch von der schlechtesten Art. Das Entzckendste, was er kennt, ist die „Verfhrung“; er will immer zum Leben „verfhrt“, „gereizt“, „gekitzelt“ sein. Das Rtselhafte, das Verfngliche, das Verschleierte, alles was die Neugier kitzelt und doch unbefriedigt lßt, ist ihm von besonderem Zauber. Alles Grundzge blasirter Weibischkeit; ein fast cynisches Eingestndnis innerer Hohlheit, jeden Mangels eines von innen ausstrçmenden positiven Kraftgefhls. Nur der echte Mann hat den Mut, sich seine Pflichten gegen die Menschheit einzugestehen, die Last dieser Pflichten auf sich zu nehmen, sich als dienendes Glied der Gesamtheit zu weihen. Er gesteht sich seine Zugehçrigkeit zur Gesamtheit und empfindet um so mehr das Bewußtsein der Teilnahme an den Gemein-Interessen, je mehr er mit wahrem Mannestum ausgestattet ist. Unmnnliche Charaktere wissen ein einfaches Mittel, sich all dieser Verpflichtungen zu entziehen: Ihre Eitelkeit lgt ihnen vor, diese dumme Menschheit ginge sie nichts an, sie wren etwas Hçheres und Besseres und htten das Recht, ohne Teilnahme mßig und geringschtzig auf das Treiben der Menschheit herabzusehen. – Es ist dies die Rckzugs-Linie der Feigheit und Impotenz.
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Es ist ja so bequem, wenn man nicht den Mut und die Kraft hat, gestaltend und mitbestimmend in das gefahrvolle und aufreibende Getriebe der Gesellschaft einzugreifen, sich hochmtig auf den Rcksitz zu setzen, – sich außerhalb der Gesellschaft, des Staates, ja außerhalb der Welt stehend zu whnen und schlechte Witze ber die „gemeine Not“ zu machen. Eines wahren Mannes ist das nicht wrdig. – Mit Genugthuung nehmen wir die Versicherung entgegen, daß im Grunde kein Deutscher den Juden gewogen wre und daß Deutschland gerade „reichlich genug Juden“ habe. Aber – „reichlich genug“ von einer Sorte, der Niemand „gewogen“ sein kann, ist eigentlich schon viel zu viel! – Der Englnder, Franzose und Italiener sind „fertig geworden“ mit ihrem Quantum Jude? O ja, sie sind in der That beinah „fertig“ – d. h. fini! – zu Ende! Auch Spanien und Polen sind mit ihren Juden „fertig“ geworden, aber so „fertig“, daß sie heute noch an der Auszehrung dahin siechen, und wir haben wenig Lust, auf gleiche „Weise“ fertig zu werden. Mit den Juden wird man nur wirklich fertig, – wenn man sie zum Lande hinausjagt! – und die deutsche Nation wird beweisen, daß sie mit ihren Juden wirklich mannhaft fertig zu werden versteht. Nicht die „krftigere Verdauung“ andrer Nationen hat die Aufnahme der Juden erleichtert, sondern – ihre geringere Widerstands-Fhigkeit! Ein gesunder Magen wirft das wieder aus, was Fremdartiges und Unverdauliches ihm aufgençtigt wird; nur der schwache Magen behlt es in sich und geht daran zu Grunde. Wenn Herr Nietzsche ernstlich meint, daß die Juden in England, Frankreich und Italien wirklich „verdaut“ wren, so zeugt das doch von einer groben Unwissenheit – oder bewußten Flschung. Die Juden sind in jenen Lndern, gerade wie bei uns, ein geschlossenes, selbstndig organisirtes Sonder-Wesen, und wenn dort der Schein einer innigen Verschmelzung (Assimilation) vorhanden ist, so wurde diese auf Kosten der Eingeborenen erreicht und nicht umgekehrt. Wenn der Unterschied zwischen einem Englnder und einem englischen Juden geringer ist, als der zwischen einem Germanen und einem deutschen Juden, so heißt das einfach, daß der Englnder verjudeter ist als der deutsche Germane. – Wenn Herr Nietzsche noch an die Narretei von der Assimilations- und Besserungs-Fhigkeit des Juden glaubt, so ist er ein ebenso verstockter Dogmatiker wie jene Pastoren, die den Juden durch die Taufe kuriren wollen. Wie oft soll man diesen Phantasten das Abbild der Juden von vor 3000 Jahren vorhalten, um sie endlich zu berzeugen, daß der Jude – moralisch – von einer absolut starren Unwandelbarkeit ist? Wer gegen solche Thatsachen blind ist, kann nicht verlangen, daß man ihn ernst nimmt. Die gedankenlose Phrase von der „strkeren Rasse“ (mit Bezug auf die Juden) sollte doch Jemanden, der, wie Nietzsche, Anspruch erhebt, denken und urteilen zu kçnnen, nicht mehr durchschlpfen. Es ist eine vollstndige Begriffs-Verwirrung, wenn Jemand das Starre, Unwandelbare fr „strker“ oder gar „besser“
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und „edler“ hlt, als das Schmiegsame, Gestaltbare und Entwickelungs-Fhige. Wenn Herrn Nietzsche ein großer Stein auf den Kopf fiele, so wrde letzterer wohl einen „tiefen Eindruck“, eine gewissen Form-Vernderung erleiden; das Philosophen-Hirn wrde nachgeben, der Stein nicht. Wre das Felsstck deswegen als etwas „Strkeres“ und „Besseres“ zu bezeichnen als das Denkerhirn? – Wer kann’s wissen! – Unter Umstnden vielleicht doch!? – Aber wie die Sache zwischen Stein und Kopf liegt, so liegt sie auch vielfach zwischen Mensch und Mensch. Der moderne Wettkampf der Individuen begnstigt keineswegs die wahrhaft Strkeren und Besseren. Im „freien Spiel der Krfte“ siegt nicht das Edlere, sondern das Gemeinere, weil das letztere gemeinere Mittel anwendet und gemeinere Krfte rcksichtslos einsetzt. – Auf einem Acker, den man sich selbst berlßt, gewinnt nicht der Weizen, sondern das Unkraut die Oberhand. Was die „Reinheit“ der Judenrasse anbelangt – aber du lieber Himmel, das sind ja alles hundertfach erçrterte Dinge, und Herr Nietzsche kann nicht verlangen, daß wir ihm ber das ABC der Judenfrage, ber das heute fast jeder halbwchsige Junge unterrichtet ist, noch ein Privatissimum lesen. Alle diese sich klug blhenden Redensarten enthalten ja soviel Irrtmer als Worte. Wenn Herr Nietzsche das Leben nicht kennt, und das kennt er offenbar nicht, so sollte er doch wenigstens die Nase einmal in einschlgliche Bcher stecken, ehe er ber Dinge redet, von denen er partout nichts weiß. Wozu hat denn Naudh schon vor 25 Jahren sein herrliches Buch geschrieben, wenn die Klgsten unter den heutigen „Klugen“ noch so thçricht reden drfen! Die jdischen „Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln mçchte“ finden in genanntem Buche eine erschçpfende Beleuchtung. Und der „resolute Glaube, der sich vor den modernen Ideen nicht zu schmen braucht“? O, oh! Hat denn Herr Nietzsche auch nur einen Schimmer davon, was im Talmud steht? – Ah, pardon! Das ist es ja: Daher die SeelenVerwandtschaft! Der Talmud enthlt ja gerade die Kopfstellung aller sittlichen Begriffe, die „Umkehrung aller Werte“; das ist’s, was Herrn Nietzsche imponirt! Aber wenn N. hierin den Einklang mit den „modernen Ideen“ entdeckt, dann – sind wir gern in der Mode noch etwas zurck! Nun, machen wir’s kurz: Das Buch ist vor zwei Jahren geschrieben; wir hoffen, daß sich Herr Nietzsche inzwischen hat beschneiden lassen – wenn das berhaupt anging. – Die Denker, die das Schicksal Europa’s auf dem Gewissen haben, (zu welchen glcklicherweise Herr Nietzsche nicht gehçrt) werden allerdings „mit den Juden rechnen“, aber nur als einem Faktoren, der eine gedeihliche Entwickelung hindern wrde, wenn er nicht unwirksam gemacht werden kçnnte. Es ist doch geradezu eine „Politik der Memmenhaftigkeit“, die unser Philosoph lehrt, wenn er rt, man solle mit den Juden aus Furcht rechnen, denn anders kann der Respekt vor denselben doch nicht gemeint sein.
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Die „werdenden“, „jungen“, „leicht-verschiebbaren“ Nationen Europa’s werden das greisenhafte Volk Juda so sicher zur Seite drngen, wie die jungen Eschen im Urwald den alten morschen Stamm einer schon seit tausend Jahren kernfaulen Ulme. Hlt sich denn dieser faule Stamm berhaupt nicht nur dadurch, daß andere, gesunde, ihn gutmtig sttzen? Beweise doch das Judenvolk einmal, daß es auf eignen Fßen stehen kann! – „Diese jungen Nationen sollten sich vor jeder hitzkçpfigen Konkurrenz und Feindseligkeit in Acht nehmen?“ – auf Deutsch: Wagt nicht, es mit den Juden zu verderben? – frchtet euch vor ihnen!? – Schlimm, daß ein Mann ohne Errçten das zu sagen wagt! Es ist Politik der Feigheit, Furcht vor dem Mammon, Respekt vor der Lge, Demut vor der Schurkerei. Denn das allein sind die Waffen des Judenvolkes, und tiefer kann sich ein Mann nicht erniedrigen, als daß er sich vor solchen Waffen beugt. Denn „daß die Juden, wenn sie wollten, jetzt schon ganz wçrtlich die Herrschaft ber ganz Europa haben kçnnten“, – ist – mit Verlaub! – eine furchtsame Uebertreibung – und eine Lobhudelei zugleich. Aber sofern diese Behauptung teilweise wahr ist, spricht sie am meisten fr die Berechtigung des Antisemitismus. Denn diese Gefahr mag Herrn Nietzsche (der keine Nation und kein Vaterland hat, berhaupt nicht „dieser Welt“ angehçrt, sondern im „Jenseits von Gut und Bçse“) philosophischen Altweiber-Kohl baut) wohl ganz gleichgltig lassen: fr ein Volk von Mnnern aber wird sie ein Weck- und Sturm-Ruf sein, Alles aufzubieten, um diese erniedrigende Knechtschaft von sich abzuwenden. Denn, daß Juda diese Herrschaft erstrebt – das wissen wir besser. Wie? Sie wollten „mit einiger Zudringlichkeit“ von uns aufgesaugt sein? – sie drsteten danach, irgendwo fest und erlaubt zu sitzen? – O ja! So gewiß als der Bandwurm gern „fest und erlaubt“ in unsern Eingeweiden sitzen und wohl gar zu den Eingeweiden gehçrig betrachtet werden mçchte. – Jedoch, wir reden mit einem Kinde von unverstandenen Dingen. Die „antisemitischen Schreihlse“ mçge man getrost ausweisen: Unsere Sache schreit von selbst so laut, daß sie gar keine Schreihlse nçtig hat; am beredtesten ist immer: die Sprache der Thatsachen! Die geradezu beleidigende Abgeschmacktheit der Rassen-Mischung, die Nietzsche vorschlgt, konnte doch nur einem sehr kindlichen Kopfe entspringen; „der adelige Offizier aus der Mark“ lßt sich schçnstens bedanken. Das „Genie des Geldes“? – O grausamer Judenwitz! Ein albernes jdisches Wortrtsel heißt: „Setz’ in das Herz des großen Weltbezwingers Ein Du hinein, So wird der Alles-Ueberwinder Bald gefunden sein“.
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„Geld und Geduld“ ! Das sind die Artikel, die unser Philosoph als „ehrlicher Makler“ fr den Tauschhandel mit Sem als lukrative Ware empfiehlt – „und etwas Geistigkeit“ – o ja! – und etwas Schnodderigkeit, und etwas Unverschmtheit, und etwas Dumm-Dreistigkeit, und etwas Geriebenheit, etwas Verschlagenheit, etwas Lgen-Talent, u.s.w. u.s.w. – In der That: lauter schçne koschere Waren! Schade nur, sie sind bei uns nicht „gefragt“; vielleicht liefert der „Kongo-Staat im Jenseits von Gut und Bçse“ ein Absatz-Gebiet dafr; – wenn nur erst die Eisenbahn dorthin fertig wre. – Man verzeihe! Es ist schwer, bei so spaßigen Leuten ernst zu bleiben und auf einen Unsinn immer etwas Sinniges zu antworten. „Geld und Geduld“ ! – Das Stichwort hat unser „Philosoph“ von einem Juden aufgeschnappt, und es ist rhrend, wie andchtig und glubig er es nachplappert. Aber eine Tages drfte die „Ungeduld ohne Geld“ doch dem jdischen Gedulds-Geld- und Lgenbau recht gefhrlich werden. Die Geduld mag die Haupt-Force der Juden sein: Der germanische „Michel“ wird erst stark, wenn ihm die Geduld reißt. Und der Respekt vor dem jdischen „Geist“? – O jeh! Man muß sehr wenig eignen Geist haben, um sich von dem jdischen imponiren zu lassen. – Ich glaube in der That, es ist diesmal nicht „des Herrn eigner Geist“, der uns aus obigem Gepolter so jahwehisch anhaucht!? – Ich weiß nicht, auf welchem Boden Nietzsche so stark von jdischer „Geistigkeit“ infizirt worden sein mag, aber jdischer Geist weht aus dem ganzen obigen Abschnitt: Ein Jude htte die Sache kaum verworrener und abgeschmackter behandeln kçnnen. Sollte ihm nicht ein jdischer „Freund“ diese flachen Tiraden eingeschenkt haben? Jedenfalls ist durch dieselben der nichtjdische Geist arg prostituirt, wenn er sich zu dieser gedankenlosen Sudelei hergab. Aber das ist’s eben: Da hat wieder einmal ein deutscher Stuben- „Geleerter“ ber etwas geschrieben, was er nicht verstand. Ich bin sicher: Nietzsche hat noch gar keinen echten Juden in der Nhe gesehen, er weiß kaum, wer und wie die Juden sind. Er hat vielleicht einmal ein paar dressirte Salon-Juden kennen gelernt, die sich ungeheuer zahm und „geistreich“ – und „ein wenig zudringlich“ – geberdeten, und auf schwache weibische Gemter hat jdische Zudringlichkeit schon çfters tiefen Eindruck gemacht. – Nietzsche weiß nichts von den Juden, der wie eine Hyne durch die Dçrfer schleicht und die Bauern sozusagen im Schlafe abwrgt, – er weiß nichts von dem jdischen Groß-Bçrsen-Jobber, der mit khner Flschung fremder Leute Vermçgen erbeutet und ganze Staaten durch sein frevelhaftes Spiel an den Abgrund fhrt, – nichts von dem blutgierigen Klein-Wucherer, der um die Behausung des Beamten und des sauer arbeitenden Gewerksmannes schleicht, – nichts von dem betrgerischen Bankruitirer, der seine Lieferanten um die Frchte ihrer Arbeit bringt, – nichts von dem Lgen-Zeitungs-Reporter, der in
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raffinirter Weise Wahrheit, Recht, Anstand und Sittlichkeit untergrbt, – nichts von dem jdischen „Brotherrn“, der sein weibliches Personal, verfhrt und notzchtigt. – Was bedeutet gegen alle diese himmelschreienden Thatsachen der flache geistreichelnde Schwatz eines angejdelten Stuben-Verlehrten, der sich eine Welt aus blauem Dunst zusammenwebt und darin wie eine Sonne –einen Klumpen aus jdischem Gold und jdischem „Geist“ erstrahlen lßt? – der vor lauter hohlen Theorien die nackte Wirklichkeit nicht sehen kann? – BlaueDunst-Weltler sollen sich nicht anmaßen, in Dinge der realen Welt zu reden, an der sie keinen Teil haben. Nun, zum Glck werden Nietzsche’s Bcher kaum von mehr als zwei Dutzend Menschen gelesen, und wir haben ihm eine etwas unverdiente Ehre angethan, indem wir seine Gedanken-Auswrfe aus dstrer Studirstube vor ein Publikum von Zehntausenden zogen. Vom Lcherlichen zum Verstndigen ist auch bei Nietzsche oft nur ein Schritt, und so rhren all seine Gedankenlosigkeiten schließlich auch „an unsern Ernst“: „Die Zchtung einer neuen ber Europa regierenden Kaste!“ – Einverstanden! Aber ohne Judenblut! Reaktionen Franziska Nietzsche an N, 26. 11. 1887: „Erstens von Herrn Busse aus Friedenau ein Doppelbrief, soll ich Dir ihn schicken, ich dchte Du httest seine Briefe in den letzten Jahren ignorirt und dann eine antisemitische Zeitung, wo es haarscharf ber Dich und Dein letztes Werk von Gut und Bçse hergeht. Ich habe nur die ersten Zeilen gelesen und hatte genug, der Aufsatz war blau angestrichen und wahrscheinlich vom Verfasser selbst ebenso die Adresse an Dich, ich denke das spare ich Dir auch.“ KGB III/6, Bf. 501, S. 122 N an Franziska Nietzsche, 29. 12. 1887, Fragment: „[Seit ich die Kritik in] der ,antisem[itischen] Correspondenz‘ gelesen habe, kenne ich keine Schonung mehr. Diese Partei hat der Reihe nach mir meinen Verleger, meinen Ruf, meine Schwester, meine Freunde verdorben – nichts steht meinem Einfluß mehr im Wege, als daß der Name Nietzsche in Verbindung mit solchen Antisemiten wie E. Dhring gebracht worden ist: man muß es mir nicht bel nehmen, wenn ich zu den Mitteln der Nothwehr greife. Ich werfe jeden zur Thre hinaus, der mir in diesem Punkte Verdacht einflçßt. (Du begreifst, in wie fern es mir eine wahre Wohltat ist, wenn diese Partei anfngt, mir den Krieg zu erklren: nur kommt es 10 Jahre zu spt–)“. KGB III/5, Bf. 967, S. 216
XVI Zur Genealogie der Moral N an Jacob Burckhardt, 14. 11. 1887: „Verehrtester lieber Herr Professor, auch diesen Herbst bitte ich wieder um die Erlaubniß, Ihnen etwas von mir vorlegen zu drfen, moralhistorische Studien unter dem Titel Zur Genealogie der Moral: auch dies Mal wieder wie alle Male nicht ohne eine gewisse Unruhe. Denn – ich weiß es nur zu gut – alle Schsseln, welche von mir aufgetischt werden, enthalten so viel Hartes und Schwerverdauliches, daß zu ihnen sich noch Gste einladen und so verehrte Gste wie Sie es sind! eigentlich eher ein Mißbrauch freundschaftlich-gastfreundschaftlicher Beziehungen ist. Man sollte mit solcher Nußknackerei hbsch bei sich bleiben und nur die eignen Zhne in Gefahr bringen. Gerade in diesem neuesten Falle handelt es sich um psychologische Probleme hrtester Art: so daß es fast mehr Muth bedarf, sie zu stellen als irgend welche Antworten auf sie zu riskiren. Wollen Sie mir noch einmal Gehçr schenken? … Jedenfalls bin ich diese Abhandlungen Ihnen schuldig, weil sie im engsten Bezuge zu dem letztbersandten Buche (,Jenseits von Gut und Bçse‘) stehn. Es ist mçglich, daß ein Paar Hauptvoraussetzungen jenes schlecht zugnglichen Buchs hier deutlicher herausgekommen sind; – wenigstens gieng meine Absicht dahin. Denn alle Welt hat mir ber jenes Buch das Gleiche gesagt: daß man nicht begreife, um was es sich handle, daß es so etwas sei wie ,hçherer Blçdsinn‘: zwei Leser ausgenommen, Sie selbst, hochverehrter Herr Professor, und andererseits einer Ihrer dankbarsten Verehrer in Frankreich, Ms. Taine.“ KGB III/5, Bf. 952, S. 198 N an Constantin Georg Naumann, 14. 2. 1888: „Es ist mir lieb, zu hçren, daß die ,Streitschrift‘ berhaupt in irgend welchem Maaße verlangt worden ist. Ich hatte das Gegentheil erwartet.“ KGB III/5, Bf. 994, S. 255
dv.: Zur Genealogie der Moral. In: Deutsche Rundschau. Berlin, Bd. 54, Mrz
1888, S. 479. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift von Friedrich Nietzsche. Leipzig, C:G. Naumann. 1887. Wieder einmal ein echt Nietzsche’sches Buch, das seinen Verfasser in jedem Satz, fast mçchte man sagen, in jeder Zeile verrth: anziehend, fesselnd, hinreißend
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sogar, und daneben doch wieder abstoßend, das innerste Gefhl verletzend, geistig und gemthlich tief verstimmend. „Abscheulich!“ werden es gewiß die meisten finden; aber dies Urtheil, das im Hinblick auf den Grundgedanken und auf zahllose Einzelheiten gerechtfertigt erscheint, wird der Empfindung nicht gerecht, die sich trotz alledem bei der Lectre immer wieder uns aufdrngt: der Empfindung nmlich, daß hier eine nicht bloß reich, sondern auch groß und edel angelegte Natur mit einem starken Gefhl fr alles Echte, Bedeutende, Tchtige, auf einen verderblichen Abweg gerathen ist und dass es eine unverflschte, wahrhaft moralische Entrstung gegen alles Unechte, Erbrmliche, Gemeine zu sein scheint, der – merkwrdig genug – diese seltsame Streitschrift gegen die moderne „Vermoralisierung des Lebens“, d. h. gegen unsere gesammte, vom Verfasser in Acht und Bann erklrte moralische Lebensauffassung ihren Ursprung verdankt. Der Grundgedanke des Buches ist eine Ungeheuerlichkeit, die unser Empfinden empçrt; aber die Art der Ausfhrung, die auch sehr viel Wahres, Treffendes, tief Gedachtes in den Dienst dieses Gedankens zu stellen weiß, macht die Schrift gefhrlich, denn sie macht sie bedeutend und interessant.
Sch., O.: Zur Genealogie der Moral. In: Kunstwart. Dresden, Bd. 1, Nr. 11 vom 5. Mrz 1888, S. 146. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift von Friedrich Nietzsche. Leipzig, C. G. Naumann. – Der Verfasser behandelt in diesem neuesten Werke im Anschluß an frhere Schriften (insbesondere an sein Buch „Jenseits von Gut und Bçse“) die Frage: unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch die Werturteile „Gut“ und „Bçse“? und welchen Wert haben sie selbst? Die englischen Psychologen haben die Herkunft der Begriffe „Gut“ und „Bçse“ folgendermaßen erklrt: „Man hat ursprnglich unegoistische Handlungen von Seiten derer gelobt und gut genannt, denen sie erwiesen wurden, also denen sie ntzlich waren; spter hat man diesen Ursprung des Lobes vergessen und die unegoistischen Handlungen einfach, weil sie gewohnheitsmßig immer als gut gelobt wurden, auch als gut empfunden – wie als ob sie an sich etwas Gutes wren.“ Diese herrschend gewordene Auffassung sucht Nietzsche zu widerlegen, indem er die Gleichheit von gut und ntzlich bestreitet und geltend macht, daß das Urteil „Gut“ nicht von den Niedrigen herrhre, welchen „Gte“ erwiesen wird, sondern von den Vornehmen und Mchtigen, welche sich selbst und ihr Thun im Gegensatz zu allem Niedrigen und Gemeinen als gut, d. h. als hçherwertig empfinden und ansetzen. Das Buch enthlt drei Abhandlungen: 1. „Gut und Bçse“, „Gut und Schlecht“; 2. „Schuld“, „Schlechtes Gewissen“ und Verwandtes; 3. „Was bedeuten asketische Ideale?“ Es liegt außerhalb der Auf-
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gabe dieser Zeitschrift, diesen Ausfhrungen des Verfassers im Einzelnen zu folgen oder eine kritische Beleuchtung derselben zu versuchen. Es lge auch außerhalb ihrer Aufgabe, auf die Nietzscheschen Schriften berhaupt hinzuweisen, beschftigen sich diese nur mit abstrakt philosophischen Fragen. Sie enthalten aber auch zahlreiche tiefe und geistvolle Betrachtungen ber alle Zweige der Kunst. Zudem wird sich jeder knstlerisch veranlagte Leser an der Form ihres Ausdrucks erfreuen.
Michaelis, P.[aul]: Zur Genealogie der Moral. In: Nationalzeitung. Berlin, Bd. 41, Morgenausgabe Nr. 164 vom 11. 3. 1888, S. 1–3. Zur Genealogie der Moral. Bei Gelegenheit einer Besprechung des Nietzsche’schen Buches: „Jenseits von Gut und Bçse“ – eines Buches, in welchem vom Standpunkte eines radikalen Zweifels aus nicht einzelne Dogmen der Philosophie angegriffen werden, sondern der Werth der Wahrheit, der Werth der moralischen Begriffe selbst in Frage gestellt wird, erlaubten wir uns die Vermuthung, daß vielleicht dies alles so ernst nicht gemeint sei; vielleicht sei es nur eine Satire auf gewisse Zustnde der heutigen Zeit, auf gewisse aristokratische und junkerliche Bestrebungen, die dem aufgeklrten Jahrhundert zum Trotz sich noch immer geltend machen, die Rangunterschiede auch den Anforderungen der Sittlichkeit gegenber festzuhalten und Pflichten nur gegen Seinesgleichen anzuerkennen. Wir schienen dazu um so mehr berechtigt zu sein, als Friedrich Nietzsche in seinen bisherigen Schriften sich zwar als einen geistreichen Autor und trefflichen Stilisten, aber keineswegs als einen konsequenten Denker gezeigt hatte. Er liebt die Paradoxien, er legt mehr Werth darauf, guten Geschmack, als systematische Folgerichtigkeit zu zeigen, und so ist es leicht, ihm nachzuweisen, daß er sich in fast allen seinen Behauptungen durch sich selbst widerlegen lßt. Aber seine neueste Publikation, die Streitschrift: „Zur Genealogie der Moral“ (Leipzig, C. G. Naumann, 1887) belehrt uns, daß es ihm mit seinen Ansichten, die er im „Jenseits von Gut und Bçse“ aussprach, noch immer ernst sei. Er belehrt uns hierin, daß seine Gedanken ber die Herkunft unserer moralischen Vorurtheile von ihm schon vor mehr als zehn Jahren ausgesprochen seien, daß er heute noch an ihnen festhalte, daß sie sich inzwischen immer fester an einander gehalten haben, ja ineinander gewachsen und verwachsen sind, woraus er die Zuversicht schçpft, sie mçchten von Anfang an in ihm nicht einzeln, nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden sein, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden Grundwillen der Erkenntniß. Schon als
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dreizehnjhrigem Knaben sei ihm das Problem vom Ursprung des Bçsen nachgegangen. Und whrend er damals noch die Lçsung hinter der Welt in Gott suchte, habe sich ihm glcklicherweise, untersttzt durch historische und philologische Schulung, mit Hlfe eines angeborenen whlerischen Sinnes in Hinsicht auf psychologische Fragen berhaupt, sein Problem in das andere verwandelt: Welchen Werth haben die moralischen Werthurtheile? Hemmten oder fçrderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie ein Zeichen von Nothstand, Verarmung, Entartung des Lebens, oder verrth sich umgekehrt in ihnen die Flle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Muth, seine Zuversicht, eine Zukunft? Zunchst sei ihm diese Frage zum Bewußtsein gekommen an seinem großen Lehrer Schopenhauer und dessen Hochhaltung des Unegoistischen, der Instinkte des Mitleides, der Selbstverleugnung. Aber diesen Instinkten gegenber ist Nietzsche von tiefem Mißtrauen erfllt. Denn hier ist der Anfang vom Ende, das Stehenbleiben der Wille, der sich gegen sich selbst wendet, der Weg zum Nihilismus. Der Zweifel an dieser Mitleidsmoral hat nur noch einen Schritt zu thun, und er ist bei dem Zweifel an dem Werth aller Moral angelangt, er stellt den Werth dieser Werthe in Frage.“ Der Erçrterung dieser Frage, der Entstehung und Bedeutung der asketischen Ideale, der Keuschheit, des Gehorsams und der Armuth, weiter der Schuld, des Gewissens und der andern moralischen Begriffe ist die vorliegende Schrift gewidmet. Es ist zu beklagen, daß auch hier wieder Nietzsche es verschmht hat, seine Gedanken systematisch auszuarbeiten und in logischer Darstellung zu begrnden. Es sind abgerissene Stze, Apercus, Paradoxien, Aphorismen, in denen er seine neuen Ansichten vortrgt. Dadurch wird fraglos nicht nur das Verstndniß erschwert, sondern auch eine Unklarheit in der Folgerichtigkeit der Beweisfhrung begnstigt und verdeckt. Es ist selbstverstndlich, daß ein Autor, der diese Form vorzugsweise anwendet, suchen wird, sie zu vertheidigen; und Nietzsche ist sehr geneigt, ein Mißverstndniß seiner Ausfhrungen der Einfltigkeit des Lesers zuzuschreiben. Er verlangt fr seine Aphorismen eine Kunst der Auslegung; es gengt nicht, daß man ihn ablese, man soll ihn entziffern, wozu besonders eins dem modernen Menschen noth thue, „das Wiederkuen“. Aber es ist zu viel verlangt, daß der Leser schwer nehmen soll, was der Autor selbst so leicht nimmt. Nietzsche stellt die Frage nach dem Werthe der hergebrachten moralischen Begriffe keineswegs aus Interesselosigkeit, aus bloßem Drange nach Wahrheit, sondern ihm schwebt dabei immer ein bestimmter Zweck vor, nmlich die Weiterbildung des menschlichen Geschlechtes. Es ist im Grunde die Darwin’sche Theorie von der Entwicklung aus dem niederen zu immer hçheren Organismen, die, wie vielen andern Bestrebungen unserer Zeit, so auch denen Nietzsche’s zu Grunde liegt. In der That drngt auch diese Theorie fast mit Gewalt darauf hin. Denn wenn auch ihrem unphilosophischen Begrnder nichts ferner lag, als aus den erfahrungsmßig gegebenen Thatsachen von der
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Fortbildung aus den einfachen Keimen und Zellen zu immer komplizierteren Formen und Stufen des Daseins Schlsse zu ziehen, die ber die Erfahrung hinausliegen, so hat es doch fr spekulative Gemther einen großen Reiz, diese Theorien weiter zu verfolgen; nach rckwrts, indem man damit eine Erkenntniß der Entstehung der Welt und ihrer Gesetze gewonnen zu haben glaubt, nach vorwrts, indem man sich die Entwickelung der Organismen, die vorlufig im Menschen ihren Abschluß gefunden hat, verlngert denkt und von Mçglichkeiten kommender Zeiten trumt, in denen der Mensch ebenso nur ein Mittelglied und ein Uebergang zu einer hçheren Organisationsstufe ist, wie heute der Affe zum Menschen erscheint. Aber so interessant eine solche Weiterbildung des Organischen ber den Menschen hinaus zu sein scheint, so unmçglich ist es doch, sich eine klare Vorstellung davon zu machen, wie dieses hçhere Wesen beschaffen sein soll. Denn so gut es uns unmçglich ist, uns einen sechsten Sinn zu denken, so wenig wir uns eine vierte Dimension vorstellen kçnnen, so wenig ist es mçglich, uns ein Bild dieses Uebermenschen zu machen. Man wird entweder die krankhaften Dispositionen einzelner Menschen, das Hellsehen, das zweite Gesicht und hnliche Phnomene, verallgemeinern, wie es Karl du Prel thut, oder man wird geniale Anlagen, besonders intensive geistige und kçrperliche Fhigkeiten auf dieses animal futurum hufen, wie es Nietzsche versucht. Denn der Uebermensch, den er in seinem abenteuerlichen Evangelium: „Also sprach Zarathustra“ schildert, der den Menschen berwinden soll, fr den der Mensch nur „ein Gelchter und eine schmerzliche Scham“ ist, fr den Gott nicht mehr existirt, dem Glck, Vernunft und Tugend zum Ekel geworden ist, der nichts mehr von Gerechtigkeit und Mitleiden weiß, in dem der Wille zur Macht allmchtig ist – das ist zwar ein Mensch, vor dem man sich entsetzen kann, aber es ist kein Grund, ihm eine hçhere Stufe ber den Menschen in der Naturgeschichte anzuweisen. Nun ist es aber gerade die Moral, die nach Nietzsche’s Anschauung verhindert, daß dieser hçhere Typus zu Stande kommt. Die Moral mit den engen Schranken, die alle Kraft des Willens hemmen und beengen, die Religion mit ihrer Frsorge fr Kranke und Schwache, fr Alles, was sterben will und sterben sollte, das Mitleid, das den Unglcklichen am Leben erhlt, die Gerechtigkeit, die sich der Schutzlosen annimmt – das Alles ist Schuld daran, wenn die an sich mçgliche hçchste Mchtigkeit und Pracht des Typus Mensch nicht erreicht wird. Man hat bisher niemals daran gezweifelt, den Guten fr hçherwerthig als den Bçsen anzusetzen, hçherwerthig im Sinne der Ntzlichkeit und Gedeihlichkeit, in Hinsicht auf den Menschen berhaupt. Wie, wenn das Umgekehrte der Fall wre? Wenn gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wre? Nietzsche fhrt diesmal zum Beweise seiner Ansichten etwas strkeres Geschtz auf, als er sonst zu thun pflegt. Er versenkt sich in die Geschichte und in die Etymologie. Er versucht, die moralischen Begriffe historisch zu prfen und ihre Entstehung nachzuweisen. Und hier sollte man ihm durchaus zustimmen.
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Nachdem einmal der Irrthum sogenannter angeborener Ideen berwunden ist und man angefangen hat, auch die Vernunft des Menschen vom Standpunkte der Entwicklung aus zu betrachten, ist es erforderlich, auch die moralischen Begriffe nach ihrer geschichtlichen Entstehung und Weiterbildung zu untersuchen. Denn nichts kann verkehrter sein, als roheren Zeiten unsere feinfhlige Moral unterlegen und sie mit dem Maße der Gegenwart messen zu wollen. Auch die Begriffe der Moral sind die Resultate einer vieltausendjhrigen Entwickelung, hervorgegangen aus rohen, plumpen und zum Theil sehr abschreckenden Anfngen. Und wir kçnnen deshalb nur den Vorschlag Nietzsche’s untersttzen, daß eine philosophische Fakultt sich durch eine Reihe akademischer Preisausschreiben um die Fçrderung moralhistorischer Studien verdient machen mçge. Womit freilich noch nicht gesagt ist, daß man den Weg, den die Entwickelung der Moral genommen hat, wieder zurckgehen soll, wie es im Grunde das Bestreben unseres Autors ist. Geschichtlich erscheint nach Nietzsche folgendes Verhltniß. Es giebt zwei Arten von Menschen: die Aristokraten, die Vornehmen, die er Neigung hat, mit den Racen zu identifiziren, mit der blonden Race insbesondere, den Ariern, den Griechen, den Rçmern, den Germanen, und auf der anderen Seite das gemeine Volk, die dunkle Race, die Schwarzhaarigen, die vorarische Bevçlkerung Europas. Beide bilden sich eine besondere Moral. Die Vornehmen, die Herren, urtheilen von sich aus. Ihnen ist die Bejahung natrlich, und deshalb ist das erste der Begriff des Guten. „Gut“, das ist gleichbedeutend mit vornehm und edel, so bezeichnen sie sich selbst. Denn diese Mchtigen, Hçhergestellten und Hochgesinnten empfanden sich selbst und ihr Thun als gut, nmlich als ersten Ranges, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Gemeinen und Pçbelhaften. In diesem Pathos der Vornehmheit, in diesem dauernden und dominirenden Gesammt- und Grundgefhl einer hçheren Art im Verhltniß zu einer niederen Art, zu einem „Unton“ liegt der Ursprung des Gegensatzes zwischen „gut“ und „schlecht“. Nmlich „schlecht“ als ursprnglich gleichbedeutend mit „schlicht“, bezeichnet ursprnglich den gemeinen Mann noch ohne einen verdchtigenden Seitenblick, einfach im Gegensatz zu dem Vornehmen, aber es ist eine nothwendige Entwickelung, daß alle diese Bezeichnungen, gemein, pçbelhaft, niedrig, zuletzt auch auf seelische Eigenschaften bertragen werden. Von dieser Regel, daß der politische Vorrangsbegriff sich immer in einen seelischen Vorrangsbegriff auslçst, macht es zwar zunchst keine Ausnahmen, wenn die hçchste Kaste zugleich die priesterliche Kaste ist und folglich zu ihrer Gesammtbezeichnung ein Prdikat bevorzugt, das an ihre priesterliche Funktion erinnert, wie „rein“ und „unrein“. Denn auch diese Bezeichnungen waren zuerst nur Bezeichnungen des ußerlichen Unterschiedes zwischen den Herren und der beherrschten Masse. Dennoch liegt es freilich in der Art einer wesentlich priesterlichen Aristokratie, daß sich hier gerade die Werthungsgegenstze verinnerlichten und verschrften. „Denn es ist etwas ungesundes in solchen
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priesterlichen Aristokratien und in den daselbst herrschenden, dem Handeln abgewendeten, theils brtenden, theils gefhls-explosiven Gewohnheiten, als deren Folge jene den Priestern aller Zeiten fast unvermeidlich anhaftende intestinale Krankhaftigkeit und Neurasthenie erscheint.“ Und noch gefhrlicher als die Krankheit sind die Mittel, die sie dagegen anwenden, die Ditformen, das Fasten, die Enthaltsamkeit, die Flucht in die Wste. So konnte es leicht geschehen, daß die priesterliche Werthungsweise sich von der ritterlich aristokratischen abzweigte und dann zu deren Gegentheil fortentwickelte. Dies mußte insbesondere geschehen, wo Priesterkaste und Kriegerkaste in Gegensatz zu einander traten. Hier kmpfte man mit ungleichen Waffen. Die ritterlich aristokratischen Werthurtheile haben zu ihrer Voraussetzung eine mchtige Leiblichkeit, eine blhende Gesundheit, mit allem vereint, was starkes, frohgemuthes Handeln in sich schließt. Anders die priesterlich-vornehme Werthungsweise. Die Priester sind ohnmchtig und eben deshalb die bçsesten Feinde. Aus der Ohnmacht wchst bei ihnen der Haß in’s Ungeheure und Unheimliche. „Die ganz großen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser; gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt berhaupt aller brige Geist kaum in Betracht.“ Und so schaffen sich die Priester Genugthuung durch einen Akt der geistigsten Rache. Sie wagen mit einer furchteinflçßenden Folgerichtigkeit die Umkehr der aristokratischen Werthgleichung, daß „gut“ – „vornehm“ – „mchtig“ – „glcklich“ Synonyma seien, und stellen derselben eine vollkommen entgegengesetzte Werthschtzung gegenber: Die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmchtigen, Niedrigen sind allein die Guten, nur fr die Leidenden, Entbehrenden, Kranken giebt es eine Seligkeit, whrend die Vornehmen und Gewaltigen zugleich die Bçsen, die Grausamen und Gottlosen, die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sind. Damit beginnt, wie es Nietzsche bezeichnet, der Sklavenaufstand in der Moral. Er beginnt damit, daß das „Ressentiment“ selbst schçpferisch wird und Werthe gebiert. Ihrer Natur nach steht diese in einem Gegensatze zur vornehmen Moral. Die Sklavenmoral sagt von vorn herein und zuerst „nein“ zu dem, was außerhalb ist; dies Nein ist ihre schçpferische That. Denn bei ihnen tritt das Glck und Wohlbehagen nicht mit Aktivitt auf, als Handeln, sondern passivisch als Narkose, Betubung, Ruhe und Frieden. Der Mensch des „Ressentiment“ ist weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. „Seine Seele schielt.“ Er liebt Schlupfwinkel und Schleichwege, er versteht sich auf das Schweigen, das Sichverkleinern, Sichdemthigen. Was er schuf, das ist der bçse Feind, der Bçse, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstck nun auch noch einen „Guten“ ausdenkt – sich selbst! Die beiden entgegengesetzten Werthe „gut und schlecht“, „gut und bçse“ haben einen Jahrtausende langen Kampf auf Erden gekmpft. Und in dieser Zeit ist er immer hçher hinauf getragen und damit immer tiefer und geistiger
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geworden. Das Symbol dieses Kampfes heißt: „Rom gegen Juda, Juda gegen Rom“. Hier ist ein todtfeindlicher Widerspruch. In Rom galt der Jude des Hasses gegen das ganze Menschengeschlecht berfhrt. Desgleichen der Haß der Juden gegen Rom, wie neben tausend andern Zeichen und Zeugnissen die Johanneische Apokalypse beweist – „dieser wsteste aller geschriebenen Aussprche, welche die Rache auf dem Gewissen hat“. Denn auf der einen Seite sind die Starken und Vornehmen, wie sie strker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, auf der andern das priesterliche Volk par excellence, dem eine volksthmlich-moralische Genialitt sondern Gleichen innewohnte. Und es ist kein Zweifel, Juda hat einstweilen gesiegt, so sehr, daß Rom selbst zum Mittelpunkt der neuen Werthe geworden ist. Wohl gab es einige Reaktionen, das Wiederaufwachen des klassischen Alterthums im 15. Jahrhundert, aber die „pçbelhafte Ressentiments-Bewegung“, die Reformation nmlich, stellte die alte Grabesruhe im klassischen Rom wieder her. Und die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des siebzehnten und achtzehnten franzçsischen Jahrhunderts, brach unter den volksthmlichen Ressentiments-Instinkten zusammen. Vergebens, daß gerade hierbei das Ungeheurste, das Unerwarteste geschah, daß das antike Ideal selbst leibhaftig vor Auge und Gewissen der Menschheit trat, in Napoleon, daß noch einmal gegenber der lgenhaften Losung vom Vorrecht der Meisten die furchtbare und entzckende Gegenlosung vom Vorrecht der Wenigsten erscholl. Indessen auch ber dies Ideal haben die Vertreter des Ressentiment gesiegt. Ob freilich fr immer? Ob nicht der alte Brand noch einmal auflodern muß? Ja, ob dies nicht aufs innigste zu wnschen wre? Denn es ist kein Zweifel, wir leiden heute am Menschen. Wir werden den widrigen Anblick des Mißrathenen, Verkleinerten, Verkmmerten, Vergifteten nicht mehr los. Das Gewrm Mensch wimmelt im Vordergrunde; der zahme Mensch, der heillos Mittelmßige und Unerquickliche hat sich bereits als Ziel und Spitze, als Sinn der Geschichte, als hçheren Menschen fhlen gelernt. Und Nietzsche schaut mit Sehnsucht nach dem Raubthier aus, das allen vornehmen Rassen zu Grunde liegt, nach der prachtvollen, nach Beute und Sieg lstern umherschweifenden „blonden Bestie“, vor der man sich wohl frchten und auf seiner Hut sein muß, aber die man doch wenigstens bewundern darf. Die Klage Nietzsche’s ist im Grunde uralt. Wer erinnerte sich nicht an Schiller’s „Gçtter Griechenlands“? Wer htte nicht einmal mit Schmerz und Sehnsucht nach der versunkenen Welt der Antike zurckgeschaut, in der die Schçnheit und das Glck blhten? Nietzsche hat vielleicht nur das Verdienst, diese Sehnsucht auf ihren strengsten und unverhlltesten Ausdruck gebracht zu haben, indem er streng logisch alle Folgerungen derselben zieht. Aber er hat sie damit auch als absurd nachgewiesen. Und wenn er daran zu zweifeln scheint, ob es der Sinn aller Kultur sei, aus dem Raubthiere Mensch ein zahmes und civilisirtes Thier, ein Hausthier, herauszuzchten, da ja alsdann alle jene Reaktions- und Ressentiments-Instinkte, mit deren Hlfe die vornehmen Ge-
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schlechter sammt ihren Idealen schließlich zu Schanden gemacht und berwltigt worden sind, als die eigentlichen Werkzeuge zu betrachten seien, so tragen wir unsererseits nicht das geringste Bedenken, diese Frage zu bejahen. Immerhin wird man das vorliegende Buch nicht ohne Nutzen lesen. Nietzsche ist grob, aber er versucht es wenigstens, ehrlich zu sein. Und so wagte er denn auch, den Finger zu Wunden zu legen, an denen man sonst gern vorbersieht. Die Unehrlichkeit modernen Denkens, die Prderie, die Sßlichkeit und Geschmacklosigkeit, die Verzrtelung der Empfindungen werden hier einmal mit drastischen Farben beleuchtet und gebhrend zurckgewiesen. Und ein Anstoß nach der aktiven Seite thut unserem Geschlecht von heute gewiß noth. Denn wir haben viel Reflexion, aber wenig Kraft, wenig That. Reaktionen N an Heinrich Kçselitz, 21. 3. 1888: „Eben traf eine intelligente und nicht unsymphatische Besprechung meiner ,Genealogie‘ in der Nationalzeitung ein: abgesandt von dem Verfasser P. Michaelis, Domhlfsprediger in Bremen. ,Nietzsche ist grob, aber –‘“. KGB III/5, Bf. 1007, S. 276
Conrad, M.[ichael] G.[eorg]: Zur Genealogie der Moral. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift. Mnchen, Nr. 12 von Dezember 1888, S. 1156 ff. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift von Friedrich Nietzsche. Leipzig, C. G. Naumann. Angenommen, es handelte sich fr dogmatisch gewçhnte Kçpfe um die Feststellung des Grundgedankens, auf welchen sich die zahlreichen Schriften Nietzsches ber Moral und Verwandtes aufbauen, so wrde ein belesener Litteratus von der kritischen Zunft vielleicht schnell mit dem Hinweise auf den russischen Roman „Raskolnikow“ bei der Hand sein und dem glubigen Publiko zurufen: „Hier habt ihr Nietzsches Grundgedanken – Sklavenmoral, Herrenmoral – und zugleich die schçne praktische Nutzanwendung la Tartar! Lest den ,Raskolnikow!‘“ In der That hat Dostojewskis Student Raskolnikow schon vor einem Menschenalter ausgesprochen und ausgelebt, was man den Nietzscheschen Grundgedanken nennen kçnnte, wenn es bei Nietzsche berhaupt auf einen dogmatisch fixierbaren Grundgedanken ankme. Der Dostojewskische Romanheld vertrat nmlich die Ansicht, es gbe Menschen zwei verschiedener Gattungen: die zum geistigen oder weltlichen Herrschen und die zum Dienen
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und Dulden geborenen; die Sitten- und Strafgesetze kçnnten daher auch nur, wie die Geschichte beweise, fr die zweite Gattung Verbindlichkeit haben, whrend die erste Gattung, die herrschende und wertbestimmende, der von ihr erfundenen Moral nur soweit eine sie selbst verpflichtende Allgemeingltigkeit zuerkenne, als es dem Machtwillen der Herrschenden gefalle und in ihren Kram passe. Dostojewskis Held Raskolnikow fhlt sich natrlich als Mensch erster Klasse und kommt zu dem Entschluß, die weltbeglckende Rolle, die er sich zugelegt, mit den Mitteln durchzufhren, die ihm ein gemeiner Raubmord in Aussicht stellt. Das sieht sich allerdings sehr weltgeschichtlich-moralisch an. Ein Raubmord – eine Machtfrage, Bagatelle fr den berufenen Herrschermenschen, ein Sklave weniger, bah! Aber bei Raskolnikow hat die Geschichte doch auch ihren Haken: er verstrickt sich in allerlei Seelenkmpfe, da er das letzte Restchen Vorurteil, das sich nur fr den sklavischen Herdenmenschen schickt: das Gewissen, selbst noch nicht ganz in seinem Herrscherbusen berwunden hat; bald hlt er sich fr viel zu hochstehend, die gemeine That zu thun, bald fr viel zu hochstehend, sie nicht zu thun, bis die Notwendigkeit, sie dennoch zu thun, sich zur bermchtigen Wahnvorstellung in seinem Herrscherschdel auswchst und der Raubmord an einer alten reichen Wucherin und Pfandverleiherin wie etwas Selbstverstndliches vollzogen wird. Natrlich stellt sich zuletzt heraus, daß der brave Raubmçrder sich doch in seiner Klassifizierung geirrt hat, daß er nicht zur ersten Menschengattung gehçrt, denn er bekommt wieder Gewissensbisse und dergleichen, was sich nicht fr sein ideales Herrschertum schickt, er verabscheut die That, sich selbst, die ganze Welt und luft schließlich auf die Polizei, sich als Mçrder anzugeben und sich sein Verbrecher-Recht auf die bekannte Villeggiatur in Sibirien auszubitten. So im Roman und in Rußland. Aber bei Nietzsche, diesem außerordentlichen, phnomenalsten Kopfe, den bis jetzt der Skeptizismus auf deutschem Boden gereift hat – ja, gereift! – kommt es berhaupt nicht auf Haupt- und Nebengedanken und anderen philosophischen Schablonenkram an: an seinem Denken ist nichts Erstes und Letztes, kein Oberes und Unteres; da ist alles, wo es auch stehe und wann es in die Erscheinung trete, gleichwertig und gleichberechtigt. Sein Denken ist ber Herren- und Knechtsmoral hinaus, wie es jenseits der Begriffe Gut und Bçs schon lngst wieder nach neuen Schrankenbrchen und bersteigungen auf der Lauer liegt. Und htte er sich einmal im Verdacht – welche Verdachte andere ber ihn haben, hat diesen freiesten aller freien Geister nie gekmmert – daß er nun schließlich doch in einem verborgenen Fangeisen hngen geblieben, er, der gewitzigste und mißtrauischste Reinecke im freien Jagdrevier der Moralwissenschaften, so wrde er, gleich dem Fuchse in der lateinischen Jagdgeschichte, zu seiner Befreiung sich das eigene Bein abbeißen und in „frçhlicher Wissenschaft“ leicht und wohlgemut davon eilen, als htte er sich statt des Beines nur einen beschwerlichen Stiefel ausgezogen. Ein Philosoph von dieser Beweglichkeit und Umbildungskraft ist allerdings kein behaglicher Partner fr den heu-
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tigen gebildeten Durchschnittsdeutschen, der auch im Denken auf stramme Mannszucht hlt! Ich glaube, die geehrten Herrschaften wrden sich auch gar nicht verstehen. Nietzsche hat fr seine eigensten Meinungen und Urteile auch seine eigenste Sprache – eine wundervolle, entzckende Sprache, aber doch eine Sprache, die vom heutigen gebildeten Durchschnittsdeutschen immer weniger verstanden wird, denn sie ist ganz und gar nicht exerzierplatz-, nicht universitts-, nicht bureau- und nicht journalmßig; sie ist leicht wie Luft, schwer wie Gold, durchsichtig wie Glas und voller Geheimnisse, hell wie das Mittagslicht und dunkel wie ein Bergsee um Mitternacht. Nein, dieser Nietzsche ist kein lesbarer Mann. Er ist auch, wie gesagt, nirgends zu packen in seiner aalglatten Gedankenbehndigkeit – und trotzdem will er in jedem Aphorismus, in jeder Wendung festgehalten und entziffert und ausgedeutet werden wie eine alte heilige Schrift, wie ein Gotteswort. Zudem scheint es oft, daß es ihm gar nicht darauf ankomme, verstanden zu werden; besonders wo er sich der alleraufflligsten Deutlichkeit befleißt, muß man auf der Hut sein, denn gerade da hat er es meist auf eine Irrefhrung der nicht ganz feinen Kçpfe abgesehen. Ein Mephisto! „Ja, um mich lesen zu kçnnen, muß man beinahe Kuh, jedenfalls nicht moderner Mensch sein – Eins thut vor allem not, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist: Das Wiederkuen.“ So ungefhr. Wer nun dahinter gekommen ist, und es kommen Gottlob (Mephisto-Nietzsche hstelt und macht eine halbe Wendung auf dem Absatz) immer noch Einige dahinter – keine Raskolnikows! – keine Wagner-Parsifalianer! – der hat vor allen Dingen einen hohen knstlerischen Genuß im Nachempfinden und Nachschaffen des hçllisch verfhrerischen Bewußtsein-Inhaltes (Mephisto-Nietzsche pfeift leise durch die Zhne) dieses urdeutsch-europischen Schriftstellers, dieses gefhrlichen Denkers – fr Nachdenker! Als philosophischer Sprachknstler, der sich wie ein Hexenmeister bald der Denk-, bald der Phantasie-Sprache, bald der Mischung beider in neunundneunzig Abstufungen mit vollendeter Sicherheit bedient, hat er in keiner Litteratur, am wenigsten in der deutschen, seinesgleichen. Und darum wird er noch fr lange zu den wenigst gelesenen Autoren des Reiches gehçren. Ich glaube aber nicht, daß er sich allzu heftig darob grmt. Sein neuestes Buch, „Zur Genealogie der Moral“ betitelt (Ladenpreis Mk. 3,50), hat er dem letztverçffentlichten „Jenseits von Gut und Bçse“ zur Ergnzung und Verdeutlichung beigegeben. Es besteht aus drei Abhandlungen in Aphorismenform: 1. Gut und Bçse, Gut und Schlecht; 2. Schuld, schlechtes Gewissen und Verwandtes; 3. Was bedeuten asketische Ideale? Dann eine Vorrede und eine lange Anmerkung auf S. 37/38, worin er çffentlich und fçrmlich den Wunsch ausdrckt, daß irgend eine philosophische Fakultt sich durch eine Reihe akademischer Preisausschreiben um die Fçrderung moralischer Studien verdient machen mçge. Er bringt zunchst die Frage in Vorschlag: „Welche Fingerzeige giebt die Sprachwissenschaft, insbesondere die etymologische Forschung, fr die Entwicklungsgeschichte der moralischen Begriffe?“
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Dabei rechnet er nicht bloß auf das Interesse der Philologen, Historiker und Berufs-Philosophen, sondern auch auf die Teilnahme der Physiologen und Mediziner zur Erforschung der moralischen Probleme, wozu sein neues Buch so mchtigen Anstoß giebt durch die Flle und Eigenart der Gesichtspunkte. Am schrfsten geht er diesmal den englischen Biologen, Psychologen und Moralisten zu Leib, und die vielen Freunde, welche sich die Englnder gerade auf diesem Felde in den letzten Jahrzehnten im vermaterialisierten Deutschland gewonnen haben, werden die Hnde ber ihren Utilitarier-Kçpfen zusammenschlagen, wenn sie Nietzsches Aus- und Abfhrungen lesen. Wir kçnnen unseren Lesern diese Schrift als eine der khnsten und geistreichsten Erscheinungen im Bereiche philosophischer Spekulation nicht dringend genug empfehlen. Den vollen Genuß, um dies zum Schluß rund herauszusagen, werden aber nur jene Geister an Nietzsche haben, welche die Freigeisterei soweit treiben, daß sie den Mut erbrigen, selbst ihrer Wahrheit den Glauben zu kndigen, d. h. ihre eigene Freigeisterei ad absurdum zu fhren.
Druskowitz, Helene: Zur Genealogie der Moral. In: Eugen Dhring. Eine Studie zu seiner Wrdigung. Heidelberg, 1889, S. 61 f. Dhring’s Begrndung der Gerechtigkeit auf die Rache tritt Friedrich Nietzsche in seinem neuesten Werke „Zur Genealogie der Moral“ (Leipzig 1887) entgegen (S. 63). Doch steht fest, daß eine Form der Gerechtigkeit im reaktiven Gefhle wurzelt und Nietzsche’s eigene Auseinandersetzungen ber diesen Gegenstand sind unvollkommen und vage – Eigenschaften, die brigens allen Erçrterungen dieses Schriftstellers anhaften. Es ist bedauerlich, wie wenig Professor Nietzsche Dhring zu schtzen versteht, in dem er hauptschlich den Agitator und Antisemiten sieht. Kaum aber traut man seinen Augen, wenn man folgende Stelle liest (S. 133): „Man blicke in die Hintergrnde jeder Familie, jeder Kçrperschaft, jedes Gemeinwesens: berall der Kampf der Kranken gegen die Gesunden, ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tckischem Duldermienenspiele, mitunter aber auch mit jenem KrankenPharisismus der lauten Gebrde, der am liebsten ,die edle Entrstung‘ spielt. Bis in die geweihten Rume der Wissenschaft hinein mçchte es sich hçrbar machen, das heisere Entrstungsgebell der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wuth solcher ,edlen‘ Phariser (Ich erinnere Leser, die Ohren haben, nochmals an jenen Berliner Rache-Apostel Eugen Dhring, der im heutigen Deutschland den unanstndigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht: Dhring, das erste Moral-Grossmaul, das es jetzt gibt, selbst noch unter seines Gleichen, den Antisemiten). Das sind alles Menschen des Ressentiment, diese physiologisch Verunglckten und Wurm-
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stichigen.“261 Doch ist diese Stelle in jeder Beziehung fr Nietzsche characteristisch und als ein unbewußter Racheakt der geringeren und schwcheren Natur an der hçheren, strkeren, gesunden, an dem „Rache-Apostel“ Dhring aufzufassen. Wir frchten daß in die Kategorie der „physiologisch Verunglckten“ Allen voran Professor Nietzsche selbst wird einzureihen sein. Denn es kommt ihm immer mehr der Sinn fr einfach menschliche Empfindungen und fr natrliches Denken abhanden, er schwelgt in immer haltloseren und zugleich gefhrlicheren Paradoxien, gefllt sich in immer abstoßenderen Gesalbader, und Großmannssucht und Dnkelhaftigkeit nehmen immer bedenklichere Dimensionen bei ihm an. Wir erinnern die Leser seiner letzten Schriften, mit welcher unbeschreiblichen Verachtung er, und er thut es unzhlige Male, von jenen spricht, die das Unglck haben, „pçbelhaft“ zu sein und welch’ abgçttliche Verehrung er mit den „Vornehmen“ treibt. Schließlich ergibt sich aber, daß seine Auffassung der Vornehmheit eine vçllig verkehrte ist, da Napoleon 1. als „das fleischgewordene Problem des vornehmen Ideals an sich“ bezeichnet wird. (S. 30) Einer der glnzendsten Stilisten und geistvollsten Kçpfe unserer Zeit, tuscht er sich und die Welt ber die gleichwohl bestehende Insufficienz seines Wesens und den Mangel an selbstndigen Gedanken, es wren denn solche, die jeder Haltbarkeit und Berechtigung entbehren. So ist er nach jahrzehntelangem Umhertasten zu Resultaten gelangt, die mit Leichtigkeit ad absurdum kçnnen gefhrt oder geradezu als ungeheuerlich mssen bezeichnet werden, wie z. B. die Behauptung, daß die fortschreitende „Moralisirung“ der Menschheit den Untergang des hçheren menschlichen Typus bedeute, eine Anschauung, die eben in einer grundfalschen Auffassung des Humanittsideals wurzelt.
Glogau, Gustav: Zur Genealogie der Moral. In: Deutsche Litteraturzeitung. Berlin, Bd. 8, Nr. 23 vom 8. 6. 1889. Friedr. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Leipzig, C. G. Naumann, 1887. XVI u. 182 S.88 M. 3,50. Die Grundrichtung und den Ton dieses Buches kann irgend welche Stelle desselben bezeichnen, die man beliebig irgendwo heraushebt. Z.B. heisst es S. 54 „der mde pessimistische Blick, das Mistrauen zum Rtsel des Lebens, das eisige Nein des Ekels am Leben – das sind nicht die Abzeichen der bçsesten Zeitalter des Menschengeschlechtes: sie treten vielmehr erst an das Tageslicht, als die Sumpfpflanzen, die sie sind, wenn der Sumpf da ist, zu dem sie gehçren 261 Das Zitat stammt aus der Genealogie der Moral, siehe KGW VI/2, S. 388.
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– ich meine die krankhafte Verzrtelung und Vermoralisierung, vermçge deren das Getier „Mensch“ sich schliesslich aller seiner Instincte schmen lernt. Auf dem Wege zum „Engel“ (um nicht ein hrteres Wort zu gebrauchen) hat sich der Mensch jenen verdorbenen Magen und jene belegte Zunge angezchtet, durch die ihm nicht nur die Freude und Unschuld des Tieres widerlich, sondern das Leben selbst unschmackhaft geworden ist: sodass er mitunter vor sich selbst mit zugehaltener Nase dasteht und mit Papst Innocenz“ u.s.w. u.s.w. Ich mçchte aber nicht lugnen, dass Mancher – z. B. meine Wenigkeit – dennoch recht wertvolle Anregungen aus dem Buche gewinnen kann. Das „Getier“ am Menschen, seine guten und bçsen Instincte, sind da; und sie spielen in der Tat in der Entwickelung und in der ersten Hervortreibung der sogenannten Idealwelt als dmonische Reize eine sehr bedeutende Rolle. Andrerseits aber ist die „krankhafte Verzrtelung und Vermoralisierung“ „auf dem Wege zum Engel“; wie sie die alte Kirche gebt hat, und der deutsche Idealismus in anderer Wendung sie spter widerholte, mit Recht schon seit den Tagen der Reformation und dann wider durch unsere realistische Reaction in ihrem Werte verdchtigt und nachdrcklich beschrnkt worden. Wer also grelle Farben vertragen kann, den werden die drei Abhandlungen unseres Werkes: „Gut und Bçse, Gut und Schlecht“; „Schuld, schlechtes Gewissen und Verwandtes“; „Was bedeuten asketische Ideale?“ auf manche wertvollen Momente des Lebenskampfes krftig genug hinweisen. Die schmutzige Wsche im menschlichen Haushalt hat eine tief einschneidende Bedeutung fr das çffentliche Gebaren der Menschen, und es ist nicht richtig, dass man dies vornehm bersieht. Freilich haben wir in Nietzsche immer nur einen, wenn auch selbstndigen Nachhall jener mchtigen Tçne zu erkennen, welche einst Byron gegen die falschen Ideale einer gleisnerischen Culturwelt erdrçhnen liess. Wenn nun aber des Verfs. scharfsprendes Auge – Verzeihung, „Nase“ wollte ich sagen! – im Unterschiede zu Byron an den Idealen der Menschheit aber auch gar nichts, was ihn persçnlich reizte, entdecken kann; wenn er sich vielmehr in das „Getier“ ernstlich verliebt zeigt, und die Anerkennung, die er jenen gelegentlich spendet, nach Ton und Haltung lediglich eine objective Wrdigung ihm fremder Werte bedeutet: so weist eine solche Verkehrung zweifellos auf eine Geistesrichtung hin, die ich schon bei der Anzeige des Vorlufers dieses Buches in Nr 44 des Jahrg. 1886 dieser Zeitung zu kennzeichnen hatte. Leider hçre ich durch Zeitungsnachrichten, dass das; was ich damals am Schlusse ber das voraussichtliche Schicksal des Verfs. leise anzudeuten wagte, jetzt bereits in Erfllung gegangen ist.
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Der Fall Wagner Reaktionen
N an Paul Deussen, 14. 9. 1888: „Daß eine Schrift von mir, ein Pamphlet [Der Fall Wagner] wenn man will, gegen Wagner, eine gewisse Aufregung mit sich bringt, giebt mir schon der letzte Bericht meines Verlegers zu verstehen. Bloß auf die vorlufige Ankndigung im Buchhndler-Bçrsenblatt hin sind soviel Bestellungen eingelaufen, daß die Auflage von 1000 Ex. als erschçpft betrachtet werden kann (d. h. wenn die Exemplare, die verlangt sind, spter nicht den Krebsgang gehen…).“ KGB III/5, Bf. 1111, S. 426 Malwida von Meysenbug an N, Mitte Oktober 1888: „Ich hoffe, ich gehçre schon jetzt zu diesen Wenigen und deshalb kann ich Ihnen auch freimthig Opposition machen und Ihnen sagen wo ich finde daß Sie Unrecht haben. Ich bin auch der Ansicht daß man eine alte Liebe, selbst wenn sie erloschen ist, nicht so behandeln darf, wie Sie W[agner] behandeln; man beleidigt sich damit selbst, denn man hat doch einmal ganz und voll geliebt und der Gegenstand der Liebe war doch kein Phantom, sondern eine ganz volle Wirklichkeit. Der Ausdruck ,Hanswurst‘ fr W[agner] und Liszt ist ganz abscheulich.“ KGB III/6, Bf. 591, S. 330 N an Malwida von Meysenbug, 18. 10. 1888: „Verehrte Freundin, das sind keine Dinge, worber ich Widerspruch zulasse. Ich bin in Fragen der dcadence, die hçchste Instanz, die es auf Erden giebt.“ KGB III/5, Bf. 1131, S. 452
W., M.: Der Fall Wagner. In: Kunstwart. Dresden, Bd. 2, Nr. 2 vom Oktober 1888, S. 20. „Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem von Friedrich Nietzsche“ (Leipzig, C. G. Naumann) heißt die Streitschrift, welche die Musikliteratur (die gegenwrtig in der That der Hauptsache nach Wagnerliteratur ist) in der nchsten Zeit wohl am meisten beschftigen drfte. Zeigt sich doch der frhere Vorkmpfer der Wagnersache nunmehr zum Bekmpfer Bayreuths verwandelt! Der Gegenstand, wie die Person des Verfassers legen dem „Kunstwart“ selbstverstndlich die Pflicht auf, sich mit Nietzsches „Musikanten-Problem“ auch kritisch zu befassen: fr heute indessen genge es, so gut es gehen will, ohne unsere persçnliche
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Meinung dareinzumischen, das Wesentliche aus dieser Schrift hierherzustellen, auf daß der Leser sehe, um was der Kampf sich bewegen wird. Denn mit dem Totschweigen der Schrift wre dem wirklichen Freunde der Wahrheit, der vorlufig doch ein Freund Wagners wohl auch noch sein darf, wre somit auch uns selber sicherlich am wenigsten gedient. Also: fr Nietzsche ist „Wagner der Knstler der Decadence – da steht das Wort.“ „Wagners Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bhne bringt – lauter Hysteriker-Probleme, das Konvulsivische seines Affekts, seine berreizte Sensibilitt, sein Geschmack, der nach immer schrferen Wrzen verlangte, seine Instabilitt, die er zu Prinzipien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet: Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lßt. Wagner est une nvrose. Nichts ist vielleicht heute besser bekannt, Nichts jedenfalls besser studirt, als der Proteus-Charakter der Degenereszenz, der hier sich als Kunst und Knstler verpuppt. Unsere rzte und Physiologen haben in Wagner ihren interessantesten Fall, zum mindesten einen sehr vollstndigen. Gerade, weil nichts moderner ist, als diese Gesamterkrankung, diese Sptheit und berreiztheit der nervçsen Maschinerie, ist Wagner der moderne Knstler par excellence, der Cagliostro der Modernitt. In seiner Kunst ist auf die verfhrerischeste Art gemischt, was heute alle Welt am Nçtigsten hat, – die drei großen Stimulantia des Erschçpften: das Brutale, das Knstliche und das Unschuldige (Idiotische). Wagner ist ein großer Verderb fr die Musik. Er hat in ihr das Mittel erraten, mde Nerven zu reizen! Er ist der Meister hypnotischer Griffe, er wirft die Strksten noch wie Stiere um.“ „Bei Wagner steht im Anfang die Halluzination: nicht von Tçnen, sondern von Gebrden. Zu ihnen sucht er erst die TonSemiotik. Will man ihn bewundern, so sehe man ihn hier an der Arbeit: wie er hier trennt, wie er kleine Einzelheiten gewinnt, wie er diese belebt, heraustreibt, sichtbar macht. Aber daran erschçpft sich seine Kraft: der Rest taugt Nichts. Wie armselig, wie verlegen, wie laienhaft ist seine Art, zu „entwickeln“, sein Versuch, das, was nicht auseinander gewachsen ist, wenigstens durcheinander zu stecken! … Er setzt ein Prinzip an, wo ihm ein Vermçgen fehlt… Bewunderungswrdig, liebenswrdig ist er nur in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Details„ – hier erkennt ihn Nietzsche als einen Meister ersten Ranges an, „als unsern grçßten Miniaturisten in der Musik“, nach welchem „Einem hinterdrein fast alle andern Musiker zu robust vorkommen.“ „Vom Magnetiseur und Affresko-Maler Wagner abgesehen, giebt es noch einen Wagner, der kleine Kostbarkeiten zur Seite legt: unsern grçßten Melancholiker der Musik, voll von Blicken, Zrtlichkeiten und Trostworten, die ihm Keiner vorweggenommen hat, den Meister in Tçnen eines schwermtigen und schlfrigen Glcks … Ein Lexikon der intimsten Worte Wagners, lauter kurze Sachen von fnf bis fnfzehn Takten, lauter Musik, die Niemand kennt… Wagner hatte die Tugend der Dcadence, das Mitleiden – .“
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Aber, meint Nietzsche, sein ungeheurer Einfluß kommt eben doch ganz wo anders her. Wagner, „das erstaunliche Theater-Genie, das die Deutschen gehabt haben“, „wurde Musiker, wurde Dichter, weil der Tyrann in ihm, sein Schauspieler-Genie ihn dazu zwang. Man errt nichts von Wagner, so lange man nicht seinen dominirenden Instinkt erriet.“ Musiker von Instinkt war er nicht. Er hat sein Leben lang den Satz wiederholt, daß seine Musik nicht nur Musik bedeute. „Nicht nur Musik“ – so redet kein Musiker.“ Ließe man gelten, „Musik drfe unter Umstnden nicht Musik, sondern Sprache, sondern Werkzeug, sondern ancilla dramaturgica sein“, so drfte man’s anerkennen: „er hat das Sprachvermçgen der Musik ins Unermeßliche vermehrt.“ So aber sei keine Musik „einfach schlechte Musik“, denn Wagner gab alle Gesetzlichkeit, „allen Stil in der Musik“ preis, „um aus ihr zu machen, was er nçtig hatte, eine Theater-Rhetorik, ein Mittel des Ausdruckes, der Gebrden-Verstrkung, der Suggestion, des Psychologisch-Pittoresken.“ „Wenn ein Musiker nicht mehr bis drei zhlen kann, wird er „dramatisch“, wird er „Wagnerisch“.“ „Auch im Entwerfen der Handlung ist Wagner vor Allem Schauspieler. Was zuerst ihm aufgeht, ist eine Szene von unbedingt sßer Wirkung, eine wirkliche Actio mit einem Hochrelief der Gebrde, eine Szene, die umwirft – diese denkt er in die Tiefe, aus ihr zieht er erst die Charaktere. Der ganze Rest folgt daraus.“ „Man weiß, bei welchem technischen Problem der Dramatiker alle seine Kraft ansetzt und oft Blut schwitzt: dem Knoten Notwendigkeit zu geben und ebenso der Lçsung, so daß Beide nur auf eine einzige Art mçglich sind.“ Und nun vergleiche man die „Knoten“ Wagners – „er ist kein Dramatiker!“ Er urteilt wie der Schauspieler: eine Reihe starker Szenen, eine strker als die andre. Wagner bedeutet nach Nietzsche „Die Heraufkunft des Schauspielers in der Musik.“ „Victor Hugo und Richard Wagner – sie bedeuten Ein und Dasselbe: daß in Niedergangs-Kulturen, daß berall, wo den Massen die Entscheidung in die Hnde fllt, die Echtheit berflssig, nachteilig, zurcksetzend wird. Nur der Schauspieler weckt noch die große Begeisterung.“ Der Verfasser formt seine Forderungen in die folgenden drei Stze: „Daß das Theater nicht Herr ber die Knste wird. Daß der Schauspieler nicht zum Verfhrer des Echten wird. Daß die Musik nicht zu einer Kunst zu lgen wird.“ Nach ihm steht es „schlimm berhaupt“. Man wrde deshalb auch sehr irren, glaubte man, die andern bekannten lebenden Komponisten kmen in der vorliegenden Schrift besser weg als Wagner. Die Ursache fr den „Ruin der Musik“ ist dieser auch nach Nietzsche nicht, sondern nur der Beschleuniger. „Die Andern zçgern – das unterscheidet sie, sonst Nichts.“ Wir wiederholen, daß wir heut nur eine mçglichst sachliche Inhaltsangabe vom Hauptteil der Schrift zu geben hatten.
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Anonym: Erklrung der Redaktion. In: Kunstwart. Dresden, Bd. 2, Nr. 3 vom Oktober 1888, S. 20. Auf Anfragen mçchten wir hiermit ausdrcken, daß der mit M. W. unterzeichnete Bericht ber Nietzsches Buch „Der Fall Wagner“ (Kunstwart 2) nicht von Moritz Wirth verfaßt ist. brigens wiederholen wir unsere Mittheilung, daß Nietzsches Schrift mit jener Inhaltsangabe fr unser Blatt noch nicht erledigt ist.
Anonym: Der Fall Wagner. In: Hamburger Nachrichten. Belletristisch-litterarische Beilage der Morgenausgabe Nr. 238 vom 6. 10. 1888.262 Alle musikalischen Parteignger, welche durch eigene Lektre oder wenigstens durch Hçrensagen von Professor Dr. Nietzsches Buch „Die Geburt der Tragçdie“ und der darin ausgesprochenen unbedingten bereinstimmung des Philosophen mit dem Musikdramatiker in der Auffassung seiner Kunst wissen, werden ber die vorliegende Broschre (Fall Wagner) und ihr schonungsloses Verdammungsurtheil gegen den Knstler Richard Wagner, je nach ihrem Standpunkt, entweder auf Hçchste enttuscht sein oder frohlocken.
Sittard, J.[oseph]: Wagneriana. In: Hamburgischer Correspondent, Nr. 283 vom 11. 10. 1888. S. 1 f. U.a. ber Nietzsches WA Wagneriana […] Ein Kmpfer von grçßerem Kaliber war seiner Zeit der Professor der classischen Philologie an der Universitt zu Basel, Herr Nietzsche; die Kugeln, welche er auf der sogenannten Pfalz, nicht weit von der Stelle, wo das Baseler Concil einstens tagte, nach Deutschland hinber schoß, richteten zwar weiter keinen Schaden an, aber seine „unzeitgemßen Betrachtungen“ machten immerhin einiges 262 Die Rezension ist nicht auffindbar. Text nach dem Abdruck in den Verlagsanzeigen in Albert Kniepf: Theorie der Geisteswerthe. Leipzig 1892. Vgl. Krummel, Richard Frank (1998): Nietzsche und der deutsche Geist. Bd.1 Berlin, S. 151
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Aufsehen, und zwar schon aus dem Grunde, weil sie ein ordentlicher Professor der classischen Philologie geschrieben hatte; große Freude herrschte allenthalben im Bayreuther Lager darber, dass auch solche Mnner, welche mit dem Lorbeer profundester Gelehrsamkeit geschmckt, die Feinde wie Mcken erschlugen oder doch wenigstens zu erschlagen vermeinten. Aber heute ist große Trauer im Lande. Der Basler Professor, welcher seinen Lehrstuhl verlassen und in Turin sich nur seinen schriftstellerischen Neigungen hingiebt, hat soeben eine Schrift verçffentlicht263, deren Angriffe auf Wagner, wenn wir die psychiatrische Studie Dr. Puschmann’s ausnehmen, alles berbieten, was bis heute gegen den Meister erschienen ist; die Ausflle eines Hanslick erscheinen dagegen als gemthliche und wohlwollende Scherze. Nietzsche war es, welcher in seinen „unzeitgemßen Betrachtungen“ No. 4, Wagner einstens einen „Vereinfacher der Welt“ nannte; das Bayreuther Unternehmen erschien ihm als „die erste Weltumsegelung im Reiche der Kunst, wobei, wie es scheint, nicht nur eine neue Kunst, sondern die Kunst selber entdeckt wurde.“ Und heute? Wagner war nie ein Musiker, noch besaß er je ein musikalisches Gewissen; Wagner war niemals mehr als ein unvergleichlicher Histrio. Wie ist nun aber dieser Paulus wieder zum Saulus geworden? Es war, wie er uns versichert, die Selbstdisciplin, Partei zu nehmen gegen alles Kranke an sich selber, „eingerechnet Wagner, eingerechnet Schopenhauer, eingerechnet die ganze moderne Menschlichkeit.“ Hier berhrt sich Nietzsche aber in auffallender Weise wieder mit Wagner. Auch letzterer verlangt – siehe dessen Schrift, Oper und Drama –, daß wir unsere staatlich-, politisch- und religiçs-dogmatischen Empfindungen wieder „zurckempfinden“ sollen; alsdann wrden wir auch wieder befhigt sein, jeden sinnlichen Gehalt der Sprachwurzel erfassen zu kçnnen. Aber Wagner gehçrte nun einmal zu den Krankheiten des Herrn Nietzsche, und sein grçßtes Erlebniß war seine Genesung; Wagner reprsentirt gleichsam die geistigen Masern, man muß erst Wagner sein um gesund zu werden. Die Katharsis aber vollbrachte – Carmen. „Wie ein solches Werk vervollkommnet“, ruft Herr Nietzsche begeisterungstrunken aus.“ Man wird selbst dabei zum Meisterstck“. Je mehr er „Carmen“ hçrte, desto mehr schien er sich Philosoph zu sein, „so langmthig geworden, so glcklich, so irdisch, so seßhaft … Fnf Stunden Sitzen: erste Etappe der Heiligkeit! – Darf ich sagen, daß Bizet’s Orchesterklang fast der einzige ist, den ich noch aushalte?“ Das sind schlimme pathologische Zustnde, welche am wenigsten die warme Sonne des Sdens heilen drfte. Aber die Musik zu Carmen kommt dem Professor leicht, biegsam, mit Hçflichkeit daher. „Sie ist liebenswrdig, sie schwitzt nicht“. Ja Nietzsche behauptet, daß er ein besserer Mensch werde, wenn ihm Bizet zuredet. Das sagt derselbe Mann, welcher einstens in seinem Werk „Die Geburt 263 Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem. Von Friedrich Nietzsche. Leipzig. Verlag von C. G. Naumann.
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der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ so schçne und begeisterte Worte ber das Drama schrieb. Aber beim Hçren der Musik zu Carmen sind die Probleme ihm so nahe, daß er sie greifen kann, und er die Welt wie von einem Berge aus erblickt. Die Antworten auf die Fragen seines Geistes fallen ihm dabei gleichsam in den Schooß, „ein kleiner Hagel von Eis und Weisheit, von gelçsten Problemen“. Mit Wagner nimmt man Abschied vom feuchten Norden, vom Wasserdampf des Ideals, ein Idealist ist fr Herrn Nietzsche nur noch ein „Mondkalb“. Die wahre Sensibilitt herrscht in der Bizet’schen Musik, eine Sensibilitt, die in der gebildeten Musik Europas bislang noch keine Sprache hatte, es ist die „sdlichere, braunere, verbranntere Sensibilitt… Wie die gelben Nachmittage ihres Glcks uns wohlthun.“ Auch die Auffassung der Liebe in Carmen ist nach Nietzsche die einzige des Philosophen wrdige. Ein geliebtes Wesen besitzen zu wollen, ist egoistisch. Nietzsche fraternisirt also in diesem Punkte heute noch mit der berchtigten Tischrede Nohl’s in Bayreuth. Und das heißt der Herr Professor Rckkehr zur Natur, Gesundheit, Heiterkeit. Jugend, Tugend, Wir danken. Nebenher erhalten auch Goethe und Schiller ihr Theil. Spricht er in seinem bereits angefhrten Werke „Die Geburt der Tragçdie“ von dem „edelsten Bildungskampfe“ Goethe’s und Schiller’s, so lßt Nietzsche sich in seiner neuesten Schrift ber das Schicksal Goethe’s im „moralinsauren altjungfernhaften“ Deutschland aus, wo der Dichter des Faust ehrliche Bewunderer nur unter Jdinnen gehabt habe; auch Schiller, „der ihnen mit großen Worten um die Ohren schlug“, sei nach ihrem Herzen gewesen. Schiller war berhaupt nur ein gewçhnlicher Theatermensch, auch er wollte Nichts als die Wirkung. Ist nach Wolzogen der Ring des Nibelungen die gewaltigste dramatische Darstellung des christlichen Grundgedankens, so spricht nach Nietzsche nur der Revolutionr aus demselben. Alles Unheil und die bestehenden gesellschaftlichen Institutionen schafft man nur dadurch aus der Welt, daß man ihnen, der Moral berhaupt, den Krieg erklrt. Das thut nach des Herrn Professor Meinung Siegfried. Schon seine Entstehung sei eine Kriegserklrung an die Moral, und er fhrt fort wie er angefangen: er wirft alle Furcht ber den Haufen, alle alten Gottheiten rennt er um, was sich ihm in den Weg stellt sticht er nieder, und am Schluß emancipirt er das Weib. Eine hbsche Exegese. Daß man sich in Deutschland ber Wagner, den „Cagliostro der Modernitt“ betrgt, befremdet Nietzsche durchaus nicht, die Deutschen waren noch nie Psychologen, „sie sind dankbar, daß sie mißverstehen.“ Daß Wagner in Paris keinen festen Boden gewinnen konnte, kann die Nation nur ehren, die Franzosen beweisen damit nur, daß sie bessere Psychologen als wir Deutsche sind. Wir gehen noch weiter, wir sagen, daß niemals ein Franzose es wagen wrde, ber seine eigene Nation und deren große Dichter und Knstler in solchem niedrigen und verchtlichen Tone zu schreiben wie Herr Nitzsche [sic], und dass sich noch weniger in Frankreich ein Verleger finden drfte, der solche Pamphlete drucken ließe. Ueber Goethe und Schiller spçttelt er in geringschtzigster Weise; wenn ein Musiker nicht
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mehr bis drei zhlen kann, wird er „dramatisch“, das heißt „Wagnerisch“; das Leitmotiv ist nur ein idealer Zahnstocher. Hegel nur ein Geschmack und Wagner sein Erbe. Die Bhne Wagner’s hat nur Eines nçthig: Germanen! Und aus was besteht der Germane? Aus Gehorsam und langen Beinen. Und dann fhrt der Renegat Nitzsche[sic] fort: „Es ist voll tiefer Bedeutung, daß die Heraufkunft Wagner’s zeitlich mit der Heraufkunft des „Reiches“ zusammenfllt: beide Thatsachen beweisen Ein und Dasselbe – Gehorsam und lange Beine.“ Und dann ist es nicht eine an Grçßenwahn streifende Selbstberhebung des ehemaligen ordentlichen Professors der classischen Philologie, wenn er Seite 48 schreibt: „Ich habe den Deutschen die tiefsten – soll wohl heißen die dicksten – Bcher gegeben, die sie berhaupt besitzen, Grund genug, daß die Deutschen kein Wort davon verstehen. Seitdem aber in den Weinbergen des deutschen Geistes ein neues Thier haust, der Reichswurm, die berhmte Rhinoxera, wird kein Wort mehr von mir verstanden.“ Diese Stze charakterisiren Herrn Nietzsche zur Genge. Irgendwo in seiner Schrift bemerkt der Verfasser, dass Bayreuth sich auf Kaltwasserheilanstalt (!!) reime; wir glauben nicht, dass der lngere Besuch einer solchen Herrn Nietzsche irgend welchen Schaden zufgen wrde. Reaktionen N in Nachgelassene Fragmente, nach September 1888: „Ein Hamburger Blatt erkannte in mir den alten Hegelianer.“ KGW VIII/3, S. 343
Pohl, Richard: Der Fall Nietzsche. Ein psychologisches Problem. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 19, Nr. 44 vom 25. 10. 1888, S. 517–520. Der Fall Nietzsche. Ein psychologisches Problem. I. So, und nicht „Der Fall Wagner, ein Musikanten-Problem“, sollte die Brochure heissen, die Friedrich Nietzsche soeben (Leipzig, C. G. Naumann) hat erscheinen lassen. Man kçnnte dieses Pamphlet auch „Der Abfall“, „Der Hinfall“ oder „Der Verfall“ von Friedrich Nietzsche betiteln. Es ist aber jedenfalls ein merkwrdiges psychologisches Problem, das uns hier vorliegt. Friedrich Nietzsche war einer der eifrigsten, berzeugungsvollsten und geistreichsten Wagnerianer; er war noch mehr als das, er war intimer Haus-
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freund in Richard Wagner’s Familienkreise. Er hat das Tiefsinnigste geschrieben, was ber R. Wagner’s Kunst gesagt worden ist: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ (Leipzig, E. W. Fritzsch), ein Buch, das nur ein grndlicher Philosoph, ein gelehrter Philolog schreiben konnte, dem die Wagner’sche Kunst im Innersten aufgegangen war, – was bekanntlich bis dahin noch keinem Professor der Philosophie passirt war. Dieses Buch ist zwar mehr gepriesen, als gelesen und mehr gelesen, als verstanden worden. Aber es war ein Unicum in der Wagner-Litteratur, eine phnomenale Erscheinung. Das „Vorwort an Richard Wagner“ schloss der Verfasser mit dem Satze: „Ernsthaften diene zur Belehrung, dass ich von der Kunst als der hçchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thtigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes berzeugt bin, dem ich hier, als meinem erhabenen Vorkmpfer auf dieser Bahn, diese Schrift gewidmet haben will.“ Das Buch erschien 1872. Der neuen Titel-Ausgabe (1886) fgte der Verfasser als Einleitung den „Versuch einer Selbstkritik“ bei, die schon sehr bedenklich aussah. Er sagt darin, dass das Buch ihm, 16 Jahre nach seiner Entstehung (1870), fremd gegenber stehe, dass es ihm „unangenehm“ erscheine, vor seinen lteren, „verwçhnteren“ Augen. Er nennt es ein unmçgliches Buch, schlecht geschrieben, schwerfllig, peinlich, ein hochmthiges und schwrmerisches Buch u.s.f. Man wusste nicht recht, was man daraus machen sollte. Man hielt das fr Selbstironie, fr absichtliche Irrefhrung, fr Persiflage seiner Gegner, deren Nietzsche natrlich genug hatte. Aber schon damals sagten wir uns: Verleugnet der Verfasser sein eigenes Kind, weshalb unterdrckt er es nicht? Lsst er es aber in zweiter Ausgabe in die Welt hinaus ziehen, weshalb gibt er ihm diesen Uriasbrief mit? Ein seltsamer Autor, der nach drei Lustren fr das, was er geschrieben hat, nicht mehr einstehen will oder kann und sich hutet, wie ein Reptil. Es kamen noch andere Bcher von Nietzsche zu Tage, in denen der Verfasser offen kundgab, dass er kein Anhnger mehr von Rich. Wagner sei. Um indessen jeden Zweifel zu heben, gibt er jetzt den „Fall Wagner“ heraus, in dem er feierlich Alles abschwçrt, was er ehemals geglaubt, gepriesen und gepredigt hat. Er enthllt sich als vollkommener Convertit, der in den Schooss des alleinseligmachenden Glaubens an eine Kunst zurckkehrt – die nicht vorhanden ist. Der Paulus ist zum Saulus geworden; der an der Spitze des Fortschritts Stehende zum Reactionr, der Freund zum Feinde, der Fhrer zum Verfhrer. Wagner’s Gegner mçgen sich die Hnde vor Vergngen reiben und mit verdrehten Augen die unerforschlichen Wege der Vorsehung preisen, die wider alles Wissen und Erwarten das geschehen liess, zum warnenden Exempel. Fr mich ist diese Frage mehr eine pathologische. Es liegt etwas Krampfhaftes, Ungesundes, Naturwidriges in diesem Vorgange, der sehr bedenkliche Symptome zeigt. Man hat ja solche Erscheinungen schon auf allen Geistesge-
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bieten erlebt – in der Religion, in der Politik, in der Wissenschaft, nur noch nicht in der Wagner’schen Kunst. – Warum sollte aber dieser Rckschlag nicht auch hier vorkommen kçnnen? Mir ist nur der Causal-Nexus nicht klar; ich kenne die Ursachen nicht, die zu solchen Erscheinungen gerade hier nothwendig fhren mußten. Es kçnnen sogar rein persçnliche Grnde sein. – Wer weiss das? – Wer ergrndet die Seelenzustnde, zu welchen persçnliche Erlebnisse, gewaltsame ussere oder innere Vorgnge zu fhren vermçgen? Es ist lediglich ein Gefhl des Mitleids, das uns bei solchen Erscheinungen ergreift. – Der Mann ist krank – Amfortas und der reine Thor! – Das ist durchaus nicht ironisch zu verstehen. Man lese nur die ersten Stze des Turiner Briefes vom Mai 1888 und man wird sofort wissen, mit wem man es zu thun hat: „Ich hçrte gestern – werden Sie es glauben? – zum zwanzigsten Male Bizet’s Meisterstck. Ich harrte wieder mit einer sanften Andacht aus, ich lief wieder nicht davon. Dieser Sieg ber meine Ungeduld berrascht mich. Wie ein solches Werk vervollkommnet!“ – Und weiter unten: „Darf ich sagen, dass Bizet’s Orchesterklang fast der einzige ist, den ich noch aushalte? Jener andere Orchesterklang, der jetzt obenauf ist, der Wagner’sche, brutal, knstlich und „unschuldig“ zugleich und damit zu den drei Sinnen der modernen Seele auf einmal redend – wie nachtheilig ist mir dieser Wagner’sche Orchesterklang! Ich heisse ihn Scirocco.“ Wenn Hr. Capellmeister Carl Reinecke in Leipzig das gesagt htte – der sich, wie „man erzhlt“, von dem ersten Eindruck, den „Tristan und Isolde“ auf ihn gemacht, dadurch zu befreien suchte, dass er sich zu Haus „Lott’ ist todt“ auf dem Clavier vorspielte –, so begriffe ich das vollkommen. Aber beim Verfasser der „Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ ist das einfach beklagenswerth. Denn zwanzig Mal hintereinander „Carmen“ mit einer „sanften Andacht“ hçren kçnnen – das ist ein Symptom von Geistesschwche. Diese Einleitungsstze geben uns aber den richtigen Standpunct zur Beurtheilung der ganzen Schrift, respective des ganzen Menschen, der sich in ihr mit einer herablassenden Ungenirtheit ausspricht, als wenn er der Welt den grçssten Gefallen damit erwiese, dass er vor ihr seine schmutzige Wsche wscht. – „Ich mache mir eine kleine Erleichterung“ – sagt er im Vorwort. Muss denn hierzu die gebildete Welt als Zeuge aufgerufen werden? Die Lecture macht den Eindruck, als wenn man einen Shakespeare’schen Narren reden hçrte: Seltsame Gedankensprnge, khne Antithesen, bittere Selbstironie, und dazwischen wieder geistreiche AperÅus, berraschende Gedankenblitze, treffende Beobachtungen. – Ich muss dabei immer an das Dichterwort denken: „Welch edler Geist ward hier zerstçrt!“ „Eine tiefe Entfremdung, Erkaltung, Ernchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemsse und als hçchster Wunsch das Auge Zarathustra’s, ein Auge, das die ganze Thatsache Mensch aus ungeheurer Ferne bersieht – unter sich sieht“ – das ist sein jetziger Zustand. Ob der wohl gesund ist? –
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Das Resum dieser Schrift ist ein eigenthmliches: sie verwirft R. Wagner und erkennt doch seine Unentbehrlichkeit an. R. Wagner ist fr Nietzsche „eine Krankheit“, aber zugleich eine Nothwendigkeit: „Er hat das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein, dazu muss er deren bestes Wissen haben. Ich verstehe es vollkommen, wenn heute ein Musiker sagt: ,Ich hasse Wagner, aber ich halte keine andere Musik mehr aus‘. Ich wrde aber auch einen Philosophen verstehen, der erklrte: ,Wagner resumirt die Modernitt. Es hilft Nichts, man muss erst Wagnerianer sein‘.“ Man sieht, in diesem Wahnsinn ist Methode. Es steckt ein ungeheurer Pessimismus darin, eine Negirung alles Vorhandenen, aber doch der Respect vor einem Gewaltigen, der Alle bezwingt, vor dem knstlerischen Ausdruck seiner ganzen Zeit, ber den Keiner hinauskommen, den Niemand ignoriren kann. Diese Zeit, in der wir leben, diese Welt, in der wir nun einmal wirken mssen, taugt aber – so meint Nietzsche – ganz und gar Nichts. Folglich taugt Wagner auch Nichts. Das ist ganz logisch. Es fragt sich nur, ob die Prmisse richtig ist. Nietzsche ist ein Seitenstck zu Max Nordau; er bersetzt „Die conventionellen Lgen der Culturmenschheit“ ins Wagnerische. Kçnnen wir aber aus unserer Zeit hinaus? Wir kçnnen doch die modernen Existenzbedingungen nur so nehmen, wie sie eben sind, nicht wie sie sein kçnnten und Hrn. Nietzsche zu Gefallen sich umgestalten sollten. Da dieses Kunststck, aus der eigenen Haut heraus zu fahren, aber noch Niemand fertig gebracht hat – Hr. Nietzsche macht allerdings sehr respectable Anlufe dazu –, so sind wir eben Wagnerianer und werden es bleiben! II. Es ist schwierig, dem Gedankengange Nietzsche’s zu folgen, ohne den Faden und – die Geduld zu verlieren. Aber ich wills versuchen. Der erste Satz seiner Aesthetik lautet: „Das Gute ist leicht, alles Gçttliche luft auf zarten Fssen.“ Er verlangt „Witz, Feuer, Anmuth, la gaya scienza“. – Da haben wir den Genussmenschen, der zwanzigmal in „Carmen“ luft. Es soll ihm Alles leicht und angenehm zurecht gemacht werden; nur keine Aufregung, keine Erschtterung. Das Tragische, das Pathos, der Affect – Alles berflssige Anstrengung, nervenzerstçrende, schdliche Dinge. „Graziçs“ – das Lieblingswort der Franzosen – graziçs soll Alles sein. Man soll mit Grazie lgen, mit Grazie betrgen, mit Grazie verrathen, mit Grazie sterben – siehe „Carmen“. Wie empfindet aber nun Nietzsche die Musik? – Er ist so unklug, uns hinter die Coulissen sehen zu lassen, und verrth dadurch, dass er gar nicht musikalisch empfinden kann. „Ich vergrabe meine Ohren noch unter die Musik, ich hçre deren Ursache. Es scheint mir, dass ich deren Entstehung erlebe. Und seltsam! Im Grunde denke ich nicht daran oder weiss es nicht, wie sehr ich daran denke. Denn ganz andere Gedanken laufen mir whrend dem durch den Kopf.“
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Da haben wir den Typus eines unmusikalischen Menschen. Denn einem musikalischen ist es geradezu unmçglich, whrend der Musik an irgend etwas Anderes zu denken, als an die Musik. Sie mag gut oder schlecht sein – sie hlt ihn fest. Er mag sich darber freuen oder rgern, dabei langweilen oder entzcken – einerlei, er muss zuhçren; er kann keinen andern Gedanken festhalten, Nichts lesen, Nichts sprechen, – sonst ist er ein unmusikalischer Mensch. Er mag Philosoph sein, aber gewiss kein Musiker. Das ist ein untrglicher Prfstein. Da wren wir denn eigentlich mit Nietzsche schon zu Ende. Sein Urtheil ber Musik kann uns gar nicht interessiren, denn er ist eine unmusikalische Natur. Nun kommt aber das Sonderbarste: Herr Nietzsche componirt. Er hat einen „Hymnus an das Leben“ fr gemischten Chor und Orchester componirt, der bei Fritzsch erschienen ist. Aber das ist noch nicht Alles. Er hat auch eine Oper componirt! Die ist zwar sehr esoterisch geblieben; der Componist war so verschmt, niemals davon zu sprechen. Aber ich weiss es von Richard Wagner selbst, dem er die Oper – natrlich ein selbstgedichtetes musikalisches Drama – gezeigt hat. – Ich fragte Wagner schchtern: „Und was sagen Sie dazu?“ – „Dummes Zeug!“ warf er leicht hin. Ich habe darber meine Gedanken bis jetzt fr mich behalten. Aber bei dem „Fall Wagner“ kann ich sie nicht mehr unterdrcken. Hier sagt Nietzsche: Wagner sei brutal, er sei ein Lgner. – Sollte Wagner das nicht geworden sein – weil er dem Componisten Nietzsche mit jener Deutlichkeit, die bei Wagner’s Urtheilen niemals Etwas zu wnschen brig liess, gesagt hat, dass er kein Musiker und seine Oper musikalischer Unsinn sei? – Ich habe frher bemerkt, dass mir der Causal-Nexus fr Nietzsche’s Abfall fehlt. –Vielleicht ist er hier zu suchen? – Die schlechten Operncomponisten sind alle, ohne Ausnahme, Wagner’s Gegner. Das ist ein unumstçsslicher Erfahrungssatz. Man mache nur die Probe. Emil Naumann und sein Freund Graf v. Hochberg, Max Bruch, Carl Reinecke, Abert, Reinthaler, u.s.w. – Rubinstein nicht zu vergessen – sie Alle gerathen in mehr oder weniger verhaltene Wuth, wenn man ihnen von Wagner spricht. Denn Wagner allein ist daran schuld, dass ihre Opern Nichts werth sind! In ihrem Sinne genommen, haben sie auch ganz Recht. Denn wenn Wagner nicht gewesen wre, so wren sie Etwas. So aber sind sie ungefhr gleich Null. Folglich – ist Wagner der Verderb der Kunst. –Das ist die Componisten-Logik! An Selbstgefhl vom schwersten Kaliber fehlt es Nietzsche nicht: „Ich habe den Deutschen die tiefsten Bcher gegeben, die sie berhaupt besitzen“ – sagt er von sich –, „Grund genug, dass die Deutschen kein Wort davon verstehen.“ – Ist das nicht Grçssenwahnsinn? Nietzsche sagt ferner: „Ich kenne nur einen Musiker, der heute noch im Stande ist, eine Ouvertre aus ganzem Holze zu schnitzen: und Niemand kennt ihn.“ – Ich vermuthe, dass Nietzsche hier sich selbst gemeint hat!
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Wozu aber alle die Blasphemien wiederholen, die er auf Richard Wagner, den grossen Volksverfhrer, die „alte Klapperschlange“ niederhageln lsst? Seine Procedur, das Erhabene lcherlich, das Grosse klein zu machen, will ich an einem Beispiele zeigen. – Um den „Gehalt“ der Wagner’schen Texte zu „prfen“, bersetzt er sie ins Reale, ins Moderne, ins Brgerliche. Er findet Nichts unterhaltender, „als sich Wagner in verjngten Proportionen zu erzhlen: zum Beispiel Parsifal als Candidaten der Theologie, mit Gymnasialbildung. Welche Ueberraschungen man dabei erlebt!“– Es gibt nichts Erbrmlicheres, als dieses Vergngen, das sich jeder Parodist „ohne Gymnasialbildung“ machen kann. Man bersetze auf diese Weise Goethe’s „Faust“ ins Moderne, ins Brgerliche, und sehe, was dabei herauskommt: Ein blasirter Professor, der in allen vier Facultten promovirt hat, aber doch Nichts weiss; der den Gelehrtendnkel verschwçrt und sich im moralischen Katzenjammer dem Spiritismus ergibt. Der Spiritist Mephisto hypnotisirt ihn, macht ihm allerlei Gaukeleien vor, z. B. in Auerbach’s Keller, und fhrt ihn zu einer alten Hexe, die Dr. Faust ein Stimulans zu trinken gibt. „Mit diesem Trank im Leibe siehst Helenen in jedem Weibe.“ Das Mittel wirkt. Hr. Mephisto fhrt den Professor Dr. Heinrich Faust zu einer Kupplerin, die ihm ein unschuldiges Brgermdchen in die Hnde spielt. Das arme, dumme Ding wird in kurzer Zeit verfhrt – eine rechte Kunst, wenn ein Professor, ein Spiritist und eine Kupplerin zusammen darauf hinarbeiten! – bringt erst ihre Mutter, dann ihr Kind um, wird zum Tode verurtheilt, und Hr. Professor Faust, der sie zwar bedauert, ihr aber nicht helfen kann, sucht mit Hrn. Mephisto feig das Weite. Das ist – im „Lichte“ des Nietzsche’schen „Geistes“ – die ganze Geschichte von Faust, fr welche die dummen Deutschen nun schon seit drei Menschenaltern schwrmen, die sie fr ein Meisterwerk halten, und wozu sie hundert Commentare geschrieben haben. So „analysirt“ Hr. Nietzsche den ganzen Wagner und hat sein kindliches Vergngen, dass Nichts dabei herauskommt, als elende Trivialitten. – Und der Mann sollte nicht krank sein? – Aber er hat lichte Momente. Die kommen am Ende der Brochure zu Tage. Da sagt er: „Wenn ich in dieser Schrift Wagnern den Krieg mache – so mçchte ich am allerwenigsten irgend welchen anderen Musikern damit ein Fest machen. Andere Musiker kommen gegen Wagner nicht in Betracht.“ – Da spricht er ein grosses Wort gelassen aus! – Die Verehrer von Brahms bekommen auch ihr gutes Theil zu hçren, aber keine Lobeserhebungen. Nur wird Brahms um so viel krzer abgethan, wie Wagner, als er unbedeutender wie dieser ist. Schliesslich ist ja, nach Nietzsche, Alles, was entsteht, nur werth, dass es zu Grunde geht. – Wenn nur Hr. Nietzsche brig bleibt! – Weil aber ganz Deutschland seine Werke nicht zu wrdigen weiss, ja nicht einmal kennt – wer hat sie alle gelesen?–, so wird den Deutschen auch insgesammt der Process gemacht: „Die Deutschen, die Verzçgerer par excellence in der Geschichte, sind
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heute das zurckgebliebenste Culturvolk Europas.“ – „Die Bhne Wagner’s hat nur Eines nçthig – Germanen. Definition der Germanen: Gehorsam und lange Beine. Es ist voll tiefer Bedeutung, dass die Heraufkunft Wagner’s zeitlich mit der Heraufkunft des Reichs zusammenfllt: beide Thatsachen beweisen Ein und Dasselbe: Gehorsam und lange Beine. Nie ist besser gehorcht, nie besser befohlen worden.“ Die Deutschen mssen sich alles Selbstgefhl abgewçhnen, damit nur das von Hrn. Nietzsche brig bleibt! Die „drei Forderungen“ Nietzsche’s sind kurz zusammen gefasst: „Dass das Theater nicht Herr ber die Knste wird.“ „Dass der Schauspieler nicht zum Verfhrer der Echten wird.“ „Dass die Musik nicht zu einer Kunst zu lgen wird.“
Er hat eine fçrmliche Wuth auf die dramatische Kunst. Dass sie durch Wagner den Geschmack der Gegenwart beherrscht, das hat ihn zu diesem Attentat auf Wagner verleitet. An einer anderen Stelle sagt er: „Man muss Cyniker sein, um von Wagner nicht verfhrt zu werden; man muss beissen kçnnen, um hier nicht anzubeten.“ – Das ist der Grundsatz Lucifer’s, als er sich gegen die Gottheit empçrt. – Soviel ist gewiss: Nietzsche ist Cyniker durch und durch – geworden. –Und diese Erkenntniss ist das einzige positive Resultat der Lecture seiner Streitschrift. Reaktionen Heinrich Kçselitz an N, 16. 11. 1888: „Dieser Tage las ich eine solche Bestrafung … im ,Musikalischen Wochenblatt‘. Vielleicht hat Fritzsch, als tactloser Musikmensch, Ihnen den Aufsatz Pohl’s zur Erheiterung bersandt. Nach diesem Aufsatz haben Sie eine Oper componirt, welche vermuthlich nirgends angenommen wurde, whrend Wagner’s Opern sich immer mehr verbreiteten. Verstimmung gegen Wagner, schließlich gnzliche Lossagung. […] Die Einbildung Pohl’s, mit seinem beschrnkten Artikel Etwas gegen Ihr Weltgericht gethan zu haben, ist urkomisch. Auch er, wie die gewçhnlichen Menschen immer, sucht hinter Ihrer Sachlichkeit persçnliche Grnde!“ KGB III/6, Bf. 607, S. 354 f N an Ernst Wilhelm Fritzsch, 18. 11. 1888: „Werther Herr Verleger, Sie haben die Auszeichnung, die Werke des ersten Menschen im Verlag zu haben. Daß Sie einer alten Gans wie Pohl erlauben kçnnen, ber mich zu reden, gehçrt zu den Dingen, die nur in Deutschland mçglich sind. Glauben Sie nicht, daß ich dergleichen lese: man schreibt mir eben wçrtlich aus Leipzig ,die Einbildung Pohls, mit seinem beschrnkten Artikel Etwas gegen Ihr Weltgericht gethan zun
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haben ist urkomisch.‘ – Ich bekomme von allen Seiten wahre HuldigungsSchreiben, wie ber ein Meisterstck psychologischer Sagacitt, das nicht seines Gleichen hat, wie eine wahre Erlçsung von einem gefhrlichen Mißverstndnis … Fragen Sie doch Herrn von Blow, was er darber denkt. – Und der Verleger des Zarathustra nimmt gegen mich Partei? – In aufrichtiger Verachtung Nietzsche“ KGB III/5, Bf. 1147, S. 477 N an Constantin Georg Naumann, 19. 11. 1888: „Die neue Schrift enthlt ber jede meiner frheren Schriften ein eigenes Capitel, das den Titel der einzelnen Schrift zur berschrift hat. Damit erledigt sich wie ich glaube, Ihr Vorschlag: dem auch das widerspricht, daß es keine mittheilenswerthen Recensionen giebt. Es ist Alles jmmervolles Zeug, ohne Ausnahme.“ KGB III/5, Bf. 1149, S. 480 N an Constantin Georg Naumann, 25. 11. 1888: „Herr E.W. Fritzsch hat eine haarstrubende Taktlosigkeit gegen mich verbt und einer alten Gans erlaubt, mich in der armselig persçnlichsten Weise in seinem eigenen Blatt zu verhçhnen. Darauf habe ich Fritzsch angefragt, wieviel er fr meine ganze Litteratur haben wolle, – es sei mir nicht erlaubt, dieselbe in solchen Hnden zu lassen. Die Antwort liegt bei. Aufrichtig, ich verstehe sie nicht. Es scheint mir, er will 10 000 Thaler haben.“ KGB III/5, Bf. 1156, S. 487
Anonym: Der Fall Wagner. In: Das Magazin fr die Literatur des In- und Auslandes. Dresden, Bd. 57, Nr. 44 vom 27. 10. 1888, S. 694 f. Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem von Friedrich Nietzsche. (Leipzig, Verlag von E. G. Naumann.) „Mein grçßtes Erlebnis war eine Genesung. Wagner gehçrt bloß zu meinen Krankheiten“, sagte der Verfasser im Vorwort. Er erzhlt die Geschichte seiner Bekehrung von der Anhngerschaft an Wagner, der ihm ein „dcadent“ ist, ein Krankheitsmerkmal unserer Zeit. „Er macht Alles krank, woran er rhrt, – er hat die Musik krank gemacht –“. Der Hauptwagnerianer, der Wagnerphilosoph entpuppt sich urplçtzlich als wildgewordner Wagnerfeind. Er weiß gar nicht Worte genug zu finden, die innere Verderbnis, die geistige Fulnis zu bezeichnen, die ihm Richard Wagner heißt. Diesmal wird also aus dem Paulus ein Saulus, statt umgekehrt. Aber man traut der verrckten Schrift nicht recht. Vieles scheint dem Gegner Wagners darin schlagend richtig und doch erscheint das Ganze wie eine Parodie auf die vorgespielte Wagnergegnerschaft des Verfassers. „Ich habe den Deutschen die tiefsten Bcher gegeben, die sie berhaupt besitzen – Grund genug, daß die
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Deutschen kein Wort davon verstehn“ sagt der philosophische Nietzsche. Er scheint aber selbst nicht recht daran zu glauben. Jedenfalls hat er die Wagnerkrankheit doch noch nicht berwunden, denn sei die Schrift nun Satire, Spiegelfechterei oder innerliche berzeugung – sie ist in einem nervenkranken, berreizten Stil geschrieben, als litte der Verfasser an einem geistigen Datterich. Es werden zur Zeit mehrere Bcher dieser Art in Deutschland geschrieben: man hlt es fr witzig und geistreich, mit den Zhnen zu klappern, als sße man mitten im hçllischen Feuer und htte doch kalte Fße. Auch so ein verhungerter Messias der Zeit, der gleich den Aposteln am Pfingsttage in Zungen redet, daß die deutsche Sprache wie Hottentottisch klingt, indessen die schlechte Welt keine Ahnung hat, welch frchterliches Genie manchmal im Verborgenen verkannt bleibt.
H[anslick], Ed[uard]: Neue Werke ber Musik. In: Neue Freie Presse. Wien, Morgenblatt Nr. 8696 vom 8. 11. 1888, S. 4. U.a. ber Nietzsches WA.264 […] „Der Fall Wagner“ Ein Musikantenproblem von Fr. Nietzsche. (Leipzig, bei C. G. Naumann. 1888) Das Bchlein ist eigentlich ein psychologisches Curiosum. Herr Friedrich Nietzsche war bisher einer der fanatischesten – wie er selbst sagt, „einer der corruptesten“ – Wagnerianer. Das Bayreuther Festspiel erklrte er 1876 fr „die erste Weltumseglung im Reiche der Kunst, wobei nicht nur eine neue Kunst, sondern die Kunst selber entdeckt wurde. Alle bisherigen modernen Knste sind dadurch entwerthet“. Nietzsche’s Sorge war damals nur, „ob die, welche das Festspiel erleben, seiner wrdig sein werden“! Ihm galten die Besucher des Wagner-Theaters fr „geweihte Zuschauer, Menschen, die sich auf dem Hçhepunkte ihres Glcks befinden“.Und weiter rief er aus: „Lernt es, selbst wieder die Natur zu werden, und lasst euch dann mit und in ihr durch meinen Feuer- und Liebeszauber verwandeln. Es ist die Stimme der Kunst Wagner’s, welche so zu den Menschen spricht. Das wir Kinder eines erbrmlichen Zeitalters ihren Ton zuerst hçren durften, zeigt, wie wrdig des Erbarmens gerade dieses Zeitalter sein muß. Mußte die wahre Musik erklingen, weil die Menschen sie am allerwenigsten verdienen, aber am meisten ihrer bedurften?“ Diese und hnliche Explosionen Nietzsche’s muß man sich ins Gedchtniß rufen, um den vollen Haut-got seiner neuesten Versicherung wrdigen zu kçnnen: „Bayreuth ist große Oper – und nicht einmal gute Oper“; „Wagner gewann die Menge, er verdarb den Geschmack, er verdarb selbst fr die Oper 264 In KGB 7/3, 2, S.1036 flschlicherweise mit Datum 5. 11. 1888.
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unsern Geschmack.“ Der Nietzsche von heute verhçhnt den „Bayreuther Cretinismus“ und wirft geradezu die Frage auf: „War Wagner berhaupt ein Deutscher? Es ist schwer, in ihm berhaupt einen deutschen Zug ausfindig zu machen.“ Kaum kann man vor berraschung weiterlesen. Denselben Wagner, den er vordem als das Hçchste in der Kunst, als einen Heiland gepriesen, nennt Nietzsche heute einen alten Zauderer, eine kluge Klapperschlange, einen großen Schauspieler, einen modernen Cagliostro, einen alten Ruber, der uns die Jnglinge und unsere Frauen raubt und sie in seine Hçhle schleppt. „War Wagner berhaupt ein Musiker?“ fragt Nietzsche. „Jedenfalls war er etwas anderes mehr: nmlich ein unvergleichlicher Histrio. Er gehçrt wo anders hin als in die Geschichte der Musik; mit deren großen Echten soll man ihn nicht verwechseln. Wagner und Beethoven, das ist eine Blasphemie …Wagner war nicht Musiker von Instinct. Dies bewies er damit, dass er alle Gesetzlichkeit und bestimmter geredet: allen Styl in der Musik preisgab, um aus ihr zu machen, was er nçtig hatte, eine Theater-Rhetorik, ein Mittel des Ausdrucks, der Geberden-Verstrkung,der Suggestion, des Psychologisch-Pittoresken …Wagner’s Musik, nicht vom Theatergeschmacke, einem sehr toleranten Geschmacke, in Schutz genommen, ist einfach schlechte Musik, die schlechteste vielleicht, die berhaupt gemacht worden ist. Wenn ein Musiker nicht mehr bis drei zhlen kann, wird er „dramatisch“, wird er „wagnerisch“. Der Kern von Nietzsches Betrachtungen liegt in dem Ausspruche, Wagner sei „der Knstler der Decadence, ein typischer Decadent, der sich nothwendig in seinem verderbten Geschmacke fhlt, der mit ihm einen hçheren Geschmack in Anspruch nimmt, der seine Verderbniß als Gesetz, als Fortschritt, als Erfllung in Geltung zu bringen weiß.“ „Wagner macht alles krank, woran er rhrt – er hat die Musik krank gemacht… Wagner ist ein großer Verderb fr die Musik. Er hat in ihr das Mittel errathen, mde Nerven zu reizen. Er ist der Meister hypnotischer Griffe. Der Erfolg Wagner’s – sein Erfolg bei den Nerven und folglich bei den Frauen – hat die ganze ehrgeizige Musikerwelt zu Jngern seiner Geheimkunst gemacht. Und nicht nur die ehrgeizige, auch die kluge. Man macht heute nur Geld mit kranker Musik; unsere großen Theater leben von Wagner.“ Sehr vieles von dem, was Nietzsche gegen Wagner anfhrt, ist ohne Frage vollkommen richtig, es ist auch nicht neu, nur neu aus dem Munde Nietzsche’s, des bedeutendsten und geistreichsten Wagnerianers von ehedem. Aber auch die Wahrheiten, die er ausspricht, mssen durch die Frivolitt und den bellenden Styl seiner Schrift an Wirkung einbßen. „Krankhaft“, wie er Wagner nennt, ist Nietzsche selber. Und wenn er (S. 33) sich ber den Grçßenwahn Wagner’s lustig macht, so durfte er, Nietzsche, nicht in Einem Athem von sich selbst rhmen: „Ich habe den Deutschen die tiefsten Bcher gegeben, die sie berhaupt besitzen!“
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Reaktionen Heinrich Romundt (unsichere Zuschreibung) an N, 14. 11. 1888: „Ich habe soeben das Pamphlet des Dr. phil Eduard Hanslick (O heiliger Ulrich von Wilamowitz bitt fr uns!) welches mir die Redaction zuschickte, gelesen. (Neue freie Presse, Abendblatt Nro 8696, 1888) Auf den ersten Blick ersahen wir aus ,dem Fall Wagner‘, dass wir es mit einem Philologen zu thun hatten, der zu uns nicht, aber zu den Philologen spreche; desswegen ging diesen denn auch einmal das Herz auf. Diessmal hatten sie Text, aber keine Noten. Zu diesen Philologen rechnete sich offenbar derselbe, der viel ber das musikalisch Schçne log. Doch wie steht es um unsere deutschen (?) Bildungsanstalten! Ein Professor und ein Hofrath dazu noch ein Eduard soll schon den Keim, den gewiss jedes Volk in sich hat, nmlich den zur Kretinisirung so zur Reife gebracht haben, dass jeder Hans ber einer Lcke Unsinn staunt. (?!) Man sieht eben, wie man missverstanden wird, wenn man zu den Philologen (im Gegensatz zu uns) spricht. Das sind die Liebhaber der Worte.“ KGB III/6, Bf. 603, S. 349 Eduard Hanslick: Aus meinem Leben: „Ich will ganz absehen von Nietzsche (nmlich in der Verurteilung von ,Derwischen‘, die ,der Sache ihres Meisters‘ eher geschadet htten), dessen merkwrdiges Buch ,Der Fall Wagner‘ freilich von der Partei als Zeichen beginnender Geistesverwirrung denunziert wurde, obgleich es viel klarer, vernnftiger und berzeugender geschrieben ist als die Wagner-Hymnen aus Nietzsches frherer Periode.“ Eduard Hanslick: Aus meinem Leben. 2. Bd., Berlin 1894, S. 230, Neudruck: Kassel, Basel 1987, S. 360
Anonym: Der Fall Wagner. In: Nouvelle Revue. Paris, ca. 8. 11. 1888265 N an Constantin Georg Naumann, 7. 11. 1888: „Die Nouvelle Revue bringt einen Artikel, meldet man mir aus Paris.“ KGB III/5, Bf. 1140, S. 465 N an Carl Spitteler, 10. 11. 1888: „Eben kndigt man mir auch von Paris aus eine bevorstehende Besprechung der Schrift an: in der Nouvelle Revue. Da habe ich aufrichtig etwas Angst… Das Ja aus der Nachbarschaft von Madame Adam compromittirt.“ KGB III/5, Bf. 1141, S. 465 265 Vermutlich nie erschienen. Kein Nachweis in den Jahrgngen 1888 und 1889.
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N an Heinrich Kçselitz, 13. 11. 1888: „Von Paris aus wird mir ein Aufsatz in der revue nouvelle in Aussicht gestellt.“ KGB III/5, Bf. 1142, S. 467 N an Franz Overbeck, 13. 11. 1888: „Hr. Spitteler hat in der DonnerstagNummer des ,Bund‘ sein Entzcken ausgedrckt, Herr Kçselitz im ,Kunstwart‘, aus Paris meldet man mir einen Artikel in der Nouvelle Revue als bevorstehend.“ KGB III/5, Bf. 1143, S. 70
Spitteler, Carl: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. In: Der Bund. Bern, Bd. 39, Nr. 309 vom 8. 11. 1888. Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem von Friedr. Nietzsche. Wir haben unsern Lesern von einem sthetischen Ereignis Mitteilung zu machen. Einer der ersten Vorkmpfer des Wagnerthums, der Philosoph Friedr. Nietzsche, ist in das Lager der Gegner bergegangen, und zwar nicht stillschweigend, sondern, wie es sich fr einen so einflußreichen Wortfhrer geziemt, çffentlich, mit begrndeter Darlegung in Form eines Protestes. Daß wir bei dieser Gelegenheit neuerdings eine Flle der tiefsinnigsten Bemerkungen erhalten, versteht sich von selbst; was uns jedoch das kurze Heft von 57 Seiten in dieser Hinsicht bietet, bersteigt sogar die hochgespanntesten Erwartungen. Da gibt es weder ein Abspringen des Gedankens, noch ein Verweilen bei Einzelheiten, alles ist grundlegend und grundstrzend, einschneidend und heilend. Der „Fall Wagner“ gehçrt zu den einfachsten und besten Schriften Nietzsches. Man wird ohne Zweifel gegen das Buch den Vorwurf erheben, es schtte, indem es Wagner durchaus als eine krankhafte Erscheinung, mit einem Wort als ein Uebel kennzeichnet, das Kind mit dem Bade aus; wir unserseits freuen uns im Gegenteil darber, daß hier die Ueberzeugung voll und ganz, ohne kluge Klauseln und Vorbehalte ausgesprochen wird. Wer mçchte sich berhaupt Nietzsche zahm und schchtern wnschen? Liegt doch seine Bedeutung nicht zum wenigsten in seinem gewaltigen Denkermute, der uns um so teurer wird, je mehr Achselklappen anderswo die Gedanken tragen und je eifriger der deutsche Geist die Individualitt zu verlernen sich Mhe gibt! Was zu allen Zeiten ein seltener und kostbarer Schatz gewesen, nmlich Mannesmut in brgerlichen und in geistigen Dingen, bedeutet heutzutage eine unbezahlbare, unersetzliche Raritt. Wre der Staat etwas großherziger, so mßte er dergleichen in das Museum aufnehmen und heilig behten. Indem wir nun ber die Schrift im einzelnen Aufschluß zu erteilen unternehmen, laufen wir Gefahr, das Heft teilweise nachzudrucken, da man uns doch unmçglich zumuten kann, was Nietzsche przis gesagt, zu umschreiben und hiermit unbestimmter auszudrcken. Deshalb geben wir einige der wichtigsten
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Stellen im Wortlaut wieder, indem wir uns nur die Eine Beschrnkung auferlegen, aus dem großen Reichtum mit kleinen Lçffeln das Beste herauszuschçpfen. These: Wagners Musik ist krankhaft. Seite 13: „Wagner ist der Knstler der dcadence – da steht das Wort. Und damit beginnt mein Ernst. Ich bin ferne davon, harmlos zuzuschauen, wenn dieser dcadent uns die Gesundheit verdirbt – und die Musik dazu! Ist Wagner berhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht alles krank, woran er rhrt – er hat die Musik krank gemacht Ein typischer dcadent, der sich notwendig in seinem verderbten Geschmack fhlt, der mit ihm einen hçheren Geschmack in Anspruch nimmt, der seine Verderbnis als Gesetz, als Fortschritt, als Erfllung in Geltung zu bringen weiß.“ Seite 15: „Wagner ist ein großer Verderb fr die Musik. Er hat in ihr das Mittel erraten, mde Nerven zu reizen – er hat die Musik damit krank gemacht.“ Seite 16: „Der Erfolg Wagners – sein Erfolg bei den Frauen – hat die ganze ehrgeizige Musikerwelt zu Jngern seiner Geheimkunst gemacht. Und nicht nur die ehrgeizige, auch die kluge … Man macht heute nur Geld mit kranker Musik; unsre großen Theater leben von Wagner.“ These: Wagner erfand ein neues System der Musik nur deshalb, weil er seine Unfhigkeit einsah, gute Musik wie die Alten zu schreiben. Seite 16: „Meine Freunde“, so redet Wagner in einem fingierten Gesprch zu den jungen Knstlern, „es ist leichter, schlechte Musik zu machen als gute.“ Wie? wenn es außerdem noch vorteilhafter wre? wirkungsvoller, berredender, begeisternder, zuverlssiger? wagnerischer? Pulchrum est paucorum hominum. Schlimm genug! Wir verstehn Latein, wir verstehn vielleicht auch unsern Vorteil. Das Schçne hat seinen Haken, wir wissen das. Wozu also Schçnheit? Warum nicht lieber das Gigantische? Es ist leichter, gigantisch zu sein als schçn. Wir kennen die Massen, wir kennen das Theater. Das Beste, was darin sitzt, deutsche Jnglinge, gehçrnte Siegfriede und andre Wagnerianer, bedarf des berwltigenden. So viel vermçgen wir noch. Und das andre, das auch noch darin sitzt, die Bildungskretins, die kleinen Blasierten, die Ewig-Weiblichen, die Glcklich-Verdauenden, kurz das Volk – bedarf ebenfalls des berwltigenden. Das hat alles einerlei Logik. „Wer uns umwirft, der ist stark.“ Entschließen wir uns, meine Herren Musiker: wir wollen sie umwerfen. So viel vermçgen wir noch.“ Seite 18 (in demselben Gesprch): „Vor allem wirft die Leidenschaft um. Verstehen wir uns also ber die Leidenschaft. Nichts ist wohlfeiler als die Leidenschaft! Man kann aller Tu-
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genden des Kontrapunktes entraten, man braucht nichts gelernt zu haben – die Leidenschaft kann man immer! Die Schçnheit ist schwierig: hten wir uns vor der Schçnheit! … Und gar die Melodie! Verleumden wir, meine Freunde, verleumden wir die Melodie! Wir sind verloren, meine Freunde, wenn man wieder schçne Melodien liebt!“ These: Wagner ist weit entfernt davon, ein musikalisches Genie zu sein; er ist gar kein Musiker. Seite 25: „War Wagner berhaupt ein Musiker? Jedenfalls war er etwas anderes mehr: nmlich ein unvergeßlicher histrio. Er gehçrt woandershin als in die Geschichte der Musik: mit deren großen Echten soll man ihn nicht verwechseln. Wagner und Beethoven – das ist eine Blasphemie (gegen Beethoven) – und zuletzt ein Unrecht selbst gegen Wagner.“ (Denn Wagner war ein Schauspielergenie.) Seite 26: „Wagners Musik, nicht vom Theatergeschmacke, einem sehr toleranten Geschmacke, in Schutz genommen, ist einfach schlechte Musik, die schlechteste berhaupt, die vielleicht gemacht worden ist. Wenn ein Musiker nicht mehr bis drei zhlen kann, wird er „dramatisch“, wird er ,wagnerisch‘.“ Seite 33: „,Nicht nur Musik‘ – so redet kein Musiker. ,Die Musik ist immer nur ein Mittel.‘ Das war Wagners Theorie, weil die einzige ihm berhaupt mçgliche Praxis. Aber so denkt kein Musiker.“ These: Wagner war ein genialer Schauspieler, aber im niedern Sinne des Wortes: ein Cagliostro. Ein Dramatiker war er nicht. Seite 30: „Wagner ist kein Dramatiker, man lasse sich nichts vormachen. Er liebte das Wort Drama-. das ist alles – er hat immer die schçnen Worte geliebt. Er war schon nicht Psychologe genug zum Drama.“ Seite 57: „Wagner, der Cagliostro der Modernitt.“ Seite 55: Die Heiligen von Bayreuth: „Hanswurste.“ These: Deshalb fanatisiert er auch vor allem die Schauspieler unter den Musikern: die Vortragsknstler. Seite 37: „Wagner marschiert mit Trommeln und Pfeifen an der Spitze aller Knstler des Vortrags, der Darstellung, des Virtuosentums; er hat zuerst die Kapellmeister, die Maschinisten und Theatersnger berzeugt. Nicht zu vergessen die Orchestermusiker.“ These: Das Wagnertum ist eine Erscheinungsform des Idiotismus und der Servilismus; in seiner vollkommensten Gestalt fhrt es zum Mondkalbismus. Seite 38: „Die Bhne Wagners braucht weder Geschmack noch Stimme, noch Begabung; nur eins hat sie nçtig – Germanen! … Definition des Germanen:
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Gehorsam und lange Beine“ … Es ist voll tiefer Bedeutung, daß die Heraufkunft Wagners zeitlich mit der Heraufkunft des „Reichs“ zusammenfllt: beide Tatsachen beweisen ein und dasselbe – Gehorsam und lange Beine.“ Seite 43: „Was hat die Anhngerschaft Wagners immer mehr ins Große gezchtet? Vor allem die Anmaßung des Laien, des Kunstidioten.“ Seite 46: „Der (Vollblut – Wagnerianer – ) Jngling wird zum Mondkalb.“ These: Wagner verdirbt nicht bloß die Musik, sondern auch das Theater, ja sogar die Nebenknste, indem er in denselben die Vorherrschaft des Theatralischen fçrdert. Schlußthese (in den Nachschriften): Wenn brigens einer glauben sollte, die brigen lebenden Musiker wren besser, so tuscht er sich. Sie sind nur halb so schlecht, und das ist doppelt so schlimm, als wenn sie ganz schlecht wren. In der Einleitung erzhlt uns Nietzsche, auf welchem Wege er zur endgltigen Gewißheit von Wagners Nichtigkeit gelangte. Der Leser wrde vergebens sich bemhen, es zu erraten: durch die Oper „Carmen“. Der Anlaß der Bekehrung tut indessen in Glaubensangelegenheiten nichts zur Sache. Auch darum handelt es sich nicht, ob dieser oder jener Leser mit Nietzsche einverstanden sei (die Wagnerianer sind es jedenfalls nicht!). Das Entscheidende bleibt der Umstand, daß sechs Denker wie Nietzsche eine Nation weiter fçrdern wrden, als Myriaden von Gelehrten und von Philosophen das whrend eines ganzen Jahrhunderts vermçgen. Reaktionen Carl Spitteler an N, 6. 11. 1888: „Wenn ich Ihnen fr die Zusendung Ihres Fall Wagner so spt erst danke, so geschieht das, weil ich mit dem Dank zugleich die Mittheilung verbinden wollte, dass ich eine çffentliche Besprechung darber geliefert habe. Am liebsten htte ich im ,Kunstwart‘ referiert; allein ich erhielt die Antwort, dass sich schon Jemand dafr gemeldet, der nicht kçnne abgewiesen werden. Damit vergieng einige Zeit. Darauf wandte ich mich an ,Basler Nachrichten‘. Diese hatten jedoch kein Rezensionsexemplar. Bedingung einer solchen. Schreiben an Naumann. Keinerlei Antwort von seiner Seite. Endlich Erlaubniss auf Grund meines eigenen Exemplars zu referieren. Geschehen vergangene Woche. Ich schreibe jedoch in ,Basl. N.‘ namens der Redaction. Befrchtungen
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wegen meiner notorischen Wagnerverachtung266. Wahrscheinlich werde ich um Krzungen und nderungen ersucht werden. Ganz frei bin ich im ,Bund‘, unter anderem auch desshalb, weil ich dort mit meinem Namen zeichnen darf und auf mich nehmen, was ich will. Desshalb schrieb [ich] an ,Bund‘, ob – . Freudige Zustimmung Seitens Widmann’s (warum haben Sie ihm brigens das Heft nicht geschickt). Gestern Besprechung abgeliefert. Sie wird unverndert erscheinen, falls nicht etwa Raumnoth einige Krzungen befiehlt. Und nun meinen herzlichen Glckwunsch zu Ihrer Schrift. Die Meisten werden finden, Sie seien zu weit gegangen; ich urtheile Sie sind an’s Ziel gegangen; das ist nie zu weit. Dass Sie den Andern weit vorausgekommen sind, ist nicht Ihre Schuld; und es liegt keine bertreibung darin, seinen Weg weiter zu gehen, wenn die Andern nachbleiben wollen. Also nochmals meinen herzlichen Glckwunsch. Ich bin berzeugt, dass Ihnen leicht und wohl ist, seit sie den Alp Wagner vom Leibe haben.“ KGB III/ 6, Bf. 600, S. 347 Carl Spitteler an N, 8. 11. 1888: „Mein Referat ber ,Fall Wagner‘ ist heute, Donnerstag den 8. November im Feuilleton des ,Bund‘ erschienen.“ KGB III/6, Bf. 601, S. 348 N an Carl Spitteler, 10. 11. 1888: „sehr erbaut, in diesem ,Falle‘ Ihr Ja auf meiner Seite zu haben, da es dies Mal ein paar Grnde zuviel fr mich giebt, die Stimmen nicht zu zhlen, sondern zu wgen .. […] Daß ich die Schrift nicht an Herrn Dr. Widmann gesandt habe, hatte seinen Grund in der Befrchtung, dieselbe mçchte ihn in seinen Sympathien fr J. Brahms verletzen. Da ich aber Ihren Worten entnehmen zu kçnnen glaube, er habe sie erwartet, so mache ich mir ein Vergngen daraus, sie unverzglich in seine Hnde zu liefern.“ KGB III/ 5, Bf. 1141, S. 465 f N an Heinrich Kçselitz 13. 11. 1888: „Herr Carl Spitteler hat sein Entzcken ber den ,Fall‘ im Bund ausgesprudelt: er hat erstaunlich zutreffende Worte, – er gratulierte mir auch brieflich dazu, daß ich bis an’s Ende gegangen sei: er scheint die Gesammt-Bezeichnung unsrer modernen Musik als dcadenceMusik fr eine kulturhistorische Feststellung ersten Ranges zu halten.“ KGB III/ 5, Bf. 1142, S. 467 N an Meta von Salis, 14. 11. 1888: „Herr Spitteler hat im ,Bund‘ einen Schrei des Entzckens ber den ,Fall‘ ausgestoßen.“ KGB III/5, Bf. 1144, S. 472 266 Ich habe niemals an eine mehr als geringe Begabung Wagners fr Musik geglaubt, sondern an seine Mittelmssigkeit.
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N an Constantin Georg Naumann in Leipzig, 19. 11. 1888: „Die neue Schrift enthlt ber jede meiner frheren Schriften ein eigenes Capitel, das den Titel der einzelnen Schrift zur berschrift hat. Damit erledigt sich, wie ich glaube, Ihr Vorschlag: dem auch das widerspricht, daß es keine mittheilenswerthen Recensionen giebt. Es ist Alles jmmervolles Zeug, ohne Ausnahme. […] Herr Spitteler ist mit Feuer fr mich im ,Bund‘ eingetreten. – Die Paar Worte, die er bei dieser Gelegenheit ber mich berhaupt sagt, sind bei weitem das Beste, was bisher çffentlich gesagt worden ist.“ KGB III/5, Bf. 1149, S. 481 N an Carl Spitteler, 19. 11. 1888: „Ihre Worte ber Nietzsche en bloc sind das achtbarste, was ich bis jetzt gelesen habe. – Daß ich meine ,Bekehrung‘ an Carmen anknpfe, ist natrlich – Sie werden keinen Augenblick daran zweifeln – eine Bosheit mehr von mir. Ich kenne den Neid, die Wuthausbrche Wagners gegen den Erfolg von Carmen – den grçßten, anbei gesagt, den die Geschichte der Oper hat.“ KGB III/5, Bf. 1150, S. 481
Widmann, Josef Victor: Nietzsches Abfall von Wagner. In: Der Bund. Bern, Bd. 39, Nr. 321 f vom 20. und 21.11. 1888. Nietzsches Abfall von Wagner. Motto: „All Dein Leben lang, Kthchen, zieh einen Mann von schlichter und ungeschnitzter Bestndigkeit vor, denn der muß Dir notwendig Dein Recht widerfahren lassen, weil er nicht die Gabe hat, anderer Orten zu freien. Diese Gesellen von endloser Zunge, die sich in die Gunst der Frauen hineinreimen kçnnen, wissen sich auch immer hinauszuvernnfteln.“ Kçnig Heinrich V., 5. Aufz., 2. Szene. Es wird seit geraumer Zeit, aber doch ganz besonders in diesem Jahre, in Deutschland durch die Feder so viel gesndigt, daß man, indem man selbst zur Feder greift, um einem geistreichen Plusmacher zu begegnen, eine Art Widerwillen gegen das doch unvermeidliche kleine Instrument empfindet und beinahe wnschen mçchte, lieber einen Kalmckenspeer zu schwingen und, auf struppigem Steppenpferde reitend, den Gegner in ehrlich rohem Kampfe niederzurennen. Ein solcher Wunsch wird uns in dem besonderen Falle, in dem wir uns diesmal befinden, freilich auch durch das Bewußtsein nahegelegt, daß wir uns mit einem Federhelden einlassen, dem wir an geistiger Geschmeidigkeit bei weitem nicht gewachsen sind. Einem Friedrich Nietzsche gegenber kommen
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wir uns ungemein schwerfllig vor und nur das Vertrauen in die gute Sache, fr die wir eintreten, gibt uns berhaupt den Mut, gegen Nietzsches neuestes Pamphlet Stellung zu nehmen. Was ber diese Schrift – sie fhrt den Titel: „Der Fall Wagner, ein Musikantenproblem von Friedrich Nietzsche“ – in lobender Weise zu sagen war, das hat ein stets willkommener Mitarbeiter unseres Blattes, Karl Spitteler, neulich an dieser Stelle vorgebracht. Er hat uns in seiner freudigen, Ja berschwnglichen Zustimmung zu den originellen Gedanken, mit denen Nietzsche seinen Abfall von Richard Wagner feiert, alles vorweggenommen, was auch wir zu Gunsten der oft sehr spaßhaften Einflle und der vielen richtigen Urteile Nietzsches anfhren kçnnten. Aber er hat es versumt, die Kehrseite dieser eigentmlichen Denkmnze, welche Nietzsche aus Anlaß seiner Bekehrung prgte, nher zu besichtigen. Dieses Versumnis holen wir nach. Zunchst entsteht in uns die Frage, ob wirklich ein Mann wie Nietzsche, der viele Jahre lang, wie er selbst bekennt, einer der „korruptesten“ Wagner – Kranken gewesen, seine „Genesung“ und seinen Austritt aus solcher Gemeinschaft durch einen çffentlichen Widerruf in auffllig theatralischer Weise begehen muß? Es gibt auch in geistigen Dingen eine gewisse Schamhaftigkeit, und nach unserm Geschmack wenigstens sind in Temperenz- und Heilsarmeeversammlungen jene Leute nicht, welche hauptschlich deshalb als Redner die Menge harangiren, weil sie, auf ihre Bardolphnase deutend, sagen kçnnen – „Ich war ein ganz besonders arger Sufer“. Schont man sich um seiner selbst willen nicht, so hat man sich doch vielleicht um anderer willen zu schonen, in deren Seelen man wurzelte, in deren Seelen man aber nach solcher vollzogener ganzer Wendung hçchstens noch wackelt. Denn was sollen die vielen Leute, die z. B. Nietzsches Buch „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ besitzen und hochhalten, von Nietzsche denken, der in diesem 1871 erschienenen Buche dieselben wagnerisch-germanischen Idole anbetet, die er jetzt in der neuesten Broschre schonungslos in den Staub, nein! in den Kot wirft? Jenes Buch ist mit einer Vorrede, die man damals fr ernsthaft halten durfte, Richard Wagner gewidmet als „dem erhabenen Vorkmpfer“ in hçchsten Aufgaben der Kunst. Die Wagnerische Kunst wird damals in die Mitte deutscher Hoffnungen als „ein Wirbel ihres Seins“ hineingestellt; von der „Erhabenheit“ des deutschen Krieges u. dgl. ist dort ebenfalls die Rede, whrend jetzt in der Broschre Nietzsches nicht nur Wagners Kunst als Krankheit und Grimasse angegriffen und verhçhnt, sondern auch von der Wiederaufrichtung des deutschen Reiches und vom Germanentum nur Erwhnung gethan wird, damit auch diese Objekte dem Witze und der Verachtung dienen. Es fllt uns ja nicht im geringsten ein, zu behaupten, Nietzsche habe vor sechzehn Jahren Recht gehabt und habe jetzt vçllig Unrecht. Aber mußte ein solcher Abfall mit solchem Eklat vollzogen werden? Welches Vertrauen kann ein Volk zu dem Manne fassen, der sich als sein wichtigster Lehrer in Dingen der Aesthetik aufspielt, der
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– o! wie bescheiden! von sich selbst sagt: „Ich habe den Deutschen die tiefsten Bcher gegeben, die sie berhaupt besitzen;“ wenn der Autor solcher tiefster Bcher in seichten Broschren den Inhalt derselben wieder zurcknimmt? Da ist es wenigstens nur klug, wenn Deutschland mit der allflligen Anerkennung Nietzsche’scher Schriften wartet, bis der Verfasser tot ist und nichts mehr zurcknehmen kann, was er gesagt hat. Denn es ist nicht angenehm, auf die Worte eines Meisters zu schwçren, die der Meister selbst spter wieder abschwçrt. Nun wissen wir freilich, daß man uns einwenden kann, kein Mensch und daher auch kein Philosoph sei dazu verurteilt, eine Dummheit, die er einst begangen, zur Richtschnur aller seiner sptern Gedanken und Handlungen zu machen, und es sei im Gegenteil das gute Zeichen eines nicht verknçcherten, erstarrten Gehirnlebens, wenn jemand auch im Alter noch zu neuen Ansichten gelange. Ein solcher sei ein Werdender, was zu sein der rechte strebende Geist nicht aufhçren drfe. Und, wenn nun ein solcher Werdender zu neuen Ansichten gelange, so sei es sogar seine Pflicht, frhere Irrtmer zu berichtigen. Mit der Einschrnkung, daß man einem so in immer unberechenbaren Lavaflußzustande befindlichen Geiste dann seine geistigen Geschenke nur mit großer Vorsicht abnehmen drfe, geben wir diesen Einwand zu. Jedenfalls aber verlangen wir, daß der Akt, durch den ein Gelehrter, ein Philosoph frhere Irrtmer zurcknimmt, ein ernster Akt sei. Denn die im Grunde fr unsere Menschennatur beschmende Tatsache, „daß wir so gar nichts wissen kçnnen,“ liegt zu Grunde. Die Sache ist ihrem Wesen nach tragisch, und wenn der Philosoph auch nicht Kirchenbuße zu tun braucht in grauem Hemd mit brennender Wachskerze, so drfte doch in seinem Eingestndnis frherer Irrtmer edler Ernst zum Ausdrucke kommen. Nietzsche aber verbindet mit der affenartigen Behendigkeit seines Geistes eine auch so affenartige Schamlosigkeit, daß er seinen Widerruf zur grotesken Posse gemacht hat. Wahrscheinlich sollen die gaminhaften Spße, wie sie etwa Heine in solchem Falle sich wrde erlaubt haben, eine Probe der „gaya scienza“, der „frçhlichen Wissenschaft“ bedeuten, die Nietzsche neben ein paar andern Schlagwçrtern immerfort aus seiner Feder fließen lßt (z. B. auch wieder in dieser seiner Broschre S. 36). Ei! wer zweifelt denn, daß rechte Wissenschaft (wie auch rechte Kunst) mit Seelenheiterkeit verbunden sei? Alle wahre Wissenschaft mit den Entdeckerfreuden, die sie gewhrt, und vollends alle Weisheit ist ihrem innersten Wesen nach von der edeln Heiterkeit eines reinen, offenen Himmels. Aber die verzweifelte Lustigkeit eines Zirkusclowns, wie sie in Nietzsches Schrift ihr Unwesen treibt, hat doch mit der „gaya scienza“ nichts gemein. Eine Ahnung vom Unpassenden seiner frivolen Lustigkeit scheint Nietzsche brigens gehabt zu haben, da er in der Vorrede seiner Broschre sagt: „Ich bringe unter vielen Spßen eine Sache vor, mit der nicht zu spaßen ist“.
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Wir gestatten uns nun nach diesem mehr allgemeinen Protest gegen die unwrdige Form des Nietzsche’schen Widerrufs ein Eintreten auf einzelne Gedanken der Broschre. Gleich auf der zweiten Seite des Vorwortes halten wir inne, da Nietzsche auf die Frage, die er an sich selbst richtet: „Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich?“ die Antwort gibt: „Seine Zeit in sich zu berwinden, „zeitlos“ zu werden“. Wir wrden als Antwort vorziehen, daß der Philosoph erstlich Wahrheit ber alles von sich zu verlangen habe, und dann, bevor er an die Ueberwindung „seiner Zeit in sich“ geht, noch besser tue, vorerst die eigene vielleicht krankhafte Subjektivitt zu berwinden. Letzteres wre wenigstens fr Nietzsche die wahre Radikalkur. Er scheint zu glauben, was er in sich als Krankheitsstoff empfindet, sei nur von außen, speziell von Wagner her, in ihn hineingekommen. Aber er irrt sich. Die meisten Krankheiten setzen auch eine Disposition dessen voraus, in dem sie sich einnisten. Wie sehr nun Nietzsche diese Disposition selbst in dem Augenblicke, da er gegen die Wagner-Infektion reagirt, in sich trgt, lßt sich am besten da beweisen, wo er im Beginn seiner Broschre ber Bizets temperamentvolle Oper „Carmen“ spricht. Wir unterschreiben mit Vergngen alles, was er ber die sdliche, braune, verbrannte Sensibilitt dieser Oper sagt. Das ist alles sehr hbsch und verstndig bemerkt. Aber dann, auf einmal, kommt die ganze schwle Mystik der Wagner-Schule ber ihn, dieses Grbeln, das eine Handlung menschlicher Leidenschaft gleich zum tiefsinnigen philosophischen Problem erheben will, und er behauptet, in den Schlußworten Don Joss, da dieser die treulose Dirne Carmen tçtet, die einzige des Philosophen wrdige Auffassung der Liebe gefunden zu haben! Das ist es genau, was uns ruhiger angelegten Naturen Richard Wagner so verleidet hat, dieses neben dem uns mit Achtung erfllenden energischen Schaffen des Meisters stets einhergehende philosophisch-mystische Auslegen seiner Dichtungen und seiner Musik, wie Wagner selbst es gebt hat und wie es vollends seine Anhnger bis zum Ekel betrieben haben. Da steckt die WagnerKrankheit hauptschlich. Sie wurde hervorgerufen durch die unverdiente Gleichgltigkeit des deutschen Publikums gegenber den ersten Werken Wagners. Der ehrgeizige und nervçse Meister wurde Schriftsteller, um mit der Feder fr die Erzeugnisse seiner Knstlerphantasie zu kmpfen. Das war das Unglck. Htte sich Wagner rechtzeitig die Theaterkapellmeisterstelle einer grçßten Bhne geboten, auf welcher er je und je sein neuestes fertig gewordenes Werk ganz nach seinen Intentionen auffhren konnte, so wrden wir vielleicht einen Fixstern da leuchten sehen, wo der seltsame, abenteuerliche Haar- und Wandelstern seine feuer-strudelnde Bahn gezogen ist. Doch mit Bedingungen, die sich nicht erfllten, hier gegenber der tatschlich gewordenen Wirklichkeit zu rechten, hat keinen Sinn. Wir haben diesen Gedanken auch nur vorgebracht, um anzudeuten, daß wir nicht Wagners praktische Theaterreform durch neu-
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artige, mehr und weniger wertvolle Opern fr ein Uebel ansehen, sondern die mit derselben Hand in Hand gehende aufgeblasene Schriftstellerei des Meisters und seiner Jnger. Indem wir zwischen Wagners Kunsttaten und Wagners Kunstschriftstellerei scharf unterscheiden, haben wir damit schon teilweise den Unwert der Nietzsche’schen Schrift ausgesprochen, da dieselbe nicht gerecht die eigentlichen Kunstschçpfungen Wagners und den an diese sich knpfenden literarischen Schwindel auseinanderhlt, sondern alles in Einen Tiegel wirft und diesen Tiegel dann umstçßt. Hiebei begeht Nietzsche auch den Irrtum, anzunehmen, alle Welt sei Wagnerianisch und also krank. Aber ein paar halbverrckte Kapellmeister, ein Dutzend junger Literaten von jener Sorte, die Nietzsche nicht mit Unrecht des „Mondkalbismus“ zeiht, ein paar tausend unbefriedigte Frauenzimmer endlich – das ist doch noch lange nicht alle Welt, auch nicht das ganze Deutschland. Mein Gott! die Leute gehen eben ins Theater und finden heute die „Walkre“ interessant, morgen Neßlers „Trompeter von Sckingen“ und dazwischen auch Nietzsches (und unsere) liebe „Carmen“. Nachher legen sie sich ins Bett, pfeifen heute die Behauptung, die Liebe stamme vom Zigeuner, morgen „Winterstrme wichen dem Wonnemond“, wenn sie sich noch darauf besinnen kçnnen, und ein andermal: „Beht dich Gott, es wr’ zu schçn gewesen“. Im brigen gehen sie alle ihren Geschften und ihren Freuden nach und die Wagnerische Gesellschaft, der Nietzsche das Chinin seiner Broschre eingeben mçchte, kommt numerisch gar nicht in Betracht gegenber den Massen, die von solchen sthetischen Subtilitten nichts wissen wollen. Demgemß mçchten wir auch in Nietzsches Jeremiade ber eine allgemeine Dekadenz der Gegenwart nicht einstimmen. Auch der „zeitloseste“ Philosoph drfte doch so viel Bescheidenheit haben, sich nicht zum Richter eines Weltalters zu machen, in dem er selbst drinsteckt und das vçllig objektiv zu berschauen kein Zeitgenosse eine gengend hohe Warte ersteigen kann. Ghrung und Zeichen des Verfalls haben ja alle uns bekannten Jahrhunderte in sich getragen und es ist doch immer wieder ein neues Geschlecht erstanden, das sich an neue Lebensaufgaben mit neuer Kraft machte. Das achtzehnte Jahrhundert mit den abgewirtschafteten hçhern Stnden und den Greueln der Guillotine kann man ebenso ein Zeitalter der Dekadenz nennen, auch das siebzehnte mit dem furchtbaren dreißigjhrigen Kriege und dessen Folgen, ebenso das sechszehnte [sic] mit den Reformationswirren und den Leiden, die in der Bauernerhebung zum Ausbruche kamen. Jede Zeit hat ihre Fieber, und wie dieselben berstanden werden, das vermag erst die sptere Generation zu beurteilen. Immerhin gibt es gewisse Erscheinungen der Gegenwart, die einen Philosophen, der in der Gegenwart nichts als Krankheit entdecken will, vorsichtiger und zurckhaltender mit solchem Verdammungsurteile machen sollten. Wir nennen nur die Eine Erscheinung der verbesserten Gesundheitsverhltnisse der modernen Menschheit und weisen speziell auf den unermeßlichen Wert hin, der in
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dieser Beziehung der europischen Menschheit aus einem sonst viel beklagten Uebel, der steten Kriegsbereitschaft aller Nationen, erwchst. Es sollte namentlich einem Deutschen nicht erst mssen auseinandergesetzt werden, was fr das deutsche Volk die Mannszucht des Heeres in Bezug auf physische Krftigung der Nation bedeutet. Nietzsche spçttelt ber die zwei Haupteigenschaften des Germanen: „Gehorsam und lange Beine“. Auch unser Ideal fr Charakterentwicklung ist gewiß nicht Kasernendressur und der Unteroffiziersverstand; aber so unbillig sind wir nicht, neben einigen Uebelstnden des Militarismus die großen Wohltaten zu verkennen, welche eine so stramme Schulung der Jungmannschaft eines ganzen Landes nur schon in Bezug auf die physische Krftigung der Generation bewirkt. Wir in der Schweiz haben bekanntlich, wie brigens die meisten Vçlker Europas, das preußische Soldatenwesen, das auch dem altschweizerischen Soldatengeiste keineswegs widerspricht, mçglichst zum Vorbild unseres Volksheeres gemacht und fahren, ganz abgesehen von den militrischen Zwecken, in Bezug auf die kçrperliche und geistige Bildung unseres Volkes so gut dabei, daß wir in unserem Militarismus einen der wichtigsten Kulturfaktoren fr unser Land erkennen mssen und fr die Erziehung unserer Jungmannschaft in grçßter Verlegenheit wren, wenn ein plçtzlicher ewiger Friede alles Militrwesen abschaffen wrde. Nietzsche mit seinem unerquicklichen Pessimismus kommt uns wie ein Patient vor, der, weil er magenkrank ist, es nicht begreifen kann, daß ein anderer Mensch abends, wenn er ins Bett geht, sich schon wieder aufs Frhstck des folgenden Tages, auf die Zigarre und wohl auch schon aufs Mittagessen voraus freut. Damit hngt es wohl auch zusammen, daß er die gesunde Kraftnatur des grçßten lebenden Meisters, Johannes Brahms, so gar nicht zu wrdigen imstande ist. Daß gerade Brahms „von der starken Rasse eines Hndel“ ist, ahnt er nicht. Er verkennt ihn so sehr, daß er ihm die „Melancholie des Unvermçgens“ andichtet und dem Komponisten, der ohne Fieberhast, aber gesund aus strotzender Flle schafft, nachzusagen wagt, er „durste nach der Flle“. Das Eigenste an Brahms sei die Sehnsucht und er sei daher der Musiker der „Sehnschtigen, der Unbefriedigten aller Art“ und gar noch „der Musiker einer Art unbefriedigter Frauen“. Ein so lcherlich verzeichnetes geistiges Portrt wie dieses ist uns noch gar nie vorgekommen. Brahms, der, wie physisch so auch geistig von Kraft strotzt, im Grunde seiner Persçnlichkeit und seiner schaffenden Eigenart der mnnlichste Mann ist, den man sich denken kann und bei dem die zarten Stellen seiner Kompositionen eben darum einen so unendlich rhrenden Eindruck machen (dem auch Nietzsche sich nicht entziehen kann), weil diese Zartheit auf dem Boden der Strke, ja der manchmal selbst rauhen Mannhaftigkeit gewachsen ist, dieser Brahms soll wie Wagner oder Liszt der Musiker der Unbefriedigten und speziell der unbefriedigten Frauen sein?! Mit nichts so sehr als mit dieser ungereimten Behauptung hat sich Nietzsche unsterblich blamirt; unsterblich, denn solche schiefe Urteile von Zeitgenossen – man hat ihrer viele
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ber Mozart und Beethoven – pflegt man in einem kommenden Jahrhundert als Beweis anzufhren, welche Bornirtheit der Zeitgenossen oft ein unsterblicher Meister zu berwinden hatte. Wir wollen als Minderungsgrund annehmen, Nietzsche, der sich meistens in sdlichen Gegenden herumtreibt, habe noch gar nicht Gelegenheit gehabt, eine der Brahms’schen Symphonieen zu hçren. Aber er schreibt ja selber Noten, drfte also vielleicht doch eine Partitur oder eine Klavierbearbeitung einigermaßen verstehen. Irren wir nicht, so hat er seinen „Hymnus auf das Leben“ demselben Meister zugesandt, den er in seiner Broschre so von oben herab zu behandeln wagt mit: „Was liegt noch an Johannes Brahms!“ Da ist eben doch einfach der Grçßenwahn zum Ausbruch gelangt wie in dem schon zitirten Ausspruche: „Ich habe den Deutschen die tiefsten Bcher gegeben, die sie berhaupt besitzen,“ und man darf annehmen, daß er leider sich selbst meint, wenn er schreibt: „Ich kenne nur Einen Musiker, der heute noch im stande ist, eine Ouvertre aus ganzem Holze zu schnitzen, und niemand kennt ihn – “ (ausgenommen der Spiegel, vor dem Nietzsche Toilette macht) … … Nein! es geht mit bestem Willen nicht; wir kçnnen nicht lnger dieses in allen Farben des gereizten Chamleons schillernde Pamphlet Nietzsches behandeln; es widert uns an. Hohe Worte habe Schiller den Deutschen um die Ohren geschlagen, sagt Nietzsche. Aber wer hat ihnen hohlere Worte „um die Ohren geschlagen“ als Nietzsche z. B. in seinem Buche „Geburt der Tragçdie“ u.s.w., wenn er ber Wagners „Tristan und Isolde“ deklamirte: „An die echten Musiker richte ich die Frage, ob sie sich einen Menschen denken kçnnen, der den dritten Akt von Tristan und Isolde ohne alle Beihilfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu perzipiren im stande wre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflgel zu veratmen? Ein Mensch, der, wie hier, gleichsam das Ohr an die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat, der das rasende Begehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartesten zerstubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergießen fhlt, er sollte nicht jhlings zerbrechen?“ Das „z“ im letzten Worte strich unser verstorbener Freund, der edle Komponist Hermann Gçtz, schon vor vielen Jahren in unserem Exemplar durch, empçrt von dem Schwulst solcher Phrasen. Diesem ungeheuerlichen Schwulst entspricht aber vçllig die hßliche Uebertreibung, mit der sich Nietzsche nun plçtzlich ganz von Wagner lossagt. Er, der „zeitlose“, folgt dabei eigentlich einem dermalen ziemlich gemein deutschen Brauche, nmlich, wenn ein deutscher Knstler einmal etwas Rechtes geleistet hat, z. B. ein Nationaltheater geschaffen, sich nicht an das Gute, Tchtige solcher Leistungen zu halten, sondern nicht zu ruhen, bis man alle Schwchen des Meisters schonungslos vor aller Welt bloßlegen kann. Das sind so rechte Großtaten deutscher Aesthetiker, wozu diesmal noch der Fanatismus des Renegatentums kommt.
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Nietzsche, den wir frher achten und beachten zu sollen glaubten, ist nun fr uns tot. Fr andere scheint er es schon lnger zu sein. Wenigstens lesen wir in einer krzlich erschienenen Abhandlung (ber Eugen Dhring) von Dr. H. Druskowitz267 folgende Schilderung Nietzsches, mit der wir hier von ihm Abschied nehmen: „Wir frchten, daß in die Kategorie der physiologisch Verunglckten allen voran Nietzsche selbst wird einzureihen sein. Denn es kommt ihm immer mehr der Sinn fr einfach menschliche Empfindungen und fr natrliches Denken abhanden, er schwelgt in immer haltloseren und zugleich gefhrlicheren Paradoxien, gefllt sich in immer abstoßenderem Gesalbader, und Großmannsucht und Dnkelhaftigkeit nehmen immer bedenklichere Dimensionen bei ihm an. Wir erinnern die Leser seiner letzten Schriften, mit welcher unbeschreiblichen Verachtung er, und er tut es unzhlige Male, von jenen spricht, die das Unglck haben, „pçbelhaft“ zu sein, und welch’ abgçttische Verehrung er mit den „Vornehmen“ treibt. Schließlich ergibt sich aber, daß seine Auffassung der Vornehmheit eine vçllig verkehrte ist, da Napoleon I. als „das fleischgewordene Problem des vornehmen Ideals an sich“ bezeichnet wird. Einer der glnzendsten Stilisten und geistvollsten Kçpfe unserer Zeit, tuscht er sich und die Welt ber die gleichwohl bestehende Insuffizienz seines Wesens und den Mangel an selbststndigen Gedanken, es wren denn solche, die jeder Haltbarkeit und Berechtigung entbehren. So ist er nach jahrzehntelangem Umhertasten zu Resultaten gelangt, die mit Leichtigkeit ad absurdum kçnnen gefhrt und geradezu als ungeheuerlich mssen bezeichnet werden, wie z. B. die Behauptung, daß die fortschreitende „Moralisirung“ der Menschheit den Untergang des hçheren menschlichen Typus bedeute, eine Anschauung, die eben in einer grundfalschen Auffassung des Humanittsideals wurzelt.“
S., Ed. [Steiger, Edgar?]: Der Fall Wagner. In: Frankfurter Zeitung, Bd. 33, Abendblatt Nr. 329 vom 24. 11. 1888 Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. Von Friedrich Nietzsche. VI und 58 S. gr. Oct. Leipzig, C. G. Naumann. „… Ist Wagner berhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rhrt, – er hat die Musik krank gemacht.“ – „Wagners Musik, nicht vom Theater-Geschmacke, einem sehr toleranten Geschmacke, in Schutz genommen, ist einfach schlechte Musik, die schlechteste berhaupt, die vielleicht gemacht worden ist.“ – „Ich habe erklrt, wohin 267 Gemeint ist: Helene von Druskowitz: Eugen Dhring. Eine Studie zu seiner Wrdigung. Berlin 1888
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Wagner gehçrt – nicht in die Geschichte der Musik. Was bedeutet er trotzdem in deren Geschichte? Die Heraufkunft des Schauspielers in der Musik: ein kapitales Ereigniß, das zu denken, das vielleicht auch zu frchten giebt.“ – „Man singt Wagner nur mit ruinirter Stimme: das wirkt „dramatisch“. Selbst Begabung ist ausgeschlossen. Das espressivo um jeden Preis, wie es das Wagnersche Ideal, das dcadence-Ideal verlangt, vertrgt sich schlecht mit Begabung. Dazu gehçrt blos Tugend – will sagen Dressur, Automatismus, „Selbstverleugnung“. Weder Geschmack, noch Stimme, noch Begabung: die Bhne Wagners hat nur eins nçthig – Germanen! … Definition des Germanen: Gehorsam und lange Beine (?) … Es ist voll tiefer Bedeutung, daß die Heraufkunft Wagners zeitlich mit der Heraufkunft des „Reichs“ zusammenfllt: beide Thatsachen beweisen ein und dasselbe – Gehorsam und lange Beine. – Nie ist besser gehorcht, nie besser befohlen worden. Die Wagnerschen Kapellmeister insonderheit sind eines Zeitalters wrdig, das die Nachwelt einst mit scheuer Ehrfurcht das klassische Zeitalter des Kriegs nennen wird.“ – „War Wagner berhaupt ein Deutscher? Man hat einige Grnde, so zu fragen. Es ist schwer, in ihm irgend einen deutschen Zug ausfindig zu machen. Er hat, als der große Lerner, der er war, viel Deutsches nachmachen gelernt – das ist Alles. Sein Wesen selbst widerspricht dem, was bisher als deutlich empfunden wurde: nicht zu reden vom deutschen Musiker!“ – „Wagner wirkt wie ein fortgesetzter Gebrauch von Alkohol. Er stumpft ab, er verschleimt den Magen. Spezifische Wirkung: Entartung des rhythmischen Gefhl. … Schon viel gefhrlicher ist die Verderbniß der Begriffe. Der Jngling wird zum Mondkalb – zum „Idealisten“ …. Wagner ist schlimm fr die Jnglinge, er ist verhngnißvoll fr das Weib. Was ist, rztlich gefragt, eine Wagnerianerin? – Es scheint mir, daß ein Arzt jungen Frauen nicht ernst genug diese Gewissens-Alternative stellen kçnnte: eins oder das andere.“ – Das und noch viel mehr steht in der Schrift von Friedr. Nietzsche, und doch ist er – nach seinem eigenen Bekenntnisse – „einer der korruptesten Wagnerianer“ gewesen. Und wie reimt sich das? Da sehe Jeder selbst zu! Man kann die Schrift nur lesen aber nicht erklren, nicht kritisiren.
Gast, Peter [d.i. Kçselitz, Heinrich]: Nietzsche-Wagner. In: Kunstwart. Dresden, Bd. 2, Nr. 4 vom November 1888, S. 52–55. Mit einem Vor- und Nachwort von A.[Avenarius, Ferdinand]. Nietzsche-Wagner. Von einem von uns hochgeachteten Manne, „Peter Gast“, der freilich in dem Streite, um den sich’s hier handelt, sehr weit entfernt von uns selber steht, erhalten wir die folgende Zuschrift. Es ist so oft und so warm fr die Wagnersache in dieser Zeitschrift gesprochen worden, daß es geradezu eine
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Flschung ihres parteilosen Charakters wre, kmen nicht auch die Gegner einmal zu Wort. Einige eigene Bemerkungen werden wir unmittelbar anschließen, in der Hoffnung, Nietzsches Streitschrift damit fr unsere Bltter erledigt zu sehen. Noch nie sind die Deutschen eines sthetischen Problems wegen so erregt worden, wie durch Wagners Problem des „musikalischen Dramas“ und der Theatermusik. Das Ende dieser 40jhrigen Erregung war, daß der Widerstand gegen Wagners Neuerung beinahe ganz verschwand und man heute allgemein glaubt, Wagner sei „im Rechte“, seine Gegner „im Unrechte“ gewesen. Dem Kulturhistoriker bedeutet diese Thatsache einstweilen nicht viel mehr, als daß, wer in einer weich, zerfahren, charakterlos gewordenen Menschheit sich ein Leben lang als harte, konzentrirte Individualitt zu behaupten weiß, fast ausnahmslos Alle zu sich und seinen Absichten berredet; mit andern Worten: daß ungefhr jede Richtung, sie sei anfangs noch so anstçßig, zur Geltung, „zum Durchbruch“ zu bringen ist, wenn dem neuernden Genie die gehçrige Ausdauer nicht fehle. Das Publikum ist kaum im Stande, ber einem Knstler neue Ideale zu sehen. Es hlt sich an das, was da ist; neue Mçglichkeiten mssen ihm immer erst durch wirkliche Werke gezeigt werden. Wo aber wre ein Knstler gewesen, der sich mit Wagner auch nur im Entferntesten htte messen, der sein Lebenswerk aus einer ganz anderen Hçhe und Macht heraus htte kreuzen und stçren kçnnen? – der also vor Allem schaffend das Publikum htte berzeugen und zu sich hinberziehen kçnnen in eine hellere, freudigere, gesndere, weit berlegenere Welt? Einen solchen Knstler gab es nicht. Alles, was gegen Wagner geschah, waren theoretische Proteste von Menschen, die seelisch nicht reich genug waren, ihm zu folgen, – oder Proteste sthetisirender Musiker, oder gar beleidigter Menschen. Das Publikum wurde durch sie nur immer aufmerksamer, bis es sich von Wagners Kunst gehoben, gerhrt, erschttert, berwltigt fhlte und einsah, dergleichen Wirkungen nie vorher von der Bhne aus, – ja vielleicht von keiner Kunst aus erfahren zu haben. Wagners Sieg ber Europa und Nordamerika ist unbestreitbar. Selbst Frankreich, das sich, aus Rcksicht auf die politische Straßenjugend, Bhnenauffhrungen seiner Werke noch versagen muß, kennt und studirt ihn mit einem Eifer, einer Liebe, von welcher Kenntnis zu nehmen die guten Deutschen jetzt keine Zeit haben.268 268 Frankreich hat die umfangreichste Monographie ber Wagner, die von Adolphe Jullien; ferner die von Schur, Catulle Mends und viele andere. Einer der ersten Wagnerianer in Nerv und Blut war Baudelaire, der Dichter der Fleurs du Mal. Unter jetzigen Wagnerianern ragt durch ihren Enthusiasmus die Schule der „Potes dcadents“ hervor (wie sie sich, mehr als selbstironisirend, nennen). Wagnerianer-Zeitschriften: Die „Revue Wagnerinne“ (Stephane Mallarm und Paul Verlaine), „Revue indpendante“ (Redakteur
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Trotz dieses ungeheuren Sieges nimmt die apologetische Literatur ber Wagner zu, anstatt ab. Fast keine Widersacher mehr: dagegen eine ganze Armee von Kunstliteraten, die Wagners Sache Tag und Nacht beleuchten, erlutern, beschreiben, in Beziehung zu allem Mçglichen bringen, und dabei sich selbst als Vorkmpfer und Verteidiger gebrden. Wirklichen Vorteil davon hat nur Wagners Sache: die Kunst im Großen leidet unter diesem Niederstrzen, unter dieser Anbetung ganzer Millionen vor einem einzelnen Knstler, dessen Eigenart auf lngere Zeit zum „Maß aller Dinge“ gemacht wird. Fr den Wert einer Sache beweist die Zustimmung von Millionen eben Nichts; erst mßte der Wert dieser Millionen erwiesen sein. Wer aber wollte den feststellen? Nach welchem Kanon sollte dies geschehen? Wer stnde so hoch ber Zeiten und Vçlkern, um zu erkennen, welche Symptome sie im Range hoch oder niedrig stellen? Und setzt auch dieses Erkennen nicht immer wieder eine Richtschnur voraus, die wir entweder willkrlich ansetzen oder unbewußt, instinktiv in uns tragen? Muß man nicht gleichsam ein zweites Bewußtsein haben, um sich und seine Zeit in allen Lebensußerungen, selbst den bewußtesten (in Geschmack, Urteil, Moral), unter sich und in Vergleichung zu aller Vergangenheit des Menschengeschlechts zu sehen? Wer uns diese Fragen nahe bringt und sie in einer Weise lçst, wie sonst Niemand es vermçchte, ist Friedrich Nietzsche. Erst mit ihm beginnt eine wirkliche physiologische Einsicht in die Erscheinungen der Geschichte, erst ihm wird man die Gewinnung von Wertmessern verdanken, nach welcher die Beurteilung historischer Erscheinungen aus der „Idiosynkrasie“ und Enge einer Zeit und Generation heraus nur noch dem Vulgrmenschen erlaubt ist. Nietzsche’s jngst erschienene Schrift „Der Fall Wagner“ ist eine Exemplifikation seiner historischen Betrachtungsart. Von Nietzsche stammt das ohne Frage tiefste und bedeutendste apologetische Werk der Wagner-Literatur, ich meine „die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“, jenes Buch, mit dem plçtzlich ganz neue sthetische Werte, eine ganz neue Glorienfarbe, ganz neue Perspektiven um Wagner herum geschaffen waren und von welchem Wagner selbst, wie sein schriftstellernder Anhang, reichlich zehrte. Als Apologet Wagners wurde denn Nietzsche auch allgemeiner bekannt. Wer aber und was Nietzsche außerdem und eigentlich ist, das wissen im einmtigen Deutschland nicht zehn Menschen. Man muß in’s Ausland gehen, um es zu erfahren, z. B. nach Savoyen zum grçßten jetzt lebenden Historiker Taine, oder nach Kopenhagen zu Georg Brandes (jedenfalls einem der intelligentesten Kritiker unserer Zeit), der letzten Winter Vorlesungen ber Nietzsches Philosophie vor mehr als 300 Studenten hielt und damit
Dujardin), „Gil Blas“ usw. Man sehe ferner die Wagner-Schwrmerei in den auf Musik bezglichen Stellen der Romane von Bourget, Zola, Guy de Maupassant u. A.
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den Namen wie die Probleme Nietzsches in ganz Skandinavien bekannt gemacht hat. Nietzsche ist eine in unserer Zeit fast unmçglich scheinende Kultur fr sich – von einem Ernst, einer Ursprnglichkeit, einer Kraft und Hçhe des Geistes und Empfindens, vor der den meisten Menschen schaudern wird. Mit ihm hat sich eine neue Sphinx vor das Leben hingelagert. Alle menschlichen Dinge sind in Frage gestellt; nicht in der Art der bisherigen, spielerischen Freigeister, auch nicht von Unten her in der Art der Malkontenten, der politischen oder religiçsen Sozialisten, – sondern aus den Gesichtspunkten der hçchsten Exemplare der Menschheit heraus. Brandes charakterisirte die Philosophie Nietzsches u. A. mit dem Ausdruck „aristokratischer Radikalismus“, und gewiß wrden, wenn die Brahmanen oder Alexander, Csar, Napoleon, oder Leonardo da Vinci und hnliche ihre leitenden Instinkte in Worte und Formeln gebracht htten, sie im Ganzen mit den Imperativen in Nietzsche bereinstimmen. Nur ist zu bezweifeln, ob sie’s vermocht htten … in der Art Nietzsches. Erst ihm scheint sich das Geheimnis des organischen Lebens enthllt zu haben. An seiner Einsicht gemessen nimmt sich alle bewußte Thtigkeit, selbst der hçchsten Menschen der Vergangenheit, immer noch blind, instinktiv aus. Vor ihm legen sich die Erscheinungen in einer Weise aus einander, er errt zuletzt Hauptsachen, von denen bisher Niemand etwas sah noch wußte. Und diese Hauptsachen gehen so sehr gegen unsere bliche Empfindungs- und Abschtzungsart, gegen unsern Geschmack, unsre Gewohnheit, daß schon ein ziemlicher Grad Unerschrockenheit dazu gehçrt, ihm berhaupt nur zu folgen. Nietzsche ist eine Kultur fr sich. Seine Schriften sind das Gehaltreichste, Kondensirteste, was man lesen kann. In jedem seiner Stze steht ein AperÅ, ein Urteil, das nur ihm gehçrt, gehçren darf. Seine Werke, namentlich das Buch aller Bcher „Also sprach Zarathustra“, sollten der Stolz der Deutschen sein, da sie den Rang ihrer ganzen Literatur erhçhen: aber in Deutschland weiß man Nichts davon, man ist nicht vorbereitet dafr, man hat weder Verstand noch Herz dazu. In Paris wrden Nietzsches Bcher eine Flut von Artikeln und Broschren nach sich ziehen, die gesamte franzçsische Intelligenz wrde sich ihrer bemchtigen, philosophische Parteien wrden sich bilden, kurz, seine Probleme kmen zu çffentlicher Diskussion. Unter Deutschen, wie gesagt, weiß man mit seinen Problemen nicht einmal etwas anzufangen, sie liegen fr sie noch zu viele Meilen unter dem Boden, es mangelt an der jahrhundertelangen moralistischen Schulung, wie sie der in Betracht kommende Franzose seit Montaigne hat, es mangelt sogar am bloßen Interesse, an der Genußfhigkeit fr psychologische Finessen. Das Verhalten der Deutschen gegen Nietzsche wird ein neues Blatt zur Geschichte ihrer zunehmenden geistigen Inferioritt liefern. Von Nietzsche’s Gedankenwelt, auf dem uns gegçnnten Raum, eine umfassende Vorstellung zu geben, ist unmçglich; es hieße fast, seine zwçlf Bnde hier abdrucken. Nietzsche ist, zum dritten Mal sei’s gesagt, eine Kultur (und eine
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Moral – eine heroische) fr sich. Man muß ihn selbst lesen, sich in ihn versenken, ihn lebendig werden lassen, jahrelang mit ihm leben. Ist man ihm seelisch verwandt, dann heißt einem die Bekanntschaft mit ihm so viel, und eine Kleinigkeit mehr, als der Eintritt Beatricens in das Leben Dante’s: incipit vita nova. – Was wir hier einzig, und zwar als berleitung zu dem folgenden, aus Nietzsche herausheben wollen, ist eine biologische Hauptlehre. Unsere Moral (d. h. vornehmlich unsere mitleidigen, nachgiebigen, egalisirenden, demokratischen, aller Gewalt, allem Gewaltthtigen feindlichen Neigungen) – unsere Moral ist ihm nichts Primres, Leitendes (oder gar Metaphysisches nach Art der deutschen Philosophen bis zu Schopenhauer); sie gilt ihm nur als Begleit-, als Folge-Erscheinung einer in der Tiefe sich vollziehenden dcadence der Lebenskraft. Ins Große gerechnet, giebt es fr ihn ein aufsteigendes und ein niedergehendes Leben: sowohl in ganzen Gemeinwesen, wie im einzelnen Individuum (das Individuum als Komplex kommandirender und gehorchender Triebe gedacht). Dem aufsteigenden Leben entspricht die HerrenMoral, die vornehme Wertungsweise, die triumphierend, aus der Flle und Kraft heraus, sich selbst „gut“ heißt und um Derenwillen eine Menge SubalternMenschen (oder – wenn es sich um das Innere des Menschen handelt – eine Menge Subaltern-Triebe) geopfert werden mssen. Dem niedergehenden Leben entspricht die Sk1aven-Mora1, die der Unterdrckten, Mißratenen, Geopferten, die sich fr die „Guten“ halten und die Herren fr die „Bçsen“. Bei den Herren bestimmt die Freude, die Aktivitt, das Machtgefhl den Wert der eigenen wie fremden Handlungen und Dinge; bei den Unterdrckten bestimmt der Verdruß, die Passivitt, die Unmacht diesen Wert. – In uns Modernen sind beide Moralen neben einander thtig. „Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werte dar; er sagt in Einem Atem Ja und Nein. Wider Wissen, wider Willen haben wir Werte, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe, – wir sind physiologisch betrachtet, falsch.“ „Womit begçnne eine Diagnostik der modernen Seele? – Mit einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt-Widersprchlichkeit, mit der Herauslçsung ihrer Gegensatz-Werte.“ In Wagner erblickt jetzt Nietzsche eines der aufflligsten und lehrreichsten Beispiele fr diese innere Doppeltheit, diese Mischmasch-Moralitt, diese Auflçsung, diesen Verfall der Instinkte. „Niemand war vielleicht gefhrlicher mit der Wagnerei verwachsen, als ich, Niemand hat sich hrter gegen sie gewehrt, Niemand sich mehr gefreut, von ihr los zu sein! Wagner gehçrte nur zu meinen Krankheiten, gleich Schopenhauer, gleich der ganzen modernen „Menschlichkeit“: mein grçßtes Erlebnis war eine Genesung. – Wenn ich mit dieser Schrift den Satz aufrecht halte, daß Wagner schdlich ist, so will ich nicht weniger aufrecht halten, wem er trotzdem unentbehrlich ist – dem Philosophen. Diesem steht es nicht frei, Wagners zu entraten. Er hat das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein, – dazu muß er deren
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bestes Wissen haben. Wo aber fnde er fr das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren Fhrer, einen beredteren Seelenkndiger, als Wagner? Durch Wagner redet die Modernitt ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Bçses, sie hat alle Scham vor sich verlernt … Wagner resmirt die Modernitt. Es hilft nichts, man muß erst Wagerianer sein…“ Es versteht sich von selbst, daß nur einem so durchdringenden, so gesund, so berzeitlich gewordenen Blicke, wie dem Nietzsches, Wagner als typischer dcadent erscheinen kann. Unserer Zeit erschien er bisher als das Gegenteil. „Daß man sich in Deutschland ber Wagner betrgt, befremdet mich nicht: die Deutschen waren noch nie Psychologen; sie sind damit dankbar, daß sie mißverstehn. Aber daß man sich auch in Paris ber ihn betrgt! wo man beinahe nichts Anderes mehr ist, als Psycholog. Und in Petersburg! wo man Dinge noch errt, die selbst in Paris nicht erraten werden! – Wie verwandt muß Wagner der gesamten europischen dcadence sein, daß er von ihr nicht als dcadent empfunden wird! Er gehçrt zu ihr: er ist ihr Protagonist, ihr grçßter Name … Man ehrt sich, wenn man ihn in die Wolken hebt. – Denn daß man nicht gegen ihn sich wehrt, das ist selbst schon ein Zeichen von dcadence. Der Instinkt ist geschwcht. Was man zu scheuen htte, das zieht an. Da Schdliche als schdlich empfinden, sich etwas Schdliches verbieten kçnnen, ist ein Zeichen noch von Jugend, von Lebenskraft.“ „Ich stelle diesen Gesichtspunkt voran: Wagners Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bhne bringt – lauter Hysteriker-Probleme –, das Konvulsivische seines Affekts, seine berreizte Sensibilitt, sein Geschmack, der nach immer schrferen Wrzen verlangt, die Instabilitt seines Temperaments, die er zu Prinzipien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet (– eine Kranken-Galerie! –): Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lßt. Wagner est une nevrose. Und damit auch ist Wagner der moderne Knstler par excellence, der Cagliostro der Modernitt. In seiner Kunst ist auf die verfhrerischeste Art gemischt, was heute alle Welt am nçtigsten hat, – die drei großen stimulantia der Erschçpften: das Brutale, das Knstliche und das Unschuldige (Idiotische).“ Von außerordentlicher Wichtigkeit fr die Beurteilung Wagner’s ist, was vor Nietzsche noch Niemand deutlich gesehn und hervorgehoben hat: das Schauspielerische an ihm. Als Schauspieler macht er Musik (– nicht als Musiker), als Schauspieler macht er seine Bhnenstcke (– nicht als Dramatiker). „Zum Drama fehlte ihm die harte Logik; er wich instinktiv der psychologischen Motivirung aus, – womit? – damit, daß er immer die Idiosynkrasie an deren Stelle rckte … Sehr modern, nicht wahr? sehr pariserisch! sehr dcadent!“ Nietzsche giebt Beispiele dafr. Das Erste, was Wagner im Geiste schaut, ist der Hçhepunkt einer Handlung und zwar der Attitde nach, der Szenerie, dem Malerischen nach. Er sieht z. B., fast mit dem Auge Fra Bartolomeos, eine Fußwaschung; was zu ihr hin, was von
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ihr wegfhrt, ergiebt sich aus einer technischen konomik, die keine Grnde hat, subtil zu sein. „Es ist nicht das Publikum Corneilles, das er zu schonen htte: – bloßes 19. Jahrhundert! bloße Deutsche!“ „Man nehme irgend eine Peripetie, irgend einen ,Knoten‘ Wagners unter das Mikroskop – man wird dabei zu lachen haben, das verspreche ich. Nichts erheiternder als der Knoten des Tristan, es mßte denn der Knoten der Meistersinger sein. Wagner ist kein Dramatiker, man lasse sich Nichts vormachen. Er liebte das Wort ,Drama‘, das ist Alles – er hat immer die schçnen Worte geliebt. Das Wort ,Drama‘ in seinen Schriften ist trotzdem nur ein Mißverstndnis ( – und eine Klugheit: Wagner that immer vornehm gegen das Wort Oper).“ In einer Anmerkung macht Nietzsche darauf aufmerksam, daß das Wort Drama falscherweise stets mit „Handlung“ bersetzt worden ist. Das antike Drama hatte große Pathosszenen im Auge – es schloß gerade die Handlung aus (verlegte sie vor den Anfang oder hinter die Szene). Auch seine Musik macht Wagner als Schauspieler. Fr die lteren Komponisten lag die Norm der Theatermusik in den Formen der reinen Instrumental-, der Kammermusik. Die Oper, als Zwittergattung, hat eben keine Norm in sich selbst: sie balanzirt zwischen den Ansprchen der Musik und denen des Dramas hin und her. Wagner hatte den Mut, die Ansprche der Musik, als Kunst fr sich, in der Oper zurckzuweisen, ihre Gesetze, die in langem Mhen von tief sthetischen Menschen festgestellt waren, ber Bord zu werfen, dagegen als ihre einzige Direktion Wort und Gebrde seines Dramas geltend zu machen. Es muß aber gesagt werden, daß die Musik der lteren, trotz ihrer beibehaltenen Gesetzlichkeit, ebensogut „Mittel des Ausdrucks“ war, wie bei Wagner, und daß seine eigentliche Neuerung (also von den Konzessionen, die er hier und da gemacht hat, abgesehen) die ist, daß seine Musik ohne Text nicht mehr als solche verstanden werden kann, wie es die ltere Musik wurde. In der Oper der Alten war die Musik die Hauptsache. Fr die Sinne – ist sie’s auch heute noch: Wort und Handlung wird durch sie fast ganz verdeckt. (Oder findet sich Jemand, der z. B. die lange Erzhlung des Gurnemanz ohne Textbuch dem Wortlaut nach versteht? Mit dem Textbuch in der Hand ist man – schon und noch – kein sthetischer Zuhçrer.) Nur im abstrakteren, unsicheren, leicht irre zu machenden Norden gelingt es, die Aufmerksamkeit von der Musik weg angeblich ganz auf Wort und Handlung zu richten, sodaß die Musik nur als halbbeachtetes Nebenher genossen wird und Niemand an dem formlosen Durcheinander und Quodlibet der Musik Anstoß nimmt, das z. B. unter der eben genannten Erzhlung des Gurnemanz hinluft. Wagner degradierte die Musik in der Oper zur ancilla dramaturgica, zum Kommentar, oft zum allerkleinlichsten, mitunter selbst kindischen. Was er „dramatischen Stil“ an seiner Musik nennt, ist schlechter Stil, ja sogar Nicht-Stil. Man preist diese Lockerung, diese Anarchie, diese Zucht- und Planlosigkeit als – Fortschritt“; nach Nietzsche ist es nur eine Entartung des musikalischen In-
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stinkts. Wagner hat die Musik krank gemacht – nicht nur der Empfindung nach: auch im Formalen. „Er hat beinahe entdeckt, welche Magie selbst noch mit einer aufgelçsten und gleichsam elementarisch gemachten Musik ausgebt werden kann. Sein Bewußtsein davon geht bis in’s Unheimliche. Das Elementarische gengt – Klang, Bewegung, Farbe, kurz die Sinnlichkeit der Musik. Wagner rechnet nie als Musiker, von irgend einem Musiker-Gewissen aus: er will die Wirkung, er will Nichts als die Wirkung. Und er kennt das, worauf er zu wirken hat! – Er hat darin die Unbedenklichkeit, die Schiller hatte, die jeder Theatermensch hat; er hat auch dessen Verachtung der Welt, die er sich zu Fßen legt! … Man ist Schauspieler damit, daß man Eine Einsicht vor dem Rest der Menschen voraus hat: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein. Der Satz ist von Talma formulirt: er enthlt die ganze Psychologie des Schauspielers, er enthlt – zweifeln wir nicht daran! –auch dessen Moral. Wagners Musik ist niemals wahr. – Aber man hlt sie dafr: – und so ist es in Ordnung.“ „Was bedeutet Wagner fr die Musikgeschichte? – Die Heraufkunft des Schauspielers in der Musik: ein kapitales Ereignis, das zu denken, das vielleicht auch zu frchten giebt. In Formel: ,Wagner und Liszt. ‘ Noch nie wurde die Rechtschaffenheit der Musiker, ihre ,Echtheit‘ gleich gefhrlich auf die Probe gestellt. Man greift es mit Hnden: der große Erfolg, der Massen-Erfolg ist nicht mehr auf Seite der Echten, – man muß Schauspieler sein, ihn zu haben! In Niedergangs-Kulturen, berall, wo den Massen die Entscheidung in die Hnde fllt, wird die Echtheit berflssig, nachteilig, zurcksetzend. Nur der Schauspieler weckt noch die große Begeisterung.“ Weshalb schrieb Wagner Bcher? – „Ist es, daß seine Musik zu schwer verstndlich ist? Oder frchtete er das Umgekehrte, daß man sie zu leicht versteht, – daß man sie nicht schwer genug versteht?-Thatschlich hat er sein ganzes Leben Einen Satz wiederholt: daß seine Musik nicht nur Musik bedeute! Sondern mehr! Sondern unendlich viel mehr! … „Nicht nur Musik“ – so redet kein Musiker. Nochmals gesagt, Wagner konnte nicht aus dem Ganzen schaffen, er hatte gar keine Wahl, er mußte Stckwerk machen, ,Motive‘, Gebrden, Formeln, Verdoppelungen und Verhundertfachungen, er blieb Rhetor als Musiker – er mußte grundstzlich das ,Es bedeutet‘ in den Vordergrund bringen; er war zeitlebens der Kommentator der Idee.“ – Nietzsche weist nach, wie Wagner damit der Erbe Hegel’s wurde: was die Hegelei in der Philosophie, das ist die Wagnerei in der Musik. Doch widerstehen wir der Versuchung, weiter zu zitiren! Wir whlten absichtlich nur Stellen, die spezieller Drama und Musik Wagners betreffen, im Bewußtsein, daß wir auf den eigentlichen Gehalt von Nietzsches Buch nur vorbereiten kçnnen, und daß der gebildete Leser dieses kulturhistorisch wichtige Aktenstck ohnehin selbst kennen lernen wird. Ist man Wagnerianer, so hat man es als Verhngnis zu beklagen, daß gerade Nietzsche, die erste und letzte Autoritt in Sachen der Wagner-Interpretation,
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jene innere Umwandlung durchmachte, die ihn weit ber die Tendenzen Wagners und unserer Zeit hinaustrug. Seine antiromantische, antichristliche, antirevolutionre, antidemokratische Kultur, kurz seine Vornehmheit , scheidet ihn (und schied ihn) fr immer von Wagners Sache. Wenn er frher darber sich tuschte, so war er in demselben Irrtum, in welchem sich Wagners Freund Graf Gobineau befand, als er (der guten Geschmack genug hatte, sich vom Parsifal wegzuwenden) in den Nibelungen seine Ahnen, seine alten Wikinger wiedererkennen wollte. Aber Nietzsche erkennt nun auch in den Helden Wagners die ganze Modernitt der Seele, das unentschiedene Hin und Her zwischen Herren- und christlicher Moral, wieder. Schon die Musik Wagners, diese allermodernste musica sensibilissima, erscheint ihm als Sprache fr altnordische Helden ungereimt, unnatrlich. Soweit Peter Gast. Die Kritik, welche wir selber an Nietzsches Schrift zu ben haben, kann krzer ausfallen, als wir zunchst geglaubt. Es drfte kaum die Aufgabe dieses Kunstblattes sein, die philosophische Beleuchtung noch erhellen oder verdunkeln zu wollen, die Nietzsche (gleichfalls nach unserer berzeugung einer der geistvollsten und tiefsten Denker unserer Zeit) der ganzen Kultur der Gegenwart angedeihen lßt, auch wenn wir dazu befhigt wren, was wir nicht sind. Es ist ferner zur Betrachtung der jngsten Streitschrift gar nicht nçtig, solchen Versuch zu wagen. Wir drfen getrost die Berechtigung der Nietzscheschen Kulturbetrachtung annehmen, wenn auch nicht zugeben, und selbst von dieser Annahme aus die Beweiskraft der Ausfhrungen in Sachen Wagners bestreiten. Hier handelt es sich eben nicht um ein Prinzip, um ein Gesetz, mit dessen Anerkennung oder Ableugnung Wagner steigt oder sinkt. Man kann die Nietzschesche Weltanschauung nicht nur teilen, sondern sogar selber in sich geschaffen haben und doch Wagner im hçchsten Maße achten – Friedrich Nietzsche der Jngere beweist es Friedrich Nietzsche dem lteren selbst. Es handelt sich um Anwendungen des Gesetzes auf den einzelnen Fall, hier auf den „Fall Wagner“ also, um Diagnosen. Der Kulturarzt Nietzsche der Jngere stellte auf Grund der vom Kulturforscher Nietzsche entdeckten Gesetze Richard Wagner ein glnzendes Gesundheitszeugnis aus, der Kulturarzt Nietzsche der ltere auf Grund derselben Gesetze ein Krankheitszeugnis. Wer Recht hat, kann erst die Sektion des „Patienten“ beweisen – vorlufig aber lebt Richard Wagner noch. In der That, Nietzsches Anschauungen ber Wagner lassen sich weder beweisen, noch widerlegen. Dem und Jenen wird auch in Peter Gasts Ausfhrungen dies und das „aus dem Herzen gesprochen“ sein, viel Mehreren wird es als grçblichster Irrtum erscheinen. Keiner wird erweisen kçnnen, daß er Recht hat. Denn nur Gedankenfehler lassen sich logisch widerlegen, nicht Empfindungsfehler. Wer will mich widerlegen, wenn ich sage: mich erfreut, mich krftigt Wagner, mich feuert er an? Fr mich ist er dann eben schçn, wie er fr
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Nietzsche hßlich ist. Ich bin dann freilich auch ein „dcadent“. Aber auch er ist ein Kind seiner Zeit und kann nichts anderes sein: wenn nun auch die Bezeichnung unserer Zeit als einer Zeit der „dcadence“ das Urteil eines „dcadent“ wre? Erst wenn sie selber, der große Patient, gestorben ist, kann der Kulturforscher der Zukunft das Urteil versuchen, ob der Kulturarzt der Vergangenheit fr seine Diagnose die wesentlichen Merkmale zusammengefunden, zusammenempfunden hat, oder unwesentliche. Sehr mçglich allerdings schiene uns eine Widerlegung Nietzsches dort, wo er den Musiker Wagner bespricht, bei dem eigentlichen „Musikanten-Probleme“ demnach, dem titelsgemß die ganze Schrift, in Wirklichkeit aber nur ein Teil derselben gewidmet ist. Denn hier handelt sieh’s nicht um Diagnosen, sondern um Grundstze, die aus von allen Seiten anerkannten Thatsachen logisch abzuleiten sind, in eben dieser Ableitung also der verstandesgemßen Kritik Boden zum Nachschreiten gewhren. Es mßte nur, bevor eine derartige Widerlegung der Mhe lohnte, von Nietzsche eine Widerlegung der Wagnerischen Theorien geboten werden. So lange er nur, wie in seiner neuesten Schrift schlichtweg dekretirt: Wagner hat Unrecht, weil ich das jetzt so finde – kann keiner veranlaßt sein, eine Ansicht vom Wesen der Musik zu widerlegen, die nicht begrndend aufgestellt, sondern obgleich sich doch Jahrzehnte lang eine große Literatur eben ihre Irrtmlichkeit nachzuweisen bemht, plçtzlich souvern als selbstverstndlich alleinwahr vorausgesetzt wird. Nietzsches Schrift berhrte uns im Gegensatz zu Peter Gast als eine sehr unerfreuliche Erscheinung. Nicht etwa, weil sie Wagner angreift. Sie spricht nach unserer berzeugung von des Nachsinnens im hçchsten Grade werten Gedanken; sie ist die ußerung eines Mannes, den vornehm zu belcheln oder berlegen abzuthun, keinem Menschen einfallen drfte, der sich aus der Flle seiner Ideen je einmal den geistigen Hunger vermindert hat. Wer diese Flugschrift bespotten wollte, bewiese nur, daß er von Nietzsche so gut wie gar nichts weiß. Und dennoch ist der „Fall Wagner“ hçchst unerfreulich, schon durch den Ton der Schrift. Nietzsche thut eben das darin, was wir ihm gegenber vermieden zu sehen wnschen: denselben Mann, den er einst als einen der Grçßten bewundert hat und den er als einen der Bedeutendsten noch jetzt anerkennt, glaubt er in witzigem Antithesenspiel von oben herab behandeln zu drfen. Die Thatsache der Sinnesnderung eines der hervorragendsten, vielleicht schlechtweg des hervorragendsten der „Wagnerianer“ steht fest. Htte uns dieser eine ruhig sachliche Entwickelung der Grnde gegeben, welche seine frheren Grnde aufhoben – wir htten ihm nur Dank geschuldet: unwahrscheinlicher Weise, weil er uns berzeugt, wahrscheinlicher, weil er zu einer scharfen, zur Widerlegung fhrenden Prfung den Anlaß gegeben htte. So wie die Schrift vorliegt, wirkt sie fast als die Gabe eines beraus espritreichen Feuilletonisten, der mit großen Gedanken spielt. Daß diese seine eigenen sind, sichert ihm das Recht auf unsere tiefere Teilnahme. Aber das letzte Ergebnis bleibt doch das
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Bedauern, daß Friedrich Nietzsche diesmal wie [ein] Feuilletonist geschrieben hat. Reaktionen N an Carl Spitteler, um den 10. 11. 1888: „Was der ,Kunstwart‘ darber bringen wird, macht mich neugierig. – Nicht wahr, Sie erweisen mir den Dienst und senden sowohl ,Basler Nachrichten‘ als ,Bund‘ nach der gelobten Stadt Turin!“ KGB III/5, Bf. 1141, S. 466 N an Franz Overbeck, 13. 11. 1888: „Hr. Spitteler hat in der DonnerstagNummer des ,Bund‘ sein Entzcken ausgedrckt, Herr Kçselitz im ,Kunstwart‘, aus Paris meldet man mir einen Artikel in der Nouvelle Revue als bevorstehend.“ KGB III/5, Bf. 1143, S. 70 N an Constantin Georg Naumann, 15. 12. 1888 „Sehr erbaut ber die schçnen und tiefen Worte des Herrn Kçselitz (Peter Gast) im ,Kunstwart‘ Herr Avenarius hat hinterdrein einige Thorheiten gesagt, aber sich bereits auf das Artigste bei mir entschuldigt – ich habe ihm ein sehr heiteres Briefchen geschrieben. Hat er nicht sein Bedauern darber ausgedrckt, daß ich dies Mal ,beraus espritreich‘ geschrieben htte? – Als ob meine Schriften sonst sich durch Stupiditt auszeichneten!.“ KGB III/5, Bf. 1191, S. 526 N an Franz Overbeck 22. 12. 1888 „Was ich wnschte, ist, daß ein capitaler Aufsatz ber mich von Kçselitz, ein Meisterstck von Prcision und Tiefe, im Kunstwart erschienen, dessen Redakteur mich auch als ,Hochzuverehrender!‘ anredet, etwa in den Basler Nachrichten abgedruckt wrde.“ KGB III/5, Bf. 1209, S. 547
Helm, Dr. Theodor: Der Fall Wagner. In: Deutsche Zeitung. Wien, Abendblatt Nr. 6105 vom 28. 12. 1888, S. 4. Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. Von Friedrich Nietzsche. Leipzig. C. G. Naumann. Dieser seltene Fall musikalischen Renegatenthums hat begreiflicherweise in der Gesellschaft einiges Aufsehen erregt. Herr Nietzsche, der in seinen frheren Schriften mit Richard Wagner einen fçrmlichen Gçtzendienst getrieben hatte, zeigt sich in dem vorliegenden Pamphlet plçtzlich wie umgewandelt, er lsst an
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dem Meister und dessen Schçpfungen kaum ein gutes Haar. Mit Behagen nahm die reactionre Presse die „Bekehrung“ eines der rgsten Ketzer zur Kenntniß, vielleicht wre ihr das „psychologische Curiosum“ weniger pikant erschienen, wenn sie der Sache auf den Grund gesehen htte. Wie nmlich Richard Pohl im „Musikal. Wochenbl.“ erzhlt, wollte Herr Nietzsche zu jener Zeit, als er intimster Hausfreund in Wagner’s Familienkreise war, nicht blos fr einen genialen Philologen und Philosophen, sondern auch fr einen bedeutenden Musiker gelten. Er dichtete und componirte ein großes musikalisches Drama, welches er dem Meister zur Begutachtung vorlegte und das dieser in seiner Bekannten, fr ihn fast verhngnisvoll gewordenen Aufrichtigkeit, einfach als „Dummes Zeug!“ erklrte. Solch’ vernichtendes Urtheil drang wie ghrend Drachengift in des bitter Enttuschten Herz und Hirn, er sagte seit jener Stunde dem bisherigen Abgott vçllig ab und er schrieb endlich seinen „Fall Wagner“. Man hat es hier also einfach mit einem nicht eben sehr feinen Racheacte tçdtlich gekrnkter Eigenliebe zu thun. Nebenbei wollte der Verfasser um jeden Preis „Sensation machen“. Ging’s nicht mit der Wagnerei, so vielleicht mit deren vollstndigstem Gegentheil – und in diesem Punkte hat er sich nicht getuscht. Man musste schon berrascht sein, die frhere, bis zur Schwlstigkeit philosophisch-tiefsinnige Sprache des Herrn Nietzsche auf einmal mit einer cynisch-frivolen vertauscht zu sehen. Uebrigens passirt unserem Pamphletisten die kleine Inconsequenz, daß er von seinen frheren Bchern (in denen er eben den schrankenlosen Wagner-Cultus getrieben: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“, „Unzeitgemße Betrachtungen“ etc.) frischweg behauptet: „es wren die tiefsten, welche die Deutschen berhaupt besitzen“. Ist dies Grçßenwahnsinn, so scheint es auch sonst in Herrn Nietzsche’s Kopf heute nicht mehr ganz richtig zu sein. Sein heutiges Ideal ist nicht vielleicht Wagner’s knstlerischer Antipode Brahms: an diesem entdeckt er nur die „Melancholie des Unvermçgens“. „Er schaffe nicht aus der Flle, er durste nach der Flle.“ Noch weniger behagt ihm Goldmark: den nennt er „nur den klugen Affen Wagner’s, mit der „Kçnigin von Saba“ gehçre man in die – Menagerie“! Der einzige Orchesterklang, den Herr Nietzsche heute noch ertragen kann, ist der von – Bizet’s „Carmen“. Zwanzigmal hintereinander (!) hçrt er sich „Carmen“ an und ber seine Empfindungen bei der letzten von ihm besuchten Auffhrung dieser Oper schreibt der einstige „Tristan“- und „Walkre-“ Schwrmer wçrtlich Folgendes: „Ich harrte wieder mit einer sanften Andacht aus, ich lief wieder nicht davon. Dieser Sieg ber meine Ungeduld berrascht mich. Wie ein solches Werk vervollkommt! Man wird selbst dabei zum „Meisterstck“. Und wirklich schien ich mir jedes Mal, daß ich „Carmen“ hçrte, mehr Philosoph, ein besserer Philosoph, als ich sonst mir scheine: so langmthig geworden, so glcklich, so indisch (sic!), so seßhaft … fnf Stunden Sitzen, erste Etape der Heiligkeit!“ Ob ein Mensch mit gesunden Sinnen so schreiben kann – denn das Alles ist nicht ironisch gemeint – berlassen wir dem Leser.
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Anonym: Der Fall Wagner. In: Hamburger Signale. Allgemeine Musik-Zeitung, Nr. 6 von Dezember 1888, S. 60 f. Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem von Friedrich Nietzsche. Als die unter obigem Titel erschienene Streitschrift vor einigen Wochen in die Welt trat, htte man meinen sollen, daß sie nicht nur ganz außerordentliches Aufsehen erregen wrde – das hat sie jedenfalls verursacht – sondern daß gerade die Anhnger der Wagner’schen Richtung sie einer viel ausgedehnteren çffentlichen Widerlegung unterziehen wrden. Man konnte dies um so eher voraussehen, als aus Nietzsches Feder das, von allen Freunden Wagner’s anerkannte bedeutende Werk der Wagner-Literatur „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ stammt. Dies Buch war das Buch der Bcher fr Wagner wie fr seine Anhnger, wenn es sich darum handelte, Belegstellen zu schaffen, um die Gegner zu werfen, und der tglich noch grçßer werdenden Masse von Verherrlichungsschriften stets neuen Stoff zu ausgedehnterer Entfaltung zu sichern. Ein weiterer Grund, weshalb man eine wesentlich lebhaftere Behandlung der Streitschrift erwarten durfte, ist die Persçnlichkeit Nietzsches, der nicht ein beliebiger Mensch ist, welcher sich, wie Hunderte und Tausende anderer Menschen auch einmal den Wirkungen der Wagner’schen Musik ausgesetzt hat und nun, ob seiner Empfindungen sich veranlaßt sah, sein Buch „Die Geburt der Tragçdie“ und jetzt den „Fall Wagner“ zu schreiben. Nietzsche ist ein so außerordentlich scharfer, geistvoller, selbststndiger Denker, daß mit Recht Wagner und die Seinen sein erst erwhntes Buch als eine, ihnen sonst nirgends gebotene Sttze betrachten durften! … Aus diesem Grunde ist es ihnen unmçglich, Nietzsche von ihren Rockschçßen zu schtteln. Wie uns scheinen will, gelangte Nietzsche im „Fall Wagner“ zu seinen Resultaten viel weniger durch eine Beurtheilung Wagner’s als Musiker. Vielmehr waren es die Principien der von Nietzsche, nach seinem Buche von der „Geburt der Tragçdie“, erworbenen Weltanschauung, welche ihm Veranlassung gaben, offen mit der Wagner’schen Richtung zu brechen. Und gerade dieser Umstand ist es, der diese That Nietzsche’s so außerordentlich beachtenswerth macht. Man mag ber die Wagner’sche Kunstrichtung denken, wie man will, so wird man es als keine Kleinigkeit erachten drfen, wenn ein Mann wie Nietzsche sagt: „Niemand war vielleicht gefhrlicher mit der Wagnerei verwachsen, als ich, Niemand hat sich hrter gegen sie gewehrt, Niemand sich mehr gefreut von ihr los zu sein! Wagner gehçrte nur zu meinen Krankheiten, gleich Schopenhauer, gleich der ganzen modernen „Menschlichkeit: mein grçßtes Erlebnis war eine Genesung. Wenn ich mit dieser Schrift den Satz aufrecht halte, daß Wagner
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schdlich ist, so will ich nicht weniger aufrecht halten, wem er trotzdem unentbehrlich ist – dem Philosophen. Diesem steht es nicht frei, Wagner’s zu entraten. Er hat das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein, – dazu muß er deren besten Willen haben. Wo aber fnde er fr das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren Fhrer, einen beredteren Seelensndiger, als Wagner? Durch Wagner redet die Modernitt ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Bçses, sie hat alle Scham vor sich verlernt etc. etc.“ und weiter: „Daß man sich in Deutschland ber Wagner betrgt, befremdet mich nicht: die Deutschen waren noch nie Psychologen; sie sind damit dankbar, daß sie mißverstehen. Aber daß man sich auch in Paris ber ihn betrgt! wo man beinahe nichts Anderes mehr ist als Psychologe. Und in Petersburg! wo man Dinge auch errt, die selbst in Paris nicht erraten werden! – Wie verwandt muß Wagner der gesammten europischen dcadence sein, daß er von ihr nicht als dcadent empfunden wird! Er gehçrt zu ihr: Er ist ihr Protagonist, ihr grçßter Name … Man ehrt sich, wenn man ihn in die Wolken hebt. – Denn daß man nicht gegen ihn sich wehrt, das ist selbst schon ein Zeichen von dcadence. Der Instinkt ist geschwcht. Was man zu scheuen htte, das zieht an. Das Schdliche als schdllich empfinden, sich etwas Schdliches verbieten kçnnen, ist ein Zeichen noch von Tugend, von Lebenskraft.“ „Ich stelle diesen Gesichtspunkt voran: Wagners Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bhne bringt – lauter Hysteriker-Probleme, – das Convulsivische seines Affekts, seine berreizte Sensibilitt, sein Geschmack, der nach immer schrfern Wrzen verlangte, die Instabilitt seines Temperaments, die er zu Prinzipien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als psychologische Typen betrachtet (– eine Kranken-Galerie! –): alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lßt. Wagner est une nevrose. Und damit auch ist Wagner der moderne Knstler par excellence, der Cagliostro der Modernitt. In seiner Kunst ist auf die verfhrerischste Art gemischt, was heute alle Welt am nçthigsten hat, – die drei großen stimulantia der Erschçpften: das Brutale, das Knstliche und das Unschuldige (Idiotische).“ Interessant und zum Nachdenken anregend ist auch folgende Bemerkung Nietzsche’s ber Wagner: „Zum Drama fehlte ihm die harte Logik; er wich instinktiv der psychologischen Motivirung aus, – womit? – damit daß er immer die Idiosynkrasie an deren Stelle rckte … Sehr modern, nicht wahr? sehr pariserisch! Sehr dcadent!“ „Man nehme irgend eine Peripetie, irgend einen „Knoten“ Wagners unter das Mikroskop – man wird dabei zu lachen haben, das verspreche ich. Nichts erheiternder als der Knoten des Tristan, es mßte denn der Knoten der Meistersinger sein. Wagner ist kein Dramatiker, man lasse sich Nichts vormachen. Er liebte das Wort „Drama“: das ist alles – er hat immer die schçnen Worte geliebt. Das Wort „Drama“ in seinen Schriften ist trotzdem nur ein Mißverstndnis ( – und eine Klugheit: Wagner that immer vornehm gegen das Wort Oper“).
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Nach Nietzsche ist der Wagner’sche Musik-Stil auch in der Form eine Entartung des musikalischen Instinktes. „Er hat beinahe entdeckt, welche Magie selbst noch mit einer aufgelçsten und gleichsam elementarisch gemachten Musik ausgebt werden kann. Sein Bewußtsein davon geht bis in’s Unheimliche. Das Elementarische gengt – Klang, Bewegung, Farbe, kurz die Sinnlichkeit der Musik. Wagner rechnet nie als Musiker, von irgend einem Musiker-Gewissen aus: er will die Wirkung, er will Nichts als die Wirkung. Und er kennt das, worauf er zu wirken hat! – Er hat darin die Unbedenklichkeit, die Schiller hatte, die jeder Theatermensch hat; er hat auch dessen Verachtung der Welt, die er sich zu Fßen legt! … Man ist Schauspieler damit, daß man Eine Einsicht vor dem Rest der Menschen voraus hat: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein. Der Satz ist von Talma formuliert: er enthlt die ganze Psychologie des Schauspielers, er enthlt – zweifeln wir nicht daran! – auch dessen Moral. Wagner’s Musik ist niemals wahr. – Aber man hlt sie dafr:- und so ist es in Ordnung.“ „Was bedeutet Wagner fr die Musikgeschichte? – Die Heraufkunft des Schauspielers in der Musik; ein kapitales Ereigniß, das zu denken, das vielleicht auch zu frchten giebt. In Formel: „Wagner und Liszt.“ Noch nie wurde die Rechtschaffenheit der Musiker, ihre „Echtheit“ gleich gefhrlich auf die Probe gestellt. Man greift es mit Hnden: der große Erfolg, der Massen-Erfolg ist nicht mehr auf Seite der Echten, – man muß Schauspieler sein, ihn zu haben! In Niedergangs-Kulturen, berall, wo den Massen die Entscheidung in die Hnde fllt, wird die Echtheit berflssig, nachtheilig, zurcksetzend. Nur der Schauspieler weckt noch die große Begeisterung.“ Sind wir nun durchaus nicht der Ansicht, daß Wagner nicht auch ohne Nietzsche’s Schrift „Die Geburt der Tragçdie“ das geworden wre, was er in der Musik und Kunstgeschichte sein wird, so wird doch Nietzsche’s „Der Fall Wagner“ dazu beitragen, daß die Unmasse von Schwrmern in sich gehen und ihre eignen Ueberzeugungen zu prfen beginnen wird. Nur zu diesem Zwecke mçchten wir nachstehend einige Bemerkungen aus Nietzsche’s Schrift noch mittheilen, weil sie Anschauungen dieses außerordentlich geistreichen und wahren Menschen enthalten, whrend der grçßere Theil seiner Mitbrder vorlufig noch vom geraden Gegentheil berzeugt ist: „Wagner ist ein großer Verderb fr die Musik. Er hat in ihr das Mittel errathen, mde Nerven zu reizen, – er hat die Musik krank gemacht … Man macht heute nur Geld mit kranker Musik; unsere großen Theater leben von Wagner.“ „… Will man mir glauben, so hat man den hçchsten Begriff, Wagner nicht aus dem zu entnehmen, was heute von ihm gefllt. Das ist zur Ueberredung von Massen erfunden, davor springt unsereins wie vor einem allzufrechen Affresco zurck. Was geht uns die agaÅante Brutalitt der Tannhuser-Ouvertre an? Oder der Circus Walkre? Alles, was von Wagner’s Kunst auch abseits vom Theater populr geworden ist, ist zweifelhaften Geschmackes und verdirbt den
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Geschmack. Der Tannhuser-Marsch scheint mir der Biedermnnerei verdchtig; die Ouvertre zum fliegenden Hollnder ist ein Lrm um Nichts; das Lohengrin-Vorspiel gab das erste, nur zu verfngliche, nur zu gut gerathene Beispiel dafr, wie man auch mit Musik hypnotisirt.[ “ ] „Wagner’s Musik, nicht vom Theatergeschmacke, einem sehr toleranten Geschmacke, in Schutz genommen, ist einfach schlechte Musik, die schlechteste berhaupt, die vielleicht gemacht worden ist. Wenn ein Musiker nicht mehr bis drei zhlen kann, wird er ,dramatisch‘, wird er ,Wagnerisch‘“ … Wenn sich Nietzsche in seiner Streitschrift hauptschlich mit Wagner befaßt, so lßt er andere Componisten nicht unbeachtet. Nachstehende Bemerkung ist jedenfalls danach angethan, Aufmerksamkeit zu erregen: „Wenn ich in dieser Schrift Wagnern den Krieg mache – und, nebenbei, einem deutschen Geschmack –, wenn ich fr den Bayreuther Cretinismus harte Worte habe, so mçchte ich am allerwenigsten irgend welchen andern Musikern damit ein Fest machen. Andre Musiker kommen gegen Wagner nicht in Betracht.“ „Was liegt noch an Johannes Brahms! … Sein Glck war ein deutsches Mißverstndniß; man nahm ihn als Antagonisten Wagner’s – man brauchte einen Antagonisten! – Das macht keine nothwendige Musik, das macht vor Allem zu viel Musik! – Wenn man nicht reich ist, soll man stolz genug sein zur Armuth! … Die Sympathie, die Brahms unleugbar hier und da einflçßt, ganz abgesehen von jenem Partei-Interesse, war mir lange ein Rthsel: bis ich endlich, durch einen Zufall beinahe, dahinter kam, daß er auf einen bestimmten Typus von Menschen wirkt. Er hat die Melancholie des Unvermçgens; er schafft nicht aus der Flle, er durstet nach der Flle. Rechnet man ab, was er nachmacht, was er großen alten oder exotischmodernen Stilformen entlehnt – er ist Meister in der Copie –, so bleibt als sein Eigenstes die Sehnsucht… Das errathen die Sehnschtigen, die Unbefriedigten aller Art. Er ist zu wenig Person, zuwenig Mittelpunkt … Das verstehen die „Unpersçnlichen“, die Peripherischen, – sie lieben ihn dafr. In Sonderheit ist er der Musiker einer Art unbefriedigte Frauen“. Ueberall da, wo es sich nicht um allgemein anerkannte Grundstze handelt, ist es sehr schwer, Widerlegungen zu erbringen. Deshalb ist es sehr schwierig mit Nietzsche zu rechten. Ehe es nicht mçglich ist, zu beweisen – nicht nur, daß Nietzsche Unrecht hat – sondern daß er Recht hat, bleibt die gegnerische Ansicht unverwerthet. Wer Recht hat, werden die kommenden Jahrzehnte entscheiden, Nietzsche’s Streitschrift hat aber das Erscheinen der Entscheidung beschleunigt.
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Stahl, Erich [d.i. Conrad, Michael Georg]: Ein Musikanten-Problem. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift. Mnchen, Bd. 5, Nr. 1, Januar 1889, S. 85–92. Ein Musikanten-Problem. Ein Musikanten-Problem – so nennt der Schriftsteller und ehemalige Baseler Universitts-Professor der klassischen Philologie, Herr Friedrich Nietzsche, im Untertitel seine neueste Schrift „Der Fall Wagner“. Man kçnnte sie ebenso zutreffend ein Schriftsteller-Problem und im Haupttitel „Der Fall Nietzsche“ nennen. Die Schrift zerfllt in folgende Teile: Vorwort, Turiner Brief vom Mai 1888 in 12 Stcken, Nachschrift mit Fußnote, zweite Nachschrift, Epilog. In Summa 57 Oktavseiten, sehr elegant gedruckt. Verlag von C. G. Naumann. Man sieht, es ist keine nach irgend einer Schablone gearbeitete Streitschrift. Eher eine Art Abrechnung vom Hundertsten ins Tausendste, oder eine Art Inventarium, Selbstbekenntnisse – was man will. Darauf kommt brigens gar nichts an. Das Thema lautet: Ich, Nietzsche, und Wagner, Wagner und ich und was dazwischen liegt. Und darber 57 Seiten Variationen in allen Tonarten, hçchst geistreich, hçchst paradox, hçchst virtuos. Und boshaft! Also nichts fr Systematiker, Pedanten, Moralisten und andere brave Leute. Nietzsche ist der Schriftsteller der freiesten Geister. Also fast nicht fr heutige Deutsche. „Ich mache mir eine kleine Erleichterung.“ So fngt er an. „Diese Schrift ist, man hçrt es, von der Dankbarkeit inspiriert…“ So hçrt er auf. Von dem, was zwischen Anfang und Ende liegt, einige Proben; zuvor noch die Anmerkung: Nietzsche ist auch in seinen tiefsinnigsten Gedanken der loseste Vogel, in seiner Bosheit die ehrlichste Haut, in seinen Widersprchen der konsequenteste Charakter, in seinen Rcksichtslosigkeiten der vollendete Kavalier. Versteht man das? Ein Problem, nicht wahr? Also! „Mein grçßtes Erlebnis war eine Genesung: Wagner gehçrt bloß zu meinen Krankheiten. – Wagner hat ber nichts so tief wie ber die Erlçsung nachgedacht: seine Oper ist die Oper der Erlçsung. Irgendwer will bei ihm immer erlçst sein: bald ein Mnnlein, bald ein Frulein … Wer lehrte es uns, wenn nicht Wagner, daß die Unschuld mit Vorliebe interessante Snder erlçst? (,Tannhuser‘) Oder daß selbst der ewige Jude erlçst wird, seßhaft wird, wenn er sich verheiratet? (,Fliegender Hollnder‘.) Oder daß alte, verdorbene Frauenzimmer es vorziehn, von keuschen Jnglingen erlçst zu werden? (Kundry,Parsifal‘.) Oder daß schçne Mdchen am liebsten durch einen Ritter erlçst werden, der Wagnerianer ist? (,Meistersinger‘.) Oder daß auch verheiratete Frauenzimmer gerne durch einen Ritter erlçst werden? (,Isolde‘.) Oder daß ,der alte Gott‘, nachdem er sich moralisch in jedem Betracht kompromittiert hat, endlich durch einen Freigeist und Immoralisten erlçst wird? (,Nibelungenring‘.)
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Daß es von den schlimmsten Folgen sein kann, wenn man nicht zur rechten Zeit zu Bett geht; daß man nie zu genau wissen soll, mit wem man sich eigentlich verheiratet? (,Lohengrin‘.) Tristan und Isolde verherrlichen den vollkommenen Ehegatten der, in einem gewissen Falle, nur Eine Frage hat: „Aber warum habt ihr mir das nicht eher gesagt? Nichts einfacher als das!“ „Man kennt das Schicksal Goethes im moralinsauren altjungferhaften Deutschland. Er war den Deutschen immer anstçßig, er hat ehrliche Bewunderer nur unter Jdinnen gehabt. Schiller, der ,edle‘ Schiller, der ihnen mit großen Worten um die Ohren schlug – der war nach ihrem Herzen. Was warfen sie Goethe vor? Den ,Berg der Venus‘, und daß er venetianische Epigramme gedichtet habe. Schon Klopstock hielt ihm eine Sittenpredigt; es gab eine Zeit, wo Herder, wenn er von Goethe sprach, mit Vorliebe das Wort ,Priap‘ gebrauchte. Selbst der Wilhelm Meister galt nur als Symptom des Niedergangs, als moralisches Auf-den-Hund-kommen – Vor allem aber war die hçhere Jungfrau empçrt: alle kleinen Hçfe, alle Art ,Wartburg‘ in Deutschland bekreuzte sich vor Goethe, vor dem ,unsauberen Geist‘ in Goethe. Diese Geschichte hat Wagner in Musik gesetzt. Er erlçst Goethe, das versteht sich von selbst, aber so, daß er mit Klugheit zugleich die Partei der hçheren Jungfrau nimmt. Goethe wird gerettet: – ein Gebet rettet ihn, eine hçhere Jungfrau zieht ihn hinan …Was Goethe ber Wagner gedacht haben wrde? – Goethe hat sich einmal die Frage vorgelegt, was die Gefahr sei, die ber allen Romantikern schwebe, das Romantiker-Verhngnis. Seine Antwort ist: ,Um Wiederkuen sittlicher und religiçser Absurditten zu ersticken.‘ Krzer: ,Parsifal‘. – “ Weiter! Fr Nietzsche, der von sich aussagt: „Wagnern den Rcken zu kehren, war fr mich ein Schicksal; niemand war vielleicht gefhrlicher mit der Wagnerei verwachsen, niemand hat sich hrter gegen sie gewehrt, niemand sich mehr gefreut, von ihr los zu sein“ – fr Nietzsche ist „Wagner der Knstler der Dkadenze [sic] – da steht das Wort.“ „Wagners Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bhne bringt, lauter Hysteriker-Probleme, das Konvulsivische seines Affekts, seine berreizte Sensibilitt, sein Geschmack, der nach immer schrferen Wrzen verlangte, seine Instabilitt, die er zu Prinzipien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, tiefe als physiologische Typen betrachtet: Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lßt. Wagner est une nevrose. Nichts ist vielleicht heute besser bekannt, Nichts jedenfalls besser studiert, als der Proteus-Charakter der Degenereszenz, der hier sich als Kunst und Knstler verpuppt. Unsere rzte und Physiologen haben in Wagner ihren interessantesten Fall, zum mindesten einen sehr vollstndigen. Gerade, weil nichts moderner ist, als diese Gesamterkrankung, diese Sptheit und berreiztheit der nervçsen Maschinerie, ist Wagner der moderne Knstler par excellence, der Cagliostro der Modernitt. Zu seiner Kunst ist auf die verfhreri-
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scheste Art gemischt, was heute alle Welt am Nçtigsten hat, – die drei großen Stimulantia des Erschçpften: das Brutale, das Knstliche und das Unschuldige (Idiotische). Wagner ist ein großer Verderb fr die Musik. Er hat in ihr das Mittel erraten, mde Nerven zu reizen! Er ist der Meister hypnotischer Griffe, er wirft die Strksten noch wie Stiere um.“ „Bei Wagner steht im Anfang die Halluzination: nicht von Tçnen, sondern von Gebrden. Zu ihnen sucht er erst die Ton-Semiotik. Will man ihn bewundern, so sehe man ihn hier an der Arbeit: wie er hier trennt, wie er kleine Einzelheiten gewinnt, wie er diese belebt, heraustreibt, sichtbar macht. Aber daran erschçpft sich seine Kraft: der Rest taugt nichts. Wie armselig, wie verlegen, wie laienhaft ist seine Art, zu ,entwickeln‘, sein Versuch, das was nicht auseinander gewachsen ist, wenigstens durcheinander zu stecken! … Er setzt ein Prinzip an, wo ihm ein Vermçgen fehlt… Bewunderungswrdig, liebenswrdig ist er nur in der Erfindung des kleinsten, in der Ausdichtung des Details“ – hier erkennt ihn Nietzsche als einen Meister ersten Ranges an, „als unsern grçßten Miniaturisten in der Musik“, nach welchem „Einem hinterdrein fast alle andern Musiker zu robust vorkommen.“ „Vom Magnetiseur und Affresko-Maler Wagner abgesehen, gibt es noch einen Wagner, der kleine Kostbarkeiten zur Seite legt: unsern grçßten Melancholiker der Musik, voll von Blicken, Zrtlichkeiten und Trostworten, die ihm Keiner vorweggenommen hat, den Meister in Tçnen eines schwermtigen und schlfrigen Glcks … Ein Lexikon der intimsten Worte Wagners, lauter kurze Sachen von fnf bis fnfzehn Takten, lauter Musik, die niemand kennt … Wagner hatte die Tugend der Dkadenze, das Mitleiden. –“ Aber, meint Nietzsche, sein ungeheuerer Einfluß kommt eben doch ganz wo anders her. Wagner, „das erstaunlichste Theater-Genie, das die Deutschen gehabt haben“, „wurde Musiker, wurde Dichter, weil der Tyrann in ihm, sein Schauspieler-Genie ihn dazu zwang. Man errt nichts von Wagner, so lange man nicht seinen dominierenden Instinkt erriet.“ Musiker von Instinkt war er nicht. Er hat sein Leben lang den Satz wiederholt, daß seine Musik nicht nur Musik bedeute. „,Nicht nur Musik‘ – so redet kein Musiker.“ Ließe man gelten, „Musik drfe unter Umstnden nicht Musik, sondern Sprache, sondern Werkzeug, sondern ancilla dramaturgica sein,“ so drfte mans anerkennen: „er hat das Sprachvermçgen der Musik ins Unermeßliche vermehrt.“ „Wenn ein Musiker nicht mehr bis drei zhlen kann, wird er ,dramatisch‘ wird er ,Wagnerisch‘.“ „Auch im Entwerfen der Handlung ist Wagner vor allem Schauspieler. Was zuerst ihm aufgeht, ist eine Szene von unbedingt sßer Wirkung, eine wirkliche Actio mit einem Hochrelief der Gebrde, eine Szene, die umwirft – diese denkt er in die Tiefe, aus ihr zieht er erst die Charaktere. Der ganze Rest folgt daraus.“ „Man weiß, bei welchem technischen Problem der Dramatiker alle seine Kraft ansetzt und oft Blut schwitzt: dem Knoten Notwendigkeit zu geben und ebenso der Lçsung, so daß Beide nur auf eine einzige Art mçglich sind.“ Und nun vergleiche man die „Knoten“ Wagners – „er ist kein
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Dramatiker!“ Er urteilt wie der Schauspieler: eine Reihe starker Szenen, eine strker als die andere. Wagner bedeutet nach Nietzsche „Die Heraufkunft des Schauspielers in der Musik.“ „Viktor Hugo und Richard Wagner – sie bedeuten Ein und Dasselbe: daß in Niedergangs-Kulturen, daß berall, wo den Massen die Entscheidung in die Hnde fllt, die Echtheit berflssig, nachteilig, zurcksetzend wird. Nur der Schauspieler weckt noch die große Begeisterung.“ Der Verfasser formt seine Forderungen in die folgenden drei Stze: „Daß das Theater nicht Herr ber die Knste wird. Daß der Schauspieler nicht zum Verfhrer des Echten wird. Daß die Musik nicht zu einer Kunst zu lgen wird.“ Man glaube nicht, daß mit diesen Stichproben etwa eine erschçpfende Inhaltsangabe gegeben sei. Nicht einmal die ber das Ganze zerstreuten rein sachlichen, auf das Musikanten-Problem bezglichen Punkte sind damit zu einer einigermaßen vollstndigen Linie geordnet. Und erst was unausgesprochen zwischen den Zeilen steht! Damit der Leser – welcher Leser? – recht begierig auf die Schrift selbst werde, setze ich noch einige Aphorismen her. „Wenn es Anzeichen dafr giebt, daß, trotz dem Gesamtcharakter der europischen Dekadenz, noch ein Grad Gesundheit, noch eine Instinkt-Witterung fr Schdliches und Gefahrdrohendes im deutschen Wesen wohnt, so mçchte ich unter ihnen am wenigsten diesen dumpfen Widerstand gegen Wagner unterschtzt wissen. Er macht uns Ehre, er erlaubt selbst zu hoffen: so viel Gesundheit htte Frankreich nicht mehr aufzuwenden. Die Deutschen, die Verzçgerer par excellence in der Geschichte, sind heute das zurckgebliebenste Kulturvolk Europas: dies hat seinen Vorteil, – eben damit sind sie relativ das jngste.“ „Die Anhngerschaft an Wagner zahlt sich teuer. Messen wir sie an ihrer Wirkung auf die Kultur. Wen hat eigentlich seine Bewegung in den Vordergrund gebracht? Was hat sie immer mehr ins Große gezchtet? – Vor Allem die Anmaßung des Laien, des Kunst-Idioten … Zuzweit: eine immer grçßere Gleichgltigkeit gegen jede strenge, vornehme, gewissenhafte Schulung im Dienste der Kunst; an ihre Stelle gerckt den Glauben an das Genie, auf deutsch: den frechen Dilettantismus. Zudritt und zuschlimmst: die Theatrokratie, den Aberwitz eines Glaubens an den Vorrang des Theaters, an ein Recht auf Herrschaft des Theaters ber die Knste, ber die Kunst… Aber man soll es den Wagnerianern hundertmal ins Gesicht sagen, was das Theater ist: immer nur ein Unterhalb der Kunst, immer nur etwas Zweites, etwas Vergrçbertes, etwas fr die Massen Zurechtgebogenes, Zurechtgelogenes! … Das Theater ist eine Form der Demokratie in Sachen des Geschmackes, das Theater ist ein Massenaufstand, ein Plebiszit gegen den guten Geschmack … Die Anhngerschaft an Wagner zahlt sich teuer. Ich beobachte die Jnglinge, die lange seiner Infektion ausgesetzt waren … Der Jngling wird zum Mondkalb – zum „Idealisten“. Er schreibt Bayreuther Bltter; er lçst alle Probleme im Namen des
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Vaters, des Sohnes und des heiligen Meisters … Man gehe nachts durch eine grçßere Stadt: berall hçrt man, daß mit feierlicher Wut Instrumente genotzchtigt werden – ein wildes Geheul mischt sich dazwischen. Was geht da vor? Die Jnglinge beten Wagner an … Bayreuth reimt sich auf Kaltwasserheilanstalt… Wagner ist schlimm fr die Jnglinge; er ist verhngnisvoll fr das Weib. Was ist, rztlich gefragt, eine Wagnerianerin? – Wagner hat das Weib erlçst; das Weib hat ihm dafr Bayreuth gebaut. Ganz Opfer, ganz Hingebung: man hat nichts, was man ihm nicht geben wrde. Das Weib verarmt sich zugunsten des Meisters, es wird rhrend, es steht nackt vor ihm. Die Wagnerianerin – die anmutigste Zweideutigkeit, die es heute giebt … Ah, dieser alte Ruber! … Ah, dieser alte Minotaurus! Alljhrlich fhrt man ihm Zge [sic] der schçnsten Mdchen und Jnglinge in sein Labyrinth; damit er sie verschlinge, – alljhrlich intoniert ganz Europa ,Auf nach Kreta! auf nach Kreta!‘“ Und nun glauben wohl unsere landlufigen Anti-Wagnerianer, daß sie Nietzsche als einen der Ihrigen an die Brust drcken und aus seinem Munde das Lob der von ihm kanonisierten anderen Musiker verknden hçren drfen? Der Wahn ist kurz! In der zweiten Nachschrift steht zu lesen: „Wenn ich in dieser Schrift Wagnern den Krieg mache – und nebenbei einem deutschen ,Geschmack‘ –, wenn ich fr den Bayreuther Kretinismus harte Worte habe, so mçchte ich am allerwenigsten irgend welchen anderen Musikern damit ein Fest machen. Andere Musiker kommen gegen Wagner nicht in Betracht … Was heute berhmt ist, macht im Vergleich mit Wagner nicht bessere Musik, sondern nur unentschiedenere, sondern nur gleichgltigere: – gleichgltigere, weil das Halbe damit abgethan ist, daß das Ganze da ist. Aber Wagner war ganz; aber Wagner war die ganze Verderbnis; aber Wagner war der Mut, der Wille, die berzeugung in der Verderbnis …“ Und dann leuchtet Nietzsche dem Antagonisten Wagners Johannes Brahms und seinen Brahminen heim! Und dem „klugen Affen Wagners“, Goldmark! „Mit der ,Kçnigin von Saba‘ gehçrt man in die Menagerie, – man kann sich sehen lassen.“ Also giebt es keine Rettung? Dekadenz auf der ganzen Linie? Nein, es giebt keine Rettung. „Der beste Unterricht, die gewissenhafteste Schulung, die grundstzlichste Intimitt, ja selbst Isolation in der Gesellschaft der alten Meister – das bleibt alles nur palliativisch, strenger geredet, illusorisch, weil man die Voraussetzung dazu nicht mehr im Leibe hat, sei dies nun die starke Rasse eines Hndel, sei es die berstrçmende Animalitt eines Rossini … Was wir bestenfalls noch erleben drfen, sind Ausnahmen. Von der Regel, daß die Verderbnis obenauf, daß die Verderbnis fatalistisch ist, rettet die Musik kein Gott.“ Was dann?
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„Jede Zeit hat in ihrem Maß von Kraft ein Maß auch dafr, welche Tugenden ihr erlaubt, welche ihr verboten sind. Entweder hat sie die Tugenden des aufsteigenden Lebens: dann widerstrebt sie aus unterstem Grunde den Tugenden des niedergehenden Lebens. Oder sie ist selbst ein niedergehendes Leben, – dann bedarf sie auch der Niedergangs-Tugenden, dann haßt sie Alles, was aus der Flle, was aus dem berreichtum an Krften allein sich rechtfertigt. Die sthetik ist unlçslich an diese biologischen Voraussetzungen gebunden: es giebt eine Dekadenz-sthetik, es giebt eine klassische sthetik, – ein ,Schçnes an sich‘ ist ein Hirngespinnst wie der ganze Idealismus!“ Nun sucht Nietzsche den Zusammenhang zwischen Dekadenz-sthetik und Sklavenmoral (Christentum, ganz und gar auf morbidem Boden gewachsen), klassischer sthetik und Herrenmoral (rçmisch, heidnisch, klassisch, Renaissance) herzustellen, in letzterer die Linie des aufsteigenden Lebens nachzuweisen und schließlich den „Begriff des Modernen“ als Mischmasch, Widerspruch, Sitzen zwischen zwei Sthlen, Bejahung und Verneinung in Einem Atemzug anzunageln. Diese falsche, verlogene Wirtschaft habe ihren hçchsten knstlerischen Ausdruck in der Wagnerei gefunden. Und so weiter! Es werden nun allerlei Leute aufstehen in deutschen Landen und gegen diesen dmonischen Wagnerfeind, der in seiner Jugend der engelreinste Wagnerfreund gewesen ist und fr das Musikdrama und die Bayreuther Festspiele die glhendsten und tiefsinnigsten Bcher geschrieben hat, mit allerlei Waffen zu Felde ziehen. Was werden sie ihm, dem „arg bçsen Feind“, nicht alles vorrcken! Was werden sie nicht alles ersinnen, ihn zu widerlegen, des Irrtums und frivolen Widerspruchs zu berfhren! Ganz umsonst. Eine Empfindung widerlegt man nicht. Einen Gefhlsumschlag, eine Gedankenwende fhrt man nicht mit Prinzipien und Regeln auf andere Wege. Einmal war Nietzsche ebenso fr Schopenhauer wie er fr Wagner war. Heute ist er gegen beide. Sie resmieren ihm die moderne Kultur. Er ist gegen die Kultur. Er ist gegen Zeit und Menschlichkeit. Er ist nur fr sich, Nietzsche fr Nietzsche. Wer weiß, wie lange noch? Dann lacht Nietzsche sich selber aus, befehdet sich, verhçhnt sich, Nietzsche schreibt gegen Nietzsche. Das aber ist fr uns zunchst die Hauptsache: daß er schreibt! Der Schriftsteller Nietzsche ist fr die deutsche Litteratur ein „Glcksfall “. Als Schriftsteller ist er ein kostbares Nationalgut. Seine Schriften sind so unverwstlich wie die Partituren Wagners. Er kann wie Wagner, wie alles Außerordentliche, Ungemeine nur mit sich selbst verglichen, nur als exzeptionelle Geisteskraft gewrdigt werden. Die Formel fr sein Eigenwesen?
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Der geistesaristokratische Nihilismus von so hoher Genialitt, wie ihn die deutsche Litteratur bisher noch nicht erlebt. „Da steht das Wort.“ Reaktionen Michael Georg Conrad an N, 2. 1. 1889: „hoffentlich zrnen Sie mir nicht, daß ich mir erlaubt habe, Ihnen Namens der Redaction das Januarheft der ,Gesellschaft‘ vorzulegen.In dieser Zeitschrift sind auch ihre beiden dem ,Fall Wagner‘ vorausgegangenen Werke besprochen und dem p.t. Publikum gebhrend eingerieben worden.“ KGB III/6, Bf. 646, S. 414
Anonym: Concertberichte Wien. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 20, Nr. 6 vom 31. 1. 1889, S. 66. Was die Rolle der Carmen anbelangt, so gab sie die entlaufene Zuchthuslerin (F. Nietzsche’s neuestes Ideal) allerdings nicht mit der diabolischen Pikanterie, wie Frau Lucca, dafr hat sie aber die Partie gleichsam veredelt, und endlich – wenn man schon Carmen anhçren muss – wie wohl that es Einem, in derselben einmal eine jugendliche Carmen zu hçren. Freilich 20 Mal, ja selbst nur 2 Mal hintereinander vermçchte uns auch Frl. Renard nicht in Bizet’s „Meisterstck“ zu locken; diese seltsame Passion mssen wir wieder Hrn. Nietzsche allein lassen.
Wirth, Moritz: Friedrich Nietzsches Musikanten-Problem und seine Auflçsung. In: Centralblatt fr Musik. Leipzig, Bd. 2, Nr. 5/6, 1889, S. 41–45. Friedrich Nietzsches Musikanten-Problem und seine Auflçsung. Von Moritz Wirth-Leipzig. Das Problem, das Friedrich Nietzsche in seinem „Fall Wagner“ aufgestellt hat und gelçst zu haben glaubt, ist bisher niemandem zu sonderlichem Ruhme gediehen. Nicht seinem Urheber, obwohl dieser natrlich anderer Meinung ist, was sich von selbst versteht, auch wenn er nicht der riesenhafte Mann wre, welcher „wçrtlich gesagt“, d. h. von ihm selbst ber sich gesagt (Kunstwart, 2. Jahrg., 6. Stck, S. 89), „das Schicksal der Menschen zu tragen“ hat. Fr diesen Herkules war Wagner mitsamt der ganzen Schleppe ihm anhngender Kultur-
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bewegung nur ein Zwerglein, das ihm zwischen den Fssen herumquirlte. Er hat es zertreten, wie er einen jener guten oder schlechten Witze macht, die ihm seine „ungeheure“ Arbeit erleichtern. Ebensowenig war dieses Problem etwas fr unsere Herren Kritiker. Sie klaubten die Rosinen von N.s Einfllen aus N.s Kuchen, knabberten mit allerhand billigen Hindeutungen auf Kaltwasserheilanstalten, auf ein abflliges Urteil Wagners ber ein Musikdrama N.s u. dgl. m. am Rande herum, fanden aber keiner den Mut, sich zum Bohnenkçnig des einzig zutreffenden Wortes hindurchzuessen. Die kritische Ohnmacht ging bis zu dem unverhohlenen Gestndnisse, dass man mit dem Bchelchen nichts anzufangen wisse und den Leser seinem eigenen „Zusehen“ berlasse (Frankf. Ztg. 24. XI. 1888). Drfen wir uns wundern, wenn sich N. nach jedem solchen bei ihm einlaufenden Armutszeugnisse um einige Zoll wachsen gefhlt haben wird: „sublimi feriam sidera vertice“, wie wir Lateiner sagen? Der Verfasser des Musikantenproblems kann nmlich auch Latein und versumt es nicht, gelegentlich seine „Bildung“ vor uns auszulften. Freilich: „es ist dafr gesorgt, dass die Bume nicht in den Himmel wachsen“, sagt das deutsche Sprichwort. Versuchen jetzt wir einmal unser Glck gegen N. Wir werden seinem Problem nur dadurch beikommen, dass wir es in seine Teile zerlegen. Die erste grosse Scheidung, die wir vorzunehmen haben, ist die des „Falles Wagner“ von dem „Fall Nietzsche“. Wir beginnen also da, wo die anderen, besonders die Wagnerianer unter N.s Kritikern, bereits aufhçrten. In den eben erwhnten Andeutungen wird N. von ihnen einer moralischen oder physischen Stçrung seines Urteiles bezichtigt; mit andern Worten: es wird ein „Fall N.“ verkndigt und zur Unschdlichmachung des „Falles Wagner“ benutzt. Die Unterfrage, wie man sich fernerhin zu N.s „Richard Wagner in Bayreuth“ (Leipzig, E. W. Fritzsch. 1876, Preis 2.40 M.) zu stellen habe, ist damit zugleich erledigt. Nur dieser erste N. ist der wahre N.; es war also kein Reinfall, dass „wir“ seine Schrift bisher als eine der besten, womçglich als die beste, ber Wagner und seine Sache gepriesen und empfohlen haben. Ob „wir“ dies auch fernerhin mit demselben Eifer thun werden, steht vorlufig dahin. Vorsicht ist die Mutter auch des Bayreuther Porzellanschrankes. Neben dieser ersten geht eine zweite Auffassung unseres Falles einher, welche in dem engeren Bayreuther Kreise zu Hause und auf mndliche Verbreitung beschrnkt zu sein scheint. Hiernach soll N., sagt man jetzt, niemals, auch nach jener ersten, ausschliesslich von Wagner handelnden Schrift nicht, in Bayreuth so recht als vollgltiger Wagnerianer betrachtet worden sein. Diese Art, sich mit N. abzufinden, gewhrt die Befriedigung, N. noch grndlicher als mittelst jener vor die Thr zu setzen, und ist berdies gar nicht so unwahrscheinlich. Die „Echten“, die bereits das Denken vergassen, wenn Wagner nur redete (Wagnerjahrbuch, I, 89), mçgen zeitig genug ein dunkles Grauen vor N.
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empfunden haben. Wie wre wohl fr sie die stolze und freie Art etwas gewesen, mit welcher „Wagner in Bayreuth“ gleichwie ein wunderbares Naturerzeugnis von allen Seiten und bis in seine Eingeweide hinein „betrachtet“ wird? Ob man sich das aber schon damals, wo N. noch mit Wagner in derselben Kutsche fahren durfte (Nietzsche, Wagner in Bayreuth, S. 7)269, so offen eingestanden haben mçchte? Vielleicht ebensowenig, als man sich jetzt der Schwachkçpfigkeit bewusst zu sein scheint, dass man einem auf Tod und Leben gehenden Angriff damit begegnet, dem ehemaligen Genossen ein anderes Zettelchen aufzukleben. Und doch hatten sie, wenn auch aus verkehrten Grnden, ber N. eine ganz richtige Witterung, die guten Treueriecher und Echtheitsschnffler von Bayreuth. Durch das, was wir inzwischen ber Wagner hinzugelernt haben, ist N.s erste Schrift in eine hçchst eigentmliche Beleuchtung gerckt worden. Sie ist, bis auf wenige Punkte, nicht etwa veraltet, so dass sie noch heute als vielleicht das Beste, was wir ber Wagner besitzen, jedem hçher Gebildeten aufs dringendste empfohlen werden kann; aber sie trgt auch schon in breitester Entfaltung alle Grundlagen fr den Umschlag von N.s Stimmung und Urteil in sich. Erst von ihr aus vermçgen wir die neue Verçffentlichung ganz zu begreifen und zurckzuweisen; aber wir mssen, um den Gang von jener gegen diese hin zu thun, zuvor noch ein Schwereres vollbracht haben: uns selbst richtig zu erkennen. Dann erst werden wir N, die Schlussverbeugung, die er heute Wagner macht, zurckgeben (II, 57). Seine beiden Schriften sind unser merkwrdigstes Besitztum, denn sie besttigen uns unsere Selbsterkenntnis in deren „lehrreichstem Falle“. Ich hoffe, N. soll finden, dass auch ich im folgenden „von der Dankbarkeit inspirirt“ bin … N. bewhrt seine Glcksfallnatur fr uns, indem sein Problem sich zu entfalten beginnt. Erstes Unterproblem: „Richard Wagner in Bayreuth.“ Wie kann, heisst also hier die Frage, diese selbe Schrift das beste Preis- und Werbelied auf und fr Wagner sein, und zugleich die Grundlage der bitterbçsesten Feindschaft N.s gegen ihn? Antwort: jenes gilt fr N.s Leser, dieses fr ihn. Und wie das? Glaubte vielleicht N. selbst nicht an das, wovon er andere so siegreich berzeugt? Gewiss, er glaubte daran, aber mit unzureichenden Grnden. Seine Begeisterung ersetzte mehr, als gut war, die Mngel der Beweisfhrung. Jene verdunstete, diese blieben und in die Lcken streute der bçse Feind seinen Samen. Und liesse das keine Anwendung auf uns zu? N.s Schrift wre zwar vorzglich geeignet, uns fr Wagner zu gewinnen, aber nicht ebenso, uns bei ihm festzuhalten? Ein neues Problem! Davon spter. 269 Diese Schrift soll im Verlaufe des Aufsatzes immer durch Vorsetzung einer „I“ vor die Seitenzahl bezeichnet werden; dagegen N.s zweite ausschliessliche Wagnerschrift „der Fall Wagner“ durch Vorsetzung einer „II“.
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Und Folgendes! Wenn das Geheimnis von N.s Wagnerianerthum darin besteht, ein berunvollstndiger Induktionsschluss gewesen zu sein, warum ergnzte ihn sein Verfasser nicht, als er sich dessen bewusst wurde? Vermochte Wagner etwa nicht, ihm die fehlenden Glieder zu liefern, war er zu arm dazu? Aber dann htte ja N. recht mit seinem Angriffe auf ihn. Der Fehler liegt jedoch wirklich wo anders: an N. selbst, in dem Geheimnisse seines Antiwagnerianerthums. Schon wieder ein Problem? Bleiben wir zunchst bei „Richard Wagner in Bayreuth“ und erlutern wir uns die Sache durch Beispiele. N. bespricht in dieser Schrift die bekannte Thatsache, dass Wagners dramatische Musik etwas bedeute: Empfindungen, Gefhle, Leidenschaften, die entweder im Innern der Personen verbleiben, oder sich noch nebenher durch Sprache und Gebrde kund geben. Er rhmt Wagner als vollendeten Kenner und tonmchtigen Abschilderer des ganzen seelischen Gebietes, der, weil er nicht glaube, dass es etwas Stummes geben msse, alles Sichtbare der Welt zum Hçrbaren vertiefen wolle; der jedes Ding, jeden Vorgang in der Natur mit einer streng individualisierten Leidenschaft begabe und ihm seine verlorene Seele zurckverleihe; der endlich auf diese Weise jeden Vorgang seines Dramas von innen heraus erleuchte und mit der hçchsten Verstndlichkeit mitteile (I. 47, 73, 75, 76, 79). Was uns N. hier sagt, war schon 1876 nicht mehr neu; wie er es im einzelnen sagt, htte uns noch eine zweite Zustimmung dafr ablocken kçnnen: aber eine Frage ist whrend dieser ganzen Zeit noch immer vergessen worden: mit welchem Rechte Derartiges gesagt werden darf ? Man berlege doch einmal die Tragweite der Behauptung: jeder Vorgang, jede seelische Regung solle in genau unterschiedener Weise musikalisch wiedergegeben werden. Oder, um sich die Sache noch deutlicher zu machen, kehre man, wie auch N. thut (I, 47), das Verhltniss um: jeder musikalische Vorgang solle auf ein bestimmtes, nur ihm zugehçriges seelisches oder physisches, wenn auch noch so unmerkliches und rasch vorbergehendes Geschehnis gedeutet werden. Man werfe einen Blick auf die Menge der Leitmotive und sonstigen Figuren, auf die Mannigfaltigkeit der Akkorde und Harmoniefolgen, auf die Mçglichkeiten der Instrumentation. Welche Aufgabe, fr jede einzelne dieser ungezhlten Bildungen und ihrer wechselseitigen Kreuzungen eine scharf abgegrnzte Empfindung nachzuweisen. Und doch msste dies wenigstens in einem gewissen grçsseren Umfange geschehen sein, um von Wagners Musik in der Weise N.s reden zu drfen. Dass zu diesem Zwecke die landlufigen paar Hinweisungen auf einige Motive, dasjenige Loges, der Riesen, der Rheinwogen u.s.w. nicht ausreichen, drfte klar sein. Soviel versteht selbst jeder gegnerische Zeitungsschreiber von Wagners musikalischer Theorie, und fhlt ihm die Bedeutung gerade dieser Motive nach. Ebensowenig gengt es, sich auf blosse Aussprache Wagners zu berufen, so sehr sie auch einzig nur in diesem Sinne zu verstehen sein mçchten; als z. B. dass der Ausdruck der Gesichtsmienen durch das alles verdeutlichende und unmittelbar
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redende harmonische Tonspiel mehr als ersetzt werde (Ges. Schr. X, 387. 388); oder die Bemerkungen in dem Aufsatze „Ueber die Anwendung der Musik auf das Drama“ (Ges. Schr. X). Man muss, um die Berechtigung solcher Aussprche sogar von seiten eines Wagner anzuerkennen, schon Erklrungsversuche hinter sich haben, wie den in Nr. 1 des 2. Bds. dieser Zeitschrift, oder den in Nr. 30 – 39 des Musikal. Wochenblattes, 1884, von mir angestellten. Solche Arbeiten bringen uns den Sinn jener Forderungen Wagners berhaupt erst recht zum Bewusstsein, indem sie zugleich deren Durchfhrbarkeit beweisen. Meinerseits bin ich also bereit, N.s Ausfhrungen ber Wagners Musik Wort fr Wort und im Hinblick auf ihre ganze Tragweite zu unterschreiben. Der Musiker Wagner konnte gar nicht zutreffender geschildert werden, als dies durch N. in der oben angedeuteten Weise geschehen ist. Allein von dieser Thatsache ist doch sehr die Frage zu unterscheiden, mit welchem Rechte N. jene Schilderung entwarf. Gewissenhafterweise nur auf Grund hnlicher Untersuchungen, wie die meinigen; aber leider drfte dem nicht so gewesen sein. N. htte dann erstens unmçglich zu seiner gegenwrtigen Ansicht ber Wagners Musik gelangen kçnnen, worber noch zu sprechen sein wird. Und er htte zweitens in einem weit leichteren und einfacheren Falle sich in der Kenntnis Wagnerscher Werke nicht so bedenkliche Blçssen geben drfen, wie wir dies sofort sehen werden. Der Rckschluss auf die ungleich schwierigere Beurteilung der Wagnerschen Musik liegt nahe.
Anonym [Portig, Gustav]: Der Fall Wagner. In: Bltter fr literarische Unterhaltung. Leipzig, Nr. 6 vom 7. 2. 1889. S. 89 f. Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem von Friedrich Nietzsche. Zweite Auflage. Leipzig C. G. Naumann, 1888, Gr. 8. 1 M. 50 Pf. Ich begreife vollstndig, wie diese Broschre sehr schnell eine zweite Auflage erleben konnte. „Mit Erstaunen und mit Grauen lesen’s die Ritter und Edelfrauen“ der großen Wagner-Gemeinde: derjenige, welcher einst die holde Muse des „Meisters“ als Kçnigstochter schwrmerisch umworben hat, strzt sich hier hinab in den Strudel der Wagner’schen Allkunst und bringt herauf – nicht einen goldenen Becher, sondern ein Ungeheuer, gegen welches der wasserdampfsprhende Drache im „Siegfried“ nur ein Spielzeug ist! Friedrich Nietzsche war einst ein begeisterter Wagner-Apostel und schrieb als solcher das mehrfach aufgelegte Werk „Die Wiedergeburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“;
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selbst ein so sehr nach Objectivitt strebender Kritiker wie Hugo Riemann270 sagt ber diese Schrift: „Sie gehçrt zu denen, welche den Knstler so in phantastischen Nebel hllen, daß er zum Gott wird.“ Jetzt thut Nietzsche Buße in Sack und Asche fr die damals begangene literarische Snde und bezeichnet offen seinen frhern Wagner-Cultus als eine Krankheit, von welcher er sich endlich freigemacht habe. Es wre nun kaum etwas dagegen einzuwenden, daß aus dem Paulus wieder ein Saulus wrde, wenn der Verfasser sich von seiner „Wagnerkrankheit“ vçllig frei gemacht htte. Das ist aber leider nicht der Fall. Wollte er sich selbst kritisch kreuzigen, so mußte er unbedingt in streng sachlicher Weise verfahren, durchaus gerecht sein und die ihm anstçßigen Seiten Wagner’s mit vornehm edler Wissenschaftlichkeit beleuchten. Dann wre gerade in seinem Munde die stattgehabte innere Wandlung um so wirkungsvoller geworden. Anstatt dessen aber verfllt er in das Extrem des Tadels oder vielmehr des Hohns, wie er einst dem entgegengesetzten Extrem des Enthusiasmus gehuldigt hatte; er redet in einer so giftigen, vor allem so endlos abgerissenen, zerhackten Sprache, in so zugespitzten Wendungen, daß sein Buch genau das in Worten ist, was er so sehr bekmpft, nmlich „unendliche Melodie“ (im Wagnerschen Sinne). Ich beklage diese Maßlosigkeit in der Form umso mehr, als dadurch der Erfolg des Schriftchens von Nietzsche nur beeintrchtigt werden kann. Erfreulich sind mir einige Gedanken bei Nietzsche, welche ich schon lange vor seiner Bekehrung vertreten habe; aber es wre mir lieber, wenn sie in anderer Umgebung, mit grçßerer Bescheidenheit vorgetragen worden wren. Sehr richtig, obwol leider nur dem durchgebildeten Musiker oder Aesthetiker verstndlich, sind folgende Stze: Es ist leichter, gigantisch zu sein als schçn, nichts ist bei Wagner compromittirender als der musikalische Gedanke…. Wagner hat das Sprachvermçgen der Musik in das Unermessliche vermehrt; aber er hat seine Unfhigkeit zum organischen Gestalten in ein Princip verkleidet…. Wagner will nichts als die Wirkung und hat beinahe entdeckt, welche Magie selbst noch mit einer aufgelçsten und gleichsam elementarisch gemachten Musik ausgebt werden kann.
270 Vgl. Riemann, Hugo: Musik-Lexikon. Leipzig, 2. Aufl. 1884, S. 633. Abdruck im Kapitel zur Geburt der Tragçdie.
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Anonym: Der Fall Wagner. In: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte. Braunschweig, Bd. 33, Nr. 391 vom April 1889, S. 135. Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem von Friedrich Nietzsche (Leipzig, C. G. Naumann.) Es muß auch solche Kuze geben, wird mancher sagen, wenn er dieses seltsame Werk des „Philosophen“ liest, der auf Seite 48 von sich selber sagt: „ich habe den Deutschen die tiefsten Bcher gegeben, die sie berhaupt besitzen – Grund genug, daß die Deutschen kein Wort davon verstehen …“ Nachdem der Verfasser in Nr. 1 seiner „Briefe“ erzhlt, daß er Bizets Meisterwerk Carmen zum zwanzigstenmal gehçrt und nur diesen Orchesterklang noch vertragen kann, beginnt er seinen Feldzug gegen den anderen Orchesterklang, den Wagnerschen, der ihm „brutal, knstlich und „unschuldig“ zugleich ist“. Wagner ist der „Knstler der Decadence“ – „er hat die Musik krank gemacht“ – er bedeutet die „Heraufkunst des Schauspielers in der Musik“ – die Bayreuther Idee in ihrer Ausfhrung ist ein „Cretinismus“ u.s.w. Feinden und Freunden Wagners sei das Bchlein als „amsante“ Unterhaltung empfohlen; Freunde wird es sich selber kaum bei beiden verschaffen. Wie schade, daß Wagner selber dieses „Musikantenproblem“ nicht mehr erlebt hat: vielleicht gbe es dann noch neben seinen „Meistersngern“ eine deutsche Oper, die „Meisterdenker“.
Anonym: Friedrich Nietzsche. In: Musikalisches Wochenblatt. Leipzig, Bd. 20, Nr. 20 vom 9. 5. 1889, S. 250. Friedrich Nietzsche, der durch seine Schriften „Die Geburt der Tragçdie“ und „Richard Wagner in Bayreuth“, sowie deren unlngst erschienene Gegenbrochure „Der Fall Wagner“ speciell auch in Wagner-Kreisen bekannt gewordene ehemalige ordentliche Professor der classischen Philologie zu Basel, ist als geistesgestçrt vor einiger Zeit in die Irrenanstalt zu Jena zur Heilung berfhrt worden.
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Anonym: Der Fall Nietzsche. In: Kçlnische Zeitung. Nr. 152 vom 2. 6. 1889, S. 3. Der Fall Nietzsche Die Nachricht von der geistigen Erkrankung Fr. Nietzsches, des schweizerischen Philosophieprofessors, hat nicht minder Aufsehen erregt als der kurz vorhergehende, in der Schrift „Der Fall Wagner“ bekundete Abfall Nietzsches von derselben Wagnersache, als deren glhendster und geistreichster Lobredner er in der Schrift „Die Wiedergeburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ erschienen war. Es ist selbstverstndlich, daß beide Dinge von vielen Seiten in einen urschlichen Zusammenhang gebracht werden; auch steht Nietzsches Broschre unleugbar unter dem Zeichen hochgradiger Nervositt. Deswegen das Ganze als krankes Geisteszeugnis bezeichnen zu wollen, scheint jedoch zu weit gegangen, man kann in jeder Nummer des Figaro hnliche GedankenLuftsprnge, Witzeleien, Sticheleien finden, wie beim augenscheinlich franzçselnden Nietzsche, nur daß er neben vielem Fels und Lehm, die jeder einsichtige Leser sofort selber „nullen“ wird, doch einige Diamanten ans Tageslicht fçrdert, welche mehr deutsche Tiefe als franzçsische Schrfe verraten. Die Grobheiten, welche dabei mitunterlaufen, richten sich wohl von selbst; wessen Wagnerverehrung auf so schwachen Fßen steht, daß sie durch nicht immer feine Spße und Pffe ins Wanken kme, den wird die Wagnersache leicht missen kçnnen. Wir wollen uns nur darauf beschrnken, einige Grundstze, welche durch das wissenschaftliche Gewand, mit dem sie umhllt erscheinen, zu grçßerer Geltung kommen kçnnten, richtig zu stellen. Nietzsche spielt Bizet, und natrlich nur die Oper Carmen, gegen Wagner aus. An Wagner gewahrt er alle Zeichen des Verfalls der Kunst, derselbe ist fr ihn, wie alles Moderne, brutal, knstlich, unschuldig. „Bizets Musik scheint mir vollkommen … sie ist liebenswrdig, sie schwitzt nicht. „Das Gute ist leicht, alles Gçttliche luft auf zarten Fßen.“ … „Bizet macht ihn fruchtbar, regt ihn zu philosophischer Erkenntnis an u.s.w. Ganz abgesehen davon, daß Schiller, Michelangelo, Beethoven gewiß so „schwitzen“ wie Wagner und daß, wollte man den Schweiß aus der Kunst ausschließen, man sich nur von Rafael, Goethe und Mozart nhren mßte – selbst bei Shakespeare gehts oft nicht ohne Schweißtropfen ab –, wßten wir nicht, welches Werk grade fr den Vorfall so symptomatisch wre wie Carmen. Wo es einfach sein will, da ist es knstlich, oder will jemand Micaelas sßliche Melodik als schlichte Natrlichkeit preisen? Uns scheint freilich auch Wagner nicht am grçßten, wenn er die charakterlose Gutrune oder Parsifals Mutter schildert. Das Einfache und Schlichte gelingt Bizet nicht besser als Wagner, wir haben hier wie dort knstliche Naivett, die allerdings das Zeichen des Alterns, der Ueberreife ist. Wie Nietzsche die Circusmusik im vierten Act der Carmen
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nennen will, wenn nicht brutal, so sehr die Brutalitt hier die Bhne illustrirt, kçnnen wir nicht einsehen: das luft doch nicht auf zarten Fßen. Er wirft Wagner die Unfhigkeit, organisch zu entwickeln, vor; von Bizet soll er die Fhigkeit hierzu erst nachweisen! Ertçnt nicht das Carmen-Motiv jedesmal mit derselben Cruditt wie das Fluchmotiv im Ring bei Wagner? Ist von einer Gestaltung desselben bei Bizet die Rede? Sonst arbeitet Bizet nicht mit Leitmotiven, sondern in wohlbekannten musicalischen Formen, es sind das die Schuhsohlen, die sich Wagner in Rienzi, Hollnder und immer mehr in Tannhuser, Lohengrin abgetreten hat. Daß er sie schließlich ganz ber Bord warf, mag zu weit gegangen sein; aber das verbrauchte Erbteil des einen als Errungenschaft des andern zu preisen, zeugt doch einigermaßen von Kurzsichtigkeit und schwachem Gedchtnis. Bizet zuliebe findet Nietzsche Don Joses Auffassung der Liebe, der das untreue Weib tçtet, weil er es liebt, als die einzig richtige, und alle Entsagung, Aufopferung in der Liebe ist fortan zweite Garnitur. Wir stimmen Nietzsche bei, wenn er sich an der tropischen Glut der Tannen, an der Logik der Handlung, an dem Wohlklang und der Ausgesuchtheit der Instrumentation begeistert. Ein anderes Anzeichen des Verfalls, das Ueberwiegen der Mache ber den Inhalt, ist Nietzsche wahrscheinlich nicht zum Bewußtsein gekommen, sonst wurde er die Wrze spanisch-nationaler Melodik und Rhythmik von Bizets vornehmer, aber keineswegs sprudelnder Begabung in Abzug bringen kçnnen. Er wird sich ber den Haut-got, den diese singende Roture in spanischer Tracht ausatmet, mehr Rechenschaft geben kçnnen und ihn nicht mit Veilchenduft verwechseln. Wie gesagt, wir begreifen nur gut, daß man sich fr Carmen begeistern kann, und bedauern Nietzsche, daß er nicht Carmen lieben kann, ohne Isolde zu hassen, aber wenn ein Werk den Verfall predigt, so ist es Carmen. Beweis wre nach Nietzsche schon die große Modernitt der Oper. Denn wir, die Menschen des Verfalls, kçnnen uns nur fr Werke des Verfalls begeistern. Nietzsche nennt Wagner „unsern grçßten Minituaristen der Musik, der in den kleinsten Raum eine Unendlichkeit von Sinn und Sße drngt. Sein Reichtum an Farben, an Halbschatten, an Heimlichkeiten absterbenden Lichts verwçhnt dergestalt, daß einem hinterdrein fast alle Musiker zu robust vorkommen … ein Lexicon der intimsten Worte Wagners, lauter kurze Sachen von fnf bis fnfzehn Tacten, lauter Musik, die niemand kennt“ … Die Kunst, diese kleinen Einheiten zu einem Ganzen zu verweben, geht ihm nach Nietzsche ab. Es ist zum Erstaunen, wie Nietzsche sich fr die Wagnersche Miniaturarbeit so ungemein feinfhlig bekundet und wie ihm die Totalitt der Wagnerschen Schçpfungen so ganz und gar verborgen bleiben kann. Weil Wagner eben nicht so entwickelt, wie es vor ihm geschehen ist, weil er seine eignen Wege bahnt, darum entwickelt er gar nicht! Das Tristanvorspiel ist vielleicht die am organischsten entwickelte Tonschçpfung, die seit Beethoven geschrieben worden ist. Folgt nicht im ersten Act des Lohengrin, der Walkre eins aus dem andern mit
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einer Folgerichtigkeit, die keine Lcke brig lßt? Und wenn Wagner mit einer zu weit getriebenen Principientreue dem Wortsinn seiner Dichtungen die musicalische Form manchmal zum Opfer brachte, wenn er die Krystallisirungen der Musik mitten im Entstehen hemmte und abbrach, weil der dichterische Gedanke schnellen Fortgang heischte, muß ihm um einiger musicalischer Gewaltsamkeiten willen schon die Kunst zu entwickeln abgesprochen werden? Wie sehr Wagner jede seiner Opern als eine einheitliche geschaffen, wie er es verstanden, jede zu individualisiren, wird am besten klar, wenn man ein Verfahren versucht, vor welchem Gluck nicht zurckscheute und welches darin besteht, ein Stck aus einer seiner Opern in eine andere zu verpflanzen. Man denke sich das Liebesduett aus dem Tristan mit entsprechend angepaßten Worten in den dritten Act des Lohengrin, den Pilgerchor in die Abendmahlscene des Parsifal versetzt, man denke sich das Duett zwischen Brunhilde und Siegfried aus der Gçtterdmmerung von Siegmund und Sieglinde am Schluß des ersten Acts der Walkre gesungen! Man lchele ber die Absurditt eines solchen Versuchs. Wre jedes dieser Stcke nicht ein organisches, fest eingefgtes Glied der Oper, in der es sich befindet, so ließe sich doch gegen die vorgeschlagene Umsetzung gar nichts einwenden. Daß dieselbe unmçglich ist, beweist besser als irgend etwas die feste Zugehçrigkeit der kleinen und kleinsten Teile zu dem Ganzen. Wenn Nietzsche sagt: „Bei Wagner steht im Anfang die Hallucination: nicht von Tçnen, sondern von Gebrden. Zu ihnen sucht er erst die Ton-Semiotik“…., so ist ihm wohl nicht bewußt gewesen, daß er mit diesen wenigen Worten Wagners Kunstschaffen schrfer und klarer charakterisirt hat, als es irgend geschehen kann. Wir wollen von der „Hallucination“, unter der Nietzsche die unaufrichtige, erknstelte Vorstellung verstanden wissen will, absehen, weil wir sogleich auf diesen Hauptvorwurf Nietzsches zu sprechen kommen; wir wollen auch darber nicht viel Worte verlieren, daß Nietzsche den Unterschied zwischen der dramatischen und der absoluten (reinen) Musik noch nicht soweit erfaßt hat, daß er wissen muß: bei der dramatischen Musik geht die Vorstellung des dichterischen Gedankens der Tonerfindung voran; Wagners vermeintlicher Fehler bildet daher grade einen Vorzug. In Mozarts Opern sind jedesmal die Stellen die großartigsten, denen die Vaterschaft des Gedankens an der Stirn geschrieben steht. Aber außerordentlich schlagend und tiefsinnig ist Nietzsches Erkenntnis, daß bei Wagner die Vorstellung der Gebrden der ursprngliche Vorgang seines knstlerischen Schaffens ist, wenn wir dieses Wort nmlich in seiner erschçpfendsten Bedeutung fassen. Gebrde ist der einer Empfindung entsprechende kçrperliche Ausdruck, sie ist die mit den Sinnen wahrnehmbare Verkçrperung eines seelischen Vorganges. Sie begreift die geheime Freude, welche aus dem sich entstçrenden Blick hervorschimmert, ebensowohl wie die ausgiebige Bewegung des ganzen Kçrpers, welche Ueberraschung, Schreck, Verzweiflung andeutet. Wir kçnnen noch einen Schritt weitergehen: das Tempo, das Kraftmaß und vor allen Dingen der Tonfall der Rede muß, als
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ußere Erscheinung einer Empfindung, unter den Begriff der Gebrde im weitesten Sinne, wie ihn Nietzsche versteht, untergebracht werden. Wer nun Wagner einigermaßen in seiner Eigentmlichkeit erkannt hat, weiß, wie sein Tonschaffen sich eigentlich immer der Gebrdensprache der dramatischen Charaktere anpaßt, wenigstens vom Lohengrin ab. Man greife heraus, was man wolle. Versuchsweise declamire man Elsas Worte: „Einsam in trben Tagen hab’ ich zu Gott gefleht“; man wird wahrnehmen, daß die Gesangsmelodie sich genau dem Tonfall der Declamation anschmiegt. Jedes Auftreten, jede Bewegung der handelnden Personen sind so genau in der Musik vorgezeichnet, daß die Musik den Darstellern sogar als Vorzeichnerin der Gebrde empfohlen werden kann. Wer fr die Verwandtschaftsverhltnisse der musicalischen Zusammenklnge einigermaßen Sinn hat, der wird die ganze unerschçpfliche Stufenleiter menschlicher Empfindungen gar nicht treffender wiedergegeben finden kçnnen wie bei Wagner. Man vergleiche die unaufgelçsten, sich von Dissonanz zu Dissonanz qulenden harmonischen Gebilde des Tristanvorspiels mit der Durchsichtigkeit, der erhabenen Klarheit des Lohengrinvorspiels. Was an Sinnenflligkeit, an Augenscheinlichkeit in dem dramatischen Gedicht irgend schlummert, das hat Wagner der Musik anvertraut. Er gewinnt auf diese Weise einen neuen, einen dringlichern Ausdruck der Wortsprache, der freilich bei den Spielen und Speculationen des reinen Verstandes halt macht, der nur das der Empfindung entstrçmende Wort verstrken und eindringlich machen kann, der freilich nur allen denen verstndlich ist, welche musikalisches Gehçr besitzen, Tonverhltnisse unterscheiden und den Charakter einer Melodie erfassen kçnnen. Es darf behauptet werden, daß grade fr das Bethtigungsfeld des Ausdrucks, fr die Bhne, Wagners Beanlagung eine im hçchsten Grade wertvolle gewesen ist. Und wenn er den Ausdruck auf die Spitze getrieben hat, so drfen wir uns weder durch das Stçhnen zartbesaiteter Idealisten noch durch die Deductionen schçngeistiger Aesthetik darin beirren lassen, daß Wagner volle Berechtigung zu einem solchen Kunstschaffen hatte. Wenn Wagner seinen letzten Zweck im Ausdruck gesucht htte, so wre er nichts weiter als ein anderer Meyerbeer, er wrde den Vorwurf Nietzsches verdienen, daß er im Grunde seines Wesens ein „histrio“ sei, der, statt sich von einer vollen, ungeteilten Empfindung befruchten zu lassen, bloß die Wirkung berechnet, mit der er die Zuschauer berauschen kçnnte. Wir brauchen nicht zu wiederholen, daß Wagner nach unserer Meinung durchaus von innen heraus und aus der Begeisterung fr seinen Gegenstand heraus schafft. Eine solche Steigerung des Ausdrucks, wie sie von Wagner erreicht worden ist, hat aber zwei Mißstnde im Gefolge. Einmal lenkt sie den Zuschauer bei jeder Unverstndlichkeit der Handlung von dem Inhalt auf den Ausdruck ab. Wenn Wagner an Zuschauer dachte, welche den gesungenen Text seines Tristan sogleich verstehen wrden, so hat er sich ebenso verrechnet, als wenn er von
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ihnen verlangt, sie sollten sich vor dem Anhçren des Tristan mit der Dichtung genau vertraut machen. Wenn der Tristan nun doch gefllt, so begngen sich wirklich die Zuschauer am Ausdruck und an dem Wenigen, was ihnen von der Handlung durch den Gesichtssinn zum Verstndnis kommt. Wem nun die Ueberzeugtheit von der Innerlichkeit dieses Ausdrucks sonst nicht innewohnt, der wird sie eben durch den bloßen Theaterbesuch des sptern Wagner nicht erlangen. Selbstverstndlich kennt Nietzsche die Dichtungen durch und durch. Aber er kann Wagners dramatischen Charakteren nicht so viel Geschmack abgewinnen, um die musikalische Beredsamkeit, zu welcher sie den Schçpfer begeisterten, gerechtfertigt zu finden. Anstatt dies als den springenden Punkt zuzugeben, zieht Nietzsche es vor, das Urteil des nicht unterrichteten Durchschnittszuschauers zu dem seinigen zu machen. Ferner verlangt der gesteigerte Ausdruck auch eine Steigerung der Fhigkeit der Ausfhrenden. Beethoven sagte den Bratschisten, welche sich beklagten, daß viele Stellen fr die Instrumente zu schwer seien: „Ei was, wenn ihr sie nicht spielen kçnnt, dann lernt sie!“ Heute schreckt kein Bratschist vor diesen Schwierigkeiten mehr zurck: sogar die stimmenmordenden Chçre der Neunten und der großen Messe werden oft tadellos ausgefhrt. Mit Wagner sind wir heute noch nicht so weit, und auch Bayreuth ließ und lßt manche wesentliche Anforderung unerfllt. Nietzsche hatte Wagners Gedankenwelt wie kein einziger in sich aufgenommen, er hatte Wagners Grundsatz zum Evangelium erhoben; aber die fortwhrenden Enttuschungen die er an dem dargestellten Wagner erlebte, erschtterten seinen Glauben immer mehr, schließlich will doch auch Nietzsche geniessen, und da ging er in die Carmen, die allerdings leichter darzustellen ist, als Symbole, Nebel und Philosophie nordischer Sage. Durch Nietzsches Buch erkennen wir die Gefahren, denen die Steigerung des Ausdrucks anheimfallen muß. Daß er den Ausdruck fr geknstelt, leer, unwahr ansieht, das lßt sich nur aus der Enttuschung, mit der er sein zu hoch geschraubtes Ideal nach unten sinken sah, erklren. Wagners Kunst war ihm die angebetete Geliebte, deren Schçnheit er mit dem ganzen Farbenspiel seiner beweglichen Phantasie schmckte. Als er sie unter der Sonde khler Erkenntnis zu zerlegen versuchte, als er sie leidenschaftlich und sprçde fand, da ergriff er das Hasenpanier.
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M., E. [vmtl. Mhly, Ernst]: Der Fall Wagner. Gçtzendmmerung. In: Deutsche Worte. Monatshefte. Wien, Bd. 9, Nr. 9, September 1889, S. 321 f. Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem von Friedrich Nietzsche. Leipzig. C. G. Naumann. 1888. 57 S. Gçtzendmmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Von demselben. Ebendaselbst. 1889. 144 S. Voll Wehmuth berichte ich ber die beiden letzten Schriften dieses erlauchten Geistes, der seit dem heurigen Frhjahre einer ebenso plçtzlichen als hoffnungslosen Umnachtung anheimgefallen ist. Da Friedrich Nietzsche’s Leben und Werke, sowie seine Bedeutung fr die Gegenwart und Zukunft, in dieser Zeitschrift demnchst in einer Reihe von Aufstzen eingehend dargestellt und gewrdigt werden sollen, so kann ich darauf verzichten, an dieser Stelle ins Innere der vorliegenden beiden Werke einzugehen; dagegen seien einige Worte ber den Gebrauch gestattet, welchen Leser, die Nietzsche’s Schriften wenig oder gar nicht kennen, von seinen beiden letzten Publikationen machen kçnnen. Was zunchst den Fall Wagner betrifft, so empfehle ich ihn jedem Kunstund Musikfreunde als ungemein anregende und bildende Lektre, zu vielfacher Klrung und Berichtigung der landlufigen Ansichten ber musikalische und dramatische Kunst; insbesondere aber den Wagnerianern, deren geistiger Organismus noch nicht gnzlich zerrttet ist, zur heilsamen Erschtterung und Ernchterung. Nicht, um Alles zu unterschreiben; wohl aber, um Alles auf sich wirken zu lassen. Im Uebrigen ist dieses Buch eine gefhrliche Brcke, gefhrlicher als der berhmte Lehrsatz des Pythagoras. Wer angesichts des bergroßen Reichthums an Gedanken, der in dem engen Raume von 57 Seiten aufgehuft ist, stumpf und unbewegt bleibt, der verrth kein feines Gehçr fr geistige Dinge – es wre denn, daß er sich die Ohren mit Gewalt verstopft htte, was ich nicht Wenigen zutraue. Ueber die Gçtzendmmerung kann ich mich kurz fassen; unter Tausenden wird kaum Einer sein, der gengend vorbereitet wre, sie zu lesen. Zum Mindesten mßte man den Standpunkt Nietzsche’s, der seit seinem „Zarathustra“ fixirt ist, kennen gelernt haben. Wer danach trachtet, sei auf die beiden Werke „Jenseits von Gut und Bçse“ und „Zur Genealogie der Moral“ verwiesen – vorausgesetzt, daß er sehr viel Zeit und Kraft daran wenden kann.
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Gçtzendmmerung
N an Constantin Georg Naumann, 25. 11. 1888: „Die Worte mit denen die Schrift in dem Buchhndler-Bçrsenblatt anzuzeigen wre, habe ich Herrn Kçselitz berlassen, der Ihnen darber Mitteilung machen wird. Es schadet Nichts, wenn dieselben etwas stark sind; es ist bei dieser Schrift nicht erlaubt, Recensions-Exemplare an Zeitungen zu senden.“ KGB III/5, Bf. 1156, S. 486.
Anonym: Die Gçtzendmmerung. In: Basler Nachrichten, Bd. 45, Nr. 34 vom 4. 2. 1889. Die Gçtzendmmerung oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert, von Friedrich Nietzsche, Leipzig, Neumann [sic] 1889. Den jeweiligen Inhalt einer neuen Schrift von Friedrich Nietzsche anzugeben, ist keine leichte Sache; denn eines Theils spottet der Reichtum von verschiedenartigen Gedanken der Uebersicht, andern Theils pflegt die Anordnung des Stoffes bei unserm Verfasser nicht der nchternen Logik, sondern der Inspiration zu folgen. Ein Buch von Fr. Nietzsche, welchen Titel es trage, ist stets ein rondo capricioso von tiefen Aphorismen, dessen Neuheit gegenber frhern Werken weniger auf der Erschließung frischer Gedankenschchte, als auf der grndlicheren Erschçpfung bereits signalisirter Bergwerke beruht. Immer die nmlichen Themen: Die Umwerthung aller philosophischen Werthe, das heißt die Kritik und Richtigstellung der maßgebenden Begriffe und Schlagwçrter, die Heiligsprechung der naiven, jenseits des Guten und Bçsen stehenden Naturkraft gegenber der Religion, der Moral und den brigen Symptomen der menschlichen „dcadence“, die Verehrung des Genies, die Verachtung der schafmßigen und lammesgeduldigen Masse, und der schrankenlose Glaube an sich selbst und seine Berufung. So denn auch jetzt in der kurzen (144 Seiten starken), aber gut und verhltnismßig recht klar geschriebenen „Gçtzendmmerung“. Religion und Moral im Allgemeinen, das Christentum im Besonderen werden in der „Gçtzendmmerung“ von Nietzsche mit dem „Hammer“ verarbeitet und, wie wir dem Leser versichern, ohne Gnade und Barmherzigkeit. Wie sehr der Berichterstatter Entschuldigung verdient, indem er von einer Darstellung des Gedankenganges absieht, mag der Umstand zeigen, dass mitten in der „Gçtzendmmerung“ ein Kapitel ber den modernen Deutschen, ein anderes ber neue Literatur vorkommt; zwei Kapitel, welche brigens den Leser vielleicht
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mehr interessiren werden, als der ganze Rest. Wie gewçhnlich verfhrt unser Philosoph schonungslos mit der neuen Reichskultur: Deutschland bedeutet ihm in Beziehung auf den Geist das „europische Flachland“; statt des Geistes blht jetzt Bismarck, Bismarck ersetzt den Leuten die Poesie, die Philosophie und das Uebrige; die Universitten sind die Heimsttten eines unntzen, ja geisttçtenden Krams, an den Gymnasien hausen „gelehrte Rpel“, die Jugend verschlappt ihr bischen Verstand im Biertrinken; unser verehrter Jakob Burckhardt bildet eine leuchtende Ausnahme unter seinen deutschen Kollegen. An genialen Urtheilen zuwider der çffentlichen Meinung fehlt es natrlich auch diesmal nicht. Das Gedeihen des Staates z. B. gilt Nietzsche keineswegs als eine Quelle der Kultur; im Gegentheil: die Kultur ist unpolitisch, sogar widerpolitisch; „alle großen Zeiten der Kultur sind Niedergangszeiten gewesen“; das Wort „Kulturstaat“ bezeichnet einen Widerspruch. Besonders das Kapitel ber die neuere Literatur („Streifzge eines Unzeitgemßen“) enthlt der treffenden und ergçtzlichen Urtheile in Ueberflle. Hievon einige Beispiele: Victor Hugo = der Pharus am Meere des Unsinns. Liszt = die Schule der Gelufigkeit – nach Weibern. Zola = die Freude zu stinken. George Sand = die Milchkuh mit schçnem Stil. (Vergleiche Maxime du Camp: „George Sand hatte in ihrem Blick etwas von der zufriedenen Ruhe eines Wiederkuers“). Ein Denker, der die Moral grndlich haßt, der sich selbst mit Stolz einen „Immoralisten“ nennt, kann natrlich an Rousseau oder Schiller keine Freude empfinden. Letzterer heißt bei Nietzsche: „der Moraltrompeter von Sckingen“. Diese Andeutungen mçgen gengen, um den Leser erraten zu lassen, dass auch die neueste Schrift Nietzsche’s wieder eine wahre Fundgrube origineller und fruchtbringender Gedanken vorstellt. Reaktionen Franz Overbeck an Heinrich Kçselitz, 4. 2. 1889: „[…] heute ist schon eine Anzeige in den ,Basler Nachrichten‘ erschienen, die ich Ihnen nicht um ihres ganz gleichgltigen Inhalts und kindisch sffisanten Tons, sondern ihres Schweigens willen schicke, weil wir sie, vermutlich die erste çffentliche Kundgebung ber die ,Gçtzendmmerung‘, als gutes Omen fr die Behandlung des Augenblicks in der Presse behandeln wollen.“ Hoffmann, David Marc/Peter, Niklaus/Salfinger, Theo (Hrsg) (1998): Briefwechsel Heinrich Kçselitz – Franz Overbeck. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 3), Nr. 115, S. 229
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Anonym [vmtl. Mhly, Jacob]: Die Gçtzendmmerung. In: Allgemeine Schweizer Zeitung. Basel, Nr. 34 vom 9. 2. 1889.271 „Die Gçtzendmmerung oder wie man mit dem Hammer phi1osophirt“ lautet der Titel des letzten Werkes, welches Friedr. Nietzsche, frher Professor der classischen Philologie an unsrer Hochschule, verçffentlicht hat. Da dieses Buch voll absonderlicher Gedanken auch von der Kritik vielfach unter ganz unrichtigen Voraussetzungen vorgenommen und besprochen wird (siehe „Basl. Nachr.“ v. 4. ds.), so kommen wir gerne dem Ersuchen nach, das ein Freund des Philosophen an uns stellt und verçffentlichen zur Richtigstellung des Urtheils ber die Schrift und zur Orientirung ber deren Verfasser nachfolgende Zeilen: Die „Gçtzendmmerung“ sollte das letzte Werk des originellen Denkers Friedrich Nietzsche sein, jenes Denkers, der auch in unserm Basel seine zahlreichen Bekannten und Freunde zhlt, aber Anhnger und Glaubensgenossen schwerlich viele; jetzt umschattet ihn im Irrenhause zu Jena die Nacht unheilbaren Wahnsinns. Man musste dies bei jeder neuen Publication in steigendem Grade befrchten; man sah den grßlichen Dmon nher und nher kommen; in der „Gçtzendmmerung“ hat sich auch ber das unglckliche Gehirn des Philosophen bereits der Schleier der Dmmerung ausgebreitet, und darum werden sich die kaum getroffen fhlen, gegen die er seine wuchtige Keule schwingt. Nietzsche stellt die Welt auf den Kopf; was uns Menschen heilig ist, verdammt er; was wir mit Grauen betrachten, beleuchtet er mit bengalischem Licht. Was er eigentlich wollte, darber ist sich dieser beklagenswerthe Hamlet nie klar gewesen; eine Welt nach seinem Recepte construirt, wre ein Unding, ein Wirbel von Widersprchen, eine Unmçglichkeit gewesen. Das Denken allein richtete einen Mann wie N. nicht zu Grunde. Geist und Kçrper litten bei ihm an hereditrer Belastung. Wer ihn kannte, wird in tiefster Wehmuth mit dem Dichter sagen mssen: „Welch edler Geist ist hier zerstçrt!“ Reaktionen Franz Overbeck an Heinrich Kçselitz, 17. 2. 1889: „Ich antwortete sofort – die Erkrankung Nietzsches als eigentliches Geheimnis nicht mehr, aber stets direct zu behandeln und auf keinen Fall in gewçhnlicher Weise weiter zu erzhlen, wobei ich brigens noch falsch angab, daß in den hiesigen Zeitungen von der 271 Verantwortlicher Herausgeber: A. Joneli. Janz vermutet Joneli als Verfasser (Janz (1979) Bd. 3, S. 309), lt. Krummel besteht dazu kein Anlaß (Krummel (1998) Bd. 1, S. 165). Tatschlich deutet einiges auf Jacob Mhly, wie wçrtliche bereinstimmungen mit Mhlys Artikel: „Das letzte Buch von F. N.“ in der „Allgemeinen Zeitung Mnchen“ vom 2. 5. 1889. Vgl. dazu die Einleitung.
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Sache noch nichts laut geworden sei, am Tage vorher war ihrer in recht taktloser und unangenehmer Weise in der Allgemeinen Schweizerzeitung gedacht worden.“ Bernoulli, Carl Albrecht (1908): Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft. Jena, Bd. 2, S. 337
H., E. [Hanslick, Eduard?]: Gçtzen-Dmmerung. In: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung. Berlin, 1. Beilage der Morgenausgabe Nr. 105 vom 3. 3. 1889. Gçtzen-Dmmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophirt. Von Friedrich Nietzsche. Leipzig, C. G. Naumann; 1889 Preis geb. 2,25 M. „Jenseits von Gut und Bçse“ – das ist meiner Erinnerung nach die letzte Schrift von F. Nietzsche, welche ich vor 2 bis 3 Jahren in der „Kreuz-Zeitung“ besprochen habe. Seinen Standpunkt, wie ihn jener gesuchte Titel bezeichnet, hat Nietzsche inzwischen treulich festgehalten. Der Titel seiner vorliegenden neuen Arbeit: „Gçtzen-Dmmerung“ erinnert lebhaft an den Berliner Possenwitz, welcher aus dem „Mikado“ einen „Mizekado“ macht. Die „Miez“ aber erinnert mich – vermçge des Kontrastgesetzes – an den „Spitz“, von welchem Goethe mit dem (freilich recht khl gewordenen, der Ministerexcellenz aber desto besser stehenden) Herzen fr das „Phnomen Napoleon“ ( S. 53) gesagt hat, seines Bellens lauter Schall beweise nur, daß wir reiten. Manchmal ersetzt der Spitz den lauten Knall auch durch „musikantenproblematische“ Sonderlingstçne. Es bleibt aber doch – der Spitz-Nietzsche krankt an – Geistreichigkeit. Leider sagt das Sprichwort: Allzuscharf macht schartig. Selbst Paris, wohin „schon heute“ aus dem „ernstunfhigen“ Deutschland „viel neuer Ernst, viel neue Leidenschaft des Geistes bergesiedelt“ ist, hat das fatale Proverbe: Les extrmes se touchent. Und also …….. (die Punkte gehçren zu einer Besprechung, welche dem Nietzscheschen Stile gerecht werden will) unversehens wird Geistreichigkeit – Geistlosigkeit. Ja die Punkte! Nietzsche erklrt ihr Dasein, ihre Notwendigkeit. Er sagt, nachdem er Kant abgethan als den „verwachsensten Begriffskrppel, den es je gegeben hat“ (S. 68): „Man kann nmlich das Tanzen in jeder Form nicht von der vornehmen Erziehung abrechnen, Tanzenkçnnen mit den Fßen, mit den Begriffen, mit den Worten: habe ich noch zu sagen, daß man es auch mit der Feder kçnnen muß – daß man schreiben lernen muß? Aber an dieser Stelle wrde ich den deutschen Lesern vollkommen zum Rthsel werden….“ Nun, wer in unserer rthselerfllten Zeit noch Zeit hat, auch den gçtzendmmerigen, hammerphilosophelnden Federtnzer Nietzsche zu entrthseln – der lese ihn. Er wird neben Begeisterung fr – Heinrich Heine als einen „fr Europa mitzhlenden Geist“ hier und da einen weniger rthselhaften Gedanken finden, wie den (S. 61): „Unsere Kultur leidet an nichts mehr, als an dem Ueberflusse
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anmaßlicher Eckensteher und Bruchstckhumanitten.“ Sieh, das – Beispiel liegt so nah!
W[idmann] J.[osef ] V.[ictor]: Aus Friedrich Nietzsches letztem Buche: „Gçtzendmmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophirt“. In: Der Bund. Bern, Bd. 40, Nr. 65 vom 7. 3. 1889. Aus Friedrich Nietzsches letztem Buche: „Gçtzendmmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophirt“. Daß Friedrich Nietzsche infolge einer schweren Nervenkrankheit in psychiatrische Behandlung hat genommen werden mssen, haben Basler Bltter ihren Lesern mitgeteilt. Wenn wir die traurige Nachricht hier besttigen, so geschieht das nur, damit uns da, wo wir unsere Zustimmung zu einigen Gedanken Nietzsches aussprechen, nicht etwa von anderer Seite hçhnisch vorgehalten werde, wir wßten vielleicht nicht, dass dieser Mann krank sei. Letzteres wußten wir lngst, frher als es den Aerzten bekannt wurde. Wir sprachen es zuweilen aus, wenn wir mit diesem Philosophen uns zu beschftigen hatten, am strksten anlßlich seiner Schrift: „Der Fall Wagner“. Aber wie ein Arzt, der an das Bett eines Patienten tritt, bei der Beobachtung gar wohl zu bemerken weiß, was an dem Kranken noch gesund ist, so wird auch ein aufmerksamer Leser der Schriften eines geistig Ueberreizten auf den eigenen unterscheidenden Verstand nicht verzichten, sondern das wirklich Gute, Gescheite, mag es auch in verdchtiger Nachbarschaft sich befinden, behutsam herausschlen und den Versuch machen, es ber alle bçsen Gerchte hinber als wertvolle Hinterlassenschaft eines vielleicht nicht mehr zum Wort gelangenden Denkers so gut als mçglich zu retten. Dies gegenber Nietzsches letztem Buche zu tun, dazu ist alle Veranlassung vorhanden. Denn, wenige Stellen abgerechnet, die brigens mehr auf geistige Ermattung als Zerrttung schließen lassen, ist dasselbe mit all seinen paradoxen Behauptungen eines der besten Bcher, die wir dem seltsamen Manne zu verdanken haben. Der Titel, so befremdlich er manchem klingen mag, ist sehr klar. Nietzsche, der in diesem Buche mit alten Vorurteilen grndlich aufrumen will, betrachtet dieselben als „Gçtzen“ des Menschenvolkes. Diesen Gçtzen bereitet er eine „Gçtzendmmerung“, das Wort an[a]log dem germanischen Begriff „Gçtterdmmerung“ gebildet, als eines Untergangs dieser Gçtter. Nietzsche will solche Gçtzen zerschlagen; daher der Untertitel: „Wie man mit dem Hammer philosophirt“.
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Ein gutes Zeichen fr den geistigen Zustand, in welchem er sich bei diesem Zerstçrungswerke befand, ist die außergewçhnliche Heiterkeit, die hier sehr hufig in den aphoristischen Sprchen zu Tage tritt, z. B.: „Wenn das Weib mnnliche Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen; und wenn es keine mnnlichen Tugenden hat, so luft es selbst davon“. (Wir zitiren dieses Paradoxon nur als Beleg der Aufgerumtheit, der Luftigkeit des Denkers; im brigen halten wir es wenigstens fr eine starke Uebertreibung, wenn nicht fr gnzlich verkehrt. Wohl dem Manne, der in seiner Lebensgefhrtin mnnliche Tugenden findet: Charakterfestigkeit, Treue, Interesse an großen geistigen Dingen. Solche „mnnlichen Tugenden“ kçnnen ja sehr wohl mit runden Schultern und weißen weichen Armen verbunden sein.) Noch lustiger sind folgende Umschreibungen berhmter Namen, (wobei wir freilich die Verantwortlichkeit fr diese mehr oder minder glcklichen Einund Ausflle dem Verfasser berlassen). Nietzsche nennt den alten Seneca den „Toreador der Tugend“, Schiller „den Moraltrompeter von Sckingen“, Dante „die Hyne, die in Grbern dichtet“, Victor Hugo den „Pharus am Meere des Unsinns“, Liszt „die Schule der Gelufigkeit – nach Weibern“ (das ist das beste dieser Witzworte), Carlyle den „Pessimismus oder das zurckgetretene Mittagessen“, George Sand „die Milchkuh mit schçnem Stil“, Zola „die Freude zu stinken“. Wird man ferner den nachfolgenden Angriff auf den modernen deutschen Geist, (unser deutsch-schweizerischer ist teilweise mit inbegriffen so gut wie der deutsch-çsterreichische), – wird man diesen Angriff, fragen wir, fr einen vçllig unberechtigten und nur fr die Blase eines kranken Hirns ausgeben drfen? Man lese: „Nirgendwo wie in Deutschland sind die zwei großen europischen Narcotica Alkohol und Christentum272 lasterhafter gemißbraucht worden. Neuerdings kam sogar noch ein drittes hinzu, mit dem allein schon aller feinen und khnen Beweglichkeit des Geistes der Garaus gemacht werden kann, die Musik, unsere verstopfte, verstopfende deutsche Musik. – Wie viel verdrießliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock, wie viel Bier ist in der deutschen Intelligenz? Wie ist es eigentlich mçglich, daß junge Mnner, die den geistigsten Zielen ihr Dasein weihn, nicht den ersten Instinkt der Geistigkeit, den Selbsterhaltungsinstinkt des Geistes in sich fhlen – und Bier trinken? … Der Alkoholismus der gelehrten Jugend ist vielleicht noch kein Fragezeichen in Absicht ihrer Gelehrsamkeit – man kann ohne Geist sogar ein großer Gelehrter sein –, aber in jedem andern Betracht bleibt er ein Problem. – wo fnde man sie nicht, die sanfte Entartung, die das Bier im Geiste hervorbringt! Ich habe einmal in einem beinahe berhmt gewordenen Fall den Finger auf eine solche Entartung 272 Nietzsche vergißt England, wo diese „Narcotica“ noch eine viel wichtigere Rolle spielen. Man darf berhaupt Nietzsche nie genau beim Wort nehmen und muß die echte Mnze meistens mit einigen falschen Groschenstcken einstreichen. D. Red.
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gelegt – die Entartung unseres ersten deutschen Freigeistes, des klugen David Strauß, zum Verfasser eines Bierbank-Evangeliums und „neuen Glaubens“ … Nicht umsonst hatte er der „holden Braunen“ sein Gelçbnis in Versen gemacht – Treue bis zum Tod….“ Nietzsche klagt ferner, daß unserer modernen Kultur (und er denkt dabei hauptschlich an die deutsche) die rechten Erzieher fehlen. „Erzieher tun not, die selbst erzogen sind, berlegene vornehme Geister, nicht die gelehrten Rpel, welche Gymnasium und Universitt heute der Jugend als hçhere Ammen entgegenbringt.“ Um zu zeigen, was er unter „berlegenen vornehmen Geistern, reif und sß gewordenen Kulturen“ versteht, nennt Nietzsche ausdrcklich Jakob Burckhardt in Basel, den großen Gelehrten, der allerdings an Feinheit des Geistes jenen herrlichen Knstlern der italienischen Renaissance gleicht, denen er sein Leben lang mit Vorliebe seine beste Arbeitskraft gewidmet hat. Der Hauptakzent des letzten Buches Nietzsches liegt nun aber keineswegs in dergleichen beilufigen Aussprchen ber kleinere Irrungen und Verirrungen des modernen Geistes, sondern in einer geradezu furchtbaren Verurteilung des Christentums, das ihm als diejenige Religion erscheint, welche das Diesseits beschmutzt hat, indem sie einem Jenseits es aufopferte. Wir wrden zu vielen unserer Leser Anstoß geben, wenn wir, auch ohne unsere Zustimmung zu erklren, bloß in objektiv darstellender Weise auf die Entwicklung dieser Gedanken Nietzsches eintreten wollten. Nur das Eine sei hervorgehoben, daß Nietzsche die Religion Christi gar wohl aufzufassen versteht als eine Religion der Liebe, des Mitleids, der Barmherzigkeit, eine Religion, die den Bedrfnissen der Parias oder Tschandalas, d. h. aller Unglcklichen, vom Lebensgenusse Ausgeschlossenen entspreche. Aber indem er eben nicht will, daß die Letzteren der Welt die bersinnlichen Heilmittel ihres Zustandes zum Gesetz aufdrngen, tritt er in Gegensatz zum Christentum und spricht eine so prinzipielle und scharfe Verurteilung desselben aus, daß die schlimmsten Worte Voltaires dagegen fast zahm erscheinen. Wir verweisen in dieser Beziehung, wie gesagt, auf das Buch selbst, da wir hier auf eine Darstellung dieser Gedanken nicht eintreten kçnnen. Einen einzigen der von Nietzsche in solchem Zusammenhange geußerten Aussprche teilen wir mit, indem durch denselben allerdings eine besonders abscheuliche Entartung getroffen wird. Nietzsche wendet sich gegen die bei Katholiken wie Protestanten vorkommende Belstigung des Gewissens der Sterbenden und ihrer Familienangehçrigen seitens des Priesters und schreibt darber: „man soll es dem Christentum nie vergessen, daß es die Schwche des Sterbenden zu Gewissensnotzucht, daß es die Art des Todes selbst zu Werturteilen ber Mensch und Vergangenheit gemißbraucht hat“. Ganz vortrefflich sind in Nietzsches Buch die meisten Aussprche, die sich auf das innerste Wesen der Kunst beziehen. Am wichtigsten scheint uns in dieser Beziehung seine vollstndig neue Auffassung der Entstehung der Tragçdie. Die
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hierber bestehende Theorie des Aristoteles verwirft er vollstndig und sagt wçrtlich: „Die Tragçdie ist so fern davon, Etwas fr den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauers zu beweisen, daß sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegen-Instanz zu gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und hrtesten Problemen; der Wille zum Leben, im Opfer seiner hçchsten Typen der eignen Unerschçpflichkeit frohwerdend – das nannte ich dionysisch, das erriet ich als die Brcke zur Psychologie des tragischen Dichters. Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefhrlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen (so verstand es Aristoteles): sondern um, ber Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schließt…“ Wir haben mit diesen hervorgehobenen Stellen und mit unseren Andeutungen niemand, der sich fr freieste Erforschung der Zeitprobleme interessiert, von der Lektre des Buches dispensiren wollen. Leser, die wir somit dieser wichtigen Schrift wnschen, werden auf Seite 104 und 105 auch einen sanft polemischen Ausfall des Verfassers gegen unsere literarische Redaktion finden273. Wie wenig wir uns von demselben getroffen erachten, dafr liegt wohl der Beweis in unserer warmen Empfehlung des letzten Werkes Nietzsche.
Anonym: Gçtzendmmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert. In: Magazin fr die Literatur des In- und Auslandes. Dresden, Bd. 58, Nr. 11 vom 9. 3. 1889, S. 171 f. Gçtzendmmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert. Von Friedrich Nietzsche. (Leipzig, C.G. Naumann, 1889.) Diese Schrift des Philosophen fr die Leckermuler ist nicht besser als seine letzte „Der Fall Wagner“, welcher jngst das „Magazin“ gedachte. Wir haben sie wiederholt gelesen und sind wiederholt zu der berzeugung gelangt, daß man es in diesem Manne doch nur mit einem Schnellredner zu thun hat, der mit verblffender Geschwindigkeit geistige Hexenknste des Zaubersaales vollfhrt. Sollte es wahr sein, was das Gercht meldet, daß ein schweres Schicksal ber 273 Widmann meint folgende Stelle in der GD ber seine Recension von JGB: „Ein Schweizer Redakteur, vom ,Bund‘, gieng so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Muth zu solchem Wagniss auszudrcken, den Sinn meines Werks dahin zu ,verstehn‘, dass ich mit demselben die Abschaffung aller anstndigen Gefhle beantragte. Sehr verbunden! – Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden sind. Dass alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen…“ KGW VI/3, S. 131
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den Geist des Verfassers hereingebrochen sei, so wrde diese Schrift nur dem Seelenkenner und Psychiatriker die Unterlagen liefern, um ein solches Schicksal zu begreifen. Weit weniger der ausgeprgte Grçßenwahn, der in vielen ußerungen des Verfassers „nach berhmten Mustern“ sich ausspricht, als vielmehr die erschreckende Seichtheit der Gedanken und Urteile, die sprunghafte Art zu empfinden, die vollstndige Disziplinlosigkeit der Ideenverbindung scheint dem Verfasser gefhrlich geworden, wie sie auch manchem Leser leicht gefhrlich werden kçnnte, der ohne gengende Denkbildung an diese ußerlich so schimmernden Spruchstze herantritt. Nur trauriges Lcheln kann es einem gebildeten Geiste erwecken, zu sehn, wie Nietzsche sich mit einer „Umwertung aller Werte“ trgt, eine Sache, die, wenn sie einen Sinn hat, die fortwhrende stille Thtigkeit aller Philosophie und aller Kunst ja so wie so ist, wie der Verfasser mit der geistigen Hartnckigkeit eines Kranken in allen mçglichen Erscheinungen aller mçglichen Zeiten jene dcadence wittert, die vielmehr sehr entschieden aus der grçßeren Masse seiner Ideenverbindungen spricht. Er gefllt sich in Stzen wie „Wie viel hatte ehemals das Gewissen zu beißen! Welche guten Zhne hatte es! – Und heute? Woran fehlt es?“ – „Frage eines Zahnarztes“. – Gleich daneben findet sich mit gleicher Fingerfertigkeit gesagt, „daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! Daß man sie nicht hinterdrein im Stiche lßt. – Der Gewissensbiß ist unanstndig.“ Es ist kein markerflltes Denken in diesen Nietzscheschen Bchern, das in ruhiger Erfahrung lebte und ein Bild des erfahrenen wre; es ist ein rhetorisches Denken, ein Spiel mit gegenstzlichen Redewendungen und Wortbedeutungen, das auf den ersten Augenblick wohl blendet, aber vor jedem wirklichen Nachdenken als leere Seifenblase zerstiebt. Es ist nicht einmal nçtig, dies im Einzelnen nachzuweisen, es wird sich jedem durchdringenderen Geiste von selbst aus dem Lesen dieses Werkes eines abgewirtschafteten Kopfes ergeben. Und die Kritik wrde nichts darber verlauten lassen, wre nicht mancher jngere geistreiche Leser vor derlei zu warnen.
Michaelis, P.[aul]: Hammerphilosophie. In: Nationalzeitung. Berlin, Bd. 42, Morgenausgabe Nr. 167 vom 14. 3. 1889. Hammerphilosophie Schon mehrere Male ist an dieser Stelle auf Friedrich Nietzsche hingewiesen worden, als auf eine der originellsten Gestalten in der deutschen Schriftstellerrepublik. Man darf ihn nicht durchweg ernst nehmen. Sowohl seine Sympathien als auch seine Antipathien laufen unsern heutigen, demokratischen Anschauungen entgegen. Aus allen seinen Schriften und bei der Behandlung der
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verschiedenartigsten Probleme spricht gleichmßig seine Verachtung der Masse, der „Heerde“ mit ihren sanfteren Leidenschaften, mit ihrem Friedensbedrfniß und ihrer Mitleidsmoral, mit seiner Bewunderung der großen, starken Naturen, des Raubthiers im Menschen, der „blonden Bestie“, furchtbar und prchtig an Geist und Leib, zwei Typen, die sich ihm in der semitischen und arischen Rasse reprsentieren. Nietzsche ist damit vielleicht der schonungsloseste Beurtheiler unserer Zeit. Nichts findet vor seinen Augen Gnade. Nicht unsere Literatur, nicht unsere Moral, nicht das „Reich“, nicht Wagner, hçchstens Bismarck; mit Sehnsucht blickt er zurck zur letzten großen Zeit, der Renaissance. Doch ist es nicht ein sittliches Pathos, was ihn gegen die moderne Zeit eifern lßt, sondern, wie ich frchte, mehr der Geist des Widerspruchs. Es widersteht ihm, zu denken, wie andere Leute denken und gedacht haben, nichts ist ihm so verchtlich, als das „Wiederkuen“. So ist er kein fruchtbares Glied in der Entwicklung, noch viel weniger erscheint er als Reformator, der unserer Zeit neue Bahnen vorschreiben kçnnte; er ist ein Intermezzo, aber als solches ist er amsant. Und wer von ernster Denkarbeit ermdet, eine gewisse Kulturbersttigung empfindet, der mçge sich an den blitzenden Geistesfunken und der launischen Leichtigkeit Nietzsche’s ein paar Stunden gefllig vertreiben. Nur sollte ein solches Talent innerhalb der Bahnen bleiben, die seine Veranlagung ihm vorschreibt. Soll ich es deshalb gestehen, ich sehe mit großer Ruhe dem pomphaft angekndigten großen Werke Nietzsche’s, der „Umwerthung aller Werthe“ entgegen. Denn wenn mich nicht alles tuscht, unternimmt er damit etwas, zu dem seine Kraft nicht ausreicht. Nietzsche verachtet die systematische Arbeit. „Ich mißtraue“, sagt er, „allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“ Nun wohl, aber mit Aphorismen baut man keine neue Weltanschauung. Wohl aber kann man mit einem Witzwort einen hochverehrten Gçtzen diskreditiren und zu Fall bringen. Und deshalb begrßen wir seine neueste Publikation: „Gçtzendmmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert (Leipzig, C. G. Naumann 1889)“ mit ungemischtem Vergngen. Hier ist er auf der Hçhe seiner Kraft, und der Geist, der stets verneint, wird an solchen Gegenstnden am meisten zur Geltung kommen kçnnen. Schon der Titel sagt, was der Verfasser will. „Es giebt, heißt es im Vorwort, mehr Gçtzen als Realitten in der Welt: das ist mein „bçser Blick“ fr diese Welt, das ist auch mein „bçses Ohr.“ … Hier einmal mit dem Hammer Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berhmten hohlen Ton hçren, der von geblhten Eingeweiden redet – welches Entzcken fr einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat, fr mich alten Psychologen und Rattenfnger, vor dem gerade das, was still bleiben mçchte, laut werden muß.“ Und wer sich des „Falles Wagner“ erinnert, dieses „Musikantenproblems“, das Nietzsche erst krzlich in einer besonderen Schrift abgehandelt hat, der kennt auch die Methode, die er bei der Aushorchung der Gçtzen anzuwenden pflegt. Doch handelt es sich
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diesmal im Wesentlichen nicht um Zeitgçtzen, sondern um „ewige Gçtzen“; es giebt berhaupt keine ltern, keine berzeugteren, keine aufgeblaseneren Gçtzen – auch keine hohleren. . . . Das hindert nicht, daß sie die geglaubtesten sind; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Gçtze.“ Nietzsche zieht zu Felde theils gegen Personengçtzen, theils gegen Begriffsgçtzen. Ueber die ersten kçnnen wir uns krzer fassen. Er vermehrt unser Lexikon durch einige Kraftausdrcke gegen Kant, dem er nicht mde wird, immer von neuem am Zeuge zu flicken, gegen diesen „hinterlistigen Christen“: er versetzt, im Vorbeigehen einer ganzen Reihe ihm unbequemer Charaktere boshafte Hiebe: „Seneca oder der Torreador der Tugend – Rousseau oder die Rckkehr zur Natur in impuris naturalibus – Schiller oder der Moral-Trompeter von Sckingen – Dante oder die Hyne, die in Grbern dichtet – Victor Hugo oder der Pharus am Meere des Unsinns – Liszt oder die Schule der Gelufigkeit nach Weibern – George Sand oder la lactea ubertas, auf deutsch die Milchkuh mit schçnem Stil – Carlyle oder Pessimismus als zurckgetretenes Mittagessen.“ Schopenhauer, „der letzte Deutsche, der in Betracht kommt“, ist ihm „ein bçsartig-genialer Versuch, zu Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwerthung des Lebens gerade die Gegeninstanzen, die großen Selbstbejahungen des Willens zum Leben ins Feld zu fhren“. „Er hat der Reihe nach, die Kunst, den Heroismus, das Genie, die Schçnheit, das große Mitgefhl, die Erkenntniß, den Willen zur Wahrheit, die Tragçdie als Folgeerscheinungen der Verneinung oder der Verneinungsbedrftigkeit des Willens interpretiert – die grçßte psychologische Falschmnzerei, die es, das Christenthum abgerechnet, in der Geschichte giebt.“ Sokrates und Plato sind Reprsentanten der dcadence. Mit ihnen schlgt der vornehme griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um. Der Pçbel kommt mit der Dialektik oben auf. Es ist offenbar, daß schon aus diesem Grunde Sokrates fr Nietzsche antipathisch sein muß. „Ueberall“, sagt er, „wo noch die Autoritt zur guten Sitte gehçrt, wo man nicht begrndet, sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst“, man lacht ber ihn, man nimmt ihn nicht ernst. Sokrates war der Hanswurst, der sich ernst nehmen machte. Doch fr den, der Nietzsche’s Anschauungen kennt, ist das alles nicht neu. Es sind die alten Mauern, gegen die er schon oft gestrmt ist. Interessanter sind seine Ausfhrungen ber die „Vernunft“. Was ist denn die Vernunft? Nichts anderes, als „Sprach-Metaphysik“, entstanden in der Zeit der rudimentrsten Formen von Psychologie. „Das sieht berall Thter und Thun. Das glaubt an Willen als Ursache berhaupt; das glaubt an’s Ich, an’s Ich als Sein, an’s Ich als Substanz und projizirt den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge; es schafft damit erst den Begriff Ding.“ Als man dann in einer aufgeklrteren Zeit fand, daß die ganze Erfahrung diesen widerspreche, zugleich aber die Sicherheit, die subjektive Gewißheit dieser Kategorien dem Philosophen zum Bewußtsein kam, da fragte man sich erstaunt: „Woher stammen sie?“ „Und in Indien, wie in Griechenland hat man den gleichen Fehlgriff gemacht.“ „Wir
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mssen schon einmal in einer hçhern Welt heimisch gewesen sein (statt in einer sehr viel niedern: was die Wahrheit gewesen wre!), wir mssen gçttlich gewesen sein, denn wir haben die Vernunft.“ „Ich frchte“, fgt Nietzsche witzig hinzu, „wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.“ Kurz, die Vernunft lgt. Die Einheit, Identitt, Dauer, Substanz, Ursache, Dringlichkeit, Sein, diese Kategorien, aus denen die „wahre Welt“ sich aufbaut, sind in Wirklichkeit gerade Kennzeichen des Nichtseins, des Nichts. Von einer anderen Welt als der diesseitigen zu fabeln, hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, daß nicht ein Instinkt der Verlumdung, Verkleinerung und Verdchtigung des Lebens in uns mchtig ist. Das einzig Wahre ist das Zeugniß der Sinne. Sofern die Sinne das Werden und das Vergehen, den Wechsel zeigen, lgen sie nicht. Die „scheinbare Welt“ ist die einzige, sie hat allein Realitt. Dies ist freilich eine Wahrheit, nur befrchte ich nicht, daß Nietzsche damit gar so starken Widerstand herausfordere. Denn so ganz neu ist diese Einsicht nicht, und zum wenigsten seit Bacon hat sie mancher Philosoph vor Nietzsche besessen. Ein zweiter Gçtze ist unserem Verfasser die christliche Moral, wie sie in der Bergpredigt gelehrt wird, wie sie noch Schopenhauer als Verneinung des Willens zum Leben formulirt. Diese Moral verlangt die Ausrottung der Leidenschaften und Begierden, sie verurtheilt die Instinkte, denn das Alles hindert den Menschen, zum Frieden der Seele zu gelangen, zu dem Zustand, der dem Christen als erstrebenswerthestes Ziel erscheint. Damit verneint die Moral die untersten und obersten Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Feind des Lebens. „Das Leben ist zu Ende, wo das Reich Gottes anfngt.“ In Wirklichkeit ist dies die Moral des niedergehenden, geschwchten, mden Lebens. So wird sie instinktiv von denen gewhlt, die zu willensschwach und zu ermattet sind, um sich ein Maß in ihren Begierden auflegen zu kçnnen. „Die radikale Feindschaft gegen die Sinnlichkeit ist immer ein nachdenkliches Symptom, und das Giftigste gegen die Sinne ist nicht von den Asketen gesagt, sondern von den unmçglichen Asketen, von solchen, die es nçthig gehabt htten, Asketen zu sein.“ Diese Wnschbarkeit von ehedem, fhrt Nietzsche fort, der Frieden der Seele, ist uns fremd geworden. Man ist nur fruchtbar um den Preis, an Gegenstzen reich zu sein; man bleibt nur jung unter der Voraussetzung, daß die Seele nicht sich streckt, nicht nach Frieden begehrt; „nichts macht uns weniger Neid als die Moralkuh und das fette Glck des guten Gewissens.“ Die Verurtheilung der Sinnlichkeit ist eine frevelhafte Auflehnung gegen das Leben. Zugleich aber ist solche Auflehnung nutzlos, absurd und lgnerisch. Denn das Problem vom Werthe des Lebens ist berhaupt unlçsbar. Die so urtheilen, haben kein Recht, ber das Leben im Allgemeinen den Stab zu brechen, sondern es ist nur ihr eigenes Leben, das von ihrem Urtheil betroffen wird, und das ist eben das Leben der dcadence. Im Gegensatz dazu vertritt Nietzsche den Naturalismus in der Moral. Dieser whlt instinktmßig das aus, wodurch das Leben gefçrdert wird, und schafft aus dem Wege, was hemmt und feindselig ist.
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Die naturalistische Moral nimmt die Wirklichkeit, wie sie ist; sie will nicht einen Kanon aufstellen: so und so sollte der Mensch sein; sondern sie erfreut sich „des entzckenden Reichthums der Typen, der Ueppigkeit eines verschwenderischen Formelspiels und Wechsels.“ Auch ist die Forderung an den Einzelnen, sich zu ndern, lcherlich. „Der Einzelne ist ein Stck Fatum von Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr fr Alles, was kommt und sein wird. Zu ihm sagen: ndere dich, heißt verlangen, daß Alles sich ndert, sogar rckwrts noch.“ „Wir andern, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit gemacht fr alle Art Verstehen, Begreifen, Gutheißen. Wir verneinen nicht leicht, wir suchen unsere Ehre darin, Bejahende zu sein.“ Die Oekonomie im Gesetze des Lebens zieht aus den widerlichsten Species noch ihren Vortheil. Und welchen denn? Nun, den, daß der „Immoralist“ Krieg fhren kann gegen diese Species. In der That, womit sollte derselbe auch sonst seine Zeit todtschlagen? Diese Ausfhrungen sind wohl nicht ganz ernsthaft zu nehmen. Mit einer sthetischen Bewunderung des „entzckenden Reichthums der Typen, der Ueppigkeit eines verschwenderischen „Formenspiels und Wechsels“ kann sich Niemand begngen. Dazu sind wir leider nicht unangreifbar genug. Irgend welche Schranken muß die Menschheit aufrichten, um sich gegenseitig zu ertragen und zu untersttzen. Aber es fhren allerdings mehrere Wege zu diesem Ziele. Nietzsche selbst charakterisirt zwei derselben, „die Zhmung der Bestie Mensch“ und „die Zchtung einer bestimmten Gattung Mensch“. Das erste Mittel htte das Christenthum angewandt. Man schwchte die Menschen, machte sie weniger schdlich, machte sie durch den niederdrckenden Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger krankhaft. „Im frhen Mittelalter“, sagt Nietzsche, „machte man allerwrts auf die schçnsten Exemplare der blonden Bestie Jagd, man verbesserte zum Beispiel die vornehmen Germanen. Aber wie sah hinterdrein ein solcher verbesserter, ins Kloster verfhrter Germane aus? Wie eine Karikatur des Menschen, wie eine Mißgeburt: er war zum Snder geworden, er stak im Kfig, man hatte ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt. Da lag er nun, trank, kmmerlich, gegen sich selbst bçswillig; voller Haß gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen Alles, was noch stark und glcklich war. Kurz, ein Christ.“ Anders im Gesetz des Manu, in der indischen Moral. Hier wird der Versuch gemacht, eine Race zu zchten. Und wie Nietzsche behauptet, haben wir es hier mit einer besseren Erziehungsmethode zu thun. „Man athmet auf, aus der christlichen Kranken- und Kerkerluft in diese gesundere, hçhere, weitere Welt einzutreten.“ „Aber auch diese Organisation hatte nçthig, furchtbar zu sein, nicht diesmal im Kampf mit der Bestie, sondern mit ihrem Gegensatzbegriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmaschmenschen, dem Tschandala.“ Man weiß, mit welcher erschreckenden Gewaltsamkeit die Ureinwohner Indiens von den einwandernden Ariern behandelt wurden. Nietzsche fhrt aus dem
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Gesetz des Manu an, daß die einzige Nahrung der Paria Knoblauch und Zwiebeln sein sollten, daß das Wasser, dessen sie bedrfen, nur aus den Zugngen zu Smpfen und aus Lçchern, die durch die Fußstapfen der Thiere entstanden sind, genommen werden drfe. Es ist ihnen verboten, sich zu waschen, von links nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu bedienen: „Der Gebrauch der rechten Hand und des von Links nach Rechts ist blos den Tugendhaften vorbehalten, den Leuten von Rasse.“ Nietzsche zieht aus diesen Scheußlichkeiten triumphirend die Lehre: „daß der Begriff: reines Blut der Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist“. Hier sehen wir die arische Humanitt. Dagegen „das Christenthum, aus jdischer Wurzel und nur verstndlich als Gewchs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral der Zchtung, der Rasse, des Privilegiums dar: es ist die antiarische Religion par excellence, die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion der Liebe.“ Es kann hier nicht die Aufgabe sein, diese ebenso hochmthigen wie thçrichten Behauptungen ausfhrlich zu widerlegen. Nur darauf sei hingewiesen, daß das Gesetzbuch des Manu durchaus nicht mit der ganzen altindischen Literatur harmonirt. Auch dort tritt bekanntlich vielfach der Tschandalastandpunkt hervor oder, wenn man lieber will, der christliche Gedanke. Andererseits war vielleicht kein Volk so stolz auf seine Abkunft, so berzeugt von seiner hçheren Stellung und Mission den anderen Vçlkern gegenber, als gerade die Juden. Die „Religion der Liebe“, „das Evangelium der Armen, den Niedrigen gepredigt“ war, wie Jeder weiß, der nur eine Seite der Evangelien gelesen, wenig nach ihrem Geschmack. Uebrigens scheint mir Nietzsche selber diesen Kampf gegen Windmhlen nicht allzu ernsthaft zu nehmen. Dazu ist ihm der Kampf zu sehr Selbstzweck und Sport. „Der Krieg war immer die große Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordenen Geister“, sagt er von sich mit keinem kleinen Selbstbewußtsein. Und er trçstet sich selbst ber das Unheil, das er etwa anrichten kçnnte: „Ob wir Immoralisten der Tugend Schaden thun? Ebenso wenig, als die Anarchisten den Frsten. Erst seitdem diese angeschossen werden, sitzen sie wieder fest auf ihrem Thron: Moral: Man muß die Moral anschießen.“ Vielleicht der anziehendste Theil dieser Schrift ist das Kapitel ber „die vier großen Irrthmer, besonders ber falsche Urschlichkeit“. Hier finden wir psychologische Untersuchungen von großer Feinheit. Wie bisweilen in einem Traume, der durch eine bestimmte Ursache, etwa durch einen fernen Kanonenschuß, hervorgerufen wurde, dieser Kanonenschuß erst als die Folge eines mannigfaltigen Geschehens erscheint, so verwechseln wir auch im Wachen oft Ursache und Folge. Cornaro erreichte bei einer schmalen Dit ein hohes Alter. Trugschluß: die Dit war es, die ihn so lange leben ließ; „whrend die Vorbedingung zum langen Leben, die außerordentliche Langsamkeit des Stoffwechsels, der geringe Verbrauch, die Ursache seiner schmalen Dit war.“ So, meint
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Nietzsche, gehçrt Moral und Religion unter den Begriff der imaginren Ursachen. Auf Lust- und Unlustgefhle bertrgt man die landlufigen oder psychologisch nchstliegenden Ursachen. Solche Zustnde erscheinen dann bedingt durch sndhafte Handlungen, durch bçse Geister auf der einen Seite, durch Gottvertrauen, Glaube, Liebe und Hoffnung auf der anderen Seite. In Wahrheit sind alle diese vermeintlichen Erklrungen Folgezustnde und gleichsam Uebersetzungen von Lust- oder Unlust-Gefhlen in einen falschen Dialekt: man ist im Zustande zu hoffen, weil das physiologische Grundgefhl wieder stark und reich ist; man vertraut Gott, weil daß Gefhl der Flle und Strke einem Ruhe giebt. „Die Moral und Religion gehçrt ganz und gar unter die Psychologie des Irrthums: in jedem einzelnen Falle wird Ursache und Wirkung verwechselt; oder die Wahrheit mit der Wirkung des als wahr Geglaubten verwechselt, oder ein Zustand des Bewußtseins mit der Urschlichkeit dieses Zustandes verwechselt.“ Die Form, in der Nietzsche seine Gedanken ausspricht, ist auch in dieser Schrift der Aphorismus. Diese Form hat ihre großen Mngel, und der grçßte, daß bei diesen sprunghaften zerrissenen Stzen der Autor selbst bisweilen vergißt, was er vorher geschrieben hat. Er widerspricht sich oft. Und es wre leicht, ein halbes Dutzend Widersprche bei ihm nachzuweisen. Auch ist nicht gar zu ernst zu nehmen, was er ber sich selbst sagt: „Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der Ewigkeit; mein Ehrgeiz ist, in zehn Stzen zu sagen, was jeder Andere in einem Buche sagt, was jeder Andere in einem Buche nicht sagt.“ Denn auch hier ist es nicht ganz freier Wille, zu thun und zu lassen. Nietzsche wrde nicht anders schreiben kçnnen, auch wenn er wollte. Aber es ist gewiß, daß er diese Form meisterhaft beherrscht; und wenn er uns zehnmal abstçßt durch abstruse Gedanken und boshafte Invektiven, so zieht er immer wider durch seinen blendenden Stil und seine ungewçhnliche Darstellungskraft an. Auch ber dieser Schrift liegt ein eigener Reiz, nur gehçrt ein Gourmand dazu, ihn zu schmecken.
Brakl, Franz Jos[eph]: Gçtzendmmerung. In: Neues Mnchener Tageblatt, Nr. 90 vom 30. 3. 1889, S. 2. Friedrich Nietzsche: Gçtzendmmerung oder: Wie man mit dem Hammer philosophirt. Leipzig 1889. C. G. Naumann. Nachdenken ist nicht allzuschwer und wird doch nicht allzuoft gebt, aber die Selbstdenker sind jederzeit ußerst selten gewesen. Unter den wenigen der Gegenwart verdient der Baseler Professor mit Auszeichnung behandelt zu werden.
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Er folgt Goethes Worten: „Ursprnglich eig’nen Sinn laß Dir nicht rauben“, er gibt seiner Ueberzeugung offenen Ausdruck und dabei in vollendeter Form. Was ihm als Irrthum (Gçtze) erscheint, und wer immer dessen Vorgnger seien, ob Sokrates, Kant, Schopenhauer oder Andere – in seinen Augen deckt die Flagge nicht die Waare. Um so bewundernswerther ist sein Muth, da er selbst an den unmittelbaren Sieg nicht glaubt; aber er blickt mit Festigkeit in die Zukunft, das gelobte Land aller Hoffenden.
Hammer, Fritz [d. i. Conrad, Michael Georg]: Gçtzendmmerung. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift. Mnchen, Nr. 4, April 1889, S. 581 f. Gçtzen-Dmmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. Von Friedrich Nietzsche. Leipzig, C. G. Naumann, 1889. 144 S. Die Nietzscheschen Schriften folgen jetzt Schlag auf Schlag nacheinander, wie bei einem großen, schçnen Gewitter die Donnerschlge – Nietzsche ist ein solches Gewitter am dumpf-schwlen europischen Kulturhimmel. Kaum hat man sich ein wenig von dem Schreck erholt, den der betubend einschlagende Donnerkeil „Der Fall Wagner“ verursachte, so kracht es schon wieder. „GçtzenDmmerung“! Das giebt natrlich kein geringes Bum-Bum. Doch wird dieser Schlag nicht so Nachhallen wie der „Fall Wagner“, denn er trifft weniger wie dieser eine große, stolze, laute Hosiannah-Gemeinde, als vielmehr die stillen Leute der Schreib-, und Studierstuben, der Beichtsthle und anderer buenos retiros. Gleich am Eingang geht es dem guten Sokrates an den Kragen, dann ber eine Reihe philosophischer und moralischer Vorstellungen hinweg, die wie abgeschlagene Distelkçpfe hinpurzeln unter den Schleuderknsten des Nietzscheschen Radikalismus, zu den Deutschen und anderen fragwrdigen Gestalten neuen und alten Datums. Daß es dabei nicht an erheiternden Paradoxen fehlt, weiß jeder, der einmal ein Buch von Nietzsche in der Hand gehabt. Zum Beispiel in dem Abschnitt „Streifzge eines Unzeitgemßen“ eine Reihe von jokosen Definitionen, wie solche zuerst von den Franzosen aufgebracht wurden: „Dante: oder die Hyne, die in Grbern dichtet. – Viktor Hugo: oder der Pharus am Meere des Unsinns. – Liszt: oder die Schule der Gelufigkeit – nach Weibern. – Zola: oder die Freude zu stinken. – Carlyle: oder Pessimismus als zurckgetretenes Mittagessen.“ – Sehr wichtig, weil ber das geistige Werden Nietzsches einige hçchst interessante Aufschlsse bietend, ist der Abschnitt „Was ich den Alten verdanke“. Der Verfasser bekennt, daß im Grunde nur eine ganz kleine Anzahl antiker Bcher in seinem Leben mitzhle – „die berhmtesten sind nicht darunter!“ – daß er den Griechen durchaus keine so starken Eindrcke verdanke wie den
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Rçmern. berhaupt ist er den alten Griechen gar nicht grn. Man hçre nur dies: „Man lernt nicht von den Griechen – ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flssig, um imperativisch, um klassisch zu wirken. Wer htte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer htte es je ohne die Rçmer gelernt!“ Von dem ganzen „Phnomen Plato“ spricht er per „hçherer Schwindel“, dagegen mit großer Achtung von Thukydides: „Von der jmmerlichen Schçnfrberei der Griechen ins Ideal, die der ,klassisch gebildete‘ Jngling als Lohn fr seine Gymnasial-Dressur ins Leben davontrgt, kuriert nichts so grndlich als Thukydides.“ Im Munde eines ehemaligen Universitts-Professors fr klassische Philologie klingen diese Urteile mehr als pikant. Auch daß und wie er zu dem Satze kommt: „folglich verstand Goethe die Griechen nicht“, verdient namentlich von den deutschen Gelehrsamkeits-Biedermnnern beherzigt zu werden. Summa: jede Zeile in diesem Buch eine Kriegserklrung. Reaktionen Detlef von Liliencron an Michael Georg Conrad, 15. 4. 1889: „Das Neueste: Ich hçrte, (relata refero!) daß Friedrich Nietzsche wahnsinnig geworden sei (natrlich Grçßenwahn). Er unterzeichnete zuletzt seine Briefe an seine Freunde: Caesar et Imperator. Wie schndlich doch; denn er war der geistig hçchststehende Deutsche. Aber der ausbrechende Wahnsinn war fast vorauszusehen. Man merkte ihn schon in seiner Antwort an Avenarius. Ich las eigentlich nur von ihm ganz: ,Gçtzendmmerung‘. Es war vorzglich, was Sie, lieber Freund, damals ber ihn (bei einer Anzeige und Besprechung der ,Gçtzendmmerung‘) sagten: ,Nichts fr Deutsche‘. In keinem anderem Blatte (diese Feiglinge!) habe ich ihn je erwhnt gesehen. Wie unendlich mag Nietzsche das betrbt haben.“ Liliencron, Detlef von (1910): Ausgewhlte Briefe. Berlin, Bd. 1, S. 196
Anonym: Gçtzendmmerung. In: Bltter fr literarische Unterhaltung. Leipzig, Nr. 15 vom 11. 4. 1889, S. 239. Der zuletzt in Turin lebende Professor der Philologie Friedrich Nietzsche hat seinen in d. Bl. besprochenem Buche noch in demselben Jahre (1889) ein zweites folgen lassen unter dem Titel „Gçtzendmmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt“ (Leipzig, C. G. Naumann). Der Verfasser nennt seine Schrift „eine große Kriegserklrung“; er will „an ewige Gçtzen mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel rhren“. Nach Nietzsche „gibt es gar keine moralischen Thatsachen. Die Kirche verdarb den Menschen, aber sie nahm in
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Anspruch, ihn verbessert zu haben. Alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch.“ „In ganz Europa ist des Erstaunens kein Ende, dass es nicht einen einzigen deutschen Philosophen mehr gibt.“ „Unsere berfllten Gymnasien, unsere berhuften, stupid gemachten Gymnasiallehrer sind Skandal.“ Schiller wird verhçhnt als „der Moraltrompeter von Sckingen“, Liszt als „die Schule der Gelufigkeit nach Weibern“, Carlyle als „der Pessimismus infolge zurckgetretenen Mittagessens“. Das ganze Buch machte auf uns den Eindruck, daß ein ursprnglich reich angelegter Geist hier umnachtet sei, als eine zuverlssige Quelle uns freiwillig mittheilte, daß Nietzsche – ins Irrenhaus habe gebracht werden mssen. Damit ist jede Kritik seines neuesten Buches unmçglich gemacht.
Anonym [vmtl. Berg, Leo]: Der Fall Wagner. Gçtzendmmerung. In: Deutsche litterarische Volkshefte. Berlin, Nr. 2 vom Mai 1889, S. 32. Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. Von Friedrich Nietzsche (Leipzig, C. G. Naumann). Gçtzendmmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt. Von Friedrich Nietzsche (ebd.). Diese beiden Bcher sind ein geistiges Brillant-Feuerwerk, das seit dem Erscheinen von Heines Prosaschriften nicht seines Gleichen hat in der deutschen Litteratur. Gedanken und Sprache, alles ist hier noch feiner, geschliffener, gltter, schlanker, schlangenhafter. Niemand, der sich auf Feinheit des Stils versteht, wird z. B. „Der Fall Wagner“, wenn er es auch mit Schauder liest, ohne Genuß, jedenfalls nicht ohne den hçchsten Gewinn lesen kçnnen! Nietzsche, dessen „bçser Blick“ es ist, „Gçtzen auszuhorchen“, bt oft eine Wirkung, die der eines Basilisken gleicht. Man will sich mit Entsetzen abwenden, aber man kann es nicht mehr, man muß gerade mitten hineinschauen in dieses Auge von funkelnden Glanzes und Feuers. Seine Wirkung ist unheimlich, fascinirend. Dieser alte Zauberer hat so lange Geister beschworen, Formeln ersonnen, bis er selbst seinem eigenen Banne verfiel!
M[hl]y, J[acob]: Das letzte Buch von Friedrich Nietzsche. In: Allgemeine Zeitung. Mnchen, Beilage der Nr. 121 vom 2. 5. 1889. Das letzte Buch von Friedrich Nietzsche. Das letzte Buch in des Wortes eigenster Bedeutung; nicht das zuletzt geschriebene, sondern das letzte berhaupt: die Feder, der das tadellose und geistvolle Deutsch entstrçmte, ist niedergelegt fr immer – nicht, daß die Hand
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erstarrt wre, aber der Geist ist schlafen gegangen, menschlicher Voraussicht nach auf Nimmererwachen. „Habent sua fata libelli“ – warum hat der Dichter nicht hinzugesetzt „et auctores?“ Die Geschicke der letzteren sind wahrlich nicht weniger wunderbar und zwar wunderbar nach der tragischen Seite hin, d. h. leid- und jammervoll. „Welch schçner Geist ist hier zerstçrt!“ wird jeder, der Nietzsche als Sprachmeister und als Denker kannte, wird auch der ausgesprochene Gegner seiner Grund- und Lehrstze im Hinblick auf sein Verhngniß sagen mssen. Er war eben doch eine durch und durch von Geist durchleuchtete und durchklrte Natur, welche wieder ihre Lichtstrahlen mit Naturnotwendigkeit aussenden musste, unbekmmert darum, ob das Licht erwrmte und durch sein Farbenspiel erfreute, oder ob es seinen kalten grellen Schein ber ein Todtenfeld warf. Ihm graute vor keinem Abgrund der Menschennatur und des Menschengeschickes, und seine Flugkraft trug den Furcht- und Schwindellosen zu den einsamen Hçhen des Gedankens, von wo sein Auge in die ghnenden Tiefen um so sicherer eindrang: auf diesem Flug allein, zwischen Himmel und Erde, ist ihm wohl gewesen, da schlrfte er Luft, an der er gedeihen konnte; auf fester Erde, mit anderen Menschenkindern, sich breit und behaglich einzurichten, zu essen, zu schlafen, und zu freien, – dazu war seine Natur zu fein organisirt; wer Schwingen hat, den leidet es nicht an der Scholle. Excelsior! Und immer hçher ging es, den Freunden bangte, ob jeder neuen Luftfahrt – denn mehr und mehr entledigte sich der khne Schiffer des blichen Ballastes und steuerte in grausigere Hçhen – sie dachten an Icarus, und der jhe „Fall“ hat ihren Befrchtungen leider Recht gegeben, noch frher als sie geahnt. Ob der Sturz geschah, weil der Arme der Sonne zu nahe kam, oder ob er bewirkt wurde von Ursachen, die von Anfang an in der Physis des Gefallenen schlummerten – wer will das sagen? Als im vorigen Jahre von Nietzsche’s Hand „der Fall Wagner“ erschien, da trauten Freund wie Feind ihren Augen nicht: „Wie? Ist das Friedrich Nietzsche, weiland der Herold des ,Meisters‘, jetzt sein Todtengrber, sein Thersites, der unerbittlich mit kaltem, ja schneidendem Hohn Blatt um Blatt den Lorbeerkranz des frher Vergçtterten zerpflckt?“ Und obendrein ohne diesen Wandel der Gesinnung auch nur durch ein Wort zu rechtfertigen, mit einer Miene, als ob dieß von jeher seines Amtes und Thuns gewesen wre! Ist das spontane Entwicklung eines vorwrts strebenden Geistes, der sich mehr und mehr aus den Schlacken des Vorurtheils herausschlt? Oder ist in das Schwungrad dieses beweglichen Geistes irgendeine unheimliche Macht gefahren, die es quer in die Nacht des Wahnes trieb? Ein Drittes gab es nicht, konnte es nicht geben. Hier galt es keine erlittene Krnkung zu rchen, und selbst wenn eine solche vorhanden gewesen wre, so war ein solches Rachegelste, zumal gegenber einem Todten, bei dem noblen Charakter Nietzsche’s rein undenkbar, ja rein unmçglich. Sein „Menschliches, allzu Menschliches,“ dem er ja natrlich auch Tribut zahlte, war denn doch von besserem Korn. Wer das Buch las, ohne die
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Antecedentien des Verfassers zu kennen, und ohne mit Haut und Haar, d. h. mit Urtheil und Nachdenken dem Wagner-Cult verfallen zu sein, der musste sich sagen: Das ist ein Schwert, das der Geist schwingt! Das sind Hiebe, die ins Mark gehen, von denen kein Getroffener wieder aufsteht! Wehe ihm! Auf einmal aber ward es hell, aus einer unscheinbaren Anmerkung zuckte ein greller Blitz, unheimlich hell, denn er beleuchtete mit einem Mal die Anstze eines unheilbaren Nebels. So schrieb keine gewçhnliche Eitelkeit, kein schriftstellerischer Grçßenwahn, in diesem lapidaren Mene mene tekel war Schlimmeres verborgen. Es trat nur zu bald zu Tage. Zwar nicht in der letzten Schrift, sondern in der grausamen Wirklichkeit des Lebens. Denn jene enthlt zwar des Trostlosen genug, zeigt aber, mit Ausnahme einer einzigen Stelle, aus welcher der oben angedeutete Blitz zum zweiten Mal aufzuckt, nicht eine Spur von Geisteszerrttung. So unerbittlich der Verfasser mit Gott und Menschen, mit frheren Gçttern und Gçtzen umspringt – der Titel „Gçtzendmmerung“ wird durch den Nebentitel „oder wie man mit dem Hammer philosophirt“ wahrheitsgetreu illustrirt – diese Sprache spricht kein Wahnsinniger; dieser eisige, grauenerweckende Pessimismus, der sich aus Furcht vor sich selber mit der Miene der naivsten Frçhlichkeit und Heiterkeit zu belgen sucht, wird scharf, schneidig, geistreich, ja von einem berlegenen Verstand verfochten. Wenn man die Hiebe nachprft, die auf Kant, aber auch auf Schopenhauer, aber auch auf Plato niederregnen, ist man eher versucht, zu rufen: Armer Kant! armer Plato! als „armer Nietzsche!“ Mit solcher Wucht und mit solchem Geschick geschieht der Angriff; die Grazie freilich, an die uns Nietzsche gewçhnt hat, kommt hie und da zu kurz. Aber scharf wie Stahl, klar wie Krystall ist – die mystisch angehauchten Aphorismen ausgenommen – diese Sprache: man sieht durch dieses Gefß hindurch das Herz des Denkers zucken: keine Schçnthuerei, kein falsches Pathos, nichts Gespreiztes, wenn auch viel Bildliches, so doch nichts Geschraubtes; Nietzsche verschmht die Blume, verschmht vor allem das Feigenblatt; es sind dstere Schattenbilder, die er vor uns entrollt, aber es sind die wirklichen Reflexe seiner Seele, und wenn uns auch grauen mçchte vor dieser ungeschminkten, rcksichtslosen Offenheit – mnnlich, tapfer ist sie doch. Wer Nietzsche nicht kennt, kçnnte vielleicht dieses ungethme Hasten, dieses rastlose Grbeln nach dem Innersten, dem Kern der Dinge und diesen scheinbar souvernen, im Grunde aber ohnmchtigen Hohn, die Weltrthsel wie Seifenblasen wegzuhauchen, fr Absicht und Affectation halten – das Cokettiren mit dem Teufel und allen seinen bçsen Mchten ist ja nichts Ungewçhnliches in der modernen Literatur – wer ihn kennt, wird sein Glaubensbekenntniß fr heiligen Ernst halten, heilig oder unheilig, wie man will; denn gegen das, was der gewçhnliche Mensch heilig nennt, bumt sich ja dieser Ernst in hçchst unheiligem Trotze. Und sagen wir: mit bitterem Ernst, so spricht wieder der Schein dagegen, denn dieser Ernst geberdet sich ja recht frçhlich bei dem trostlosen Elend dieser Welt und thut, als hebe schon diese
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Erkenntniß allein den Menschen empor aus dem Meere der Unsal und seiner Bitterkeit. Das luft darauf hinaus: Der Philosoph Nietzsche sucht den Menschen Nietzsche zu tuschen. Ob es ihm wirklich gelungen ist? Wir glauben nein! Die „Formel seines Glcks“ nennt er „ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel“ – aber ist das ein Glck und hat er ein Ziel? In seinen letzten Blttern suchen wir vergeblich, nach einem solchen. Den Sokrates nennt Nietzsche „den klgsten der Selbstberlister.“ Ob nicht dieses Prdicat zum Theil auf ihn selber paßt? So wohlfeil der gewçhnliche Einwand gegen den Pessimismus ist, er mache seine Bekenner nicht glcklich – als ob das Ziel des Philosophirens „das Glck“ wre und es berhaupt feststnde, daß der Mensch zum Glck bestimmt sei! – so gezwungen ist dieses Lcheln, dieses Tndeln mit dem Glck; ein mnnlicher Schrei: „Abgeschafft ist das Menschenglck!“ wrde die beklommene Brust eher erleichtern, denn er wre Natur. Was machen die Freunde und „Brder“ Nietzsche’s mit der ihnen am Schlusse in pythischer Verzckung angebotenen „Seligkeit“? „Seligkeit muß es euch dnken, eure Hand auf Jahrtausende zu drcken, wie auf Wachs, Seligkeit, auf den Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz – hrter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist mir das Edelste. Diese neue Tafel, o meine Brder, stelle ich ber euch: Werdet hart!“ Das klingt orakelmßig rthselhaft, verstndlich nur dem Gleichgesinnten und Gleichgestimmten. Aber auch der Uneingeweihte hçrt ahnend aus diesem glckverheißenden Prophetenmund die Obertçne des Zweifels, ja der Verzweiflung heraus! Ein „Systematiker von Fach“ zu sein, hat einer Natur wie Nietzsche nie beifallen kçnnen. Seine Strke beruht vornehmlich in der Opposition, in der Stellungnahme zu den zeitbewegenden Problemen der Philosophie, aber auch zu den Fragen der Gegenwart berhaupt. Die meisten und wichtigsten derselben sieht er falsch angefaßt, verkehrt behandelt und will sie klarlegen, reinigen von dem Wuchergestrpp jahrtausendalten Vorurtheils und Aberglaubens. Nun ist jeder weggerumte Irrthum gleich einer neugefundenen Wahrheit, also auch ein positiver Gewinn, indessen damit begngt sich Nietzsche nicht; wo ein so heller Verstand von einer reichen Phantasie befruchtet wird, hlt es nicht schwer, Material zu einem Neubau zu finden – und doch kçnnen wir uns unmçglich wohl und behaglich fhlen in diesem Bau; es sieht aus wie in einem Gespensterhaus. Ist es wirklich solides Material, was uns der Bauherr herschafft? Er will uns selber bauen lassen, nach seinen Anleitungen – Andeutungen besser gesagt, denn jene sind gar zu aphoristisch, apophthegmatisch, ja sogar mystisch – und wir verstehen oft nicht, wie er’s meint; so knapp, gedrungen, imponirend die Sprache, so verborgen oft die Gedanken, und wir erhalten den Schlssel nicht. Aber selbst wenn uns alle Einzelheiten faßlich und verstndlich wren – es fehlt die Hauptsache, der Unterbau; wenigstens noch zur Stunde; in Zukunft mag es ja anders werden.
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Mit dem Christenthum, „einer Metaphysik des Henkers,“ „einem der beiden großen europischen Narcotica, der Alkohol ist das andere“ – berhaupt mit der Religion und der Moral im bisherigen Sinne, mit dem lieben Gott (dem „grçßten Einwand gegen das Dasein“), rumt er in mehr als einem Ansturm auf und glaubt „damit erst die Welt zu erlçsen.“ Wie die Welt in Zukunft beschaffen sein wird, weiß Keiner, daß keine Religion, keine Moral fr die Ewigkeit geschaffen ist, weiß Jeder, der denken will, aber ebenso gut, daß die Welt, wie sie nun einmal ist, durch eine einfache Negation der hçchsten heute waltenden Mchte nicht „erlçst“ wird. Man wrde Nietzsche Unrecht thun, wollte man in ihm einen Idealisten erkennen, der von seinem Phrontisterion aus das Treiben der Welt sich besieht und in seinem Gehirn – ganz unbekmmert um die Verwirklichung seiner Ideen – sich ein solches Menschenheim construirt, wie es seinen Begriffen von Vollkommenheit mçglichst entspricht. – Nietzsche sitzt nicht bloß als Speculator auf seiner Warte, sondern auch als Reformator; nicht bloß fr sich denken will er, sondern fr Andere, fr die Welt wirken; darum getraut er sich auch, von Kant als „einem verwachsensten Begriffskrppel“ (!) zu reden, darum bekreuzt er sich vor den Klgeleien und Haarspaltereien der Dialektik, darum haßt er alle unfruchtbaren Menschen und Dinge, welche uns die wirkliche Welt unter den Fßen wegziehen und sie in eine scheinbare umwandeln wollen, hinter welcher, aber ewig unerkennbar, die wirkliche sich versteckt, Heraklit hat Recht, sagt Nietzsche, die „scheinbare“ Welt ist die einzige, die „wahre“ Welt ist nur hinzugelogen, – Wird sich nun noch Jemand wundern, daß auch Plato, der frher vergçtterte, von dem Wehen des neuen Geistes weggeblasen wird? – Nietzsche gibt sich, wie man sieht, eine erstaunliche Mhe, sich das Kleid des Realismus auf den Leib zu schneiden, ja, es sitzt ihm bereits, und er thut, als fhle er sich wohl darin. Nur als solcher darf er sich an seine deutschen Brder wenden und ihnen recht praktische Rathschlge ertheilen, oder recht derbe Wahrheiten sagen; von jenem idealen Patriotismus, der seine Feder nur in Honig taucht, will er augenscheinlich nichts wissen, hierin ein Nachfolger des frher verhimmelten und auch jetzt noch als Denker hochgehaltenen, gleichwohl aber als „psychologischer Falschmnzer“ stigmatisirten Schopenhauer, der einmal gesagt hat: „Der Patriotismus, wenn er sich im Reiche der Wissenschaft geltend machen will, ist ein schmutziger Gesell, den man hinauswerfen soll.“ Unserm Philosophen, einem begeisterten Apostel der wahren Bildung, der echten Humanitt, liegt die „steife Tçlpelei“ des deutschen Wesens nicht recht, die sich sogar im leiblichen Gebahren recht unliebsam ausprgt. Nun fragen wir aber – es ist das freilich nur eines der großen Fragezeichen, die wir hinter einer Unzahl von Nietzsche’s Behauptungen zu setzen htten – gehçrt zur Humanitt nicht auch ein gewisses Maß von Piett, wenigstens so lange die Gerechtigkeit ihr Veto nicht einlegt? Gewiß. Ist es also human, einen Dichter und Denker, auf den die Nation – nicht aus Patriotismus, sondern aus Gerechtigkeitsgefhl –
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stolz ist, zu jenen „Unmçglichen“ zu werfen und ihn als „Moral-Trompeter von Sckingen“ zu persiffliren, bloß deßwegen, weil dem schwbischen Denker die Moral nicht als „Widernatur“ erschien?! Es thut einem weh, einer Natur, wie Nietzsche, die mhelos aus dem vollen Strom des Geistes schçpfen kçnnte, ab und zu die Rinnsale der „Geistreichigkeit“ aufsuchen zu sehen. Hier ist ein Punkt, wo Nietzsche trotz seinem Ernst, trotz seiner Wahrheitsliebe dem „Menschlichen, allzu Menschlichen“ in bedauerlichem Grade gehuldigt hat. Es lag ihm weniger daran, den oder jenen in seinen „Unmçglichen“ zu persiffliren, als sich selber in der Glorie des geistreichen Mannes zu zeigen. Ist es noch der alte Nietzsche, der sich von dieser Seite zeigt? oder wirft das entsetzliche Ereigniß, das dem fertigen Buche auf dem Fuße nachfolgte, bereits seine Schatten voraus? …. Man scheidet von dem Buche, aus welchem, wie aus einer Tragçdie, die Affecte der Furcht und des Mitleids auf uns einstrmen, mit tiefer Wehmuth, aber auch nur mit Wehmuth – das Aufathmen, das erlçsende Gefhl der Shne fehlt. Es wird uns unmçglich, den Verfasser von seinem Buche zu trennen, er spielt sogar die Rolle des Helden darin – und dieser Held ist untergegangen, ohne daß eine sittliche Macht seinen Untergang als Shne verlangt htte; er ist auch untergegangen, ohne sein Versprechen „der Menschheit ber kurzem das unabhngigste Buch“ gegeben zu haben, zu erfllen. Wir fragen uns: „noch unabhngiger als das eben besprochene der Gçtzendmmerung? Ist dieß mçglich?“ Und wir denken: Manchem wrde vor dieser Unabhngigkeit gegraut haben.“ Reaktionen Franz Overbeck an Heinrich Kçselitz, 26. 9. 1889: „Mhly hatte auch zwei hçchst panegyrische und jedenfalls gut gemeinte Aufstze ber Gçtzendmmerung und ber ,Fr. Nietzsche‘ berhaupt in der Mnchner Allgemeinen und in der Gegenwart erscheinen lassen.“ Bernoulli, Carl Albrecht: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft. Jena 1908, Bd. 2, S. 337
XIX Gesamtwrdigungen Reaktionen Elise Fincke an N, Dezember 1881: „Verehrter Herr Doktor, Es mag Sie wenig kmmern, dass hier in Amerika 3 Menschen: (Professor Fritz Fincke (Peabody Institute) – Mr. Charles Fischer, unser Freund und ich) oft zusammen sitzen und sich an Nietzsches Schriften auf ’s Innigste erbauen – aber ich sehe nicht ein, weshalb wir es Ihnen nicht einmal sagen sollen. Wir rechnen es der Tiefe Ihrer Gedanken, der vollendeten Diction zu, dass wir nachgerade Nichts Anderes mehr lesen kçnnen und mçgen.“ KGB III/2, Bf. 96, S. 204 Eugen Aragon an Malwida von Meysenbug, Anfang Juni 1884: „Die vier Bnde des Herrn Nietzsche, zumal die beiden jngsten, reifsten, haben mich geradezu entzckt. In seinem Buch ,Morgenrçthe‘ erweist er sich als ein eminent krftiger Kopf und als ein hçchst couragierter Denker. Die Punkte, in denen Herr Nietzsche von Schopenhauer abgewichen ist, sind – (erwiesen sich zu meinem freudigem Erstaunen als) – gerade dieselben, in welchen auch ich von ihm abgewichen bin, nur dass Herr Nietzsche seine Gegenargumente krftiger, deutlicher, grndlich eingehender darlegt als ich es kçnnte, und in einer Weise, dass sich nichts dagegen sagen lsst.“ KGB III/7, 1, Bf. 115, S. 979 Frederik Willem van Eeden274 an N, 23. 10. 1885: „Herzlichen Dank fr Ihr Schreiben vom Mai d. J. Ich habe jetzt fnf Ihrer Bcher, die eine kçstliche Geistesnhrung geben. Schriften solcher Art gefallen mir am ehesten. Sie sind wie Erz, worin man jedesmal neue glnzende Metalle entdeckt, oder wie eine unerforschte wilde Gegend fr den Botaniker. Lebhaft sympathisire ich mit vielen Ihrer Ansichten und Gedanken. Fr Geister wie Sie ist Selbstbeschrnkung im Denken eine Snde. Je freier je unbndiger, desto mehr edles Metall, desto mehr seltene Pflanzen.“ KGB III/4, Bf. 305, S. 65 N an Franz Overbeck, 7.5. 1885: „Der bersandte Brief aus Holland, von einem alten Herrn van Eeden, Direktor des Colonialmuseums in Haarlem, war einer jener ,Huldigungsbriefe‘, bei denen ich immer mich frage: ob diese selbe Gattung von Menschen, wenn sie mit Einem Male erfhren, was ich langsam, 274 Frederik Willem van Eeden (1829 – 1901), hollndischer Blumenhndler und Verfasser botanischer Werke.
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langsam vorbereite, mich nicht wie den Tod hassen wrden. – Mir ist auch diese Art von Freunden seit langem vergllt.“ KGB III/3, Bf. 599, S. 45 N an Elisabeth Nietzsche, 7. 5. 1885: „Ein alter Hollnder aus Haarlem hat mir ein ,Huldigungsschreiben‘ geschickt: daß nach dem Tod Schopenhauer’s ich u.s.w. – Die Leute wissen und riechen nicht genug, wohin es mit mir geht. Ich bin ein gefhrliches Thier und eigne mich schlecht zum Verehrtwerden.“ KGB III/3, Bf. 600, S. 49 N an Constantin Georg Naumann, 7. 5. 1888: „Der genannte Literaturhistoriker [Karl Knortz] verspricht einen englischen Essai275 ber meine gesamten Schriften.“ KGB III/5, Bf. 1031, S. 311 N an Heinrich Kçselitz, 17. 5. 1888: „Aus New York kam seitens eines Bewunderers meines Zarathustra das Versprechen eines grçßeren englischen Essai ber meine Schriften, in einer der ersten amerikanischen Revuen.“ KGB III/5, Bf.1035, S. 317 Ola Hansson an August Strindberg, 5. 12. 1888: „Gerade bin ich mit ,Jenseits von Gut und Bçse‘ befaßt. Ich habe zuvor eine Arbeit von Nietzsche gelesen: ,Zur Genealogie der Moral‘. Ich verspre jetzt dasselbe Gefhl wie damals: Es ist, als sße ich auf einem Karussell. Alles dreht sich fr mich. Aber ich nehme an, daß man diesen Mann mehr als einmal und grndlich lesen muß. Ich vermisse den archimedischen Punkt, einen stabilen Sockel an Fakten. Das Ganze erscheint mir wie ein phantastischer hngender Garten.“ August Strindbergs och Ola Hanssons brevvxling 1888–1892. Stockholm 1938. bersetzung nach Hansson, Ola: Nietzsche. Hrsg. von Erik Gloßmann.1997, S. 90 Jean Bourdeau an N, 27. 12. 1888: „Mon matre et ami M. Monod m’avait signal votre ouvrage intitul Jenseits von Gut und Bçse. Il a eu l’ obligeance de m’envoyer votre brochure sur Wagner, et j’ai promis d’en donner une courte analyse au Journal des Dbats dans le courant de Janvier276.“ KGB III/6, Bf. 636, S. 403 Erwin Rohde an Franz Overbeck, 18/20. 1. 1889: „Er [Nietzsche] hatte mich durch eine ganz wunderliche Anmaßung abgeschreckt, und ich wußte in der That nicht, was ich ihm Erfreuliches ber seine mir aufs Tiefste antipathischen 275 Laut KGB III/7/3, 1, S. 323 ist der angekndigte Essay nicht erschienen. Knortz verçffentlichte vier deutsche Schriften ber N, die erste 1898, s. ebda S. 301. 276 Wohl nicht erschienen, da Bourdeau nach Erhalt eines Wahnsinnszettels Nietzsches auf Distanz ging, vgl. KGB III/6, S. 824, S. 835.
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letzten Schriften sagen sollte (abgesehen vom Formellen, dessen er immer mehr Meister wurde): so schwieg ich lieber, glaubte das sei im Grunde auch ihm die ertrglichste Art des dissensus.“ Briefwechsel Franz Overbeck – Erwin Rohde. Hrsg. von Andreas Patzer und Uvo Hçlscher. Berlin 1989 (Supplementa Nietzscheana Bd. 1), Nr. 81, S. 131 August Strindberg an Ola Hansson, 28. 1. 1889: „Ich glaube, Nietzsche macht mich blind, weil mein Gehirn wie eine Wunde ist! Aus beranstrengung, aber er macht mich gewiß auch verrckt! Denn sein unerhçrtes Selbstgefhl in seinen Bchern hat mir ein ebensolches verliehen!“ August Strindbergs och Ola Hanssons brevvxling 1888–1892. Stockholm 1938, S. 10. bersetzung nach Hansson, Ola: Nietzsche. Hrsg. von Erik Gloßmann. 1997, S. 90 Ola Hansson an August Strindberg, 27. 3. 1889: „Wenn Du Nietzsches ,Morgenrçte‘ und ,Menschliches – Allzumenschliches‘ lesen willst, werde ich Sie Dir mitbringen. Ich habe jetzt ,Zarathustra‘ gelesen, ich genieße ihn gleichermaßen als Poesie und Zukunftsphilosophie.“ August Strindbergs och Ola Hanssons brevvxling 1888–1892. Stockholm 1938, S. 10. bersetzung nach Hansson, Ola: Nietzsche. Hrsg. von Erik Gloßmann. 1997, S. 90
Lehmann, Rudolf: Friedrich Nietzsche. Eine Studie. In: Schmeitzners Internationale Monatsschrift. Chemnitz, Nr. 1, 1882, S. 253–261, 306–322. Friedrich Nietzsche. Eine Studie von Rudolf Lehmann. „Man muss Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, – sonst kann man nicht weise werden; aber man muss ber sie hinaussehen, ihnen entwachsen kçnnen; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht.“ Der uns mit diesen Worten seinen eigenen Entwickelungsgang bezeichnet, ist ein Mann, dem es sich wohl lohnt, einmal nachzugehen. Denn als ein Denker von ungewçhnlicher Tiefe des Geistes und Gemthes, hat er den Kampf der Selbstbefreiung, den jeder ehrlich Strebende zu kmpfen hat, gewaltiger und grndlicher durchgekmpft als die Meisten unter uns von sich rhmen drfen; ein Schriftsteller von ausserordentlichem Geist und Gehalt hat er jede neue Wendung seines Entwickelungsganges durch einen Markstein bezeichnet, bei dem zu verweilen auch fr Den der Mhe werth ist, der lngst jenen Weg hinter sich hat, dessen Anblick aber fr Den, der noch mit den Mhsalen und Be-
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schwerden der Wanderung ringt, eine freudig empfundene Strkung, ein Sporn zu weiterem, frischerem Vordringen werden muss. Dass Friedrich Nietzsche diesen Weg rascher zurckgelegt hat, als wir das sonst gerade bei starken und tiefen Geistern zu sehen gewohnt sind; dass seine ganze schriftstellerische Laufbahn, soweit dieselbe bis jetzt durchmessen ist, wenig mehr als ein Decennium umfasst; dass er im Stande war in einem Zeitraum von weniger als drei Jahren von einer Weltanschauung, die in sich geschlossen und gefestigt schien, zu einer vçllig entgegengesetzten Anschauungsund Auffassungsweise berzugehen und derselben schriftstellerischen Ausdruck zu verleihen: darin wird man zunchst einen Zug unserer Zeit erkennen, die ihre Kinder rascher reift und schneller vorwrtsdrngt, als es frhere Zeitalter thaten. Sodann aber zeigt sich in dieser Art der Entwickelung ein persçnlicher Charakterzug Nietzsche’s, ja geradezu der Grundzug seines schriftstellerischen Charakters. Seine Anschauungen und Ueberzeugungen wechseln, aber es bleibt die Gesinnungstreue, mit der er seine Ueberzeugungen verficht, die Ehrlichkeit, mit der er sie ausspricht. Diese Eigenschaften sind es, die uns die Mçglichkeit einer Wandelung, wie wir sie bei Nietzsche finden, allein zu erklren vermçgen: nur eine tiefernste und willensstarke Natur vermag es, sich so entschieden und consequent von eingewurzelten und lieb gewordenen Ueberzeugungen loszusagen; nur ein unerschtterlich ehrlicher Charakter ist im Stande einem solchen Ueberzeugungswechsel so offen und unentwegt Ausdruck zu verleihen. Und man darf es wohl Nietzschen zum Ruhm aussprechen, dass die hçchste Untreue zuweilen die hçchste Treue ist. I. Zwei Anschauungen sind es, die unsern Schriftsteller in seiner ersten Periode leiten und die seinem Streben bestimmte Richtung verleihen: das hellenische Leben als das Vorbild einer produktiven knstlerischen Cultur und das Wirken Richard Wagner’s als auf das gleiche Ziel gerichtetes, durch That und Schçpfung sich bekrftigendes, vorbildliches Streben. Ein leuchtendes Ideal produktiver Kunst und Cultur ist unter dem Bilde des hellenischen Geisteslebens in unserm Schriftsteller lebendig geworden; in seiner ersten Schrift versteht er es, das Bild davon auch in seinen Lesern zu erwecken. Die Anschauung dieses Ideals vor Augen, die glhende Sehnsucht danach im Herzen, tritt er sodann seiner eigenen, tritt er unserer Zeit gegenber und unternimmt es, sie nach dem Maasstab dieses seines Ideals zu messen. Ach und wer verstnde sie nicht, diese Sehnsucht? wer mçchte es wagen, sich hçhnisch oder hochmuthsvoll abzuwenden von dem Ausdruck einer solchen Stimmung? Wer hat es nicht wenigstens einmal im Leben, in der schçnsten Zeit seiner Jugend, empfunden, wie beglckend es ist, als Knstler zu schaffen, den tiefsten innersten Gehalt der Seele in ein Ganzes, eine eigene
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Form, eine selbstndige Schçpfung zu ergiessen und einer solchen Thtigkeit die schçnsten Stunden des Daseins zu weihen? wer hat das nicht einmal empfunden, sei’s dass er selbst in jugendlichem Wahn die Weihe der Kunst empfangen zu haben meinte, sei’s dass ihm im Anschauen und Geniessen eines erhabenen Kunstwerkes die beglckende Macht des Genius plçtzlich aufging? Und wer diese Stimmung nie unmittelbar empfunden, niemals an sich selbst erlebt und erfahren hat, dem wird sie doch mittelbar verstndlich geworden und berechtigt erschienen sein, wenn er die sonnige Heiterkeit, die ber allem griechischen Leben und Schaffen liegt, mit dem freudlosen Ernst und der strengen Resignation unseres modernen Lebens und Arbeitens vergleicht. Aus einer solchen Stimmung heraus werfen wir dann wohl einen Blick der Sehnsucht nach jener fernen glcklichen Zeit des schçpferischen Hellenenthums und nach dem so viel nher liegenden und doch so unwiederbringlich verlorenen Zeitalter unserer deutschen klassischen Litteratur: dann fhlen wir uns wohl versucht, unserer eigenen Zeit zu grollen, dass sie schonungslos in den Staub tritt, was sich in Keimen und Wurzeln knstlerischer Cultur in ihr regt, dass so viele zarte Anlagen und Triebe in ihrer eisigen Luft erstarren, bevor sie zur Entfaltung gelangt sind, und dass auch die energievolleren Krfte, die sich gewaltsam Bahn brechend zur Entwickelung gelangen, es doch nicht zu einer tief eingreifenden und allgemeineren Wirksamkeit auf ihre Zeit bringen kçnnen: mit einem Worte, dass das Zeitalter, in welchem wir leben, ein innerlich unknstlerisches ist, dass es seinen Brgern ganz andere Aufgaben und Arbeiten aufld, deren Bewltigung nicht minder Ernst und Mhe kostet, aber den Einzelnen wenigstens weit weniger zu beglcken vermag als die knstlerische Production in ihrer selbsteigenen Seligkeit. Tiefer nun und energischer als andere ist unser Schriftsteller von diesem Gefhl durchdrungen: vçllig beherrscht wird er von der heissen Sehnsucht, jene moderne Resignation von sich abzuschtteln und sich Leben zu erringen, „frisches und volles Leben“, leben aber und knstlerisch schaffen ist ihm Eins. Eine bestimmtere Richtung und zugleich eine intensivere Kraft erhlt das Streben Nietzsche’s durch seine Anknpfung an Wagner; es ist eine nationale, eine deutsche Cultur, die er, wie sein Meister und Vorbild, ersehnt und erkmpft; der deutsche Geist ist es, der durch Schçpfung einer eigenen Kunst und Cultur einen hçchsten Sieg erringen soll, einen hçheren als je deutsche Waffen ber feindliche Heere davon getragen haben. Und wie sich solche Stimmungen und Anschauungen kraftvoller und bestimmter in der Seele unseres Schriftstellers ausgesprochen haben, als bei den meisten anderen, so regt sich auch – wie kçnnte das anders sein – heftiger und strker in ihm jener Groll ber das, was sich seinem Streben entgegenstellt; ja, es steigert sich diese Stimmung zum entschlossenen Kampfesmuth. Sein Ideal fest und unverrckbar vor Augen, unternimmt es der Schriftsteller, sich seiner Zeit gegenberzustellen, mit diesem Maasstab in der Hand, wagt er es, sich ihr zum
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Richter aufzuwerfen, und wird das Urtheil anders ausfallen kçnnen als verwerfend? Die Schrift, in welcher Nietzsche die Anschauungen seiner ersten Periode grundlegend und im Zusammenhang darzustellen gesucht hat, ist im Jahre 1872 erschienen und fhrt den Titel „die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“. Es ist, wie dieser Titel andeutet, ein einzelnes sthetisches Problem, bei dem die Betrachtung anhebt, freilich ein Problem, das im Mittelpunkt alles Kunstlebens wie aller Kunstbetrachtung steht und ber das es nicht mçglich ist, ausfhrlicher zu sprechen, ohne dass man zugleich die fundamentalsten Fragen aller Kunst, ja des geistigen Lebens berhaupt zur Sprache bringt. Wie die griechische Tragçdie dereinst unter dem gesegneten Volke der Hellenen entstand, blhte und verging und was sich dieser ihrer Geschichte zufolge als ihr eigentliches Wesen dem Forscher ergiebt, das wird im ersten Theile des Buches unter einem eigenthmlichen Gesichtspunkt dargestellt und beleuchtet. Es ist nun aber die hiermit bezeichnete erste und umfangreichere Hlfte des Buches dem Verfasser nur Mittel zum Zweck und dieser Zweck ist die Lçsung einer anderen Frage, die uns nher und unmittelbarer berhrt als alle allgemein wissenschaftlichen Probleme, der Frage nmlich: drfen wir, die Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts, auf eine Wiedergeburt der Tragçdie unter uns hoffen? Wird die Macht, welche dereinst den Untergang des hçchsten Kunstwerkes, das die Welt kennt, der griechischen Tragçdie, herbeigefhrt hat, wird diese Macht „fr alle Zeiten genug Strke haben, um das knstlerische Wiedererwachen der Tragçdie zu verhindern?“ Und wenn dies nicht der Fall sein sollte, wenn die Mçglichkeit eines solchen Wiedererwachens nicht bestritten werden kçnnte, giebt es auch etwas, das die Wahrscheinlichkeit desselben positiv verbrgt? Diese Frage unternimmt Nietzsche folgendermaassen zu beantworten: Auf dreifache Art, sagt er, vermag der hçher organisirte Menschengeist sich ber die Last und Schwere des irdischen Daseins hinweg in eine ideale Existenz zu flchten; einen dreifach verschiedenen Mittelpunkt kann er seinem geistigen Leben schaffen und drei mçgliche Arten der Cultur sind es demnach, die man zu unterscheiden hat: eine knstlerische, eine wissenschaftliche und eine tragische Cultur. Fr alle Zeiten wird die Cultur der Hellenen das Idealbild einer knstlerischen Geistesentwickelung bleiben. Das hçchste Produkt dieser Entwickelung ist die Tragçdie; ihre vollendeste und erhabenste Gestaltung fand dieselbe durch Aeschylus. Es erwuchs nun aber die hellenische Cultur und es erwuchs zumal die griechische Tragçdie aus dem Untergrunde des Mythos; der Mythos selbst aber, der die Weltanschauung und Lebensweise der Hellenen tausendfach bestimmte, ist ein Erzeugniss der ursprnglichen, zugleich dichterisch und musikalisch wirksamen und schçpferischen Kraft des herrlichen Volkes. Die knstlerische Cultur bedarf, um zu leben und zu gedeihen, der Mythen schaf-
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fenden, musikalisch-dichterischen Volksphantasie. Wer sie dieses „mtterlichen Grundes“ beraubt, der entwurzelt sie und zerstçrt ihren Lebenskeim, so dass sie verdorren muss. Sonderbarer Weise ging nun mitten aus dem Schoosse der hellenischen Cultur eine Richtung hervor, die dem inneren Wesen derselben so gnzlich entgegengesetzt war, dass ein Kampf zwischen beiden unvermeidlich ward, dass der Sieg der neuen nur zur Vernichtung der alten Culturmacht fhren konnte. Der erste und fr immer maassgebende Vertreter dieser neuen siegreichen Macht war Sokrates. Der Typus, den Sokrates zum ersten Mal und in hçchster Reinheit und Energie zum Ausdruck brachte, ist der des wissenschaftlichen, des „theoretischen Menschen.“ Was ihn und die durch sein Ideal bestimmte Richtung beherrscht und bezeichnet, ist die Ueberzeugung, dass das Heil der Menschen nicht im religiçsen Glauben, nicht in schçpferischer Kunst, sondern einzig und allein im Wissen beruhe, dass gegenber der klaren Bewusstheit des wissenschaftlichen Denkers die begeisterte Intuition des schaffenden Knstlers werthlos sei, und dass die Menschheit daher ihre edelsten Krfte ausschliesslich auf die Erforschung der Wahrheit zu verwenden habe. Dieser Gedanke bedeutet eine Revolution in der Entwicklung des menschlichen Geistes, und man darf das Auftreten dessen, der ihn zuerst aussprach, der ihn durch sein Leben wie durch sein Sterben verfocht und vertrat und ihm mit dmonischer Gewalt die Herrschaft in den Herzen der Menschen erstritt, man darf das Auftreten des Sokrates mit Fug als einen Wendepunkt in der Geschichte des geistigen Lebens der Menschheit bezeichnen. Denn Sokrates legte den Grundstein zu dem gewaltigen Bau, der in der „erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart“ gipfelt, an den die Menschheit seit Jahrtausenden ihre beste Kraft gesetzt hat; er sprach zuerst den Gedanken aus, der seitdem ununterbrochen als hçchstes Ideal den begabtesten Geistern, den edelsten Charakteren vorgeschwebt hat. Wir sind heute noch, unsere ganze moderne Welt ist in dieser sokratischen oder nach dem Ausdruck des Verfassers „alexandrinischen“ Cultur „befangen und kennt als Ideal den mit hçchsten Erkenntnisskrften ausgersteten, im Dienste der Wissenschaft stehenden theoretischen Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist.“ – Diese gewaltige Culturmacht nun aber, so weit sie ihren Schatten wirft und so sehr die Festigkeit ihres Stammes durch Dauer verbrgt zu sein scheint, – ihre Wurzel ist eine „tiefsinnige Wahnvorstellung“; und dieser allein verdankt sie ihr kraftvolles Emporblhen, ihre weitausgebreitete Herrschaft. Wie nmlich Sokrates selbst, so wird auch jeder seiner Nachfolger, der „theoretischen Menschen“, in die Bahn seiner Thtigkeit getrieben und auf derselben bestndig zu weiterem Vordringen gestrkt und gespornt durch den „unerschtterlichen Glauben, dass das Denken an dem Leitfaden der Causalitt bis in die tiefsten Abgrnde des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu er-
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kennen, sondern auch zu corrigiren im Stande sei.“ Ohne diesen Glauben – wrden da wohl tausende und abertausende der edelsten Geister ihre beste Kraft an das Erkennen gesetzt haben? Dieser Glaube, nun aber ist ein Wahn, und er birgt den Keim einer Gefahr in sich, die dem sieghaften Wachsthum der Wissenschaft frher oder spter, aber unvermeidlich ein Ende zu setzen droht. Nothwendiger Weise nmlich wird die Wissenschaft in ihrem „ungebndigten Vorwrtsdringen“ einmal an Grenzen gelangen, wo sie erkennen muss, dass ihre Macht nicht weiter reicht, dass jene erhabene Ueberzeugung von ihrer eigenen Allmacht ein Wahn war; wo sie es inne wird, dass „alles menschliche Wissen an der Oberflche der Dinge unvermeidlich haften bleibt“ und dass es ihr niemals vergçnnt ist, das Wesen, das wahre Sein zu erfassen. Und an diesen Grenzen angelangt, wo sie „in das Unaufhellbare starrt“, sie da nicht zu gleicher Zeit an ihrer Kraft und an ihrer Berechtigung zu zweifeln beginnen und wird ein solcher Zweifel nicht mit Verzweiflung an Beidem enden? Da bricht denn nothwendiger Weise „die neue Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die sich, ungetuscht durch die verfhrerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigene Leiden zu ergreifen sucht.“ Wo eine solche Weltanschauung zur herrschenden wird, da bildet sie den Mittelpunkt einer neuen Culturform, der Cultur des „praktischen Pessimismus“, der „tragischen Cultur.“ Deren Beispiel erblicken wir in der buddhistischen Cultur Indiens, aber eben diese ist uns auch ein Beweis dafr, dass ein Volk eine solche Weltanschauung auf die Dauer nicht ertrgt, dass es geistig und am Ende auch physisch an ihr zu Grunde gehen muss, wenn nicht eine andere, eine strkere Macht rettend in den Gang der Entwickelung eingreift. Nun ist es offenbar, – so argumentirt unser Schriftsteller – dass die gewaltige Entwickelung, die mit Sokrates ihren Anfang nahm, in Kant ihren Abschluss gefunden hat. Die Kritik der reinen Vernunft hat jenen Glauben, welcher die „Wurzel“ der Wissenschaft ist, den Glauben an die Erkennbarkeit der Welt, von Grund aus zerstçrt, und damit ist die Wissenschaft an ihrer Grenze angelangt, wo ihr nichts brig bleibt als sich selber zu verneinen. „Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kants und Schopenhauer’s“ ist es zu danken, dass die Wissenschaft an dieses ihr Ziel gelangt ist, dass sie selbst ber den optimistischen Wahn, dem sie ihre Entstehung verdankt, den schwersten Sieg erstritten hat. – Und nun, nachdem dies Ziel erreicht, nachdem die „tragische Erkenntniss“, der Weisheit letzter Schluss, erreicht ist, – wer schtzt uns vor seinen verderblichen Folgen, vor dem Versinken in die „tragische Weltanschauung“, in den praktischen Pessimismus? Wer vermag das, wenn nicht die Kunst, die „Kunst des metaphysischen Trostes“, die Tragçdie. So ist die Wissenschaft durch den Zug ihres eigensten Wesens bis zu den Grenzen gefhrt, „wo sie in Kunst umschlagen muss“; ihre Jnger sind zu der
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tragischen Erkenntniss vorgedrungen, „die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht“. Dass nun aber diese Noth sich wirklich das Rettungsmittel selber finden wird, dass wir nicht zu frchten brauchen, in dem Abgrund des praktischen Pessimismus unterzugehen, sondern vielmehr hoffen drfen uns durch lebenskrftige Neuschçpfungen zu erheben und zu erretten, dafr brgt uns eine andere Macht, die „aus dem Grunde des deutschen Geistes emporgestiegen“ mit der sokratischen Cultur nichts gemein hat, dafr brgt uns die deutsche Musik. „In ihrem mchtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner“ ist die Musik auf einen Hçhepunkt gelangt, wo eine fernere Steigerung nicht mehr mçglich erscheint; aber eben dies macht es nothwendig, dass sie nunmehr zum zweiten Male jenes Kunstwerk gebre, das nur zugleich als Mittel- und Hçhepunkt einer knstlerischen Cultur gedacht werden kann: die Tragçdie. Dies ist der Hauptinhalt der ersten Nietzsche’schen Schrift und dies das Ergebniss, zu dem sie fhrt. Dass die Wissenschaft ein Wahn sei und alles Heil auf der Kunst beruhe, diese Vorstellung bildet die Grundanschauung Nietzsches in seiner ersten Periode; von hier aus empfangen alle seine einzelnen Anschauungen und Urtheile Charakter und Farbe, alle seine Bestrebungen ihre Impulse. Die Kunst befreit und heilt den Menschen von den Uebeln des Lebens; die Erlçsung durch sie tritt dem Schriftsteller an die Stelle der Erlçsung durch Weltverneinung und Askese, wie sie Schopenhauer lehrte. Durch die Kunst wird der einzelne Mensch abgelenkt vom Schmerz und von der Noth des Daseins; in ihr finden alle Krfte der Menschheit, die sich sonst als peinigende Begierden ussern und in mhevollen Kmpfen entladen, eine gleichmssige harmonische Beruhigung. So ist die Kunst die Erlçserin des Einzelnen wie der ganzen Menschheit; sie ist das Eine, das noth thut, sie immer und immer wieder zu erzeugen, zu beleben und zur Herrschaft zu bringen, ist die wahre und einzige Aufgabe dessen, der fr die Menschheit oder fr ein Volk arbeiten will. – Die Intentionen des Schriftstellers – man sieht es – sind khn und gross; aber freilich es sind nur Intentionen, und die Ausfhrung, die sie in dem Buche von der Geburt der Tragçdie finden, entspricht ihnen noch keineswegs. Das Buch sucht die Anschauungen seines Verfassers mehr in ihrem inneren Zusammenhang zur Darstellung zu bringen als sie im einzelnen zu beweisen, und der Stil ist vielmehr rhetorisch als wissenschaftlich argumentirend. In grossen Zgen – zuweilen sind es blosse Andeutungen – bewegt sich der Gedankengang fort; und so bleiben denn am Schlusse genug der Fragen offen, genug der Widersprche ungelçst, von deren mçglicher oder unmçglicher Hebung das Urtheil ber das Endresultat des Buches wesentlich abhngen muss. Zunchst nmlich wird man sich fragen, ob denn wirklich, wie Nietzsche behauptet, die gewaltige und tief einschneidende Wirksamkeit Kants, welche dem wissenschaftlichen Streben des Menschengeistes eine fr immer feste und
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unbersteigliche Schranke fand, hierdurch auch nur die leiseste Spur eines Ermattens, geschweige denn ein Erlçschen dieses Strebens hervorgerufen hat. Man wird von vornherein zugeben mssen, dass in diesem Fall der Schein unerhçrter Weise trgen wrde und dass Kant selber sich mit allen Anderen durch die Resultate seiner eigenen Philosophie htte tuschen lassen: er nmlich berief sich darauf, dass er durch die Vernunftkritik der wissenschaftlichen Forschung eine Schranke aber keine Grenze gezogen habe, und er glaubte gerade dadurch der Wissenschaft selbst den besten Dienst geleistet zu haben, dass er das immerhin unendlich grosse Gebiet des Mçglichen und Erreichbaren von dem unermesslich grçsseren des Unerreichbaren durch feste Bestimmung geschieden habe. Und so wird man denn auch – wenigstens so lange man dem usseren Anschein folgt – der Ansicht zuneigen mssen, dass seit Sokrates selbst, dem Vater der „theoretischen Cultur“, keine Persçnlichkeit und kein Ereigniss eine so gewaltig belebende Wirksamkeit auf die Wissenschaft aller Zweige ausgebt, ein so machtvolles Aufblhen der menschlichen Erkenntniss hervorgerufen hat als Kant und die Kritik der reinen Vernunft. Wenn nun jemand – so mssen wir fragen – angesichts dieser reichen und fruchtbaren Entwicklung die Behauptung wagt, dass mit Kant und Schopenhauer die wissenschaftliche Cultur zu Ende gegangen sei, wenn er dadurch ber die Wissenschaft, wie sie sich nach Kant und unter seinem Einflsse entfaltet hat, ja ber das gesammte Geistesleben einer Zeit, deren Mittelpunkt eben Wissenschaft ist, das Verdammungsurtheil ausspricht, wie vermag er es ein solches Urtheil zu begrnden? Der Beantwortung dieser und mancher hnlichen Fragen und Einwrfe dient eine Reihe von Abhandlungen, welche Nietzsche in den Jahren 1873 – 76 insgesammt unter dem Titel: „Unzeitgemsse Betrachtungen“ herausgab; – unzeitgemss sollen sie wirken, – so erklrt der Verfasser den eigenthmlichen Namen – „d. h. gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit“. Von diesen Abhandlungen ist die erste gegen David Strauss’ Buch „der alte und der neue Glaube“ gerichtet. Der leidenschaftlich-satyrische Ton der Schrift hlt nicht berall die Grenzen ein, welche einem Manne wie Strauss gegenber, auch wenn man gegen ihn polemisirt, durchaus geboten erscheinen; in der Sache zeigt sich bereits hier die ungemeine kritische Begabung Nietzsches. Als die Schrift herauskam, schlug sie mitten hinein in die jubelnde Begeisterung, die das Straussische Buch bei seinem Erscheinen erweckt hatte; wo sie beachtet wurde, erregte sie peinliches Aufsehen, trug dem Verfasser mannigfache und erbitterte Anfeindung ein: heute ist jenes Buch fast vergessen, und wo man noch darber spricht und urtheilt, da geschieht es in einer Weise, die von dem Inhalt der Nietzsche’schen Kritik wenig abweicht: hat doch selbst ein Mann von der
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milden Gerechtigkeit Fr. Albert Langes277 nur ein Verdammungsurtheil ber das Buch auszusprechen vermocht. Von weit umfassenderer Bedeutung jedoch und von fundamentalerer Tiefe ist das zweite „Stck“ der „Unzeitgemssen Betrachtungen“, berschrieben: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben.“ Denn hier tritt der Schriftsteller der verhassten Gegnerin, der „alexandrinischen Cultur“, dem von der Wissenschaft beherrschten Leben, unmittelbar, gleichsam Aug’ in Auge gegenber und sucht sie mit den scharfen Waffen der Kritik zu berwinden. Mit dem Scharfblick des Hasses durchdringt er alles Scheinwesen, alles Gleissende und Aeusserliche, womit sich so viele Seiten unseres geistigen und gesellschaftlichen Lebens lgnerisch umhllen, erspht er dahinter alles Morsche und Faule. Der Zwiespalt zwischen Erkennen und Handeln, zwischen Wissen und Wirken, an dem das Leben der Modernen im Ganzen wie im Einzelnen krankt, die noch unheilvollere Kluft, welche die historische Bildung zwischen den verschiedenen Volksklassen, den „Gebildeten“ und den „Ungebildeten“, gegraben hat und bestndig vertieft, das Unzureichende aller Versuche, „die man machen kann, um diese Kluft zu berbrcken, sowie die Gefahren, welche die versuchte und angestrebte Volksaufklrung unvermeidlich mit sich fhrt, die Schdigung endlich, welche der Charaktererziehung unserer Jugend durch die Ueberhufung mit Wissensstoff, durch die allzu einseitige intellektuelle Bildung erwachsen ist – nie sind diese Mngel und Schden der historischen Bildung tiefer empfunden, umfassender erkannt, klarer und schrfer zum Ausdruck gekommen als in dieser Darstellung. Es ist ein kritisches und stilistisches Talent allerersten Ranges, das sich in ihr offenbart. Wenn nun aber ein Schriftsteller eine solche Kritik anzustellen wagt, wenn er im Hinblick auf ein Culturideal, das er aufgestellt hat und erstrebt, die Gegenwart verneint und uns auffordert, diese mit ihm zu verneinen, jenes mit ihm anzustreben: – dann ist es vor allen Dingen eins, was wir von ihm zu fordern haben: er zeige uns den Weg, der zu seinem Ideale fhrt; er beweise oder er erwecke uns wenigstens die Hoffnung, dass wir diesen Weg gehen kçnnen, sobald wir ihn gehen wollen. Vermag er das, so wird immer noch abzuwgen sein, ob, was wir aufgeben, wirklich das, was wir gewinnen sollen, werth ist. Vermag er es aber nicht, so kann sein Ideal ein Ziel subjektiver Sehnsucht sein, es kann uns im besten Falle als Correctiv bei einem andersgearteten Streben dienen und uns vor Einseitigkeit bewahren; aber er wird kein Recht haben zu fordern, dass sein Zeitalter ein solches Ideal als positives Ziel des Strebens und Arbeitens betrachte, dass es zu seinen Gunsten die eigenen Ziele 277 Lehmann meint: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn 1876. S. 133, Anmerkung 44: Der apollinische Zug der sokratischen Geistesrichtung ist neuerdings in eigenthmlicher Weise scharf hervorgehoben worden von Nietzsche, die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik (Leipzig 1872).
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aufgebe und sich selbst verneine. – Nach der gewçhnlichen Anschauung ist die Kunst mehr als alles andere eine freie Gabe der Natur, das Ergebniss einer gnstigen Constellation: sie blht empor, wo ihr Luft und Licht behagt, aber sie lsst sich nicht gewaltsam verpflanzen oder willkrlich pfropfen. „Wenn nun diese Anschauung Recht hat, was ntzt es dann, unserer Wissenschaft das Ideal einer knstlerischen Cultur entgegenzustellen? „Welchen Erfolg kann es haben, als uns vielleicht die Lust und Kraft zur wissenschaftlichen Thtigkeit zu lhmen, ohne das knstlerische Schaffen und Vermçgen zu erwecken? „Wenn aber die gewçhnliche Vorstellung falsch ist, wenn es von dem eigenen Willen und der bewussten Kraft eines Volkes abhngt, sich eine Kunst und eine knstlerische Cultur zu schaffen, so ist doch auch damit noch nichts geschehen, dass wir aufhçren der Wissenschaft zu dienen, und wir mssen von dem, der uns auffordert, dem Ideal einer solchen Cultur nachzustreben, vor allen Dingen verlangen, dass er uns den Weg weise, der dahin fhrt. Dass dieser Weg in der Erziehung liegen muss, dass man eine Cultur nur neu begrnden und umgestalten kann, indem man die Jugend dem neuen Ideal zu- und nachbildet, hat Nietzsche bereits im zweiten Stcke der unzeitgemssen Betrachtungen eingesehen und ausgesprochen. Wie aber sollen wir die Jugend erziehen, die fr eine neue Cultur bestimmt ist und fr deren Erziehung wir doch keine anderen Mittel in der Hand haben als die der alten, dem Untergang geweihten Bildung? Aus diesem Zirkel scheint es keinen Ausweg zu geben: sehen wir, wie der Schriftsteller ihn zu finden sucht. Die Schrift, welche dieser Aufgabe gewidmet ist, fhrt den Titel „Schopenhauer als Erzieher“. Nietzsche knpft an eine Charakteristik Schopenhauers an, wie sie wrmer und schçner nicht gedacht werden kann; es ist freilich kein Historiker sondern ein begeisterter und sehr „unhistorisch“ gesinnter Jnger, der hier ausschliesslich zu Worte kommt. Nietzsche sucht zu zeigen, dass Schopenhauer, gleichwie Rousseau und Gçthe, es vermocht habe, nicht nur durch seine Lehre sondern auch durch seine Persçnlichkeit einen besonderen Typus des Menschenthums, ein neues Ideal menschlichen Daseins und Wirkens darzustellen: es sei dies der Typus des heroischen Kmpfers fr Wahrheit und Gerechtigkeit. „Der Schopenhauerische Mensch nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich; – fr sich und sein persçnliches Wohl von wundersamer Gelassenheit, in seinem Erkennen voll starken, verzehrenden Feuers und weit entfernt von der kalten und verchtlichen Neutralitt des sogenannten wissenschaftlichen Menschen. Gewiss er vernichtet sein Erdenglck durch seine Tapferkeit, aber er darf sich mit den Worten zureden und trçsten, welche Schopenhauer, sein grosser Erzieher, einmal gebraucht: ein glckliches Leben ist unmçglich; das Hçchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf.“ Das Hçchste, was der Mensch erlangen kann – und damit Zweck und Ziel jener Entwickelung, welche von der Natur zur Menschheit und von der
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Menschheit zum Genius fhrt und hier ihren Gipfel und Endpunkt findet. Erinnern wir uns der Stellung, welche in der „Geburt der Tragçdie“ der Kunst als der Erlçserin und Befreierin der Menschheit eingerumt wird: es ergiebt sich von selbst daraus, dass der knstlerische Genius als der wahre Heiland und Erlçser der Menschen anzusehen ist. Fr eine solche Weltanschauung nun muss es offenbar der einzige Zweck der Cultur sein, die bezeichnete Entwickelung, die Erzeugung der Kunst und des knstlerischen Genius zu fçrdern. In der That ist nach der Auffassung unserer Schrift der Begriff der Cultur identisch mit dem Begriff des Cultus des Genies. – Die Menschheit soll fortwhrend daran arbeiten, einzelne grosse Mnner zu erzeugen – dies und nichts anderes sonst ist ihre Aufgabe. Mit dieser Ueberzeugung, mit der Absicht, ihr dienstbar zu sein, stellt sich der Einzelne „in den Kreis der Cultur“. Es wird vermuthlich wenige Leser geben, denen eine solche Anschauungsweise nicht in hohem Grade paradox erschiene. Allein das, worauf es hier zunchst ankommt, ist nicht die grçssere oder geringere Fremdartigkeit des fraglichen Culturideals, sondern die Mçglichkeit, es praktisch wirksam zu machen. Wie kann dieses Culturideal praktisch, wie kann es erziehend wirken? Was haben wir zu thun, um unsere Zustnde ihm anzunhern, unsere Jugend nach ihm zu bilden? Zunchst sollen wir, so schreibt uns Nietzsche vor, es uns zur Aufgabe machen, alle Schwierigkeiten aus dem Wege zu rumen, die dem werdenden Genius hindernd und hemmend in den Weg treten kçnnten; wir sollen die Entwickelung dieses Genius nach Mçglichkeit zu fçrdern suchen, indem wir ihm „Freiheit und immer wieder Freiheit“ verschaffen zum Werden und Wirken. – Wie aber stehts um die, welche von der Natur nur ein mittleres Maass von Begabung empfangen haben, die zur hçchsten Erfllung menschlicher Existenz nicht gelangen kçnnen und die doch auch ihre Stellung innerhalb der neu gewordenen Cultur einnehmen und ausfllen sollen? Auch sie mssen ja hierzu erzogen werden, auch ihnen muss das neue Culturideal zu Gute kommen; auch in ihnen muss das Bewusstsein geweckt werden, dass sie einem hçheren und beglckenderen Ziele zustreben, als es ihre Eltern und Voreltern thaten, und dass das Leben fr sie unendlich im Werthe gestiegen ist. Und wie ist das zu erreichen? „Diese Gesinnung“, antwortet der Schriftsteller, „sollte in einem jungen Menschen gepflanzt und angebaut werden, dass er sich selbst gleichsam als ein misslungenes Werk der Natur versteht, aber zugleich als ein Zeugniss der grçssten und wunderbarsten Absichten dieser Knstlerin; es gerieth ihr schlecht, soll er sich sagen, aber ich will ihre grosse Absicht dadurch ehren, dass ich ihr zu Diensten bin, damit es ihr einmal besser gelinge.“ Hier tritt es denn augenfllig zu Tage, wie weit das, was Nietzsche an positiven und wirkenden Antrieben aus seinem Ideal zu gewinnen vermag, hinter der khnen Consequenz seiner Negation zurcksteht. Wenn es in der That denkbar wre mit diesem Princip, in einer solchen Gesinnung, eine einzige
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junge Seele, geschweige denn eine ganze Generation zu erziehen, ist es nicht offenbar, dass das Resultat einer solchen Erziehung im besten Falle eine trbselige Resignation, viel wahrscheinlicher jedoch Gleichgltigkeit und Rohheit, ein geistiger und sittlicher Indifferentismus der schlimmsten Art sein msste? dass es in keinem Falle der frische freudige Kampfesmuth sein kann, dessen die Vorkmpfer einer neuen Cultur doch nimmermehr entrathen kçnnen? – Und wie weit entfernt hat sich der Schriftsteller hier von der Anschauungsweise des Volkes, dessen Cultur ihm als Ideal vorschwebt! Beruht doch nicht allein die Erziehung, sondern das gesammte geistige Leben der Hellenen auf dem frohen Glauben, dass in jeder einzelnen Menschennatur die Anlage zum Schçnen und Guten, zur harmonischen Vollkommenheit der Entwickelung und Ausbildung entgegenharre! Um es mit einem Worte zu sagen: es ist Nietzsche nicht gelungen, die gesuchte Vermittelung zwischen seinem Ideal und der Wirklichkeit zu finden; es ist ihm nicht gelungen zu zeigen, „wie von diesem Ideale aus ein neuer Kreis von Pflichten zu gewinnen ist“. Und was er nicht vermocht hat, der mit soviel Gluth und Kraft sein Idealbild umfasste, der mit soviel Scharfblick und Klarheit das Leben um sich her zu durchschauen und zu richten vermochte, das wird schwerlich einem anderen gelingen, der mit weniger ursprnglicher Leidenschaft an dies Problem herantritt. Denn es ist ein innerer Widerspruch, an dem sein Streben krankt, es trgt den Keim des Todes in sich selbst. Der Genius und die Kunst sind freie Gaben der Natur und des Glckes; auch sie zwingt man ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben. Glcklich die Zeiten, die diese Mchte hervorbringen, glcklicher die, die von ihnen beherrscht werden; allein das Zeitalter, in welchem andere Mchte herrschen, minder beglckend vielleicht aber nicht minder nothwendig und berechtigt, wird der Einzelne nicht zum Stillstand und Rckgang zwingen kçnnen, indem er ihm das Zauberwort „Kunst“ entgegenruft und das lockende Bild einer knstlerischen Cultur vorhlt. Er wird damit in einzelnen verwandten, in hnlich „unzeitgemssen“ Seelen die Sehnsucht nach anderen Zeiten, die schçner und froher und ihnen congenialer sind, wachrufen; aber er wird es nicht vermçgen, den Zug der eigenen Zeit zu hemmen und rckwrts zu wenden. Wohl aber ihm und wohl der Generation, die mit ihm lebt, wenn sie versteht, dennoch von ihm zu lernen, wenn sie nicht in hochmthiger Beschrnktheit an ihm vorbergeht, ohne ihn zu hçren: der Schriftsteller wird dann nicht umsonst gedacht und gesprochen haben, und sein Zeitalter wird in gerechter Erkenntniss dessen, was ihm fehlt, vor engherzigem Hochmuth geschtzt, seinen Blick erweitern und festigen und so sicherer den Weg gehen, den es sein Genius fhrt und klarer die Ziele ins Auge fassen, denen es zustrebt. Solche Schriftsteller wie Nietzsche dienen mehr als andere einem Zeitalter, um ber sich selbst klar zu werden, und in diesem Sinne haben wir alle von ihm zu lernen.
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II. Haben sich vielleicht Erwgungen hnlicher Art wie die eben dargelegten bei Nietzsche selbst geregt und eine allmlige Sinnesnderung in ihm vorbereitet? Oder sind es andere Ursachen gewesen, die auf den Geist des Schriftstellers eingewirkt haben, und war der Umschlag in seiner Weltanschauung in der That ein so plçtzlicher und scharfer wie er sich in seinen Schriften dem Leser darstellt? – Noch einmal, nachdem er im zweiten und dritten Stck der „Unzeitgemssen Betrachtungen“ das Beste gegeben hat, was er aus seiner Weltanschauung schçpfen konnte, bringt er diese Weltanschauung zur Darstellung; die vierte jener Abhandlungen, „Richard Wagner in Bayreuth“, giebt den vorhergehenden weder in Denkart noch in Ausdrucksweise an Entschiedenheit nach. Dann nach einer Pause von kaum zwei Jahren erfolgt ein Werk, das eine vçllige und tiefe Umwlzung in den Anschauungen Nietzsches kennzeichnet: „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister.“278 Von denen, die whrend seiner ersten Periode in dem Schriftsteller einen Bahnbrecher und Fhrer gesehen haben, werden nur wenige im Stande sein ihm auf den neuen Bahnen zu folgen, die er nunmehr, in der zweiten Periode seiner Entwickelung, betreten hat. Denn einen Uebergang, eine Vermittlung scheint es hier nicht zu geben: schroff klafft der Spalt zwischen den letzten Zeilen der unzeitgemssen Betrachtungen und den ersten des neuen Werkes, und es entzieht sich unserem Auge, auf welche Weise der khne Wanderer, der eben noch auf dem diesseitigen Ufer festgewurzelt und gebannt schien, es vermocht hat, nunmehr auf der jenseitigen Hçhe festen Fuss zu fassen. Allein ob man nun diesen Wandel willkommen heissen oder ihn verurtheilend ablehnen mag, – in keinem Falle wird man dem Werthe des Werkes, in welchem derselbe zum Ausdruck gekommen ist, Gerechtigkeit versagen drfen. Das „Buch fr freie Geister“ ist nach Inhalt und Form das bedeutendste Werk seines Verfassers. Durch seine frheren Schriften hat Nietzsche gezeigt, dass er dem geistigen Leben seiner Zeit mannigfaltige Anregungen zu geben vermochte; durch dieses Werk hat er sich das Anrecht auf einen bleibenden Platz in der deutschen Litteratur erworben. Jene frheren Schriften sind zwar keineswegs unzusammenhngende Ausbrche momentaner Stimmungen; vielmehr sind sie, wie wir oben gesehen haben, aus einer consequenten und eigenartigen Anschauungsweise hervorge278 Chemnitz, bei Schmeitzner, 1878. Dazu als Anhang: „Vermischte Meinungen und Sprche“, ebendaselbst 1879 und „Der Wanderer und sein Schatten“, 1880. Endlich „Morgenrçthe, Gedanken ber moralische Vorurtheile“, ebendaselbst 1881. Dieses letzte Werk hat der Verfasser dieses Aufsatzes aus Mangel an Zeit leider nicht mehr bercksichtigen kçnnen.
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gangen, aber immerhin bleiben sie der Form nach unzusammenhngend und gleichen nur gar zu sehr Stimmungsbildern. Hier dagegen haben wir ein abgerundetes fest und klar ausgeprgtes Gesammtbild einer in sich geschlossenen Weltanschauung in dem Rahmen eines Buches vor uns. Und wer die Geschichte der Philosophie, wer speciell die philosophische Litteratur unseres Vaterlandes kennt, der wird nicht einen Mangel sondern einen Vorzug dieses Buches darin sehen, dass seine geschlossene Form keine systematische ist; dass es die bei Weitem mehr knstlerische, geflligere und eben darum in Deutschland vielfach unterschtzte Form des Aphorismus und des Essays ist, in der es uns entgegen tritt. Mit Recht macht der Verfasser auf den Mangel an Verstndniss aufmerksam, dem diese Kunstform zu begegnen pflegt. Mit diesem Mangel mag es zusammenhngen, dass die deutsche Litteratur bis jetzt noch keinen Schriftsteller aufzuweisen hatte, der die Summe seines Denkens und Schaffens in dieser Form htte niederlegen mçgen. So hat denn das Werk Nietzsches vor den beiden bedeutendsten Sentenzensammlungen, die wir besitzen, – es sind dies Gçthes „Sprche in Prosa“ und Schopenhauers „Aphorismen zur Lebensweisheit“ – dies voraus, dass es nicht wie diese ein „Parergon“ ist, eine beilufig entstandene Sammlung von Gedankenschnitzeln, sondern, wie bereits gesagt, ein reichhaltiges und doch abgerundetes Ganze, in welchem die aphoristische Form sinnreich und eigenthmlich mit der Einheit und Geschlossenheit des Inhalts contrastirt. Diese Kunstform konnte Nietzsche nicht von unseren Classikern lernen; er verdankt sie den Meistern derjenigen Nation, die als die eigentliche Schçpferin der modernen Sentenzenschriftsteller angesehen werden muss: den grossen Moralisten der Franzosen. – Doch hçren wir ihn selbst, wie er in den edlen und tiefen Schlussworten des Werkes seinen Vorbildern und Lehrern seinen Dank abtrgt: „Auch ich bin in der Unterwelt gewesen wie Odysseus und werde es noch çfter sein, und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Todten reden zu kçnnen, sondern des eignen Blutes nicht geschont. Vier Paare waren es, die sich mir dem Opfernden nicht versagten: Epikur und Montaigne, Gçthe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. – Was ich auch nur sage, beschliesse, fr mich und andere ausdenke: auf jene acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet. – Mçgen die Lebenden es mir verzeihen, wenn sie mir mitunter wie die Schatten vorkommen, so verblichen und verdriesslich, so unruhig und ach! so lstern nach Leben: whrend Jene mir dann so lebendig erscheinen als ob sie nun, nach dem Tode, nimmermehr lebensmde werden kçnnten. Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt es an: was ist am „ewigen Leben“ und berhaupt am Leben gelegen.“ Diese Worte sind nicht nur fr die edle, schçne Sprache des Buches bezeichnend; sie sind es auch fr einen Charakterzug der dem Inhalt der Schrift eigen ist: fr den ergreifenden Zug tiefster Resignation, der das Ganze durchzieht. Es ist nicht die Verbitterung des „praktischen Pessimisten,“ nicht ver-
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zweifelnde Abkehr vom Leben, die aus diesem Buche spricht; vielmehr ist es der wehmuthsvolle Ernst des Mannes, der, nachdem er den Idealen und Trumen seiner Jugend entsagt hat, nicht ohne Trauer, doch mit Willenskraft und Pflichtgefhl in’s Auge fasst, was ihm an Zielen und Aussichten bleibt, und was ihm noch frder erstrebenswerth dnkt. Diese edle Resignation, dieser tiefe mnnliche Ernst ist eben so charakteristisch fr das jngste Nietzschesche Werk, wie es der kampfesfreudige Jugendmuth fr seine frheren Schriften ist. Ganz verwandt ist der Grundton des Buches der Stimmung, die Schillers herrlichen und fr alle Zeiten typischen Abschied an „die Ideale“ durchklingt. Allein diese wehmuthsvolle Zuneigung, die der gereifte Denker dem Ideal seiner Jugend wahrt, sie hat seinen Scharfblick nicht zu trben, sie hat die unerbittliche Consequeuz nicht zu beugen vermocht, mit der er jene schçne Welt zerstçrt und an ihrer Stelle eine andere, nicht prchtiger, wohl aber fester gegrndet im Boden der Wirklichkeit und darum fruchtbarer und dauerhafter wieder aufzubauen unternimmt. Nicht ein blosser Wechsel theoretischer Anschauungen kann es gewesen sein, der in einem von so starken natrlichen Antrieben und Abneigungen geleiteten Geiste eine so fundamentale Vernderung herbeigefhrt hat, eine Vernderung, die ihn zwingt mit Verehrung zu umfassen, was er frher gehasst und verworfen hat und gleichmthig ber das wegzusehen, was ihm einst das Liebste war. Aber es ist einem edlen und willensstarken Geiste auf die Dauer unertrglich in einer Weltanschauung zu verharren, die ihm das Handeln verbietet, Ideale anzubeten und Ziele aufzustellen, denen er sich aus eigener Kraft nicht zu nhern vermag, in mssiger Unthtigkeit zu verharren und in thatloser Verzweiflung die Hnde sinken zu lassen, wo es das Heil der Menschen gilt. Da reisst er sich endlich los von den Banden, die seine Kraft gefesselt hielten und flchtet in einen entgegensetzten Standpunkt, von dem er die befreiten Arme muthig emporrecken kann, wo er sich zum Handeln aufgefordert, ja gezwungen fhlt. Der Wandel in der Weltanschauung Nietzsches dessen Zeugniss das „Buch fr freie Geister“ ist, wird am praegnantesten durch eben die Worte bezeichnet, die wir an die Spitze dieses Aufsatzes gestellt haben. Vçllig abgethan und berwunden sind fr den Verfasser dieses Buches die Gottheiten, denen er frher gehuldigt und die sein Streben gelenkt hatten; und an ihrer Stelle haben sich fr ihn eben die Mchte und Krfte erhoben, die er frher als feindliche und zerstçrende gehasst hat: an die Stelle von Mythos und Kunst ist die Wissenschaft getreten, an die Stelle von Religion und Metaphysik der strengste Positivismus. – Als positivistisch pflegt man einen Standpunkt zu bezeichnen, welcher jedes Hinausschreiten aus den Grenzen der Erfahrung fr unmçglich erachtet und daher alle Wissenschaft und alles Denken auf den Boden der Empirie beschrnkt, sich dabei aber bewusst bleibt (und hier liegt sein Unterschied vom
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Materialismus), dass eine eigentliche Erklrung der Welt, eine Lçsung der sogenannten metaphysischen Probleme innerhalb dieses Gebietes nicht erreicht werden kann. Augenscheinlich nun ist es die unmittelbare Consequenz eines solchen Princips, dass man alles nichtempirische aus der Wissenschaft verbannt und somit alle im hergebrachten Sinne des Wortes philosophischen Probleme berhaupt fr unlçsbar erklrt. Andrerseits aber wird mit einer solchen Negation naturgemss das Bestreben Hand in Hand gehen, das Reich der Erfahrung auf Unkosten der Philosophie nach Mçglichkeit zu erweitern d. h. von den Problemen, welche man bisher dem Gebiete der Philosophie zugerechnet und deren Lçsung man auf speculativem Wege versucht hat, so viele wie irgend mçglich in das Bereich der Erfahrung hineinzuziehen. Wie der Positivismus daher an die Stelle der Naturphilosophie die einzelnen Disciplinen der Naturwissenschaften setzt, so wird er es auch versuchen, die Natur des menschlichen Geistes und die Beziehungen der Menschen zu einander auf empirischem Wege zu erfassen: er setzt an die Stelle der Metaphysik und der Ethik die empirische Psychologie und die Sociologie. Positivistisch in diesem Sinne des Wortes ist Grundanschauung und Methode des Nietzsche’schen Buches. Das so beraus lebhafte Interesse, – so argumentirt der Verfasser – „das die Metaphysik zu erregen pflegt, hat seinen Grund in der Annahme, dass Religion, Kunst und Moral aus einer zweiten, tieferen und realeren Welt als die der Erscheinungen sei, herstammten und hieraus zu erklren seien.“ Aber diese Annahme ist ein Irrthum, der Mensch tuscht sich ber den Ursprung jener Dinge, weil sie „ihn so tief beseligen und so tief unglcklich machen.“ In Wahrheit „rhren wir mit Religion, Kunst und Moral nicht an das Wesen der Welt an sich; wir sind im Bereiche der Vorstellungen, keine ,Ahnung‘ kann uns weiter tragen. Sobald die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollstndig sich erklren kann, ohne zur Annahme metaphysischer Eingriffe seine Zuflucht zu nehmen, hçrt das strkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom ,Ding an sich‘ und der Erscheinung auf.“ Um daher zur richtigen Einsicht ber das Wesen dieser geistigen Mchte und ber ihren Werth fr die Menschheit zu gelangen, bedrfen wir einer exacten wissenschaftlichen Analyse derselben; wir brauchen „eine Chemie der moralischen, religiçsen und sthetischen Vorstellungen und Empfindungen.“ Allein – und hier folgt die Wendung, welche die Philosophie Nietzsches von hnlichen positivistischen Systemen scheidet – „diese analytische Wissenschaft muss zugleich eine Entwicklungsgeschichte sein.“ Es ist der Grundfehler, der allen Metaphysikern gemeinsam ist, dass sie bestndig „vom gegenwrtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben an’s Ziel zu kommen meinen.“ „Da sieht der Philosoph ,Instincte‘ am gegenwrtigen Menschen und nimmt an, dass diese zu den unvernderlichen Thatsachen des Menschen gehçren und insofern einen Schlssel zum Verstndniss der Welt berhaupt ab-
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geben kçnnen.“ Allein „alles, was der Philosoph ber den Menschen aussagt, ist im Grunde nicht mehr als ein Zeugniss ber den Menschen eines sehr beschrnkten Zeitraums; Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen.“ In Wahrheit aber ist der Mensch von heute nicht derselbe, der er vor viertausend Jahren war oder in viertausend Jahren sein wird: der Mensch von heute ist gewachsen und geworden und mit ihm allmlig die Welt seiner Vorstellungen, „das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst. Es giebt keine ewigen Thatsachen, wie es keine absoluten Wahrheiten giebt. Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nçthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.“. Es ist, wie man sieht, eine eigenthmliche und originelle Verwerthung der Entwicklungstheorie, auf welcher die Weltanschauung des Philosophen beruht, eine Uebertragung dieser Theorie aus dem speciellen Gebiete der Entstehungsgeschichte der Organismen auf das Ganze einer philosophischen Weltanschauung – Historisch ist die Betrachtungsart des Denkers: was sie zu Wege bringen will, ist im modernsten Sinne des Wortes Geschichte des menschlichen Geistes. Die ethischen wie die intellektuellen Eigenthmlichkeiten des Menschen sollen als geworden und allmlig entwickelt nachgewiesen werden: „in einer Entstehungsgeschichte des Denkens“ wird „der mhsame Process der Wissenschaften zuletzt einmal seinen hçchsten Triumph feiern.“ – Ein Beispiel fr die Methode des Denkers giebt uns die Skizze „vom Ursprung der Gerechtigkeit.“ „Der Charakter des Tausches, sagt Nietzsche, ist der anfngliche Charakter der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefhr gleichen Machtstellung. Sie geht natrlich auf den Gesichtspunkt einer einsichtigen Selbsterhaltung zurck.“ Dadurch nun aber, – so heisst es weiter – „dass die Menschen ihrer intellektuellen Gewohnheit gemss, den ursprnglichen Zweck sogenannter gerechter billiger Handlungen vergessen haben und namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt worden sind solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist allmlig der Anschein entstanden als sei eine gerechte Handlung eine unegoistische.“ „Wie wenig moralisch, sagt der Schriftsteller drastisch, she die Welt ohne die Vergesslichkeit aus!“ – Und wie die „sogenannten gerechten billigen Handlungen so geht alles menschliche Thun und Lassen in letzter Instanz gleichmssig zurck auf den Trieb der Selbsterhaltung und unterscheidet sich nur durch das von einander, was dem Thter ntzlich oder gut zu sein scheint „je nach dem Grade seines Intellektes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernnftigkeit.“ In diesem Sinne darf und muss man „eine vçllige Unverantwortlichkeit des Menschen fr sein Handeln und sein Wesen“ constatiren. „Wir klagen die Natur nicht als unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass macht: warum nennen wir den schdigenden Menschen unmoralisch? Weil wir hier einen willkrlich
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waltenden freien Willen, dort Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum.“ Dass auf einen Standpunkt, wie der eben bezeichnete es ist, sich nur eine relativistische Sittenlehre grnden lsst, dass der Positivist es von vorne herein aufgegeben hat, ein Sittengesetz von absoluter Verbindlichkeit nachzuweisen oder zu begrnden, versteht sich von selbst. Ist es doch sein erster Satz, dass den menschlichen Handlungen und Gesinnungen eine metaphysische Bedeutung nicht beigelegt werden drfe, dass mithin ein absoluter Werthunterschied zwischen einzelnen derselben nicht existire. Allein keineswegs hebt seine Betrachtungsweise die Werthunterschiede menschlicher Handlungen berhaupt auf, nur verlegt sie dieselben in das Gebiet des Intellectuellen: durch das hçhere Maass ihrer Vernnftigkeit unterscheiden sich die menschlichen Handlungen, durch den Grad ihrer Intelligenz die verschiedenen Menschen von einander. Mit Recht weist unser Denker auf die Beziehung hin, die seine Sittenlehre mit der des Sokrates und Plato verbindet: von verschiedenen Standpunkten aus gelangen sie zu genau denselben Consequenzen. „Viele Handlungen werden bçse genannt und sind nur dumm, weil der Grad der Intelligenz, welcher sich fr sie entschied, sehr niedrig war. – Die Grade der Urtheilsfhigkeit entscheiden, wohin jemand sich durch sein Verlangen hinziehen lsst.“ Der Maassstab nun aber, wonach, wie die Gesellschaft, so jeder Einzelne „seine Handlungen bestimmt und die der Anderen beurtheilt“, wandelt sich fortwhrend; „der hçchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht werden kann, wird sicher noch berboten werden.“ Der Begriff der Moral im alten Sinne des Wortes ist somit ein Phantasma, eine Vernunftidee; es soll „die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise Menschheit umwandeln.“ Der Grad der Cultur den der Einzelne oder die Gesellschaft erreicht hat, ist zugleich der Grad ihrer Moralitt: „die Menschen, welche jetzt grausam sind, mssen uns als Stufen frherer Culturen gelten, welche zurckgeblieben sind.“ So ist der Fortschritt der Cultur das absolut Wnschenswerthe; die Arbeit fr ihre Steigerung und Ausbreitung die hçchste menschliche Thtigkeit. „Lebt als hçhere Menschen und thut immerfort die Thaten der hçheren Cultur!“ das ist das oberste Gesetz der neuen Sittenlehre. Auch in den frheren Schriften Nietzsches ist es der Name Cultur, der, auf jeder Seite wiederkehrend, dem Streben des Schriftstellers Ziel und Charakter verleiht. Aber whrend der jugendliche Schriftsteller in seiner ersten Periode mit einseitiger Werthschtzung den Begriff der Cultur beinahe identisch mit dem der Kunst fasst, so bezeichnet die vçllig vernderte Anschauungsweise des gereifteren Denkers am schlagendsten der Satz: „der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des knstlerischen.“ Dass das Heil der Menschheit auf dem Fortschritt der Wissenschaft beruht, dass Wissenschaft und Weisheit daher mit allen Krften und ohne jede Rcksicht gefçrdert werden mssen, das ist die Ueberzeugung, von der sich unser Denker nunmehr vçllig durchdrungen zeigt.
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Die Kunst ist ihm wesentlich eine Vorstufe der Wissenschaft, eine Vorbereitung zur Weisheit; hierin beruht ihr Werth fr die Entwickelung der Menschheit. „Vor allem hat sie durch Jahrtausende gelehrt mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu blicken – und das Menschenleben wie ein Stck Natur, ohne zu heftige Mitbewegung als Gegenstand gesetzmssiger Entwickelung anzusehen.“ Aber diese Wirksamkeit der Kunst ist im Wesentlichen bereits abgeschlossen; die Menschheit bedarf ihrer nicht mehr, sie ist darber hinausgeschritten und strebt nunmehr dem hçheren, dem hçchsten Ziel ihrer Entwickelung, der Weisheit zu. Dass auch in dieser Weltanschauung und ihren Consequenzen eine Einseitigkeit liegt, wird man freilich nicht lugnen drfen. Psychologisch ist es vollkommen begreiflich, dass der absolute Werth der Kunst, wie er frher von dem Schriftsteller gar zu einseitig und ausschliesslich ber alles erhoben wurde, so nunmehr in der Reaktion dagegen unterschtzt wird. Allein ist es denn wirklich ausgemacht und erwiesen, dass die Kunst dauernd zu Grunde gehen muss, wenn die Wissenschaft ihre Bedeutung fr das Leben behaupten soll und umgekehrt? Warum sollen wir es nicht glauben drfen, dass der Baum der Menschheit, so lange er steht, ein immergrner ist, dass seine Bltter abwechselnd sprossen und welken, „das eine wchst, wenn das andre dorrt“? Ueber dieses und hnliches wrden wir wohl mit unserem Denker rechnen kçnnen. Trotzdem, wer mçchte es verkennen, dass der Schritt, den er gethan ein Fortschritt ist? Jede Seite des Buches zeugt von ernsthaftem schmerzlichem Ringen, jede Seite von dem sieghaften Kampf, den der Denker wider sich selbst gekmpft hat. In mannhaftem Kampfe ist der Verfasser der unzeitgemssen Betrachtungen zeitgemss geworden, zeitgemss im edelsten Sinne des Wortes; nicht so, dass er in allen wesentlichen Punkten mit seiner Zeit bereinstimmte, wohl aber in dem Sinne, dass er ihr Wollen und Streben zu verstehen und zu wrdigen weiss, dass ihre Interessen und Bestrebungen ihm nicht mehr fremd sind, und dass, wo er frher glaubte ungesondert verwerfen und verurtheilen zu drfen, er nunmehr klar und scharf das Richtige vom Falschen zu sondern vermag. Darin aber eben zeigt sich die Reife des Mannes gegenber der leidenschaftlichen Subjektivitt des Jnglings, dass er die eigenen Wnsche und Bedrfnisse unterzuordnen vermag dem, was er als Bedrfniss und Erforderniss seiner Zeit erkannt hat. So finden alle wesentlichen Interessen, Strçmungen und Ideen unserer Zeit in diesem Buche volle Bercksichtigung, aber sie werden in einem hohen und strengen Sinne gefasst und mit unbestochener Gerechtigkeit beurtheilt, eben so vçllig unabhngig von der Meinung des Tages wie von althergebrachten Anschauungen und Vorurtheilen: mit Recht heisst dies Werk ein Buch fr freie Geister. Mçge uns hiervon und zugleich von der nicht minder strengen Gerechtigkeit, die unser Denker an den eigenen Anschauungen und Idealen bt, noch ein Blick auf seinen Culturbegriff, wie er ihn nunmehr festgestellt hat, Zeugniss
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ablegen. Was muss es einen Schriftsteller, der Jahre lang mit Begeisterung und Leidenschaft fr das Ideal einer deutschen Cultur gestritten hat, kosten, einen Satz zu schreiben wie den folgenden: „Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort „Fortschritt“ von ihren Zielen z. B. abgeschlossenen, originalen Volksculturen gebraucht: jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalitt.“ – Mag man mit der Herbheit dieses Urtheils bereinstimmen oder nicht – zu bewundern ist in jedem Falle die sittliche Kraft, die sich darin ausspricht. Und unverchtlich zum mindesten ist die Anschauung, auf welche der Schriftsteller dieses Urtheil grndet: „Der Handel und die Industrie, sagt er, der Bcher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller hçheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft – diese Umstnde bringen nothwendig eine Schwchung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europischen mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwhrender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europischen Menschen, entstehen muss. – Langsam geht der Gang jener Mischung vorwrts trotz zeitweiliger Gegenstrçmungen. – Hat man dies einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europer ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei die Deutschen durch ihre alte bewhrte Eigenschaft, Dolmetscher und Vermittler der Vçlker zu sein, mitzuhelfen vermçgen.“ In hnlich scharfer und origineller Weise berhrt der Schriftsteller die Hauptfragen der Gegenwart in Kunst und Cultur, in Politik und Religion. Nur ein paar Punkte, um die sich gerade jetzt der Kampf der Meinungen am erbittersten dreht, mçgen hier zum Schluss noch kurz hervorgehoben werden. Die rcksichtslose Einseitigkeit, mit der Nietzsche frher den unbedingten Cultus des Genies predigte, mit der er das Recht des Einzelnen gegenber der Werthlosigkeit der Masse betonte, ist mit den brigen Elementen seiner frheren Weltanschauung aufgegeben und hat einer weitblickenden Gerechtigkeit Platz gemacht. Aber die alte Abneigung gegen Massenherrschaft und Pçbelwesen ist ihm geblieben. Nicht nur der Stolz des Denkers hat ihn vor jeder Koketterie mit dem Socialismus bewahrt, sondern namentlich der Freiheitssinn des Mannes, der sich gegen die Idee des allmchtigen und alles bedeutenden Staates aufbumt, ist es, der ihn zum entschiedensten Gegner der Partei der socialen Evolution macht. „Der Socialismus ist der phantastische jngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Grunde reactionr.“ Das strenge und entschieden verwerfende Urtheil aber, das er gegen die Umsturzpartei fllt, verhindert den Denker nicht, auch die Verschuldung, welche die Gegenpartei auf sich geladen hat und noch ldt, mit Gerechtigkeit hervorzuheben: auch sie ist des Neides und der Trgheit anzuklagen; nur ein Recht giebt es, das bewusst oder unwillkrlich von jedem anerkannt wird: das der hçheren Persçnlichkeit. „Kçnnt Ihr Euch auf dieses
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berufen, so gesteht euch alles, was da lebt, euer Recht zu, und die Ordnung der Gesellschaft, deren Spitze ihr seid, ist gegen jeden bçsen Blick und Griff gefeit!“ Vieles noch, was das Buch enthlt, htte ich an dieser Stelle hervorzuheben: nicht weniges bewundernd anzuerkennen, manches auch zweifelnd zu bestreiten. Denn nicht nur auf die verschiedenen Gebiete des çffentlichen Lebens erstrecken sich die Betrachtungen; auch das innere Leben des Einzelnen, auch die Verhltnisse der Menschen unter einander werden mit Geist und Tiefe behandelt. Allein es ist nicht der Zweck dieser Zeilen die Lektre des Buches berflssig zu machen oder seinen Inhalt zu kritisiren. Von der hohen Bedeutung aber die ein solches Werk in dem literarischen Leben der Gegenwart haben muss, wird das Gesagte bereits einen hinlnglichen Begriff gegeben haben. Und doch ist auch dies nur in zweiter Linie die Absicht gewesen, die mich beim Abfassen dieses Aufsatzes geleitet hat: zuerst und hauptschlich war es mein Wunsch von dem Charakter eines Denkers ein Bild zu geben, wie es sich mir aus der Lektre seiner Werke dargestellt hat und wie es mir wohl werth schien als Vorbild fr andere aufgestellt zu werden. Denn es ist ein freier Geist im wahrsten Sinne des Wortes, der aus diesen Werken zu uns spricht: ein Geist, der sich in mannhaftem Kampfe losgerungen hat von dem, „was uns alle bndigt“, nicht nur von dem Einfluss der Welt sondern auch von der Herrschaft persçnlicher Wnsche und Begierden, und „es ist etwas grosses, Sieger zu sein ber sich selbst.“ Und das Gefhl und Verstndniss dafr wnschte ich im Leser wachgerufen zu haben, dass aus den letzten Werken Nietzsches ein Mann in der edelsten Bedeutung des Wortes zu uns redet, wie sich in seinen frheren Schriften ein echter und wahrer Jngling ausgesprochen und dargestellt hat. So sehen wir, dass wir in diesem reich begabten Schriftsteller eine ganze Natur vor uns haben, der es gegeben ist voll auszureifen und auf ihre Art zu sagen, was sie leidet und was sie lebt.
Lanzky, Paul: Essay ber Nietzsche, in ungarischem Winkelblatt, angegebener Name der Zeitschrift: Westeuropischer Courier, Dezember 1884279 Reaktionen N an Paul Lanzky, Entwurf, Ende April 1884: „Aber mein werther Herr Lanzky, warum schreiben Sie mir das? Wollen Sie mich reizen, Mehr zu sagen, als ich Lust habe? – Oder soll ich zu der absurden Rolle hinabsteigen, meinen Zara279 „Nach ,Menschliches, Allzumenschliches‘ las ich die ,Vermischten Meinungen und Sprche‘, dann die ,Morgenrçte‘ und die ,Frçhliche Wissenschaft‘, welche letzteren ich im ,Magazin fr die Literatur des Aus- und Inlandes‘ und in der ,Rivista Europea‘
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thustra (oder seine Thiere) erklren zu mssen? Dafr, denke ich, werden irgendwann einmal Lehrsthle und Professoren dasein. Einstweilen ist es noch lange nicht Zeit fr Zarathustra – und ich will mich verwundern, wenn in dem Rest meines Lebens mir fnf, sechs Menschen begegnen, welche Augen fr meine Ziele haben. ,Einstweilen‘ – das heißt so lange noch alle diese Allemanderies und niaiseries von ,Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben‘ – Bemerken Sie doch: ich habe mich mit diesem bermenschlichen Bilde ermuthigen wollen. Alle Menschen aber, die irgend einen heroischen Impuls in sich haben zu ihrem eigenen Ziele hin, werden sich eine große Kraft aus meinem Zarathustra herausnehmen. Was habe ich mit Denen zu thun, die kein Ziel haben! Mein Leibrezept, beilufig bemerkt, ist, in Hinsicht auf Solche, – Selbstmord. Aber er mißrth gewçhnlich, aus Mangel an Zucht. Da empfehle ich denn, zur Vorbereitung, eine verbesserte Dit (energische Fleischkost und Nichts von den verdammten italienischen Paste secche) und tglich 5–8 Stunden strammen Marschirens im Freien. Auch Soldat-werden thut gut. Wollen Sie mich davon berzeugen, was ich zu gut weiß, – daß das schwerste und tiefste aller Bcher aller Zeiten auch am schwersten und tiefsten mißverstanden werden muß? – – ist das nicht genug? So, mein Herr! Nun will ich mir einmal Luft machen. Sie erleben die Entstehung des erhabensten und zukunftsreichsten aller Bcher, die je geschrieben wurden, – Sie haben die Ehre, in dem Zeitalter dieses Buches zu leben: und wie? es ist Nichts in Ihnen, welches das Dasein dafr selig preist, daß solche Dinge entstehen kçnnen? Und Sie haben Nichts mir zu schenken, zu geloben? Nichts sich selber oder irgend einem heroischen Genius einsamer Entschließungen zu schwçren und zu geloben? Nicht einmal die Allemanderies und niaiseries des trbseligen Gesindels von heute haben Sie aus dem Kopfe verloren, welches fr seine Willensschwche beschçnigende Phrasen sucht! besprach. 1883 veranlaßten mich die beiden ersten Teile von ,Also sprach Zarathustra‘ in brieflichen Verkehr mit dem Denker zu treten, der damals im Begriff stand, von Genua nach Villefranche zu gehen, das er bald mit Nizza vertauschte, wohin er mich zu sich lud. Seiner Einladung konnte ich erst im nchsten Jahr Folge leisten. Inzwischen las ich den ,Wanderer und sein Schatten‘, die vier Teile der ,Unzeitgemßen Betrachtungen‘ und die ,Geburt der Tragçdie‘, und verçffentlichte eine Gesamtwrdigung des Denkers im ,Westeuropischen Courier‘“. Paul Lanzky: Friedrich Nietzsche. In: Sphinx, Bd. 18, Nr. 99, 1894, S. 333 – 340, S. 334. Der Westeuropische Courier lsst sich nicht nachweisen, vgl. Krummel (1998) Bd. 1, S. 114, Anmerkung 130. Denkbar wre, dass Lanzky den Titel nicht genau erinnert, in Frage kme etwa der Westungarische Grenzbote aus Pressburg, doch findet sich auch dort kein Nachweis.
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Wie? Sie ,sehen meine Ziele nicht‘? Gut; was ist da zu verwundern? Ist es aber meine Schuld, wenn Sie nicht meine Augen im Kopfe haben? Sind es denn Ziele fr Jedermann? Was haben Sie – mit meinen Zielen zu thun? Was mit dem ,Leben‘? Ich wollte von den Zwecken Ihres Lebens hçren! Htten Sie welche, so kçnnten Sie damit vielleicht ein Werkzeug des meinigen sein. Fort mit Ihnen, mein Herr Unbescheiden! Gardez votre distance, monsieur!“ KGB III/7, 1, Bf. 506 a, S.8 f Ernst Schmeitzner an N, 23. 9. 1884: „Unter den Journalisten ist Herr Lanzky der Einzige, der sich um das Bekanntwerden Ihrer Bcher bemht.“ KGB III/2, Bf. 240, S. 451 N an Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg, 21. 12. 1884: „Ich sende einen Aufsatz Lanzky’s ber mich, nicht weil ich zu loben htte, sondern weil es der erste grçßere Essay ber mich ist. Daß er in einem ungarischen Winkelblatt gedruckt ist, gehçrt unter die Rubrik der Dummheit und Ungeschicklichkeit meines Herrn Verlegers.“ KGB III/1, Bf. 565, S. 572 N an Franz Overbeck, 22. 12. 1884: „Als er [Lanzky] mir aber gestern einen langen Essay ber mich (gedruckt in einem ungarischen Blatt!) zu lesen gab, blieb mir nichts brig als zu thun, wie voriges Jahr mit Herrn Dr. Paneth, ebenfalls einem großem Verehrer und Anbeter: nmlich ihn zu verpflichten, nicht ber mich zu schreiben. Ich habe ganz und gar keine Lust eine neue Art von Nohl, Pohl und ,Kohl‘ um mich aufwachsen zu lassen – und ziehe meine absolute Verborgenheit tausend Mal dem Zusammensein mit mittelmßigen Schwarmgeistern vor.“ KGB III/1, Bf. 565, S. 573 N an Franziska und Elisabeth Nietzsche, Anfang Januar 1885: „Lanzky’s Aufsatz ist zu dumm und unklar, ich hab’s satt mit der deutschen Stumpfheit.“ KGB III/ 3, Bf. 568, S. 5
Falckenberg, Richard: Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart. Leipzig, 1886, S. 422 f. Zu den verstndnisvollsten Verehrern des Frankfurter Philosophen und des Bayreuther Dramatikers gehçrt Friedrich Nietzsche, der in seinen Unzeitgemßen Betrachtungen 1873 – 1876280 zur Umkehr von den Irrwegen der durch die 280 D. Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller; Vom Nutzen und Nachteil der Historie frs Leben; Schopenhauer als Erzieher; R. Wagner in Bayreuth.
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Erwerbenden, den Staat, die eleganten Schriftsteller und die Gelehrten, insbesondere die Philosophieprofessoren verflschten modernen Kultur, welche die Menschen statt einfach und ehrlich, feig und verlogen, zu selbstgeflligen „Bildungsphilistern“ gemacht habe, aufruft, in den Schriften seit 1878281 die Rolle eines deutschen Rousseau mit der eines Voltairianers vertauscht, um neuerdings (Also sprach Zarathustra, 3 Hefte) eine religiçs mystische Wendung zu nehmen.
Spitteler, Carl: Friedrich Nietzsche aus seinen Werken. In: Der Bund. Bern, Bd. 39, Sonntagsbeiblatt zur Nr. 1, vom 1. 1. 1888, S. 3–7. Friedrich Nietzsche aus seinen Werken. Eine schwierigere Aufgabe kann einem literarischen Referenten nicht zufallen als die Anforderung, gleichzeitig ber zehn Werke eines hçchst originellen und im Ausdruck vielfach dunklen Schriftstellers Bericht zu erstatten. Was dieser in zwei Jahrzehnten gearbeitet, soll jener binnen wenigen Monaten nacharbeiten und obendrein charakterisiren, vielleicht gar kritisiren! Die natrlichste Antwort auf ein solches Ansinnen wre die Ablehnung, denn Unmçgliches zu leisten, kann niemand verpflichtet werden. Wenn wir uns gleichwohl widerstrebend zu dem gewagten Versuch verstehen, so geschieht es um der Sache willen, das heißt, um dem Leser eine Ahnung von den Geistestaten eines außerordentlichen Denkers zu vermitteln und ihn hiedurch zu ermuntern, direkte Bekanntschaft mit dessen Werken zu schließen; zugleich setzen wir aber voraus, daß man nichts Unbilliges von uns erwarte. Nmlich von einer Erklrung oder auch nur von einer ausreichenden Charakteristik kann selbstverstndlich nicht die Rede sein, weil dazu das Quellenmaterial und der methodische Apparat eines Biographen gehçrte; wir mssen uns also zunchst einzig auf die Werke beschrnken. Allein selbst innerhalb dieses Rahmens kann ein kleiner Aufsatz, der sich nicht auf langjhriges Studium, sondern bloß auf einmalige aufmerksame Lektre sttzt, nichts anderes bieten als den treuen Ausdruck rein persçnlicher Empfindungen. Zur bessern Uebersicht whlen wir die Gruppirung und, schreiten vom Untergeordneten zum Hçhern vor, ein Prozeß, der sich um so mehr empfiehlt, als sich der Fortschritt der Entwicklung bei Nietzsche mit dem chronologischen deckt. Zwischen dem, was er einst war und was er jetzt ist, besteht ein unendlicher Unterschied zugunsten der Gegenwart; auf unsern Verfasser selber paßt, was er von Wagner aussagt: er begann alt und wurde erst viel spter jung. 281 Menschliches, Allzumenschliches; Der Wanderer und sein Schatten; Morgenrçte, Gedanken ber die menschlichen Vorurteile; Die frçhliche Wissenschaft.
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Daher darf sich denn auch der Leser nicht daran stoßen, wenn wir da, wo wir von den frhesten Werken handeln, mitunter ein ablehnendes Urteil aussprechen. I. Der Apologet und Polemiker „Unzeitgemße Betrachtungen“, vier Bnde, enthaltend: 1. „David Strauß“. 2. „Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben“. 3. „Schopenhauer als Erzieher“. 4. „Richard Wagner in Bayreuth“. „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik.“ (Ein Band.)282 Es wird stets ein Schauspiel von zweifelhafter Anmut bleiben, wenn wir sehen mssen, wie sich ein noch unbekannter Schriftsteller an einer Gestalt von unzweifelhaftem Verdienst, die jedermann ehrt, polemisch vergreift. Speziell der Verfasser dieser Zeilen fhlte sich seinerzeit durch den Angriff Nietzsches gegen Strauß so grndlich abgestoßen, daß die Erinnerung an jenes Attentat ihm whrend langer Jahre die Lust raubte, mit Nietzsches Werken fernerhin Bekanntschaft zu schließen. Hierber sind nun bald fnfzehn Jahre vergangen; wir haben inzwischen Nietzsche schtzen gelernt, ja wir bringen seinem einsamen Standpunkt und dem Mut, mit welchem er denselben gegen eine Welt behauptet, sogar persçnliche Sympathie entgegen; allein indem wir neuestens den „David Strauß“ wieder vornahmen, mit dem besten Willen, unser ehemaliges Urteil zu kassiren, wurden wir nach wie vor zu dem Schluß gezwungen: es bleibt ein bçses Buch, das keine Rechtfertigung, sondern bloß eine Entschuldigung ertrgt; die beste Entschuldigung aber, die wir ihm zu geben wissen, besteht in dem Glauben, daß der Verfasser heute nicht minder als wir bedauern wird, es einst geschrieben zu haben. Wir teilen mit gutem Vorbedacht nur das Allernotwendigste zur Begrndung mit und beschrnken uns hiebei ganz allein auf die Bedenken des Anstandes. Nietzsche nennt Strauß ein „unsthetisches Magisterlein“, einen „lderlichen Gesellen“; er spricht von einer „Straußen – Idee“; er behauptet, Strauß sei zu schlecht, um Mozart nur zu loben (Soll etwa die Verehrung Mozarts ein Privileg der Wagnergemeinde sein? Wir frchten, sie wrde dann etwas katzenmusikalisch geraten!); er interpellirt ihn sogar mit direktem Vokativ des Hasses: „Sie bescheidener Mann.“ „Sie galanter Religionsstifter.“ „Sie tndelnder Liebling der Grazien.“ Wer so schreibt, schreibt kein Buch, sondern ein Pamphlet. Genug davon. Mehr ins Allgemeine zielt der Angriff des zweiten Bandes: „Vom Nutzen und Vorteil [sic] der Historie fr das Leben.“ Hier kommt nun Nietzsches berlegenheit, welche den alexandrinischen und philistrçsen Geist unserer çf282 Diese und die ferner genannten Werke sind bei E. W. Fritzsch in Leipzig erschienen.
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fentlichen Meinung in seiner ganzen Nichtigkeit durchschaut, dem Leser zum Bewußtsein. Im Antistrauß hatte es an berraschenden Lichtblitzen nicht gefehlt, diesmal jedoch erhalten wir Idee an Idee in glnzenden Reihen. Wenn sich unterwegs auch unser kampflustiger Verfasser mit einigen Millionen Zeitgenossen im allgemeinen und mit Eduard von Hartmann im besondern herumschlgt, so bleibt doch die Wahrheit das sichtbare Ziel, nach welchem der Text sich bewegt, und es fallen auf Schritt und Tritt fr den Leser reife Gedankenfrchte ab. Wir enthalten uns nur mit Mhe der Zitate; allein wollten wir bei Nietzsche zu zitiren beginnen, dann mßte uns zuvor der „Bund“ Extrasonntagsbltter bewilligen. Auf apologetischem Gebiet hat uns Nietzsches „Schopenhauer als Erzieher“ eine außerordentliche Freude bereitet. Vor einer geistesverwandten Grçße wie Schopenhauer stehend und mit Piett fr dieselbe erfllt, weiß Nietzsche neben seinem gewçhnlichen Reformatoreneifer der Ueberzeugung in dem genannten Buche zugleich Akzente des Gefhls und hiemit Einfachheit und Natrlichkeit zu finden. Seite 8 bis 19 z. B. des „Schopenhauer als Erzieher“ lassen sich lesen, als wren sie von einem gewçhnlichen vortrefflichen Schriftsteller geschrieben. Um aber dem Leser einen schwachen Begriff von der phnomenalen Geistesfreiheit zu geben, mit welcher unser Denker sich ein fr allemal ber alle Schranken der çffentlichen Meinung hinwegsetzt, kein Urteil annehmend, und wrde es selbst tutti unisono verkndet, er htte es denn zuvor revidirt, wollen wir ihm ausnahmsweise ein einziges winziges Zitat gçnnen. Gegenber der trivialen Behauptung, jedes Genie sei ein Kind seiner Zeit, bemerkt er korrigirend: „vielmehr ein Stiefkind seiner Zeit (S. 34)“. Auf S. 22 deckt er die Schlechtigkeit des Gemtes auf, welche unsere Philister verraten, indem sie aus Schmeichelei fr Gçthe jedes Dichterunglck als einen Beweis der Schuld und der Unvollkommenheit verunglimpfen. Htte Nietzsche auch nur diese eine Seite 22 geschrieben, wir drckten ihm sympathisch und dankbar die Hand. Er hat aber noch mehr geschrieben, er hat es gewagt, an Gçthe selber wiederholt mancherlei zu tadeln, und um dieses beinahe bermenschlichen Mutes ziehen wir tief den Hut vor ihm ab. Neben Schopenhauer verehrt Nietzsche bekanntlich auch Richard Wagner; zwei Bcher liegen uns als Glaubensbekenntnisse hierber vor. Nun ist ber Wagner in unserer Abhandlung nicht die Rede, bloß Nietzsches Verhltnis zu Wagner geht uns an. Ich habe mir den Wagnerglauben unseres Unglubigen aus seinen Schriften zu erklren gesucht und folgendes zu finden geglaubt. Nietzsche gehçrt zu jenen Denkern, fr welche die Namen berhmter Mnner ein Symbol, ein Ideal, ja sogar ein Allgemeinbegriff sind. Wer von Montaigne sagen kann, „er bedeutet in der Bewegtheit des Reformationsgeistes ein In-sich-zurRuhe-kommen, ein friedliches Fr-sich-sein und Ausatmen“ („Wagner“, S. 19), wer einen Genitiv bildet wie folgenden: „der Mensch Rousseaus, Gçthes, Schopenhauers“, wer die historischen Persçnlichkeiten der Weltgeschichte gleich
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schwarzen und roten Kirschen in zwei Kçrbe, einen apollinischen und einen dionysischen, auseinanderscheidet, bei diesem ist es keineswegs verwunderlich, wenn er zuerst ein Bedrfnis nach einem neuen Typus aus seinem Kultursystem herausdestilliert, dann nach einem Menschen sucht, der ihm entsprche, und denselben zufllig Richard Wagner nennt. Das Buch „Richard Wagner“ bietet uns denn auch weniger eine Schilderung des wirklichen Menschen Wagner als eine aprioristische Konstruktion eines modernen Messias. Das Buch gehçrt nicht in eine menschliche Bibliothek, sondern auf den Altar von Bayreuth, wo wir es gerne liegen lassen. brigens sprechen sich die neuesten Schriften Nietzsches ganz anders ber Wagner aus. So heißt es zum Beispiel in der „Frçhlichen Wissenschaft“ (1887) auf Seite 123: „Es darf nicht verschwiegen werden, daß Wagners Stil an Geschwren und Geschwlsten krankt.“ Auf Seite 101 wird geklagt, man hçre weder Text noch Musik bei einer Wagner’schen Oper, wenn man beides nicht zuvor auswendig gelernt habe. Auch wird an demselben Ort und wiederholt spter die Melodie als „der sublimste Genuß in der Musik“ gerhmt. Wir drfen daher das Buch „Richard Wagner“ als veraltet und berwunden betrachten. Ungleich interessanter ist das tiefsinnige Werk: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“. Das kritiklose, aus Konvention und Tradition kindisch zusammengeleimte Pappendeckelgemlde, das sich die Welt als das Bild der griechischen Kulturwelt gefallen lßt, zusammenzuschlagen und uns dafr die wahrhaftigen, nichts weniger als harmonischen Griechen vor Augen zu stellen, dazu ist Nietzsche der rechte Mann. Auch hat er in das Wesen der griechischen Tragçdie Einblicke getan wie keiner vor ihm. So trifft er wohl einen Hauptnagel auf den Kopf, wenn er (in der „Morgenrçte“) gelegentlich sagt: „Der tragische Genuß bedingt ein grausames, mit zhen Nerven versehenes Zeitalter; es liegt etwas von Gçtterkannibalismus in der Tragik.“ Oder in der „Frçhlichen Wissenschaft“: „Der Athener ging ins Theater, um schçne Reden zu hçren (im Text hervorgehoben)“. berhaupt zeigt sich Nietzsche als Dramaturge den Literarhistorikern weit berlegen; er dringt hinter die Kulissen des griechischen Theaters und findet den Punkt, wo Aristoteles als Philosoph den schaffenden Dichter mißverstand. Ich wßte keinen Menschen der Gegenwart, welcher sich mit Nietzsche in der Erkenntnis des Tragischen messen drfte. Freilich muß man die herrlichen Schtze, welche „Geburt der Tragik“ einschließt, mhsam verdienen. Mit erbarmungsloser Konsequenz werden zwei Kulturprinzipien (Apollinismus und Dionysismus) erst aus der Griechenwelt herausgezwirnt und dann auf die ganze Nachwelt fortgesponnen, um die historischen Persçnlichkeiten an den dnnen Faden knstlich aufzuhngen, wie die Puppen an einem Draht. Oft ertappt man sich an dem Frevel, daß man heimtckisch einige Seiten berschlagen hat. Nicht als ob uns jemals der Gedanke des Autors im Stiche ließe; doch ist alles so abstrakt, so weit entfernt von
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der Wirklichkeit gedacht, daß wir von unten her neutral zusehen und uns fragen, ob wir uns wirklich die Mhe geben wollen, dort oben hinauf nachzuspringen und nachzudenken. Nur ein geborner Philosoph denkt zu seinem Vergngen in der Luft um Begriffe herum; wir andern begehren stets, die Gewißheit zu verspren, daß die Gedanken auch ein Licht, eine Farbe und einen Schatten auf die Wirklichkeit werfen. Diese Gewißheit verlßt uns aber çfters whrend der Lektre des genannten Werkes. II. Der Spruch- und Orakelverknder „Menschliches, Allzumenschliches“. (Zwei Bnde.) „Morgenrçte; Gedanken ber die moralischen Vorurteile“ Indem wir zu der zweiten Periode bergehen, bemerken wir einen gewaltigen Sprung des Fortschrittes, sowohl hinsichtlich des Inhaltes wie der Form. In beider Beziehung findet der Autor jetzt erst sich selber, den Kathedergelehrten, der sich in den oben genannten Schriften noch deutlich bemerkbar machte, fast gnzlich abstreifend, um als ein Ganzes vor uns zu treten, als ein Philosoph. Statt der dozirenden, weitschweifigen und blassen Logik begegnen wir jetzt dem dunklen, gedrngten Aphorismus; whrend wir in den frheren Schriften viele Seiten ungelesen berschlugen, werden wir von nun an gezwungen, ber die einzelnen Stze nachzugrbeln; kurz, der Verfasser hat das Gas seines frhern Stils kondensirt und liefert uns von nun an einen komprimirten Lesestoff. Wir begrßen das als einen gewaltigen Gewinn; denn harte Brocken sind immer noch viel leichter zu verdauen als Hektoliter dnnflssiger Abstraktionen. Auch begrßen wir es als eine richtige Selbsterkenntnis, daß ein so willkrlicher Denker schließlich den Aphorismus zu seinem Lieblingsausdruck gewhlt hat. Wenn Einer der Welt feindliche Behauptungen ins Gesicht schleudern will, die Begrndung verschmhend, so hat er auch die zusammenhngende Rede nicht nçtig. Mit dem Spruch nhert sich ferner Nietzsche einer Tugend, die ihm bisher vollstndig mangelte, der Tugend eines schriftstellerischen Stils. Was war das fr ein ewiges Schwanken, was fr eine Ungleichheit, bald in redseligen Invektiven, bald in knappen Stzen, bald wieder in abstrakten Kathedertrivialitten einherschreitend! Keines der bisher besprochenen Bcher gleicht im Stil dem andern, keines sich selbst, keines Nietzsche. Wie Wagner im „Tannhuser“, „Hollnder“ und „Lohengrin“ sogar die abgedroschensten Phrasen aus Meyerbeer und andern seiner Feinde nicht verschmht, so erinnert der explizirende Nietzsche der ersten Periode unaufhçrlich mit seinem Stil an diejenigen, die er am eifrigsten verabscheut: an die Universittsprofessoren der Philosophie. Einen „David Strauß“ z. B. kann doch nur ein Professor verben. Der Nietzsche der ersten Periode war wunderlich, ohne originell zu sein, jetzt bleibt er zuweilen
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noch wunderlich, aber er ist immer jemand. Noch unterscheidet sich freilich der neuere Stil von einem Schriftstellerstil durch allerlei Eigentmlichkeiten; noch immer erkennt man selbst an dem Religionslehrer den Philosophen. Der Wortschatz trgt nach wie vor abstraktes, keineswegs poetisches Geprge, die adquate Raumproportion des Inhalts und des Ausdrucks wird nur in glcklichen Ausnahmestunden erreicht, so daß Nietzsche in der Regel bald lnger, bald krzer redet, als ein ungelehrter Schriftsteller tun wrde; an die Stelle der frheren unmotivirten Breite ist jetzt meist eine geknstelte, nicht durch den Stoff bedingte Aposiopese getreten. Vor allem aber das Auf- und Abwrtsdenken durch die verschiedensten Etagen der Vorstellung, das Verschnçrkeln der Realitt mit Kulturblumen und philosophischen Begriffen ist, wenn auch versteckt, in den neuen Stil herbergekommen. Es wird Nietzsche auch jetzt nicht recht wohl, wenn er nicht einen gesunden, irdenen Gedanken unvermutet in irgendeine metaphysische Potenz emporschnellen kann, und wre es nur durch einen fragenden Schlußsatz, der das soeben Gesagte aus dem natrlichen Gebiet in eine inkommensurable Hçhe projizirt. Die Etagen sind neuestens ineinandergeschoben, das ist der Unterschied. Beidemal fehlt die Einheit der Perspektive. Da wir nun schon um ein gutes Stck den gebhrlichen Raum einer Besprechung berschritten haben, mssen wir uns so kurz als mçglich fassen. Deshalb wollen wir das „Menschliche, Allzumenschliche“, welches nach unserem Dafrhalten bloß eine Vorstufe zu der „Morgenrçte“ und der „Frçhlichen Wissenschaft“ bedeutet, nur beilufig behandeln. Das Menschliche, Allzumenschliche ist eine Spruchsammlung von Gedankenspnen ber die gesamte Welt und noch einige Gegenstnde dazu, an das Grçßte wie an das Kleinste rhrend, Erlebtes neben das Erdachte stellend, der Vollstndigkeit willen. Rund um die Welt herum ist aber niemand bewandert, und so kann selbst ein Nietzsche der Gefahr solcher umfassender Spruchweisheit, der Gefahr, Dilettantisches zu liefern, nicht jederzeit entrinnen. Die „Morgenrçte“ ist ein Werk, die „Frçhliche Wissenschaft“ ein Schatzkstlein, das „Menschliche, Allzumenschliche“ dagegen vermçgen wir nur als eine Sammlung von Abfllen zu betrachten, wo Perlen und Stroh wahllos miteinander vereinigt sind. Man vergleiche z. B. die prchtige Motivirung der franzçsischen Dramatik auf Seite 177 (I. Band) mit den fadenscheinigen Sprchen ber Weib und Mann auf Seite 273 und 274, von welchen einige in den Mnchener „Fliegenden Blttern“, andere in einer Posse von L’ Arronge besser am Platze wren („Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen“). Damit wollen wir beileibe nicht die betreffende Sammlung entwerten; Nietzsches Geist leuchtet an tausend Stellen empor; an menschlichem, allzumenschlichem Interesse des Stoffes berflgelt sogar das Buch alle brigen Schriften, ebenso wie es von keinem andern an Klarheit und Natrlichkeit des Stils erreicht wird. Wer daher
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Nietzsche auf die leichteste und angenehmste Art kennenlernen will, dem sei „das Menschliche, Allzumenschliche“ vor allen andern Werken empfohlen. Nun aber zu dem Hauptwerke, welches uns persçnlich teurer ist als alle frhern zusammen, zu der „Morgenrçte“. Die Ideenflle der Morgenrçte spottet jeder Beschreibung. Whrend wir frher das Bemerkenswerteste anstrichen, mußten wir uns vor der „Morgenrçte“ dieses System nach wenigen Seiten schon abgewçhnen, denn wir htten so ziemlich alles als bedeutend hervorheben mssen. Eine ungeheure Geisteskraft bewegt sich hier, zwar mhselig und schwerfllig, aber unaufhaltsam gegen die Schanzen und Schuttwerke der menschlichen Irrtmer und Vorurteile heran, um die gefangene Wahrheit zu erlçsen. Vor diesem Buche muß sich die Behauptung, es sei alles schon einmal gedacht worden, beschmt zurckziehen; denn es denkt auf einer Hçhe, die zu erblicken schon große Geistesanstrengung erfordert. Eine Lektre fr den Eisenbahnwagen ist es nicht, das kçnnen wir dem Leser heilig versichern. Aus den tiefsten Hçhlen des Nachsinnens, wir mçchten beinahe sagen der Inspiration, grbt der Verfasser seine geheimnisvollen Sprche hervor; es ist, als ob er mit den Fßen in transzendentaler Nhrgelatine stnde und mit dem Kopf ber die andern Menschen wegblickte. Hufig sehen wir den Nutzen des Spruches nicht ein. Nietzsche bleibt darin Philosoph, daß er am Zweifel zweifelt und ber den Gedanken denkt, aus professioneller Gewohnheit; nennt er sich doch selbst einen Grbler; das Gesamtwerk hat jedoch ein Zentrum und ein gemeinsames Ziel, und darin unterscheidet es sich von seinem unbedeutenderen Vorgnger, dem Menschlichen Allzumenschlichen. Stilistisch freilich mçchte es gegenber dem letztern Werk einen Rckschritt darstellen, wenn anders unsere Meinung, daß ein Orakelspruch einen klaren Spruch nicht aufwiege, richtig ist. Charakteristisch ist fr die Morgenrçte das Fragezeichen (oder das Ausrufungszeichen oder der Gedankenstrich) am Schlusse vieler dieser pythischen Sprche. Weisheit in Zweifel aufzulçsen, den Leser zu entlassen, wenn derselbe eben zu fragen anfngt, das ist hier System. Haben wir ferner richtig beobachtet, wenn wir in der Fremdartigkeit der Ideenverbindungen einen Versuch zu erblicken meinen, den franzçsischen Esprit, fr welchen der Verfasser theoretisch eine merkwrdige Liebe gegen die Natur bekennt, auf die sibyllinische Weisheit praktisch anzuwenden? Wenn das der Fall wre, so wrden wir uns eine Anmerkung dazu gestatten. Die „Frçhliche Wissenschaft“ ist gewissermaßen eine Gelegenheitsphilosophie, insofern sie, wie Nietzsche uns in der Vorrede mitteilt, einer Stimmung ihre Entstehung verdankt. Der Anlaß ist ein ußerst sympathischer; der Verfasser war nmlich von einer schweren, langwierigen Krankheit unverhofft genesen und empfindet demnach das Bedrfnis, mit neugewonnenen Krften an die Denkarbeit zu schreiten. Nun wrde man sich jedoch gewaltig tuschen, wenn man in der „Frçhlichen Wissenschaft“ Frçhlichkeit erwartete; es ist vielmehr Ruhe, Ordnung und Maß, mit einem Wort die Harmonie in der
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Entwicklung des an sich nichts weniger als frçhlichen Stoffes, welche allein den Einfluß einer gehobenen Stimmung erkennen lßt. Die „Frçhliche Wissenschaft“, wie brigens die meisten philosophischen Schriften Nietzsches, zerfallen in mehrere Bcher. Dem ersten mçchten wir die Ueberschrift „Vçlkerpsychologisches“ geben. Es klingt an schon Dagewesenes an, so daß wir anfnglich die Empfindung hatten, als bedeute das neue Werk nichts anderes als Variationen zu den Themen der „Morgenrçte“. Wir versprten dieselbe Bewunderung fr den Stoff, aber auch dieselben Bedenken gegen die Form, gegen die Allgemeinheit der Ideen, welche in abstrakter Hçhe schweifen, ohne durch Einzelheiten zu entschdigen, gegen die Brckengedanken, wo, anstatt Gegenstnde aufeinander zu beziehen, die Beziehungen selber den Gegenstand bilden, gegen die unntze Bettigung einer allzu umfassenden, den Autor selbst hindernden Belesenheit (Zitate aus aller Welt bis auf die neuesten franzçsischen Romanciers herab), gegen die bloß streifende, zwar nicht oberflchliche, aber willkrliche, zufllige Behandlung wichtiger Probleme (z. B. der weiblichen Keuschheit auf Seite 71), endlich gegen die schon erwhnte Zwecklosigkeit mancher Fragen und Antworten, wo das Verhltnis des Gesagten zum Leben gar nicht mehr durchzufhlen bleibt. Das zweite Buch dagegen hat uns von smtlichen Schriften unseres Philosophen den ungeteiltesten Genuß gewhrt; in ihm fanden wir die Tiefe der „Morgenrçte“ mit der Klarheit des Menschlichen – Allzumenschlichen verbunden; man kann sich dem Texte ganz und voll hingeben. Zu einem großen Teil beruht dieser Vorzug auf der Gunst des Stoffes; denn Nietzsche spricht hier ber Dinge, die interessant sind, die er weiß und die er durchdacht hat: ber Kunst und Altertum, ber Poesie und Sprache. In den genannten Gebieten zeigt sich Nietzsche als Meister, weil er da zugleich selbstndig (originell) und sachlich denkt; hier lauschen wir ihm am liebsten. Hçren wir beispielshalber einige Stze ber die deutsche Sprache. „Man schreibt nur im Angesichte der Poesie gute Prosa“ (S. 113). „In den Lndern einer hçfischen Kultur bedeutet der technische Ausdruck und alles, was den Spezialisten verrt, einen Flecken des Stils“ (126). Eine Stelle, die zugleich dem Denkermut (dem „intellektualen Gewissen“) Nietzsches die grçßte Ehre macht, zitiren wir etwas weitlufiger: „Etwas Hçhnisches, Kaltes, Gleichgltiges, Nachlssiges in der Stimme: das klingt jetzt den Deutschen ,vornehm‘. Abscheulichere Klnge sucht man in Europa vergebens. Der Offizier, und zwar der preußische, ist ihr Erfinder.“ Und nachdem er den sonstigen Tugenden des Offiziers volle Gerechtigkeit hat widerfahren lassen, fhrt er fort: „Sobald er aber spricht und sich bewegt, ist er die unbescheidenste und geschmackloseste Figur im alten Europa.“ Und dabei wundern sich die Deutschen, warum ihnen kein feines Konversationsdrama gelingen will! Endlich, von der bertragung jener willkrlichen und geschmacklosen Durchdienasevornehmheit auf den Schriftsteller sprechend: „Fast in jeder Rede des grçßten deutschen Staatsmannes, und selbst dann, wenn er sich durch sein kaiserliches Sprachrohr vernehmen lßt, ist ein
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Akzent, den das Ohr eines Auslnders mit Widerwillen zurckweist.“ Ich hatte mich von jeher darber gewundert, warum Nietzsche mit seinem außerordentlichen Geist in Deutschland nicht hochberhmt dasteht. Jetzt wundere ich mich nicht mehr, denn der neudeutsche Reichsruhm ist musterhaft diszipliniert. Ausnahmsweise kommen kleine Schlacken auch im zweiten Buch der „Frçhlichen Wissenschaft“ vor, etwa ein abstrakter Schwanz am Schlusse einer vernnftigen Betrachtung, geschnçrkelt oder nigmatisch in metaphysische Hçhe gestreckt, oder eine allgemeine Behauptung, welche vor der Kontrole der Wirklichkeit nicht besteht, wie z. B. der Satz: „Nur die deutschen Musiker verstehen sich auf den Ausdruck bewegter Volksmassen“, whrend bekanntlich Auber mit der „Stummen“ das unerreichte Vorbild in dieser Hinsicht bleibt, von dem sehr bewegten Rtlischwur Rossinis zu schweigen. Doch was wollen solche Kleinigkeiten gegenber dem herrlichen Genuß einer berflle der fruchtbringendsten Wahrheiten besagen! Im ganzen und großen bleibt das zweite Buch der „Frçhlichen Wissenschaften“ ein Meisterstck, dem wir recht zahlreiche Nachkommenschaft wnschen. Das dritte Buch handelt hauptschlich von Religion und Politik. Auch hier mssen wir unser Gelbde brechen und zitieren. Man nehme gleich den ersten Paragraphen: „Gott ist tot: aber so wie die Art der Menschen ist (verstehe: Hammelart), wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Hçhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. Und wir, wir mssen auch noch seinen Schatten besiegen!“ Ferner auf S. 163: „Wenn Gott ein Gegenstand der Liebe werden wollte, so htte er sich zuerst des Gerichts und der Gerechtigkeit begeben mssen. Ein Richter, und selbst ein gndiger Richter, ist kein Gegenstand der Liebe. Der Stifter des Christentums empfand hierin nicht fein genug – als Jude.“ Und unmittelbar darauf: „Wie? Ein Gott, der die Menschen liebt, vorausgesetzt, daß sie an ihn glauben! Eine verklausulierte Liebe! Wie orientalisch ist das!“ Und wieder: „Buddha sagt: „Schmeichle deinem Wohltter nicht!“ Man spreche diesen Spruch nach in einer christlichen Kirche: er reinigt sofort die Luft von allem Christlichen.“ Wie angenehm dieser Gedankengang an das schçne Wort von Bçrne erinnert: „Die Deutschen schmeicheln dem lieben Gott, als ob er ein deutscher Prinz wre.“ Es folgen in den brigen Bchern noch verschiedene Betrachtungen, die wir nicht unter einen einzigen Oberbegriff zu schieben verstehen. Hinsichtlich des Wertes derselben haben wir eine merkwrdige Beobachtung aus dem „Menschlichen Allzumenschlichen“ besttigt gefunden. Im Unterschied zu prgnanten Denkern (ursprnglich denkt Nietzsche profus) geraten die krzesten Sprche unserm Philosophen am wenigsten. Dieselben klingen und scheinen, aber beleuchten nicht. – Die Vorzge der „Frçhlichen Wissenschaft“ haben uns zu einiger Ausfhrlichkeit gezwungen, doch wird uns der Leser schwerlich zrnen.
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III. Der Dichter Der „Frçhlichen Wissenschaft“ sind einige Verse voran- und nachgeschickt. Wir meinen indessen nicht das, wenn wir von dem Dichter Nietzsche reden, denn fr die Blsse jener Verse vermçgen uns die brigen Vorzge derselben nur halb zu entschdigen. Wohl aber verdient der Zarathustra (Also sprach Zarathustra) den Namen eines Poems in bestimmtem, nmlich in orientalischem Sinne. Mitmenschen pflegen sich gegenseitig zu fragen: „Verstehst du den ,Also sprach Zarathustra?‘“ Und als Antwort schtteln sie die Kçpfe. Ich bekennne offen noch Schlimmeres, nmlich, daß ich gar nicht einmal das Bedrfnis empfinde, ihn zu verstehen. Dagegen glaube ich ihn zu begreifen, eben dadurch, daß ich ihn ein Poem nenne. Man beobachte nur den Eindruck, den diese Strophen auf das Auge machen. Das funkelt und leuchtet, das sind Psalmen, zwar nicht Psalmen der Seele, wie die eines gebornen Dichters, wohl aber des Geistes. Die Substantive stehen um ihrer selbst willen da, wir meinen, wegen den Bildervorstellungen, welche sie erwecken; diese Vorstellungen wecken wieder Akkorde mit ihren nchsten; der Satz rauscht rhythmisch, die Rede schwelgt in der Anschauung (allerdings in einer destillirten); die Abschnitte beweisen Maß und Einheit; das Ganze erscheint wie polirt, spiegelglatt, so spiegelglatt, daß selbst der Wille zum Verstndnis davon abgeleitet und magnetisirt einschlummert. Andere mçgen es mit Zarathustra anders halten; fr mich sprach Zarathustra nicht, aber er sang; und ich begnge mich damit, der Melodie zuzuhçren. Selbst ein grndlicher Nietzschekenner, wenn es solche gibt, wird durch die berraschende Wandlung, welche unser rtselhafter Proteus in Zarathustra plçtzlich annahm, berrascht worden sein. Wir wollen eine Erklrung dieses Phnomens wagen. Offenbar sucht sich Nietzsche bestndig selbst, ohne sich zu finden. Und er findet sich nicht, weil man sich niemals im Denken, sondern einzig in Taten und Werken (schriftstellerischen und andern), finden kann. Bcher bedeuten aber Werke nur unter der Bedingung, daß sie auch formell vollendet sind. Dies empfand wohl unser Philosoph, und vor seinem gigantischen Schatten erschreckend, schlpfte er plçtzlich in eine poetische Form. Wir begrßen diese Erkenntnis und mçchten nur noch wnschen, daß der Form der Inhalt entsprche und daß das Tiefe und das Schçne nicht mehr getrennt erschienen; der „Zarathustra“ bedeutet einstweilen statt eines Fortschrittes vielmehr einen Seitensprung, und zwar nach einer Seite, in welcher wir nicht Nietzsches Bahn zu sehen glauben, da er schwerlich in der Poesie seine Heimat hat; aber der „Zarathustra“ kann dem Autor als ein heller Spiegel dienen, in dessen Licht er seinen Prosastil prfe, um denselben den Gedanken zu adquiren. Wir meinen damit natrlich nicht Schçnrednerei, noch weniger Poesie, sondern ganz einfach den klaren Plan, die gegliederte Ordnung und den natrlichen Ausdruck.
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Nietzsche ist ein Riese, das unterliegt keinem Zweifel. Als solcher darf er uns nicht verbeln, wenn wir ihm zumuten, groß zu sein. Hoffen wir, daß wir ber Jahr und Tag unserm Aufsatz ein viertes Kapitel beifgen drfen, das die berschrift trage: „Der Schriftsteller“. Nachtrag Wir hatten obenstehenden Aufsatz schon abgesandt, als uns noch ein allerneuestes Werk Nietzsches berraschte: „Zur Genealogie der Moral“. (Leipzig, Naumann.) Nietzsche zeigt zunchst, wie ursprnglich der Begriff des Richtig-Handelns vom Rassenadel (im Sinne eines edlen „blonden“ Raubtiers aufgefaßt) abstrahirt wurde, welchem ein an Rasse schlechter Pçbel gegenberstand. Das Priestervolk der Juden, dagegen abstrahirte aus dem Pçbel unsere Begriffe bçs und gut. Triebfedern dieser Begriffe sind der Neid und der Haß. Scharfsinnig wird entwickelt, wie selbst im Begriff der christlichen Liebe noch Neid und Haß zu erkennen sind (Seite 28 bis 34). Die zweite Abhandlung erlutert die Entstehung der einzelnen Moralbegriffe, wobei der Begriff Strafe eine eigentmliche Begrndung erfhrt. Die dritte Abhandlung bearbeitet das Thema: Woher stammen die asketischen Moral – Ideale? Von den Knstlern? – Nein. Von den Philosophen? Ebenfalls nicht, denn ihre asketischen Prinzipien sind nur versteckte professionelle Bedrfnisse. Hiebei fallen prchtige Worte gegen die „Verleumder der Sinnlichkeit“; und mit Fug und Recht behauptet Nietzsche gegen Kant, daß alle Kunst, selbst die idealste, auf verfeinerter Sinnlichkeit beruhe. Bemerkenswert sind antiwagnersche Stze, z. B.: „Die Verçdung des deutschen Geistes stammt von der Politik, vom Bier, von der Wagnerschen Musik.“ Die Schuld an der asketischen Moral tragen allein die Priester. Wohltuend sind die Worte der Empçrung, welche Nietzsche ber die Heuchelei der heutigen Moral findet. Unsere Zeit ist „so verlogen, daß sie’s nicht einmal mehr merkt“, „unehrlichverlogen, tugendhaft-verlogen, blauugig-verlogen“. Nietzsches „blondes Raubtier“ muß demnach dunkle Augen haben. Und wer wollte unserm Verfasser nicht Beifall klatschen, wenn er die Feigheit der Prderie brandmarkt, welche sogar die Memoiren großer Mnner verstmmelt? Der Stil der „Genealogie“ ist das Gegenteil eines guten. Der Verfasser, ohne sich zu sammeln oder sich nur zu besinnen, wirft alles auf das Papier, was ihm durch den Kopf luft, darunter derbe Grobheiten. Unsere Hoffnungen auf Nietzsche, den Schriftsteller, sind durch die „Genealogie“ bedeutend gesunken. Carl Spitteler an Carl Gustav Naumann, 20.12 1887: „Mit meiner Nietzschebesprechung verhlt es sich folgendermaassen: Erst wurden mir 8 Bnde bersandt, die ich im Zusammenhang besprach, die einzelnen Bcher auf den mir bewilligten Raum nach Verhltniss eintheilend. Nach Ablieferung des
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Aufsatzes wurden mir ferner zwei Bcher nachgeschickt. Ich liess also den Aufsatz zurckkommen, ergnzte u. corrigierte ihn um diese neuen Bcher unterzubringen. Dadurch wurde der ursprngliche Raum berschritten. Nachdem dann der also corrigierte Aufsatz zum zweiten Mal abgeschickt war, erhielt ich die ,Genealogie d. M‘. Jetzt blieb mir nichts mehr als ein ganz kurzer, summarischer Nachtrag brig; zu meinem Leidwesen; allein zum dritten Mal die Arbeit neu zumachen, dazu hielt ich mich nicht verpflichtet. – Erst aus der Genealogie erfuhr ich auch zufllig, dass es ein Buch ,Jenseits von Gut u. Bçse‘ giebt; dasselbe kam mir niemals zu. Eine vierte Nacharbeit aber [muss ich] kann mir natrlich [ablehnen] nicht zugemuthet werden.“ KGB III/7, 3, Bf. 43, S. 958 Reaktionen N an Carl Spitteler, 10. 1. 1888: „Sehr geehrter Herr, haben Sie vielleicht die Neujahrsbeilage des ,Bund‘ zu sehen bekommen? Ich habe mich dafr bei dem ausgezeichneten Redacteur des ,Bund‘ bedankt, ein wenig ironice, wie billig. – Herr Spitteler hat eine feine und angenehme Intelligenz; leider lag, wie mir scheint, die Aufgabe selbst in diesem Falle zu sehr abseits und außerhalb seiner gewohnten Perspektiven, als daß er sie auch nur gesehen htte. Er redet und sieht nichts als Aesthetica: meine Probleme werden geradezu verschwiegen, – ich selbst eingerechnet. Es ist nicht ein einziger wesentlicher Punkt genannt, der mich charakterisiert. Und zuletzt fehlt es auch im Reiche des Formalen, zwischen vielem Artigen, nicht an bereilungen und Fehlgriffen. Zum Beispiel: ,einen Anti-Strauß hat nur ein Professor begehen kçnnen‘ ( – womit etwa das Urtheil Karl Hillebrands in ,Vçlker, Zeiten, Menschen‘ zu vergleichen wre, insgleichen das Urtheil Bruno Bauers und ungefhr aller tieferen Naturen, die mir damals ihren Dank und ihre Verehrung ausgedrckt haben) Oder: [es folgen weitere Vergehen Spittelers an Nietzsche.]“ KGB III/5, Bf. 988, S. 246 Constantin Georg Naumann an N, 30. 1. 1888: „Das neue Jahr, welches Sie glcklich angetreten haben und mit dem Sie, wie ich wnschen und hoffen darf, auch fernerhin zufrieden sein werden, brachte gleich an seinem ersten Tag im Sonntagsblatte des Berner Bund eine Besprechung Ihrer seitherigen litterarischen Thtigkeit, welchem Bericht man mindestens das Lob zollen darf, daß er wie seinerzeit der Aufsatz ber ,Jenseits von Gut und Bçse‘ in der gleichen Zeitschrift die Aufmerksamkeit eines grçßeren Publikums erweckt. Fr den freilich nur wenig wahrscheinlichen Fall, daß die fragliche Zeitungsnummer noch nicht in Ihre Hnde gelangt sein sollte, sende ich dieselbe unter heutigem Datum an ihre w[erte] Adresse ab […]“. KGB III/6, Bf. 516, S. 150 f
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N an Josef Viktor Widmann, 4. 2. 1888: „die Besprechung meiner Litteratur durch Herrn Spitteler hat mir großes Vergngen gemacht. Was fr ein feiner Kopf! Und wie gern man sich von ihm tadeln lßt! Er beschrnkt sich aus guten Grnden fast ganz auf das formale: er lsst die eigentlichen Geschichten hinter dem Gedachten, die Leidenschaft, die Katastrophe, die Bewegung gegen ein Ziel, gegen ein Verhngniß hin auf die Seite: – das kann ich nicht genug loben, darin ist wirkliche delicatezza. Es fehlt nicht an Uebereilungen. Er hat sichtlich die Schriften zum ersten Mal gelesen (und nicht einmal immer gelesen – ). Umsomehr bewundere ich die Sicherheit des sthetischen Taktes, mit der er die Form der verschiedenen Bcher und Epochen voneinander abhebt.“ KGB III/5, Bf. 985, S. 244 N an Carl Spitteler, um den 10. 2. 1888 (Entwurf ): „aber ich bin indignirt ber die leichtfertige Weise, sich mit meinem letzten Werke auseinanderzusetzen. Haben Sie einen Begriff davon, was ich geleistet habe. – Aber Sie haben keinen Begriff von mir.“ KGB III/5, Bf. 987, S. 245 f Heinrich Kçselitz an N, 10. 2. 1888: „Der heute frh eingetroffenen Aufsatz Spitteler’s erinnert mich an die Pflicht, Ihnen fr Ihren gtigen Brief vom 1. ds, wie fr die Nummern des ,Kunstwartes‘ und den heutigen ,Bund‘ meinen freudigen Dank auszusprechen. […] Spitteler’s Aufsatz im ,Bund‘ scheint mir ein tolles Gemisch von richtiger Witterung und Oberflchlichkeit, von Achtung und Unverschmtheit, von Ernst und Trivialitt zu sein. Er nimmt Sie beinahe nur von der litterarisch-artistischen Seite und schiesst dabei Bçcke, ber die ich lachen musste. Seine Citate sind auch hufig entstellt. ber Ihre philosophische Tendenz erhlt der Leser keinen Wink; das Ganze ist noch vor einem wirklichen Eindringen in Ihre Welt geschrieben. Als Anzeige wirkt es jedoch stark – und darauf kommt es zunchst allein an. Ich habe mich gewçhnt, derartige Besprechungen endlich nur nach ihrem Einfluss auf den buchhndlerischen Vertrieb anzusehn.“ KGB III/6, Bf. 518, S. 155 Heinrich Kçselitz an Franz Overbeck, 21. 2. 1888: „Neulich schickte mir Nietzsche eine Besprechung seiner Schriften von Carl Spitteler (Beiblatt des ,Bund‘ vom 1. Januar). Ein sehr begabter Mensch, der neben vielem Knotigen und Trivialen doch eine gute Witterung fr Finessen und dynamische Qualitten hat. Wenn ich nicht irre, ist er ein Basler. Kennen Sie ihn?“ Hoffmann, David Marc/Peter, Niklaus/Salfinger, Theo (Hrsg) (1998): Briefwechsel Heinrich Kçselitz – Franz Overbeck. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 3), Nr. 101, S. 197 N an Franz Overbeck, 20. 7. 1888: „Diese kleine Humanitt meinerseits hat noch einen Humor hinter sich: es war meine Art Rache fr einen extrem
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taktlosen und unverschmten Artikel Spittelers ber meine gesammte Litteratur, der letzten Winter im ,Bund‘ erschienen ist. – Ich habe eine viel zu gute Meinung vom Talente dieses Schweizers, als mich durch eine Rpelei beirren zu lassen ( – ich habe Respekt vor seinem Charakter – was leider in Bezug auf den Dr. F[uchs] nicht der Fall ist) Sp[itteler] ist durch meine Frsprache auch Mitarbeiter des ,Kunstwarts‘ und, nach meinem Geschmack, dessen einzige interessante Feder.“ KGB III/5, Bf. 1066, S. 361 N, Nachgelassene Fragmente September 1888: „Ein Jahr darauf behandelte dasselbe Blatt [der Berner Bund 1888] meinen Zarathustra als hçhere Stilbung, mit geistreichen Winken ber die Unvollkommenheit meines Stils.“ KGW VIII/3, S. 344 N, Ecce Homo, Oktober 1888: „Zuletzt war es nicht Deutschland, sondern die Schweiz, die die zwei extremen Flle geliefert hat. Ein Aufsatz des Dr. V. Widmann im ,Bund‘, ber ,Jenseits von Gut und Bçse‘, unter dem Titel ,Nietzsche’s gefhrliches Buch‘, und ein Gesammt-Bericht ber meine Bcher berhaupt seitens des Herrn Karl Spitteler, gleichfalls im Bund, sind ein Maximum in meinem Leben – ich hte mich zu sagen wovon … Letzterer behandelte zum Beispiel meinen Zarathustra als ,hçhere Stilbung‘, mit dem Wunsche, ich mçchte spter doch auch fr Inhalt sorgen; Dr. Widmann drckte mir seine Achtung vor dem Muth aus, mit dem ich mich um die Abschaffung aller anstndigen Gefhle bemhe. – Durch eine kleine Tcke von Zufall war hier jeder Satz, mit einer Folgerichtigkeit, die ich bewundert habe, eine auf den Kopf gestellte Wahrheit: man hatte im Grunde Nichts zu thun, als alle ,Werthe umzuwerthen‘ um, auf eine sogar bemerkenswerthe Weise, ber mich den Nagel auf den Kopf zu treffen – statt meinen Kopf mit dem Nagel zu treffen.“ KGW VI/3, S. 297 N, Ecce Homo, Umarbeitung, Oktober 1888: „Nicht daß es im einen oder im anderen Falle an ,gutem Willen‘ gefehlt htte; noch weniger an Intelligenz. Herr Spitteler gilt mir sogar als Einer der willkommensten und Feinsten unter denen, die heute Kritik ben: sein Werk ber das franzçsische Drama – nicht herausgegeben – ist vielleicht ersten Ranges.“ KSA 14/480
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Brandes, Georg: Indtryk fra Rusland [Eindrcke aus Russland]. Kopenhagen, 1888. In dem Kapitel ber Dostojewskij (S. 407-456) findet sich ein kurzer Abschnitt ber Nietzsches Moralvorstellungen (S. 417 f ). Ja mere endnu, den Moral, han [Dostojewskij] forkynder, er maaske det renest existerende Udtryk for Paria-Moralen, Slave-Moralen, et renere endog end den historiske Kristendom, i hvilken ogsaa andre Moral-Elementer findes. Det er Filosofen Friedrich Nietzsche, hvem en Fastslaaen af den sande og dybe Modsætning mellem Herre-Moral og Slave-Moral skyldes. Udtrykkene stamme fra ham. Ved Herre-Moral menes al den Moral, der gaar ud fra Selvfølelsen, positiv Livsfølelse: Roms, Islands, Renaissancens Moral; ved SlaveMoral al den, som gaar ud fra Uselviskhed som den højeste Dyd, fra Livsfornægtelsen, fra Hadet til de Lykkelige og Stærke. Den stadige Lovprisen af den Uselviske, Opofrende (i Modsætning til Den, der sætter sin fulde Kraft ind paa Selvbevarelse, Selv-udvikling og Magtudvidelse) udspringer selv ingenlunde af Uselviskhedens Aand. Næsten roser Uselviskheden, fordi han har Fordel af den; tænkte han selv uselvisk, vilde han afvise alt dette, der skal ske til Fordel for ham. Heri j ligger denne Morals Grundmodsigelse, at dens Bevæggrunde stride imod dens Princip. Den forkyndes til Bedste for de mislykkede Mennesker og har derfor i Reglen ingen ivrigere og hidsigere Talsmænd end den Art Mislykkede, der ikke have selvstændigt Aandsliv nok til at kunne leve i deres egen Idverden, men saa-kaldt Dannelse nok til at lide derunder, og hvis dybeste Væsen er Misundelse. Hvad Evner og hvad Dannelse saadanne Mennesker have, volder dem kun Kval; de leve i en stadig Trang til Hævn over dem, hvem de mistænke for at nyde. Dostojevski udvikler sig til et kolossalt Exempel paa Typen, da han har sit Livs værste Mishandlinger bag sig og nu fattig, snart forgjældet og i stadig, endeløs Gjæld, afhængig af Forlæggerne, hvis Forskud skaffer ham Livsopholdet, paany skal begynde at bane sig Vej i Literaturen. bersetzung nach KGB III/7,3,2, Bf. 68, S. 1046 Dostojewskijs Moral ist vielleicht der reinste existierende Ausdruck einer PariaMoral oder Sklavenmoral, reiner noch als das historische Christentum, das auch noch andere Elemente beinhaltet. Die Bestimmung des tiefen und wahren Gegensatzes zwischen Sklavenmoral und Herrenmoral verdanken wir dem Philosophen Friedrich Nietzsche. Die Bezeichnung stammt von ihm. Unter Herrenmoral ist die gesamte Moral zu
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verstehen, die vom Selbstgefhl, einem positiven Lebensgefhl ausgeht, die Moral Roms, Islands und der Renaissance. Unter Sklavenmoral ist diejenige Moral zu verstehen, welche von der Selbstlosigkeit als hçchster Tugend, von der Lebensverneinung, vom Haß auf die Glcklichen und Starken ausgeht. Das stndige Lob der Selbstlosen, Aufopfernden (im Gegensatz zu denjenigen, die ihre volle Kraft fr die Selbstbewahrung, Selbstentwicklung und Machtausbung einsetzen), entspringt selbst keineswegs dem Geist der Selbstlosigkeit. Der Nchste preist die Selbstlosigkeit, weil er einen Vorteil davon hat. Dchte er selbstlos, wrde er all das von sich weisen, was zu seinem Vorteil geschehen soll. Hierin liegt der Grundwiderspruch dieser Moral, daß ihre Beweggrnde ihrem Prinzip widersprechen. Die Moral wird verkndet als das Beste fr die Mißratenen und hat deshalb in der Regel keine eifrigeren und hitzigeren Frsprecher, als jene Art der Mißratenen, die nicht genug eigenstndiges Geistesleben haben, sondern nur genug sogenannte Bildung, um darunter zu leiden, und deren tiefstes Wesen der Neid ist. Die Fhigkeiten und die Bildung, die solche Menschen haben, verursachen ihnen Qualen. Sie leben in einem stndigen Drang nach Rache an denen, die sie des Genusses bezichtigen. Dostojewskij entwickelt sich zu einem kolossalen Exempel fr diesen Typus, nachdem er die schlimmsten Mißhandlungen seines Lebens hinter sich hat und nun mittellos und voll Schulden, in Abhngigkeit von seinen Verlegern und deren Vorschuß fr den Lebensunterhalt, von neuem versuchen soll, sich einen Weg in der Literatur zu bahnen. Reaktionen Georg Brandes an N, 26. 11. 1887: „Es ist mir eine Ehre, von Ihnen gekannt zu sein, und solcherweise gekannt, daß Sie daran gedacht haben, mich als Leser zu gewinnen. Es weht mir ein neuer und ursprnglicher Geist aus Ihren Bchern entgegen. Ich verstehe noch nicht vçllig was ich gelesen habe; ich weiß nicht immer wo Sie hinaus wollen. Aber vieles stimmt mit meinen eignen Gedanken und Sympathien berein, die Geringschtzung der asketischen Ideale und der tiefe Unwille gegen demokratische Mittelmssigkeit, Ihr aristokratischer Radikalismus. […] Sie gehçren zu den wenigen Menschen, mit denen ich sprechen mçchte.“ KGB III/6, Bf. 500, S. 120 N an Georg Brandes, 2. 12. 1887: „Der Ausdruck ,Aristokratischer Radikalismus‘, dessen Sie sich bedienen, ist sehr gut. Das ist, mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort, das ich bisher ber mich gelesen habe.“ KGB III/5, Bf. 960, S. 206
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Georg Brandes an N, 3. 4. 1888: „Gestern aber, wie ich Ihren Brief erhalten hatte und eins Ihrer Bcher vornahm, empfand ich plçtzlich eine Art Aerger, dass kein Mensch hier in Skandinavien Sie kenne und entschloss mich schnell, Sie mit einem Schlage bekannt zu machen. Der kleine Zeitungsausschnitt wird Ihnen sagen, dass ich […] neue Vorlesungen ber Ihre Schriften ankndige.“ KGB III/6, Bf. 533, S. 184 Georg Brandes an N, 29. 4. 1888: „Das erste Mal, als ich ber Ihre Werke redete, war der Saal nicht ganz voll, vielleicht ein anderthalb hundert Zuhçrer, weil man gar nicht wusste, wer oder was Sie seien. Als eine große Zeitung aber meinen ersten Vortrag referirt und als ich selbst einen Artikel ber Sie geschrieben hatte, war das Interesse rege, und die folgenden Male ist der Saal zum Bersten voll gewesen. Wohl ungefhr 300 Zuhçrer achten mit der grçssten Aufmerksamkeit auf meine Auslegung Ihrer Arbeiten.“ KGB III/6, Bf. 537, S. 191 Georg Brandes an N, 23. 5. 1888: „Meine Vortrge ber Fr. Nietzsche habe ich vor Pfingsten geschlossen. Es endigte, wie die Zeitungen sagen, mit einem Beifall ,der die Form einer Ovation annahm‘. Die Ovation kommt Ihnen fast gnzlich zu. Ich erlaube mir Ihnen dieselbe hierdurch schriftlich mitzuteilen.“ KGB III/6, Bf. 542, S. 201 Anna Dimitriewna Tenicheff an N, 20.11./2. 12. 1888: „Erlauben Sie mir ihnen meinen innigsten Dank auszusagen fr ihre liebenswrdige Zusendung ihrer interessanten Brochre ,Der Fall Wagner‘. Obwohl ich, leider, persçnlich noch nicht die Gelegenheit gehabt sie zu kennen, habe ich doch eine mchtige Vorstellung der Tiefe ihres Denkens und ihrer ganzen Persçnlichkeit, besonders durch die Vorlesungen welche Georg Brandes ber sie gehalten hat.“ KGB III/6, Bf. 609, S. 359 Georg Brandes an N, 23. 11. 1888: „Glauben Sie mir, ich mache Propaganda fr Sie, wo ich nur kann. Noch in der vorigen Woche forderte ich ernstlich Henrik Ibsen auf, Ihre Werke zu studieren.“ KGB III/6, Bf. 612, S. 361
Brasch, Moritz: Die Philosophie der Gegenwart. Ihre Richtungen und ihre Hauptvertreter. Leipzig, 1888, S. 671–674. Eine der interessantesten und anziehendsten geistigen Physiognomien in dieser ganzen Gruppe von Schopenhauerianern ist unzweifelhaft Friedrich Nietzsche (geb. am 15. Oktober 1844 zu Rçcken bei Ltzen und bis vor kurzem Professor
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der Philosophie an der Universitt zu Basel). Nietzsche ist ein sehr fruchtbarer und vielseitiger Schriftsteller, der auf den verschiedensten Gebieten der Philosophie sich versucht hat. Doch ist die Form seiner Schriften so eigenartig und oft so seltsam wie seine philosophische Welt- und Lebensauffassung selbst. Ohne der entwickelnden, abhandelnden und systematischen Form einen Wert beizulegen, whlt er oft die dialogische oder aphoristische Einkleidung seiner Gedanken, welche allerdings dann weder ausgefhrt noch gengend begrndet erscheinen, meist aber geistvoll, originell und anregend sind. Die bekanntesten seiner Schriften sind: „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ (1878); „Unzeitgemße Betrachtungen“ (4 Hefte: David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller; Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben; Schopenhauer als Erzieher; Richard Wagner in Bayreuth. 1873–76); „Die frçhliche Wissenschaft“ (2 Bde. 1882); „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister“ (1879); „Der Wanderer und seine Schatten“ (1880); „Morgenrçte, Gedanken ber die moralischen Vorurteile“ (1881); „Also sprach Zarathustra“ (1883–85); „Jenseits von Gut und Bçse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ (1886). Der Zusammenhang, in welchem Nietzsche mit der Schopenhauerschen Willensmetaphysik steht, ist ein allerdings nur noch sehr loser. Unzweifelhaft hat er von allen den großen Denkern des 18. und 19. Jahrhunderts, von dem Begrnder des modernen Pessimismus die grçßten und nachhaltigsten Einwirkungen erfahren, doch ist Nitzsche [sic] kaum noch zur Schopenhauerschen Schule zu rechnen, und auch Ed. von Hartmann, der seltsamerweise den Neukantianer Friedrich Albert Lange und den Positivisten Eugen Dhring noch zur Schule Schopenhauers zhlt, trgt Bedenken, Friedrich Nietzsche derselben einzureihen. Doch ist die Verwandtschaft Nietzsches mit Schopenhauer eine tief innerliche und gewissermaßen unsichtbare, und man kann mit Recht sagen: ohne Schopenhauer wre eine so eigenartige, romantische Erscheinung wie Nietzsche ganz undenkbar. Nitzsche [sic] schließt sich in bezug auf die metaphysische Frage von der Erkennbarkeit der hçchsten Wahrheit an Kant an. Diese Erkenntnis von den Grenzen menschlicher Forschung nennt Nietzsche eine „tragische“, und diese mßte uns direkt in den verzweiflungsvollen Pessimismus hineinfhren, wenn uns nicht die Kunst und zwar die hçchste aller Knste, die „Kunst des metaphysischen Trostes“ daraus erretten wrde. Diese aber ist die Tragçdie. Nietzsche hat in seiner ersten Schrift „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ das Problem der Entstehung dieser Kunstform im Zusammenhang mit einer geschichtsphilosophischen Betrachtung ber das Entwickelungsprinzip der Menschheit einer Analyse unterzogen. Aber der Grundton dieser ersten sthetischen Schrift klingt durch alle folgenden Arbeiten Nietzsches durch: es ist der von Fr. Schlegel inauguierte und der spter bei dem Jung-
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deutschen Ludolf Wienbarg wiederkehrende, echt romantische Gedanke, daß nicht nur Kunst und Religion, sondern auch das Leben und die Gesellschaft aus knstlerischen Gesichtspunkten und Gesetzen neu herausgestaltet werden msse. Den idealen Kern fr diese knftige Kunst- und Lebensreform sieht Nietzsche in dem Grundgedanken, wie er in Richard Wagners Musikdrama zum Ausdruck gekommen ist. Mit dieser sthetischen Anschauung hngt ein gewisser Aristokratismus der sittlichen Prinzipien bei Nietzsche zusammen. Er neigt sich in ethischen Fragen einem starken Skeptizismus zu, indem er dem „sittlichen“ Urteile des Einzelnen, welches fr ihn hçchstens Motiv und Antrieb zum Handeln sei, die Wahrheit abspricht. Nur der Grad der knstlerischen Bildung des Gefhls, bis zu welchem sich der Einzelne emporgeschwungen, gebe ihm den sittlichen Wert, den er im Bereich der Geisterwelt einnehme. Man sieht also: ein khner knstlerischer Romantizismus, der in vollem Widerspruch steht zum realistischen Geiste der Zeit. Dieser schroffe Gegensatz spricht sich insbesondere in den letzten Schriften Nietzsches aus, welche vielfach gegen die charakteristischen und bedeutungsvollsten Errungenschaften des Jahrhunderts, wie z. B. die immer grçßere Beherrschung und Ausbeutung der Naturkrfte zum Zwecke zivilisatorischen Fortschritts, oder das immer energischere Hervortreten der bis dahin unterdrckten unteren Volksklassen als maßgebende Faktoren der çffentlichen Meinung polemisieren. Dieser Umstand verleiht allerdings den Arbeiten dieses Denkers eine gewisse rckwrts gekehrte und nicht gerade liberale Tendenz. Man kann sagen: politisch erscheint Nietzsche uns in allen seinen Schriften in einem philosophisch gemilderten Konservativismus, whrend er in religiçser Hinsicht insofern einem entschiedenen Radikalismus huldigt, als er den inneren Geist aller gegebenen historischen Religionsformen in seinem sthetischen Schmelztigel erst zur Idee der hçheren, die menschliche Erlçsung verbrgenden tragisch-knstlerischen Form umgestaltet wissen will. „Man muß Religion und Kunst,“ sagt Nietzsche, „wie Mutter und Amme geliebt haben – sonst kann man nicht weise werden; aber man muß ber sie hinaussehen, ihnen entwachsen kçnnen; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht.“ Im ganzen steht Nietzsche bei aller vielfach zur Paradoxie neigenden Originalitt seiner Ideeen [sic] der ganzen Tendenz seines Denkens nach, sowohl den philosophischen und wissenschaftlichen Bestrebungen, als auch dem eigentlichen Geiste der Zeit sehr fern und gewissermaßen als ein Fremder gegenber. Dieses tritt nun besonders in den letzten Schriften Nietzsches, wie in der oben genannten „Jenseits von Gut und Bçse“, in unangenehmster Weise hervor. Hier treibt ihn die Vornehmheit und Exklusivitt seines knstlerischen Idealismus ins entgegengesetzte Extrem, indem er eine auffallende Feindseligkeit gegen alle volksfreundlichen, humanitren und auf die Hebung der Gleichberechtigung der unteren Volksklassen gerichteten Bestrebungen zum Ausdruck
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bringt. Es ist aber im Grunde doch nichts als eine „aristokratisch“ sein sollende maßlose berhebung, wenn Nietzsche in der letztgenannten Schrift Ansichten ußert wie folgende: „Menschen, nicht vornehm genug, um die abgrundlich verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu sehen – solche Menschen haben mit ihrem „Gleich vor Gott“ bisher ber die Schicksale Europas gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lcherliche Art von Heerdentier, etwas Gutmtiges, Krnkliches, Mittelmßiges herangezchtet ist – die heutigen Europer„……“Moral ist heute in Europa grçßtenteils Heerdentiermoral.“…… Nietzsche trgt, wie gesagt, einen gewissen ethischen Skeptizismus zur Schau; aber was soll man von solchen geradezu ans Frivole, ja ans Ruchlose streifenden ußerungen halten wie folgende?: „Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurteil, daß Wahrheit mehr wert ist als Schein, es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt giebt“. . . . „Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; „dumm bis zur Heiligkeit“, heißt ein russisches Sprichwort„…… „Der Egoismus gehçrt zum Wesen der vornehmen Seele; ich meine jenen unverrckbaren Glauben, daß andere Wesen, wie wir sind, anderen Wesen von Natur Unterthan sein mssen und sich ihnen zu opfern haben“….“Sklaverei ist die Bedingung jeder hçheren Kultur….. Fast alles, was wir hçhere Kultur nennen, beruht auf einer Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit„… u.s.w. u.s.w. Es ist bedauerlich, daß ein Mann von Geist und philosophischer Beanlagung wie Friedrich Nietzsche in solche traurige Verirrungen hineingert….. Aber hier werden nur die notwendigen Konsequenzen sichtbar, zu denen Arthur Schopenhauers „vornehme“ und weltverachtende pessimistische Ethik fhren mußte.
Brandes, Georg: Aristokratisk Radikalisme. En Afhandling om Friedrich Nietzsche. In: Tilskueren. Maanedsskrift for Literatur, Samfundsspørgsmaal og almenfattelige videnskabelige Skildringer. Kopenhagen, Bd. 7, August 1889, S. 565–613. Aristokratisk Radikalisme. En Afhandling om Friedrich Nietzsche. I det nærværende Tysklands Literatur synes Friedrich Nietzsche mig at være den interessanteste Skribent. Skøndt selv i sit Fædreland lidet kendt er han en Aand af betydelig Rang, som tilfulde fortjæner at studeres. At drøftes, at bekæmpes og at tilgnes. Han har blandt flere gode Egenskaber den at meddele Stemning og sætte Tanker i Bevægelse.
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I atten Aar har Nietzsche skrevet en lang Række Bøger og Hæfter. De fleste af disse Bind bestaa af Strøtanker og de fleste og nyeste af disse Tanker dreje sig om de moralske Fordomme. Hans blivende Betydning ligger paa dette Omraade. Men i øvrigt har han behandlet de mangfoldigste Spørgsmaal, skrevet om Kultur og Historie, om Kunst og Kvinder, om Samliv og Eneboerliv, om Stat og Samfund, om Livskamp og Død. Han er født den 15de Oktober 1844 paa Valpladsen ved Ltzen. Det første fremmede Navn, han som Barn hørte udtale, var Gustav Adolfs. Hans Forfædre var polske Adelsmænd (Niezky), og det synes som om den polske Type har vedligeholdt sig hos deres Ætling trods tyske Mødre i tre Led; ti i Udlandet er han ofte bleven antaget for Polak. Hans Bedstemoder tilhørte Goethes Kreds i Weimar. Han havde som Barn det Held at blive sat i en fortræffelig Skole, Institutet Schulpforta i Preussen, fra hvilket flere af den tyske Literaturs mærkelige Mænd ere udgaaede (Klopstock, J. E. Schlegel, Fichte, Ranke o.s.v.). Lærerne ved denne Skole vilde efter Nietzsches Udsagn have gjort ethvert Universitet Ære. Han studerede først i Bonn, saa i Leipzig, hvor den gamle Ritschel, den Gang Tysklands første Filolog, tidligt udmærkede ham. Fra sit 22de Aar af var han Medarbejder af „Litterarisches Centralblatt“. Han grundlagde den filologiske Forening i Leipzig, der endnu bestaar. I Aaret 1868 tilbød Universitetet i Basel ham et Professorat i Filologi. Han var da 24 Aar og endnu ikke Doktor. Sidenhen har Universitetet i Leipzig givet ham Doktorgraden uden nogen forudgaaende Disputats. Han afbrød sin Lærervirksomhed for at deltage i den fransk-tyske Krig. Fra 1869 til 1879 var Nietzsche Professor i Basel. Han nødtes imidlertid til at opgive sin tyske Nationalitet, da han som Officer (i det ridende Artilleri) blev for ofte indkaldt og saaledes forstyrret i sin akademiske Gerning, „Jeg forstaar mig,“ skrev han en Dag i et Privatbrev, „paa to Vaaben, Sabel og Kanon, og maaske endnu paa et tredje ….“ Det gik Nietzsche meget godt i Basel trods hans Ungdom, der medførte, at de, han skulde eksaminere, tit vare ældre end Eksaminator. Blandt de fremragende Personligheder, han kom i Forbindelse med, var Renæssancens udmærkede Kulturhistoriker Jakob Burkhardt og Richard Wagner, der med sin Hustru Cosima den Gang boede paa et Landsted ved Luzern efter at have brudt Broen af med deres hele tidligere Omgangskreds. For Burkhardt har Nietzsches Beundring og Hengivenhed holdt sig. I hans Stemning overfor Wagner er der derimod i Aarenes Løb indtraadt et fuldstændigt Omslag. Efter at have været Wagners Forkynder har han udviklet sig til hans lidenskabeligste Bekæmper. Nietzsche har bestandig med Liv og Sjæl været Musiker; han har endog i sin Hymne til Livet (et Korværk med Orkester, 1888) forsøgt sig som Komponist, og Samlivet med Wagner har sat dybe Spor i hans tidligste Skrifter. Men Operaen Parsifal med sin katoliserende Tendens og sin Opstillen af de asketiske
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Idealer, der tidligere havde ligget Wagner aller fjærnest, bragte Nietzsche til i den store Komponist at se en Fare, en Fjende, et Sygdomsfænomen, idet der over alle de tidligere Operaer nu kastedes et nyt Lys for ham udfra det sidste Værk. Under sit Schweizerophold lærte Nietzsche en Flor af interessante Mennesker at kende, „mangt og meget af det bedste, der vokser mellem Paris og St. Petersborg“. I Aaret 1876 begyndte det at gaa tilbage med hans Helbred. Han søgte forgæves Lindring ved et Vinterophold i Sorrent. En yderst smertelig Hovedpine, saa stadig, at den røvede ham omtrent to hundrede af Aarets Dage, martrede ham i de næste seks Aar og bragte ham til Gravens Rand. 1879 opgav han sit Professorat. Fra 1882–1888 hævede hans Helbredstilstand sig jævnt om end yderst langsomt. Hans Øjne var stadigt saa svage, at han truedes med Blindhed. Han var tvungen til den yderste Forsigtighed i Levevis og til at vælge sit Opholdssted i Kraft af klimatiske og meteorologiske Betingelser. Mest har han tilbragt Vintrene i Nizza, Somrene i Sils-Maria i Øvre – Engadin i Schweiz. Aarene 1887 og 1888 vare forbavsende produktive. I dem udgives de mest fremragende Arbejder af meget forskellig Art og forberedes en hel Række nye Værker. Saa fulgte i Slutningen af Aaret, maaske som Følge af Overanstrængelse, et voldsomt Sygdomsanfald, fra hvilket Nietsche ikke har naaet Helbredelse endnu. Som Tænker er han udgaaet fra Schopenhauer; han er i sine første Skrifter ligefrem hans Lærling. Men han optræder efter flere Aars Tavshed, under hvilken han gennemlever sin første aandelige Krise, som frigjort fra ethvert Discipelforhold. Han gennemgaar nu en saa stærk og hurtig Udvikling – inindre i selve Tankelivet end i Modet til at udtale sine Tanker – at Skrift efter Skrift betegner et nyt Stadium, indtil han efterhaanden har samlet sig om et enkelt Grundspørgsmaal, Spørgsmaalet om de moralske Værdier. Han havde allerede i sin første Begyndelse som Tænker og Skribent overfor David Strauss protesteret imod enhver moralsk Udtydning af Altets Væsen, givet vor Moral dens Plads i Fænomenernes Verden snart som Skin eller Fejlgreb, snart som Tilrettelægning og Kunst. Og hans boglige Virksomhed har hidtil naaet sin Højde i en Undersøgelse af Moralbegrebernes Opstaaen, ligesom det har været hans Haab og Hensigt at levere en gennemført Kritik af de moralske Værdier, en Granskning af disse (som givne betragtede) Værdiers Værdi. Den første Bog af Værket Umwerthung aller Werthe var færdig, da han blev syg.283 283 Nietzsches Skrifter ere følgende: Unzeitgemsse Betrachtungen I–IV. – Die Geburt der Tragoedie oder Griechenthum und Pessimismus. – Menschliches, Allzumenschliches I og II. – Morgenrçthe, Gedanken ber die moralischen Vorurtheile. – Die frçhliche Wissenschaft (la gaya scienza). – Jenseits von Gut und Bçse. – Zur Genealogie der Moral. –Also sprach Zarathustra I-IV. – Der Fall Wagner, ein Musikantenproblem. – Gçtzendmmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt.
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I. Nietzsche blev første Gang meget omtalt, om end ikke meget berømmet, for et bidsk og ungdoinmeligt Stridsskrift mod Strauss i Anledning af dennes Værk Den gamle og den nye Tro. Ikke mod det første krigerske Afsnit af Værket, men mod det erstattende, opbyggende Afsnit deraf er det, at her et i sin Tone pietetsløst Angreb er rettet. Dette Angreb gælder dog mindre den en Gang store Kritikers sidste Kraftanstrengelse end det tyske Middelmaadighedsvælde, for hvilket dette hans sidste Ord stod som Dannelsens sidste Ord overhovedet. Det var en halvandet Aar efter den fransk-tyske Krigs Slutning. Aldrig havde den tyske Selvfølelses Bølger gaaet saa højt. Sejersjubelen var gledet over i en stormende Selvforherligelse. Den almindelige Opfattelse var den, at det var den tyske Kultur, der havde overvundet de franske. Da løftede der sig denne Stemme, som sagde: Sæt, at virkelig to Kulturer her havde kæmpet med hinanden, saa var der ikke derfor nogen Grund til at bekranse den sejrende Kultur; man maatte vide, hvad den tabende var værd; dersom dens Værdi var meget ringe – og det siges jo om den franske – saa var Æren ikke stor. Men dernæst kan der i dette Tilfælde slet ikke være Tale om en Sejer for den tyske Kultur, dels fordi den franske bestaar endnu, dels fordi Tyskerne nu som før er afhængige af den. Det var Krigstugt, naturlig Tapperhed, Udholdenhed, Førernes Overlegenhed, de førtes Lydighed, lutter Elementer, – som ikke have noget med Kultur at gøre, der skaffede Tyskland Sejer. Men endelig har den tyske Kultur især af den gode Grund ikke sejret, at Tyskland endnu ikke har noget, som kan kaldes Kultur. Det var da kun et Aars Tid siden, at Nietzsche selv havde knyttet de største Forventninger til Tysklands Fremtid, haabet paa dets nær forestaaende Frigørelse fra den romanske Civilisations Ledebaand, og hørt de gunstigste Varsler ud af den tyske Musik.284 Det aandelige Forhald, der – vel med Rette – syntes ham at tage sin utvivlsomme Begyndelse med Oprettelsen af Riget,bragte ham til nu at møde den herskende Folkestemning med hensynsløs Trods. Han hævder, at Kultur først og fremmest viser sig i kunstnerisk Stil-Enhed gennem alle et Folks Livsytringer. Det derimod at have lært meget og vide meget er, som han viser, hverken et nødvendigt Middel til Kultur eller et Tegn paa Kultur; det forliges fortræffeligt med Barbari, det vil sige med Stilløshed eller et broget Miskmask af Stilarter. Og hans simple Paastand er den, at med en Kultur, der bestaar af Miskmask, kan man ikke betvinge en Fjende, mindst en Fjende som Franskmændene, der længe har haft en virkelig, frugtbar Kultur, man tillægge den nu større eller mindre Værd. Han beraaber sig paa et Ord af Goethe til Eckermann: „Vi Tyskere ere fra i Gaar. Vi have vel i det sidste Hundrede Aar kultiveret ret dygtigt, men der kan 284 Die Geburt der Tragoedie S. 112 ff.
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endnu gaa et Par Aarhundreder hen, før der er trængt saa megen Aand og højere Kultur ind i vore Landsmænd, at man kan sige om dem, det nu er længe siden, de var Barbarer.“ For Nietzsche dække, som man ser, Begreberne Kultur og ensartet Kultur hinanden. For at være ensartet maa en Kultur have naaet en vis Alder og være bleven saa stærk i sin Ejendommelighed, at den har gennemtrængt alle Livsformer. Ensartet Kultur er imidlertid naturligvis ikke t med hjemmefødt Kultur. En ensartet Kultur havde det gamle Hellas, men den var en Frugt af ægyptiske og asiatiske Indflydelser; en ensartet Kultur havde det gamle Island, skøndt dets Blomstring netop hidførtes ved det levende Samkvem med Europa; en ensartet Kultur havde Italien under Renæssancen, England i det sekstende, Frankrig i det syttende og attende Aarhundrede, skøndt Italien byggede sin Kultur op af græske, romerske og spanske Indtryk, Frankrig sin af antike, keltiske, spanske og italienske Elementer, og skøndt Englænderne er Blandingsfolket fremfor alle. Det er ganske vist nu kun en halvanden Hundred Aar siden, at Tyskerne begyndte paa deres Frigørelse fra den franske Kultur, næppe mere end hundrede Aar siden, at de helt slap ud af Franskmændenes Skole, hvis Paavirkning lige fuldt kan spores den Dag i Dag; men dog vil ingen med Rette kunne nægte Tilstedeværelsen af en tysk Kultur, selv om den endnu er forholdsvis ung og i sin Vorden. Heller ikke vil den, som har Sans for Overensstemmelsen mellem tysk Musik og tysk Filosofi, Øre for Overensstemmelsen mellem tysk Musik og tysk lyrisk Poesi, Øje for de Fortrin og Mangler ved Tysklands bildende Kunst, der ere Udslag af det samme Grundhang, som kommer for Dagen i det hele tyske Tanke- og Følelsesliv, være tilbøjelig til paa Forhaand at nægte Tyskland ensartet Kultur. Betænkeligere bliver Forholdet for saadanne mindre Landes Vedkommende, hvor Afhængigheden a£ Udlandet ikke sjældent har været Afhængighed i anden Potens. For Nietzsche er imidlertid dette Punkt forholdsvis mindre vigtigt. Han er overbevist om, at de nationale Kulturers Time slaar snart, da den Tid ikke kan være fjærn, hvor der overhovedet kun er Tale om en europæisk eller europæiskamerikansk Kultur under t. Han gaar ud fra den Kendsgerning, at de udviklede Mennesker i alle Lande allerede nu føle sig som Europæere, som Landsmænd, ja som Forbundsfæller, og fra den Tro, at allerede det næste Aarhundrede maa bringe Krigen om Herredømmet over Jorden. Naar saa ud fra denne Krigs Resultat en bøjende og knækkende Stormvind farer hen over alle de nationale Forfængeligheder, hvad vil det da gælde om? Det vil da, mener Nietzsche, ganske som de mest fremragende Franskmænd i vore Dage, gælde om det til da er lykkedes at optugte eller opdrætte en Art Kaste af fremragende Aander som kan gribe den centrale Magt. Grundulykken er da ikke den, at et Land endnu ikke har en ægte, ensartet og gennemført, Kultur; men den, at man tror sig kultiveret. Og med Blikket rettet paa Tyskland spørger Nietzsche, hvorledes det er gaaet til, at en saa uhyre
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Modsætning kan forefindes som den mellem Manglen paa sand Kultur og den selvtilfredse Tro paa netop at besidde den eneste sande – og finder Svaret i den Omstændighed, at en Klasse af Mennesker er kommen til Magten, som intet tidligere Aarhundrede har kendt, den, han (i 1873) døbte med Navnet Dannelsesfilistre. Dannelsesfilisteren anser sin upersonlige Dannelse for den egentlige Kultur; hvis han har hørt Tale om, at Kultur forudsætter et ensartet Aandspræg, bestyrkes han i sin gode Mening om sig selv, da han overalt finder dannede af sin egen Art, og da alle Skoler, Højskoler og Kunstanstalter ere indrettede efter hans Fornødenheder og det til hans Dannethed svarende Mønster. Idet han saa at sige overalt møder den samme stiltiende Vedtægt med Hensyn til Religion, Moral og Literatur, med Hensyn til Ægteskab, Familie, Kommune og Stat, synes det ham godtgjort, at denne imponerende Ensartethed er Kultur. Han aner ikke, at dette velordnede og velsammenhængende Filisteri, der er sat i alle Højsæder, paa alle Herskerhynder og ved alle Pulte, ingenlunde er blevet Kultur, blot fordi der finder et Sammenspil Sted mellem dets Organer. Det er, siger Nietzsche, ikke engang daarlig Kultur; det er efter Ævne solidt forskanset Barbari, kun ganske uden det oprindelige Barbaris Friskhed og vilde Kraft, og han har mange malende Udtryk for at skildre Dannelsesfilisteriet som det Morads, hvori al Træthed bliver stikkende og i hvis giftige Taage al Stræben sygner. I Dannelsesfilistersamfundet fødes vi nu alle ind, deri vokse vi alle op. Det møder os med herskende Meninger, som vi ubevidst antage, og selv naar Meningerne ere delte, saa ere de dog kun delte i Partimeninger – offentlige Meninger. En Aforisme af Nietzsche lyder: „Hvad er offentlige Meninger? Det er private Dovenskaber.“ Sætningen er ikke ubetinget sand. Der gives nogle Tilfælde, hvor den offentlige Mening er noget værd. John Morley har skrevet en god Bog derom. Overfor visse grove Brud paa Tro og Love, enkelte grovt nederdrægtige Krænkelser af Menneskeret kan den offentlige Mening en sjælden Gang rejse sig som en Magt, der fortjæner at følges. Ellers er den som Regel et Fabrikat, tilvirket i Dannelsesfilisteriets Sold. Ved sin Indtræden i Livet møder Ungdommen da forskellige, lidt mere eller lidt mindre filistrøse, Gruppemeninger. Jo mere den enkelte er anlagt til et virkeligt Menneske, des mere Modstand gør han mod at følge en Hjord. Men selv om en indre Stemme siger til ham: Bliv dig selv! Vær dig selv! Hører han med Mismod dens Tilraab. Har hall et Selv? Han ved det ikke; han kender det endnu ikke. Han ser sig da om efter en Lærer, en Opdrager, n, der ikke vil lære ham noget fremmed, men lære ham at blive sig selv, denne enkelte. Vi have som bekendt i Danmark haft en stor Mand, som med indtrængende Kraft rettede den Tilskyndelse til sin Samtids Mennesker, at de skulde blive enkelte. Men Opfordringen var fra Søren Kierkegaards Side ikke ment saa
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ubetinget som den lød. Ti Maalet var dem givet. De skulde blive enkelte, ikke for at udvikle sig til frie Personligheder, men for ad den Vej at blive, sande kristne. De bleve kun tilsyneladende stillede frit; over dem svævede et: Du skal tro! Og et: Du skal lyde! De havde selv som enkelte en Løkke om Halsen og paa den anden Side af den Enkelthedens Snævring, hvorigennem Hjorden blev dreven, ventede Hjorden paany: n Hjord. n Hyrde. Det er ikke for saaledes straks at opgive sin Personlighed paany, at Ynglingen i vore Dage attraar at blive sig selv og søger sig en Opdrager. Han vil ikke have sig et Dogme foremalt, i hvilket han bør havne. Men han føler med Uro, at han er fyldt med Dogmer. Hvorledes finde sig selv i sig selv, hvorledes udgrave sig selv af sig selv? Det er dertil, Opdrageren skulde hjælpe ham. En Opdrager kan kun være en Befrier. En saadan befriende Opdrager søgte Nietzsche som Yngling og fandt ham i Schopenhauer. En saadan finder enhver, der søger derom, i den Personlighed, som under hans Udviklingstid virker dybest frigørende paa ham. Nietzsche siger, at da han havde læst den første Side af Schopenhauer, vidste han, at han vilde læse hver Side af ham og lægge Mærke til hvert Ord, selv til de Vildfarelser, han maatte finde. Enhver aandeligt stræbende vil kunne nævne Mænd, hvem han har læst paa denne Maade. Rigtignok blev der for Nietzsche som i Almindelighed for den stræbende endnu et Skridt tilbage at gøre, det at befri sig fra Befrieren. Vi finde i hans ældste Skrifter visse Schopenhauerske Yndlingsudtryk, som siden ikke mere forekomme hos ham. Men Frigørelsen er her en rolig Udvikling til Selvstændighed, under hvilken den dybe Taknemmelighed bevares, ikke som i Forholdet til Wagner et voldsomt Omslag, der bringer ham til at fraskrive de Værker enhver Værdi, som tidligere vare ham de værdifuldeste af alle. Han priser hos Schopenhauer hans høje Ærlighed, ved Siden af hvilken han kun kan stille Montaigne’s, hans Klarhed, hans Bestandighed, hans renlige Forhold til Samfund og Stat og Statsreligion, der stikker saa stærkt af i Sammenligning med Kant’s. Hos Schopenhauer aldrig en Indrømmelse, aldrig en Leflen. Og Nietzsche studser ved den Omstændighed, at Schopenhauer overhovedet holdt Livet ud i Tyskland. En nyere Englænder har sagt: „Shelley vilde ikke have kunnet leve i England, og et Kuld af Shelley’er vilde have været umuligt.“ Den Art Aander blive tidligt knækkede, saa melankolske, saa syge eller sindssyge. Dannelsesfilistrenes Samfund gør de ualmindelige Mennesker Livet surt. Der er Eksempler i flokkevis fra alle Landes Literatur, og Kontraprøven gøres stadigt. Man behøver kun at tænke paa det Antal af Talenter, der tidligere eller senere bede om Pardon og gøre Filisteriet Indrømmelser for at eksistere. Men selv hos de stærkeste røber den unyttigt oprivende Kamp med Dannelsesfilisteriet sig i Furer og Rynker. Nietzsche citerer det Ord af en øvet Diplomat, der kun overfladisk havde set og talt med Goethe: Voil un homme qui a eu des grands
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chagrins, og Goethes Tilføjelse, da han fortalte det til sine Venner: „Naar Sporene af overstaaede Lidelser staa uudslettelige selv i vore Ansigtstræk, saa er det intet Under, at alt, hvad der bliver tilovers som Frugt af vor Stræben, bærer samme Spor.“ Og dette er Goethe, som anses for Lykkens Yndling! Schopenhauer var som bekendt indtil i sine sidste Leveaar en ganske ensom Mand. Ingen forstod ham, ingen læste ham. Størstedelen af det første Oplag af hans Værk Die Welt als Wille und Vorstellung maatte sælges som Makulatur. Bogen udkom 1819, og forblev tredive Aar igennem upaaagtet. Poul Møller var en af de faa danske, der lagde Mærke til den, men endnu i 1837 er Schopenhauers Personlighed i Danmark saa lidet kendt, at Poul Møller (i sin Afhandling om Udødeligheden) kalder ham Professor i Berlin, og 1841 vederfares der „Videnskabernes Selskab“ i København det bekendte Uheld at nægte ham sin Præmie for et af hans berømteste Arbejder. I vore Dage er den Taine’ske Anskuelse trængt stærkt igennem, at den store Mand er helt igennem bestemt ved Tidsalderen, hvis Barn han er, at han ubevidst resumerer den og bevidst bør give den Udtryk285. Men skøndt den store Mand selvfølgelig ikke staar udenfor Historiens Gang og altid maa bygge paa Forgængere, spirer en Id dog altid i en enkelt eller nogle enkelte, og disse enkelte ere ikke spredte Punkter i den lavtstaaende Mængde, men højtbegavede, der drage Mængden til sig og ikke drages af den. Det man kalder Tidsaanden, opstaar fra først af i ganske faa Hjærner. Nietzsche som fra først af, vel især gennem Paavirkningen af Schopenhauer, har været stærkt opfyldt af den Sætning, at den store Mand er ikke Tidens Barn men dens Stifbarn, fordrer af den fremragende Opdrager, at han skal opdrage den unge imod Tiden. Det forekommer ham, at den nyere Tid især har fremstillet tre Menneskeskikkelser efter hinanden til Efterligning og Efterfølgelse. Først Rousseaus Menneske, Titanen, der rejser sig, trykket og bundet af de højere Kaster og i sin Nød anraaber den hellige Natur. Saa Goethes Menneske. Ikke Werther og de beslægtede revolutionære Skikkelser, som endnu stamme fra Rousseau, ikke den oprindelige Faustfigur, men Faust, som han efterhaanden udvikler sig. Han er ingen Verdensbefrier, men en Verdensbeskuer. Han er ikke det virkende Menneske. Nietzsche minder om Jarno’s Ord til Wilhelm Meister: „De er ærgerlig og bitter, det er godt nok. Naar De nu en Gang kunde blive rigtig vred, da vilde det være endnu bedre.“
285 Disse Linjers Forfatter har ikke, som det undertiden er bleven offentligt udtalt, gjort til Talsmand for denne Anskuelse, har tvært imod bekæmpet den. Efter nogen Tids Usikkerhed udtalte jeg mig imod den i 1870 i „Den franske Estetik i vore Dage“ . 105, 106, senere i en Artikel om Schopenhauer i Slutningsnumeret af „Ude og Hjemme“, endelig 1888 i Indledningen til Jubeludgaven af Holbergs Komedier.
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Til en Gang at blive rigtig vred for at det kan blive bedre, er det efter den trediveaarige Nietzsches Opfattelse at det Schopenhauerske Menneske vil opmuntre. Dette Menneske tager frivilligt den Lidelse paa sig at sige Sandheden. Dets Grundtanke er den: Et lykkeligt Liv er umuligt; det højeste, Mennesket kan naa, er et heroisk Liv, et, i hvilket der kæmpes med de største Vanskeligheder for noget, som paa en eller anden Maade kommer alle til Gode. Til det sande menneskelige løfte kun de sande Mennesker os, de, der synes blevne til ved et Spring i Naturen, Tænkere og Opdagere, Kunstnere og Frembringere, og de, som virke mere ved deres Væsen end ved deres Virken: de ædle, de i stor Stil gode, de, i hvem det godes Genius virker. Disse Mennesker ere Historiens Formaal. Nietzsche formulerer denne Sætning: „Menneskeheden skal uafbrudt arbejde paa at frembringe enkelte store Mennesker dette og intet andet er dens Opgave“286 Det er den samme Formel til hvilken adskillige af Samtidens aristokratiske Aander ere naaede. Saaledes siger Renan næsten enslydende: „I en Sum er Menneskehedens Formaal det at frembringe store Mennesker . . . . intet uden store Mennesker; Frelsen vil komme fra store Mennesker.“287 Og man ser af Flauberts Breve til George Sand, hvor overbevist Han har været om det samme. Han siger f. Eks: „Det eneste fornuftige er og bliver en Regering af Mandariner, forudsat, at Mandarinerne kan noget, eller rettere kan meget . . . . Der ligger ringe Vægt paa om flere eller færre Bønder kunne læse og ikke høre deres Præst, men det er uendeligt vigtigt, at mange Mennesker som Renan og Littr kunne leve og blive hørte. Vor Frelse ligger nu i et virkeligt Aristokrati“288. Saavel Renan som Flaubert vilde underskrive Nietzsches Grundforestilling, at et Folk vil sige den Omvej, Naturen gaar for at frembringe en halv Snes store Mænd. Dog skøndt denne Grundtanke ikke fattes Talsmænd, skal det ikke dermed være sagt, at den er herskende i europæisk Filosofi. I Tyskland tænker f. Eks. Eduard von Hartmann saare forskelligt om Historiens Formaal. Hans trykte Udtalelser om dette Spørgsmaal ere bekendte. I en Samtale antydede han en Dag, hvorledes hans Id havde dannet sig i hans Sind: „Tidligt“, sagde han, „var det mig klart, at Historien eller med et større Udtryk Verdensprocessen maatte have et Maal og at dette Maal kun kunde være negativt. En Guldalder er jo for dumt et Hjærnespind.“ Deraf hans Fantasier om en af de bedst begavede Mennesker frivilligt hidført Verdensundergang. Og i Sammenhæng dermed staar hans Lære om, at Menneskeheden nu synes indtraadt i Mandsalderen, altsaa ude over det Udviklingstrin, hvor Genier vare nødvendige. 286 Unzeitgemsse Betrachtungen. Drittes Stck. S. 60. 287 Renan: Dialogues et fragments philosophiques. S. 103. 288 Flaubert: Lettres George Sand, S. 139 ff.
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Overfor al denne Tale om Verdensprocessen, hvis Maal er Tilintetgørelse eller Forløsning, selve den lidende Guddoms Forløsning fra Eksistensen, staar Nietzsche meget ædru og rationel med sin simple Tro til at Menneskehedens Maal ikke er et i det uendelige udskudt men maa ligge i dens højeste Eksemplarer. Og hermed har han naaet sin endelige Besvarelse af Spørgsmaalet: Hvad er Kultur? Ti paa hint Forhold beror Kulturens Grundtanke og de Pligter, den paalægger. Den paalægger mig den Pligt selvvirksomt at stille mig i Forhold til de store Menneske-Idealer. Dens Grundtanke er denne: den tildeler hver enkelt, der vil arbeijde for den og delagtiggøres i den, den Opgave: i sig og udenfor sig at arbejde paa Frembringelse af Tænkeren og Kunstneren, af Sandhedselskeren og Skønhedselskeren, af den rene og gode Personlighed, og derved arbejde hen til Naturens Fuldendelse, hen imod Maalet: fuldendt Natur. Naar hersker Kulturtilstand? Naar Menneskene i et Samfund stadigt arbejde paa at frembringe enkelte store Menneske. Af dette højeste Formaal følge alle de andre. Og hvilken Tilstand er længst borte fra Kulturtilstand? Det er den, i hvilken Menneskene instinktivt og med forenede Kræfter vanskeliggøre store Menneskers Opstaaen, idet de dels forhindre Opdyrkningen af det Jordsmon, som udfordres for at det geniale kan skyde op, dels haardnakket bekæmpe alt genialt, der opstaar iblandt dem. En saadan Tilstand er længere fra Kultur end det rene Barbaris. Men findes der en saadan? Vil maaske n eller andeil spørge. De fleste mindre Folkeslag ville kunne læse sig Svaret til i deres Fædrelandshistorie. Man vil der, alt som „Dannelsen“ stiger, se det Dannelsesklima brede sig, i hvilket Geniet ikke trives. Og dette er saa meget betænkeligere som det synes, at i de moderne Tider, i de Racer, som nu have delt Magten paa Jorden imellem sig, er Statssamfund paa et Par Millioner eller nogle Par sjældent talrige nok til at frembringe Aander af allerførste Rang. Det ser ud, som destilleredes Genierne først ud af en Snes eller nogle Snese Millioner Mennesker. Des mere Aarsag var der for de mindre Samfund til at arbejde af yderste Ævne paa Kultur. Man er i den nyere Tid fortrolig med den Tanke, at Maalet, for hvilket det gælder om at arbejde, er Lykke, alles eller dog de flestes Lykke. Hvori Lykken bestaar, ses sjældnere overvejet og dog lader det Spørgsmaal sig ikke afvise, om ikke et Aar, en Dag, en Time i Paradiset er mere Lykke end et Liv i Kakkelovnskrogen. Men ligemeget. Saa fortrolig man er med Forestillingen om at bringe et helt Land, en Menneskemængde Ofre, saa urimeligt synes det, at et Menneske skulde være til for enkelte andre Menneskers Skyld, kunde have til Pligt at indvie dem sit Liv for derved at fremme Kulturen. Men paa Kulturspørgsmaalet, hvorledes det enkelte Menneskeliv faar højest Værd og størst Betydning, maa dog Svaret lyde: Derved at det leves til Fordel for de sjældneste og værdifuldeste Eksemplarer af Menneskeslægten. Saaledes vil den enkelte ogsaa udrette mest for at de flestes Liv bliver mere værdifuldt.
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I vore Dage betyder en saakaldt Kulturinstitution en Indretning, i Kraft af hvilken de dannede gaa frem i sluttet Række og kaste alle ensomme og genstridige, hvis Stræben er rettet paa højere Formaal, til Side; selv hos Videnskabsmændene mangler derfor i Reglen al Sans for den vordende Genius og enhver Følelse for det samtidige og stræbende Genis Værdi. Derfor har til Trods for det uomtvistelige og rastløse Fremskridt paa alle tekniske og fagvidenskabelige Omraader Betingelserne for Storhedens Opstaaen saa lidet forbedret sig, at Uviljen mod det geniale snarere har tiltaget end aftaget. Af Staten kunne de fremragende Individer ikke vente meget. Den gavner dem sjældent ved at tage dem i sin Tjæneste; den gavner dem kun sikkert ved at skænke dem fuld Uafhængighed. Alene virkelig Kultur vil modarbejde, at de for tidligt blive trætte eller udtømte, og vil skaane dem for den oprivende Kamp mod Dannelsesfilisteriet. Nietzsches Værdi beror paa, at han er en saadan Kulturbærer: en Aand, der selv uafhængig meddeler Uafhængighed og som vil kunne blive for andre den frigørende Magt, som Schopenhauer i hans Ungdom var for ham. II. Fire af Nietzsches Ungdomsskrifter føre Fælles-Titlen: Ikketidssvarende Betragtninger, en Titel, der er betegnende for hans tidligt fattede Forsæt at gaa mod Strømmen. Et af de Omraader, paa hvilke han har vendt sig mod Tidsaanden i Tyskland, er Opdragelsens, idet han paa ubændig Maade har fordømt den hele historiske Opdragelse, af hvilken Tyskland er stolt og som man i Reglen alle Vegne anser for ønskelig. Hans Grundanskuelse er den, at det, der hindrer Slægten i at aande frit og ville med Kækhed, er at den slæber en altfor lang Fortid efter sig som en Kugle om Benet. Han mener, det er den historiske Opdragelse, som hindrer Slægten baade i at nyde og i at handle, idet den, der ikke kan samle sig og leve helt i Øjeblikket, hverken selv kan føle Lykke eller udrette noget, der gør andre lykkelige. Uden Ævne til at føle uhistorisk, ingen Lykke. Og ligedan hører til al Handlen Glemsel, eller rettere Ikke-Viden af det forbigangne. Glemselen, det uhistoriske er som den indhyllende Luft, den Dunstkreds, i hvilken der alene kan opstaa Liv. Man tænke, for at forstaa det, paa en Yngling, der gribes af Lidenskab for en Kvinde, eller paa en Mand, der gribes af Lidenskab for en Opgave. For dem begge eksisterer hvad der liger bag dem ikke mere – og dog er denne Tilstand den mest uhistoriske, som kan tænkes, den, i hvilken enhver Handling, enhver Stordaad undfanges og fuldbringes. Nu gives der, mener Nietzsche, analogt en vis Grad af historiskViden, som er ødelæggende for et Menneskes Handlekraft, fordærvelig for et Folks frembringende Ævne.
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Man hører den lærde tyske Filolog, hvis Iagttagelser mest har gældt tyske lærde og Kunstnere, igennem dette Ræsonnement. Ti at den tyske Købmandsstand eller Bondestand, det tyske Militær eller Tysklands industridrivende skulde lide under et Overmaal af historisk Dannelse vilde det være urimeligt at antage. Imidlertid turde selv for tyske Forskeres, Digteres og Kunstneres Vedkommende det onde, hvortil her henpeges, være af den Art, at det ikke lader sig afhjælpe ved den blotte Afskaffelse af historisk Undervisning. De, hvis Frembringelsesdrift den historiske Viden hæmmer eller dræber, vare forud saa afmægtige og uvirksomme, at Verden ikke vilde være bleven beriget ved deres Produktion. Og hvad der lammer, er jo desuden ikke saa meget den uensartede Masse af død historisk Kundskab (om Regeringshandlinger, politiske Skaktræk, Krigsbedrifter, kunstneriske Stilarter o.s.v.), som Kendskaben til enkelte store Aander i Fortiden, i Sammenligning med hvis Gerning alt, hvad Individet kan yde, synes af saa forsvindende Betydning, at det bliver ligegyldigt, om dets Arbejde kommer til Verden eller ej. Goethe alene kan bringe en begyndende tysk Poet til at fortvivle. Men en Herodyrker som Nietzsche kan ikke konsekvent ønske Kendskaben til de største formindsket. Mangelen paa kunstnerisk Mod og aandelig Dristighed har sikkert dybere liggende Aarsager, fremfor alt: den Nedbryden af Individualiteten, som den moderne Samfundsorden fører med sig. Stærke Mennesker taale en stor Sum af Historie uden at blive uskikkede til Livet. Hvad som imidlertid er interessant og betegnende for Nietzsches hele aandelige Standpunkt, er hans Undersøgelser over, i hvilken Grad Livet overhovedet kan anvende Historien. Historien tilhører efter hans Opfattelse den, som kæmper en stor Kamp, og som behøver Forbilleder, Lærere, Trøstere, men ikke finder dem i sin Samtid. Uden Historien vilde det Højdedrag af store Menneskers store Øjeblikke, som gaar igennem Aartusender, ikke kunne staa levende og klart for mig. En, som ser, at kun omtrent en hundrede Mennesker hidførte Renæssancens Kultur, vil f. Eks. Kunne naa til den Overbevisning, at et hundrede produktive Mennesker, som vare opdragne i en ny Aand, vilde kunne faa Bugt med Dannelsesfilisteriet. Fordærvelig derimod kan Historien virke i ufrugtbare Menneskers Haand. Man jager f. Eks. De unge Kunstnere ind i Gallerierne i Steden for ud i Naturen, sender dem med endnu ubefæstet Sind til Kunstbyer, hvor de tabe Modet. Og i alle sine Former kan Historien gøre uduelig til Livet, som monumental ved at fremkalde den Skuffelse, at der gives bestemte, tilbagevendende historiske Konstellationer, saa det som n Gang var muligt nu under helt forandrede Vilkaar er muligt igen, som antikvarisk ved den vakte Pietet for det gamle og forbigangne, hvilken lammer den handlende, der altid maa krænke en eller anden Pietet, endelig som kritisk Historie ved den nedslaaende Følelse, den fremkalder, at vi have selve de Fortidsvildfarelser, over hvilke vi stræbe at løfte os, som Arv og Barndomsindtryk i vort Blod, saa vi leve i stadig indre Splid mellem gammel og ny Natur.
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Paa dette Punkt som paa tidligere berørte, vil Nietzsche i sidste Instans den bovlamme moderne Dannelse til Livs. At dannet og historisk dannet i vor Tid næsten ere blevne enstydige Begreber, er ham et sørgeligt Symptom. Det er sporløst glemt, at Dannelse burde være hvad den hos Grækerne var: Bevæggrund, Ævne til Beslutning; nu til Dags betegnes Dannelse gærne som Inderlighed, fordi den er en død indvendig Klump, som ikke bevæger sin Indehaver. De mest dannede er Konservationsleksikoner. Naar de handle, er det i Kraft af en almindelig godkendt, jammerlig Konveniens eller ud fra den platteste Raahed. Til denne vistnok almengyldige Betragtning knytter sig saa en Klage, der særligt maatte opstaa i det moderne Tyskland, Klagen over, hvor trykkende tidligere Tiders Storhed virker i den senere fødtes Overbevisning om at være Epigon, en Sildefødning, en Efterbyrd fra en større Tid, der vel kan lære Historie, men aldrig frembringe Historie. Selve Filosofien, klager Nietzsche med et Henblik paa de tyske Universiteter, er mere og mere gaaet over til at blive Filosofiens Historie, Meddelelse af hvad Alverden har ment om Alting, „en Art uskadelig Passiar mellem akademiske Gamlemænd og akademiske Pattebørn.“ Man hævder i de forskellige Lande som en Æressag, at der findes Tænkefrihed. I Virkeligheden er dette kun en tarvelig Frihed. Man tør tænke paa hundrede Maader, handle tør man derimod altid kun paa n Maade – og det er dette, som kaldes Dannelse og, som i Virkeligheden „kun er Form, tilmed daarlig Form og Uniform.“ Nietzsche angriber den Opfattelse, ifølge hvilken den historisk dannede staar for Bevidstheden som den retfærdigst dømmende af alle. Man ynder den Historiker, der tilstræber ren Indsigt, af hvilken intet følger. Men der gives mange ligegyldige Sandheder, og det er en Ulykke naar hele Batailloner af Forskere kaste sig over dem, selv om disse snævre Hoveder er ærlige Karakterer. Man betragter den Historiker som objektiv, der maaler Fortiden mod sin Samtids Yndlingsmeninger, den som subjektiv, der ikke anser disse Meninger for Mønstre. Man tror den mest kaldet til at fremstille et Moment af Fortiden, hvem dette slet ikke angaar. Men kun den, der bygger med paa Fremtiden, begriber hvad Fortiden var, og kun omdannet til Kunstværk kan Historien vedligeholde eller endog vække Instinkter. Som den historiske Opdragelse nu drives, meddeles en saadan Mængde af Indtryk, at Sløvhed bliver Følgen, en Følelse af at fødes gammel i en gammel Slægt – og det skøndt ikke 30 Menneskeliv, hvert beregnet til 70 Aar, skille os fra vor Tidsregnings Begyndelse. – Og hertil knytter sig den uhyre Overtro paa Verdenshistoriens Værd og Betydning. Evindeligt gentages den Schillerske Frase: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht, som om der kunde gives nogen anden historisk Domstol end Tanken, og haardnakket har den Hegelske Opfattelse af Historien som Guddommens stedse tydeligere Selvaabenbaring holdt sig, kun at den efterhaanden er bleven til den bare Beundring for det heldige
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Udfald, til Godkendelse af et hvert som helst Faktum, det være nok saa brutalt. Men Storhed liar intet at gøre med Resultatet og det heldige Udfald. Demosthenes, der talte forgæves, er større end Filip, der altid vandt. Alt betragtes i vore Dage, naar det blot er en fuldbyrdet Kendsgerning, som i sin Orden; selv naar et Geni dør i sin blomstrende Alder, finder man Beviser for at det døde i rette Tid. Og den Smule Historie, vi have, betitles Verdensprocessen; man bryder, som Eduard von Hartmann, sit Hoved med at udfinde dens Oprindelse og endelige Maal – hvad der turde være Tidsspilde. Hvorfor du er til, tænker Nietzsche som S. Kierkegaard, kan ingen i Verden sige dig forlods; men da du nu en Gang er til, saa søg at give din Tilværelse en Mening ved at sætte dig saa højt og ædelt et Maal som du kan. Betegnende for Nietzsches senere saa udpræget aristokratiske Tendens er hans Ivren mod den moderne Historieskrivnings Respekt for Masserne. Tidligere, ræsonnerer han, skrev man Historie ud fra Regenternes Synspunkt, dvælede udelukkende ved dem, hvor middelmaadige eller slette de end var. Nu er man gaaet over til at skrive den fra Massernes Synspunkt. Men Masserne – de er altid kun at betragte som et af tre, enten som Kopier af de store Personligheder, daarlige Kopier, udviskede Kopier i daarligt Materiale, eller som Modstand mod de store eller endelig som Redskab for de store. I øvrigt er de noget for Statistiken at tumle med, hvilken i Massedrifterne Efteraben, Dovenskab, Sult og Kønsdrift finder saakaldte historiske Love. Stort kalder man saa det, der en lang Tid har sat en saadan Masse i Bevægelse. Dette faar Navn af historisk Magt. Naar f. Eks. Den plumpe Masse har tilegnet sig eller tilpasset til sit Behov en eller anden Religionstanke, forsvaret den med Sejghed og slæbt den gennem Aarhundreder, saa kaldes Ophavsmanden til denne Tanke stor. Der er Aartusenders Vidnesbyrd derfor, hedder det. Men – det er Nietzsches som Kierkegaards Tanke – det ædleste, højeste virker slet ikke paa Masserne, og ikke mere bagefter end i Samtiden. Derfor taler en Religions historiske Held, dens Sejghed og Varighed, snarere mod dens Ophavsmands Storhed end for den. Naar man vil nævne et af de faa historiske Foretagender, der fuldt ud ere lykkedes, saa nævner man gærne Reformationen. Nietzsche gør mod Betydningen af dette Held ikke de sædvanligt anførte Kendsgerninger gældende: Luthers tidlige Verdsliggørelse af den, hans Kompromisser med Magthaverne, Fyrsternes Interesse af at frigøre sig fra Kirkens Overlegenhed og faa Tag i Kirkegodset paa samme Tid som de opnaaede en underdanig, afhængig Gejstlighed i Stedet for en fri, af Statsmagten uafhængig. Han ser Hovedaarsagen til at Reformationen lykkedes, i de nordeuropæiske Folkeslags Mangel paa Kultur. Flere Gange strandede Forsøget i Oldtiden paa at grunde nye græske Religioner. Skøndt Mænd som Pythagoras, Plato, maaske Empedokles havde Religionsstifter-Egenskaber, vare Individerne altfor forskelligartede til at de kunde hjælpes ved en Fællesanvisning paa Tro og Haab. At Luthers Reformation lykkedes i Norden var analogt et Tegn paa at Nordens Kultur stod tilbage for Sydeuropas.
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Enten lød man blindt som en Flok Faar et Løsen fra oven, eller, hvor Omslaget var Samvittighedssag, aabenbarede dette, hvor lidet individualiseret Befolkningen var, ensartet som den fandtes i sine aandelige Fornødenheder. Saaledes var ogsaa oprindeligt den hedenske Oldtids Omvendelse kun lykkedes paa Grund af den rigelige Indblanding af Barbarblod i det romerske, som da havde fundet Sted. Den nye Lære blev af Barbarer og Slaver paatvunget Verdensherskerne. Saaledes har da Læseren Prøver paa de Argumenter, Nietzsche anvender for sin Sætning, at Historien som Historie ikke afgiver det sunde og styrkende Opdragelseselement for Slægten, som man tror: kun den, der har lært Livet at kende og er rustet til Handling, har Brug for Historien og formaar at anvende den. De andre trykker den, ufrugtbargør den ved at bringe dem til at føle sig som Efterkommere og faar den til paa alle Omraader at dyrke det heldige Udfald. Nietzsches Indlæg i denne Sag er et Indlæg mod al historisk Optimisme, men han vender sig energisk bort fra den sædvanlige Pessimisme, som er den, der følger af udartede eller svækkede Instinkter, af Forfaldet, Decadencen. Han sværmer ungdommeligt for den sejerrige Gennemførelse af en tragisk Kultur, baaret af en opvoksende Slægt med Sindets Uforfærdethed, i hvem den græske Oldtid kunde genfødes. Han vrager den Schopenhauerske Pessimisme, ti han afskyr tidligt enhver Askese; men han søger en Sundhedens Pessimisme, en, som stammer fra Styrken, den overstrømmende Kraft, og han tror at finde den hos Grækerne. Han har udviklet denne sin Opfattelse i sit lærde og dybsindige Ungdomsskrift Tragediens Tilblivelse eller Grækeraand og Pessimisme i hvilket han indførte to nye Benævnelser apollonisk og dionysisk 289, Grækernes to Kunstguddomme Apollo og Dionysos antyde Modsætningen mellem Billedkunst og Musik. Den første svarer til Drømmen, den anden til Rusen. I Drømmen traadte Gudeskikkelserne først frem for Menneskene; Drømmen er det skønne Skins Verden. Se vi derimod ned i Menneskets dybeste Grund under Tankens og Fantasiens Sfære møde vi en Verden af Gru og Henrykkelse, Dionysos’s Rige. Foroven hersker Skønhed, Maal og Maade; men derunder bølger frit Naturens Overmaal i Lyst og Kval. Set fra Nietzsches senere Udviklingstrin af, røber sig det dybere Motiv til denne forskende og sporende Fordybelse i den græske Oldtid. Allerede paa dette Tidspunkt skimter han i Det, som gælder for Moral, et Forringelsesprincip overfor Naturen, søger en principiel Modsætning til det og finder den i det rent kunstneriske, kristendomsfjærneste Princip, som han døber dionysisk. Psykologisk træder allerede her Grundtrækkene hos denne Forfatter tydeligt frem. Hvad er det for en Natur som med dette vilde Had til Filisteriet forfølger det helt op til David Strauss? En Kunstnernatur øjensynligt. Hvad er det for en Skribent, der med saa megen Overbevisning advarer mod den historiske Dan289 Die Geburt der Tragoedie aus dem Geiste der Musik. 1872.
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nelses Farer? En Filolog øjensynligt, der har oplevet dem i sig selv, følt sig truet med at blive Epigon og i Begreb med at dyrke det historiske Udfald. Hvad er det for et Væsen, der saa lidenskabeligt definerer Kultur som Genidyrkelse? Visselig ikke noget Eckermann-Naturel, men en Sværmer, fra først af villig til at lyde, hvor han ikke kan befale, snart paa det rene med sit eget Herskerhang, men tidligt begribende, at Menneskeheden langtfra er kommet ud af denne gamle Modsætning: lyde og byde. Napoleons Optræden er ham som mange andre et Bevis derpaa: den Glæde, der greb Tusender ved at der endelig igen var kommen en, som forstod at befale. Men paa Moralens Omraade er han ikke anlagt til at prædike Lydighed. Tvært imod, anlagt som han er, ser han vor moderne Morals Slaphed og Lavhed deri, at den som højeste Moralbud endnu bestandig sætter Lydighed i Steden for Ævnen til at skrive sig selv sin Moral. Den militære Skole og Deltagelsen i Krigen har rimeligvis ladet ham opdage i sig selv noget haardt og mandigt og bibragt hain en vidtgaaende Afsky for al Blødagtigbed og Feminisme. Han vendte sig med Uvilje fra Medlidenhedsmoralen i Schopenhauers Filosofi og fra det romantisk-katolske i Wagners Musik, som han begge havde dyrket. Han indsaa, at han i sin Fantasi havde omdannet begge Mestere efter sit Behov, og han forstod ret vel det Selvbevarelses-Instinkt, der gjorde sig gældende heri. Den stræbende Aand former sig de Hjælpere, den har nødigt. Saaledes tilegnede han senere sin Bog menneskeligt, altformenneskeligt, der blev udgivet til Voltaires Hundredaarsfest, Samtidens „frie Aander“; han drømte sig de Forbundsfæller til, han i Livet endnu ikke havde truffet. Den haarde, smertefulde Sygdom, der begynder i hans 32te Aar og for lange Tider gør ham til Eneboer, løsner ham fra al Romantik og frigør hans Sind fra Pietetens Baand. Den fører ham langt bort fra Pessimismen i Kraft af hans stolte Tanke „En lidende har ikke Ret til Pessimisme“. Denne Sygdom gør ham i streng Forstand til Filosof. Hans Tanke sniger sig ad forbudne Veje i Spørgelyst: Dette gælder for en Værdi. Kan man ikke vende op og ned paa den? – Dette anses for et Gode? Er det ikke snarere et Onde? – Er Gud ikke gendrevet? Men kan man sige, at Djævlen er det? – Er vi ikke bedragne? Og bedragne Bedragere alle? …. Og saa stiger ud af den lange Sygelighed en lidenskabelig Attraa efter Sundhed, Rekonvalescentens Glæde over Livet, over Lyset, over Varmen, over Sindets Lethed og Frihed, over Tankens Overblik og vide Horizont, over „Syn af nye Morgenrøder“, over den formende Ævne, den digteriske Kraft. Og han indtræder i en længe uafbrudt Frembringens høje Selvfølelse og Henrykkelsestilstand.
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III. Det er hverken muligt eller nødvendigt her at gennemgaa den hele lange Række af hans Skrifter. Hvad det for den, som vil henlede Interessen paa en endnu ikke læst Forfatter, maa gælde om, er kun at stille hans ejendommeligste Tanker og Udtryk i Relief, saa Læseren med ringe Møje kan danne sig en Forestilling om hans Væremaade som Tænker og Aand. Arbejdet er her for saa vidt vanskeliggjort som Nietzsche tænker i Aforismer, for saa vidt mindre brydsomt, som han gærne giver enhver Tanke det Højtryk, der meddeler den et paradoksalt Fysiognomi. Den engelske Velfærdsmoral har ikke slaaet an i Tyskland; af de nulevende mere fremragende Tænkere er vistnok Eugen Dhring dens eneste Repræsentant. Eduard v. Hartmann har, som andensteds udviklet, (se min Bog om Berlin S. 201) forsøgt at godtgøre Umuligheden af paa n Gang at arbejde for Kulturfremskridtet og for Lykken. Nietzsche finder nye Vanskeligheder ved en Undersøgelse af Lykkens Begreb. Velfærdsmoralens Maal er at skaffe Menneskene saa megen Lyst og saa liden Ulyst som muligt. Men hvad nu, ifald Lyst og Smerte er saaledes sammenknyttede, at den, der vil have saa megen Lyst som muligt, maa tage en tilsvarende Sum af Kvaler med i Købet? Det hedder i Clrchens Sang: Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrbt. Hvem vd om det sidste ikke er Betingelse for det første? Stoikerne troede det, og fordrede, da de vilde undgaa Kval, saa ringe Lyst som muligt af Livet. Rimeligvis maa man heller ikke i vore Dage love Menneskene stærke Glæder, ifald man vil sikre dem mod store Lidelser. Man ser, at Nietzsche spiller Spørgsmaalet over paa det højeste aandelige Omraade uden Hensyn til at den laveste og mest udbredte Ulykke som Sult, legemlig Forkommenhed, overanstrengende og nedbrydende Arbejde intet Vederlag yder i heftige Glæder. Selv om al Nydelse købes dyrt, er det dermed ikke givet, at al Kval afbrydes og opvejes af heftig Nyden. I Overensstemmelse med sin aristokratiske Aandsretning angriber han dernæst den Benthamske Sætning: saa stor Lykke som muligt for det størst mulige Antal! Idealet var jo egentlig at skabe alle Menneskers Lykke. Da dette er ugørligt, formuleres Principet som anført. Men hvorfor Lykke for det største Antal? Man kunde tænke sig: for de bedste, de ædleste, de mest geniale og man maa have Lov til at spørge, om jævn Velstand og jævnt Velvære er at foretrække for den Ulighed i Kaar, hvis Braad tvinger Kulturen til stadigt at stige. Saa læres der Uselviskhed. At være moralsk er at være uegoistisk. Det er godt at være uselvisk, siges der. Men hvad vil det sige: godt? Godt for hvem? Ikke for den opofrende selv, men for Næsten. Den, der priser Uselviskhedens Dyd, priser noget, som er et Gode for Samfundet, men skadeligt for den enkelte. Og Næsten, som vil elskes uegennyttigt, er ikke selv uegennyttig. Det er Grund-
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modsigelsen i denne Moral, at den fordrer og anbefaler en Forsagen af Jeget, som finder Sted til Bedste for et andet Jeg. Det væsenlige og uvurderlige ved al Moral er for Nietzsche fra først af blot dette, at den er en langvarig Tvang. Som Sproget vinder Styrke og Frihet ved den metriske Tvang, som alt hvad der findes af Frihed og Finhed i bildende Kunst, Musik, Dans o.s.v. Er blevet til i Kraft af vilkaarlige Love, saaledes naar ogsaa Menneskenaturen kun under Tvang sin Udvikling. Der gøres ikke derved Vold paa Naturen: det er selve Naturen. Det væsenlige er, at der lydes, længe, og i en Retning. Du skal adlyde, en eller anden, et eller andet, og længe – ellers gaar du til Grunde, dette synes at være Naturens moralske Bud, der ganske vist ikke er kategorisk (som Kant mente), ikke heller vender sig til de enkelte (Naturen bryder sig ikke om de enkelte), men som synes henvendt til Folkeslag, Stænder, Tidsaldre, Racer, ja til Menneskelheden. Al den Moral derimod, som henvender sig til den enkelte Person til dens eget Bedste, for dens Velfærds Skyld, bliver for denne Grundsynsmaade ikke andet end Husraad og Klogskabsregler, Recepter mod Lidenskaber, der kunde ville slaa sig løs, og al denne Moral er i sin Form urimelig, fordi den henvender sig til alle og almindeligør hvad der ikke lader sig almindeliggøre. Kant gav med sit ubetingede Imperativ en Rettesnor. Men denne Rettesnor er bristet i vore Hænder. Det nytter ikke at sige til os: Handl som andre i dette Tilfælde burde handle. Ti vi vide, at der ikke gives eller kan gives ns Handlinger, men at enhver Handling er enestaaende i sin Art, saa at alle Forskrifter kun gaa paa Handlingens grove Ydersider. Men Samvittighedens Stemme og Dom? Vanskeligheden er, at vi have en Samvittighed bag vor Samvittighed, en intellektuel bag den moralske. Vi indse, at N. N.s Samvittigheds Dorn har en Forhistorie i hans Drifter, Sympatier, Antipatier, Erfaringer eller Mangel paa Erfaring. Vi indse ret vel, at vore Meninger om det ædle og gode, vore moralske Værdsættelser ere kraftige Løftestænger, naar det gælder Handling, men vi maa begynde med at lutre disse Meninger og selvstændigt skabe os nye Værdi-Tavler. Og hvad Morallærernes Præken Moral for alle angaar, saa er den ganske lige saa tom som de selskabelige Individers moralske Sladder om hverandre indbyrdes. Nietzsche giver Morallærerne det gode Raad, at de hellere end at opdrage paa Slægten skulde gøre som Pædagogerne i det syttende og attende Aarhundrede, der samlede deres Kraft paa at opdrage et enkelt Menneske. Men i Reglen er Moralskraalhalsene selv ganske uopdragne Mennesker, og deres Børn hæve sig sjældent over den moralske Middelmaadighed. Den, der føler, at han i sit inderste Væsen er usammenlignelig med andre, han vil være sin egen Lovgiver. Ti t er fornødent: at give sin Karakter Stil. Denne Kunst øves af den, der med Blik for sin Naturs stærke og svage Sider, fjærner et og andet af sin oprindelige Natur, dernæst ved daglig Øvelse og tilkæmpet Vane tilføjer adskilligt, saa det bliver ham til anden Natur, altsaa
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underkaster sig en Tvang for efterhaanden helt at bøje sit Væsen under sin egen Lov. Kun saaledes opnaar et Menneske Tilfredshed med sig selv, og kun saaledes bliver det udholdeligt for andre. De utilfredse og mislykkede hævne sig nemlig i Reglen altid paa andre. Selv suge de Gift af alt, af deres svage Ævner som af deres smaa Kaar og leve i en stadig Trang til Hævn paa dem, i hvis Væsen de ane Harmoni. Altid føre slige Mennesker Moralordene i Munden, den hele Janitscharmusik: Sædelighed, Alvor, Kyskhed, Livskrav; altid raser i deres Hjærte Misundelsen over dem, der ere naaede til Ligevægt og som derfor kunne nyde. Aartusender igennem var Sædelighed: Lydighed mod det som var Sæd, Ærefrygt for nedarvede Sædvaner. Det frie, originale Menneske var usædeligt fordi det brød med Overleveringen, for hvilken de andre nærede en overtroisk Frygt. Hyppigst ansaa det sig selv derfor, blev selv grebet af den Gysen, det vakte. Ubevidst udarbejdedes da en saadan Sædvane-Sædelighedens Folkemoral af alle dem, der hørte til Stammen, idet man stadigt fandt nye Eksempler og Beviser paa at det paastaaede Forhold mellem Skyld og Straf fandt Sted: Bærer man sig saadan og saadan ad, gaar det en galt. – Da det nu hyppigt gaar en galt, blev Paastanden stadigt bekræftet, og saaledes styrkedes Folkemoralen, en Skinvidenskab af Folkemedicinens Rang. Sæd og Skik repræsenterede tidligere Slægters Erfaringer angaaende det formentligt nyttige og skadelige; men Følelsen for det sædelige har intet Forhold til disse Erfaringer som saadanne, men til deres Alder, Ærværdighed og dermed følgende Ubestridelighed. Under den Krigstilstand, hvori en fra alle Sider truet Stamme i Oldtiden levede, var under den strængeste Sædvanesædeligheds Herredømme ingen Nydelse større end Grusomhed. Grusomhed hører til Menneskehedens ældste Festglæder og Sejersglæder. Man tænkte sig ogsaa Guderne kvægede og festligt stemte, naar man bød dem Synet af Grusomheder – og saaledes indsneg den Forestilling sig i Verden at ogsaa frivilligt Selvplageri, Spægelse, Askese er af stor Værdi, ikke som Optugtelse men som sød Lugt i Herrens Næse. Kristendommen har som Oldtidsreligion uafbrudt anvendt og prædiket Sjælekval. Man tænke sig den middelalderlige Kristens Tilstand, naar han formodede, at han ikke mere kunde slippe for den evige Kval. – Eros og Afrodite vare i hans Forestilling Helvedes Magter, og Døden blev Rædsel. Paa Grusomhedsmoralen er Medlidenhedsmoralen fulgt. Medlidenheden prises som uegoistisk, saaledes f. Eks. Og især af Schopenhauer. Allerede Eduard von Hartmann liar i sit tankerige Vaerk Phnomenologie des sittlichen Bewusstseins (217–240) paavist Umuligheden af i Medfølelsen at se den vigtigste moralske Drivfjeder endsige den eneste, som Schopenhauer vil. Nietzsche angriber Medlidenhedsmoralen fra andre Synspunkter. Han viser, at den ingenlunde er uegoistisk. Den andens Ulykke generer os, krænker os, stempler os maaske som feig, hvis vi ikke bringe Hjaelp. Eller der ligger i den et Fingerpeg om mulig Fare for os selv; vi føle desuden Lyst, naar vi sammenligne
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vor egen Tilstand med den ulykkeliges, Lyst naar vi kunne træde til som de mægtigere, de hjælpende. Den Hjælp, vi bringe, fornemmes af os selv som Lykke eller udriver os maaske blot af Kedsomhed. Medlidenheden som virkelig Medliden vilde være en Svaghed, ja en Ulykke, ti den vilde forøge Lidelsen i Verden. Den, der for Alvor vilde hengive sig til Medlidenhed med al den Elendighed, han finder om sig, vilde simpelthen gaa til Grunde derved. Blandt de vilde tænker man med Gysen paa at vække Medlidenhed. Den, som gør det, anses for foragtelig. At nære Medlidenhed med en, er i de vildes Tankegang at foragte ham. Men man finder ingen Fornøjelse i at se et foragteligt Væsen lide. Derimod at se en Fjende lide, der under Kvalen ikke opgiver sin Stolthed: det er en Nydelse; det vækker Beundring. Man prædiker gærne Medlidenhedsmoralen under Formlen: Elsk din Næste! Nietzsche klamrer sig i sit Angrebs Interesse til Ordet: Næste. Han hævder ikke blot hvad Kierkegaard kaldte „en teleologisk Suspension af det etiske“. Men han opirres ved, at det moralskes sande Væsen skulde ligge i at vi rettede Blikket paa de nærmeste Følger af vore Handlinger og rettede os derefter. Imod det snævre og smaaborgerlige i denne Moral hævder han den, som ser bort over disse nærmeste Følger og som selv gennem Midler, der volde Næsten Kval, tilstræber fjærnere Formaal, f. Eks. Fremmer Indsigt, skøndt denne vækker Sorg og Tvivl og onde Lidenskaber hos Næsten. Vi behøve ikke derfor at være uden Medlidenhed, men vi kunne tage vor Medlidenhed fangen for Maalets Skyld. Og saa urimeligt som det nu er at betegne Medlidenheden som uegoistisk og ville helligvie den, saa urimeligt er det at give en Række Handlinger den onde Samvittighed i Vold, blot fordi de ere blevne skamskændede som egoistiske. Det, som i den senere Tid er sket paa dette Omraade, det er at man har forherliget Selvfornægtelses-, Selvopofrings-Instinktet, alt det uegoistiske som var dette selve den moralske Værdi. De engelske Moralister, der for Tiden beherske Europa, forklare Moralens Oprindelse paa følgende Maade: Uegoistiske Handlinger ere oprindeligt blevne kaldte gode af dem, mod hvem de bleve udviste og for hvem de var til Gavn; senere har man glemt denne oprindelige Aarsag til at de rostes, og har betragtet de uegoistiske Handlinger som om de i og for sig var noget godt. Det var efter Nietzsches eget Udsagn et Skrift af en, den engelske Retning tilhørende, tysk Forfatter: Dr. Paul Re’s Der Ursprung der moralischen Empfindungen (Chemnitz 1877), som æggede ham til saa lidenskabelig og punktuel Modsigelse, at han igennem dette Skrift fik Stødet til selv at klare og udvikle sine Tanker derom. Hvad der imidlertid maa undre, er følgende: Misfornøjet med hint første Skrift udarbejdede Re en anden og langt betydeligere Bog om samme Ærane: Die Entstehung des Gewissens (1885), i hvilken det Nietzsche forargende
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Standpunkt er forladt og adskillige af de Grundtanker, som denne gør gældende mod Re, fremføres med en Mængde Bevissteder fra forskellige Forfattere og Folkeslag. De to Filosofer have kendt hinanden og omgaaedes personligt. Jeg selv er personligt bekendt med dem begge, men i Øjeblikket ubekendt med den enes Opholdssted og ude af Stand til at korrespondere med den anden. Det er mig derfor ikke muligt at se, hvem af de to, der har paavirket den anden og hvorfor Nietzsche i 1887 berører sin Uvilje mod Re’s i 1877 udtalte Anskuelser uden at nævne, hvor nær denne staar hans egen Opfattelse i det et Par Aar før hans eget udgivne Værk. Allerede Re havde anført en Mængde Eksempler paa at de forskelligste Oldtidsfolk ikke kendte anden moralsk Klassifikationer af Menneskene end den i fornemme og ringe, mægtige og svage, saa deri ældste Betydning af god baade i Grækenland og Paa Island var fornem, mægtig, rig. Nietzsche bygger hele sin Lære paa dette Grundlag. Hans Tankegang er denne: Domsordet god hidrører ikke fra dem, mod hvem der blev udvist Godhed. Den ældste Bestemmelse bar været denne: De fornemme, mægtigere højerestillede, højsindende have holdt sig selv og deres Gøren og Laden for gode – første Bang – i Modsætning til alt lavt og lavsindet. Fornem, ædel i Betydning af en højere Kastes Standsfølelse er Grundbegrebet, hvoraf god udvikler sig som sjælelig højbaaren. De lavtstillede betegnes som slette (ikke onde). Slet faar først sent sin ubetinget nedsættende Betydning. Det er fra Menigmands Side et rosende Ord: slet og ret, slet som jævn, smlgn det fremmede Ord gemen i dansk Almuessprog. Den herskende Kaste kalder sig undertiden blot de mægtige, undertiden de sanddru; saaledes den græske Adel, hvis Organ Theognis er. Hos ham har smuk, god, ædel altid Betydningen adelig. Den fornemme Moral-Værdsættelse udgaar fra en triumferende Bekræften, Bejaen, som vi finde den hos de homeriske Helte: Vi fornemme, smukke, tapre – vi er de gode, de af Guderne elskede. Det er stærke, med Kraft ladede Mennesker, hvis Lyst det er at handle og dyste, for hvem Lykken med andre Ord er noget aktivt. Det kan selvfølgelig ikke undgaas, at disse fornemme miskende og ringeagte den menige Skare, de beherske. Dog spores i Reglen hos dem en Beklagen af den underkuede Kaste, af Arbejdsslaven, Lastdyret, en Overbærenhed med dem, for hvem Lykken er Udhvilen, Sabbat, noget passivt. Hos de lavtstillede lever nødvendigvis omvendt et af Had og Nag forvansket Billede af Herskerkasten. Der er i denne Forvanskning en Hævn.290 290 Nietzsche støtter sin Hypotese ved nogle Etymologier. Latinsk malus, ved Siden af hvilket han stiller l]kar, sort, gaar paa de førariske Beboere af Italiens Jord i Modsætning til den blonde ariske Erobrer-Race. I det gæliske betyder fin, Adelsnavnet, (Fingal) oprindeligt
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I Modsætning til den aristokratiske Værdsættelse (god = fornem, smuk, lykkelig, gudbenaadet) bliver saa Slavemoralen denne: De elendige alene er de gode; de, som lide og besværes, de syge og stygge, det er de eneste fromme. Derimod I, I fornemme og rige, I er i al Evighed de onde, de grusomme, de umættelige, de ugudelige, og efter Døden de fordømte. Medens den fornemme Moral var den store Selvfølelses Udslag, en stadig Bejaen, er Slavemoralen et stadigt Nej til et andet, et du maa ikke, en Negation. Til den fornemme Værdsættelse god – slet (slet = værdiløs), svarer Slavemoralens Modsætning god – ond. Og hvem er de onde for denne de undertryktes Moral? Netop de samme, som for den anden Moral var de gode. Man læse de islandske Sagaer og fordybe sig i de gamle Nordboers Moral, stille saa imod den Klagerne over Vikingernes Ugerninger. Og man vil se, at disse Aristokrater, hvis Sædelighed i mange Maader stod højt, overfor deres Fjender ikke var bedre end løsslupne Rovdyr. De sloge ned paa Beboerne af de kristne Landes Kyster som Ørne paa Lam. Man kan sige de fulgte et Ørne-Ideal. Men man vil da heller ikke undres over, at de, som vare udsatte for disse frygtelige Overgreb, flokkedes om et ganske modsat moralsk Ideal, nemlig Lammet. I tredje Kapitel af sin Nytte-Moral forsøger Stuart Mill at vise, hvorledes Retfærdighedsfølelsen har udviklet sig af den dyriske Attraa efter at gengælde en Skade eller et Tab. I en Afhandling om „den transscendente Tilfredsstillelse af Hævnfølelsen“ (Tillæg til første Udgave af Werth des Lebens) har Eugen Dhring efter ham søgt at bygge den hele Strafferetslære paa Gengældelsesdriften. I sin Phnomenologie har Ed. v. Hartmann paavist, hvorledes denne Drift strængt taget altid kun medfører en ny Lidelse, en ny Krænkelse for at vinde en udvortes Oprejsning for den gamle, saa Gengældelsesprincipet aldrig kan blive noget sædeligt Princip. Nietzsche gør et voldsomt, lidenskabeligt Forsøg paa at tilbageføre Hovedsummen af falsk moderne Moral ikke til Gengældelsesdriften eller Hævnfølelsen i Almindelighed, men til den snævrere Form deraf som Nag, Misundelse, Rancune udgør. For ham er hvad han har kaldt Slavemoral den rene Nagmoral. Og denne Nagmoral har stemplet alle Idealer om: Afmagten, som ikke gengælder, blev Godhed; den ængstelige Lavhed blev Ydmyghed; Underkastelse under den, man frygter, blev Lydighed; det ikke at kunne hævne sig blev; ikke at ville hævne sig, blev Tilgivelse, blev Kærliglied til Fjender. Ynkværdigheden blev en Udmærkelse, en Distinktion; Gud tugter den, han elsker. Eller den blev en Forberedelse, en Prøvelse, en Skole, endda mere: Noget, Blondhoved, senere den gode, ædle, rene i Modsætning til sorthaarede Urindvaanere. Han opfatter bonus som Kriger, af et ældre duonus (bellum = duellum = duenlum). Altsaa bonus Krigens, Tvistens Mand. Virtus er jo først Tapperhed, senere Dyd. – Hans Etymologi god, guddommelig af Gotisk er urigtig. Got er Hingst, Mand (mig meddelt af Dr. E. Jessen).
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der engang skal opvejes med Renter, tilbagebetales som Salighed. Og man hørte de Kælderdyr, som svulmede af Had og Nag, sige: vi gode, vi ere de retfaerdige. De hadede ikke deres Fjender – de hadede Uretten, Ugudligheden. Hvad de haabede paa, var ikke Hævnens Sødme, men Retfærdighedens Sejer. Hvad de havde tilbage at elske paa Jorden, var deres Brødre og Søstre i Had, som de kaldte deres Brødre Og Søstre i Kærlighed. Den af dem forventede tilkommende Tilstand, kaldte de en Kommen ar deres Rige, af Guds Rige. Indtil det kommer, henleve de i Tro, i Haab, i Kærlighed. Hvis Nietzsche har haft til Hensigt med denne Skildring at ramme den historiske Kristendom, har han –, som enhver ser – leveret en Karikatur i det attende Aarhundredes Aand og Stil. Men at hans Beskrivlse rammer en vis Type af Nagmoralens Apostle, lader sig ikke nægte, og sjældent er alt det Selvbedrag der kan lure under en Moralforkyndelse, afsløret med større Energi. (Man sammenligne: „Jenseits von Gut und Bçse Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft“ og „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“.) IV. En Definition af Mennesket vilde for Nietzsche yære denne: Mennesket er et Dyr, som kan give og holde Løfter. Han ser Menneskets egentlige Adel deri, at det kan love noget, indestaa for sig selv, overtage et Ansvar – idet Mennesket med det Herredømme over sig selv, som dette Forhold forudsætter, nødvendigvis ogsaa indvinder Herredømmet over de ydre Omstændigheder og over de øvrige Skabninger, hvis Vilje ikke er saa langvarig. Bevidstheden om dette sit Ansvar kalder det suveræne Menneske sin Samvittighed. Hvad er nu dette Ansvars, denne Samvittigheds Forhistorie? Den er lang og blodig. – Ved forfærdelige Midler er i Historiens Løb en Hukommelse for det engang stiltiende eller højlydt lovede og villede bleven optugtet. Aartusender igennem blev Mennesket snørt i Sædvanesædelighedens Spændetrøje og ved Straffe som Stening eller Radbrækning eller Opbrænding, ved at Synderen blev levende begravet sønderslidt af fire Heste, kastet i Vandet med en Sten om Halsen eller puttet i en Sæk, pisket, flaaet, brændemærket – ved alle disse Midler, indbrændte man det glemsomme Dyr, Mennesket, en lang Hukommelse for hvad det havde lovet mod at det til Gengæld fik Lov til at nyde Goderne ved at tilhøre et Samfund. Efter Nietzsches Hypotese opstaar Skyldbevidstheden simpelthen som Bevidsthed om en Gæld. Kontraktsforholdet mellem Gældsherre og Skyldner, der er saa gammelt som de ældste Grundformer af menneskeligt Samkvem i Køb, Salg, Byttehandel osv. – det er det Forhold, som her ligger til Grund. Skyldneren lover (for at indgyde Tillid til sit Løfte om Tilbagebetaling) noget, som han
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besidder: sin Frihed, sin Kvinde, sit Liv, eller han giver Gældsherren Ret til, alt efter Gældens Størrelse, at skære et større eller mindre Stykke Kød ud af hans Krop (De tolv Tavlers Love; endnu i „Købmanden fra Venedig“). Logiken her, som er bleven os temmelig fremmed, er denne: som Erstatning for Tabet tilstaas der Gældsherren en Art Vellystfølelse, den som opstaar ved at lade sin Magt gaa ud over den magtesløse. Læseren kan hos Re (anf. Skrift S. 13 ff.) finde Beviserne for Nietzsches Sætning, at Aartusender igennem har dette været Menneskehedens Opfattelse: Det at se en anden lide gør godt. Men det at tilføje en anden Lidelse, det er en Fest, under hvilken den lykkelige svulmer af Magtglæde; man kan der ligeledes finde Beviserne for at Drifterne til Medlidenhed, Billighed, Mildhed, der senere forherliges som Dyder, oprindeligt næsten alle Vegne ansaas for moralsk værdiløse, ja for Svaghedssymptomer. I Køb og Salg samt alt, hvad der sjæleligt hører til dem, og som er ældre end nogen som helst Samfundsorden, spirer efter Nietzsches Fremstilling Erstatning, Udjævning, Ret, Pligt. Mennesket har tidligt været stolt af at være et værdsættende Væsen. En af de tidligste Almentanker har været den: Enhver Ting har sin Pris. Og den Tanke: Alt kan afbetales – har været den ældste og naiveste Rettesnor for Retfærdighed. Nu staar hele Samfundet, efterhaanden som det udvikler sig i samme Forhold til sine Medlemmer, som Gældsherren til Skyldneren. Samfundet beskytter sine Medlemmer; de er sikrede mod den fredløse Tilstand – imod at de ikke bryde Forpligtelsen mod det. Den, som bryder sit Tilsagn, Forbryderen, gives tilbage til den Fredløshed, som Udelukkelse af Samfundet fører med sig. Da Nietzsche med sin udelukkende psykologiske Interesse lader alt lærd Apparat ligge, kunne hans Paastande ikke direkte kontrolleres. Man vil hos Re i hans Paragrafer om Hævnlyst og Retfærdighedsfølelse samt i Afsnittet om Hævnens Afkøbning : Udjævning ved Bøder, finde de historiske Data samlede. Andre Tænkere end Nietzsche (saaledes E. v. Hartmann og Re) have bestridt den Opfattelse, at Retfærdighedens Id skulde oprinde af en Hævngærrighedstilstand, og Nietzsche har næppe bragt noget nyt, overbevisende Argument for Dagen, men det for ham som Skribent ejendommelige er det Overmaal af personlig Lidenskab, hvormed han protesterer mod denne Tanke, øjensynligt af den Grund, at den ligger den moderne demokratiske Tankegang nær. I mangt et moderne Krav paa Retfærdighed klinger en Tone, af plebejisk Nag og Misundelse med. Uvilkaarligt har mangen moderne Videnskabsmand af borgerlig eller smaaborgerlig Afstamning set noget større og værdifuldere end rimeligt var i de Tilbage slagets Sindsbevægelser, som findes bos længe undertrykte: Had og Avind, Nag og Hævntørst. Nietzsche sysselsætter sig ikke et Øjeblik med den Tilstand, i hvilken Hævnen fungerer som eneste Strafferet; ti Blodhævnen er jo ikke et Udslag af e
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Trællehadet mod Herren, men af Æresforestillinger mellem jævnbyrdige. Han dvæler udelukkende ved Modsætningen mellem en herskende og en trællende Kaste og nærer en stadigt paany frembrydende Forbitrelse mod Teorier, der have gjort dem blandt de nulevende, der sympatisere med Fremskridtet, overbærende mod de plebejiske Instinkter og til Gengæld mistænksomme eller fjendtligt sindede mod Herskeraanderne. Hans rent personlige Ejendommelighed, det ufilosofiske og temperamentsbestemte hos ham, røber sig imidlertid i det Træk, at medens han kun har Haan og Foragt for den undertrykte Klasse eller Race, for dens Rancune og den af det indeklemte Nag udspringende Slavemoral, svælger han formelig i den herskende Kastes Magtglæde, i den Atmosfære af Sundhed, Frihed, Aabenhed, Sanddruhed, hvori den lever. Dens Overgreb forsvarer eller undskylder han. Det Billed, den danner sig af Slavekasten, er for ham langtfra saa falsk, som det, denne former sig af Herrernes Kaste. End ikke om virkelig Uretfærdighed, begaaet af denne Kaste, kan der for Alvor være Tale. Ti i og for sig gives der ikke Ret og Uret. I og for sig er en Tilføjelse at Skade, en Overvælden, Udnytten, Tilintetgøren ikke Uret, kan ikke være det, da Livet i sit Væsen, i sine Grundfunktioner kun er Overvælden, Udnytten, Tilintetgøren. Retstilstande kunne aldrig være andet end Undtagelsestilstande, nemlig som Indskrænkning af den egentlige Livsattraa, hvis Maal er Magt. Nietzsche erstatter den Schopenhauerske Vilje til Livet ( : Attraa efter Liv) og den Darwinske Kamp for Tilværelsen med Udtrykket Vilje til Magten (Magtbrynde). Ikke for Livet, det blotte Liv, kæmpes der efter hans Opfattelse, men om Magten. Og han har mange – lidet rammende – Ord om hvilke smaalige og fattige Forhold de Englændere maa have haft for Øje, der opstillede Begrebet struggle for life med dets Nøjsomhed. Det staar for ham som havde de haft en Verden i Tanke, i hvilken enhver er glad, blot han kan bjærge Livet. Men Livet er kun Minimumsudtrykket. I sig selv vil Livet ikke Selvbevarelse alene, men Selvforøgelse, og saaledes er det netop „Vilje til Magt“. Det er i øvrigt klart, at der ikke er nogen principiel Forskel mellem det nye Kunstord og det gamle; ti Kampen for Tilværelsen fører jo nødvendigt til Magternes Kamp og Kampen om Magten. Nu er en Retsorden set fra dette Synspunkt et Middel i Magternes Kamp. Tænkt som suveræn, som Middel mod al Kamp overhovedet vilde den være et livsfjendtligt Princip, nedbrydende for Menneskets Fremtid og Fremskridt. Noget lignende mente allerede Lassalle, da han udtalte, at Retsstandpunktet er et slet Standpunkt i Folkenes Liv. Det for Nietzsche betegnende er Glæden over Kampen som saadan i Modsætning til den moderne Humanismes Synsmaade. For Nietzsche lader et Fremskridts Størrelse sig maale ved hvad der maa ofres for det. Den Hygieine, der holder Livet oppe i Millioner af svage og unyttige Væsener, der hellere burde dø, er for ham intet virkeligt Fremskridt. En jævn Middelmaadighedslykke sikret det størst mulige Flertal af de elendige e
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Kreaturer, vi nu til Dags kalde Mennesker, vilde for ham intet virkeligt Fremskridt være. Men for ham som for Renan vilde Opfostringen af en stærkere, højere Menneskeart end den, som omgiver os („Overmennesket“), selv om den kun kunde opnaas ved at Masser af Mennesker, som vi kende dem, ofredes til Bedste derfor, være et stort, et virkeligt Fremskridt. Nietzsches for fuldt Alvor udtalte Fremtidsfantasier om Overmenneskets Optugtelse og dets Overtagen af Magten paa Jorden have saa stor Lighed med Renans halvt skæmtefuldt og halvt skeptisk udkastede Drømmerier om en ny Asgaard, en virkelig Fabrik af Aser (Dialogues phil. 117) at man vanskelig kan tvivle om en Paavirkning. Kun at hvad Renan skrev under det overvældende Indtryk af Kommunen i Paris, tilmed i Dialogform, ladende Pro og Contra komme til Orde, det har hos Nietzsche krystalliseret sig til dogmatisk Overbevisning. Det undrer og støder n derfor, at Nietzsche aldrig har andre Udtalelser end antipatiske om Renan. Han berører næppe det aandsaristokratiske hos ham, men han afskyr den Ærefrygt for de ydmyges Evangelium, som Renan alle Vegne lægger for Dagen og som ganske sikkert staar i en vis Strid med Haabet om Oprettelsen af en Udrugtningsanstalt for Overmennesker. Renan og Taine efter ham have vendt sig mod de næsten religiøse Følelser, som i det nye Europa længe næredes overfor den første franske Revolution. Renan har tidligt af nationale Grunde beklaget Revolutionen, Taine, som oprindelig sympatiserede med den, slog efter et nøjere Studium om. Nietzsche gaar i deres Spor. Det er naturligt, at moderne Skribenter, der føle sig som Revolutionens Børn, nære Sympati med det store oprørs Mænd, og sikkert ere disse ikke komne til deres Ret under den nuværende antirevolutionære Stemning i Europa. Men Skribenterne have bl. A. I deres Sky for hvad der i den politiske Jargon benævnes Cæsarisme og i deres Overtro paa Massebevægelser, overset, at de største Oprørere og Frigørere, det er ikke de forenede smaa, men de faa store; ikke de smaa Misundere, men de store Undere, de som unde de andre Ret og Velvære og aandelig Vækst. Der gives to Klasser af revolutionære Aander, de, der instinktivt føle sig dragne til Brutus og de, der lige saa instinktivt føle sig dragne til Cæsar. Cæsar er den store Type; Frederik den anden og Napoleon besad kun hver sin Gruppe af hans Egenskaber. Den moderne Frihedspoesi fra Fyrrerne vrimler af Lovsange til Brutus. Men ingen Digter har besunget Cæsar. Selv en saa antidemokratisk Digter som Shakespeare har været rent uden Blik for hans Storhed, givet hans Skikkelse i en bleg Karikatur og har efter Plutarch’s Opskrift forherliget Brutus paa hans Bekostning. End ikke Shakespeare har forstaaet, at Cæsar satte en ganske anden Indsats ind paa Livets Bord end hans sølle Morder. Cæsar stammede ned fra Venus; hans Form var Ynde. I hans Aand var den store Simpelhed, der er de størstes Særkende; hans Væsen var Adel. Han, efter hvem al højeste Magt endnu den Dag i Dag bærer Navn, kunde alt, vidste og kendte alt, hvad en Hærfører og Hersker af højeste Rang maa kunne og kende. Kun
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nogle Mænd under den italienske Renaissance have hævet sig til en saadan Højde af Geni. For alle Fremskridt, der lode sig udføre i hine Dage, var hans Liv en Borgen. Brutus’s Væsen var Doktrin, hans Særkende den Indskrænkethed, der vil tilbageføre døde Tilstande og som ser Varsler om et Kald i et Navns Tilfældighed. Hans Stil var tør og anstrengt, hans Sind ufrugtbart. Hans Last var Havesyge, Aager hans Lyst. For ham var Provinserne retløse Erobringer. Han lod fem Senatorer i Salamin sulte ihjel, da Byen ikke kunde betale. Og dette golde Hoved er paa Grund af et Dolkestød, som intet udrettede og intet forhindrede af hvad det skulde forhindre, blevet en Slags Frihedens Genius, blot fordi man ikke har forstaaet hvad den stærkeste, rigeste, adeligste Naturs Udrustelse med den højeste Magtfylde betyder. Det vil ud fra det tidligere let forstaas, at Nietzsche udleder Retfærdigheden helt af de aktive Sindsbevægelser, da Tilbageslagsfølelserne hos ham altid ere lave. Ved dette Punkt har han imidlertid ikke dvælet. De ældre havde i Gengældelsesdriften set Oprindelsen til Straffen. Stuart Mill havde i sin Nyttemoral udledet Retfærdigheden af den allerede oprettede Straffebestemmelse (justum af jussum), der var Sikkerhedsforholdsregel, ikke Gengældelse. Re havde i sin Bog om Samvittighedens Oprindelse forsvaret den beslægtede Sætning, at Straffen ikke er en Følge af Retfærdighedsfølelsen, men Retfærdighedsfølelsen en Følge af Straffen. De engelske Filosofer i Almindelighed udlede den onde Samvittighed af Straffen. Dens Værdi skal være den at vække Følelsen af Brøde hos den skyldige. Herimod protesterer Nietzsche. Han hævder, at Straffen kun hærder og kølner Mennesket, ja at Forbryderen ved selve Retshandlingen imod ham hindres i at betragte sin Færd som forkastelig; ti han ser nøjagtigt samme Art Handlinger som de, han har begaaet, Spioneri, Læggen-Fælder, Overlisten, Tilføjelse af Pinsler udøvede imod ham i Justitsens Tjæneste og da godkendte. I lange Tider tog man da slet ikke heller Hensyn til Forbryderens Synd, betragtede ham som skadelig, ikke som skyldig, saa paa ham som paa et Stykke Skæbne, og Forbryderen paa sin Side tog Straffen som et Stykke Skæbne, der styrtede lied over ham, bar den med samme Fatalisme, hvormed Russerne lide den Dag i Dag. I Almindelighed kan man sige, at Straffen tæmmer Mennesket, den forbedrer det ikke. Den onde Samvittigheds Oprindelse er da endnu uforklaret. Nietzsche opstiller følgende geniale Hypotese: Den onde Samvittighed er den dybtgende Sygelighedstilstand, som kom til Udbrud i Mennesket under Trykket af den grundigste Forandring, som det overhovedet har gennemgaaet, nemlig da det fandt sig, endegyldigt indespærret i et Samfund, der var fredlyst. Alle de stærke og vilde Drifter som Foretagelseslyst, Dumdristighed, Forslagenhed, Rovbegærlighed, Herskesyge, der hidtil ikke blot vare blevne ærede, men formeligt optugtede, bleve pludseligt stemplede som farlige og skridtvis brændemærkede som usædelige, som forbryderiske. Væsener, der passede til et omstrejfende,
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krigersk Æventyrliv, saa paa n Gang alle deres Instinkter betegnede som værdiløse, ja som forbudne. Et uhyre Mismod, en Nedslaaethed uden Mage har da bemægtiget sig dem. Og alle de Instinkter, der ikke turde faa Luft udadtil, de vendte sig nu indad mod Mennesket selv: fjendtligt Sindelag, Grumhed, Drifterne til Afvæksling, Vovespil, Overfald, Forfølgelse, Ødelæggelse – da opstod den onde Samvittighed. Da Staten blev til – ikke ved en Samfundskontrakt, som Rousseau og hans Samtid forudsatte – men ved at en Erobrerrace med frygteligt Tyranni slog ned paa en talrigere men uorganiseret Befolkning – da slog alle dennes Frihedsinstinkter ind; den aktive Kraft, Attraaen efter Magt vendte sig mod Mennesket selv. Og paa denne Jordbund spirer da Skønhedsidealerne: Selvfornægtelse, Selvopofring, Uselviskhed. Lysten til Selvopofring er i sin Spire en Art Grusomhedshang; den onde Samvittighed er en Attraa efter Selvmishandling. Man følte nu efterhaanden sin Skyld som Gæld, til Fortiden, til Forfædrene, en Gæld, der burde tilbagebetales ved Ofre – i Begyndelsen til Næring i groveste Forstand – ved Æresbevisninger og ved Lydighed; ti alle Skikke er som Forfædrenes Værk ogsaa deres Befalinger.291 Der er en evig Angest for ikke at give dem nok, man ofrer dem det førstefødte, den førstefødte. Frygten for Stamfaderen stiger, alt som Slægtens Magt tager til. Undertiden bliver han omdannet til en Gud, hvorved da Gudens Oprindelse af Frygten tydeligt ses. Skyldfølelsen mod Guddommen er Aarhundreder igennem stadigt stegen, indtil den kristelige Guddoms Anerkendelse som Universalgud bragte et Maksimum af Skyldfølelse til Udbrud. Først i vore Dage spores en kendelig Aftagen af denne Skyldfølelse; men hvor Syndsbevidstheden naar sit Højdepunkt, der har den onde Samvittighed ædt om sig som en Kræft, saa Følelsen af det umulige i at gøre Fyldest for Skylden, for Synderne, er eneraadende og Tanken om evig Straf forener sig med den. Stamfaderen (Adam) tænkes nu ramt af en Forbandelse, Synden er Arvesynd. Ja ind i selve Naturen, af hvis Skød Mennesket udgaar, lægges det onde Princip; den er forbandet, fordjævlet – indtil vi staa foran den paradokse Udvej, i hvilken den martrede Menneskehed henved et Par tusend Aar har fundet Trøst: Gud ofrer sig for Menneskets Skyld, gør sig betalt i sit eget Kød og Blod. Det, som her er sket, er, at Grusomhedsdriften, der er slaaet ind, er bleven til Selvpineri, og alle de dyrisk-menneskelige instinkter omfortolkede som Skyld imod Gud. Ethvert Nej, Mennesket siger til sin Natur, sit virkelige Væsen, slynger det ud af sig som et Ja, en Virkelighedserklæring, gældende Gudens Hellighed, hans Dommervæsen, og dernæst Evighed, Hinsides, Kval uden Ende, evig Helvedstraf. For ret at forstaa de asketiske Idealers Opstaaen maa man desuden betænke, at de ældste Slægter af aandige og kontemplative Naturer levede under et 291 Man sammenligne Lassalle’s Teori af det romerske Testamente.
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frygteligt Tryk af Ringeagt fra Jægernes og Drabsmændenes Side. Det ukrigerske hos dem var foragteligt. De havde intet andet Middel til at begaa sig end det at fremkalde Frygt. Det kunde de kun gøre ved Grusomhed mod sig selv, Spægelse, Selvtugt under Eremitliv. Som Præster, Spaamænd, Troldmænd sloge de da Masserne med overtroisk Rædsel. Den asketiske Præst er den stygge Larve, af hvilken den sunde Tæriker har udviklet sig. Ved hans Herredømme blev vor Jord den asketiske Klode: en Ravnekrog i Himmelrummet, beboet af misfornøjede og hovmodige Skabninger, der væmmedes ved Livet, afskyede deres Planet som en Jammerdal, og som opfyldte af Nid og Nag mod Skønhed og Glæde tilføjede sig selv saa meget ondt som muligt. Alligevel er naturligvis den Selvmodsigelse, vi finde i Askesen: Livet anvendt mod Livet kun tilsyneladende. I Virkeligheden svarer det asketiske Ideal til et hensygnende Livs dybe Hang og Trang til Pleje og Lægedom. Det er et Ideal som tyder paa Svækkelse og Træthed; ogsaa ved hjælp af det kæmper Livet mod Døden. Det er et Kunstgreb til Livets Selvopholdelse. Forudsaetningen for det er Sygekighedstilstanden hos det tæmmede Menneske, Væmmelsen ved Livet med Ønsket om at være noget andet, være andensteds, dette Ønske potenseret til højeste Inderlighed og Lidenskab. Den asketiske Præst er Legemliggørelsen af selv dette Ønske. Ved dets Magt holder han den hele Hjord af forstemte, forknyttede, fortvivlede, forulykkede Væsener fast ved Livet. Netop fordi han selv er syg, er han deres første Hyrde. Var han sund, vilde han med Uvilje vende sig bort fra al denne Attraa efter at omstemple Svaghed, Misundelse, Farisæisme, falsk Sædelighed til Dyd. Men selv syg som han er, har han det Kald at være Sygevogter i den store Lemmestiftelse af Syndere og Synderinder. Han tumler stadigt med lidende, der søge Aarsagen til deres Kval udenfor sig; han lærer den lidende, at den skyldige Aarsag til hans Kval, det er ham selv. Saaledes giver han det mislykkede Menneskes Nag en anden Retning, gør ham ufarligere, idet han nøder ham til at lade en stor Del af sit Nag gaa ud over ham selv. En Læge kan den asketiske Præst ikke egentlig kaldes; han mildner Lidelsen, opfinder Trøst af enhver Art, snart Bedøvelses- snart Pirrings-Midler. Det har gældt om Bekæmpelsen af epidemisk Træthed og og Fortvivlelse, der havde bemægtiget sig store Masser. Man har forsøgt flere Midler. Først har man stræbt at nedstemme Livsfølelsen til den laveste Grad: ikke ville, ikke ønske, ikke virke osv., sløves. (Pascal’s Il faut sabÞtir.) Maalet er Hellighed, en Hypnotisering af det hele Sjæleliv, en Kommen-løs fra ethvert Formaal, og derigennem Smertefrihed. Dernæst har man mod saadanne Tungsindstilstande anvendt mekanisk Virksomhed som Bedøvelsesmiddel: Arbejdets Velsignelse. Den asketiske Præst, der mest har at gøre med lidende af de fattigere Stænder, omfortolker den stakkels Arbejdsslaves Gerning for ham, lader ham se en Velgerning i den. Videre er Ordinering af smaa lettilgængelige Fornøjelser et yndet Middel mod Melankolien: gøre andre Glæde, hjælpe dem i Kærlighed til
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Næsten. Endelig er der det afgørende Middel at organisere alle de syge i et uhyre Hospital, stifte en Menighed af dem. Den Ulyst, der følger med Svaghedsfølelsen, bekæmpes, idet denne Masse ved sit indre Sammenhold føler sig stærk. Den asketiske Præsts Hovedmiddel var dog det, at han omtydede Skyldfølelsen til Synd. Den indre Lidelse var Straf. Den syge var Synderen. Nietzsche sammenligner den ulykkelige, der faar denne Fortolkning af sin Kval, med Hønen, om hvem man har trukket en Kridtkreds. Nu kan han ikke komme videre. En lang Række af Aarhundreder igennem, hvorhen man ser, ser man Synderens hypnotiske Blik stirrende – trods Hjob – paa Skylden som eneste Aarsag til Lidelse. Overalt den onde Samvittighed og Svøben og Haarskjorten og Graad og Tænders Gnidsel og Raabet paa: Mere Smerte! Mere Smerte! Alt tjænte det asketiske Ideal. Og saa opstod epileptiske Epidemier, sorn St. Veitsdansernes eller Flagellanternes, og Heksehysterien og de store Massedelirier i ekstravagante Sekter (der endnu spøge i Fænomener som Frelsens Hær og deslige). Det asketiske Ideal har endnu ingen virkelige Angribere; der er ingen bestemte Forkyndere af et nyt Ideal. Forsaavidt Videnskaben siden Kopernikus stadigt er gaaet ud paa at røve Mennesket dets tidligere stærke Tro paa egen Betydning, virker den snarest i Overensstemmelse med det. Virkelige Fjender og Undergravere har det asketiske Ideal i Grunden for Tiden kun i dette Ideals Komedieanter, i hykkelske Haandhævere af det, som vække og vedligeholde Mistroen imod det. Da Lidelsernes Meningsløshed føltes som en Forbandelse, gav det asketiske Ideal dem en Mening; en Mening, der bragte en ny Strøm af Lidelser med sig, men som var bedre end ingen. Et nyt Ideal er i vore Dage i Begreb med at danne sig, der i Lidelsen ser en Livsbetingelse, en Lykkebetingelse, og som i en ny Kulturs Navn bestrider alt, hvad vi hidtil have kaldt for Kultur. V. Der findes blandt Nietzsches Værker en besynderlig Bog, som fører Titlen: Saalunde talte Zarathustra. Den bestaar af fire Dele skrevne i Aarene 1883–1885, hver Del omtrent i ti Dage, Afsnit for Afsnit undfanget paa lange Vandringer – „under en Følelse af Inspiration, som blev hver Sætning Forfatteren tilraabt“ har Nietzsche engang udtalt i et Privatbrev. Hovedpersonen og noget af Formen er taget fra Persernes Avesta. Zarathustra er den mytiske Religionsstifter, vi pleje at kalde Zoroaster. Hans Religion er Renhedens Religion; hans Visdom er let og frejdig som dens, der lo straks efter sin Fødsel; hans Væsen er Lys og Lue. Ørnen og Slangen, de to Dyr han har hos sig i sin Bjærghule, det stolteste og det klogeste Dyr, ere gamle persiske Symboler.
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Dette Værk indeholder Nietzsches Teorier saa at sige i Form af Religion. Det er den Koran eller rettere den Avesta, det har været ham en Trang at efterlade – dunkel og dyb, højtflyvende og abstrakt, profetisk og fremtidsdrukken, fyldt til Randen med dens Ophavsmands Selv, der atter helt er fyldt af sig selv. Af moderne Bøger, der have anslaaet denne Tone og anvendt denne symbolsk-allegoriske Stil kan nævnes Mickiewiez’s De polske Pilgrimmes Bog, Slowacki’s Anheli og den af Mickiewiez paavirkede Lamennais’ En Troendes Ord. Men alle disse Bøger ere bibelske i deres Sprog. „Zarathustra“ derimod er en Opbyggelsesbog for frie Aander. Nietzsche selv sætter dette Værk højest blandt sine Skrifter. Jeg deler ikke denne Opfattelse. Den Indbildningskraft, der bærer det, er ikke skikkelsedannende nok, og en vis Monotoni er uadskillelig fra den arkaistiske, i Typer sig bevægende Fremstilling. Men det er en Bog, som er god at ty til for dem, der ikke kunne magte Nietzsches blot tankeførende Værker, den indeholder alle hans Grundtanker i retorisk-digterisk Form. Dens Fortrin er en Stil, som er n fra det første Ord til det sidste, fuldttonende, dybtklingende, stærktstemmende; nu og da lidt salvelsesfuld i sin stridbare Dømmen og Fordømmen, altid et Udtryk for Selvglæde, ja Selvberusning, men rig paa Finheder som paa Dristigheder, sikker og engang imellem stor. Bag denne Stil ligger en Stemning som Vindstille i en Bjærgluft, der er saa let, saa æterren, at ingen Smitstoffer findes der, ingen Bakterier trives der – og ingen Støj, ingen Stank, intet Støv, ingen Sten, ingen Sti naar derop. Ren Himmel foroven, frit Hav ved Bjærgets Fod og derover en Lyshimmel, en Lys-Afgrund, en Azurklokke, hvælvende sig stum over brusende Vande og mægtige Bjærgrygge. Deroppe er Zarathustra ene med sig selv, aandende den rene Luft i fulde, dybe Drag, ene med den opgaaende Sol, ene med Middagens Gløden, der ikke forringer Friskheden, ene med blinkende, talende Stjærner ved Nattetid. En god dyb Bog er det. En Bog, der er lys ved sin Livsglæde, dunkel ved sit Gaadesprog, en Bog for aandelige Bjærgbestigere og Vovehalse og for de ikke mange, der ere indøvede i den store Menneskeforagt, som afskyr Vrimmelen, og i den store Menneskekærlighed, der kun afskyr saa dybt, fordi der foresvæver den Billedet af en højere, taprere Menneskehed, som den vil fremelske og optugte. Zarathustra er flygtet derop til sin Hule paa Bjærget af Væmmelse ved den lille Lykke og de smaa Dyder. Han har set, at Menneskenes Lære om Dyd og Tilfredshed gør dem bestandig mindre: deres Godhed er mest det, at de vil, ingen skal gøre dem noget ondt; derfor komme de de andre i Forkøbet ved at gøre dern noget godt. Dette er Fejghed og kaldes Dyd. De angribe og skade vistnok ogsaa gærne, men kun dem, som engang for alle ere prisgivne og som
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man uden Fare kan gaa for nær. Dette kaldes Tapperhed og er en endnu dybere Fejghed. Men naar Zarathustra vil jage de fejge Djævle i Menneskene ud, saa raabes der imod ham: Zarathustra er ugudelig. Han er ensom, ti alle tidligere Fæller af ham ere blevne frafaldne; de unge Hjærter blev gamle, og ikke engang gamle, kun trætte og lade, kun gemene – det kalder de, at de ere blevne fromme paany. „Om Lys og Frihed flagrede de engang som Myg og unge Digtere, og allerede er de Mørkemænd og Arnekrogsmænd.“ De have forstaaet deres Tidsalder. De valgte Tid og Time godt. Ti nu flyve Natfuglene atter ud. Nu er Timen slaaet for alle lyssky Væsener.“ Zarathustra afskyr den store Hovedstad som et Helvede for Eneboertanker. „Alle Lyster og Laster have hjemme her; men her er ogsaa Dyd, megen ansættelig og ansat Dyd. An sættelig Dyd med Skrivefingre og haardt Siddekød og Ventekød, velsignet med smaa Stjærner paa Brystet og udstoppede Døtre uden Bagdel. Her er ogsaa megen Fromhed og meget troende Spytslikkeri og Smigerbageri for Hærskarernes Gud. Og fra oven dryppe Stjærnerne ned og det naadige Spyt; og mod oven længes hver en stjærneløs Barm.“ Og Zarathustra afskyr Staten, afskyr den som i Norden Henrik Ibsen og dybere end han. For ham er Staten det koldeste af alle kolde Uhyrer. Dens Grundløgn er, at den er Folket. Nej, skabende Aander var det, som skabte Folket og gav det en Tro og en Kærlighed; saadan tjænte de Livet; hvert Folk er ejendommeligt, men Staten er ens overalt. Stat er for Zarathustra det, „hvor alles langsomme Selvmord kaldes Liv.“ Staten er for de mange for mange. Først hvor Staten ophører, begynder Mennesket, der ikke er overflødigt, det Menneske, der er Broen til Overmennesket. Fra Staterne er Zarathustra flygtet op paa sit Bjærg, ind i sin Hule. I Skaansel og Medlidenhed laa den største Fare for ham. Rig paa Medlidenhedens Smaaløgne boede han blandt Menneskene. „Sønderstukken af giftige Fluer og udhulet af mange Draaber Ondskab, som en Sten udhules, saaledes sad jeg iblandt dem og sagde til mig selv: Alt smaat er uden Skyld i sin Lidenhed. Især de, som man kalder de gode, de stikker i al Uskyldighed, de lyver i al Uskyldighed, hvorledes kunde de være retfærdige imod mig? „Den, som lever blandt de gode, ham lærer Medlidenheden at lyve. Medlidenhed avler daarlig Luft for alle frie Sjæle. Ti de godes Dumhed er uudgrundelig. „Deres stive Vismænd, dem kaldte jeg Vismænd, ikke stive. Deres Graverkarle, dem kaldte jeg Forskere – saadan lærte jeg at ombytte Ord. Graverkarlene grave sig Sygdomme til. Af gammelt Grus stige slemme Dunster. Paa Bjærge skal man leve.“ Og med salige Næseboer indaander han atter Bjærgfrihed. Forløst er nu hans Aandedrag fra Lugten af alt Menneskevæsen. Der sidder Zarathustra med
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Lovens gamle sønderbrudte Tavler om sig og nye halvbeskrevne Tavler og venter paa sin Time, Timen da Løven kommer med Duesværmen, Kraften med Blidheden, og hylder ham. Og han rækker Menneskene en ny Tavle, hvorpaa der staar saadanne Lærdomme som disse: Skaan ikke din Næste! Den store Kærlighed til de Fjærneste byder det. Næsten er noget, der skal overvindes. Sig ikke: Jeg gør mod andre som jeg vil at andre skulle gøre mod mig. Hvad du gør, kan ingen gøre imod dig. Der gives ingen Gengældelse. Tro ikke, at du ikke maa rane. En Rettighed, du kan rane dig, skal du aldrig lade dig skænke. Vogt dig for de gode Mennesker. De tale aldrig Sandhed. Ti alt det, som de kalde ondt: den store Forvovenhed, den lange Mistro, det grusomme Nej, den dybe Lede ved Menneskene, Ævnen og Viljen til at skære i det levende, det maa til, hvor en Sandhed skal fødes. Alt forbigangent er prisgivet. Men da dette er saaledes, kunde det hænde, at Pøbelen blev Herre og kvalte alt i sine flade Vande eller at en Voldsherre bemægtigede sig alt. Derfor behøves en ny Adel, der er Modstander at al Pøbel og alt Voldsherredømme og som paa nye Tavler skriver Ordet: ædel. Visselig ikke en Adel, som kan købes, eller en Adel, hvis Forfædre gjorde Korstog til det forjættede Land, eller en Adel, hvis Dyd er det at elske Fædrelandet. Nej, lærer Zarathustra: Fordrevne skulle I være fra Eders Fædrelande og Bedstefædrelande og Oldefædrelande. Ikke Eders Fædres Land skulle I elske, men Eders Børns Land. Denne Kærlighed, det er den nye Adel – Kærligheden til dette nye Land, det uopdagede, fjærnt beliggende i det fjærneste Hav. Paa Eders Børn skulle I oprette den Ulykke at I ere Eders Fædres Børn. Alt forbigangent skulle I forløse paa denne Maade. Zarathustra er fuld af Mildhed. Andre have sagt: Du skal ikke bryde Ægteskabet. Zarathustra lærer: De redelige bør sige til hinanden: „Lad os prøve paa, om vi kunne beholde hinanden kær, lad os sætte os en Frist, at vi kunne forsøge, om vi ønske en længere Frist.“ Hvad der ikke kan bøjes, det brydes. En Kvinde sagde til Zarathustra: Vel sandt, jeg brød Ægteskabet, men det brød og nedbrød mig først. Zarathustra er uden Naade. Det hedder: Stød ikke til Vognen, som hælder. Men Zarathustra siger: Hvad der staar for Fald, det skulle I ovenikøbet støde til. Alt det, som hører vore Dage til, det falder, det forfalder. Ingen kan holde paa det. Men Zarathustra vil endda støde til det. Zarathustra elsker de tapre. Men ikke den Tapperhed, der besvarer ethvert Angreb. Der er ofte mere Tapperhed i at holde sig tilbage og gaa forbi for at opspare sig til den værdigere Fjende. Zarathustra lærer ikke: I skulle elske Eders Fjender! Men: I skulle ikke indlade Jer i Kamp med Fjender, I foragte. Hvorfor saa haard? Raabe Menneskene til Zarathustra. Han svarer: Hvorfor saa haard? Sagde Køkkenkullet til Diamanten, er vi ikke af samme Slægt, nær
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beslægtede med hinanden? – De, som frembringe nye Værdier, ere haarde. Deres Salighed er at trykke deres Haand paa kommende Aarhundreder som paa Voks. Ingen Lære opbringer Zarathustra mere end den om Livets Forfængelighed og Betydninosløshed, Den er i hans Øjne gammel Sladder, gammel Kærlingesladder, og Pessimisternes Opgøren af Livets Sum som overvejende Ulyst, deres Hævden af Tilværelsens Slethed er Genstand for hans afgjorte Afsky. Nietzsche har udtalt den samme sværmeriske Kærlighed til Livet i den Hymnus an das Leben som han selv har udsat for Kor og Orkester. Det hedder heri: Gewiss so liebt ein Freund den Freund Wie ich dich liebe, rthselvolles Leben, Ob ich gejauchzt in dir, geweint. Ob du mir Leid, ob du mir Lust gegeben, Ich liebe dich mit deinem Glck und Harme Und wenn du mich vernichten musst, Entreisse ich mich schmerzvoll deinem Arme Wie Freund sich reisst von Freundes Brust. Og Digtet slutter: Hast du kein Glck mehr brig mir zu schenken, Wohlan, noch hast du deine Pein.
Naar Achilles foretrak at være Daglejer paa Jorden fremfor at være Konge i Skyggernes Rige, saa er Udtrykket svagt og spagt i Sammenligning med dette Udbrud af Livstørst, der i sin Paradoksi attraar selve Kvalernes Kalk. Eduard von Hartmann tror paa „Verdensprocessen“s Begyndelse og Ophør. Han slutter, at ingen Evighed kan ligge bag os; ellers maatte allerede alle Muligheder være indtraadte, hvad – efter hans Paastand – ikke er Tilfældet. Ogsaa paa dette Punkt i skarp Modsætning til ham, lærer Zarathustra med ejendommelig Mystik den evige Genkomst, det vil sige: at alle Ting evigt vende tilbage og vi selv med, at vi allerede evige Gange have været til og alle Ting med os. Verdens store Uhr er for ham et Sanduhr, et Timeglas der stadigt vender sig paany for atter og atter at løbe ud. Det er det nøje Modstykke til Hartmanns Verdensundergangslære. Ved sin Død vil Zarathustra sige: Nu svinder og dør jeg; om et Nu er jeg intet, ti Sjælen er dødelig som Legemet; men den Knude af Aarsager, i hvilken jeg er slynget ind, vender tilbage og den vil stadigt frembringe mig paany. I Slutningen af tredje Del af „Zarathustra“ findes et Kapitel overskrevet „Den anden Sang til Dans“. Dans er i Nietzsches Sprog altid Udtrykket for den høje Letsind, der er løftet op over Jordtyngden og over al den dumme Alvor. Denne i sproglig Henseende højst mærkværdige Sang er en god Prøve paa Stilen i dette Værk, hvor den hæver sig til højest digterisk Flugt. Zarathustra ser Livet
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for sig som en Kvinde; hun slaar Kastagnetter og han danser med hende, udsyngende al sin Vrede paa Livet og al sin Kærligbed til Livet. In dein Auge schaute ich jngst, oh Leben: Gold sah ich in deinem Nacht-Auge blinken – mein Herz stand still vor dieser Wollust: einen goldenen Kahn sah ich blinken auf nchtigen Gewssern, einen sinkenden, trinkenden, wieder winkenden, goldenen Schaukel-Kahn! Nach meinem Fuss, dem tanzwthigen, warfst du einen Blick, einen lachenden fragenden schmelzenden Schaukel-Blick; Zwei Mal nur regtest du deine Klapper mit kleinen Hnden – da schaukelte schon mein Fuss vor Tanzwuth. -– – – – – – – – – – –– Ich frchte dich Nahe, ich liebe dich Ferne: deine Flucht lockt mich, dein Suchen stockt mich: ich leide, aber was litt ich um dich nicht gerne! Deren Klte zndet. Deren Hass verfhrt, deren Flucht bindet, deren Spott – rhrt. Wer hasste dich nicht, dich grosse Binderin, Umwinderin, Versucherin, Finderin! Wer liebte dich nicht, dich unschuldige, ungeduldige, windseilige, kindsugige Snderin!
I denne Samtale mellem Livet og dets Elsker, Danserinde og Danser, forekommer de Ord: O Zarathustra, du elsker mig langtfra saa højt som du siger, du er mig ikke tro nok. Der gives en gammel, tung Brummeklokke; den brummer om Natten op til din Hule. Hører du den Klokke ved Midnat, saa tænker du indtil Middag paa at du snart vil forlade mig. Og saa følger som Slutning den gamle Midnatsklokkes Sang. Men i fjærde Bind af Værket, i Afsnittet Nachtwandlerlied, kommenteres og glosseres Linje for Linje hin korte Strofe, der formet halvt som en middelalderlig Vægtervise, halvt som en Mystikers Salme indeholder den hemmelighedsfulde Stemning i Nietzsches Lønlære, sammentrængt som i den korteste Formel: Midnatten nærmer sig, og saa lønligt, saa skrækkeligt, saa inderligt som Midnatsklokken taler til Zarathustra, tilraaber han de højere Mennesker: Ved Midnatstid høres meget, som om Dagen ikke tør give Lyd fra sig, og Midnatten taler. O Menneske giv Agt! Det er som Tiden randt, som sank jeg i en dyb Brønd. Verden sover. Og kuldegysende spørger det: Hvem bliver Jordens Herre? Hvad siger den dybe Midnat? Klokken brummer, Træormen pikker, Hjærteormen nager: Ak, – Verden er dyb. Men den gamle Klokke er som et klangfuldt Instrument; al Kval har bidt den i Hjærtet, Fædrenes og Forfædrenes Smerte, og al Lykke har sat den i Svingning, Fædrenes og Forfædrenes Lykke – der stiger fra Klokken en Evighedsduft, en rosensalig Gyldenvinsduft af gammel Lykke, og denne Sang: Verden er dyb og dybere endnu end Dagen tænker.
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Jeg er for ren for Dagens plumpe Hænder. De reneste skulle være Jordens Herrer, de ikke anerkendte, de stærkeste, Midnatssjælene, der er lysere og dybere end nogen Dag. Deres Kval er dyb. Men Lyst gaar dybere end Hjærtets Kval. Ti Kvalen siger: Brist mit Hjærte! Flyv bort min Plage! Kval siger: Forgaa! Dog I højere Mennesker! Sagde I nogensinde Ja til en Glæde, saa sagde I ogsaa Ja til Kval. Ti Lyst og Kval er sammenkædede, forelskede i hinanden, uadskillelige. Og alt begynder paany, alt er evigt. Al Glaede vil Evighed, vil dyb, dyb Evighed. Saa er da dette Midnatssangen: Oh Mensch! Gieb Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? „Ich schlief, ich schlief – Aus tiefem Traum bin ich erwacht. Die Welt ist tief Und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh – Lust – tiefer noch als Herzeleid: Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit – – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
VI. Saadan er han da, denne stridbare Mystiker, Poet og Tænker, denne Immoralist, som ikke kan blive træt af at forkynde. Naar man kommer til ham fra de engelske Filosofer, staar man som ført ind i en helt anden Verden. Englænderne ere allesammen taalmodige Aander, hvis Væsen gaar ud paa Sammenlægning og Omspænding af en Masse smaa Kendsgerninger for derigennem at finde en Lov. De bedste af dem ere aristoteliske Hoveder. Faa af dem fængsle personligt eller synes meget sammensatte som Personer. De virke mere ved hvad de gør end ved hvad de er. Nietzsche derimod er (som Schopenhauer) en Gætter, en Seer, en Kunstner, mindre interessant ved hvad han gør end ved hvad han er. Saa lidet tysk han end føler sig, fortsætter han dog den tyske Filosofis metafysiske og intuitive Overlevering og har de tyske Tænkeres dybtliggende Uvilje mod ethvert Nyttesynspunkt. I sin lidenskabelige, aforistiske Form er han ubetinget original; ved sit Tankeindhold erindrer han spredtvis om mangen anden saa vel i Samtidens Tyskland som i Frankrig; han betragter det imidlertid øjensynligt som rent urimeligt, at han skulde have en Samtidig at takke for noget og vredes som en Tysker paa alle, der ligne ham i et eller andet Punkt. Det er allerede berørt, i hvor høj Grad han erindrer om Ernest Renan i sin Opfattelse af Kulturen og i sit Haab om et Aandsaristokrati, der kan gribe
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Herredømmet over Jorden. Ikke des mindre har han ikke et anerkendende Ord tilovers for Renan. Det er ligeledes berørt, at han i sin Kamp med den Schopenhauerske Medlidenhedsmoral har Eduard von Hartmann til Forgænger. I denne Forfatter, hvis Talent er uomtvisteligt, om hans Betydning end ikke svarer til hans overordentlige Ry, vil Nietzsche paa tyske Universitetslæreres Vis med ukritisk Uretferdighed kun se en Charlatan. Hartmanns Væsen bestaar af tungere Stoffer end Nietzsches. Han er drøj, suffisant, grundgermanisk, er endelig i Modsætning til Nietzsche ganske uberørt af fransk Aand og sydlandsk Solbrand. Men der findes Lighedspunkter imellem dem, som bero paa de historiske Forhold i det Tyskland, der har fostret dem begge. Der er først noget fælles i deres Livsstilling, idet de begge som ArtilleriOfficerer have gennemgaaet samme Skole, og dernæst i deres Dannelse, forsaavidt de begge gaa ud fra Schopenhauer og ligefuldt begge bevare stor Ærbødighed for Hegel, altsaa forene disse to fjendtlige Brødre i deres Kultus. De stemme videre overens i deres lige fremmede Forhold til kristelig Religiøsitet og kristelig Moral, samt i deres saa moderne tyske Ringeagt for alt Demokrati. Nietzsche ligner Hartmann i sine Angreb paa Socialister og Anarkister, kun at Hartmanns Holdning her er mere videnskabelig, medens Nietzsche paa en usmagelig Maade behager sig i at tale om „de anarkistiske Hunde“ og det i samme Aandedræt, som han nærer og udtaler Afsky for Staten. Nietzsche ligner videre Hartmann i sin stadige Paavisning, af Lighedsidealets og Fredsidealets Umulighed, da Livet er idel Ulighed og Krig. – „Hvad er godt? At være tapper er godt. Ikke den gode Sag helliger Krigen, men den gode Krig helliger enhver Sag.“ Ligesom sin Forgænger dvæler han ved Nødvendigheden af Kampen om Magten og ved Krigens formentlige Kulturnytte. I begge disse dog forholdsvis saa uafhængige Forfattere, af hvilke den ene er en mystisk Naturfilosof, den anden en mystisk Immoralist, spejler sig den i det nye tyske Rige eneherskende Militarisme. Hartmann nærmer sig paa mange Punkter den tyske spidsborgerlige Nationalfølelse. Nietzsche staar i principiel Strid med den saa vel som med den Statsmand, „der har opstabletTyskerne et nyt Babelstaarn, et Uhyre af Landomfang og Magt og som derfor kaldes stor“, men noget af Bismarcks Aand ruger ligefuldt over begges Værker. Hvad Spørgsmaalet om Krigen angaar, er Forskellen mellem dem kun den, at Nietzsche ikke ønsker Krigen for en fantastisk Verdensforløsnings Skyld, men for at Mandigheden ikke skal forsvinde af Verden. I sin Ringeagt for Kvinden, sin Smæden af hendes Frigørelsesforsøg mødes Nietzsche atter med Hartmann, dog kun for saa vidt begge her genkalde Schopenhauer, hvis Ekko paa dette Omraade Hartmann er. Dog medens Hartmann her kun er en moraliserende Doktrinær med et temmelig uklædeligt Anstrøg af Pedanteri, sporer man hos Nietzsche under hans Udfald mod Kvindekønnet den fine Sans for Kvindens Farlighed, som tyder paa dyb,
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smertelig, personlig Erfaring. Mange Kvinder synes han ikke at have kendt, men de, han har kendt, har han øjensynligt elsket og hadet, dog ringeagtet mest. Atter og atter vender han tilbage til den frie, geniale Aands Uskikkethed til Ægteskabet. Der er i disse Udtalelser paa mange Steder noget stærkt individuelt, saaledes især i dem, der haardnakket hævde Nødvendigheden af et ensomt Liv for en Tænker. Men hvad det mindre personlige Ræsonnement om Kvinden angaar, da taler det gammeldags Tyskland gennem Nietzsche som gennem Hartmann, dette Land, hvis Kvinder Aarhundreder igennem i Modsætning til Frankrigs og Englands ere blevne henviste til det huslige og strængt private Liv. Man kan hos disse tyske Skribenter i al Almindelighed paaskønne, at de have Blik for den dybe Modsætning og stadige Krig mellem Kønnene, som Stuart Mill ikke saa og ikke forstod. Men dog er den Uretfærdighed mod Manden og den noget flade Billighed mod Kvinden, hvori Mill’s beundringsværdige Frigørelsesforsøg undertiden løber ud, langt at foretrække for Nietzsches brutale Ubillighed, der hævder, at vi i vor Behandling af Kvinden bør vende tilbage til „det gamle Asiens uhyre Fornuft.“ I sin Kamp mod Pessimismen har Nietzsche endelig til Forgænger Eugen Dhring, (se især dennes Der Werth des Lebens), og denne Omstændighed synes at have indgydt ham en saadan Uvilje, ja Forbitrelse, at han i en undertiden dulgt, undertiden aaben Polemik, stempler denne som sin Abe. Dhring er ham en Gru som Plebejeren, som Antisemiten, som Hævnapostelen, som Englændernes og Comte’s Discipel; men Nietzsche har intet Ord tilovers for det meget betydelige hos Dhring, der ikke gaar op i Bestemmelser som disse. Man forstaar imidlertid ret vel, naar man betænker Nietzsches egen Skæbne, at Dhring, den blinde Mand, den ignorerede Tænker, der ser ned paa de officielle Videnskabsmænd, den udenfor Universiteterne lærende Filosof, der til Trods for at Livet saa lidet har forkælet ham, højlydt bekender sin Kærliglied til Livet – staar for Nietzsche som hans egen Karikatur. Der var imidlertid ikke derfor nogen grund for ham til nu og da at anslaa den Dhringske Skældetone. Men det maa tilstaas: Saa gærne Nietzsche end vil være hvad han i øvrigt er: en polsk Szlachziz, en europæisk Verdensmand, og ksomopolitisk tænker, i t punkt er og bliver han den tyske Professor: i den plumpe Skælden hvori det ubeherskede Had til Rivaler giver sig Luft, og han har jo egentligt som tysk moderne Filosof ingen andre Rivaler haft end Hartmann og Dhring. Forunderligt er det, at denne Mand, der har lært saa uendeligt meget af franske moralister og Psykologer som La Rochefoucauld, Chamfort og Stendhal, kunhar kunnet tilegne sig sa lidet af Beherskelsen i deres Form.Han har ikke været underkastet den Tvang, som den literære Tone i Frankrige paalægger enhver med Hensyn til Omtale og Fremstilling af sin egen Person. Længe synes han at have kæmpet for at finde sig selv og helt at blive sig selv. For at finde sig krøb han ind i sin Ensomhed som Zarathustra i sin Hule. Da det lykkedes ham at naa til helt selvstændig Udvikling og han følte det ejendommelige Tankevæld
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rigt strømmede i sit Indre, havde han tabt al udvortes Maalestok for sit eget Værd; alle Broer til Omverdenen vare brudte af. At den ydre Anerkendelse udeblev, hidsede kun hans Selvfølelse. De første Glimt af Anerkendelse udefra gave denne Selvfølelse endnu et Højtryk. Tilsidst er den slaaet sammen om hans Hoved og har for en Tid formørket denne saa sjældne og ypperlige Aand.292 Som han for Øjeblikket staar udpræget i sit ufuldførte Livsværk er han en Skribent vel værd at studere. Jeg har villet henvise til ham især, fordi det forekommer mig, som om Nordens Skønliteratur nu vel længe har tæret paa Tanker, der bleve fremsatte og drøftede i det forrige Aarti. Det ser ud som om Ævnen til at undfange geniale Ideer var taget af, ja som om Modtageligheden for dem var ved at svinde; man tumler stadigt med de samme Lærdomme, visse Arvelighedsteorier, lidt Darwinisme, lidt Kvinde-Emancipation, lidt Lykkemoral, lidt Fritænkeri, lidt Kultus af Folket osv. Og hvad vore „dannedes“ Dannelse angaar, ligger Faren nær, at det Niveau, som omtrent betegnes ved det franske Tidsskrift Revue des deux mondes, bliver Højdemaalet for de højest Dannedes Kultur. Det synes ikke endnu at være gaaet op for de bedste, at den finere, den eneste virkelige Kultur begynder hinsides „Revue des deux mondes“ i den store, idefyldte Personlighed. Den nordiske Aandsudvikling indenfor Skønliteraturen er gaaet forholdsvis hurtig frem. Vi have set store Digtere, der begyndte som ganske naive orthodokse, hæve sig ud af al Orthodoksi. Dette er meget respektabelt, men i de Tilfælde, hvor de ikke kunne komme højere, er det ligefuldt lidt tomt. I Løbet af Halvfjærdserne indsaa næsten alle de nordiske Digtere, at det gik ikke længer med en Digtning paa Grundlag af den Augsburgske Konfession. Nogle lode den i Stilhed falde, andre gjorde en mere eller mindre larmende Opposition imod den, de fleste, der opgave den, forskansede sig overfor Publikum og til Dels overfor deres egen daarlige Barndomssamvittighed til Gengæld bag den engang fastslaaede protestantiske Moral, nu og da endog bag en god borgerlig Suppekødsmoral – jeg kalder den saaledes, fordi der saa tit er kogt Suppe paa den. Dog hvorom alting er, Angreb paa de bestaaende Fordomme og Forsvar for de bestaaende Institutioner true for Tiden med at synke ned i samme Kendthed og Hverdagsagtighed. Man vil, tror jeg, snart paany faa et levende Indtryk af, at Kunsten ikke kan nøjes med Ideer og Idealer for Gennemsnittet og Middelmaalet, ganske lige saa lidt som med Levninger af de gamle Katekismer, men at den store Kunst fordrer Aander som i Særhed, i Selvstændighed, i Trods, i adelsvældig Eneraadighed staa i Højde med de ejendommeligste Personligheder i Samtidens Tænkning. 292 Nietzsches næstsidste Bog hedder det: „Ich habe den Deutschen die tiefsten Bcher gegeben, die sie berhaupt besitzen – Grund genug dass die Deutschen kein Wort davon verstehen.“ I den sidste hedder det: „Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt ….“
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Mhly, J[acob]: Friedrich Nietzsche. In: Die Gegenwart. Monatschrift. Berlin, Bd. 29, Nr. 36 vom 7. 9. 1889, S. 148 ff. Friedrich Nietzsche Was Manche ahnten, Freunde oder Gegner, die in den vergangenen Jahren dem Flug des originellen Geistes, des jungen, unerschrockenen Denkers, Friedrich Nietzsche’s, gefolgt sind, ist eingetroffen, man mçchte sagen mit der ganzen Wucht und Tragik eines unerbittlichen Naturereignisses: Er ist, nachdem er in seiner „Gçtzendmmerung“ noch eben wahre Feuergarben von Geist und Witz ausgesprht hatte, plçtzlich in die „Menschendmmerung“ versunken, aus welcher kein Tag mehr geboren wird – in die Nacht des Wahnsinns. Daß es so bald kommen werde, konnte, durfte Niemand ahnen, der sich in die Schauer jener „Gçtzendmmerung“ vertiefte. Es wallten da freilich auch Nebel auf und nieder, die Unheimliches zu verhllen schienen, die vor keinem Geistesblitz zerfließen wollten; aber sie waren weder zahlreicher, noch dichter, als man sie in frheren Werken des Denkers wahrnahm: das Buch „Also sprach Zarathustra“ war auch nicht nur aus Licht und Glanz gewoben, und in „Der Wanderer und sein Schatten“ huschten letztere – und zwar weniger vom Wanderer als vom Verfasser ausgehend – auf Schritt und Tritt dem Leser ber den Weg. Und ist es besser bestellt mit „Menschliches, Allzumenschliches“? oder mit „Jenseits von Gut und Bçse“? Auch der scheinbar jhe Abfall des frheren Enthusiasten im „Fall Wagner“ konnte nur den erschrecken, der Nietzsche’s Entwickelungsgang nicht Schritt fr Schritt verfolgt hatte; der Wandel war schon lnger vorbereitet und lsst sich aus frheren Kapiteln herauslesen, der Abfall war also in der That nur scheinbar jh. Freilich, schwarze Nachtvçgel schwirrten und flatterten genug auch im „Fall Wagner“ umher und verkndeten das nahende Verhngniß, ein Abgrund war es besonders, tiefer als alle anderen, ber dem sie kreischten und krchzten, ein Abgrund, der keinen ihm Verfallenen wieder an’s Tageslicht hinauslsst: der des Grçßenwahns. – woher nun aber gerade dieser Gang, dieser Verlauf eines viel versprechenden Lebens, der in der Tiefe endet? Hat ihn die Philosophie, der ungestillte Durst nach Wahrheit, das Grbeln und Graben nach den letzten Grnden des Menschendaseins verschuldet, oder war es vielmehr die naturnothwendige Entfaltung eines in Nietzsche’s Gehirnzellen liegenden Keimes? Es kçnnte vermessen scheinen, sich auf die eine oder andere Seite dieser Alternative stellen zu wollen, indessen liegen fr unseren Fall, ganz bestimmte, hier nicht nher zu erçrternde Anzeichen vor, welche die letztere Annahme fast mit Gewißheit als die richtige erscheinen lassen. Nietzsche hat, von seinem ersten Auftreten als Philosoph an, viele Gegner gefunden, solche, die ihn verstanden, und solche, die ihn nicht verstanden haben, und jetzt, nach seinem Abtreten vom philosophischen Schauplatz, lassen
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sich Stimmen vernehmen, die ihm den Titel eines echten und wahren Denkers streitig machen und ihn als Philosophaster oder Afterphilolosophen oder als Feuerwerker, der mit seinen Leuchtkugeln blendete, oder unter irgend einem anderen Zeichen in Vergessenheit begraben wollen. Wir frchten, diese Kritiker haben Nietzsche nicht gekannt oder aber sie sind stumpf fr die Empfindung des Wahren und Schçnen. Damit soll nicht geleugnet sein, daß Nietzsche, besonders in seinen letzten Schriften, mehr und mehr sich in jenem Spiel geistreicher Leuchtkugeln gefiel und daß es ihm oft weniger um die einfache Wahrheit zu thun war, als um die originelle effektvolle Art, wie er, der große Knstler, sie in Scene setzte – aber dieser „menschliche, allzumenschliche“ Zug darf doch nicht entscheiden, wenn es gilt den Spruch zu fllen ber ein mit vollem Ernst und allererstem Drang dem Dienst der Wahrheit gewidmetes Leben. Und haben wir damit genug gesagt? Mssen wir nicht noch, neben dem Drang, die Anlage und den Beruf zur Philosophie betonen, die mit keinem Superlativ zu stark bezeichnet sind? Es gibt Philosophen genug, deren Namen in der „Geschichte“ dieser Wissenschaft prangen, weil sie irgend ein System zu Stande gebracht haben – sie sind nicht so ursprnglich angelegt, nicht so reich begabt gewesen, wie Nietzsche, aber im Stillen um einige Grade eingebildeter und ungebildeter als der einsame Wanderer Friedlich Nietzsche, der auf seinen Gngen von zwei sonst selten verbundenen, aber in ihrem Verein um so hçher zu schtzenden, hoch ber jedem System stehenden Gestalten begleitet war: vom bahnweisenden, nie abirrenden Verstand, und der die abstracten Gedanken, die unterwegs auftauchten, zu Gedankenbildern versinnlichenden, belebenden Phantasie. Oder braucht man denn wirklich, um unsterblich zu werden, ein System zu grnden? Und wie Vieles bleibt an den Systemen selber unsterblich? Staub geworden sind sie alle, die berhmten wie die unberhmten, und aus jenen hat sich bloß eine oder die andere Idee herber gerettet in ein nachfolgendes System, um hier wieder keimfhig zu werden und neue Frucht zu zeitigen. So ist es gegangen von Anfang an und geht es fort und fort bald in rascherem Tempo und mit ppigerem Trieb, bald matter und langsamer. Was hat sich denn als Ganzes in der Flucht der Zeiten und im Ansturm des Neuen zu halten vermocht außer dem Organon des Aristoteles? Nun lese man unbefangenen, von keinem „System“ getrbten Blickes, die Schriften Nietzsche’s durch – am ehesten werden es die Nichtphilosophen im Stande sein – und man wird viel weniger staunen ber die grndliche Abwesenheit alles und jedes Systems, als ber die quellende Flle von Ideen, die uns so zu sagen aus jeder Seite, zum mindesten aus jedem Kapitel entgegenfluthen? und wahrlich kein Wasser ist es, sondern Geist, wenn wir auch diesen Geist mit unserem Denken und Fhlen nicht in Einklang zu setzen vermçgen. Ursprnglich und ureigen ist freilich nicht Alles, kann es nicht sein – aber eigenartig geprgt, und selbst das Herbste, was uns dieser unerbittliche, stahlharte Wahrheitskmpe zu sagen hat, ja das Trostloseste und Furchtbarste weiß er mit so wunderbarer stilistischer Kunst
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zuzubereiten, daß wir wie durch geheimen Zauber gezwungen werden, das Entsetzliche mit einem gewissen Wohlbehagen zu schlrfen. Wer aber im Besitz solcher Wundermittel ist, verdient etwas Besseres, als fr einen bloßen Sonderling zu gelten, den man, sobald er verstummt ist, zu den Todten legt. Die Weltliteratur aller Zungen kennt Schriftsteller, die theils unwillkrlich, aus innerem Drang, ihren Gedankenreichthum in der Form von „AperÅus“ ausgemnzt, theils willkrlich sich auf diese Form capricirt haben. Wenn es sich um die Frage handelt, wem die Palme zu reichen sei, so drfen die Deutschen getrost ihren Landsmann zum Wettlauf stellen; es werden’s ihm Wenige zuvorthun, und doch haben die Nachbarn im Westen gerade fr diese Arena eine ganze Anzahl auserwhlter Geister als Wettkmpfer zur Verfgung. Es ist Nietzsche jedenfalls Ernst mit der Behauptung, daß Schriftsteller wie Montaigne, Fontenelle, Labruyere, Larochefoucauld, Vauvenargues mehr Gedanken zu Tage gefçrdert haben, als alle deutschen Philosophen zusammengenommen. Wer darin einen Ausfluß von Widerspruchsgeist oder von jener wohlfeilen, aber erheuchelten Unparteilichkeit, das heißt Originalittssucht erblicken wollte, welche sich mit dem Hohenpriesterthum der Wahrheit ziert und jedes Stubchens von Patriotismus sich zu entledigen bestrebt ist, wrde Nietzsche schweres Unrecht thun, er mßte seiner ganzen Schriftstellerei den Stempel der Unredlichkeit ausdrcken wollen. Denn in diesem Punkt, will sagen in der Anerkennung, ja in der Verehrung des franzçsischen Geistes, wie er sich in den großen Schriftstellern der Nation zur hçchsten Blthe entfaltet, ist Nietzsche sich inmitten seiner sonstigen Wandlungen unentwegt treu geblieben, hier hat seine Ueberzeugung ein fr allemal unverrckbar Wurzel gefasst. Sein letztes Buch ist den Manen Voltaire’s gewidmet – was kmmert ihn auf seinem Standpunkt „jenseits von Gut und Bçse“ das Angstgewinsel frommer Seelen vor diesem Namen, der noch bei einem Binet als Hauptwerkzeug und Diener des „prince des tnbres“ erscheint, was kmmerte es ihn, wenn es in wetterfesten Eichenherzen stçhnte und grollte ob seiner wegwerfenden Behandlung der „Schollenkleberei und Vaterlnderei!“? Und hatte er denn nicht Recht, diesen Zwittergestalten, die schon so viel Gutes verhindert haben, die Maske, hinter welcher doch nur die plumpen Zge der Denkfaulheit und der Verknçcherung starren, vom Gesicht zu nehmen? Der wahre Vaterlandsfreund hlt sein Auge nicht nur auf die Tugenden, sondern auch auf die Schden und Schwchen seines Landes gerichtet. Es gibt keinen langweiligeren, abspannenderen Sang, als das ewige Unisono vom Ruhm der Vorvter und von den entsprechenden oder abgeblaßten Tugenden ihrer Nachkommen, keinen entnervenderen Trank, als den an den gewçhnlichen – leider sehr gewçhnlichen! – patriotischen Festen kredenzten und in vollen Zgen genossenen von der Herrlichkeit „unseres“ Vaterlandes, whrend er, in feierlichen Stunden – dies sind aber die ungewçhnlichen – aus Wahrheit gebraut und mit Maß genossen, zu beleben und zu begeistern vermag. Im Uebrigen hat sich die echte Vaterlandsliebe durch die
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That zu bewhren und Nietzsche hat dies im deutsch-franzçsischen Krieg als freiwilliger Krankenwrter vollauf gethan. Seither hat sich freilich auch in seinem Geist – und in welchem nicht? – manches anders gemalt, der blaue Himmel und die grne Hoffnung sind blsser geworden, das Herz voll Bitterniß, und weß das Herz voll ist, deß geht, ich denke auch beim Philosophen, der Mund ber. Auf keinen Fall ist aber Nietzsche’s Urtheil ber die Franzosen durch seine Enttuschung ber deutsche Dinge bestimmt worden. Seine Verehrung hat, meine ich, ihren guten Grund. Es ist fr’s Erste der „esprit“, das feine, in zierlichem Rhythmus sich bewegende, vom Witz geleitete und von weltmnnischem Tact begleitete Gedankenspiel, das ihn anzieht, dann aber die graziçse, allem Gedankeninhalt und seinen begrifflichen Nuancen sich anschmiegende und anschmeichelnde Form. Nietzsche hat seinen franzçsischen Mustern wahrlich keine Schande gemacht. Er schaltet und waltet mit dem „schwerflligen Deutsch“ wie ein geborener Herr und Meister, er schmeidigt und glttet es, wo es Noth thut, schrft und hrtet es, wo es seinen Zwecken dient, kurz, er nimmt es in Zucht, wie ein liebender, verstndiger Vater sein Kind, mit spielender berlegenheit. Wer an Nietzsche’s „Deutschthum“ zweifelt, mag sich in seine Sprache vertiefen, er wird eines Besseren belehrt werden. Hçchstens in seinen letzten Schriften hat das Aphoristische der Gedanken auch der Sprache etwelchen Zwang angethan, aber auch hier decken sich Inhalt und Form vollstndig. Seinen Gegnern darf man sagen: „Gehet hin und thuet desgleichen!“ Unter den Neueren, die deutsch schreiben, kenne ich – mit einer einzigen Ausnahme, deren Grçße aber doch wieder ein anderes Geprge hat – ich kenne keinen Ebenbrtigen. Nur darf man Nietzsche’s Sprache natrlich (ich betone dieses „natrlich“ zu Nutz und Frommen sprachlicher „Gegenfßler“) nicht messen am Ellstabe des Puristischen Teutonenthums, das sich neuerdings wieder aufspielt, vielmehr Ernst macht, denkbar zwar, wie seit 1870 vieles Andere, aber wenig dankbar. Denn es sollte sich doch erinnern, wem unser etwas steif gewordenes Deutsch zum guten Theil seine Geschmeidigkeit und seinen Schliff verdankt, und solchen Erinnerungszeichen, die sich in Gestalt von Worten oder Wendungen seit Jahrzehnten und Jahrhunderten eingebrgert haben, ihr Brgerrecht auch fernerhin belassen. Die erste literarische That Nietzsche’s war seine Schrift: „Die Wiedergeburt der Tragçdie aus dem Geist der Musik.“ Sie hat, und zwar sie allein, System und Zusammenhang, sie bietet etwas Ganzes und Einheitliches; sie warf Staub auf, und mit Recht; man staunte auf der einen, man hçhnte auf der anderen Seite. Der Inhalt, eine begeisterte Apotheose des dionysischen „Rausches“ und des apollinischen „Traumes“, wirkte narkotisch betubend. Die khlen Kritiker der Ritschl’schen Schule, welcher der junge Nietzsche angehçrt hatte, fanden mit einer Ausnahme in der Schrift einen jhen Abfall von den Lehren des Meisters – und ein Abfall war sie auch, gewiß, und zwar ein recht grndlicher, ein Absagebrief, wie man ihn deutlicher nicht schreiben konnte: Nichts mehr von jener
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Kritik, welche ihre Kunst am Kleinen bewhrt, Buchstaben und Zeichen meistert, den Schriftzgen auf Stein und Pergament nachsprt, aus tausendjhrigem Wust und Rost die ursprngliche Wortform fein suberlich ausscheidet und nur gelegentlich einen hçheren Flug nimmt – das war eine Kritik von anderem Schnitt, von grçßerem Wurf, nicht an den Wçrtern und Formen haftend, sondern den „Dingen“ auf den Grund gehend, den Menschen in’s Herz schauend, zeugungskrftig, schçpferisch, von der Intuition durchleuchtet und erwrmt, ja, ber Gebhr erwrmt, denn die khlen Thatsachen verhalten sich, in manchen und wichtigen Fragen, sprçd dagegen und – gleich und gleich gesellt sich gern. Es ist wahr, Vieles hlt nicht Stand in Nietzsche’s Buch, sogar die Grundpfeiler nicht, auf die er sein Gebude sttzt. Es war nicht allzu schwer, gegen diese anzukmpfen. Ein junger Kritiker hat sich damals im Ansturm gegen das Buch seine ersten Sporen verdient; er ist jetzt noch ein schneidiger Kmpfer und jedesmal, wenn er auftritt, klirrt und blitzt es. Von seinem Standpunkt aus mußte ihm Nietzsche’s Art als „Afterphilologie“ erscheinen. Wie konnte auch ein wohlbestallter Professor der klassischen Philologie (das war nmlich Nietzsche damals) so pflichtvergessen sein und sich auf solche Abwege verirren? Wir wiederholen: Von seinem Standpunkt aus hatte jener Kritiker Recht; fr die Philologie, wie sie nun einmal „nach berhmten Mustern“ gerathen ist, war ein Geist wie Nietzsche nicht geschaffen. Und doch – was Nietzsche dort ber Sokrates und Euripides (und im Anschluß an ihre Charakteristik) berichtet, ragt durch Weite und Tiefe des Blicks, durch Kraft und Anmuth des Ausdrucks, hoch empor ber Alles, was die „echte“ Philologie jemals ber diese Materie – und ber viele andere – gedacht und geschrieben hat. Nicht, daß sich Nietzsche seiner Kraft nicht mit einem gewissen Stolz bewußt gewesen wre. Im jugendlichen Vollgefhl derselben hat er sich in seinen folgenden „unzeitgemßen Betrachtungen“ an keinen geringeren Gegner als David Friedrich Strauß gewagt und ihm einen strengen Sermon ber stilistische Art und Unart gehalten. Bescheiden kann man sein Auftreten gewiß nicht nennen, es war eine Mischung jugendlichen Ungestms mit Reminiscenzen aus der Ritschl’schen Schule, immerhin aber sind diese kecken Ausfalle einigermaßen gemildert und geadelt durch ein wunderbar gelutertes, man mçchte sagen sublimirtes Kunstgefhl. Und dieses ist dem Philosophen Nietzsche als Mitgabe verblieben bis zum letzten Federzug, den dieser vornehme Geist gethan. Ich weiß keinen besseren Ausdruck, wenn Ich in Krze sein Wesen bezeichnen soll. Er hat selber diesem Begriff eine lngere Betrachtung gewidmet und man versteht den Mann nicht, wenn man besagten Begriff nicht stets vor Augen hat. Allerdings gehçrt noch ein anderer dazu: der des Knstlers. Wer sein geistiges Auge nicht mit diesen beiden Brillenglsern bewaffnet, wird fr die Aufnahme von Nietzsche’s Vollbild kurzsichtig sein, denn vornehm und Knstler bleibt Nietzsche auch dann, wenn er von den Hçhen der Speculation heruntersteigt und sein Ohr dem Nothschrei zuwendet, der von der Scholle her ertçnt,
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dem Schrei nach dem tglichen Brot, den Aengsten und Nçthen des Menschenlebens. Nichts Menschliches liegt ihm fern. Er hlt seine Sinne und sein Sinnen gerichtet ebenso wohl auf die leiblichen Bedrfnisse der Kreatur, als auf die geistigen des hçher strebenden Menschenthums. Was muß dieser stille, in sich gekehrte Mann alles beobachtet, wie tief sein Senkblei in das menschliche Herz getaucht haben, um dessen Abgrnde so genau zu kennen! Ist es nicht, als hçrten wir einen Greis den ganzen Inhalt eines langen, erfahrungsreichen Lebens in Sprche der Weisheit gefaßt vor uns ausbreiten? Inhalt und Charakter dieser Philosophie auch nur andeuten zu wollen, mssen wir uns versagen. Auch wer Nietzsche’s Kunst besße, in wenig Strichen ein Bild zu zeichnen, das keinen Zug des Charakters vermissen lßt – hier mußte seine Kunst scheitern. Diese Philosophie lßt sich in keinen Rahmen fassen, sie spottet jedes Versuches einer Charakteristik. Will man ihren formellen Grundzug als aphoristisch, ihren realen als pessimistisch bezeichnen, so wird man freilich der Wahrheit ziemlich nahe sein, aber gewonnen ist nicht viel damit. Die Aphorismen sind oft gewçhnlich, so auch bei Nietzsche, Kinder der Laune, der Stimmung, und wie letztere schillern auch sie selber in vielen Farben; nicht nur entbehren sie der Einheit, sondern sie enthalten auch den Widerspruch. Und so treiben auch bei Nietzsche die Widersprche ihr Spiel, und oft ein recht tolles mit Sachen wie mit Personen – man denke hier, an Wagner, oder auch an Schopenhauer, von dem es frher hieß: „es gibt nicht seinesgleichen“, an Kant, den „verwachsensten Begriffskrppel“, der ihm doch auch wieder langgezogene Tçne der Bewunderung entlockt, dann an Plato, der durch seine Trennung einer idealen und realen Welt so viel Wust in der Wissenschaft, mit seinem Aberglauben von der Moral und von der Unsterblichkeit so viel Unheil ber die folgenden Jahrhunderte gebracht hat; man merke sich ferner die „Wirklichkeitsphilosophaster“ und die „Erkenntnißmikroskopiker“! aber Nietzsche selber perhorrescirt ja mit der ihm eigenen Offenheit alle Metaphysik und alles bersinnliche, er erkennt in der „Psychologie“ die „Krone aller Wissenschaft“, und was ist eine Psychologie ohne Erkenntnißlehre! Ueberhaupt geht er grausam mit den Philosophen um – und nicht bloß, wie Eduard v. Hartmann, mit den Kathederphilosophen; volles, uneingeschrnktes Lob erntet nur einer, Boscovich, dessen Philosophie er fr die beste Widerlegung der materialistischen Atomistik erklrt und fr den „grçßten Triumph ber die Sinne, der je auf Erden gefeiert worden“. Das sagt der Antimetaphysiker, der Realphilosoph Friedrich Nietzsche. Und nun die Sachen. Uns scheint, schon darin klaffe ein unvereinbarer Widerspruch, daß Nietzsche von einem pessimistischen Untergrund (oder sagen wir lieber gleich: Aufbau) seiner Philosophie nichts wissen will und sich einbildet, heiteren Antlitzes, lchelnd und zufrieden in diese abgrndliche Trostlosigkeit, diese grauenhafte Wirklichkeit blicken zu kçnnen, die er vor uns entrollt. Wohl sagt uns Nietzsche: Die Welt ist weder gut noch bçse, also kann man auch nicht von einem Optimismus oder Pessimismus sprechen; aber gibt es
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kein Gut und Bçse, so gibt es auch keine Lust und Unlust – und doch lchelt Nietzsche, doch ist er heiter und zufrieden. Mir will es scheinen, dieses Lcheln sei aus der Verzweiflung geboren und trage die Zge der Mutter. Im Uebrigen hat wohl selten ein Philosoph mit einer rcksichtsloseren Offenheit und Ehrlichkeit geschrieben als Nietzsche. Wir machen es ihm nicht zum Vorwurf, es liegt in seinem Princip. Scheu vor dem Anstoß, Schonung zarter Seelen sind subjective Begriffe, sind Regungen, die unter den Generalbegriff der Moral, d. h. von Gut und Bçse fallen, existiren also nicht fr den, der nach Wahrheit forscht; die Wahrheit kennt keine Hlle, kein Feigenblatt, kein Schutzmntelchen. Wem vor dem entschleierten Bild die Haare zu Berge stehen, ist selber daran schuld, er soll das Philosophiren bleiben lassen. In Nietzsche’s Philosophie stammen die Widersprche theilweise daher, daß er, hnlich wie Plato, mit keinem fertigen System seine Schriftstellerlaufbahn betrat, sondern entwickelungsfhig und bildungsdurstig, wie er war, seine Sinne und seine Seele den neu zustrçmenden Ideen und Eindrcken stets offen hielt. Und dieser Strom war ein mchtiger, ununterbrochener, aber er brachte nicht nur Neues und befruchtete keimendes – er schwemmte auch Manches in ihm weg, was Nietzsche fr sicheres Gut gehalten hatte. Sagt er doch selber: „Aber alles ist geworden, es gibt keine ewigen Thatsachen, sowenig als absolute Wahrheiten!“ Also wird auch Alles, und ob eine relative Wahrheit ein Jahrzehnt oder ein Jahrtausend braucht, um sich aus dem Irrthum zu entbinden, d. h. um „zu werden“, ist einerlei fr das Princip. Auch die Religion kann nicht fr etwas „Ewiges“ gelten. Hier pflegen bekanntlich die ngstlichen Gemther, und wer aus Opportunittsgrnden im Seufzen um das Heil glaubt mitmachen zu mssen, den Visirstock einzusetzen, um Herz und Nieren des Philosophen zu prfen. Hlt er in diesem Punkt Stich und Faden – dann wohl ihm, er ist ihr „Mann“, zeigt er aber Blçßen oder gar Flecken, dann – weg mit ihm! Diese Seelen, zusammt den Opportunittscandidaten – sie bilden, beilufig gesagt, einen erklecklichen Bruchtheil der confessionellen Menschheit – mssen in Nietzsche einen wahrhaftigen Lucifer erblicken, der die ganze bestehende Weltordnung aus den Fugen heben mçchte. Und gerade in Sachen der Religion ist sich Nietzsche inmitten seiner brigen, theils entschuldbaren, theils unentschuldbaren Wandlungen, die wir hier nicht weiter verfolgen kçnnen, am treuesten geblieben. Freilich, es ist die Treue einer trostlosen Verneinung. Aber htte er sich scheuen sollen, seine Ueberzeugung auszusprechen? Vor wem sich scheuen? Darf man denn nicht auch fr solche schreiben, die jeder Art von Glauben, auch dem Unglauben, das Recht zuerkennen sich auszusprechen? Zudem will ja Nietzsche von dem Begriff „Glauben“ gar nichts wissen, er erkennt im Reich des Geistes bloß die Wissenschaft an. „Glck“ und „Trost“ aber (die Hauptsulen der Religion) finden hier keinen Platz. Also kann auch, fr die Beurtheilung von Nietzsche’s Philosophie, gar nicht in Betracht kommen, ob er,
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Nietzsche, in jener eiskalten Wissenschaft irgendwelche herzerwrmende Befriedigung gefunden habe, es ist einfach eine unlogische Frage. Was wollen aber alle die Ausflle auf die Religion, die Nietzsche doch schließlich als ein Mittel zum Zweck, zur Herrschaft der Philosophen, als Zchtungsmittel der Vçlker anerkennen muß, was wollen sie bedeuten, wenn man sie gegen seine Behandlung des speciellen Christenthums hlt! Dort sanfte Ruthenstreiche, hier wuchtige „Hammerschlge“ (er will ja zeigen, „wie man mit dem Hammer philosophirt“), dort khle Prfung, hier lodernder Ingrimm. Das alte Testament – grandios, der Christenglaube – die „Religion des Henkers“, ein „absurdissimum“, das den Menschen zum „Herdenthier“ erniedrigt. Und doch wieder – wer erschrickt nicht ber dieses scheinbare Widerspiel? „man hat ihm Unschtzbares zu danken“, ihm, das heißt den „geistlichen Menschen“, den Mçnchen und Ordensbrdern, obschon diese durch die Pflege der Zerstçrten und Wildgewordenen in ihren „seelischen Zuchthusern“ an der Verschlechterung der europischen Rasse gearbeitet haben. Das „Gleich vor Gott“, das die Christusreligion predigt, ist es, was Nietzsche’s vornehmer Seele so zuwider war, daß es ihn blind machte gegen die Lichtseiten jener Lehre. Denselben Widerwillen, aus demselben Grunde, empfand er gegen den „Menschen der Zukunft“, von dem „die heutigen socialistischen Tçlpel und Flachkçpfe“ trumen. Nietzsche stellt der Philosophie die hçchsten Aufgaben, die unter Menschen mçglich sind; sie soll nicht bloß Lehrerin, sondern Lenkerin der Menschheit sein. Man denkt hierbei an Plato, der so Vielen bloß als metaphysischer Trumer erscheint, obwohl er von der Hçhe der Spekulation herab nichts Geringeres als die unwandelbaren Lebensformen seines Volkes zu schaffen unternahm. Der wahre Philosoph soll, auch nach Nietzsche, Werthe schaffen, sein Erkennen ist Schaffen, sein Schaffen Gesetzgebung. Es liegt eine erschtternde Tragik darin, daß der Mann, der sich gegen das gemeinsame Mitleiden als eine Verzrtelung zum Buddhismus auflehnte, nun selber diesem Mitleiden anheimgegeben ist. Aber es kann nicht anders sein. So hoch der Genuß war, sich unter den leuchtenden Bildern zu ergehen, die jener wahrheitsdrstende und schçnheitstrunkene Geist aus den „Dingen“ herauszugestalten wußte, so tief nun die Wehmuth ber sein Schicksal. Auch das kann ja nicht anders sein, daß uns jetzt aus manchem jener Bilder ein verstçrter Zug entgegen zu starren scheint, und daß die in Nacht gehllte Gestalt des Bildners selber ihre unheimlichen Schatten auf ihre Schçpfungen wirft. Die Erinnerung an ihn wird aber nicht so bald in Nacht versinken; wenn sie, als Geschichte, die Thaten und Werke der Menschen bucht, wird sie am „Fall Nietzsche“ nicht stumm vorber gehen.
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Reaktionen Franz Overbeck an Heinrich Kçselitz, 26. 9. 1889: „Mhly hatte auch zwei hçchst panegyrische und jedenfalls gut gemeinte Aufstze ber Gçtzendmmerung und ber ,Fr. Nietzsche‘ berhaupt in der Mnchner Allgemeinen und in der Gegenwart erscheinen lassen.“ Bernoulli, Carl Albrecht: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft. Jena 1908, Bd. 2, S. 337
Berg, Leo: Friedrich Nietzsche. Studie. In: Deutschland. Wochenschrift fr Kunst, Litteratur, Wissenschaft und soziales Leben. Berlin, Nr. 9 und 10, 1889, S. 148 f, 168 ff. Friedrich Nietzsche. Studie von Leo Berg. I. Als zu Anfang dieses Jahres, kurz nach dem Erscheinen der letzten beiden Schriften von Friedrich Nietzsche („Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem“ und „Gçtzen-Dmmerung, oder Wie man mit dem Hammer philosophiert“)293 die Kunde von der geistigen Erkrankung des Verfassers sich verbreitete, da konnte man in litterarischen Kreisen und Zeitschriften oft hçren und lesen: Es sei eigentlich nicht zu verwundern, daß Nietzsche irrsinnig geworden sei, da er in seinen vielen Schriften und namentlich den beiden letzten, hinlnglich bewiesen habe, daß er, wenn er es nicht schon sei, es doch mindestens zu werden im Begriff stehe. Was bei ihm so konsternierend wirkte, das war nicht sowohl die Neuheit und Khnheit seiner Ideen, denn die begriff man wohl zunchst gar nicht, als vielmehr die litterarische Gewissenlosigkeit des Schriftstellers, in jedem folgenden Buche ber sich selbst hinauszuwachsen und sich selber zu widersprechen und zu widerlegen. Man darf vielleicht das Khnste, man darf alles wagen, aber man muß – so will es das litterarische Gewissen – sich selber treu bleiben, d. h. das einmal Gesagte in tausend Variationen immer wieder sagen. So findet man sein Publikum, so bildet man sich eine Gemeinde, so hat man Glauben und Erfolg zu erwarten. Aber heute scheinbar das Paradoxeste zu wagen, und morgen, nachdem eben erst die fortgeschrittensten Leser einen mhsam begriffen, sich gleichsam selbst davonzufliegen und ganz Neues, ganz Entgegengesetztes zu behaupten, mit einem Wort: den freien und auch von sich selbst 293 Beide bei C. G. Naumann in Leipzig erschienen.
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freien Schriftsteller, den will man schließlich nicht mehr begreifen, den will man nicht gelten lassen. Friedrich Wilhelm Nietzsche ist am l5. Oktober l844 in Rçcken bei Ltzen geboren. Seine erste Schrift, die er als ordentlicher Professor der Philosophie in Basel 1872 hat erscheinen lassen, und die vielleicht bis auf den heutigen Tag seine berhmteste geblieben, ist namentlich durch ihre Beziehungen zur Wagnerschen Sache bekannt geworden. „Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik“ ist jedenfalls eine der schçnsten und geistvollsten Schriften, die je ber dieses Thema geschrieben ist, und durch die Wagners Musik-Drama eine Beleuchtung und Interpretation erfahren hat, wie kaum je vorher (auch durch Wagners eigene Schriften nicht). In bereinstimmung mit J. L. Klein, dem genialen Verfasser der „Geschichte des Dramas“ sieht Nietzsche in schylos den grçßten und eigentlichsten Ausdruck des griechischen Dramas, und in Euripides, den nach Aristoteles und Lessing „tragischsten der Tragiker,“ den offenbaren und vollstndigsten Typus seines Niederganges. Er kennt zwei Grundgattungen der griechischen Kunst, die „dionysische“ und die „apollinische“ Kunst, die er auf die beiden Grundinstincte des Rausches und Traumes zurckfhrt. Aber er erkennt im Gegensatz zur herkçmmlichen Auffassung, nicht in der „apollinischen Kunst“ (im Maß und in der Ruhe) – alles nur Zeichen einer spten und greisenhaften Kultur – sondern in der „dionysischen“ das Wesen des Griechischen! „Wie viel mußte dies Volk leiden, um so schçn werden zu kçnnen!“ Denn alles große Leiden und alle große Leidenschaft, die nach Otto Ludwig isoliert, abhebt und individualisiert, verschçnt auch. Auch unsere Kultur, die uns der Fhigkeit großer Leiden und Leidenschaften verlustig gemacht hat, ist greisenhaft und berlebt. Daher die Sehnsucht nach Ruhe und Heiterkeit, oder, wie man noch lieber sagt, nach „Objektivitt“ in der Kunst. Die Anwendung auf Wagner, dem diese Schrift gewidmet war, ergab sich nun leicht von selbst. Abgesehen aber auch von der Originalitt und Gedankenflle dieser Schrift, sie berrascht vor allem, ja sie fasciniert geradezu durch die Schçnheit ihrer Diktion, die unwillkrlich den Vergleich mit derjenigen Platos wachruft. Eine so durchgeistigte, eine so bilderreiche und anschauliche und zugleich so abgerundete und klare Sprache findet man nicht bald wieder in irgend einem deutschen Buche: und in mancher Beziehung nimmt es auch eine ganz einzige Stellung unter den Nietzscheschen Schriften ein. Whrend in den spteren Werken oft eine gewisse Teufelei ihr Spiel treibt, und whrend vor allem die Vorliebe fr einen konzisen, epigrammatischen Stil den Schriftsteller sich oft in lauter Aphorismen verlieren lßt: hier ist das Ganze noch einheitlich in der Form, wie eine schçne Blume aus einem einzigen Stengel, dem Grundgedanken, emporgeblht. „Der platonische Dialog,“ heißt es, und dies gilt fast wçrtlich auch von Nietzsches Aphorismenstil, „war gleichsam der Kahn, auf dem sich die schiff-
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brchige ltere Poesie samt allen ihren Kindern rettete: auf einen engen Raum zusammengedrngt und den einen Steuermann Sokrates ngstlich unterthnig, fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die an dem phantastischen Aufzuge dieses Bildes sich nie satt sehen konnte.“ Aber das war Nietzsches Verhngnis, der Steuermann, dem er htte unterthnig sein kçnnen, war nicht einer, sondern viele, Philosophen und Knstler: und so mußte denn sein Fahrzeug, das oft zu gleicher Zeit nach den verschiedensten Richtungen hin gelenkt werden sollte, am Ende umschlagen und zu Grunde gehen. Auch muß, man, will man ihn verstehen, wie in Plato, so auch in Nietzsche niemals den Dichter bersehen. II. Unmittelbar nach dieser Schrift von der Geburt der Tragçdie erschienen vier Stcke „Unzeitgemße Betrachtungen“ (1873–1876). Sie behandeln: „David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller,“ „Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben,“ „Schopenhauer als Erzieher“ und „Richard Wagner in Bayreuth“ (letztere Schrift auch in franzçsischer Ausgabe erschienen). Von diesen Schriften ist wohl unzweifelhaft die zweite die fr Nietzsche bedeutungsvollste. Im allgemeinen aber reichen sie weder inhaltlich noch formell an seine brigen Werke heran. Zwei Bnde „Menschliches, Allzumenschliches“ aus den Jahre 1876 und 1877 sind im folgenden Jahre (1878) als ein Band „dem Andenken Voltaires geweiht und zur Gedchtnisfeier seines Todestages“ erschienen, und wurden 1879 und 1880 durch zwei weitere Bnde „Vermischte Meinungen und Sprche“ und „Der Wanderer und sein Schatten“ komplettiert.294 Der Nebentitel lautet: „Ein Buch fr freie Geister.“ Mit diesen Werken beginnt der eigentliche, oder, wie man will, der uneigentliche Nietzsche. Ein „großer Hagel Eis und Weisheit“. „Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben,“ heißt es einmal: und hier in diesem Buche findet sich auch die Stelle, die zur Lçsung des „Problems Nietzsche“ mit allen seinen Widersprchen und Absonderlichkeiten, seinen Bosheiten und berschwenglichkeiten am besten dienen mag: „Wem es aber bei der Anschauung einer solchen Betrachtungsart“ nmlich der in scharfgeschliffenen Sentenzen, „gar zu winterlich zu Mute wird, der hat vielleicht nur zu wenig Feuer in sich: er mçge sich indessen umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschlge not thun, und Menschen, 294 Hierher gehçrt auch die Sentenzensammlung: „Morgenrçte. Gedanken ber die moralischen Vorurteile“ (1880 – 81, neue Ausgabe 1887), die zugleich als die Brcke zu den spteren moral-philosophischen Schriften Nietzsches anzusehen ist.
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welche so aus Gluth und Geist ,zusammengeknetet‘ sind, daß sie kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug fr sich finden kçnnen. Ueberdies: wie allzu ernste Einzelne und Vçlker ein Bedrfnis nach Leichtfertigkeiten haben, wie andere allzu Erregbare und Bewegliche zeitweilig schwere niederdrckende Lasten zu ihrer Gesundheit nçtig haben: sollten wir, die geistigeren Menschen eines Zeitalters, welches ersichtlich immer mehr in Brand gert, nicht nach allen lçschenden und khlenden Mitteln, die es giebt, greifen mssen, damit wir wenigstens so stetig, harmlos und mßig bleiben, als wir es noch sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter als Spiegel und Selbstbesinnung ber sich zu dienen?“ Die spteren Werke Nietzsches haben dies nach zwei Seiten hin bewahrheitet. Das nchste, das in vier Bnden geplante, aber erst in dreien erschienene „Also sprach Zarathustra. Ein Buch fr alle und keinen“ (Chemnitz (1883–84) atmet eine Glut der Empfindungen, wie nur wenige Dichterworte von heute. Der Inhalt dieser drei Bnde ist in ein Wort zusammenzudrngen: es ist „der ber-Mensch“, den Zarathustra lehrt; eine hçhere Gattung von Mensch, die sich aus der gegenwrtigen Menschheit entwickeln soll. „Nicht fort sollst Du Dich pflanzen, sondern hinauf !“ Der Mensch von heute, das ist nur der verkrppelte Rest einer vergangenen Schçpfungs-Epoche, oder die Voraussetzung zu einer hçheren Stufe der Menschheit, „eine Brcke zum ber-Menschen.“ Dieser Gedanke ist in allen Variationen besungen; denn es sind in Wahrheit Gesnge, Hymnen auf den ber-Menschen, manchmal zu pomphaft und berschwenglich, aber meistens von einer blhenden Pracht, von einer berflle des Stils, auch von einer Rhythmik und Plastik der Sprache (oft sich widersprechend freilich und antagonistisch wirkend), aber auf jeden Fall so poetisch und von so eigenem Zauber, daß man von diesen Gesngen fast alles das sagen mçchte, was Nietzsche spter von Wagners Kunst gesagt hat: es ist eine berreife, berladene, es ist eine „Decadence – Kunst. “ Nietzsche hat brigens außer seinen philosophischen und kunstwissenschaftlichen Schriften auch poetische Werke herausgegeben: einen „Hymnus auf das Leben“ und „Lieder des Prinzen Vogelfrei“ (als Anhang zu der Schrift: „Die frçhliche Wissenschaft“ 1887). Ein Beispiel fr Nietzsche, den Dichter, aus den Schlußgesngen Zarathustras auf die ewige Wiederkunft: „Wenn ich dem Heere hold und allem, was Meeresart ist, und am holdesten noch, wenn es mir zornig widerspricht: „Wenn jene suchende Lust in mir ist, die nach Unentdecktem die Segel treibt, wenn eine Seefahrerlust in meiner Lust ist: „Wenn je mein Frohlocken rief: „Die Kste schwand, – nun fiel mir die letzte Kette ab“ – „– das Grenzenlose braust um mich, weit hinaus glnzt mir Baum und Zeit,
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wohlan! wohlauf! altes Herz! – „O, wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brnstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, – dem Ring der Wiederkunft? „Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, o Ewigkeit! „Denn ich liebe dich, o Ewigkeit!“
Das ist Hymnenstil, aber wie gesagt, ein schwerer, berladener. Doch dieser Gesang klingt aus in den Gesang aller unserer besten Geister: „Eurer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel, – das unentdeckte, im fernsten Meere! „Was Vaterland! Dorthin will unser Steuer, wo unser Kinder Land ist! Dort hinaus, strmischer als das Heer, strmt unsere große Sehnsucht!“
Und mit unseren Naturalisten, die man flschlich und thçrichterweise „Pessimisten“ nennt, spricht Zarathustra: „O meine Brder bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fllt, das soll man auch noch stoßen! „Das Alles von heute, das fllt, das verfllt: wer wollte es halten! – – – – – – – – – – – – – – –– „Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir – schneller fallen!“
Die Quintessenz Nietzsches aber, und damit leite ich zu seinen letzten Schriften ber, ist folgender Gesang, den ich zitiere, weil er am besten die Eigentmlichkeiten seines Stils veranschaulicht, und zwar im bçsen sowohl wie im guten: „Warum so hart? sprach zum Diamanten einst die Kchenkohle; sind wir denn nicht Nah-Verwandte? „Warum so weich? O meine Brder, also frage ich euch; seid ihr denn nicht – meine Brder? „Warum so weich, so weichend so nachgebend? Warum ist soviel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? So wenig Schicksal in eurem Blicke? „Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie kçnntet ihr einst mit mir – siegen? „Und wenn eure Hrte nicht blitzen und schneiden und zerschneiden will: wie kçnntet ihr einst mit mir – schaffen? „Die Schaffenden nmlich sind hart. Und Seligkeit muß es euch dnken, eure Hand auf Jahrtausende zu drcken wie auf Wachs. – „ – Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben, wie auf Erz, – hrter als Erz, edler als Erz. Ganz hart allein ist das Edelste. „Diese neue Tafel, o meine Brder, stelle ich ber euch: werdet hart!“ – – –
Gegen die Glut der Empfindungen, die sich in den Reden und Gesngen Zarathustras verrt, hat sich Nietzsche, wie gegen die schçne Leidenschaftlichkeit, mit der er sein erstes Buch von der Geburt der Tragçdie geschrieben hat, seine Sentenzen ber das Menschliche, Allzumenschliche: jetzt seine großen moral-philosophischen Werke „Jenseits von gut und bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ (1886) und „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“
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(1887)295 als khlende Eisumschlge verschrieben; Eisumschlge die von der Glut des erhitzten Kçrpers allmhlich selbst in Glut bergehen und wie fast alle Schriften Nietzsches am besten mit einer Flamme in einer Eisschale verglichen werden kçnnen. Diese beiden Schriften sind jedenfalls die reifsten seiner Werke, ihr Stil der virtuoseste, den je ein deutscher Schriftsteller seit Heine und Schopenhauer geschrieben, und den beider hinter sich lassend: schrfer, noch mehr durchgeistigt und tiefer schneidend als derjenige des ersten, und schlanker, biegsamer, graziçser und elastischer als der des letzten, fast auf alle Gedanken und Empfindungen gestimmt. Jedes Ding schimmert hier gleichsam in allen Farben des Regenbogens, zugleich bestrahlt von der siegreich wieder hindurchgedrungenen Sonne. Man mag einst ber Nietzsche denken, wie man will, ber den Schriftsteller in ihm wird es bald keinen Zweifel mehr geben. Er ist der grçßte Virtuos der deutschen Sprache. Aber es hat auch noch niemand vor ihm sich mit solcher Souvernitt ber die Dinge hinweggeschwungen und sie immer aus der Vogelperspective herab betrachtet, als er. Das eben ist seine Grçße und sein Verhngnis. III. Fragt man nun: Was ist der Inhalt dieser Schriften? Was lehrt und was will Nietzsche? so ist diese Frage ungleich schwerer zu beantworten, als bei irgend einem andern Schriftsteller oder Philosophen. Denn er hat nirgends ein System aufgestellt und sich im einzelnen sogar hufig genug widersprochen. Die bewundernswrdige Feinheit und staunenswerte Tiefe dieses Philosophen liegt vor allem im Psychologischen. Die Kunst, Probleme zu stellen und Rtsel zu lçsen, in tiefste und ungeahnte Abgrnde der Seele hineinzuleuchten, um gleich im nchsten Augenblick wieder weite Perspektiven zu erçffnen und ber schwindelnde Ideen-Brcken hinwegzufliegen, das macht ja eben den Reiz und die Bedeutung seiner Schriften aus. Und dennoch: an einem Grundgedanken hlt er fest, von dem gleichsam alle seine Ideen und Axiome ausgehen, bez. zu dem sie alle zurckleiten, doch so frei, so blitzartig, daß es auf den ersten Blick in der That fast den Anschein hat, als schweiften sie nur, Kometen gleich, durch den Weltraum, zusammenhangsund regellos. Es giebt zwei Arten von Moralen, lehrt unser Philosoph: eine Herren- und eine Sklaven-Moral. Die Definition findet sich kurz zusammengedrngt, und vielleicht auch am klarsten, im Epilog zum „Fall Wagner“. 295 Beide bei C. G. Naumann in Leipzig erschienen.
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Gleichwohl darf man nicht zweifeln, welcher Art zu sehen unser Philosoph den Vorzug giebt. Er, der den „ber-Menschen“ prophezeit und berall die große, auf sich selbst gestellte Individualitt preist („die prachtvollen kçniglichen Einsiedler-Naturen“), vermag in der ganzen modernen Kultur nichts anderes als Verfalls-Typen zu erblicken. „Willenslhmung: wo fnde man heute nicht diesen Krppel sitzen! Und oft noch wie geputzt, wie verfhrerisch herausgeputzt!“ Und nun erst unsere Gelehrten mit ihrer Objektivitt, unsere Knstler mit ihrer interesselosen Anschauung, unsere Philosophen mit ihrer Moral des Mitleidens, unsere Weiber mit ihren modernen Emancipationsgelsten, – das alles sind dem Philosophen gefhrliche Anzeichen fr den Niedergang und die Verhßlichung der europischen Kultur. Der Philosoph soll also die Welt nicht vom moralischen oder christlichen Standpunkte betrachten, er steht „jenseits von gut und bçse“.296 Das Wesen des Philosophen definiert Nietzsche wesentlich anders, als dies gemeiniglich geschieht: „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen, so soll es sein! Sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfgen dabei ber die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller berwltiger der Vergangenheit, – sie greifen mit schçpferischer Hand nach der Zukunft, und alles, was ist und war, wird ihnen daher zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer.“ Er hat sie auch auf den Namen „Versucher“ getauft, und dieser Name paßt ganz besonders auf unseren Philosophen selbst, der mit geheimer Teufelei an alle modernen Erscheinungen herangetreten ist; und keine hat das Fascinierende in seinem Blick ertragen, seiner auflçsenden, zersetzenden und berckenden Kraft widerstehen kçnnen. Die beiden schçnsten Abschnitte in Nietzsches Vorspiel zur Philosophie der Zukunft sind der zweite und neunte: „Der freie Geist“ und „Was ist vornehm?“ – zwei Probleme, die er seiner ganzen Anlage nach am tiefsten und grndlichsten hat beantworten kçnnen. „Das tiefe Leiden macht vornehm, – es trennt.“ Wie Vieles, wie Tiefes hat Nietzsche leiden mssen, um so vornehm, um so frei, um so einsam, oder wie er selbst von den Griechen sagte, um so schçn werden zu kçnnen! Frwahr, es dnkt uns eine Vermessenheit, eine Frivolitt sondergleichen, die schließlich eingetretene geistige Umnachtung dieses seltenen Geistes wegen einzelner Widersprche und Absonderlichkeiten jetzt vorwitzig lngst vorausgewußt haben zu wollen! Der Schluß des Buches ist wieder in jener glhenden Leidenschaftlichkeit (glhend von einem geheimen, zurckgehaltenen, aber endlich doch immer wieder durchbrechenden Feuer) und schwungvollen Rede geschrieben, die wir 296 hnlich schon vor Nietzsche Max Stirner, der in vielen Dingen als direkter Vorgnger desselben bezeichnet werden darf. Vgl. „Der Einzige und sein Eigenthum“ (1845).
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schon an dem Erstlingswerke Nietzsches kennengelernt haben. Ein Nachtgesang: „Aus hohen Bergen“ bildet den Epilog. Die folgende Schrift: „Zur Genealogie der Moral “ ist im wesentlichen eine Ergnzungsschrift. Im allgemeinen werden hier nur die Konsequenzen gezogen, die dieses Buch fast noch khner machen. Hier befaßt sich der Philosoph endlich mit dem fr seine Lehre wichtigsten, dem Verbrecher-Problem, das Nietzsche fast von denselben Gesichtspunkten aus betrachtet, wie der Held am Eingang des Hauptromans von F. Dostojewskij „Schuld und Shne“. Nmlich: die Verbrecher, d. i. „die Brecher alter Tafeln,“ wie Zarathustra spricht, das sind die eigentlichen Kulturschçpfer, sofern das Verbrechen nmlich nicht eine Not, ein Laster, eine Krankheits-Erscheinung ist, was man ja auch im strengen Sinne gar nicht ein „Verbrechen“ nennen darf. Das Wort „Snde“ aber klingt den Ohren des Philosophen gerade so zuwider, wie unserem großen humoristischen Erzhler Gottfried Keller. „Damit ein Heiligtum aufgerichtet werden kann, muß ein Heiligtum gebrochen werden. Das ist das Gesetz – man zeige mir den Fall, wo es nicht erfllt ist!…“
Oder wie’s in der „Gçtzendmmerung“ heißt: „Die Gesellschaft ist es, unsere zahme, mittelmssige, verschnittene Gesellschaft, in der ein naturwchsiger Mensch, der vom Gebirge her oder aus den Abenteuern des Heeres kommt, notwendig zum Verbrecher entartet. Oder beinahe notwendig, denn es giebt Flle, wo ein solcher Mensch sich strker erweist als die Gesellschaft: der Korse Napoleon ist der berhmteste Fall.“
Merkwrdig! Derselbe Fall, auf den sich auch Raskolnikow sttzt, dem gleichfalls Napoleon der zum Siege gelangte große Verbrecher ist! Zum Schluß wird die Bedeutung asketischer Ideale untersucht, die Nietzsche als die Ideale einer morbiden, entarteten, gebrechlichen und pathologisch belasteten Gesellschaft erkennt. Diese kann keine großen, freien Individualitten ertragen. Ihr Schwchegefhl ist ihr gemeinsames Bindemittel. Denn: die Starken streben ebenso naturgemß auseinander, als die Schwachen zueinander. Nicht einmal zu einer „resoluten, ehrlichen Lge“ ist sie noch fhig. „Was das eigentliche Merkmal moderner Seelen, moderner Bcher ausmacht, das ist nicht die Lge, sondern die eingefleischte Unschuld in der Verlogenheit.“ Noch krasser und deutlicher spricht sich Nietzsche am angefhrten Orte im „Fall Wagner“ aus: „Diese Unschuld zwischen Gegenstzen, dies gute Gewissen in der Lge ist vielmehr modern par excellence, man definiert beinahe damit die Modernitt. Der moderne Mensch stellt biologisch einen Widerspruch der Werte dar, er sitzt zwischen zwei Sthlen, er sagt in einem Atem ja und nein …. Aber wir alle haben, wider Wissen, wider Willen, Werte, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe, – wir sind, physiologisch betrachtet, falsch… Eine Diagnostik der modernen
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Seele – womit begçnne sie? Mit einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt-Widersprchlichkeit…“
Die Verbrecher sind am Ende die „ganzeren“, wahrhaftigeren Menschen! Und selbst der asketische Priester, was ist er anders als das letzte Aufflackern des Willens zur Macht in einer kranken Gesellschaft? – das Machtgelst des Kranken ber Kranke, die letzte Vergewaltigung des gebrochenen Menschen. IV. Bei Nietzsches letzten Schriften kçnnen wir krzer verweilen, nicht, weil sie weniger reich an tiefen Gedanken und entzckenden Aussprchen oder weniger genial geschrieben sind: aber es sind doch teils nur Variationen lterer, wenn auch neu beleuchteter und besser formulierter Gedanken, teils verlieren sie sich in Einzelnheiten und rein persçnlichen Dingen, auf die wir doch hier ohnedies nicht eingehen kçnnen. So gewhrt die Schrift ber Wagner das hçchste Vergngen erst dann, wenn man den persçnlichen Beziehungen Nietzsches zu Wagner nachgegangen ist und beobachtet hat, wie es diesem freiesten der freien Geister vor allem darauf ankommen mußte, sich von dem Zauber, den Wagner auf ihn lange Jahre hindurch ausgebt hat, zu befreien. Wagner bedeutete fr Nietzsche ein Stck Unfreiheit, und deshalb schrieb er gegen ihn, wie er gegen Plato und Schopenhauer, die einst so begeistert Gepriesenen, geschrieben hat. „Ich mache mir eine Erleichterung“ hebt er an, und „diese Schrift ist, ich hoffe, man hçrt es, von der Dankbarkeit inspiriert“ beschließt er sie. Auch das braucht nicht gesagt zu werden, daß ein so tiefer Kenner der Wagnerschen Musik, ein Philosoph, der einst „so gefhrlich mit der Wagnerschen Sache verwachsen war,“ auch in einer Gegenschrift, wohl Ungerechtes, Einseitiges, niemals aber Flaches oder Gleichgltiges ber ihn aussagen wird. Das alles sind wunderbar tiefe, wenn freilich auch subjektive Bemerkungen. Aber wenn ein Philosoph von der Art Nietzsches ber einen Knstler vom Range Wagners seine persçnlichen Erlebnisse mitteilt, dann wird dieses wohl ber ein rein subjektives Interesse fr die beteiligten Kreise, d. h. Knstler und Musikschriftsteller, hinausgehen und einen Betrag zur Erkenntnis beider abgeben! In der letzten Schrift zieht Nietzsche endlich das Facit der modernen Kultur. Das Resultat ist: „Gçtzendmmerung.“ „Diese kleine Schrift ist eine große Kriegserklrung.“ „Der Krieg war immer die große Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordenen Geister.“ Dies Buch ist aphoristischer, abgerissener als irgend ein anderes, selbst die Sentenzen-Sammlung „Menschliches, Allzumenschliches“ nicht ausgenommen. Es sind hufig nur Aufschriften von Aphorismen. Es ist auch nicht ein ganz ehrlich gefhrter Krieg. Pfeile dringen von allen Seiten auf den Leser ein, oft, wo er sich ihrer am allerwenigsten gewrtigt, seitwrts aus dem Busch, von
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hinten, von oben – es ist ein wahrer Guerillakrieg. Aussprche wie: „Dante: oder die Hyne, die in Grbern dichtet“; „Schiller: oder der Moraltrompeter von Sckingen“; „Victor Hugo: oder der Pharus am Meere des Unsinns“; „George Sand: oder lactea ubertas, auf deutsch: die Milchkuh mit schçnem Stil“ u.s.w. finden sich, ohne irgend welche Erluterung oder Begrndung, in großer Zahl in diesem Buche. Aber, wer Nietzsche kennt und versteht, und wer vor allem diesen Dingen selbst nachgedacht hat, der liest aus diesen Buch- oder Kapitel-berschriften sich eben selbst ein ganzes Buch heraus. Einige Epigramme sind so frappierend, daß gar nichts Boshafteres, aber auch nichts Treffenderes ber den Gegenstand gesagt werden kann. Es sind Pfeile, die jedesmal mitten ins Schwarze treffen. Freilich, man muß von Pfeilen nicht erwarten, daß sie gleich die ganze Scheibe zertrmmern oder ihr Opfer in Stcke zerreißen! V. Unmittelbar nach dem Erscheinen der Gçtzendmmerung brach das Unglck ber Nietzsche herein. Was Wunder, daß man bereits diese Schrift als deutliches Anzeichen fr die bevorstehende geistige Umnachtung ihres Verfassers wollte erkannt haben und die „Dmmerung“ auf unseren Philosophen selber zurckbezog! Zumal, was man einem Schriftsteller immer am schwersten verzeiht, hier, wenn auch nicht mehr, so doch deutlicher als in irgend einem andern Werke, Selbstbewunderung und Grçßenwahn sich bemerkbar machten. Thatschlich sollten wir Deutschen speciell doch nachgerade an die Sprache der Selbstvergçtterung gewçhnt sein. Viel bescheidener haben Platen, Heine, Grabbe, Minckwitz, Hebbel u. a. gerade auch nicht von sich gedacht und gesprochen. Dazu kommt, daß in unlitterarischen Zeiten, in denen die besten Bcher kaum gekannt, geschweige denn gewrdigt werden, nichts erklrlicher ist, als daß die Verfasser am Ende selber von ihrer Bedeutung predigen. Aber was sollte man zu einem Schriftsteller sagen, der in allem Ernst behauptete, sein „Zarathustra“ wre das „tiefste Buch,“ das die Welt besitzt (Gçtzendmmerung 129), da es doch vielleicht nicht einmal das tiefste ist, welches die Welt von Nietzsche selber besitzt? Oder der bei einer Verschiedenheit der Auffassung ber das Hellenische zwischen sich und Goethe einfach zur Tagesordnung bergeht mit der Bemerkung: „Folglich verstand Goethe die Griechen nicht“ (a.a.O. 137)? Und vollends jener Brief an den Herausgeber des „Kunstwarts“ (II, 6), wo Nietzsche davon spricht, daß er in diesem Jahre, da er an der „Umwertung aller Werte“ schreibe, „das Schicksal der Menschen zu tragen habe!“ Und das sollte nicht Grçßenwahnsinn sein, unheilbarer Grçßenwahn! Genug, der Philister behielt wieder einmal recht. Das Schicksal war wider Nietzsche. Aber das Schicksal ist am Ende wider alles Große. Nur, daß es nie ein Beweis wider das Große ist!
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Die letzten beiden Schriften sollten nur Erholungs- und Erheiterungsschriften sein, eine Vorbereitung auf Grçßeres. Nietzsche wollte eine Physiologie der Aesthetik schreiben, fr die er, der mit den Knsten auf so vertrautem Fuße stand, wie wenige, die heute ber Kunst schreiben, ganz besonders begabt und vorbereitet gewesen wre. „Das Gute ist leicht, alles Gçttliche luft auf zarten Fßen“; erster Satz seiner Aesthetik. Dann endlich und vor allem jene schon erwhnte Schrift, an der er bereits arbeitete, als ihn das Unglck ereilte, und welche sein Hauptwerk werden sollte: „Der Wille zur Macht. Eine Umwertung aller Werte“ . Wieviel hiervon immer schon geschrieben sein und noch ans Licht kommen mag, wie immer jene Werke auch geartet sein mçgen: der Verlust fr die deutsche Litteratur ist ein unermeßlicher! Wenn man hochmtig und vorschnell ausgerufen hat: Was hatte man von diesem Buche auch zu erwarten! Eine Umwertung aller Werte! Als ob das nicht die Arbeit aller Philosophen und Knstler gewesen wre! – so beweist dies schon allein, wie wenig man bei uns gewillt ist, der großen Aufgabe eines großen Menschen gerecht zu werden. Prinzipiell und bewußt thun und wollen, was freilich vordem schon Tausende – aber unbewußt und nur bruchstckweise – gethan haben, – eben das kann ja bereits die Grçße und Bedeutung eines Philosophen oder Knstlers ausmachen! Oder drfte man nicht mehr von Kants „Kritizismus“ reden, weil eben alle Gelehrten und Philosophen ein kritisches Verfahren angewandt haben! Aber daß die Zeit fr Nietzsche noch nicht gekommen sei, das hat niemand besser gewußt als er selbst: „Es ist hier noch eine Stunde zu frh fr mich. Mein eigener Vorlufer bin ich meinem Volke, mein Eigener Hahnenruf durch dunkle Gassen.“
Denn das ist eben das Schicksal aller zu frh geborenen und zu hoch geflogenen Geister, deren Wesen er einmal an anderer Stelle so schçn also formuliert hat: „Wie die Wolken uns verraten, wohin hoch ber uns die Winde laufen, so sind die leichtesten und freiesten Geister vorausverkndend fr das Wetter, das kommen wird. Der Wind im Thale und die Meinungen des Marktes von heute bedeuten nichts fr das, was kommt, sondern fr das, was war.“ –
Nietzsches Gedanken aber gleichen den Winden, die hoch ber uns laufen. Hier oben ist die Luft kalt und schneidend, aber auch hell und rein, wie sonst nirgends. Sie wirkt nervenerfrischend und geiststrkend auf alle, die den Mut haben, hinaufzusteigen in die Regionen dieses khnen Philosophen.
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Hansson, Ola: Nietzscheanismus in Skandinavien. In: Neue Freie Presse. Wien, Nr. 9031 vom 15. 10. 1889, S. 1 ff. Nietzscheanismus in Skandinavien. Es ist nun bald zwanzig Jahre her, seit Georg Brandes an der Kopenhagener Universitt seine Vorlesungen ber die Geschichte der Literatur whrend des jetzigen Jahrhunderts begann. Die Buch – Serie „Hauptstrçmungen im neunzehnten Jahrhundert“, die aus diesen Vorlesungen entsprang, steht nun wie ein Markstein zwischen zwei Epochen der skandinavischen Schçnliteratur. Was am Tage vorher actuell und lebendig gewesen, rckte auf einmal weit weg und verlor seine Farbe; die nachromantische Literatur erschien dem jungen Geschlechte wie ein saft- und lebloser Organismus, wie gepreßte Blumen und Petrefacte, Prparate in Spiritus und auf Radeln, whrend jenseits der Grenzscheide eine neue Vegetation plçtzlich und ppig emporschoß. Georg Brandes ging in jenen Tagen ber den ganzen Norden wie ein Semann des Geistes; Alles, was seitdem in den Nordpol-Lndern aussproß und blhte, ist aus dem Samen entsprungen, den er auf die Erde warf. Die Werke der neuen Dichter waren Ableger seiner „Hauptstrçmungen“; von diesem reichen Baume schnitt jeder sein Zweiglein, das er auf seine eigene Individualitt propfte; aus seinen Principien wuchsen Wesen von Fleisch und Bein, Lebensgeschichten und Menschenschicksale empor. Norwegens beide große Dichter, Ibsen und Bjçrnson, verließen das IdeenDrama und das Bauern-Idyll und warfen sich ber sociale Probleme, welche die Actualitt des Tages besaßen; Kjelland wanderte mit seinem koketten Seciertisch in allen Salons umher und las unter großem Damenzulauf Colleg in der Gesellschafts-Anatomie; Drachmann’s Geist kochte und siedete von Unterdrckerhaß und Misericordia-Stimmungen; Schandorph, der mit seinem jovialen, groblinigen Biedermannsgesicht lange die blaue Blume angeugelt, ließ sich resolut unter kleinen Dorfleuten nieder und schrieb Schilderungen in Teniers’scher Manier; J.P. Jacobsen verließ die Kruter des Feldes, ber die er frher gelehrte Abhandlungen geschrieben, um mit naturwissenschaftlicher Grndlichkeit die wunderliche Vegetation abzuzeichnen, die ihr einsames Leben in den Menschenseelen lebt und ber die seine eigene Sehnsucht und Trumerei sich wie ein heißes, krankhaftes, tiefes Rosenroth breitete. Der große Grundgedanke und Gesichtspunkt des Brandes’schen Buches war der: das neunzehnte Jahrhundert sei rckwrts gegangen und der rechte Cours blos zu finden im Anschlusse an die Traditionen des achtzehnten Jahrhunderts. Erschreckt durch die Feuersbrunst und den Straßenlrm der großen Revolution und verwundet durch das Hohnlcheln Voltaire’s, hatte der Menschengeist, der Genius der Geschichte, sich in die Nacht und Nebel der Romantik geflchtet,
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war den Krebsgang gegangen, ohne es selbst zu bemerken, oder auf ’s Geratewohl umhergeirrt, und im Haupthaar Adam Homo’s hatte sich all das alte Ungeziefer, das die Revolutionsnacht in Blut weggesplt, von neuem weitergezeugt ins Tausendfltige. Die Literatur, die ihre Nahrung aus diesem Ideengrunde sog, musste nothwendigerweise das Geprge: demokratisch und oppositionell tragen. Es handelte sich darum, einen Strom abzudmmen, ein Vorurtheil niederzustrecken, eine Wahrheit anzupflanzen; die Dichter fhlten sich als Streiter des Geistes, schlossen sich um den Huptling zusammen und gingen als Schaar vor mit der alten Devise: Freiheit, Gleichheit und Brderlichkeit auf ihrer Fahne. Vor sich her trug man einen Fetisch, den man von England hinbergefhrt – das Bild eines Mannes, der Stuart Mill hieß; aus den Bchern dieses Mannes, die – charakteristisch genug – der Huptling selbst durch Uebersetzung beim skandinavischen Publikum eingefhrt, holte man gute Schlagworte von „politischer Freiheit“, „Emancipation des Weibes“ und „altruistischer Moral“. Es kam zu gewaltigem Kampfe und großen Spectakel im ganzen Norden; die Mauerbrecher schlugen lustig los im Sonnenaufgang, und der Staub stand in Wolken ber den Baustellen; die letzte Thr wurde mit Getçse gesprengt, und die junge streitbare Schaar strzte ins Allerheiligste, wo die Gçttin der Freiheit ihren Zauberschlaf schlummern sollte. Aber man hatte sich thatschlich verrechnet: keine stolze Jungfrau, wie die Tempelstrmer sie sich getrumt, in Marmormajestt mit jungen Formen fand man vor. Aber im allerinnersten Gemach, das einer Werksttte glich, stand eine wunderliche Figur, halb Dorfschulmeister und halb Bauer und zum Ueberfluß in einen alten Frauenrock drapirt. Zu gleicher Zeit, als dieser Umschlag in der Literatur des Nordens sich vorbereitete und anfing, gingen in allen drei skandinavischen Reichen Bewegungen in der innern Politik vor sich, die durch ihre demokratische Natur und Tendenz sich als nahe verwandt mit der literarischen erwiesen. In Schweden hatten schon seit den Sechziger-Jahren die Bauern sich zu Herren des Landes gemacht mittelst der Umformung der Standesvertretung in einen ZweikammerReichstag. In Dnemark erçffnete die Folkethings-Majoritt einen hartnckigen und jahrelang siegreichen Kampf gegen das Ministerium Estrup. In Norwegen schließlich setzte das Bauernthum sich sogar auf den Minister-Tabouretten fest unter dem krzlich gefallenen Sverdrupschen Regiment. In allen drei Lndern verknpften die literre und politische Linke sich zu einer großen, umfassenden Fortschrittspartei; Dichter und Politiker gingen Hand in Hand als Brder und Kampfgenossen. Dann kamen die grauen Niederschlagstage mit Feigheit und Fiasco ber der ganzen politischen Linie. Die schwedische „Landmannpartei“ that dar, daß sie keine anderen Interessen hatte, als standesçkonomische; das demokratisch-reformatorische Programm, auf das sanguinische Kçpfe jahrelang gewartet hatten,
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schrumpfte ein zu einer Schillingsfrage von ausgesprochen prosaischer Art. In Norwegen rieb sich die Vergoldung bengstigend rasch vom Ministerium Sverdrup herunter; eines Tages war die phrygische Freiheitsmtze vom Haupt des vergçtterten Chefs weggeblasen, und vor dem berraschten Lande entblçßte sich ein idealer Spießbrgerkopf. In Dnemark versanken die Oppositionsmnner bis an den Hals in eine ohnmchtige Protestpolitik, und die Regierung hat nun schon seit Jahren auf eigene Hand Steuern eingetrieben und Festungen gebaut, ohne das die Vertreter des „Volkes“ und der „Freiheit“ mehr ausgerichtet htten, als Protest zu erheben. Ueberall Kurzsichtigkeit, Sterilitt, Ohnmacht, fette Phrasen und aufgeblhte Schlagworte, ein Streben ohne wrdige Schçnheit und Ideen ohne Tiefe und Tragweite. Diese Bauernverdummung durchsuerte das ganze geistige Leben Skandinaviens. Sie blies sich auf zur Autoritt, setzte sich breitbeinig in die Richtersthle und dictirte Gesetze mit wichtigthuerischer Idiotie. Sie maß und wog, wie Krmer Leinwand messen und Schnupftabak wgen, maß und wog mit eigener Elle und eigenem Gewicht, was seiner Natur nach nicht gemessen und gewogen werden kann. Es roch nach Krmern ber ganz Skandinavien, und die Ideale, die wie das klarste Gold geleuchtet hatten, erwiesen sich als schlechtes Kupfer. Im Bunde mit diesen Rittern von der traurigen Gestalt fing die Dichtung an, rckwrts zu gehen. Sie wurde zu Wasser und Jargon. Wer Aufwand mit vielen und starken Worten machen konnte, war Dichter par prfrence, und der Parnaß ward zu dem Kanaan der Mittelmßigkeit, das von Milch und Honig floß. Die Literatur wurde Predigt, und die Brder von der Presse sangen zu dem monotonen Text das Amen und Hallelujah. Die starken Geister, die echten Begabungen, die ausgeprgten Persçnlichkeiten zog man hinab in die Reihe mit dem Durchschnittsmaß von Hinz und Kunz, die lauteren Tçne, die reinen Harmonien, die guten Stcke wurden bertubt von den Tonbungen indignirter Damen und den lrmenden Prestationen literarisch impotenter Herren auf allen Arten von Blech-Instrumenten der Opposition… Eines Tages im vorigen Herbst stand derselbe Mann, dessen Wort vor zwanzig Jahren rundum in Skandinavien gezndet und Licht gebracht, wieder auf einem Katheder der Kopenhagener Universitt. Wieder entblçßte er einen Zeitgedanken, funkelnd wie eine Klinge, die aus der Scheide gezogen wird; aber es war ein seltsamer Anblick, wie er seinen guten Stahl gegen das vielkçpfige Ungeheuer schwang, das aus seinen eigenen Spuren aufgewachsen war, die er dem Boden eingedrckt, da er vor zwanzig Jahren ging und sete. Er las ber Friedrich Nietzsche; mag sein, daß er sich nicht in Allem solidarisch mit der Lebensanschauung des geschilderten Dichter-Philosophen machte; man konnte sich darber nicht tuschen, daß die Wrme im Vortrag aus tiefliegenden Sympathien aufstieg, aus einem intim verwandten Element. Georg Brandes hatte sich in den zwei Jahrzehnten, whrend welcher die von ihm
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hervorgerufene geistige Bewegung sich ber den Norden verbreitet und ins Volk hinabgedrungen war, mehr und mehr dem entfremdet gefhlt, was man sein eigenes Werk nannte. Aus dem frischen Springquell war ein stagnirender Sumpf geworden; was ursprnglich das freie schçne Gewand seines eigenen Geistes gewesen, hatten alle Winkelschneider des Nordens nach ihrem Muster zugeschnitten. Auf seinen metallblanken Gedanken saßen die Fingerspuren schmutziger Taglçhner; rund um ihn plapperten die Marktpropheten seine eigenen Worte sinnlos, sklavisch, entstellt und abgeplattet nach, und als er sich einen Weg durch den Schwarm bahnte, um wieder zu sich selbst und ins Freie zu gelangen, erregte er bçses Blut. Jetzt haßte ihn die Gemeinde, wie sie Alles haßt, was sich ber ihre Kçpfe erhebt und nicht unter ihr bleiben will; und selbst fhlte er Ekel und Spott. Und eines Tages stand er frei auf der Hçhe und redete begeisterte Worte ber diesen deutschen Propheten, fr den die Mill’sche Moral nichts ist, als das Krankheitssymptom einer degenerirten Zeit; diesen „radicalen Aristokraten“, der alle großen freiheitlichen Volksbewegungen in der Geschichte, die Reformation, die franzçsische Revolution, den modernen Socialismus zu Sklavenauflufen herabsetzt und die Behauptung wagt, daß die millionenfachen Millionen der Nationen nur dazu da sind, um ein paar Mal in jedem Jahrhundert die große Persçnlichkeit hervorzubringen. Die Dichter, welche die Brandes’sche Bewegung reprsentirten, hatten einer Gesellschaftsordnung gehuldigt, die auf dem Principe der Gleichstellung ruhten: der Gleichstellung zwischen den Classen, Gleichstellung zwischen den Geschlechtern; in der Moralfrage war kaum Einer von der christlichen Grundanschauung und ihrer im Norden besonders ausgeprgten asketischen Tendenz ganz frei geworden. Und plçtzlich trat Nietzsche’s Geist unter sie, und was er verkndete, war das strenge, stolze Gesetz von Herren, vor dem die Masse sich beugen und zu dessen Fßen das Weib liegen soll; er stellte den Satz auf, der Weg der Entwicklung bedrfe aller Stufen der Ungleichheit; er bereitete in seinen Bchern eine „Umwerthung aller Werte“ vor, unter deren Schlaglicht die christliche Moral mit ihrem Mitleids- und Liebesprincipe wie ein Ausschlag der Herrschaft der Sklavenkasten, der Schwachen, der Kranken, Verkrppelten, Hilfsbedrftigen erschien. Diese seine Vorlesungen ber Nietzsche waren Georg Brandes zweiter großer Einsatz in die Cultur des Nordens. Und die zweite That kann sich an Bedeutung wol mit der ersten messen. Wie vor zwanzig Jahren eine ganze Dichterphalanx sich um die „Hauptstrçmungen“ zusammenschloß, so hat auch der Verkndiger des Nietzscheanismus seine neue Saat schon aufgehen und Frucht ansetzen sehen. 1870 waren es Krethi und Plethi, die sich lrmend um den Freiheitsmann zusammendrngten; nun ist es die Elite – die nie nach Ziffern zu messen ist – die seinen Spuren folgt, den Markt verlsst und, gleich Nietzsche’s Zarathustra, sich auf die Berge zurckzieht, damit ihre wilde Weisheit in der Einsamkeit trchtig werde.
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Der erste Proselyt, den der erste Kritiker des Nordens machte, war der erste Dichter des Nordens. Es gibt auch keinen, dessen Leben eine solche Vorbereitung fr diese Bekehrung gewesen wre, wie August Strindberg. Whrend aller Phasen seines sturm- und wechselreichen Lebens war er der Einsame gewesen, nach dem der eine oder andere Parteischwarm hackte oder Steine warf. Er war gesteinigt worden von den Gesellschafts-Rechtglubigen, von den Social-Demokraten, von den Liberalen; mit wunder Seele, aber aufrechter Stirn wanderte er seinen Feuerweg durch den Pçbel. Nietzsche’s gutes, starkes, trotziges Evangelium zndete augenblicklich in seiner Seele, und im vorigen Winter schrieb er seine Erzhlung „Tschandala“, bei deren Erscheinen die skandinavische Presse nur eine Geberde hatte, die beredteste Geberde der vollkommenen Verstndnislosigkeit: ein stupides Mundaufsperren. Das Buch ist eine moderne Tendenzschrift im Gewande des historischen Romans. Es hat sich aus dem Leben eine Illustration zu dem Nietzsche’schen Text von der Heerde und der großen Persçnlichkeit geholt. Das historische Colorit ist gleich Null, die eigentliche Intrigue ganz trivial, und im Norden weiß jeder Mensch, daß der Dichter das Motiv aus seinem eigenen Leben genommen. Der gelehrte Magister Andreas wird von einer Pçbelfamilie in ein Netz von Rnken eingesponnen, aus dem er sich blos dadurch rettet, daß er seine eigene Intelligenz mit erdrckender Wucht auf die unwissende Sklavenseele seines Gegners fallen lsst. Das Große und Schçne in der Erzhlung liegt darin, daß Strindberg’s Dichtergenie den banalen Alltagsconflict zu einem weiten Symbol fr zwei mchtige Zeitstrçmungen emportrieb, so daß wir unter dem uninteressanten Geznk zwischen dem Menschen Strindberg und einem gewçhnlichen Schuft in grandioser Perspective den Kampf erblicken, der durch Jahrhunderte zwischen Aristocrat und Plebejer, Aria und Paria, Hirn und Hand gefhrt worden ist. Die Scenen legen sich ber einander und thrmen sich auf zu einem Tempel in Nietzsche’schen Styl, und ganz oben hat der Dichter als funkelnde Krone das Wort des weisen Mannes gesetzt: „Tschandala soll ganz unten liegen als wrmender, nhrender Dnger, damit der Adelsstamm der Arier emporwachsen und seine Blume tragen kçnne, einmal alle hundert Jahre, gleich der Aloe“. Vor einigen Tagen erschien in Kopenhagen ein Roman: „Ein Politiker“ von Dr. Eduard Brandes, dem Bruder des Literatur-Historikers. Der Held des Romans ist in der Enge skandinavischen Kleinlebens aufgewachsen, vom Leben hat er nicht einen Pfennig eingemnzt, und er glaubt schon obenauf zu sein, da er sich als Privatlehrer das allernothdrftigste Auskommen verschafft. Da er indessen eine gelufige Zunge und demokratische Gesinnungen besitzt, wird er vom Parteihaupt der Linken zum Folkethingsmanne wrdig befunden, poussirt und gewhlt. Er verheiratet sich mit einem jungen Mdchen, das in dem „Politiker“ en vogue die gute Partie liebt. Aber die Folkethingsopposition fhrt sich fest, der „Politiker“ avancirt nie weiter, als bis zum Gemeinen in Reih’ und
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Glied, und um das Unglck voll zu machen, offenbart sich in ihm ein ebenso großer Mangel an ehelichen wie an politischen Talenten. Seine junge Frau sucht Ersatz fr die zerstçrten Illusionen bei dem Jugendfreunde ihres Mannes, der sowol die hinreichenden çkonomischen wie persçnlichen Eigenschaften besitzt, um einem genußschtigen Weibe die Thr zu allen Gemchern des Lebens zu çffnen. – Der Verfasser dieses Buches hat als Mitglied des dnischen Folkethings selber activ Theil am Verfassungskampf genommen. Er hat als Kritiker in der anerkannt ersten Zeitung Skandinaviens wie kein anderer alle guten und echten Elemente in der nordischen Literatur gewrdigt und ermuntert. Er hat in einer Reihe von Dramen, die auf den ersten Scenen der drei Lnder aufgefhrt worden, das nordische Bourgeoisie-Leben secirt und Erbitterung und Begeisterung hervorgerufen. Und um diese ganz ungleichartige Wirksamkeit hat seine Persçnlichkeit ein zusammenhaltendes Band gelegt. Er ist ganz und gar Verstand, reiner Verstand, nichts als Verstand, idealer Verstand. Er ist scharf und klar wie das helle Tageslicht, und nichts Anderes als das, aber dafr verkçrpert sein Geist es auch in seiner idealisirtesten, typischesten Gestalt. Er ist unbestechlich wie das Tageslicht, unbarmherzig wie das Tageslicht, vor ihm liegt die Welt da wie unter der Mittagssonne, ohne Schatten, um sich darin zu verstecken, aber auch ohne Frische. Zugleich aber ist sein Verstand so geschmeidig, so dehnbar, so cultivirt bis zum Raffinement, daß er sich ber alle Gebiete des Lebens erstrecken und mit einem gewissen sprçden Verstndniß es in allen Aeußerungs-Nuancen umspannen kann. Es ist bezeichnend, daß ein Geist wie der Eduard Brandes’ sich von der neuen Strçmung hat ergreifen lassen. Whrend Strindberg in seinem Nietzscheanistischen Roman an einen verwunderten Lçwen erinnert, der sich zornig und mhneschttelnd erhebt, sieht man beim Lesen von Eduard Brandes den kalten, ironischen Blick, der mitten durch das Gewebe von bewusster Prderie und unbewusster Beschrnktheit dringt, worunter die „volksfreundlichen“ Bestrebungen ihre Krppelgestalt verbergen. Strindberg declamirt mit großen Gesten, Ed. Brandes lacht hinter der Brille das halb verschlagene, halb gutmthige Lachen des Skeptikers ber diesen „Politiker“, der gegen die Tyrannei zu Felde zieht in einem Panzer von Floskeln, mit einem durchsichtigen Visir, hinter dem die naiven Zge eines Phrasenmachers hervorstehen. Strindberg betont das Herrenrecht der Intelligenz gegenber der aberglubigen Dummheit und die offene Noblesse des Ariers gegenber der schleichenden Verlumptheit der Paria; Ed. Brandes zndet alle Lampen des vollen, strahlenden Lebens an und entblçßt in dieser mçrderischen Beleuchtung die zwergartige Gestalt, die froh und dumm die Gattin dem Hausfreunde berlsst, um sich tiefer in unfruchtbare politische Kannegießereien zu verbohren. Sein Mann ist im Grunde ein bloßer Biedermeier, trotz seines modernen Ueberrockes, und seine Dame wird nicht ein bischen feiner dadurch, daß er sie in gelbe Seide kleidet. Und doch, obgleich die Seide und der kurze Ueberrock unzweifelhaft in den Augen
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des Verfassers bezaubernde Symbole fr alles, was gut und fein ist, sind, so ist doch dieser Contrast zwischen einem Leben in Phrasen, die in Ideen umgetauft werden, und einem Leben in Liebesflle und der Sßigkeit des echten, guten Genusses, zwischen dem Plebejer, der von Allen und in Allem an der Nase gefhrt wird, und dem epikureischen Lebenssnger ein Contrast, der, wenn auch oberflchlicher und unter engeren Gesichtspunkten als bei dem schwedischen Dichter, die selbe vernderte Werthschtzung des Lebens verrth, dieselbe Ausstellung anderer Ideale und denselben Frontwechsel. Die skandinavische Literatur scheint neue Bahnen befahren zu wollen. Sie strebt aus der Oberflche des Alltagslebens und den engen Horizonten des Partei-Dogmatismus hinauf zu den Gesichtspunkten, von denen das Leben sich in der Vogelperspective berblicken lsst, und hinab in die Tiefen, von denen es ausstrahlt, als aus seinem Mittelpunkte.
Hansson, Ola: Friedrich Nietzsche. Die Umrisslinien seines Systems und seiner Persçnlichkeit. Kritischer Entwurf. In: Unsere Zeit. Leipzig, Bd. 2, Nr. 11, 1889, S. 400–418. Friedrich Nietzsche. Die Umrisslinien seines Systems und seiner Persçnlichkeit. Kritischer Entwurf.297 Es gibt nichts, wem Nietzsche’s Dichtung so hnlich ist wie dem Meer, dem großen Meer. Das Meer – das ist der endlose Fernblick, das Symbol der Unendlichkeit, das Grenzenlose fr Auge und Gedanke. Das Meer – das ist der bestndige Wechsel, der unsterbliche Proteus, der sich jeden Augenblick hutet und sich noch niemals in die Hnde des Verstandes gab. Das Meer – das ist das Unergrndliche, das mystisch Lockende, die Daphne, der die Menschheit von Ewigkeit her nachsetzte, und die mal auf mal fangen ließ, um den Liebenden zu necken, der sich glcklich glaubte, und ihren Zauber aufs neue an anderen auszuben. Das Meer – das ist die grandiose Schçnheit der Majestt in Mondscheinnchten, in Sturmtagen und Morgenrçthen; das grçßte aller Raubthiere der Erde, ein sagenhaftes Raubthier, aus schumendem Rachen brllend, daß sein Echo ber die Welt rollt; eine Riesenschlange, die sich um die Lnder schnrt, glitzernd und blinkend in der Sonne mit ihrer feuchten, 297 Eine vernderte Fassung des Aufsatzes erschien im Mrz 1890 in der Frankfurter Zeitung vom 9. und 11. 3. 1890. Eine weitere Bearbeitung, kompiliert aus Hanssons Artikeln, ließ Ernst Wilhelm Fritzsch im Juli 1890 als selbstndige Schrift erscheinen: Hansson, Ola: Friedrich Nietzsche. Seine Persçnlichkeit und sein System. Leipzig, 1890.
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blanken Haut. Das Meer – das ist der große Einsame, der Eremit im Schweigen der Wste mit jahrhundertelangen Monologen. Das Meer – das ist, was da war seit dem Ursprunge der Zeiten, der Urembryo von allem Seienden, der trchtige Allmutterschoß. Das Meer – das ist das gierige wilde Thier, das Leben verschlingt, wie es Leben zeugt, gedankenlos, gleichgltig, unbekmmert; auf seinen langen Wogen rollt es Leichen und junges Leben durcheinander, Schçnheit und Auswurf. Das Meer – das ist der stolzeste aller Herren, dem alles gering ist und der mit den Menschen spielt, wie die Riesenkinder der Sage. Das Meer – das ist schließlich die ewige Gesundheit, das beste Salz und der Sauerteig der Geschlechter, das Bad, dem die Menschheit immer wieder verjngt entsteigen kann. Das alles ist das Meer. Darum gibt es nichts, wem Nietzsche’s Dichtung so gleicht wie dem Meer, dem großen Meer. I. „Unzeitgemße Betrachtungen.“ – „Die Geburt der Tragçdie.“ Nietzsche zog zum ersten male die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich durch eine Kritik ber David Strauß („David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller“). Das Buch ist ein einziges Durchhecheln. Nietzsche geht so unsanft zu Werke, daß am Schlusse kein Stein von dem Strauss’schen Gebude brigbleibt und das Strauss’sche Ideal in Fetzen hngt wie eine Vogelscheuche. Strauss ist ein schlechter Stilist, ein schlechter Forscher, weder ein bahnbrechender Geist, noch ein classischer Schriftsteller – das ist das Ergebnis dieses monographischen Pamphlets. Was war und bezeichnete Strauß fr Nietzsche? Warum wurde gerade er das Opferthier, das der junge Huptling ohne Heer den zornigen Gçttern schlachtete? Er war der Bildungsphilister – ein Ausdruck, an den Nietzsche schon in seinem ersten Buche mit Stolz den Anspruch auf Vaterschaft erhebt. Der Bildungsphilister – das ist der geistige Tagelçhner, der Plebejer in der intellectuellen Gesellschaft, das jmmerliche Seitenstck zum Arbeitersklaven. Er meint, die hçchste Gewißheit sei ein fr allemal von den verstorbenen nationalen Grçßen gefunden. Die verstorbenen großen Mnner verehrt er als diejenigen, welche die Wahrheit gefunden haben, nicht als die, welche die Wahrheit gesucht haben. Mit krummen Rcken rackert er sich ab im Schweiße seines Angesichts. Er hat einen unversçhnlichen Feind vor allen anderen: die freie Intelligenz, den großen Einsamen, der nicht auf der Landstraße zu finden ist, den suchenden Geist, den die Philister der Zukunft ihrerseits als denjenigen anbeten werden, der gefunden hat. Er ist groß in Worten, um zu verbergen, wie klein er in Thaten ist; er ist khn in Kleinigkeiten, aber er weicht zurck vor weitreichenden Folgerungen (z. B. ein Darwinist, der das Papsttum, das Wunder, die
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Auferstehung als „welthistorischen Humbug“ angreift, statt die ethischen Ergnzungen zum Darwinismus zu ziehen). Er liebt die Unfruchtbarkeit, da er glaubt, daß die Wahrheit gefunden ist. Fr ihn ist das Culturideal bereits in der modernen Bildung erreicht. Der einzige Ausschlag von geistigem Leben, dessen er selbst mchtig ist, und deshalb der einzige, den er an andern duldet, ist: die epigonenhafte Nachahmung der klassischen Meisterwerke und die sklavische Abbildung des gleichzeitigen Alltagslebens, alles andere ist Contrebande. Strauß war fr Nietzsche der Bildungsphilister an sich, aller Philister Haupt und Abgott. Er ist der Philister als Religionsstifter, der zum Schwrmer gewordene Philister, der Verknder des traurigen Evangeliums der Philistercultur. Nietzsche’s nchste Arbeit war eine Kritik ber das historische Studium der Gegenwart („Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben“), Er findet, daß es bertrieben und daß es verschroben betrieben wird. Es ist zu keinem Nutzen, außer als Befruchtung, als Zukunft zeugend. Die Gegenwart leidet an einer Uebersttigung durch historische Bildung; sie ist nichts als Wissensluxus, bunte, bergehngte Lappen; der moderne Mensch ist durch sie als Persçnlichkeit geschwcht worden, Er ist ein bloßer Zuschauer geworden, ohne Vermçgen zur Initiative, ein unfruchtbarer Eunuch, eine fleischgewordenes Nachschlagebuch, daß sich mit dem Goldschaum der Objektivitt schmckt, ein concretes Abstractum. Indem die Gegenwart die Geschichte zur reinen Wissenschaft macht, handelt sie nach dem Wahlspruche: „Fiat veritas, pereat vita“. Der gepriesene historische Sinn macht das Geschlecht passiv und retrospectiv. Man prahlt damit, alles zu verstehen, alles objectiv zu nehmen, den Ursprung von allem zu kennen; man kann sich ber nichts mehr erzrnen, denn alles ist mit Nothwendigkeit, wie es ist. Man kann nichts vorzugsweise lieben, denn man ist gleich empfnglich fr die eigenthmliche Schçnheit jeder Stilform Der Mensch steht auf der Spitze der ungeheuern Entwicklungspyramide, als Schlußstein des Weltprocesses, als das Wesen, in dem dieser Prozeß zum Bewußtsein seiner selbst gelangt ist, und indem er von dieser imponirenden Hçhe die Entwicklungskette sich rckwrts bis in den Urschleim abrollen sieht, ruft er voller Stolz: wir sind am Ziele, wir sind die vervollkommnete Natur! Aber hierauf antwortet Nietzsche: „Dein Wissen vervollkommnet die Natur nicht, es tçdtet blos deine eigene. Miß einmal deinen hohen Standpunkt als Wissender mit deinem niedrigen Standpunkte als Kçnnender“. Ein historisches Phnomen, das in ein Wissensphnomen aufgelçst worden, ist unfruchtbar fr den, der es analysirt hat: es hat seine Keimkraft verloren, wie das zu Mehl zermahlene Korn. Die ausschließlich kritische Auffassung der Geschichte ist eine Lebensabrechnung der Menschheit, eine Schlußrechnung, hinter der keine Zukunft folgen kann. Die gepriesene Bildung der Gegenwart ist keine Bildung, sie ist nur ein Wissen um Bildung. Sie kann Gelehrte und Philister hervorbringen, aber sie kann nicht Menschen schaffen, Individuen, welche ihrerseits Geschichte machen, diese Kmpfer gegen die Geschichte, gegen die factische
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Wirklichkeit, die sich wenig um das „So ist es“ bekmmern, um mit ihrer ganzen aufgesparten Energie und Lebenslust nach ihrem starken, trotzigen, bejahenden „So soll es sein!“ zu handeln. In dieser negativen Form von Kritik und Satire hat Nietzsche zwei positive Ideale aufgestellt: eine neue Cultur und neue Menschen. Man braucht nur die Medaille umzukehren, um statt der Caricatur des bekmpften Ideals das Geprge des neuen Bildes zu finden. Und auf der leeren Baustelle, wo das alte Haus gestanden, fhrt Nietzsche in seinen zwei folgenden Arbeiten ein vollstndiges Gebude im neuen Stile auf („Schopenhauer als Erzieher“, und „Richard Wagner in Baireuth“). Die Cultur, der das Geschlecht nachstreben soll, die echte Cultur, die Cultur der Zukunft, findet sich vorgebildet in Wagner’s Kunst, und Menschen, die im Stande sind, diese Cultur durchzufhren und lebendig zu machen, kçnnen gebildet werden in Schopenhauer’s Schule. Bei diesen beiden Meistern kçnnen wir lernen „unzeitgemß“ zu werden, uns gegen unsere Zeit zu erziehen. Sie sind die großen und guten Beispiele, nicht blos in ihren Werken, sondern im Leben. Sie besitzen die Ehrlichkeit, die nicht aus Rcksicht schielt; sie haben die Munterkeit des Siegers. Sie haben ihre Brust khn der Zeit entgegengestellt; sie sind in die Wste gegangen und waren nicht bange allein zu sein. Sie sind die Starken, die siegend aus allen Gefahren hervorgingen. Sie sind der moralischen und intellectuellen Verknçcherung entronnen; sie ließen sich nicht in die Form kneten, die den gebildeten Menschen des Tages als die einzig richtige galt; sie stellten in sich selbst das Vorbild dar fr das Geschlecht der Zukunft. Sie waren die echten Culturvergegenwrtiger, gegenber den unzhligen kleinen Propheten der „Bildung“, diesem goldenen Kalbe, um das die Zeitgenossen tanzen, dem Gçtzenbilde, das die Spießbrgerer in ihrem Allerheiligsten aufgestellt und vor dem die Plebejer den Rcken krmmten. Es war ein barbarischer Gott, diese „Bildung“, ein Fetisch in bunten Flicken aus aller Herren Lnder, mit Zgen aus allen Zeitaltern der Geschichte. Er war lustig anzusehen, aber unter dem Flitter lag ein mit Lumpen und Abfall ausstaffirtes Skelet. Dieser „Bildung“ galt es die rechte Cultur gegenberzustellen; eine Lebenskraft, die aus einem Centrum wirkt, einem Herzen in alle Teile des Organismus, die alles, Großes und Kleines gestaltet in Uebereinstimmung mit dem lebendigen Typus: Leben, Denken, Kunst, Sitte, Tracht, Rede. Denn Cultur ist der einheitliche Stil in allen Lebensußerungen eines Volkes; und was das moderne Leben kennzeichnet, ist gerade Stillosigkeit, die chaotische Vermischung aller Stile. Cultur ist etwas anderes als eine Dekoration des Lebens, „Cultur ist eine neue und vervollkommnete Physis, ohne Außen- und Innenseite, ohne Verstellung und Convention“, eine alles durchdringende Einheitlichkeit. Der Durchschnittsmensch kann aus eigener Kraft sich zum Trger einer solchen Cultur nicht erziehen; dazu bedarf er der Lehrer, der Helfer, der großen Beispiele. Solche Lehrer, Helfer und große Beispiele sind Schopenhauer und
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Wagner, der eine mit seiner metaphysischen Betrachtung des Daseins, der andere mit seiner tragischen Geistesstimmung. Das, wodurch der Mensch sich vom Thiere unterscheidet, ist sein Vermçgen, sich ber sein Leiden durch die metaphysische Auffassung des Daseins zu erhçhen. Alle Entwicklung sollte darauf ausgehen, vom Thiere zum Menschen emporzusteigen. Aber gewçhnlich bleiben wir auf der Stufe des erstern stehen; nur in ganz einzelnen Augenblicken erheben wir uns hçher. Selbst sind wir zu schwach dazu; wir mssen von andern emporgehoben werden, und diese andern sind die Nicht-mehr-Thiere, die Philosophen, die Knstler, die Heiligen. Blos sie kçnnen uns die großen Fernblicke ber das Leben vermitteln, die metaphysische Betrachtungsweise, die tragische Geistesstimmung. Das ist der Grundgedanke aller Cultur: den Philosophen, den Knstler, den Heiligen zu erzeugen. In unserer gewçhnlichen Geistesverfassung kçnnen wir diese Aufgabe nicht verrichten, und deshalb hassen wir uns; das ist die Wurzel zu dem Pessimismus, den Schopenhauer seiner Zeit aufs neue lehren mußte, obgleich er so alt ist wie die Sehnsucht nach Cultur – ihre Wurzel, aber nicht ihre Blte, ihr Anfang, aber nicht ihr Ziel. Wagner ist in seiner Kunst ein solcher Lebensverkndiger, wie die echte Cultur es sein muß. Er fhrt das Ungleichartige zusammen, aber er durchdringt es mit Seele und mit seiner Seele. Er verknpft das Getrennte zur Einheit: Musik und Leben, Musik und Drama. Er vertieft das Sichtbare zu einem Hçrbaren, er gibt dem Hçrbaren Kçrper. Der Schopenhauer’sche Allwille, der in der Natur nach Dasein drstend liegt, tritt durch Wagner als der Wille zu tçnendem Dasein hervor. Aber dasselbe seelische Phnomen, das Wagner in Ton umsetzt, setzt er zugleich in Worte und Gesten um; er gibt ihm eine dreifache Form, er lßt es sich dreifach spiegeln. Wagner wirkt als Natur, wiederhergestellte, wiedergefundene Natur, „als eine neue und vervollkommnete Physis“, ganz wie die echte Cultur. Wagner und Schopenhauer waren also fr Nietzsche die beiden großen Zukunftsseher, in deren Fußspuren die Menschheit zu gehen hat, um in das gelobte Land der Zukunft zu kommen. Nietzsche stellt das Lebenswerk dieser beiden Heroen zusammen und findet, daß sie aus derselben Wurzel wchst, der er in die tiefen Erdschichten hinab folgt. Zwischen diesem Musiker, der dem Urprinzip der Natur zu tçnendem Dasein verhilft und den Allwillen erlçst, und diesem Philosophen, der uns dazu anleitet, die Verstandescultur in ihrer Unzulnglichkeit und Begrenzung zu erkennen, besteht eine Einheit, die fr Nietzsche ein Fingerzeig in eine neue Daseinsform ist, von der wir uns nur durch Vergleiche aus dem hellenischen Leben eine Vorstellung machen kçnnen. Diese Beobachtung schwoll in Nietzsche zu einer ganzen Weltlehre, einer metaphysischen Welterklrung auf mystischem Hintergrunde an. Nietzsche hat sie dargestellt im Rahmen einer Untersuchung vom Ursprunge der griechischen Tragçdie aus der Musik. Die Grundlinien sind folgende:
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Die Welt ist nur gerechtfertigt als sthetische Erscheinung. Nur insofern das Subjekt Knstler ist, ist es vom persçnlichen Willen erlçst; es ist dann ein Medium geworden, in welchem und durch welches das blos wirklich seiende Subjekt seine Befreiung in der Scheinwelt feiert. Freilich ist unser Bewußtsein von dieser unserer Bedeutung kaum ein anderes, als die auf der Leinwand gemalten Krieger es von der auf derselben dargestellten Schlacht haben kçnnen. Blos wenn das Genie in dem knstlerischen Schçpfungsacte mit dem Urknstler zusammenschmilzt, der im Centrum des Weltalls wohnt, erhlt es eine Art Kenntnis von seiner Aufgabe und dem Wesen der Kunst; denn in diesem Zustande ist es dem Antlitz gleich geworden, von dem die Sage erzhlt, daß es seine Augen so drehen konnte, das es in sich selbst sah. Der Knstler ist in einem solchen Augenblicke zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer. Apollo ist fr Nietzsche der erklrende Genius des principium individuationis, d. h. des Schopenhauer’schen Willens zum Phnomen-Dasein. Durch ihn allein kann die Befreiung in der Scheinwelt erreicht werden. Aber daneben gibt es eine andere Art von Kunst, deren Symbol Dionysos ist. Unter dem mystischen Jubelrufe des Dionysoscultus springen die Fesseln der Verpersçnlichung, und der Weg in den innersten Kern der Dinge, in den Mutterschos des Seins liegt offen. Die Musik ist Dionysos’ Kunst, im Gegensatze zu den apollinarischen Knsten. Die letztern sind Abbilder der Erscheinungswelt, des Scheindaseins, whrend die Musik das Abbild des Willens selbst ist und als solches das Metaphysische dem Physischen, das Ding an sich seiner Scheinform gegenberstellt. Der Berhrungspunkt zwischen dem knstlerischen Schçpfungsmoment auf der einen und der Schopenhauer’schen metaphysischen Betrachtungsart sammt Wagner’s tragischer Gemthsstimmung auf der andern Seite liegt blos. Was Nietzsche unter der Bezeichnung Dionysoscult und Socratischer Wissensoptimismus gegenberstellt, ist nichts anderes als der Gegensatz zwischen Mystik und Rationalismus. Seine Darstellung betont die Ueberlegenheit des erstern; Nietzsche selbst erscheint als romantischer Vollblutmystiker. Die unendliche Welt des Unbekannten ist dem Menschengeiste zugnglich in ihren abgelegensten Winkeln und verborgensten Falten, nicht dem Verstande des Denkers, sondern der Intuition des Knstlers, sei es des dionysischen Knstlers oder des apollinarischen. II. „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister.“ Der Tod seines Wagner-Glaubens war die große Krise in Nietzsches Leben. Als er den stolzen Helden seiner Jugend, den Sieger, den Erstgeborenen der Cultur der Zukunft vor dem Kreuze des Mittelalters niedersinken sah, da wurde
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seiner Seele eine Wunde geschlagen, die nie ganz vernarbte. Es fiel auf einmal wie Blitzeshelle ber die dunklen Gebiete, die er verlassen; er empfand Schreck, als sei er, ohne es zu wissen, mitten durch eine große Gefahr gegangen, und einen namenlosen Ekel darber, die Schtze seiner Jugend auf ein drres Feld geworfen zu haben. Er war ein Kranker, ein Todkranker, welcher doch noch Lust zu leben und Kraft, gegen die Krankheit anzukmpfen hatte. Er packte seinen Ranzen und nahm den Wanderstab in die Hand, schlug die Thr seines alten Hauses hinter sich zu und ging hinaus in die Welt. Er streifte umher in allen Regionen des Geistes als sorgloser Wanderer; er lag nicht mehr als eine Nacht in jeder Herberge, und wie schçn die Aussicht auch war, die sich vor ihm auftat, so war er doch nicht ganz sicher, daß sich nicht im nchsten Augenblick eine noch schçnere vor ihm aufthun kçnne. Nur vor Einem schauderte er: vor der Erinnerung an seine Heimat, vor den faulen Sumpfwiesen seines Jugendlandes. Unterdessen erholte er sich; und als er wieder vor das Volk trat, war sein Gesicht so verndert, daß man ihn kaum erkannte. Man kann das Buch, das seine neue Aera als Schriftsteller einleitet, nicht voll verstehen und genießen, wenn man nicht unmittelbar von den „Unzeitgemßen Betrachtungen“, und der „Geburt der Tragçdie“ dazu kommt. Freilich hat man ein Gefhl davon, daß es ein verstçrter Geist ist, der sich hier mitteilt: die eigenthmliche, aphoristische Form, in der alle Nietzsche’schen sptern Arbeiten geschrieben sind, ist hier schon voll ausgeprgt; und jeder dieser Aphorismen ist wie ein blutendes, zitterndes Stck einer zerrissenen Menschenseele. Aber zugleich liegt ber dem Buche jener unbestimmbare, unauflçsbare Duft und jene Helle, in denen der Genesende das Leben sieht – etwas von der Schçnheit eines Weibes, das aus dem Bade steigt. Die Nebeldmmerung des Mystikers ist zerrissen, hat sich aufgerollt und entschwebt fern hin am Horizont; um uns ruht das blasse Sonnenlicht des Vorfrhlings. Noch ist die Erde nackt, aber am Wegraine und hinter den Gehegen brechen schon die ersten grnen Spitzen hervor aus der gedngten Erde. Der Mann, der uns jetzt gegenber steht, hat tiefe Leidensfurchen in den Zgen; und selbst der Glanz seines Lchelns ist kalt wie blanker Stahl, und in dem durchdringenden Blicke seiner Augen verrth sich die Forscherlust, deren Rcksichtslosigkeit viel von Grausamkeit in sich hat. Er nimmt das Geziefer des unbewußten Seelenlebens unter sein Mikroskop; er spießt es an der Spitze seiner Gedanken, wie der Entomologe Insekten auf seine Nadeln. Meerluft, Bergluft, stiller und khler Morgensonnenschein, sorgloses Umherstreifen des Nomaden! Es gibt zwei Arten Poesie, sagt er: eine gelassene und harmonische und eine leidenschaftliche, berspannte, ungeregelte; die letztere ist fr den Jngling und das Weib, die erstere fr den reifen Mann. Das hçchste Ziel der Kunst ist, das Hohe, Einfache, Insichselbstruhende darzustellen. Der beste Stil ist nicht der superlativische oder der kunterbunte, sondern der, dessen
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Kennzeichen eine geadelte Alltglichkeit, eine vornehme Einfachheit ist. Das Ideal eines Dichters ist der, der das Verflossene, das handgreiflich Gegenwrtige verlßt und den Zukunftstypus darstellt: den gesunden, frohen, starken, schçnen Menschen. Alle guten Kunstwerke haben etwas Sorgloses, eine stille Beschaulichkeit: sie liegen wie Khe auf der Wiese. Und malt er selbst einmal eine Landschaft, so besteht sie aus einer unvergleichlichen Mischung von heroischer Hoheit und idyllischer Heiterkeit – eine Leinwand in Gold und Blau, lauter Sonne und Himmel. In die Einsiedlerhçhle des Mystikers scheint die Sonne – und beleuchtet Spinngewebe; die regenbogenfarbigen Trume des Romantikers reißt ihr Lichtspeer entzwei, sie waren nichts als Trume. Aber der Metaphysiker war doch der grçßte Schelm. Alle philosophischen Systeme der Geschichte waren Fata-Morganen, von denen eine nach der anderen die Menschheit gelockt und genarrt hat. Die Metaphysik verdunkelt den Text der Natur, statt ihn zu erklren. Sie ist der Todfeind des freien Geistes; sie ist ein verfeinertes Werkzeug des Obskurantismus. Die Empirie dagegen macht klug und einsichtig. Die Wissenschaft bedarf edlerer Naturen als die Dichtung. Der Dichter strebt blos danach, den Schleier der Ungewißheit ber die Dinge zu breiten; er knpft die Knoten wieder zusammen, die der Forscher aufgelçst hat. Und der Musiker – diese Kunst der Knste, diese Wagner’sche Kunst, die Prachtblume der dionysischen Cultur? Die Musik ist ein Herbstblatt, eine Herbstblume unter den Knsten; sie war zu allen Zeiten des Verschwindenden Schwanenlied. Der hçchste aller Seelenzustnde ist der frohe Ernst, das stille, khle Sonnenscheinlachen, eine Weisheit voller Schelmenstcke: – Sokrates war weiser als Christus. Ehemals waren die Menschen froh, jetzt wagen sie nicht hçher zu streben als zum Austrocknen aller Unlustquellen; die Alten verstanden sich zu freuen, wir blos dem Schmerz auszuweichen; unsere Nachkommen mssen ihren Vorvtern gleich werden. Es handelt sich darum, das bçse Gewissen aus der Welt zu schaffen, denn zu allen Zeiten lebten viele im Bçsen ohne Gewissen, whrend noch heutzutage viele gute Menschen das Lustgefhl des guten Gewissens entbehren. Die Gewissensqual gleicht dem Bisse eines Hundes in einen Stein, d. h. sie ist eine Dummheit. Das Alleridealste hat einen weit schandvolleren Ursprung, als man glaubt; es ist wie eine Prachtblume auf einer Unkrautwurzel. Der Kampf zwischen dem Philosophen und der Masse, das ist der Kampf zwischen der Lehre von der unbedingten Unfreiheit des Willens und der unbedingten Sittlichkeit; die Erkenntnis, daß der Wille unfrei und daß alles nothwendig ist, nicht blos das Menschliche, sondern auch das Allzumenschliche, d. h. das Unfertige, Schiefe, Bçse – das ist die strkste Erkenntnis. Uebrigens handelt es sich darum, in erster Linie das Prinzip der Unabgeschlossenheit allem religiçsen und philosophischen Dogmatismus gegenber zu betonen, alles dahingestellt sein zu lassen. Zugleich darf man nicht vergessen, daß es keine Gegenstze in der Natur gibt, sondern blos Gradunterschiede. Es gibt keinen
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radicalen Gegensatz zwischen gut und bçse, zwischen guten und bçsen Menschen, zwischen guten und bçsen Eigenschaften. Vor allem sollen wir nicht auf den Leim des großen Schelmen „Wort“ gehen: „jedes Wort ist ein Vorurtheil“ – sondern uns erinnern, daß das Wort blos das Ding bezeichnet, nie das Ding enthlt. Aber dieser Wanderer hat zuweilen die Grille, auf den Grund des einen oder anderen Dinges sehen, es um und um wenden zu wollen. Wenn dies Gelst ber ihn kommt, kann er ein Stck warmen und zitternden Muskelgeflechts aus dem menschlichen Geiste ausschneiden und es auf die Spitze seines Gedankens spießen. Dadurch erhalten wir die scharfsinnigste Analyse der Schadenfreude, der Rache, des Mitleids, des Schamgefhls, der Eitelkeit, der Uneigenntzigkeit u.s.w. III. „Morgenrçthe. Gedanken ber die moralischen Vorurteile.“ – „Die frçhliche Wissenschaft.“ Der Nomade setzt seine Wanderung fort. Aber wohin er auch wandert, er kommt schließlich zurck zu dem Orte, von dem er ausging. Er durchstreift nun dieselben Lnder zum zweiten male, erkennt alle Gegenstnde wieder und alle Aussichten, er verweilt mit sichtbarer Vorliebe an gewissen Stellen, die ihn am meisten angesprochen und von denen die Erinnerung am klarsten und vollsten vor seiner Seele steht, whrend er an tausend andern Sehens- und Merkwrdigkeiten vorbergeht. Und unterdessen wchst die Genesungsstimmung ununterbrochen. Die Frische und Stille des Morgens ruht ber seinen Gedanken und durchdringt sie; es ist auch Thauwind und Aprilwetter darin. Seine Seele schwillt und erhebt sich in einer Woge von Dankbarkeit und Jubel, von Lust am Leben, das ihm neulich unter die Fße sank und jetzt in neuer Schçne wie Aphrodite aus dem Meer steigt. Er ist ein Mensch, der den Rausch der Genesung getrunken; und whrend das Land der Zukunft mit lockenden Abenteuern und offenem Meere vor ihm liegt im Tagen des Morgenlichts, hngt alles Verflossene wie ein entschwindender kleiner, dunkler Punkt fern am Horizont in der Richtung, aus der er gekommen – der Nomade mit seinem Zelte und seinen Heerden. In der Stille eines frhen Morgens oder in der Frische eines sonnigen Vormittags liegt er vor seinem Zelte auf dem Grase der Oase, whrend seine Thiere um ihn weiden. Licht und Schatten spielen in seiner Seele, Wellen und Gefhle singen und die Gedanken tauchen lachend in ihnen auf und ab wie weiße Kçrper in dem blauen Wasser. Das ist das große Gebrechen der Erziehung und das Unglck des Geschlechts: es lernt nicht die Einsamkeit ertragen. Die Einsamkeit ist der beste Aufenthalt fr den Gesunden, den Freien, den Bejaher des Lebens, denn die
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Welt ist voll von den kleinen Rachschtigen, die die Sonne verdunkeln und das Leben verbittern. In die Einsamkeit gehen, das ist das Gute – nicht wie die Nonne, welche die Welt nicht kennt, die sie verlsst, sondern wie der Denker, welcher von den Menschen geht, weil er sie kennt – um sich in die Einsamkeit zu werfen als in sein rechtes Element. Blos der Furchtsame weiß nicht, was Einsamkeit ist, denn hinter seinem Rcken steht immer ein Feind. Es ist ein Mrchen zu leben, zu leben wie der Vogel, der kommt und davonfliegt und keinen Namen trgt in seinem Schnabel. Es gibt eine Zauberformel, von welcher, wie vor einem neuen „Sesam, çffne dich!“ die Pforten zu allen Prachtgemchern des Lebens aufspringen; sie lautet: Lebe gefhrlich! Baut euere Wohnungen auf dem Vesuv! Sendet eure Schiffe in unerforschte Meere! Liebt die kurzen Gewohnheiten und seid mistrauisch gegen alles, was sich in uns knpft, sich versteift, was fest und hart wird. Das Leben ist ein Mittel zur Erkenntnis, eine Welt von Gefahren und Siegen. Es ist mit der Strenge der Wissenschaft wie mit dem Ceremoniell der allerbesten Gesellschaft: sie schreckt den Uneingeweihten ab. Aber wer sich an sie gewçhnt hat, kann sie nicht entbehren und nirgendwo anders leben als in dieser klaren, durchsichtigen, stark elektrischen Luft, dieser mnnlichen Luft. Die Wissenschaft ist eine frçhliche Wissenschaft; warum soll die Maschine knarren? Es ist mit einem tiefen Problem wie mit einem kalten Bad: rasch hinein, rasch heraus! Der Philosoph sei anzusehen wie ein Tnzer: die Arbeit, die mechanische, seelenlose Handwerkerei des Tagelçhners hat zu hohen Curs, die wirkliche Vornehmheit gedeiht nur in otium und bellum: das war der stolze Satz der Antike. Die vornehme Natur ist unvernnftig, verwegen, tollkhn; es ist des gemeinen Menschen Kennzeichen, immer seinen Vorteil im Auge zu behalten und nie seine Berechnungsfhigkeit zu verlieren. Der stolze Weise hçrt mit voller Absicht nicht darauf hin, wie das Urtheil der Welt ber ihn lautet, sei es gut oder bçse; er gibt den Kltschern ein Jahr im voraus Absolution fr alle Snden gegen ihn. Die Menschheit ist aus dem Gleise gekommen und zurckgegangen seit der Antike, seit das Christenthum ber die Schwelle der Welt stieg. Seht auf den Schçnheitstypus der Antike und den modernen: der belvederische Apoll und ein nervçser Krppel. Seht auf die Architektonik des Seelenlebens: die Massenwirkung gegenber der harmonischen Einfachheit; das architektonische Symbol des modernen Seelenlebens ist das Labyrinth. Der Grundzug der Gegenwartscultur ist der kaufmnnische Gesichtspunkt. Die mechanische Plackerei wird verherrlicht, der Arbeiter thront im Hochsitze, Mittelmßigkeiten werden ausgebrtet wie Leichenwrmer, und vor uns erhebt sich das Gespenst des Plebejerthums. Die Reformation und die Revolution waren die beiden großen Treppenstufen zu der Arbeiterkaserne, an die die Gegenwart gerade die letzte Hand legt. An ihren Brsten hat sich der Pçbelgedanke großgesogen, jetzt zeugt er sich hundertfltig weiter in Demokratismus, Sozialismus, Utilitarismus, in
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praktischen Reformen und philosophischen Systemen. Eine Herrschaft der Ratten bricht an; sie kommt mit dem Siegestage des Sozialismus, dem Tag der „bestia triumphans“. Wir sind ein krankes, halbes, unausgetragenes Geschlecht von Krppeln, das seine seelische Jmmerlichkeit unter Moralbegriffen verbirgt, wie sein kçrperliches Elend unter Kleidern. Im Christenthume vollzog sich der Aufstand der Sklaven gegen die antike Philosophie; es setzte die Gemthsbewegungen wieder auf den Ehrenplatz: Liebe, Furcht, Glaube, Hoffnung. Es hatte einen plebejischen Zug; es war eine Vermischung der verschiedenartigsten Elemente, deshalb konnte es die Vielen an sich saugen. Wie es durch den Kunstgriff „Liebe“ zur lyrischen Religion wurde, so zog es durch den Kunstgriff „Hçllenstrafe“ alle Furchtsamen an sich. Es hatte einen orientalisch-weiblichen Charakter; man denke an den Satz: „Wen Gott liebt, den zchtigt er“ und erinnere sich an die orientalischen Frauen, die die Zchtigung als eine Ehrenbezeigung von seiten des Mannes auffassen. Es identificirte Unglck mit Schuld, whrend die Antike ein reines, schuldfreies Unglck kannte. Es brachte das Mitleid in Curs, diesen Schwamm, der das Mark der Menschheit verzehrt hat; aber die Rckseite des Mitleids mit des Nchsten Leiden ist der Neid ber des Nchsten Freude. Die Moral dieser Lehre war Balsam fr die wunde Antike; aber sie war Gift fr die gesunden Barbarenvçlker, denen sie eingeimpft wurde. Es ist die altruistische Moral, die alle ihre Gebote aus diesem Grundprincip ableitet, der Liebe zum Nchsten. Als ihre Dogmen eins nach dem anderen zerfielen, war es nur, damit dieser Keim sich desto strker entwickeln konnte. Und er wuchs auf – ein Baum, der die ganze Welt berschattet, und an diesem Baum hngen Frchte, welche die Weisen des Geschlechts nicht mde werden zu pflcken und mit allen guten Namen zu belegen. Die altruistische Moral ist die Moral der Ohnmchtigen, der Kranken, der Unterdrckten. Sie war daher zu allen Zeiten Gegnerin der Starken und Einsamen. Selbst leidet sie unter einem inneren Widerspruch; ihre Motive stimmen nicht mit ihrem Prinzip berein: „Der Nchste lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Vorteile hat“. Alle Moral hat ihr origo pudenda: Selbstsucht, Freude an verfeinerter Grausamkeit und andere Eigenschaften, die auf der moralischen Rangskala untenan stehen. Ein Trieb hat an und fr sich gar keinen moralischen Charakter; derselbe Trieb kann sich z. B. zu Feigheit und zu Demuth entwickeln. Die Unterwerfung unter die Moral ist an und fr sich nicht moralisch; sie kann durch Sklavensinn, durch Eitelkeit, durch Eigennutz, durch Resignation, durch Verzweiflung hervorgerufen sein u.s.w. Unsere moralischen Urtheile und Werthschtzungen sind blos Bilder und Phantasien ber uns unbekannte physiologische Prozesse. Deshalb ist z. B. die Moral des Schwachen mit physiologischer Nothwendigkeit eine andere als die der Starken, die Moral des Greises eine andere als die des Jnglings.
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Der Welt eine ethische Bedeutung zu geben, ist ebenso sinnlos, als der Sonne ein besonderes Geschlecht zu geben. Sittlichkeit ist Gehorsam gegen herrschende Sitten, und Sitte ist die ererbte Form von Handeln und Werthschtzen. Volksmoral und Volksmedicin gehçren zusammen. Das Gute ist das Alte, das Bçse ist das Neue. Darum ist der freie Mensch unsittlich. Es waren die starken und die bçsen Geister, die die Menschen vorwrts fhrten. Die Entwickelung des Moralbegriffs vollzieht sich durch Attentate auf das vorher Heiliggehaltene. Hier also liegt die Aufgabe fr den Moralisten der Zukunft. Fr ihn ist Moralitt nichts anderes als der Herdeninstinct des Einzelnen, den er in sich selbst unter dem krftigen Wachsthum seines persçnlichen Seelenlebens unterdrckt hat. Er ist der Starke, welcher nicht blos zu der geistigen Verknçcherung der geltenden Moral scharf „Nein“ sagt, sondern der auch seine eigene Lebensnorm als Keimtrieb der Zukunftsblume bejaht. Die Gewichte, mit denen bisher die Werthe gewogen wurden, mssen justirt und umgemacht werden. Es handelt sich um eine „Umwerthung aller Werthe“. Aber dazu bedarf es eines neuen Menschen, der wie ein Riese stehen kann unter den Pygmen, mit dem Muthe, Bahnbrecher, Gesetzbrecher, Tempelschnder zu sein; ohne Furcht vor den Verdammnisrufen und dem Rachegeschrei der Menge und ohne – das Schwerste von allem – durch seine eigene Gewissensqual gelhmt zu werden; – der Einsame, das Genie; der Wertheschaffer, der Gesetzgeber, der Bçse mit der Schçnheit der wilden Landschaft, dessen individuelle Seele sich kosmisch entwickelt, der eine ganze Zukunftscultur aus sich gebiert, der das scheinbar kleine Knuel ist, aus dem doch Geschlechter auf Geschlechter ihr Leben abspinnen kçnnen. Aber dieser Eine, der seine breite Brust gegen eine Welt setzt und gegen seine Zeit, er muß die Erzader zu finden wissen, die tiefer im Bergschachte liegt als alle jene, aus denen die Menschheit bisher ihre Schtze geholt, die Erzader, die ergiebiger ist als alle – – – Und der Nomade vor seinem Zelte erhebt sich, und die Sonne steht im Mittag, und rundumher schlafen die Wsten und hinter ihnen die Lnder und Vçlker. Und ber der Wste hngt eine Fata-Morgana, erst ganz blaß und wie verwischt, dann farbenreich und umrißlicher wie das wirkliche, concrete Leben. Und wieder fllt Asche ber die Pracht, aber das Bild ist wie eingetzt im Auge des Nomaden, und als er aufbricht mit seinem Zelte und seinen Heerden und wieder durch die Wste wandert, einsam, fern von den Menschen, da senkt es sich in seine Seele hinab und lçst sich in ihr auf zu einem dunklen Gegrbel, und in dem dunkeln Wasser dieses Grbelns spiegelt sich der unergrndliche Nachthimmel der Zukunft mit seinen großen, stillen Sternen: Eins gibt es, was die Urwurzel des Lebens ist, das Protoplasma, der Embryo, der sich gleich ist, gegenwrtig, unverndert in den wechselnden Formen der Aus- und Umgestaltung; – eine Grundkraft, ein Centrum, ein vorwaltender
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Trieb. Es ist das Machtgefhl. Das ist die treibende Kraft, in der Geschichte wie im Privatleben, in den Vçlkern wie in den Personen. Nicht die Noth, nicht die Leidenschaft – die Liebe zur Macht ist der Dmon der Menschheit. Die Mittel, die man entdeckt hat, sich dieses Lustgefhl zu verschaffen, machen fast die ganze Geschichte der Cultur aus. Sie ist es, die unter der Lehre von der Freiheit des Willens liegt. Sie ist es, die den Menschen treibt, sich selbst aufzuopfern. Sie beherrscht den Stoiker, der dem Zeremoniell folgt, das er sich selbst auferlegt, obgleich es ihn einengt, denn zugleich fhlt er sich dadurch als Herr. Sie ist die verborgene Triebfeder der Wohlthtigkeit. Die erste Wirkung des Glcks ist das Machtgefhl. Der Asket spaltet sich in zwei Ichs: ein leidendes und ein im Machtgefhl schwelgendes, da er den allmchtigen Trieb nicht an ußeren Gegenstnden befriedigen kann. Der Wille zur Macht ist der Ariadnefaden im Labyrinthe der menschlichen Seele. IV. „Also sprach Zarathustra. Ein Buch fr Alle und Keinen.“ Nietzsches erste Arbeiten, die vor die Krise fielen, hatten zwei Zentren, um die sie sich abgelagert, zwei Hauptideen: die neue Cultur und der neue Mensch, der jene lebendig machen sollte. Die ersten Arbeiten nach der Krise trugen als Kennzeichen den hellen Blick des Genesenden auf das Leben und die grausam durchdringende Analyse – die Sonnenscheinstimmung und die Insekten auf den Nadeln. Die Sonnenscheinstimmung verdichtet sich, bekommt Umrisse und wird eine Idealgestalt: der große Einsame, der große Bahnbrecher, der Niederreißer, der Lebensbejaher, der alle Werthe verndert; und die Analysen verdoppeln sich, legen sich dicht aneinander, kitten sich zum Grundwalle einer neuen Morallehre zusammen und einer neuen Cultur. Die Idealgestalt wird Hautrelief, wird freistehende Statue, wird Fleisch und Blut und ein lebendiges Wesen in „Also sprach Zarathustra“; die Moral erhlt eine bestimmte Formulirung in „Jenseits von Gut und Bçse“ und in „Zur Genealogie der Moral“. So spannte sich eine hohe und breite Brcke zwischen den beiden Endpunkten von Nietzsche’s Schriftstellerbahn, und ber diese schreitet das fleischgewordene Ideal wie einst Moses vom Sinai herabstieg mit den neuen Gesetzestafeln in der Hand. Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, ging er hinauf in das Gebirge. Nachdem er da 10 Jahre in Einsamkeit zugebracht, kehrte er zurck ins Tal, denn er liebte die Menschen und wollte sie die Wahrheit kennen lehren. Aber als er auf dem Markte vor der Versammlung ber die Fragen des Lebens, die tiefen und die hohen, sprach, da lachten sie ber ihn, und es war Eis in ihrem Lachen. Der grçßte Mensch und der kleinste nahmen sich gleich aus vor Zarathustra’s Augen: sie waren beide „allzu menschlich“. Ein furchtbarer Anblick begegnete ihm: die Menschen lagen zerschlagen und umhergestreut wie ber ein
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Schlachtfeld; und als sein Blick rckwrts glitt ber die Zeiten, begegnete ihm dasselbe Schauspiel: Fetzen, Stcke, Glieder, aber keine Menschen. In der Einsamkeit auf den Bergen war Zarathustra so weit hinaus in die Zukunft geflogen, daß ihn ein Schauder ergriff. Da war er zurck in das Land der Bildung geflogen und dort angelangt, mit Sehnsucht in seinem Herzen. Und gleichwol: so ngstlich er war, mußte er lachen ber das, was er sah. Niemals hatten seine Augen etwas so Buntes gesehen. „Mit fnfzig Klexen bemalt an Gesicht und Gliedern: so saßet ihr da zu meinem Staunen, ihr Gegenwrtigen. Und mit fnfzig Spiegeln um euch, die eurem Farbenspiel schmeichelten und nachredeten. Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen berpinselt mit neuen Zeichen: so habt ihr euch gut versteckt vor allen Zeichendeutern. Alle Zeiten und Vçlker blicken bunt aus euern Schleiern; alle Sitten und Glauben reden bunt aus euren Gebrden. Wer von euch Schleier und Ueberwrfe und Farben und Gebrden abzçge, gerade genug wrde er brigbehalten, um die Vçgel damit zu erschrecken. Wahrlich, ich selbst bin der erschreckte Vogel, der euch einmal nackt sah und ohne Farbe; und ich flog davon, als das Gerippe mir Liebe zuwinkte.“ Zarathustra will nicht mehr zum Volke reden; zum letzten male sprach er zu einem Todten. Das Leben ist eine Quelle der Lust, aber das Gesindel hat alle Brunnen vergiftet. Viele, die sich vom Leben abwandten, wandten sich blos vom Gesindel ab. Viele, die in die Wste hinausgingen und Durst litten mit den Raubthieren, wollten blos nicht mit schmuzigen [sic] Kameltreibern um die Cisterne sitzen. Die Erde hat eine Haut; diese Haut ist voll von krtzigem Ausschlag; einer davon heißt der Mensch, der berflssige, der allzuviele. Wo die Einsamkeit aufhçrt, beginnt der Markt, und wo der Markt beginnt, fngt der Lrm der Taschenspieler an und das Summen der giftigen Fliegen. Zarathustra ist einsamer unter den Allzuvielen, als da er die Einsamkeit der Wste zur Gesellschaft und Vertrauten hatte. Zarathustra geht wieder hinauf in die Berge, und da wird seine wilde Weisheit trchtig. Zum Volke will er nicht mehr sprechen; aber dem Einsamen will er den Regenbogen zeigen und alle Treppenstufen, die zum Uebermenschen emporfhren. Er sitzt in den Bergen, seine Thiere neben sich, den Adler und die Schlange, das stolzeste Thier unter der Sonne und das klgste Thier unter der Sonne. Und er spricht also zu seinen Jngern: Einst war der Geist Gott, dann wurde er Mensch und nun ist er Pçbel geworden. Mutig, sorglos, trotzig, verwegen – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib und kann bloß einen Kriegsmann lieben. Der Krieg und der Muth hat grçßere Dinge vollbracht als jemals die Liebe zum Nchsten. Verachtung vor der Erde, Verachtung vor dem Kçrper, des Kranken Verachtung vor Kçrper und Erde, des Kranken Rede von erlçsenden Blutstropfen und einer anderen Welt ist keine Treppenstufe zum Uebermenschen.
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Der Pçbel drngt sich um den Taschenspieler auf dem Markte, aber die Welt dreht sich unmerklich um den, der neue Werthe fr die Dinge schafft. Ich liebe alle, welche sind wie schwere Tropfen, die einer nach dem andern aus der dunkeln Wolke fallen: sie sehen, daß der Blitz kommt, und gehen als Seher unter. Seht, ich bin ein Seher des Blitzes und ein dunkler Tropfen aus der Wolke; aber dieser Tropfen heißt der Uebermensch. Todt sind alle Gçtter; nun wollen wir, daß der Uebermensch lebe. Man predigt ber Gleichheit unter den Menschen! Es ist der Tyrannenwahnsinn der Ohnmacht, der nach Gleichheit schreit. Aber vergeßt nicht, wenn sie sich selbst „die Guten und Gerechten“ nennen, so fehlt ihnen nichts zum Phariser außer – der Macht. Denn das ist meine Rede: die Menschen sind nicht gleich, Und sie sollen es auch nicht werden. Was wre wol meine Liebe zum Uebermenschen, wenn ich anders sprche? Auf tausend Brcken und Stegen sollen sie in die Zukunft dringen. Gut und bçse, reich und arm, hoch und niedrig und alle Namen der Werthe: Waffen sollen sie sein und klingende Zeichen davon, daß das Leben sich immer von neuem berwinden muß. In die Hçhe will es sich bauen mit Pfeilern und Abstzen, das Leben; in ferne Welten will es schauen. Und bedarf es der Hçhe, so bedarf es der Abstze und der Widersprche zwischen den Abstzen, zwischen den aufsteigenden. Steigen will das Leben und sich steigend berwinden. Blos wo es Gruben gibt, gibt es Auferstehungen. Und dies Geheimniß sprach das Leben zu mir: Sieh, sprach es, ich bin das, was sich immer wieder selbst berwinden muß. Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Bçses, das unvergnglich ist, gibt es nicht. Aus sich selbst muß es sich immer wieder von neuem berwinden. Mit euern Werthen und Namen fr gut und bçse bt ihr Macht aus, ihr Wertheschaffenden: und das ist euere heimliche Liebe. Aber eine strkere Macht wchst empor aus euerer Herrschaft und eine neue Ueberwindung, welche Ei und Eierschale zerbricht. Und er, der ein Schçpfer sein will in gut und bçse: wahrlich, er muß zuerst ein Vermittler [recte Vernichter] werden und Werthe zerbrechen. Die Guten waren immer der Anfang vom Ende. Die Guten hassen den, der die Gesetzestafeln zerbricht und die alten Werthe; sie nennen ihn den Brecher, den Gesetzesbrecher, den Verbrecher, und kreuzigen ihn. Nicht mehr zu wollen, nicht mehr Werthe zu setzen, nicht mehr zu schaffen – ewig bleibe mir diese große Mdigkeit fern! Zu schaffen, das ist die Erlçsung vom Leiden; der Wille befreit: das ist die wahre Lehre von der Freiheit des Willens. Ich ging durch das Volk und hatte meine Augen offen; es ist kleiner geworden und wird immer kleiner; das verursacht ihre Lehre von Glck und Tugend. Immer soviel Schwche wie Gte, soviel Schwche wie Mitleid. Tugend: das ist fr sie, was zahm macht. Bald werden sie stehen wie drres Gras, drstend nach Wasser oder Feuer. O gesegnete Stunde, da der Blitz kommt! Ich ehre die widerspenstigen Zungen und die whlerischen Magen, die „Ja“ sagen gelernt haben und „Nein“ sagen gelernt haben. Das tiefe Gelb und das
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heiße Roth; so will es mein Geschmack, der Blut mischt in alle Farben. Denn ich liebe Blut. Der Uebermensch: In dem Wort liegt, daß der Mensch etwas ist, das berwunden werden muß; es ist eine Brcke, kein Ziel. Du und ihr alle, ihr mßt euch selbst berwinden aus Liebe zum Uebermenschen. Da, wo der Staat aufhçrt, so seht doch dahin, meine Brder; seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brcke zum Uebermenschen. Nicht die Liebe zum Nchsten lehre ich euch, denn das ist eure schlechte Liebe fr euch selbst; auch nicht die Liebe zum Weibe lehre ich euch, denn wre es nicht besser, in Mçrderhand zu fallen als in die Trume eines brnstigen Weibes? Aber den Freund lehre ich euch: er sei euch das Salz der Erde und eine Ahnung vom Uebermenschen! Frei nennst du dich? Frei wovon? Was geht das Zarathustra an? Aber klar soll dein Auge mir es knden: frei wozu? Kannst du dir selbst dein Bçses und Gutes geben und deinen Willen ber dich aufhngen als dein Gesetz? Du mußt brennen in deinen eigenen Gesetzen: wie sollst du sonst neu werden kçnnen, wenn du nicht erst Asche geworden? Du Einsamer, du gehst den Weg des Schaffenden: ein Gott will, daß du dich schaffst aus deinen sieben Teufeln. Der, welcher dem Volk verhaßt ist wie der Wolf den Hunden, das ist der freie Geist, der Kettenfeind. Frei vom Glck der Knechte, frei von Gçttern und Anbetung, unerschrocken und furchtbar, groß und einsam: so ist der Wille des Wahrhaftigen. Er kennt auch die schwerste der Knste, die zur rechten Zeit – zu gehen. Frei bis zum Tode und frei im Tode; ein heiliger Neinsager, wenn es nicht mehr Zeit ist zum ja: so versteht er sich auf Leben und Tod. Ein Glck allein kennt er nicht: das Glck des Empfangenden. Seht, das ist meine Armuth, meine Brder, daß meine Hand nie ausruht vom Schenken. Das ist die Feindlichkeit des Lichts gegen alles, was leuchtet. Aber ihr Einsamen von heute, ihr sollt einst ein Volk sein; aus euch, die ihr euch selbst erkoren habt, wird ein auserkorenes Volk erwachsen: – und aus diesem der Uebermensch. Also sprach der weise Zarathustra. Eines Tages, als Zarathustra unter seinen Jngern saß und ber die Fragen des Lebens sprach, die tiefen und die hohen, stand einer von ihnen auf und grßte den Meister: „Und wenn auch die lange Dmmerung kommt und die Todesmdigkeit, wirst du an unserm Himmel nicht untergehen, du Frsprecher des Lebens. Neue Sterne ließest du uns sehen und eine neue Nachtpracht. Wahrlich, das Lachen selbst spanntest du ber uns wie ein buntes Gezelt.“ V. „Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“. – „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift.“
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Durch die Geschichte der ganzen Menschheit zieht sich ein erbitterter und nimmer ruhender Streit zwischen zwei entgegengesetzten Moralidealen, zwischen zwei in Princip und Resultat feindlichen Werthschtzungen der Dinge, des Lebens, der Menschen, des Kçrpers, der Seele, der Handlungen, der Gemthszustnde, der Triebe. Es ist der Streit zwischen der Herrenmoral und der Sklavenmoral – beide durch ihre Werthbestimmungen: gut – schlecht, gut – bçse, charakterisirt. Die Entstehung dieser Morallehre und Werthbestimmung ist nach Nietzsche folgende: Die Vornehmen, Mchtigen, Hochstehenden, Hochsinnigen betrachteten und werthschtzten sich selbst und ihr Tun als gut, d. h. von erstem Range, first rate, im Gegensatz zu den Niedrigen, Niedriggesinnten, Gemeinen und Pçbelhaften. Vermittels dieses „Pathos der Distanz“ nahmen sie sich das Recht, Werthe zu schaffen und Werthbezeichnungen zu prgen. Das ist der Ursprung der Werthbezeichnungen: gut – schlecht (also nicht aus dem Ntzlichkeit der unegoistischen Handlung, wie die englischen Moralgenealogen meinen). Zu dieser genealogischen Theorie ist Nietzsche ganz wesentlich durch die Fingerzeige der Etymologie gelangt, durch die Untersuchung, welche Bezeichnung die verschiedenen Sprachen fr den Begriff „gut“ hatten. Er fand, daß sie alle zu ein und derselben Begriffsverwandlung zurckfhrten, daß berall „vornehm“ als Standesbezeichnung der Grundbegriff war, aus dem „gut“ im Sinne von „seelisch-vornehm“ sich entwickelte, und daß parallel zu dieser Entwicklung eine andere verlief, in welcher der Charakter der niedern Kaste zusammenfloß mit dem „seelisch-schlechten“ (das beste Beispiel ist die Identitt des deutschen Wortes „schlicht“ und „schlecht“). Einen ganz anderen Ursprung hatte dagegen die Sklavenmoral. Whrend alle aristokratische Moral hervorwuchs aus einem triumphierenden „Ja“-Sagen zu sich selbst, beginnt die Sklavenmoral damit, „Nein“ zu sagen zu dem, was außer ihr ist, zu dem „andern“, zu dem „Nicht-Ich“; und dieses „Nein“ ist es, was ihre schaffende Tat ist. Die Sklavenmoral bedarf zu ihrer Entstehung einer ihr gegenber und außer ihr stehenden Welt; sie bedarf, physiologisch gesprochen, ußerer Einwirkungen, um selbst in Thtigkeit gesetzt zu werden; – ihr Handeln ist blos zurckwirkend. Ein entgegengesetztes Verhltnis fand bei der aristokratischen Werthbestimmung statt: diese wirkt und wchst aus sich und sucht ihren Gegensatz nur auf, um noch dankbarer, noch jubelnder „Ja“ zu sich selbst zu sagen, – ihr negativer Begriff ist „gemein“. Der Begriff „schlecht“ dagegen ist blos ein spteres blasses Gegenbild. Die Sklavenmoral ihrerseits geht von etwas Negativem, von dem an dem Feinde (d. h. dem Herrn) als Gegensatz Wahrgenommenen aus; dieser wird als „bçse“ gestempelt. Solchermaßen sehen wir den grundwesentlichen Unterschied in Ursprung und Wesen zwischen dem „schlecht“ vornehmen Ursprungs und dem „bçse“, das aus dem Hasse der Niedriggestellten gegen den Herrn entsprungen. Ersteres
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ist eine Schçpfung aus zweiter Hand, etwas Nebenschliches, eine Complementrfarbe; das andere dagegen das Original, der Anfang. Aber diese beiden, untereinander so verschiedenen Werthschtzungsbezeichnungen stehen einer und derselben Werthbezeichnung gegenber: dem „gut“. Dieser Begriff „gut“ ist indessen nicht ein und derselbe in beiden Fllen. Denn was ist der „Bçse“ nach der Auffassung der Sklavenmoral anders als der „Gute“ der Herrenmoral – der Vornehme, der Mchtige, der Herr, aber umgefrbt, umgedeutet, gesehen mit dem Auge des Sklaven. Zwischen diesen beiden instinctiv entgegengesetzten Typen der moralischen Werthschtzung ist whrend der ganzen Entwickelungsgeschichte der Menschheit ein erbitterter, nimmer ruhender Kampf gefochten worden. In der Priesterkaste wurde die Sklavenmoral zuerst durchgeistigt, verfeinert, gelutert; denn die Priesterkaste bestand aus den Schwachen, den Kranken, in deren Interesse es lag, die Werthe der Herrenmoral umzuwenden. Mit den Juden, diesem haßerfllten Priestervolke, begann der Sklavenaufruhr in der Moral. Die culturhistorische Aufgabe des Judenthums setzte sich dann unter dem Christenthum fort. Aus der Haßmoral des Judenthums erwuchs die Liebeslehre des Christenthums, wie die Krone aus dem Stamme des Baumes. Jesus von Nazareth, das verkçrperte Liebesevangelium, der Erlçser der Armen, Kranken und Sndigen, fhrte er – historisch – nicht auf einem Umweg zurck zu den jdischen Werthbestimmungen? Hat nicht Israel gerade durch diesen, seinen grçßten Widersacher das letzte Ziel seiner erhabenen Rachsucht erreicht? Und unter dem katholischen Zeichen des Kreuzes zwei Jahrtausende lang mit seiner Rachemoral ber jedes Ideal triumphirt, das sich in der Menschheit erhob. Das alte Juda gegen das alte Rom – das war die Sklavenmoral im Kampf mit der Herrenmoral. Allerdings stand in der Renaissance das antike Ideal wieder auf, die aristokratische Werthbestimmung – und ihre letzte Abendrçthe lag ber Frankreich unter dem „ancien rgime“ – aber mit den beiden großen demokratischen Bewegungen: der deutsch-englischen Reformation und der Franzçsischen Revolution, strzten die Tempelreste der Antike zusammen, und auf ihnen erbaute das 19. Jahrhundert seine ungeheure Arbeiterkaserne. Die moderne Demokratie ist der letzte Auslufer des Plebejerthums, das mittels des Christenthums sich zur Macht emporschwang. Welches war sein Ideal? Das herrschende Element desselben ist das altruistische. Es hat Tugenden aus allen Unzulnglichkeiten des Schwachen, des Unterdrckten, des Kranken gemacht und den Starken, den Frohen, den Herrn mit dem Brandmal des Missethters gezeichnet. Es hat alle die Eigenschaften verherrlicht, durch die es sich selbst im Lebenskampf aufrecht erhalten konnte, die Liebe zum Nchsten, das Mitleid, die Selbstaufopferung. Es ist ein lebensfeindliches, ein asketisches Ideal, das die Welt unter den schweren Schlagschatten der Ewigkeit legte. Zuerst und vor allem hat es in seiner Lehre ber schlechtes Gewissen, Snde, Schuld und Strafe eine Schar von Peinigern auf die Menschheit losge-
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lassen. Die Entstehung des schlechten Gewissens erklrt Nietzsche folgendermaßen: Der erste Staat wurde dadurch gegrndet, daß eine Herrenrasse sich eine an Zahl berlegene Bevçlkerung unterwarf, der es an Widerstandskraft fehlte, und sie zum Gehorsam zwang. Diese Halbthiere, die gewohnt waren frei umherzustreifen, wurden nun in die Zwangsjacke der Gemeinschaft gesteckt – das war ungefhr, wie wenn ein Wasserthier plçtzlich aufs flache Land versetzt wrde. Alle Instincte, die sich vorher nach außen gewandt, wandten sich nun nach innen, da sie nicht lnger in der natrlichen Richtung wirken durften; die Instincte des wilden, umherstreifenden Menschen kehrten sich gegen ihn selbst: Grausamkeit, Verfolgungssucht, Zerstçrungsdrang, das Bedrfnis nach einem Feinde, mit welchem man streiten kann. Der Trieb, der der centrale und vorherrschende im Menschengeschlecht ist: der Freiheitsinstinct oder der Wille zur Macht, plçtzlich und gewaltsam von aller Wirksamkeit nach ußern Zielen abgesperrt, wandte sich gegen die inneren, seelischen Erscheinungen. Dieser Thier-Mensch, den man zhmen will und der sich blutig reibt an den Gitterstangen des Kfigs – dieser schmachtende, verzweifelte Gefangene, der mit einem male von seinem vorherigen, natrlichen, thierischen Dasein abgesperrt worden, stellt seine alten Instincte als etwas auf, das bekmpft, unterdrckt, vernichtet werden muß. Solchermaßen wird der ehemalige Kern der Natur zum „bçsen Gewissen“. Diese neue Erscheinung: der Mensch mit dem bçsen Gewissen, bemchtigt sich nur der religiçsen Vorurtheile in Betreff einer Schuld gegen Gott, und erst dadurch wird die Krankheit auf ihre fchterlichste und hçchste Spitze getrieben. Er ergreift in Gott den letzten ußersten Gegensatz zu seinen Thierinstincten; er deutet eben diese seine Thierinstincte als Schuld gegen Gott um; er spaltet sich in den Gegensatz Gott und Teufel; er wirft jedes „Nein“, das er zu sich selbst und zur Urnatur seines Wesens sagt, als ein „Ja“, als ein Seiendes, als etwas Kçrperliches, Wirkliches, als Gott, als eine andere Welt, als Ewigkeit, als Hçlle, als endlose Marter, als eine Unersttlichkeit von Schuld und Strafe aus sich heraus. Was bedeutet ein asketisches Ideal? Es entstammt den Schuld- und Bußinstinkten eines entarteten Lebens. Es ist ein Kunstgriff, erfunden, um den Verzweifelnden ans Leben zu binden. Dem irdischen Dasein des Menschen gebrach Ziel und Sinn; der Mensch litt unter dem unlçsbaren Rthsel des Daseins. Es war nicht das Leiden selbst, worunter er am meisten litt, sondern die Zwecklosigkeit dieses Leidens. Dem half das asketische Ideal ab; es lehrte den Menschen, alles Leiden unter dem Gesichtspunkt der Strafe zu betrachten. Das bçse Gewissen wurde zur Snde umgedeutet; das Leiden wurde Strafe. Das war das grçßte und folgenschwerste Kunststck der religiçsen Interpretation: der Kranke war zum Verbrecher gemacht, aber der Wille war gerettet, das Leben hatte eine Bedeutung erhalten und das Streben der Menschen einen Sinn. Es war allerdings ein Wille gegen das Leben, gegen den Kçrper, gegen die Erde, ein
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Wille gegen Schçnheit und Glck, ein Wille zum Nichts, aber es war doch ein Wille. Gerade in unsern Tagen hat die Sklavenmoral ihr Ideal nach außen gewandt, und seine Eingeweide liegen bloß vor aller Augen. Das gegenwrtige Geschlecht leidet unter allen Folgen und alle Zuflligkeiten derselben. Wir starren dem Menschentypus, den es allmhlich durch Jahrhunderte aufgesugt hat, mit einem Schauder ins Gesicht, denn es ist das Antlitz des Hassers auf dem Kçrper des Sklaven. Europas Auswurf beschmutzt mit seinem Befingern das Gottesbild im Allerheiligsten des Menschengeistes. Unlust, Ekel am Leben, Mdigkeit und Widerwille gegen die Menschen – sie fressen wie schleichender Schwamm das Mark aus dem Rckgrate des Geschlecht und bohren sich ein in die edelsten Theile des Organismus. Man versteht alles und liebt nichts, schtzt nichts, entflammt fr nichts; man hat den Geschmack verloren und nennt es Objectivitt, man hat den Geruch seiner Seele verloren und nennt es „Dilettantismus“; man ist impotent wie ein Greis und verbirgt das Elend unter der Schminke und den bunten Lumpen von Worten. Das Gleichheitsprinzip, auf den Mrkten von Schreihlsen gepredigt und von Philosophen in System gesetzt, schwingt ber den Huptern der versammelten Menschheit seine ungeheure Sichel, weithin flammend wie ein Regenbogen, damit nicht ein Haupt sich ber das andere erhebe. In die Wissenschaft selbst dringt die Krankheit und luft durch ihre Adern wie eine schleichende Vertaubung; englische Spießerweisheit und franzçsischer Feminismus paaren sich und zeugen das Krppelgeschlecht der „modernen Ideen“; der Forscher wird ein kurzsichtiger Spezialist, der seine eigene Ohnmacht in Verachtung fr alle synthetischen Aufgaben umsetzt; und die Philosophie selbst begngt sich damit, die Essenz aus dem gehuften Wissen der Gegenwart auszupressen oder die uneigenntzigen Instincte so lange zu vergeistigen, bis sie zuletzt die alleinigen Werthe sind, auf die gesttzt man „Nein“ sagen kann zum Leben und zu sich selbst. Deshalb, sagt Nietzsche, drngt gerade jetzt alles zu einer radicalen „Umwerthung aller Werthe“. Es handelt sich darum, das Herrenrecht an den Hochsitz geltend zu machen. Fort aus der Welt mit dem bçsen Gewissen, dem asketischen Ideale. Und mßt ihr ein Zeichen haben, so hngt ein flammendes Fragezeichen am Himmel auf – das große Fragezeichen, das hinter dem Worte steht: was bedeutet der Wille zur Wahrheit? Damit die Menschen in seinem Licht den Weg finden zu „Jenseits von Gut und Bçse“. Mag die große Gefahr kommen, die das Geschlecht zwingt, sich in sich zusammenzufassen mit dem Aufgebot aller Krfte. – Alle Stnde vermischen sich gegenwrtig, und die charakteristischen Zge aller Nationalitten laufen zu einem Totalbilde ineinander – schon kndet eine feine deutliche Linie die große Spaltung der Zukunft in Herrenkaste und Sklavenkaste an. Wann wird er kommen, der Erstgeborene der neuen Zeit, der csarische Zchter der Cultur, der Bçse, der Frchterliche, neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit, der Versteher der
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Einsamkeit und ihr Freund? – wann wird er kommen, der den Siegestanz spielt auf den Seiten des Daseins und das Leben singen macht? – der neue Zarathustra, der Erste der Arier, wann wird er aufgehen, der blonde Herr, gleich der Morgenrçthe ber dem Meere? So weit ist Nietzsche in der Entwickelung seines Systems gelangt. Er ist der Dichter-Philosoph, in dem das scheidende Licht des 19. und die aufgehende Sonne des 20. Jahrhunderts ineinander bergleiten, wie Abend und Morgen in einer jener schlummerlosen, hellen Sommernchte des Nordens; er ist aufregend und friedlos wie sie. In seinen Schçpfungen grollt es wie von einem heraufziehenden, schweren Gewitter; er ist der Herold und Vorlufer des großen Culturkampfes, der kommt. Wird er alle die aphoristischen Splitter, die Bausteine einer neuen Weltanschauung, die in seinen Schriften zerstreut umherliegen, zusammenkitten kçnnen zu einem Monumentalbau, oder wird er der Wucht seiner Aufgabe unterliegen und zusammenbrechen, ohne sich wieder aufzurichten, nachdem kaum der Aufriß des Planes gemacht und die Grundzge des Fundaments in den Boden gegraben sind? Nietzsche’s jngstes, im Laufe des Jahres 1889 erschienenes Buch „Gçtzendmmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert“ bezeichnet keinen Fortschritt in seiner Production und liefert keinen neuen Beitrag zu seiner Charakteristik. Dieselben Themata, von denselben Seiten gesehen und auf dieselbe Art behandelt. Nach der „Genealogie der Moral“ htte man erwarten kçnnen, daß jede einzelne von Nietzsche’s knftigen Arbeiten eine Ausfhrung jener khnen, zusammengedrngten Sentenzen sein wrde, aus denen seine frhern Werke sich in conglomeratartiger Mannigfaltigkeit zusammensetzten, – Commentare in Breite und Tiefe. Aber das ist nicht der Fall. Die „Gçtzendmmerung“ ist eine Hufung von Bildungen, eine Gruppe von Centren, um die sich Ablagerungen angesetzt haben; sie bezeichnet einen Rckfall ins Zerstreute und Zersprengte, ins Umherstreifen aufs gerathewohl, in zusammenhanglos hingeworfene Aphorismen; – es sind die Tagebuchaufzeichnungen eines genialen Touristen. Nietzsche befindet sich, wie bekannt, gegenwrtig in einer italienischen Irrenanstalt. – – Ist die „Gçtzendmmerung“ der Schritt rckwrts, mit dem der Anlauf zum weiten Sprunge genommen wird? Oder ist dieses Buch ein Ausschlag der geistigen Auflçsung, unter welcher der Meister gegenwrtig leidet? Nachwort der Redaktion. Nicht die bewundernde und symphatische Stellungnahme des Herrn Verfassers zu der bunten Flle geistreicher Bemerkungen des „Dichter-Philosophen“, sondern die treffliche Darlegung derselben hat uns zur
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Aufnahme des vorstehenden Aufsatzes bestimmt. Das geistige Bild Friedrich Nietzsche’s aber scheint uns in „Unsere Zeit“ zu gehçren, weil der Eindruck, welchen unsere gesammte moderne Cultur auf einen selbstndig beanlagten, vornehm empfindenden und lebhaft denkenden Mann hervorgebracht hat, zum Kennzeichen werden und zur Achtsamkeit anregen kann, wie vieles in dem uns umgebenden Leben auf Ungezhlte drckend und anwidernd wirken mag. Die scharfe und feine Beobachtung, die Wunde auf Wunde in heutiger allzu menschlicher Lebensanschauung und Lebensfhrung mit leidenschaftlicher Kraft sucht und aufzeigt, die der Zeit den Spiegel so eindringlich vorzuhalten weiß, scheint uns die gesunde Seite im Wesen Nietzsche’s. Ihre kranke offenbart sich darin, daß er selbst zum Spiegel wird fr das unruhige Sehnen und unklare Streben „moderner“ Menschen. Gemahnt uns das „Jenseits von Gut und Bçse“ nicht an das „Dritte Reich“ in Ibsen’s „Kaiser und Galiler“? Die hochmthige Sonderung von der natrlichen Gemeinschaft, der berschwngliche Cultus des „Uebermenschen“, der Mangel an sittlicher Strenge und sittlicher Kraft zur Selbstberwindung und die verstndnißlose Verachtung des Christenthums schließen sich in der bedeutenden Persçnlichkeit des kranken Philosophen zu einem ergreifenden Typus zusammen, an dem unsere Zeit nach unserm Ermessen nicht gedankenlos vorbergehen sollte. Reaktionen Franz Overbeck an Heinrich Kçselitz, 13. 4. 1890: „Weit bedenklicher machte es freilich vor einigen Wochen der biographische Aufsatz eines oder einer Ola Hansson in der Frankfurter Zeitung (Jakob Burckhardt wenigstens behauptete es msse ein Frauenzimmer sein), welcher (nicht in feindseliger Absicht) ausbot, N. stamme aus einer Familie, in welcher der Wahnsinn seit ,Generationen‘ zu Hause sei, auch allerhand, mindestens zum Theil verkehrtes, ber die Bedeutung seiner Schwester und ihren Einfluss auf ihn, und das alles sollte auf Mittheilungen einer Familie beruhen, welche aus nchster Nhe die Geschwister htte aufwachsen sehen, auch nur ein geringer Theil dessen sein, was diese Quelle sonst geliefert habe und fr jetzt noch beiseite bleiben msse.“ Hoffmann, David Marc/Peter, Niklaus/Salfinger, Theo (Hrsg) (1998): Briefwechsel Heinrich Kçselitz – Franz Overbeck. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 3), Nr. 151, S. 296 Heinrich Kçselitz an Franz Overbeck, 14. 11. 1890: „Jetzt weiss ich auch, wer die Quelle fr Hansson’s Angaben ber Nietzsche’s Familie ist […]: Hofrath Heinze. Im Gesprch lsst man sich ja dergleichen Intima gefallen. Aber in einer Broschre? Hansson hat jedenfalls auch manches bertrieben und missverstanden. Heinze meint, mit der Angabe dass N.’s Vorfahren zur Geistesstçrung
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disponirt gewesen seien, habe Hansson dem Ansehen N.’s einen Gefallen zu erweisen geglaubt; jetzt sei die Theorie im Schwange, dass das Genie aus einer halbverrckten Familie entstehe; so habe Gwinner beispielsweise einige Vorfahren Schopenhauer’s fr geisteskrank befunden und dies mit einer gewissen Genugthuung in Schopenhauer’s Biographie angefhrt. – Nun, wir Anderen, die wir nicht alle Moden in der Psychiatrie mitmachen, freuen uns schon mehr, ein Genie aus einer gesunden Familie herauswachsen zu sehen, Goethe z. B.“ Hoffmann, David Marc/Peter, Niklaus/Salfinger, Theo (Hrsg) (1998): Briefwechsel Heinrich Kçselitz – Franz Overbeck. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 3), Nr. 166, S. 317 Franziska Nietzsche an Ida Overbeck, Juni 1891: „Die Broschre von O. Hansson […] die mich so betrbte und kmmerte.“ Podach, Erich F. (1937): Der kranke Nietzsche. Wien, S. 125 Georg Brandes an Julius Rodenberg, 20. 12. 1889: „Anbei sende ich zu gtiger Prfung und hoffentlicher Aufnahme ein Aufsatz ber einen genialen und tollen Deutschen fr den ich mich seit Jahren lebhaft interessiere und mit dem ich lange Zeit als sein fast einziger ,Anerkenner‘ in Correspondenz stand bis die Geisteskrankheit, die ihn ergriffen hat, unserer Correspondenz ein Ende machte. Mçchten Sie meinen Aufsatz nicht unwerth finden in der Deutschen Rundschau einen Platz zu erhalten.“ Bohnen, Klaus (1980): Brandes und die Deutsche Rundschau. Unverçffentlichter Briefwechsel zwischen Georg Brandes und Julius Rodenberg. Mnchen (Text und Kontext Sonderreihe Bd. 8), S. 68 Julius Rodenberg an Georg Brandes, 29. 12. 1889: „Sie haben durch Ihre Abhandlung ber Nietzsche mir eine freudige Ueberraschung bereitet, und ich danke Ihnen zunchst persçnlich fr die genußreichen Stunden, welche die Lektre derselben mir bereitet hat. Mehr aber noch habe ich Ihnen als Herausgeber der Rundschau zu danken; denn ihre Arbeit wird einen starken Eindruck machen, und ich werde mich beeilen, sie, so rasch es unter den gegebenen Verhltnissen mçglich ist, zu publicieren.“298 Bohnen, Klaus (1980): Brandes und die Deutsche Rundschau. Unverçffentlichter Briefwechsel zwischen Georg Brandes und Julius Rodenberg. Mnchen (Text und Kontext Sonderreihe Bd. 8), S. 69 298 Rodenberg weist auf einige grammatische Fehler sowie die Streichung eines abflligen Satzes ber die deutsche Professorenwelt hin, worauf Brandes den korrigierten Aufsatz am 3. 3. 1890 an Rodenberg schickt, erst so spt, da Brandes in eine „weitlufige philosophische Polemik mit Universittsprofessoren verwickelt“ war. Gemeint ist die Auseinandersetzung mit Harald Hçffding, dessen Entgegnung auf Brandes Aufsatz in der gleichen dnischen Zeitschrift Tilskueren im November 1889 auf S. 849 bis 872 erschienen war.
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Brandes, Georg: Aristokratischer Radikalismus. Eine Abhandlung ber Friedrich Nietzsche. In: Deutsche Rundschau. Berlin, Bd.16, Nr. 7, April 1890, S. 52–89. Aristokratischer Radikalismus. Eine Abhandlung ber Friedrich Nietzsche. 299 In der Literatur des gegenwrtigen Deutschlands scheint Friedrich Nietzsche mir einer der interessantesten Schriftsteller zu sein. Obgleich selbst in seinem Vaterlande wenig gekannt, ist er ein Geist von bedeutendem Rang, der es vollauf verdient, daß man ihn studirt, erçrtert, bekmpft und sich aneignet. Unter anderen guten Eigenschaften besitzt er die, Stimmung mitzutheilen und Gedanken in Bewegung zu setzen. Whrend achtzehn Jahren hat Nietzsche eine lange Reihe Bcher und Hefte geschrieben. Die meisten dieser Bnde bestehen aus Aphorismen, und die meisten und neuesten dieser Sprche beschftigen sich mit den moralischen Vorurtheilen. Seine bleibende Bedeutung liegt auf diesem Gebiete. Im Uebrigen aber hat er die verschiedenartigsten Fragen behandelt und ber Cultur und Geschichte, Kunst und Frauen, geselliges und einsames Leben, Staat und Gesellschaft, Lebenskampf und Tod geschrieben. Er wurde am 15. Oktober 1844 auf dem Schlachtfelde von Ltzen geboren. Der erste fremde Name, den er als Kind hçrte, war der Name Gustav Adolf ’s. Seine Vorfahren waren polnische Edelleute (Nizky); und es scheint, als htte sich der polnische Typus an diesem ihrem Nachkommen erhalten trotz dreier Generationen deutscher Mtter; denn im Auslande ist er oft fr einen Polen angesehen worden. Seine Grossmutter gehçrte dem Goethe’schen Kreise in Weimar an. Er hatte als Kind das Glck, in eine vortreffliche Schule gegeben zu werden – das Institut Schulpforta in Preußen, aus dem mehrere ausgezeichnete Mnner der deutschen Literatur (Klopstock, J. E. Schlegel, Fichte, Ranke usw.) hervorgegangen sind. Die Lehrer dieser Schule htten nach Nietzsche’s Zeugniß jeder Universitt Ehre gemacht. Er studirte zuerst in Bonn, dann in Leipzig; wo der alte Ritschl, damals der erste Philologe Deutschland’s, ihn frh auszeichnete. Von seinem 22. Jahre an war er Mitarbeiter des „Literarischen Centralblattes“. Er begrndete den philologischen Verein in Leipzig, der noch besteht. Im Jahre 1868 bot die Universitt Basel ihm eine Professur der Philologie an. Er war damals vierundzwanzig Jahre alt und noch nicht Doctor. Spter gab die Universitt Leipzig ihm den Doctorgrad ohne vorhergehende Disputation. 299 Der Artikel ist eine bersetzung des hier auch abgedruckten dnischen Artikels aus der Zeitschrift Tilskueren, der eine Zusammenfassung von Brandes fnf çffentlichen Vortrgen ber Nietzsche an der Kopenhagener Universitt bietet, auch referiert in der dnischen Zeitung Politiken am 17., 18., 25. April und am 2., 9. Mai 1888.
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Er unterbrach seine Lehrthtigkeit, um am franzçsisch-deutschen Kriege theilzunehmen. Von 1869 bis 1879 war Nietzsche Professor in Basel. Er wurde indessen gezwungen, seine deutsche Nationalitt aufzugeben, da er als Offizier (in der reitenden Artillerie) zu oft einberufen und dadurch in seiner akademischen Arbeit gestçrt wurde. „Ich verstehe mich“, schrieb er eines Tages in einem Privatbriefe „auf zweierlei Waffen, Sbel und Kanone – und, vielleicht noch auf eine dritte ….“ Es ging Nietzsche sehr gut in Basel, trotz seiner Jugend; die es mit sich brachte, daß die Examinanden oft lter waren als der Examinator. Unter den hervorragenden Persçnlichkeiten, mit denen er in Verbindung kam, war der ausgezeichnete Culturhistoriker der Renaissance Jakob Burkhardt und Richard Wagner, der mit seiner Gattin Cosima damals in einem Landhause bei Luzern wohnte, nachdem er die Brcke mit seinem ganzen frheren Umgangskreis abgebrochen hatte. In seiner Stimmung Wagner gegenber ist dagegen im Laufe der Jahre ein vollstndiger Umschlag eingetreten. Nachdem er Wagner’s Verkndiger gewesen, entwickelte er sich zu seinem leidenschaftlichen Bekmpfer. Nietzsche war immer mit Leib und Seele Musiker; er hat sich sogar in seinem Hymnus an das Leben (ein Chorwerk mit Orchester 1888) als Componist versucht, und der Verkehr mit Wagner hat tiefe Spuren in seinen frhesten Schriften hinterlassen. Aber die Oper Parsifal mit ihrer katholisirenden Tendenz und ihrer Verherrlichung asketischer Ideale, die Wagner frher am allerfernsten gelegen, ließ Nietzsche in dem großen Componisten eine Gefahr, einen Feind, ein Krankheitsphnomen erblicken, indem jenes letzte Werk in seinen Augen ber alle die frheren Opern ein neues Licht warf. Whrend seines Schweizer Aufenthaltes lernte Nietzsche einen Flor interessanter Menschen kennen, „viel und mancherlei von dem Besten, was zwischen Paris und Petersburg wchst“. Im Jahre 1876 fing es an, mit seiner Gesundheit rckwrts zu gehen. Er suchte vergebens Linderung in einem Winteraufenthalt in Sorrent. Ein ußerst schmerzhaftes Kopfleiden, so beharrlich, daß es ihm ungefhr hundert Tage des Jahres raubte, marterte ihn whrend der nchsten sechs Jahre und brachte ihn an den Rand des Grabes; 1879 gab er seine Professur auf. Von 1882 bis 1888 besserte sich sein Gesundheitszustand stetig, wenn auch ußerst langsam. Seine Augen waren so schwach, daß er stets mit Blindheit bedroht war. Er war zu ußersten Vorsicht in seiner Lebensweise und in der Wahl seine Aufenthaltsortes gezwungen. Meistens brachte er die Winter in Nizza, die Sommer in Sils-Maria im Ober-Engadin zu. In den Jahren 1887 und 1888 war seine Productivitt erstaunlich. In ihnen wurden hervorragende Arbeiten von sehr verschiedener Art herausgegeben und eine ganze Reihe neuer Werke vorbereitet. Dann erfolgte, gegen Schluß dieses Jahres, vielleicht als Folge von Ueberanstrengung, ein heftiger Krankheitsanfall, von dem Nietzsche noch nicht genesen ist.
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Als Denker ist er von Schopenhauer ausgegangen; er ist in seinen ersten Schriften geradezu sein Schler. Aber da er nach mehrjhrigem Schweigen, whrend dessen er seine erste geistige Krise durchlebt, wieder auftritt, ist er von jedem Schlerverhltnis befreit. Er macht nun eine so starke und rasche Entwicklung durch – weniger im Gedankenleben selbst, als im Mut, seine Gedanken auszusprechen –, daß Schrift auf Schrift ein neues Stadium bezeichnet, bis er nach und nach sich auf eine einzige Grundfrage concentrirt, der Frage nach den moralischen Werthen. Er hatte schon in seinen ersten Anfngen als Denker und Schriftsteller David Strauß gegenber wider jede moralische Ausdeutung vom Wesen des Alls protestirt und unserer Moral ihren Platz in der Welt der Erscheinungen angewiesen, „bald als Schein und Fehlgriff, bald als Zurechtlegung und Kunst“. Und seine literarische Ttigkeit hat bisher ihre Hçhe in einer Untersuchung vom Entstehen der Moralbegriffe erreicht, wie es seine Hoffnung und Absicht war, eine durchgefhrte Kritik der moralischen Werthe, eine Untersuchung des Werths dieser (als gegeben betrachteten) Werthe zu liefern. Das erste Buch seines Werkes „Umwerthung aller Werthe“ war fertig, als er krank wurde.300 I. Nietzsche wurde zum ersten Male oft genannt, wenn auch nicht viel gerhmt, wegen einer bissigen, jugendlichen Streitschrift gegen David Strauß, von dessen Buch „Der alte und der neue Glaube“ hervorgerufen. Nicht gegen den ersten kriegerischen Abschnitt des Werks, sondern gegen den ergnzenden, aufbauenden Theil desselben ist hier ein in seinem Tone piettloser Angriff gerichtet. Dieser Angriff galt jedoch weniger der letzten Kraftanstrengung des einst so großen Kritikers als jener Mittelmßigkeit, fr welche dieses sein letztes Wort als das letzte Wort der Bildung berhaupt dastand. Es war anderthalb Jahre nach dem Abschluß des deutsch-franzçsischen Krieges. Der strmische Siegesjubel war noch nicht verstummt. Niemals waren die Wogen des deutschen Selbstgefhls so hoch gegangen. Nach der allgemeinen Auffassung in Deutschland und den mit Deutschland befreundeten Lndern waren es nicht die deutschen Heere allein, welche die franzçsischen geschlagen hatten, sondern die deutsche Cultur habe die franzçsische besiegt. Da erhob sich diese Stimme und sagte: 300 Nietzsches Schriften sind folgende: „Unzeitgemße Betrachtungen“, I-IV. – „Die Geburt der Tragçdie, oder Griechenthum und Pessimismus.“ – „Menschliches, Allzumenschliches“, I und II. – „Morgenrçthe, Gedanken ber die moralischen Vorurtheile.“ „Die frçhliche Wissenschaft“ (La gaya scienza). – „Jenseits von Gut und Bçse.“ – „Zur Genealogie der Moral.“ – „Also sprach Zarathustra“, I-IV. – „Der Fall Wagner, ein Musikantenproblem.“ – „Gçtzendmmerung, oder wie man mit dem Hammer philosophirt.“
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Gesetzt hier htten wirklich zwei Culturen mit einander gekmpft, so wre das noch kein Grund, die siegende Cultur zu bekrnzen; man mßte erst wissen, was die unterliegende werth war; ist ihr Werth sehr gering gewesen – und das sagt man ja von der franzçsischen –, so war die Ehre nicht groß. Aber es kann in diesem Fall berhaupt nicht die Rede von einem Sieg der deutschen Cultur sein, theils weil die franzçsische noch besteht, theils weil die Deutschen jetzt wie frher noch von ihr abhngig sind. Es war Kriegszucht, natrliche Tapferkeit, Ausdauer, die Ueberlegenheit der Fhrer, der Gehorsam der Gefhrten, „kurz Elemente, die nichts mit Cultur zu thun haben“, was Deutschland zum Sieg verhalf Und schließlich hat die deutsche Cultur besonders aus dem guten Grunde nicht gesiegt, weil in Deutschland der reine Begriff von Cultur verlorengegangen ist. Es war erst ein Jahr her, daß Nietzsche selbst die grçßten Erwartungen an die Zukunft Deutschlands geknpft, auf dessen nahe bevorstehende Befreiung vom Gngelband der romanischen Zivilisation gehofft und die gnstigsten Weissagungen aus der deutschen Musik herausgehçrt hatte.301 Der geistige Verfall, der ihm von der Aufrichtung des Reiches unzweifelhaft zu beginnen schien, veranlaßte ihn jetzt, der herrschenden Volksstimmung mit rcksichtslosem Trotz zu begegnen. Er behauptet, daß Cultur sich zuerst und vor Allem als knstlerische Stileinheit durch alle Lebensußerungen eines Volkes offenbare. Viel gelernt zu haben und viel zu wissen dagegen ist, wie er zeigt, weder ein nothwendiges Mittel zur Cultur noch ein Zeichen von Cultur; beides kann vortrefflich mit Barbarei zusammengehen, das heißt, mit Stillosigkeit, oder mit einem bunten Mischmasch von Stilarten. Und seine einfache Behauptung ist: mit einer Cultur, die aus Mischmasch besteht, kann man keinen Feind bezwingen, am wenigsten einen Feind wie die Franzosen, die lange eine wirkliche, fruchtbare Cultur besessen, man lege ihr nun grçßeren oder geringeren Werth bei. Er beruft sich auf ein Wort Goethes an Eckermann: „Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tchtig cultivirt, allein es kçnnen noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten so viel Geist und hçhere Cultur eindringe und allgemein werde, daß man von ihnen wird sagen kçnnen, es sei lange her, daß sie Barbaren gewesen.“ Fr Nietzsche decken, wie man sieht, die Begriffe Cultur und einheitliche Cultur einander. Um einheitlich zu sein, muß eine Cultur ein gewisses Alter erreicht haben und in ihrer Eigenthmlichkeit so stark geworden sein, daß sie alle Lebensformen durchdrungen hat. Einheitliche Cultur ist aber natrlicherweise nicht dasselbe wie eingeborene Cultur. Eine einheitliche Cultur hatte das alte Hellas, aber sie war die Frucht gyptischer und asiatischer Einflsse; eine einheitliche Cultur hatte das alte Island, obgleich ihre Blte gerade durch den 301 Die Geburt der Tragçdie, S. 112 ff.
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lebendigen Verkehr mit Europa herbeigefhrt ward; eine einheitliche Cultur hatte Italien unter der Renaissance, England im sechzehnten, Frankreich im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, obgleich Italien seine Cultur aus griechischen, rçmischen und spanischen Eindrcken aufbaute, Frankreich die seinige aus antiken, keltischen, spanischen und italienischen Elementen und obgleich die Englnder vor allen ein Mischvolk sind. Es ist zwar nur anderthalb Jahrhunderte her, seit die Deutschen anfingen, sich von der franzçsischen Cultur freizumachen, und kaum mehr als hundert Jahre, seit sie der Schule der Franzosen entrannen, deren Einwirkung gleichwohl noch heutzutage zu spren ist; aber doch wird Niemand die Existenz einer deutschen Cultur leugnen kçnnen, wenn sie auch verhltnismßig jung und im Werden ist. Ebensowenig wird der, welcher Sinn fr die Uebereinstimmung zwischen deutscher Musik und deutscher Philosophie, Gehçr fr die Uebereinstimmung zwischen deutscher Musik und deutscher lyrischer Poesie, Auge fr die Vorzge und Mngel der deutschen bildenden Kunst hat, die Ergebniß eines in dem ganzen deutschen Gedanken- und Gefhlsleben erscheinenden Grundhanges sind, geneigt sein, Deutschland von vornherein einheitliche Cultur abzusprechen. Bedenklicher wird das Verhltnis fr solche kleineren Lnder, wo die Abhngigkeit vom Ausland nicht selten Abhngigkeit in zweiter Potenz ist. Fr Nietzsche ist indessen dieser Punkt der verhltnismßig unwichtigere. Er ist berzeugt, daß die Stunde der nationalen Culturen bald schlagen wird, da die Zeit, wo berhaupt nur noch von einer europischen oder europischamerikanischen Cultur geredet werden kçnne, nicht mehr fern sei. Er geht von der Tathsache aus, daß die entwickelten Menschen aller Lnder sich bereits jetzt als Europer, als Landsleute, ja, als Bundesgenossen fhlen, und von dem Glauben aus, daß schon das nchste Jahrhundert den Krieg um die Herrschaft ber die Erde bringen werde. Wenn dann aus dem Resultat dieses Krieges ein biegender, brechender Sturmwind ber alle nationalen Eitelkeiten hinfhrt, worauf wird es dann ankommen? Es gilt dann, meint Nietzsche, ganz in Uebereinstimmung mit den hervorragendesten Franzosen unserer Zeit, ob es bis dahin gelungen sein wird, eine Rasse hervorragender Geister aufzuzchten und zu erziehen, welche die centrale Macht ergreifen kçnnen. Das Grundunglck ist daher nicht, daß ein Land noch keine echte, einheitliche und durchgefhrte Cultur habe, sondern daß man sich cultivirt glaubt. Und den Blick auf Deutschland gerichtet, fragt Nietzsche, wie es zugegangen ist, daß ein so ungeheurer Gegensatz wie der zwischen dem Mangel an wahrer Cultur und dem selbstzufriedenen Glauben, gerade die einzig wahre zu besitzen, entstehen konnte, und er findet die Antwort in dem Umstand, daß eine Klasse Menschen zur Macht gekommen ist, die kein frheres Jahrhundert gekannt hat und die er (1873) auf den Namen Bildungsphilister taufte.
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Der Bildungsphilister hlt seine unpersçnliche Bildung fr die eigentliche Cultur; wenn er davon hat reden hçren, Cultur setze ein einheitliches Geistesgeprge voraus, so bestrkt ihn das in seiner guten Meinung von sich selbst, da er berall Gebildete von seiner Art findet und da Schulen, Hochschulen und Kunstanstalten nach seinen Bedrfnissen und einem seiner Bildung entsprechenden Muster eingerichtet sind. Da er sozusagen berall denselben stillschweigenden Convenienzen hinsichtlich Religion, Moral und Literatur, hinsichtlich Ehe, Familie, Gemeinde und Staat begegnet, so scheint ihm bewiesen, diese imponierende Gleichartigkeit sei Cultur. Er ahnt nicht, daß diese wohlgeordnete und wohlzusammenhngende Philisterei, die an Schreibtischen und auf Ehrenpltzen sitzt, keineswegs deswegen Cultur geworden ist, weil ein Zusammenwirken zwischen ihren Organen stattfindet. Das ist, sagt Nietzsche, nicht einmal schlechte Cultur; sie ist eine nach Vermçgen solid verschanzte Barbarei, nur ganz ohne die Frische und wilde Kraft des ursprnglichen Barbarenthums; und er hat viele malende Ausdrcke, um das Bildungsphilisterthum als den Morast zu schildern, in dem alle Mdigkeit steckenbleibt und in dessen giftigem Nebel alles Streben dahinsiecht. In die Gesellschaft der Bildungsphilister werden wir in der Regel alle hineingeboren, und in ihr wachsen wir auf. Sie empfngt uns mit herrschenden Meinungen, die wir unbewußt annehmen, und selbst wenn die Meinungen getheilt sind, so sind sie doch bloß in Parteimeinungen getheilt – in çffentliche Meinungen. Ein Aphorismus von Nietzsche lautet: „Was sind çffentliche Meinungen? Es sind private Faulheiten.“ Der Satz ist nicht unbedingt wahr. Es gibt einzelne Flle, wo die çffentliche Meinung etwas Werth sein kann. John Morley hat ein gutes Buch darber geschrieben. Gegenber gewissen groben Fllen, wo Treu und Glauben gebrochen werden, und gewissen grob niedertrchtigen Krnkungen von Menschenrecht kann die çffentliche Meinung ein seltenes Mal sich wie eine Macht erheben, die es verdient, daß man ihr folgt. Sonst ist sie in der Regel ein Fabrikat, das im Dienst des Bildungsphilisteriums hergestellt wird. Bei ihrem Eintreten ins Leben begegnet die Jugend also verschiedenen etwas mehr oder weniger philistrçsen Gruppenmeinungen. Je mehr der einzelne zu einem wirklichen Menschen veranlagt ist, desto mehr Widerstand leistet er dagegen, mit der Herde zu gehen. Aber selbst wenn eine innere Stimme zu ihm sagt: Bleibe dir selbst treu! Sei du selbst! so hçrt er mit Mißmut diesen Zuruf. Hat er ein Selbst? Er weiß es nicht; er kennt sich noch nicht. Er sieht sich nach einem Lehrer um, einem Erzieher. Einem, der ihn nicht etwas Fremdes lehren will, sondern ihn lehren will, er selbst zu werden, dieser Einzelne. Es gab in Dnemark einen großen Mann, der mit eindringlicher Kraft die Zumutung an seine Zeitgenossen richtete, sie sollten Einzelne werden. Aber die Aufforderung war von Seiten Sçren Kierkegaard’s nicht so unbedingt gemeint,
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wie sie ausgesprochen wurde. Denn das Ziel war gegeben. Sie sollten Einzelne werden, nicht um sich zu freien Persçnlichkeiten zu entwickeln, sondern um auf diesem Wege wahre Christen zu werden. Sie wurden nur anscheinend frei gestellt, ber ihnen schwebte ein: Du sollst glauben! und ein: Du sollst gehorchen! Sie hatten selbst als Einzelne eine Schlinge um den Hals, und an der anderen Seite des Engpasses der Einzelheit, durch den die Herde getrieben wurde, wartete wieder die Herde: ein Hirt, eine Herde.302 Es ist nicht, um seine Persçnlichkeit sofort wieder aufzugeben, daß der Jngling unserer Tage danach strebt, er selbst zu werden und einen Erzieher sucht. Er will sich kein Dogma vormalen lassen, in dem er wieder landen soll. Und er fhlt mit Unruhe, daß er mit Dogmen angefllt ist. Wie sich selbst in sich selber finden, wie sich selbst aus sich selber ausgraben? Dazu sollte der Erzieher ihm helfen. Ein Erzieher kann nur ein Befreier sein. Einen solchen befreienden Erzieher suchte Nietzsche als Jngling und fand ihn in Schopenhauer. Einen solchen findet Jeder, der danach sucht, in der Persçnlichkeit, die in seiner Entwicklungszeit am tiefsten befreiend auf ihn wirkt. Nietzsche sagt: nachdem er die erste Seite von Schopenhauer gelesen, wußte er, daß er jede Seite von ihm lesen und auf jedes Wort Acht geben wrde, selbst auf die Irrtmer, die bei diesem Schriftsteller ihm begegnen kçnnten. Jeder geistig Strebende wird Mnner nennen kçnnen, die er auf diese Weise gelesen. Allerdings blieb fr Nietzsche, wie im allgemeinen fr jeden Strebenden, noch ein Schritt brig – sich von dem Befreier zu befreien. Wir finden in seinen ltesten Schriften gewisse Schopenhauer’sche Lieblingsausdrcke, die spter nicht mehr bei ihm vorkommen. Aber die Befreiung ist hier eine ruhige Entwicklung zur Selbstndigkeit, whrend welcher die tiefe Dankbarkeit sich erhlt, nicht wie im Verhltnis zu Wagner ein gewaltsamer Umschlag, der ihn veranlaßt, den Werken allen Werth abzusprechen, die ihm frher die Werthvollsten von allen gewesen. Er rhmt an Schopenhauer seine hohe Ehrlichkeit, neben die er nur diejenige Montaigne’s stellen kann, seine Klarheit, seine Bestndigkeit, sein reinliches Verhltnis zu Gesellschaft, Staat und Staatsreligion. Bei Schopenhauer nie eine Einrumung, nie ein Liebugeln. Und Nietzsche erstaunt ber den Umstand, daß Schopenhauer berhaupt das Leben in Deutschland aushielt. Ein neuerer Englnder hat gesagt: „Shelley htte nicht in England leben kçnnen, und eine Rasse von Shelley’s wrde unmçglich gewesen sein!“ Diese Art Geister werden geistig gebrochen, dann schwermthig, zuletzt krank oder irrsinnig. Die Gesellschaft der Bildungsphilister macht den ungewçhnlichen Menschen das Leben sauer. Beispiele finden sich massenhaft in der Literatur aller Lnder, und die Gegenprobe lßt sich 302 Sçren Kierkegaard. Ein literarisches Charakterbild von Georg Brandes. Leipzig 1879.
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bestndig machen. Man braucht nur an die zahlreichen Talente zu denken, die frher oder spter um Pardon gebeten und dem Philisterium Einrumungen gemacht haben, um zu existieren. Aber selbst an den Strksten verrth der unntz aufreibende Kampf sich in Zgen und Runzeln. Nietzsche citirt das Wort eines gebten Diplomaten, der Goethe nur oberflchlich gesehen und gesprochen: „Voil un homme qui a eu de grands chagrins“, und Goethe’s Zusatz, als er es seinen Freunden erzhlt: „Wenn sich nun in unseren Gesichtszgen die Spur berstandenen Leidens durchgefhrter Ttigkeit nicht auslçschen lßt, so ist es kein Wunder, wenn Alles, was von uns und unserem Bestreben brig bleibt, dieselben Spuren trgt.“ Und das ist Goethe, commentirt Nietzsche, auf den unsere Bildungsphilister als auf den glcklichsten Deutschen hinzeigen. Schopenhauer war bekanntlich bis in seine letzten Lebensjahre ein ganz einsamer Mann. Keiner verstand ihn, keiner las ihn. Der grçßte Theil der ersten Auflage seines Werkes: „Die Welt als Wille und Vorstellung“ mußte als Maculatur verkauft werden. Das Buch erschien 1819 und blieb dreißig Jahre lang unbeachtet. Noch 1837 ist Schopenhauers Persçnlichkeit in Dnemark so wenig bekannt, daß Poul Mçller, ein dnischer Dichter und Denker, der ihn frh gelesen hatte, ihn fr einen Professor in Berlin hlt, und 1841 widerfhrt der „Gesellschaft der Wissenschaften“ in Kopenhagen das bekannte Unglck, daß sie ihm ihre Prmie fr eine seiner berhmtesten Arbeiten verweigert. In unseren Tagen ist die Taine’sche Anschauung stark verbreitet worden, daß der große Mann ganz und gar durch das Zeitalter bestimmt wird, dessen Kind er ist, es unbewußt resumirt und ihm mit Bewußtsein Ausdruck zu geben bestrebt sein soll. Aber obgleich der große Mann selbstverstndlich nicht außerhalb des Gangs der Geschichte steht und immer auf Vorgngern fußt, so keimt eine Idee doch stets in einem Einzelnen, oder in einigen Einzelnen auf, und diese Einzelne sind nicht zerstreute Punkte in der niedrigstehenden Menge, sondern Hochbegabte, welche die Menge an sich ziehen und nicht von ihr gezogen werden. Das, was man den Zeitgeist nennt, entsteht zuerst in ganz wenigen Gehirnen. Nietzsche, der von Anfang an, wohl meist durch Schopenhauers Einwirkung, stark von dem Satz erfllt war, der große Mann sei nicht das Kind, sondern das Stiefkind der Zeit, fordert von dem hervorragenden Erzieher, daß er die Jungen gegen die Zeit erziehe – eine, so im allgemeinen formulirt, recht ungereimte Forderung, aber fr ihren Urheber sehr bezeichnend. Es scheint ihm, daß die neuere Zeit besonders drei Menschentypen nacheinander zur Nachahmung und Nachfolge hervorgebracht hat. Zuerst den Menschen Rousseau’s, den Titanen, der, von den hçheren Kasten gedrckt und gebunden, sich erhebt und in seiner Noth die heilige Natur anruft. Dann den Goethe’schen Menschen. Nicht Werther und die verwandten revolutionren Gestalten, die noch von Rousseau abstammen, nicht die ursprngliche Faust-
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figur, sondern Faust, wie er sich nach und nach entwickelt. Er ist kein Weltbefreier, sondern ein Weltbeschauer. Er ist nicht der wirkende Mensch. Nietzsche erinnert an Jarno’s Wort gegen Wilhelm Meister: „Sie sind verdrießlich und bitter, das ist recht schçn und gut. Wenn Sie nur erst einmal recht bçse werden, wird es noch besser sein.“ Einmal recht zornig zu werden, damit es besser werde, dazu will nach der Meinung des dreißigjhrigen Nietzsche der Schopenhauer’sche Mensch aufmuntern. Dieser Mensch nimmt freiwillig das Leiden auf sich, die Wahrheit zu sagen. Sein Grundgedanke ist der: Ein glckliches Leben ist unmçglich; das Hçchste, was der Mensch erreichen kann, ist ein heroisches Leben, d. h. ein Leben, in dem unter den grçßten Schwierigkeiten fr etwas gekmpft wird, was auf die eine oder andere Weise allen zu Gute kommt. Zu dem wahrhaft Menschlichen heben nur die wahren Menschen uns empor, die, welche durch einen Sprung der Natur geworden zu sein scheinen, die Denker und Entdecker, die Knstler und Hervorbringer und die, welche mehr durch ihr Wesen wirken, als durch ihr Wirken: die Edlen die im großen Stil Guten, Die, in denen der Genius des Guten wirkt. Diese Menschen sind der Zweck der Geschichte. Nietzsche formulirt den Satz: „Die Menschheit soll fortwhrend daran arbeiten, einzelne große Menschen zu erzeugen – und dies und nichts Anderes sonst ist ihre Aufgabe.“303 Das ist dieselbe Formel, zu der mehrere aristokratische Geister der Gegenwart gelangt sind. So heißt es bei Renan fast gleichlautend: „In Summa ist der Zweck der Menschheit die Erzeugung großer Menschen …. nichts als große Menschen; die Rettung wird durch große Menschen kommen.“304 Und man sieht aus Flauberts Briefen an George Sand, wie berzeugt auch er davon war. Er sagt z. B. „Das einzige Vernnftige ist und bleibt eine Regierung von Mandarinen, vorausgesetzt, daß die Mandarinen etwas kçnnen, oder richtiger, daß sie viel kçnnen …. Es hat wenig zu bedeuten, ob einige Bauern mehr oder weniger lesen kçnnen und ihren Pastor nicht hçren, aber es ist unendlich wichtig, daß Menschen wie Renan und Littr leben kçnnen und gehçrt werden. Unsere Rettung liegt jetzt in einer wirklichen Aristokratie.“305 Sowohl Renan wie Flaubert wrden Nietzsche’s Grundidee unterschreiben, daß ein Volk der Umweg ist, den die Natur macht, um ein Dutzend großer Mnner hervorzubringen. Aber obgleich es diesem Grundgedanken nicht an Frsprechern fehlt, soll damit nicht gesagt werden, daß er in der europischen Philosophie der herrschende ist. In Deutschland denkt z. B. Eduard von Hartmann sehr verschieden ber das Ziel der Geschichte. Ihm kommt es unzweifelhaft vor, daß die Ge303 Unzeitgemße Betrachtungen. Drittes Stck, S. 6o. 304 Renan, Dialogues et fragments philosophiques, S. 103. 305 Flaubert, Lettres George Sand, S. 139 ff.
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schichte, oder, mit einem grçßeren Wort, der Weltprozeß ein Ziel haben msse und daß dieses Ziel nur negativ sein kçnne, da ein goldenes Zeitalter in seinen Augen nur ein dummes Hirngespinst ist. Daher seine Phantasien ber einen, von den hçchstbegabten Menschen freiwillig herbeigefhrten Weltuntergang. Und im Zusammenhang damit steht seine Lehre, daß die Menschheit nun in das Mannesalter eingetreten zu sein scheine, also ber die Entwicklungsstufe hinaus sei, wo Genies nothwendig waren. Diesem Gedanken gegenber vom Weltprozeß, dessen Ziel Vernichtung oder Erlçsung ist, Erlçsung der leidenden Gottheit vom Dasein, erscheint Nietzsche nchtern und rationell mit seinem einfachen Glauben, daß das Ziel der Menschheit kein in das Unendliche hinausgeschobenes sei, sondern in ihren hçchsten Exemplaren liegen msse, obwohl er dabei die Hauptfrage offen lsst, ob denn diese grçßten Menschen nicht wiederum Ziele haben, die sich ja nicht auf ihre Selbsterhaltung beschrnken. Hiermit hat er jedoch seine schließliche Beantwortung der Frage erreicht: Was ist Cultur? Denn auf jenem Verhltniß beruhen der Grundgedanke der Cultur und die Pflichten, die sie auferlegt. Sie erlegt mir die Pflicht auf, mich selbstthtig in ein Verhltniß zu den großen Menschenidealen zu setzen. Ihr Grundgedanke ist der: sie weist jedem Einzelnen, der fr sie arbeiten und an ihr theilnehmen will, die Aufgabe zu: in sich und außer sich auf die Erzeugung des Denkers und Knstlers, des wahrheits- und schçnheitsliebenden Menschen, der reinen und guten Persçnlichkeit und damit auf die Vollendung der Natur hinzuarbeiten, also nach dem Ziel hin: vollendete Natur. Wann herrscht Culturzustand? Wenn die Menschen einer Gesellschaft bestndig darauf hinarbeiten, die Existenz großer Menschen zu fçrdern. Aus diesem hçchsten Ziel folgen alle anderen. Und welcher Zustand ist am weitesten vom Culturzustand entfernt? Der, in welchem die Menschen instinctiv und mit vereinten Krften das Aufkommen großer Menschen erschweren, indem sie theils das Aufackern des Erdbodens verhindern, der erforderlich ist, damit das Geniale emporwachsen kann, theils hartnckig alles Geniale bekmpfen, das sich unter ihnen erhebt. Ein solcher Zustand ist weiter von Cultur entfernt als die reine Barbarei. Aber gibt es einen solchen? wird vielleicht der eine oder andere fragen. Die meisten kleineren Vçlker kçnnen sich die Antwort aus der Geschichte ihres Vaterlandes herauslesen. Man wird da, in dem Grade, wie die „Bildung“ steigt, das Bildungsklima sich verbreiten sehen, in dem das Genie nicht gedeihen kann. Und das ist um so bedenklicher, da, wie es scheint, in den modernen Zeiten und unter den Rassen, die jetzt die Macht ber die Erde sich getheilt haben, Staatsverbnde von ein paar, oder einigen paar Millionen Menschen selten zahlreich genug sind, um Geister vom allerersten Rang hervorzubringen. Es scheint, als wrden die Genies erst aus dreißig oder vierzig Millionen heraus-
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destillirt. Um so mehr Grund fr die kleineren Genossenschaften, aus allen Krften auf Cultur hinzuarbeiten. Man ist in neuerer Zeit mit dem Gedanken vertraut, das Ziel, auf das es hinzuarbeiten gelte, sei das Glck: das Glck Aller, oder doch der Meisten. Worin das Glck besteht, wird seltener erwogen, und doch lßt die Frage sich nicht abweisen, ob nicht ein Jahr, ein Tag, eine Stunde im Paradiese mehr Glck enthlt, als ein Leben in der Ofenecke. Aber gleichviel. So vertraut man auch mit dem Gedanken ist, einem ganzen Land, einer Menschenmenge Opfer zu bringen, so unsinnig scheint es, daß ein Mensch um einzelner anderer Menschen willen da sein sollte oder die Pflicht haben kçnnte, ihnen sein Leben zu weihen, um damit die Cultur zu fçrdern. Aber vielleicht lßt jenes grçßtmçgliche Glck, welches es der Bentham-Mill’schen Moral zufolge gilt der grçßtmçglichen Zahl zu sichern, sich berhaupt nur von den einzelnen großen Persçnlichkeiten erlangen, und auf die Culturfrage, wie das einzelne Menschenleben den hçchsten Werth und die grçßte Bedeutung erhalte, muß doch die Antwort lauten: dadurch, daß es zum Vortheil der seltensten und werthvollsten Exemplare des Menschengeschlechts gelebt wird. So richtet der Einzelne auch am meisten dafr aus, daß das Leben der Meisten Werthvoller werde. In unseren Tagen bedeutet eine sogenannte Culturinstitution nur zu oft eine Einrichtung, kraft welcher die Gebildeten, in geschlossener Reihe vorgehen und alle Einsamen und Widerspenstigen, deren Streben auf hçhere Ziele gerichtet ist, zur Seite drngen; auch den Gelehrten fehlt daher in der Regel aller Sinn fr den werdenden Genius und jedes Gefhl fr den Werth des gleichzeitigen und strebenden Genies. Darum haben, trotz des unbestreitbaren und rastlosen Fortschrittes auf allen technischen und fachwissenschaftlichen Gebieten, die Bedingungen fr die Entstehung des Großen sich so wenig verbessert, daß der Widerwille gegen das Geniale eher zu- als abgenommen hat. Vom Staate kçnnen die hervorragenden Individuen nicht viel erwarten. Er ntzt ihnen selten, wenn er sie in seinen Dienst nimmt; er ntzt ihnen mit Sicherheit nur, wenn er ihnen volle Unabhngigkeit schenkt. Nur wirkliche Cultur kann dem entgegenarbeiten, daß sie zu frh mde oder erschçpft werden, und sie vor dem aufreibenden Kampf mit dem Bildungsphilisterium bewahren. Nietzsche’s Werth beruht darauf, daß er ein solcher Culturtrger ist: ein Geist, der, selbst unabhngig, Unabhngigkeit mittheilt und der fr Andere jene befreiende Macht werden kann, die Schopenhauer in seiner Jugend fr ihn geworden.
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II. Vier von Nietzsche’s Jugendschriften fhren den gemeinsamen Titel: „Unzeitgemße Betrachtungen“, ein Titel, der bezeichnend fr seinen frh gefaßten Vorsatz ist, gegen den Strom zu gehen. Eins der Gebiete, auf dem er sich gegen den Zeitgeist in Deutschland gekehrt hat, ist das der Erziehung, indem er auf unbndige Art die umfassende historische Erziehung, auf die Deutschland stolz ist und die man in der Regel berall als wnschenswerth betrachtet, verurtheilt hat. Sein Grundgedanke ist der: Was das Geschlecht frei zu athmen und khn zu wollen verhindert, ist die allzulange Vorzeit, die es hinter sich, wie eine Kugel am Bein, herschleppt. Er meint, die historische Erziehung verhindere das Geschlecht sowohl daran zu handeln, wie zu genießen, da Der, welcher sich nicht im Augenblick ganz sammeln und in ihm leben kann, weder selbst Glck zu fhlen noch etwas auszurichten vermag, das Andere glcklich macht. Ohne die Fhigkeit, unhistorisch zu fhlen, kein Glck. Und ebenso gehçrt zu allem Handeln Vergessen, oder richtiger Nichtwissen des Vergangenen. Das Vergessen, das Unhistorische ist wie die einhllende Luft, der Dunstkreis, in dem allein Leben entstehen kann. Man denke, um das zu verstehen, sagt Nietzsche, an einen Jngling, der von Leidenschaft fr ein Weib, oder an einen Mann, der von Leidenschaft fr eine Aufgabe ergriffen wird. Fr beide existirt, was hinter ihnen liegt, nicht mehr, und doch ist dieser Zustand, der vçllig unhistorische, derjenige, in dem jede Handlung, jede Großthat ersonnen und vollbracht wird. Dem analog aber gibt es, wie Nietzsche meint, einen gewissen Grad historischen Wissens, der vernichtend fr die menschliche Tathkraft und verderblich fr die schçpferische Kraft eines Volkes ist. Man hçrt den gelehrten Philologen, dessen Beobachtungen meist auf deutsche Gelehrte und Knstler gerichtet gewesen, aus diesem Raisonnement heraus. Denn daß der deutsche Kaufmannsstand oder Bauernstand, das deutsche Militr oder die deutschen Industriellen unter einem Uebermaß von historischer Bildung leiden sollten, wre es ungereimt anzunehmen. Indessen drfte selbst fr den deutschen Dichter, Forscher und Knstler das Uebel, worauf hier hingewiesen wird, von der Art sein, daß ihm nicht durch bloße Abschaffung des historischen Unterrichts beizukommen ist. Die, deren Schaffenstrieb durch das historische Wissen gehemmt und getçtet werden kann, waren sicher von vornherein so ohnmchtig und thatunkrftig, daß die Welt durch ihre Production nicht bereichert worden wre. Und was da lhmt, ist ja außerdem nicht so sehr die ungleichartige Masse von todten historischen Kenntnissen (ber Regierungshandlungen, politische Schachzge, Kriegsthaten, knstlerische Stilarten usw.) wie die Bekanntschaft mit einzelnen großen Geistern der Vergangenheit, mit deren Thaten verglichen Alles, was der Mensch noch leisten kann, von so verschwindender Bedeutung zu sein scheint, daß es
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gleichgltig wird, ob seine Arbeit zur Welt komme oder nicht. Goethe allein kann einen beginnenden deutschen Dichter zur Verzweiflung bringen. Aber ein Heldenverehrer wie Nietzsche kann consequenter Weise die Bekanntschaft mit den Grçßten nicht verringert wnschen. Der Mangel an knstlerischem Muth und geistiger Khnheit hat tiefer liegende Ursachen, unter ihnen vor allem das Zerbrçckeln der Persçnlichkeit, das die moderne Gesellschaftsordnung mit sich fhrt. Starke Menschen vertragen eine große Summe Geschichte, ohne zum Leben ungeeignet zu werden. Was indessen interessant und bezeichnend fr Nietzsche’s geistigen Standpunkt ist, das sind seine Untersuchungen darber, in welchem Grade das Leben berhaupt fr die Geschichte Gebrauch hat. Die Geschichte gehçrt nach seiner Auffassung dem, der einen großen Kampf kmpft und Vorbilder, Lehrer, Trçster nçthig hat, die er unter seinen Zeitgenossen nicht findet. Ohne die Geschichte wrde der Hçhenzug von großen Augenblicken großer Menschen, der sich durch die Jahrtausende erstreckt, nicht lebendig und klar vor mir stehen kçnnen. Einer, der sieht, daß ungefhr kaum hundert Menschen die Cultur der Renaissance herbeifhrten, wird z. B. zu der Ueberzeugung gelangen kçnnen, daß hundert produktive Menschen, in einem neuen Geist erzogen, dem Bildungsphilisterium ein Ende machen kçnnten. Verderblich dagegen kann die Geschichte wirken in der Hand unfruchtbarer Menschen. Man jagt z. B. die jungen Knstler in die Galerien, anstatt in die Natur hinaus, sendet sie mit noch unbefestigtem Sinn in Kunststdte, wo sie den Mut verlieren. Und in allen ihren Formen kann, seiner Ansicht nach, die Geschichte zum Leben untauglich machen: als monumentale, indem sie den Irrthum hervorruft, daß es bestimmte, immer wiederkehrende Constellationen gebe, so daß, was einmal mçglich war, jetzt unter ganz vernderten Umstnden wieder mçglich sei; als antiquarische, durch Erwecken der Piett fr das Alte und Vergangene, welche den Handelnden lhmt, der immer die eine oder andere Piett krnken muß; endlich als kritische Geschichte durch das niederschlagende Gefhl, das sie hervorruft, daß wir gerade die Irrtmer der Vergangenheit, ber die wir uns zu erheben streben, als Erbschaft und Kindheitseindrcke in unserem Blut tragen, also bestndig in einem inneren Streit zwischen unserer alten und neuen Natur leben. Auf diesem Punkt, wie auf anderen frher berhrten, will Nietzsche in letzter Instanz der Kreuzlahmheit der modernen Bildung zu Leibe. Daß „gebildet“ und „historisch gebildet“ in unserer Zeit fast gleiche Begriffe sind, ist ihm ein trauriges Symptom. Es ist, sagt er, spurlos vergessen, daß Bildung sein sollte, was sie bei den Griechen war: Beweggrund, Fhigkeit zum Entschluß; heutzutage wird Bildung als Innerlichkeit bezeichnet, weil sie ein todter inwendiger Klumpen ist, der seinen Besitzer nicht bewegt. Die am meisten „Gebildeten“ sind Conversationslexikons. Wenn sie handeln, ist es kraft einer allgemein anerkannten Convenienz oder aus der flachen Rohheit heraus.
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An diese auf den allgemeinen Zustand zielende Betrachtung knpft sich dann eine Klage, die vielleicht besonders in dem modernen Deutschland entspringen mußte, die Klage darber, wie drckend die historische Grçße in dem Epigonenbewußtsein der Nachgeborenen wirke, in jener Ueberzeugung, ein Sptling, eine Nachgeburt einer grçßeren Zeit zu sein, einer, der wohl Geschichte lernen, aber nie Geschichte hervorbringen kçnne. Sogar die Philosophie, klagt Nietzsche, mit einem Seitenblick auf die deutschen Universitten, sei mehr und mehr zu einer Geschichte der Philosophie geworden, zu einer Mittheilung darber, was alle Welt ber alles Mçgliche gemeint hat. Man betont in den verschiedenen Lndern wie eine Ehrensache, daß man Gedankenfreiheit habe. In Wirklichkeit sei das nur eine drftige Freiheit. Man darf auf hundert Arten denken – handeln dagegen darf man nur auf eine einzige Art –, und dieser Zustand ist es, der als Zustand der Bildung bezeichnet wird und in Wirklichkeit nur eine Form, „und zudem eine schlechte Form, Uniform ist“. Nietzsche greift jene Auffassung an, nach welcher die historische Bildung vor unserem Bewußtsein als die vor allen anderen gerecht urtheilende steht. Man liebt den Historiker, welcher der reinen Erkenntniß zustrebt, aus welcher nichts folgt. Aber es gibt viele gleichgltige Wahrheiten, und es ist ein Unglck, wenn ganze Bataillone von Forschern sich darber hermachen, selbst wenn diese engen Geister ehrliche Charaktere sind. Man hlt den Historiker fr objectiv, der die Vergangenheit an den Lieblingsmeinungen seiner Zeitgenossen mißt, und den fr subjektiv, der diese Meinungen nicht als Muster betrachtet. Man hlt den fr am meisten berufen, ein Moment der Vergangenheit darzustellen, dem diese ganz gleichgltig ist. Aber nur wer an der Zukunft mitbaut, versteht die Vergangenheit, und nur zum Kunstwerk umgebildet kann die Geschichte Instincte aufrecht erhalten oder erwecken. Wie die historische Erziehung jetzt betrieben wird, vermittelt man eine solche Flle von Eindrcken, daß Stumpfheit, ein Gefhl, alt in einem alten Volk geboren zu sein, die Folge ist – obgleich uns nicht dreißig Menschenleben, jedes auf siebzig Jahre berechnet, vom Beginn unserer Zeitrechnung trennen. – Und hiermit verbunden ist der ungeheure Aberglaube an den Werth der Weltgeschichte. Unaufhçrlich wird der Schiller’sche Satz: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ wiederholt, als kçnnte es ein anderes historisches Gericht geben als den Gedanken; und hartnckig hat sich die Hegel’sche Auffassung von der Weltgeschichte als der immer deutlicheren Selbstoffenbarung der Gottheit gehalten, bloß daß sie nach und nach in reine Bewunderung fr den Erfolg, in Billigung eines jeden Factums, sei es auch noch so brutal, bergegangen ist. Aber Grçße hat nichts mit dem Resultat zu schaffen und nichts mit dem glcklichen Ausgang. Demosthenes, der umsonst redete, ist grçßer als Philipp, der immer siegte. Alles scheint, behauptet Nietzsche, in unseren Tagen in der Ordnung, sobald es eine fertige Thatsache ist; selbst wenn ein Genie in seinem blhenden
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Alter stirbt, findet man Beweise dafr, daß es zur rechten Zeit gestorben ist. Und das bißchen Geschichte, das wir haben, nennt man den „Weltprozeß“; man zerbricht sich den Kopf ber den Ursprung und das Endziel desselben – was doch ein Zeitverlust sein drfte. Weshalb du da bist, denkt Nietzsche wie Kierkegaard, das kann dir Niemand in der Welt im voraus sagen; aber da du nun einmal da bist, so suche deinem Dasein einen Sinn zu geben, indem du dir ein so hohes und edles Ziel steckst, wie du es vermagst. Bezeichnend fr Nietzsche’s spter so ausgeprgt aristokratische Tendenz ist sein Eifern gegen den Respect der modernen Geschichtsschreibung vor den Massen. Ehemals, raisonnirt er, schrieb man Geschichte aus dem Gesichtspunkt der Regenten und verweilte ausschließlich bei ihnen, wie mittelmßig oder schlecht sie auch waren. Nun ist man dazu bergegangen, sie aus dem Gesichtspunkt der Massen zu schreiben. Fr Nietzsche ist die Masse nicht 1 + 1 + 1 . . . . (bis die Zahl derselben herauskommt), sondern 1 + 1 + 1 . . . . . + x d. h. die Bestialitt, die in den Einzelnen dadurch entwickelt wird, daß sie Masse werden. So aufgefaßt sind ihm denn die Massen entweder Copien großer Persçnlichkeiten, schlechte Copien, verwischte Copien aus schlechtem Material, oder sie sind Widerstand gegen die Großen, oder sie sind Werkzeuge der Großen. Im Uebrigen sind sie etwas fr die Statistik, die in den Massentrieben: Nachffen, Faulheit, Hunger und Geschlechtstrieb sogenannte historische Gesetze findet. Groß nennt man dann, was whrend langer Zeit eine solche Masse in Bewegung gesetzt hat. Und man tauft es historische Macht. Wenn z. B. die plumpe Masse sich den einen oder anderen Religionsgedanken angeeignet oder ihren Bedrfnissen angepaßt, ihn mit Zhigkeit verteidigt und durch Jahrhunderte mit sich geschleppt hat, so nennt man den Erfinder dieses Gedankens groß. Das Zeugniß von Jahrtausenden spricht dafr, heißt es. Aber – das ist Nietzsche’s und Kierkegaard’s gemeinsamer Gedanke – das Edelste, Hçchste wirkt berhaupt gar nicht auf die Massen, weder gleich noch spter. Darum spricht der historische Erfolg, die Zhigkeit und Dauerhaftigkeit einer Religion eher gegen die Grçße ihres Stifters als fr sie. Will man eins der historischen Ereignisse nennen, die vollstndig geglckt sind, so nennt man gerne die Reformation. Nietzsche macht gegen die Bedeutung dieses Erfolgs nicht die gewçhnlich angefhrten Thatsachen geltend: Luther’s frhzeitige Verweltlichung derselben, seine Compromisse mit den Machthabern, das Interesse der Frsten, sich von der Obermacht der Kirche zu befreien und sich zugleich des Kirchengutes und einer unterthnigen, abhngigen Geistlichkeit zu versichern, an Stelle der ehemaligen freien und von der Staatsgewalt unabhngigen. Er erblickt die Hauptursache des Gelingens der Reformation in dem Mangel der Cultur der nordeuropischen Volksstmme. Der Versuch, im Alterthum neue griechische Religionen zu stiften, scheiterte wiederholt. Obgleich Mnner wie Pythagoras, Plato, vielleicht Empedokles Eigenschaften von Religionsstiftern besaßen, waren die Individualitten zu
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verschiedenartig, als daß ihnen mit einer Durchschnittsanweisung auf Glauben und Hoffnung htte geholfen werden kçnnen. Daß Luther’s Reformation im Norden gelang, war dementsprechend ein Zeichen, daß die Cultur des Nordens hinter der Sdeuropa’s zurckstand. Entweder gehorchte man blind, wie im skandinavischen Norden, der Losung von oben, oder, wo der Umschlag eine Gewissenssache war, offenbarte diese, wie wenig individualisirt die Bevçlkerung war, wie einsartig in ihren geistigen Bedrfnissen. Solchermaßen war auch ursprnglich die Bekehrung des heidnischen Alterthums nur wegen der reichlichen Vermischung des rçmischen Bluts mit Barbarenblut gelungen, die stattgefunden hatte. Die neue Lehre wurde von Barbaren und Sklaven den Weltherrschern aufgezwungen. Hier hat nun der Leser Proben der Argumente, mit denen Nietzsche seine Behauptung begrndet, die Geschichte als Geschichte gebe nicht das gesunde und strkende Erziehungselement fr die jungen Generationen ab, wie man glaubt: nur der, welcher das Leben kennengelernt habe und zum Handeln gerstet sei, brauche die Geschichte und verstehe sie anzuwenden. Die anderen drcke sie, mache sie unfruchtbar, indem sie ihnen das Epigonengefhl mittheile und sie veranlasse, auf allen Gebieten dem Erfolg zu huldigen. Nietzsche’s Polemik in dieser Sache ist eine Polemik gegen jeden historischen Optimismus, aber er wendet sich energisch von dem gewçhnlichen Pessimismus ab, der seiner Ansicht nach aus dem Verfall, aus entarteten oder geschwchten Instincten, entspringt. Er schwrmt jugendlich fr die siegreiche Durchfhrung einer „tragischen“ Cultur, getragen von einem aufwachsenden Geschlecht mit unerschrockenem Sinn, in dem das griechische Alterthum wiedergeboren werden kçnne. Er verwirft den Schopenhauer’schen Pessimismus, denn er verabscheute frh jede Askese; aber er sucht einen Pessimismus der Gesundheit, der aus der Strke, der berstrçmenden Kraft herstammt, und er glaubt ihn bei den Griechen zu finden. Er hat diese seine Auffassung in seiner gelehrten und tiefsinnigen Jugendschrift: „Die Geburt der Tragçdie oder Griechenthum und Pessimismus“ entwickelt, in der er zwei neue Bezeichnungen „apollinisch“ und „dionysisch“ einfhrte. Die beiden Kunstgottheiten der Griechen, Apollo und Dionysos, deuten den Gegensatz zwischen der bildenden Kunst und der Musik an. Der erstere entspricht dem Traum, der andere dem Rausch. Im Traum traten die Gçttergestalten zuerst vor die Menschen hin; der Traum ist die Welt des schçnen Scheins. Sehen wir dagegen in den tiefsten Grund der Menschen unter der Sphre des Gedankens und der Phantasie hinab, so begegnen wir einer Welt von Grauen und Entzcken, dem Reich des Dionysos. Oben herrscht Schçnheit, Maß und Grenze, darunter aber wogt frei das Uebermaß der Natur in Lust und Qual. Von einer spteren Entwicklungsstufe Nietzsche’s betrachtet, offenbart sich das tiefere Motiv dieser forschenden, sprenden Versenkung in das griechische Alterthum. Schon auf jenem Zeitpunkt findet er in dem, was fr Moral gilt, ein Verkleinerungsprincip der Natur
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gegenber, sucht den principiellen Gegensatz davon und findet ihn in dem rein knstlerischen, vom Christenthum entferntesten Princip, das er das „dionysische“ tauft. Psychologisch gesehen, treten schon hier die Grundzge dieses Schriftstellers deutlich hervor. Was fr eine Natur ist es, die mit einem so wilden Haß das Philisterthum bis hinauf zu David Strauss verfolgt? Eine Knstlernatur augenscheinlich. Was fr ein Schriftsteller ist es, der mit so tiefer Ueberzeugung vor den Gefahren der historischen Bildung warnt? Ein Philolog augenscheinlich, der sie an sich selbst erlebt hat, sich selbst davon bedroht gefhlt hat, Epigone zu werden, und nahe daran gewesen ist, den historischen Erfolg zu verehren. Was fr ein Wesen ist es schließlich, das so leidenschaftlich Cultur als Geniecultus definirt? Gewiß kein Eckermann-Naturell, aber ein Schwrmer, der anfangs willig war zu gehorchen, wo er nicht befehlen konnte, dem bald aber sein eigener Herrschertrieb klar wurde, und der frh begriff, daß die Menschheit noch weit davon entfernt ist, ber den alten Gegensatz: gehorchen und befehlen, hinausgekommen zu sein. Napoleons Auftreten ist ihm, wie vielen anderen, ein Beweis davon: die Freude, die Tausende ergriff, daß endlich wieder einer gekommen war, der zu befehlen verstand. Aber er ist nicht dazu angelangt, auf dem Gebiete der Moral Gehorsam zu predigen. Im Gegentheil, wie er veranlagt ist, leitet er die Schlaffheit und Niedrigkeit unserer modernen Moral davon ab, daß sie noch immer als hçchstes Gebot Gehorsam setzt, anstatt der Fhigkeit, sich selbst seine Moral zu schreiben. Die militrische Schule und die Theilnahme am Krieg haben ihn wahrscheinlich in sich selbst etwas Hartes und Mnnliches entdecken lassen und ihm einen weitgehenden Abscheu vor Weichlichkeit und Feminismus beigebracht. Er wandte sich dann mit Unwillen von der Mitleidsmoral in Schopenhauer’s Philosophie ab und von dem Romantisch-Katholischen in Wagners Musik, denen er frher beiden gehuldigt. Er sah ein, daß er in seiner Phantasie beide Meister nach seinen Bedrfnissen umgebildet, und er verstand recht wohl den Instinct der Selbsterhaltung, der sich darin geltend gemacht hatte. Der strebende Geist formt sich die Helfer zurecht, deren er bedarf. So widmete er spter sein Buch: „Menschliches, Allzumenschliches“, das zum hundertjhrigen Gedchtnistage Voltaires herausgegeben wurde, den „freien Geistern“ unter seinen Zeitgenossen; er trumte sich die Bundesgenossen zu, die er im Leben noch nicht getroffen hatte. Die schwere, schmerzvolle Krankheit, die mit seinem zweiunddreißigsten Jahre beginnt und ihn fr lange Zeiten zum Einsiedler macht, lçst ihn von der frheren Romantik und befreit seinen Geist von allen Banden der Piett. Sie fhrt ihn weit weg vom Pessimismus, kraft seines stolzen Gedankens: „Ein Leidender hat kein Recht zum Pessimismus.“ Diese Krankheit macht ihn in strengem Sinne zum Philosophen. Sein Gedanke schleicht fragelustig auf ver-
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botenen Wegen: dies gilt fr einen Werth. Kann man ihn nicht umkehren? – Dies wird fr ein Gutes gehalten. Ist es nicht eher ein Bçses? – Ist Gott nicht widerlegt? Aber kann man sagen, daß der Teufel es ist? – Sind wir nicht Betrogene? Und betrogene Betrger, Alle? …. Und so steigt aus langer Krnklichkeit eine leidenschaftliche Begierde nach Gesundheit, die Freude des Genesenden am Leben, an Licht, an Wrme, an Leichtigkeit und Freiheit des Geistes, an dem Ueberblick und den weiten Horizonten des Gedankens, am Schauen „neuer Morgenrçthen“, an der Gestaltungsfhigkeit, an der dichterischen Kraft, empor. Und er tritt in das hohe Selbstgefhl und den Entzckungszustand einer lange ununterbrochenen Produktion hinein. III. Es ist weder mçglich noch nothwendig, die ganze lange Reihe seiner Schriften hier durchzugehen. Um was es sich fr den handelt, der das Interesse auf einen noch wenig gelesenen Schriftsteller hinleiten will, das ist, seine eigenthmlichsten Gedanken und Ausdrcke in Relief zu setzen, so daß der Leser sich mit geringer Mhe eine Vorstellung von seiner Art und Weise als Denker und Geist bilden kann. Die Arbeit wird in diesem Fall dadurch erschwert, daß Nietzsche in Aphorismen denkt, und dadurch erleichtert, daß er jedem Gedanken einen Hochdruck zu geben pflegt, der ihm eine paradoxale Physiognomie verleiht. Die englische Wohlfahrtsmoral hat in Deutschland nicht angeschlagen; unter den lebenden Denkern sind wohl Eugen Dhring und Friedrich Paulsen ihre hervorragendsten Vertreter. Eduard von Hartmann hat sich in seiner „Phnomenologie des sittlichen Bewußtseins“ bestrebt, die Unmçglichkeit darzulegen, zugleich fr den Culturfortschritt und fr das Menschenglck zu arbeiten. Nietzsche findet neue Schwierigkeiten bei einer Untersuchung des Begriffs Glck. Das Ziel der Wohlfahrtsmoral ist, den Menschen so viel Lust und so wenig Unlust wie mçglich zu schaffen. Aber wie, wenn Lust und Schmerz so verknpft sind, daß Der, welcher so viel Lust wie mçglich haben will, auch eine entsprechende Summe Unlust in Kauf nehmen muß? Es heißt in Clrchens Lied: „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrbt.“ Wer weiß, ob das letztere nicht die Bedingung fr das erstere ist? Die Stoiker glaubten es und verlangten, um der Qual zu entgehen, so wenig Lust wie mçglich vom Leben. Offenbar muß man daher auch in unseren Tagen dem Menschen keine starken Freuden versprechen, wenn man sie vor großen Leiden bewahren will. Man sieht, Nietzsche spielt die Frage auf das hçchste geistige Gebiet hinber, ohne Rcksicht darauf, daß das niedrigste und verbreitetste Unglck: Hunger, kçrperliche Verkmmerung, beranstrengende, die Gesundheit zerstçrende Arbeit keinen Ersatz in heftigen Freuden bietet. Selbst wenn aller
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Genuß theuer erkauft wird, ist damit noch nicht gesagt, daß jegliche Qual durch heftigen Genuß unterbrochen und aufgewogen wird. In Uebereinstimmung mit seiner aristokratischen Geistesrichtung greift er demnchst die Bentham’sche Formel: „Das grçßtmçgliche Glck fr die grçßtmçgliche Anzahl“ an. Das Ideal war ursprnglich, das Glck aller Menschen zu schaffen. Da sich das nicht thun lßt, erhlt das Princip die angefhrte Begrenzung. Aber warum Glck fr die grçßte Anzahl? man kçnnte sich denken, fr die Besten, die Edelsten, die Genialsten, und es muß erlaubt sein, zu fragen, ob drftiger Wohlstand und drftiges Wohlsein wirklich jener Ungleichheit der Lebensbedingungen vorzuziehen sind, deren Stachel die Cultur zu stetigem Steigen zwingt. Nietzsche mag hierin Recht haben, ohne deshalb mit diesem Angriff Entscheidendes gegen das Wohlfahrtsprincip in der Moral vorgebracht zu haben. Er faßt die Begriffe Lust und Glck zu eng. Wenn der Culturfortschritt auch manchmal auf seiner Bahn das Glck der Individuen vernichtet, so zielt es doch in letzter Instanz darauf, die allgemeine Wohlfahrt zu fçrdern. Das sogenannte Glck des Wilden ist nicht nur nicht das hçchste, sondern kein echtes. Man nenne den hçheren Zustand Glck, oder man gebe ihm einen anderen Namen: das Entscheidende ist, daß die hçhere Empfnglichkeit auch fr den Schmerz kein zu theurer Preis ist fr die Steigerung des ganzen Lebensinhalts. Und ebenso wenig streitet die Ansicht Nietzsche’s von der großen Persçnlichkeit als geschichtlichem Zweck principiell gegen das Moralprincip der Wohlfahrt. Ich huldige zwar durchaus nicht der Betrachtungsweise, nach welcher die große Persçnlichkeit nur als Mittel zum Zweck oder als Diener der Menschheit aufgefaßt wird. Der große Mensch ist insofern Selbstzweck, als er (wie Leonardo oder Goethe) vor Allem sich selbst befriedigen will und muß. Aber nicht desto weniger bringt er eben dadurch etwas hervor, das auf irgendeine Weise unzhligen Geschlechtern zu Gute kommt. Gewichtiger ist Nietzsche’s Polemik gegen die Entsagungsmoral. Es wird Selbstlosigkeit gelehrt. Moralisch sein heißt uneigenntzig sein. Es ist gut, selbstlos zu sein, heißt es. Aber was heißt das: gut? gut fr wen? Nicht fr den sich selbst Aufopfernden, aber fr seinen Nchsten. Wer die Tugend der Selbstlosigkeit preist, preist Etwas, was der Gesellschaft zu Gute kommt, aber dem einzelnen zum Schaden gereicht. Und der Nchste, der uneigenntzig geliebt werden will, ist selbst nicht uneigenntzig. Der Grundwiderspruch in dieser Moral ist, daß sie ein Verzichtleisten auf das Wohl des Ichs fordert und empfiehlt, welches zum Besten eines anderen Ichs stattfindet. Der wesentliche und unschtzbare Werth aller Moral besteht fr Nietzsche ursprnglich nur darin, daß sie ein langwieriger Zwang ist. Wie die Sprache durch den metrischen Zwang Kraft und Freiheit gewinnt, wie alles, was in der bildenden Kunst, der Musik, dem Tanz usw. von Freiheit und Feinheit sich findet, kraft willkrlicher Gesetze geworden ist, so gelangt auch die Men-
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schennatur nur durch Zwang zur Entwicklung. Damit wird der Natur nicht Gewalt angethan; das ist selbst Natur. Das Wesentliche ist, daß gehorcht werde, lange und in einer Richtung. Du sollst gehorchen, irgendwem und lange, sonst gehst du zugrunde, das scheint das moralische Gebot der Natur zu sein, das zwar nicht kategorisch ist (wie Kant meinte), auch nicht sich an den einzelnen wendet (die Natur bekmmert sich nicht um den einzelnen), sondern das an Vçlker, Stnde, Zeitalter, Rassen, ja an die Menschheit gerichtet zu sein scheint. Alle Moral dagegen, die sich an den einzelnen zu seinem eigenen Besten, um seines Wohlergehens willen wendet, ist, aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, nichts Anderes als Klugheitsregel, Recept gegen Leidenschaften, und all diese Moral ist in ihrer Form ungereimt, da sie sich an alle wendet, und verallgemeinert, was sich nicht verallgemeinern lßt. Kant gab mit seinem kategorischen Imperativ eine Richtschnur. Aber diese Richtschnur ist in unseren Hnden geborsten. Es ntzt nichts, uns zu sagen: „Handle, wie andere in diesem Falle handeln sollten.“ Denn wir wissen, daß es keine gleichen Handlungen gibt oder geben kann, sondern, daß jede Handlung einzig in ihrer Art ist, so daß alle Vorschriften sich nur auf die grobe Außenseite der Handlung beziehen. Aber die Stimme und das Urtheil des Gewissens? Die Schwierigkeit ist nur, daß wir ein Gewissen hinter unserem Gewissen haben, ein intellectuelles hinter dem moralischen. Wir haben entdeckt, daß das Urtheil von N. N.s Gewissen eine Vorgeschichte in seinen Trieben, Sympathien, Antipathien, Erfahrungen oder Mangel an Erfahrungen hat. Wir sehen recht wohl ein, daß unsere Ansichten ber das Rechte und Gute, unsere moralischen Werthbestimmungen krftige Hebel sind, wo es sich um Tathen handelt; aber wir mssen damit anfangen, unsere Ansichten zu lutern und uns selbstndig neue Werthtafeln zu schaffen. Und was das Moralpredigen fr Alle angeht, so ist es ganz ebenso leer wie das moralische Geklatsch der geselligen Persçnlichkeiten ber einander. Nietzsche gibt den Morallehrern den guten Rath, daß sie, anstatt sich mit der Erziehung des Menschengeschlechtes zu bemhen, lieber wie die Pdagogen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert thun sollten, die ihre ganze Kraft darauf concentrirten, einen einzelnen Menschen zu erziehen. Aber in der Regel sind die moralischen Schreihlse selbst ganz unerzogene Menschen, und ihre Kinder erheben sich selten ber die moralische Mittelmßigkeit. Wer da fhlt, daß er in seinem innersten Wesen mit Anderen außer Vergleich ist, der will sein eigener Gesetzgeber sein. Denn eins ist vonnçthen: seinem Charakter Stil geben. Diese Kunst wird von dem gebt, der mit Blick fr die starken und schwachen Seiten seiner Natur dies und jenes aus seinem Wesen entfernt, demnchst durch tgliche Uebung und erkmpfte Gewohnheit Neues hinzufgt, das ihm zur zweiten Natur wird, sich also einem Zwang unterwirft, um nach und nach sein Wesen unter sein eigenes Gesetz zu beugen. Nur so
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erlangt ein Mensch Zufriedenheit mit sich selbst, und nur so wird er ertrglich fr Andere. Die Unzufriedenen und Mißglckten rchen sich nmlich in der Regel immer an Anderen. Selbst saugen sie Gift aus allem, aus ihren schwachen Fhigkeiten wie aus ihren geringen Mitteln, und leben mit einem bestndigen Durst nach Rache gegen Die, in deren Wesen sie Harmonie ahnen. Immer fhren solche Menschen die Moralworte im Munde, die ganze Janitscharenmusik: Sittlichkeit, Ernst, Keuschheit, die Forderungen des Ideal; immer rast in ihrem Herzen der Neid gegen Die, welche Gleichgewicht erlangt haben und deswegen genießen kçnnen. Jahrtausende hindurch war Sittlichkeit Gehorsam gegen die herrschende Sitte, Ehrfurcht vor den ererbten Gewohnheiten. Der freie, originale Mensch war unsittlich, weil er mit der Ueberlieferung brach, vor der die anderen eine aberglubische Furcht hegten. Hufig sah er sich selbst auch fr unsittlich an und wurde selbst von dem Schauder ergriffen, den er erweckte. Unbewußt wurde dann eine solche Volksmoral der Gewohnheitssittlichkeit von allen Denen ausgearbeitet, die zum Stamm gehçrten, indem man bestndig neue Beispiele und Beweise dafr fand, daß das angebliche Verhltnis zwischen Schuld und Strafe vorhanden war: Fhrt man sich so und so auf, so geht es Einem schlecht. – Da es Einem nun hufig schlecht geht, wurde die Behauptung nie entkrftet und die Volksmoral immer aufs neue besttigt. Sitte und Gebrauch reprsentirten die Erfahrungen frherer Geschlechter hinsichtlich des vermeintlich Ntzlichen oder Schdlichen; aber das Gefhl fr das Sittliche steht in keinem Verhltnis zu diesen Erfahrungen als solchen, sondern zu ihrem Alter, ihrer Ehrwrdigkeit und ihrer daraus folgenden Unbestreitbarkeit. In dem Kriegszustand, in dem ein von allen Seiten bedrohter Stamm im Alterthum lebte, war unter der Herrschaft der strengsten Gewohnheitssittlichkeit kein Genuß grçßer als Grausamkeit. Grausamkeit gehçrt zu den ltesten Fest- und Siegesfreuden der Menschheit. Man dachte sich auch die Gçtter ergçtzt und festlich gestimmt, wenn man ihnen das Schauspiel von Grausamkeiten bot – und so schlich sich die Vorstellung in die Welt ein, daß auch freiwillige Selbstplagerei, Kasteiung, Askese von großem Werth seien, nicht als Zucht, sondern als ein sßer Geruch in der Nase des Herrn. Das Christenthum hat als Religion des Alterthums ununterbrochen Seelenqual gepredigt und angewendet. Man denke sich den Zustand eines Christen des Mittelalters, der voraussetzt, daß er der ewigen Qual nicht mehr entrinnen kann. – Eros und Aphrodite waren in seinen Augen Hçllenmchte, und der Tod Entsetzen. Der Grausamkeitsmoral ist die Mitleidsmoral gefolgt. Das Mitleid wird als unegoistisch gepriesen, so z. B. ganz besonders von Schopenhauer. Schon Eduard von Hartmann hat in seinem gedankenreichen Werke „Die Phnomenologie des sittlichen Bewußtseins“ (217–240) die Unmçglichkeit
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nachgewiesen, im Mitgefhl die wichtigste moralische Triebfeder zu sehen, geschweige denn die einzige, wie Schopenhauer will. Nietzsche greift die Mitleidsmoral aus anderen Gesichtspunkten an. Er beweist, daß sie nichts weniger als unegoistisch ist. Das Unglck des anderen peinigt uns, krnkt uns, stempelt uns vielleicht als feige, wenn wir nicht Hlfe bringen. Oder es liegt in ihr ein Fingerzeig einer mçglichen Gefahr fr uns selbst; wir fhlen außerdem Lust, wenn wir unseren eigenen Zustand mit dem des Unglcklichen vergleichen, und Lust, wenn wir als die Mchtigen, die Helfenden auftreten kçnnen. Die Hilfe, die wir bringen, wird von uns selbst als ein Glck empfunden oder entreißt uns vielleicht nur der Langeweile. Das Mitleid als wirkliches Mitleiden wre eine Schwche, ja ein Unglck, denn es wrde die Leiden in der Welt vermehren. Der, welcher sich im Ernst dem Mitleid mit der Qual, welche ihn umgibt, ergeben wollte, wrde einfach dadurch zugrunde gehen. Unter den Wilden hat man ein Grauen davor, Mitleid zu erwecken. Der, welcher es thut, gilt als verchtlich. Mitleid mit einem zu fhlen bedeutet im Gedankengang der Wilden, daß man ihn verachtet. Aber man findet kein Vergngen daran, ein verchtliches Geschçpf leiden zu sehen. Dagegen einen Feind leiden zu sehen, der unter Qualen seinen Stolz nicht aufgibt, das ist ein Genuß; das erweckt Bewunderung. Man predigt gern die Mitleidsmoral unter der Formel: „Liebe deinen Nchsten!“ Nietzsche klammert sich im Interesse seines Angriffs an das Wort der Nchste. Er betont nicht bloß, was Kierkegaard „eine teleologische Suspension des Ethischen“ nannte, sondern er fhlt sich dadurch gereizt, daß das wahre Wesen des Sittlichen darin liegen sollte, daß wir den Blick auf die nchsten Folgen unserer Handlungen richteten und die zur Richtschnur nhmen. Dem Engen, Spießbrgerlichen in dieser Moral stellt er diejenige gegenber, die ber die nchsten Folgen wegsieht und sogar durch Mittel, die dem Nchsten Qual verursachen, ferneren Zielen zustrebt, z. B. Einsicht fçrdert, obgleich dieselbe Sorge und Zweifel und bçse Leidenschaften beim Nchsten erweckt. Wir brauchen deswegen nicht ohne Mitleid zu sein, aber wir kçnnen unser Mitleid um des Ziels willen gefangen nehmen. Und so ungereimt es ist, das Mitleid als unegoistisch zu bezeichnen und es heiligzusprechen, so ungereimt ist es, eine Reihe Handlungen in die Gewalt des bçsen Gewissens zu geben, bloß weil sie als egoistisch gebrandmarkt sind. Und was anders ist in letzterer Zeit geschehen, als daß man den Selbstverleugnungsund Selbstaufopferungsinstinct und alles, was unegoistisch ist, verherrlicht hat, als wren das die wahren moralischen Werthe. Die englischen Moralisten, die zur Zeit Europa beherrschen, erklren den Ursprung der Moral auf folgende Weise: Unegoistische Handlungen wurden ursprnglich gute von Denen genannt, denen sie erwiesen wurden und zum
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Nutzen gereichten; spter hat man die ursprngliche Ursache, weshalb sie gelobt wurden, vergessen und die unegoistischen Handlungen an und fr sich als etwas Gutes betrachtet. Es war nach Nietzsche’s eigener Aussage die Schrift eines der englischen Richtung angehçrenden deutschen Schriftstellers: „Der Ursprung der moralischen Empfindungen“ (Chemnitz 1877) von Dr. Paul Re, die ihn zu einem so leidenschaftlichen Widerspruch Punkt fr Punkt aufstachelte, daß er durch diese Schrift den Stoß empfing, seine eigenen Gedanken ber diese Frage zu klren und zu entwickeln. Was indessen verwundert, ist folgendes: mißvergngt mit jener ersten Schrift arbeitete Re ein anderes und weit bedeutenderes Buch ber dasselbe Tema aus: „Die Entstehung des Gewissens“ (Berlin 1885), in dem der Standpunkt, an welchem Nietzsche Aergerniß nahm, verlassen ist und mehrere der Grundgedanken, die dieser gegen Re geltend macht, mit einer Menge Beweisstellen aus verschiedenen Schriftstellern und Vçlkern angefhrt werden. Die beiden Philosophen haben einander gekannt und persçnlich miteinander verkehrt. Es ist mir aber unmçglich zu sehen, wer von den Beiden den Anderen beeinflusst hat, und warum Nietzsche 1887 seinen Unwillen gegen Res 1877 ausgesprochene Anschauungen berhrt, ohne zu erwhnen, wie nahe dieser seiner Auffassung in dem ein paar Jahre vor seinem eigenen herausgegebenen Werk gestanden. Schon Re hat eine Menge Beispiele dafr angefhrt, daß die verschiedensten alten Vçlker keine andere moralische Classifikation der Menschen kannten als die in Vornehme und Geringe, Mchtige und Schwache, so daß die lteste Bedeutung von gut sowohl in Griechenland wie auch auf Island vornehm, mchtig, reich war. Nietzsche baut seine ganze Lehre auf dieser Grundlage auf. Sein Gedankengang ist folgender: Die Bezeichnung „gut“ rhrt nicht von dem her, dem Gte erwiesen wurde. Die lteste Werthbestimmung war folgende: Die Vornehmen, Mchtigen, Hochgestellten, Hochgesinnten hielten sich selbst und ihr Thun und Lassen fr „gut“ – ersten Ranges – im Gegensatz zu allem Niedrigen und Niedriggesinnten. Vornehm, edel im Sinne des Standesgefhls einer hçheren Kaste ist der Grundbegriff, woraus „gut“ sich als seelisch hochgeboren entwickelt. Die Niedrigstehenden werden als „schlecht“ (nicht als bçse) bezeichnet. Schlecht erhlt erst spt seine unbedingt herabsetzende Bedeutung. Es ist von seiten des gemeinen Mannes ein lobendes Wort: schlecht und recht. Die herrschende Kaste nennt die ihr Angehçrigen zuweilen bloß die Mchtigen, zuweilen die Wahrhaftigen; so der griechische Adel, dessen Organ Theognis ist. Bei ihm hat schçn, gut, edel immer die Bedeutung adlig. Die vornehme Moral-Werthbestimmung geht von einem triumphierenden Bejahen aus, wie wir es bei den homerischen Helden finden: Wir Vornehmen, Schçnen,
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Tapfern – wir sind die Guten, die von den Gçttern Geliebten. Es sind starke, mit Kraft geladene Menschen, deren Lust es ist, zu handeln und streiten, fr die das Glck mit anderen Worten etwas Aktives ist. Es war selbstverstndlich unvermeidlich, daß diese Vornehmen die gemeine, von ihnen beherrschte Schar verkannten und verachteten. Doch sprt man in der Regel bei ihnen Beklagen der unterjochten Kaste von Arbeitssklaven und Lasttieren, eine Nachsicht mit Denen, fr die das Glck ein Ausruhen, etwas Passives ist. In den Niedrigstehenden lebt nothwendigerweise umgekehrt ein durch Haß und Neid entstelltes Bild der Herrenkaste. In dieser Entstellung ist Rache.306 Im Gegensatz zu der aristokratischen Werthschtzung (gut = vornehm, schçn, glcklich, gottbegnadet) formulirt sich die Sklavenmoral folgendermaßen: die Elenden allein sind die „Guten“, die, welche leiden und beschwert sind, die Kranken, die Haßlichen, die sind die einzigen Frommen. Dagegen ihr, ihr Vornehmen und Reichen, ihr seid in alle Ewigkeit die „Bçsen“, die Grausamen, die Unersttlichen, die Gottlosen und nach dem Tode die Verdammten. Whrend die vornehme Moral der Ausschlag des großen Selbstgefhls wir, ein bestndiges Bejahen, ist die Sklavenmoral ein bestndiges Nein gegen etwas anderes, ein „du sollst nicht“, eine Negation. Dem gut – schlecht (schlecht = werthlos) der vornehmen Werthschtzung entspricht die Gegenberstellung der Sklavenmoral: gut – bçse. Und wer sind die Bçsen fr diese Moral der Unterdrckten? Eben dieselben, die fr die andere Moral die Guten waren. Man lese die islndischen Sagen, vertiefe sich in die Moral der alten Nordlnder und stelle ihr die Klagen ber die Unthaten der Wikinger gegenber. Und man wird sehen, daß diese Aristokraten, deren Sittlichkeit in vielen Punkten hochstand, ihren Feinden gegenber nicht besser waren als losgelassene Raubtiere. Sie schlugen nieder auf die Bewohner der christlichen Kstenlnder, wie Adler auf Lmmer. Man kann sagen, sie folgten einem Adlerideal. Aber man wird sich dann auch nicht darber verwundern, daß die, welche diesen frchterlichen Uebergriffen ausgesetzt waren, sich um ein ganz entgegengesetztes moralisches Ideal scharten, nmlich des Lammes. Im dritten Kapitel seiner Ntzlichkeitsmoral versucht Stuart Mill zu beweisen, wie das Gerechtigkeitsgefhl sich aus der thierischen Begierde, einen 306 Nietzsche untersttzt seine Hypothese mit einigen Etymologien. Das lateinische malus, neben das er l]kar schwarz, stellt, geht, meint er, auf die vorarischen Bewohner von Italiens Erde im Gegensatz zu der blonden, arischen Erobererrasse. Im Glischen bedeutet fin (Adelsmann, Fingal) ursprnglich Blondkopf, spter der Gute, Edle, Reine im Gegensatz zu den schwarzhaarigen Ureinwohnern. Er fasst bonus als Krieger auf, von einem lteren duomus (bellum = duellum= duenlum). Also bonus, der Mann des Kriegs, des Zwists. Virtus ist ja zuallererst Tapferkeit, spter Tugend. – Seine Etymologie gut von gothisch ist entschieden unrichtig. Got ist Hengst, Mann.
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Schaden oder einen Verlust zu vergelten, entwickelt hat. In einer Abhandlung ber „Die transzendente Befriedigung des Rachegefhls“ (Anhang zur ersten Ausgabe vom „Werth des Lebens“) hat Eugen Dhring nach ihm versucht, die ganze Strafrechtslehre auf dem Wiedervergeltungstrieb zu begrnden. In seiner „Phnomenologie“ hat Ed. von Hartmann nachgewiesen, wie dieser Trieb, streng genommen, immer nur ein neues Leiden, eine neue Krnkung herbeifhrt, um Genugthuung fr die ltere zu gewinnen, daß also das Vergeltungsprincip nie zu einem sittlichen Princip werden kann. Nietzsche macht einen gewaltsamen, leidenschaftlichen Versuch, die Hauptsumme falscher moderner Moral nicht auf den Vergeltungstrieb oder das Rachegefhl im Allgemeinen, sondern auf eine engere Form derselben: Groll, Neid, „Rancune“ zurckzufhren. Fr ihn ist, was er Sklavenmoral nennt, die reine Neidmoral. Und diese Neidmoral hat alle Ideale umgeprgt: Ohnmacht, die nicht vergilt, wurde Gte; ngstliche Niedrigkeit Demuth; Unterwerfung unter den, welchen man frchtet, wurde Gehorsam; Sichnichtrchenkçnnen wurde Sichnichtrchenwollen, wurde Vergebung, wurde Liebe zu den Feinden. Die Erbrmlichkeit wurde eine Auszeichnung, eine Distinction; Gott zchtigt, wen er liebt. Oder sie wurde eine Vorbereitung, eine Prfung, eine Schule, noch mehr: Etwas, das einmal mit Zinsen aufgewogen, als Seligkeit zurckbezahlt wird. Was diesen Demthigen auf Erden zu lieben blieb, waren ihre Brdern und Schwestern im Haß, die sie ihre Brder und Schwestern in der Liebe nannten. Den von ihnen erwarteten, kommenden Zustand nannten sie ein Kommen ihres Reiches, des Reiches Gottes. Worauf sie hofften, das war nicht die Sßigkeit der Rache, sondern der Sieg der Gerechtigkeit. Wenn Nietzsche die Absicht gehabt hat, mit dieser Schilderung das historische Christenthum zu treffen, so hat er – wie Jeder sehen kann – eine Karikatur im Geist und Stile des achtzehnten Jahrhunderts geliefert. Aber daß seine Beschreibung einen gewissen Typus der Apostel der Neidmoral trifft, lsst sich nicht leugnen, und selten ist all der Selbstbetrug, der sich unter einer Moralverkndigung bergen kann, mit grçßerer Energie entschleiert worden. (Man vergleiche: „Jenseits von Gut und Bçse“, „Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft“ und „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift.“) IV. Eine Definition des Menschen wrde fr Nietzsche die folgende sein: Der Mensch ist ein Tier, das Gelbde geben und halten kann. Er erblickt den eigentlichen Adel des Menschen darin, daß er etwas versprechen, fr sich selbst einstehen, eine Verantwortung bernehmen kann – da der Mensch mit der Herrschaft ber sich selbst, welche dieses Verhltnis voraussetzt, auch Herrschaft ber die ußeren Umstnde und die brigen Geschçpfe erlangt, deren Wille nicht so anhaltend ist.
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Das Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit nennt der souverne Mensch sein Gewissen. Was ist nun die Vorgeschichte dieser Verantwortlichkeit, dieses Gewissens? Sie ist lang und blutig. Durch frchterliche Mittel ist im Laufe der Geschichte ein Gedchtnis fr das einmal schweigend oder laut Versprochene oder Gewollte aufgezchtet worden. Jahrtausende hindurch wurde der Mensch in die Zwangsjacke der Gewohnheitssittlichkeit geschnrt und durch Strafen wie Steinigung, Rdern oder Verbrennen, durch lebendig Begrabenwerden, durch Ertrnken in einem Sack oder mit einem Stein am Halse, durch Zerrissenwerden von vier Pferden, durch Peitschen, Schinden, Brandmarken – durch alle diese Mittel wurden dem vergeßlichen Thier Mensch ein langes Gedchtnis fr das Versprochene eingebrannt – gegen den Ersatz, dieVortheile zu genießen, die mit dem Gesellschaftsverband verknpft sind. Nach Nietzsche’s Hypothese entsteht das Schuldbewußtsein einfach als Bewußtsein einer Schuld. Das Contractverhltnis zwischen Glubiger und Schuldner, das so alt ist wie die ltesten Grundformen des menschlichen Verkehrs in Kauf, Verkauf, Tausch usw., ist das Verhltnis, das hier zu Grunde liegt. Der Schuldner verspricht (um Vertrauen auf sein Versprechen der Zurckzahlung einzuflçßen) irgend Etwas, was er besitzt: seine Freiheit, sein Weib, sein Leben; oder er gibt dem Glubiger das Recht, im Verhltnis zur Schuld ein grçßeres oder kleineres Stck Fleisch aus seinem Kçrper zu schneiden (das Zwçlftafelgesetz; noch im „Kaufmann von Venedig“). Die Logik hierin, die uns ziemlich fremd geworden, ist folgende: Als Ersatz des Verlustes wird dem Glubiger eine Art Wollustgefhl zugestanden, dasjenige, welches darin besteht, seine Macht an dem Machtlosen auszuben. Der Leser kann bei Re (angef. Schrift S. 13 u.s.w.) die Beweise fr Nietzsche’s Behauptung finden, daß die Auffassung der Menschheit Jahrtausende hindurch gewesen ist: Andere leiden sehen, tue wohl: aber anderen Leiden zufgen, das sei ein Fest, whrend dessen der Glckliche von Machtgefhl schwelle. Man kann dort auch die Beweise dafr finden, daß die Triebe zum Mitleid, zur Billigkeit, zur Milde, die spter als Tugenden verherrlicht wurden, ursprnglich fast berall als moralisch werthlos, ja als Schwachheitssymptome betrachtet worden sind. In Kauf und Verkauf und allem, was seelisch dazugehçrt und lter als jede Gesellschaftsordnung ist, liegt nach Nietzsche’s Auffassung der Keim von Ersatz, Ausgleichung, Recht, Pflicht. Der Mensch ist frh darauf stolz gewesen, ein Werthe abmessendes Wesen zu sein. Einer der frhesten Gemeingedanken war der: Jedes Ding hat seinen Preis. Und der Gedanke: Alles kann abgezahlt werden, war die lteste und naivste Richtschnur der Gerechtigkeit. Nun steht die ganze Gesellschaft, wie sie sich nach und nach entwickelt, in demselben Verhltnis zu ihren Mitgliedern wie der Glubiger zu dem Schuldner. Die Gesellschaft beschtzt ihre Mitglieder; sie sind vor dem friedlosen Zustande
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gesichert, wenn sie ihre Verpflichtungen gegen sie nicht brechen. Der, welcher seine Zusage bricht, der Verbrecher, wird dem vogelfreien Zustande zurckgegeben, der den Ausschluß von der Gesellschaft mit sich fhrt. Da Nietzsche mit seinem ausschließlich psychologischen Interesse allen gelehrten Apparat liegen lßt, kçnnen seine Behauptungen nicht direct controlirt werden. Man findet bei Re in seinen Paragraphen ber Rachlust und Gerechtigkeitsgefhl und in dem Abschnitt ber das Abkaufen der Rache, das Ausgleichen durch Bußen, die historischen Data gesammelt. Andere Denker als Nietzsche (so E. von Hartmann und Re) haben die Auffassung bestritten, daß die Gerechtigkeitsidee aus der Rachsucht entstehe, und Nietzsche hat kaum ein neues, berzeugendes Argument zutage gefçrdert; aber das fr ihn als Schriftsteller Eigenthmliche ist das Uebermaß persçnlicher Leidenschaft, womit er gegen diesen Gedanken protestirt, augenscheinlich aus dem Grunde, daß derselbe dem modernen, demokratischen Gedankengange gelufig ist. In vielen modernen Forderungen von Gerechtigkeit klingt ein Ton plebejischen Grolls und Neides mit. Unwillkrlich hat mancher moderne Gelehrte von brgerlicher oder kleinbrgerlicher Abstammung etwas Grçßeres und Werthvolleres als vernnftig war, in den Rckschlagaffekten gesehen, die dem lange Unterdrckten eigenthmlich sind, wie Haß, Groll, Neid, Rachsucht. Nietzsche beschftigte sich nicht einen Augenblick mit dem Zustande, in dem die Rache als einziges Strafrecht fungirt; denn die Blutrache ist ja kein Ergebnis von Sklavenhaß gegen den Herrn, sondern von Ehrbegriffen unter Ebenbrtigen. Er verweilt ausschließlich bei dem Gegensatz zwischen der herrschenden und der unterworfenen Kaste und nhrt eine stets aufs neue hervorbrechende Erbitterung gegen Theorien, welche die unter den Mitlebenden, die mit dem Fortschritt sympatisiren, nachsichtig gegen die plebejischen Instincte gemacht und mißtrauisch oder feindlich gegen die Herrschergeister gemacht haben. Seine rein persçnliche Eigenthmlichkeit, das Unphilosophische und Temperamentbestimmte an ihm, verrth sich indessen in dem Zuge, daß er, der nur Haß und Verachtung fr die unterdrckte Kaste oder Rasse, fr ihre „Rancune“ und die aus eingeklemmtem Neid entspringende Sklavenmoral hat, in der Machtfreude der herrschenden Kaste fçrmlich schwelgt, die Athmosphre von Gesundheit, Freiheit, Offenheit und Wahrhaftigkeit, in der sie lebt, nicht genug preisen kann. Ihre Uebergriffe entschuldigt oder vertheidigt er. Das Bild, das sie sich von der Sklavenkaste macht, findet er bei weitem nicht so falsch, wie dasjenige, das diese von der Herrenkaste bildet. Auch nicht von wirklichem Unrecht, das diese Kaste begangen, kann fr ihn im Ernste die Rede sein. Denn an und fr sich gibt es weder Recht noch Unrecht. An und fr sich ist ein Schadenzufgen, ein Vergewaltigen, Ausnutzen, Vernichten kein Unrecht, kann kein Unrecht sein, da das Leben in seinem Wesen, in seinen Grundfunktionen nichts als Ueberwltigen, Ausnutzen, Ver-
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nichten ist. Rechtszustnde kçnnen nie etwas Anderes als Ausnahmezustnde sein, nmlich als Einschrnkung der eigentlichen Lebensbegierde, deren Ziel Macht ist. Nietzsche ersetzt den Schopenhauer’schen „Willen zum Leben“ und den Darwinschen „Kampf ums Dasein“ mit dem Ausdruck „Wille zur Macht“. Nicht um das Leben, das bloße Leben wird nach seiner Auffassung gekmpft, sondern um die Macht. Und er hat viele – wenig treffende – Worte darber, was fr kleine und rmliche Verhltnisse die Englnder vor Augen gehabt haben mssen, die den Begriff „struggle for life“ mit seiner Gengsamkeit aufstellten. Es kommt ihm vor, als htten sie sich eine Welt gedacht, in welcher jeder froh ist, wenn er nur das Leben fristen kann. Aber das Leben ist ja nur der Minimumausdruck. An sich fordert das Leben nicht bloß Selbstbewahrung, sondern Selbstvermehrung, und solchermaßen ist es gerade „Wille zur Macht“. Es leuchtet brigens ein, daß kein Grundunterschied zwischen dem neuen und dem alten Kunstwort vorhanden ist; der Kampf ums Dasein fhrt nothwendigerweise den Kampf der Mchte und den Kampf um die Macht mit sich. Nun ist eine Rechtsordnung, von diesem Gesichtspunkte gesehen, ein Mittel im Kampf der Mchte. Als souvern, als Mittel gegen allen Kampf berhaupt gedacht, wre sie ein lebensfeindliches, ein die Zukunft und den Fortschritt des Menschen niederbrechendes Princip. Etwas Aehnliches meinte schon Lassalle, als er den Ausspruch tat, der Rechtsstandpunkt sei ein schlechter Standpunkt im Leben der Vçlker. Das fr Nietzsche Bezeichnende ist die Freude am Kampf als solchen im Gegensatz zur Betrachtungsweise des modernen Humanismus. Fr Nietzsche mißt sich die Grçße eines Fortschritts daran, wieviel ihm geopfert werden muß. Die Hygiene, die das Leben in Millionen schwacher und unntzer Wesen aufrechterhlt, die eher sterben sollten, ist fr ihn kein wirklicher Fortschritt. Ein Durchschnittsglck der Mittelmßigkeit, das der grçßtmçglichen Anzahl der elenden Geschçpfe gesichert wrde, die wir heutzutage Menschen nennen, wre fr ihn kein wirklicher Fortschritt. Aber fr ihn, wie fr Renan, wrde die Erziehung von einer strkeren, hçheren Menschenart, als die, welche uns umgibt („der Uebermensch“), selbst wenn sie nur dadurch erreicht werden kçnnte, daß Massen von Menschen, wie wir sie kennen, hingeopfert werden mßten, ein großer und wirklicher Fortschritt sein. Nietzsche’s mit vollem Ernst ausgesprochene Zukunftsphantasien ber die Erziehung des Uebermenschen und dessen Ergreifen der Macht auf Erden haben eine solche Aehnlichkeit mit Renan’s halb scherzend, halb skeptisch entworfenen Trumereien von einem neuen Asgaard, einer wirklichen Fabrik von Asen (Dialogues phil. 117), daß man kaum an einer Beeinflussung zweifeln kann. Nur daß Renan unter dem berwltigenden Eindruck der Commune in Paris in Dialogform so schrieb, daß Pro und Contra zu Worte kommen, whrend bei Nietzsche der leichte Traum sich zu einer dogmatischen Ueberzeugung krystallisirt hat. Es verwun-
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dert und verletzt daher ein wenig, daß Nietzsche nie andere Aeußerungen als antipathische ber Renan vorbringt. Er berhrt kaum seine geistesaristokratische Tendenz, aber er verabscheut die Ehrfurcht vor dem Evangelium der Demtigen, die Renan berall an den Tag legt und die freilich in einem gewissen Streit mit der gehofften Errichtung einer Brutanstalt fr Uebermenschen steht. Renan und Taine nach ihm haben sich gegen die fast religiçsen Gefhle gewandt, die im neuen Europa lange fr die franzçsische Revolution gehegt wurden. Renan hat frh aus nationalen Grnden die Revolution bedauert, Taine, der ursprnglich mit ihr sympathisirte, schlug nach grndlicherem Studium um. Nietzsche geht in ihren Spuren. Es ist natrlich, daß moderne Schriftsteller, die sich als Kinder der Revolution fhlen, mit den Urhebern der großen Empçrung sympathisiren, und sicher sind viele von ihnen nicht zu ihrem Recht gekommen unter der gegenwrtigen, antirevolutionren Stimmung in Europa. Aber die Schriftsteller haben u. a. in ihrer Scheu vor dem, was in dem politischen Jargon Csarismus genannt wird, und in ihrem Aberglauben an Massenbewegungen bersehen, daß die grçßten Empçrer und Befreier nicht die vereinten Kleinen sind, sondern die wenigen Großen; nicht die kleinen Mißgçnner, sondern die großen Gçnner, die den anderen Recht, Wohlergehen und geistiges Wachsthum gçnnen. Es gibt zwei Klassen revolutionrer Geister, die, welche sich instinctiv zu Brutus, und die, welche sich ebenso instinctiv zu Csar hingezogen fhlen. Csar ist der große Typus; Friedrich II. und Napoleon besaßen jeder nur eine Gruppe seiner Eigenschaften. Die moderne Freiheitspoesie aus den vierziger Jahren wimmelt von Lobgesngen auf Brutus. Aber kein Dichter hat Csar besungen. Selbst ein so antidemokratischer Dichter wie Shakespeare war ganz ohne Blick fr seine Grçße, verherrlichte Brutus nach der Vorschrift Plutarch’s auf seine Kosten und gab die Gestalt Csars in einer bloßen Karikatur. Nicht einmal Shakespeare hat verstanden, daß Csar einen ganz anderen Einsatz auf den Tisch des Lebens legte als sein armer Mçrder. Csar stammte von Venus ab, seine Form war Anmuth. Sein Geist hatte die edle Einfachheit, die das Merkmal der Grçßten ist; sein Wesen war Adel. Er, nach dem noch heute alle hçchste Macht ihren Namen trgt, konnte alles, wußte und kannte alles, was ein Heerfhrer und Herrscher ersten Ranges kçnnen und kennen muß. Nur einige Mnner der italienischen Renaissance haben sich zu einer solchen Hçhe von Genie erhoben. Fr alle Fortschritte, die sich in jenen Tagen ausfhren ließen, war sein Leben Brgschaft. Brutus’ Wesen war Doktrin, sein Merkmal die Beschrnktheit, welche todte Zustnde zurckfhren will und die Vorbedeutung einer Berufung in der Zuflligkeit eines Namens sieht. Sein Stil war trocken und angestrengt, sein Geist unfruchtbar. Sein Laster war Habgier, Wucher seine Lust. Fr ihn waren die Provinzen rechtlose Beute. Er ließ fnf Senatoren in Salamin Hungers sterben, weil die Stadt nicht bezahlen konnte. Und dieser unfruchtbare Kopf ist wegen eines Dolchstoßes, der nichts ausrichtete und nichts von dem
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verhinderte, was er verhindern sollte, eine Art Genius der Freiheit geworden, nur weil man nicht verstanden hat, was die Ausstattung der strksten, reichsten, kçniglichen Natur mit der hçchsten Machtflle bedeutet. Es lßt sich aus dem Angefhrten leicht verstehen, daß Nietzsche die Gerechtigkeit nur aus aktiven Gemtsbewegungen ableitet, da die Rckschlagsgefhle fr ihn immer niedrige sind. Auf diesem Punkte hat er sich indessen nicht aufgehalten. Die Aelteren hatten in dem Vergeltungstrieb den Ursprung der Strafe gesehen. Stuart Mill hatte in seiner Ntzlichkeitsmoral die Gerechtigkeit von der bereits angefhrten Strafbestimmung (justum von jussum) abgeleitet, welche Sicherheitsmaßregel, keine Vergeltung war. Re hat in seinem Buche vom „Ursprung des Gewissens“ den verwandten Satz vertheidigt, daß die Strafe keine Folge des Gerechtigkeitsgefhls, sondern das Gerechtigkeitsgefhl eine Folge der Strafe sei. Die englischen Philosophen im Allgemeinen leiten das bçse Gewissen von der Strafe ab. Ihr Werth soll darin bestehen, das Gefhl des Vergehens im Schuldigen zu erwecken. Hiergegen protestirt Nietzsche. Er behauptet, daß die Strafe den Menschen nur verhrtet und khlt, ja daß der Verbrecher sogar durch die Gerichtshandlung ihm gegenber daran verhindert wird, sein Thun als verwerflich zu betrachten; denn er sieht genau dieselben Handlungen, welche er begangen: Spionage, Fallenlegen, Ueberlisten, Qual zufgen, im Dienste der Justiz gegen sich ausgebt und dann gebilligt. Whrend langer Zeiten kmmerte man sich auch gar nicht um die Snde des Verbrechers, man betrachtete ihn nur als schdlich, nicht als schuldig, sah in ihm ein Stck Schicksal, und der Verbrecher seinerseits nahm die Strafe auch als ein Stck Schicksal, das ber ihn hereinbrach, und trug sie mit demselben Fatalismus, mit dem die Russen noch heutzutage leiden. Im Allgemeinen kann man sagen, die Strafe zhmt den Menschen, sie bessert ihn nicht. Der Ursprung des bçsen Gewissens ist also noch unerklrt. Nietzsche stellt folgende geniale Hypothese auf: Das bçse Gewissen ist der tiefgehende Krankheitszustand, der im Menschen unter dem Druck der grndlichsten Vernderung zum Ausbruch kam, die er berhaupt durchgemacht, nmlich da er sich endgltig in eine Gesellschaft eingesperrt fand, die gefriedet war. Alle die starken und wilden Triebe, wie Unternehmungslust, Tollkhnheit, Verschlagenheit, Raubsucht, Herrschsucht, die bis dahin nicht bloß geehrt, sondern fçrmlich aufgezchtet worden, wurden plçtzlich als gefhrlich gestempelt und schrittweise als unsittlich und verbrecherisch gebrandmarkt. Wesen, die zu einem umherstreifenden, kriegerischen Abenteurerleben paßten, sahen auf einmal alle ihre Instincte als werthlos, ja als verboten bezeichnet. Ein ungeheurer Mißmuth, eine Niedergeschlagenheit ohnegleichen bemchtigte sich ihrer. Und alle die Instincte, die sich nicht nach außen Luft machen durften, wandten sich nun nach innen, gegen den Menschen selbst: das Feindschaftsgefhl, die
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Grausamkeit, der Drang nach Abwechslung, Wagespiel, Ueberfall, Verfolgung, Verwstung – da entstand das bçse Gewissen. Als der Staat errichtet wurde – nicht durch einen Gesellschaftsvertrag, wie Rousseau und seine Zeitgenossen voraussetzten – sondern dadurch, daß eine Erobererrasse mit furchtbarer Tyrannei auf eine zahlreichere, aber unorganisirte Bevçlkerung niederschlug – da wandten sich alle die Freiheitsinstincte derselben nach innen; die active Kraft, die Begierde nach Macht kehrte sich gegen den Menschen selbst. Und in diesem Erdreich sprossen dann die Schçnheitsideale: Selbstverleugnung, Selbstaufopferung, Uneigenntzigkeit empor. Die Lust an der Selbstaufopferung ist in ihrem Keim eine Art Grausamkeitsdrang; das bçse Gewissen ist die Begierde nach Selbstmißhandlung. Man fhlte nun nach und nach das Verbrochene als eine Schuld, Schuld gegen die Vorzeit, die Vorfahren, welche durch Opfer bezahlt werden mußte – anfangs durch Nahrung im grçbsten Verstand – durch Ehrenbezeugungen und durch Gehorsam; denn alle Gebruche sind als Werke der Vorvter auch ihre Befehle.307 Man lebte in einer ewigen Angst, ihnen nicht genug zu geben, man opferte ihnen das Erstgeborene, den Erstgeborenen. Die Furcht vor dem Stammvater stieg in der Masse, wie die Macht des Geschlechts zunahm. Bisweilen wird er zum Gott umgeschaffen, wobei der Ursprung des Gottes aus der Furcht deutlich zu erkennen ist. Das Schuldgefhl gegen die Gottheit ist Jahrhunderte hindurch stetig gestiegen, bis die Anerkennung der christlichen Gottheit als Universalgott ein Maximum von Schuldgefhl zum Ausbruch brachte. Erst in unseren Tagen sprt man ein merkbares Abnehmen dieses Schuldgefhls; aber wo das Sndenbewußtsein seinen Hçhepunkt erreicht hat, da hat das bçse Gewissen um sich gefressen wie ein Krebs, indem das Gefhl der Schuld, fr die Snden unmçglich Genge thun zu kçnnen, das alleinherrschende wurde und der Gedanke einer ewigen Strafe sich mit ihm verband. Der Stammvater (Adam) wird nun von einem Fluch getroffen gedacht, die Snde ist Erbsnde. Ja, in die Natur selbst, aus deren Schoß der Mensch hervorgeht, wird das bçse Princip verlegt: Sie ist verflucht, verteufelt – bis wir vor dem paradoxen Ausweg stehen, in dem die gemarterte Menschheit ein paar tausend Jahre Trost gefunden hat: Gott opfert sich fr die Menschheit und macht sich bezahlt in seinem eigenen Fleisch und Blut. Was hier geschah, ist, daß der nach innen gekehrte Grausamkeitstrieb sich hier in Selbstpeinigung verwandelt hat und alle thierisch-menschlichen Instincte als Schuld gegen Gott gedeutet worden sind. Jedes Nein, das der Mensch zu seiner Natur, seinem wirklichen Wesen sagt, schleudert er hier als ein Ja, eine Wirklichkeitserklrung aus sich heraus, um die Heiligkeit des Gottes, sein Richterwesen und demnchst Ewigkeit, Jenseits, Qual ohne Ende zu besttigen. 307 Man vergleiche Lassalle’s Theorie des rçmischen Testaments.
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Um das Entstehen der asketischen Ideale recht zu begreifen, muß man außerdem bedenken, daß die ltesten Geschlechter geistiger und contemplativer Naturen unter einem frchterlichen Druck von Geringschtzung seitens der Jger und Todtschlger lebten. Das Unkriegerische an ihnen war diesen verchtlich. Sie konnten sich nicht anders helfen, als indem sie Furcht erweckten. Das konnten sie nur thun durch Grausamkeit gegen sich selbst, durch Kasteiung und Selbstqual in einem Einsiedlerleben. Als Priester, Wahrsager, Zauberer schlugen sie die Massen mit aberglubischem Entsetzen. Der asketische Priester ist also fr Nietzsche die hßliche Larve, aus welcher der gesunde Denker sich entwickelt hat. Unter seiner Herrschaft wurde unsere Erde der asketische Planet: ein Rabennest im Himmelsraum, von missvergngten, hochmtigen Geschçpfen bewohnt, denen vor dem Leben ekelte, die ihren Planeten als ein Jammertal verabscheuten und, von Unwillen gegen Schçnheit und Freude erfllt, sich selbst soviel Bçses wie mçglich zufgten. Nicht desto weniger ist der Widerspruch, den wir in der Askese finden: Das Leben gegen das Leben gebraucht, nur ein scheinbarer. In Wirklichkeit entspricht das asketische Ideal dem tiefen Hang und Drang eines hinsiechenden Lebens nach Pflege und Heilung. Es ist ein Ideal, das auf Schwchung und Mdigkeit hindeutet; auch mit seiner Hilfe kmpft das Leben gegen den Tod. Es ist ein Kunstgriff zur Selbsterhaltung des Lebens. Die Voraussetzung dafr ist der Krankheitszustand des gezhmten Menschen, der Ekel am Leben mit dem Wunsch, etwas anderes zu sein, irgendwo anders zu sein, zur hçchsten Innerlichkeit und Leidenschaft potenzirt. Der asketische Priester ist die Verkçrperung dieses Wunsches. Kraft desselben hlt er die ganze Herde verstimmter, entmutigter, verzweifelter, verunglckter Wesen am Leben fest. Gerade weil er selbst krank ist, ist er ihr geborener Hirte. Wre er gesund, wrde er sich mit Unwillen von all dieser Begierde abwenden: Schwche, Neid, Pharisismus, falsche Sittlichkeit als Tugend umzustempeln. Aber krank, wie er ist, ist er dazu berufen, Krankenwchter in dem großen Hospital von Sndern und Snderinnen zu sein. Er geht bestndig mit Leidenden um, die die Ursachen ihrer Qual außer sich suchen; er lehrt den Leidenden, daß die schuldige Ursache seiner Qual er selbst ist. So gibt er dem Groll des mißglckten Menschen eine andere Richtung, macht ihn ungefhrlicher, indem er ihn nçthigt, einen großen Theil seines Grolls ber sich selbst ergehen zu lassen. Einen Arzt kann man den asketischen Priester eigentlich nicht nennen; aber er mildert Leiden, erfindet Trost jeder Art, bald Betubungs-, bald Reizungsmittel. Sein Hauptmittel war immer, daß er das Schuldgefhl in Snde umdeutete. Das innere Leiden wurde Strafe. Der Kranke wurde Snder. Nietzsche vergleicht den Unglcklichen, der diese Erklrung seiner Qual erhlt, mit dem Huhn, um das man einen Kreidestrich gezogen. Jetzt kann er nicht weiter kommen. Wohin man whrend einer langen Reihe von Jahrhunderten sieht, da sieht man den
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hypnotischen Blick des Snders – trotz Hiob – auf die Schuld als die einzige Ursache des Leidens starren. Ueberall das bçse Gewissen, die Geißel, das Bußhemd und Thrnen und Zhneknirschen und der Ruf: mehr Schmerz, mehr Schmerz! Alles diente dem asketischen Ideal. Und so entstanden epileptische Epidemien, wie die der St. Veitstnzer und Flagellanten und die Hexenhysterie und die großen Massendelirien in extravaganten Sekten (die noch in Phnomenen wie der Heilsarmee u. dergl. spuken). Das asketische Ideal hat noch keine wirklichen Angreifer, keine bestimmten Verkndiger eines neuen Ideals. Insofern als die Wissenschaft seit Copernicus stets darauf ausgegangen ist, den Menschen ihren frheren starken Glauben an die eigene Bedeutung zu rauben, wirkt sie eher in Uebereinstimmung mit ihm. Seine wirklichen Feinde und Untergraber hat das asketische Ideal zur Zeit im Grunde nur in Comçdianten dieses Ideals, in heuchlerischen Verfechtern desselben, die das Mißtrauen dagegen erwecken und aufrechterhalten. Da die Sinnlosigkeit der Leiden als ein Fluch empfunden wurde, gab das asketische Ideal ihnen einen Sinn; einen Sinn, der einen neuen Strom von Leiden mit sich fhrte, aber besser war, als keiner. Ein neues Ideal ist gegenwrtig im Begriff sich zu bilden, ein Ideal, das im Leiden eine Lebensbedingung, eine Glcksbedingung sieht und im Namen einer neuen Cultur dasjenige bestreitet, was wir bisher Cultur genannt haben. V. Es gibt unter Nietzsche’s Werken ein sonderbares Buch, das den Titel hat: „Also sprach Zarathustra.“ Es besteht aus vier Theilen, in den Jahren 1883 bis 1885 geschrieben, jeder Theil ungefhr in zehn Tagen, Abschnitt nach Abschnitt auf langen Wanderungen erzeugt – „unter einem Gefhl von Inspiration, als wrde jeder Satz dem Verfasser zugerufen“, wie Nietzsche einmal in einem Privatbrief geußert hat. Die Hauptperson und einiges in der Form ist der Avesta der Perser entlehnt. Zarathustra ist der mystische Religionsstifter, der meist Zoroaster genannt wird. Seine Religion ist die Religion der Reinheit; seine Weisheit ist leicht und freimthig, wie die Weisheit dessen, der gleich nach seiner Geburt lachte; sein Wesen ist Licht und Lohe. Der Adler und die Schlange, die beiden Thiere, die er bei sich in seiner Berghçhle hat, das stolzeste und das klgste Tier, sind alte persische Symbole. Dieses Werk enthlt Nietzsche’s Theorien sozusagen in Form von Religion. Es ist der Koran, oder richtiger die Avesta, die es ihm ein Bedrfnis war zu hinterlassen – dunkel und tief, hochfliegend und abstrakt, prophetisch und zukunftstrunken, bis an den Rand gefllt mit dem Wesen seines Urhebers, das wiederum ganz von sich selbst erfllt ist.
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Von modernen Werken, die diesen Ton angeschlagen und diesen symbolisch-allegorischen Stil angewandt haben, sind zu nennen Mickiewicz’ „Buch der polnischen Pilger“, Slowacki’s „Anheli“ und „Das Wort eines Glubigen“ von dem von Mickiewicz beeinflußten Lamennais. Aber alle diese Bcher sind biblisch in ihrer Sprache und ihrem Geist. „Zarathustra“ dagegen ist ein Erbauungsbuch fr freie Geister. Nietzsche selbst stellt dieses Werk am hçchsten unter seinen Schriften. Ich theile diese Auffassung nicht. Die Einbildungskraft, von der er getragen wird, ist nicht gestaltenbildend genug, und eine gewisse Monotonie ist unzertrennlich von der archaistischen, in Typen sich bewegenden Darstellung. Aber es ist ein Buch fr Diejenigen, welche die nur Gedanken enthaltenden Werke Nietzsche’s nicht zu bewltigen vermçgen; es enthlt alle seine Grundgedanken in rhetorisch-dichterischer Form. Der Vorzug dieses Werkes ist ein Stil, der vom ersten bis zum letzten Worte volltçnend, tiefklingend, starkstimmend ist; hie und da ein wenig salbungsvoll in seinem streitbaren Urtheilen und Verurtheilen; immer ein Ausdruck fr Selbstfreude, ja Selbstberauschung, aber reich an Feinheiten, wie an Khnheiten, sicher und zuweilen groß. Hinter diesem Stil liegt eine Stimmung wie Windstille in einer Bergluft, die so leicht, so therrein ist, daß keine Ansteckungsstoffe in ihr vorhanden sind, keine Bakterien in ihr gedeihen – und kein Lrm, kein Stank, kein Staub, kein Stein, kein Steg hinaufreicht. Droben reiner Himmel, am Fuß des Berges das freie Meer und drber ein Lichthimmel, ein Lichtabgrund, eine Azurglocke, die sich stumm ber brausende Wasser und mchtige Bergrcken wçlbt. Droben ist Zarathustra mit sich allein, reine Luft in vollen tiefen Zgen athmend, allein mit der aufgehenden Sonne, allein mit dem Glhen des Mittags, das nicht die Frische vermindert; allein mit den blinkenden, sprechenden Sternen der Nacht. Ein gutes, tiefes Buch ist es. Ein Buch, hell durch seine Lebensfreude, dunkel durch seine Rthselsprache, ein Buch fr geistige Bergsteiger und Wagehlse und fr die nicht vielen, die in der großen Menschenverachtung aufgebt sind, die das Gewimmel verabscheut und in der großen Menschenliebe, die nur darum so tief verabscheut, weil ihr das Bild einer hçheren tapfereren Menschheit vorschwebt, die sie aufziehen und aufzchten will. Zarathustra ist hinaufgeflchtet in seine Hçhle auf dem Berge aus Ekel vor dem kleinen Glck und den kleinen Tugenden. Er hat gesehen, daß die Lehre der Menschen ber Tugend und Zufriedenheit sie bestndig kleiner macht: ihre Gte besteht meist darin, daß sie wollen, niemand solle ihnen Bçses thun, darum kommen sie den anderen zuvor, indem sie ihnen etwas Gutes thun. Das ist Feigheit und wird Tugend genannt. Freilich greifen sie auch gerne an und schaden gerne, aber doch nur denen, die ein fr allemal preisgegeben sind und denen man ohne Gefahr zu nahe treten darf. Das wird Tapferkeit genannt und
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ist nur noch tiefere Feigheit. Aber wenn Zarathustra die feigen Teufel aus dem Menschen austreiben will, so rufen sie ihm entgegen: „Zarathustra ist gottlos.“ Er ist einsam, denn alle seine frheren Gefhrten sind von ihm abgefallen; die jungen Herzen wurden alt und nicht einmal alt, nur mde und trg, nur gemein – sie nennen das, aufs Neue fromm geworden sein. „Um Licht und Freiheit flatterten sie einst, gleich Mcken und jungen Dichtern. Ein wenig lter, ein wenig klter, und schon sind sie Dunkler und Munkler und Ofenhocker.“ Sie haben ihr Zeitalter verstanden. Sie whlten Zeit und Stunde gut. „Denn eben wieder fliegen die Nachtvçgel aus. Die Stunde kam allem lichtscheuen Volke.“ Zarathustra verabscheut die große Stadt wie eine Hçlle fr Einsiedlergedanken. „Alle Lster und Laster sind hier zu Hause; aber es gibt hier auch Tugendhafte, es gibt viel anstellige angestellte Tugend. Viel anstellige Tugend mit Schreibfingern und hartem Sitz- und Wartefleisch.“ Und Zarathustra verabscheut den Staat, verabscheut ihn wie Henrik lbsen im Norden und tiefer als er. Fr ihn ist der Staat das klteste aller kalten Ungeheuer. Die Grundlge des Staates ist die, daß er das Volk ist. „Nein, schaffende Geister waren es, die das Volk schufen und ihm einen Glauben und eine Liebe gaben; so dienten sie dem Leben; jedes Volk ist eigenthmlich, aber der Staat ist berall gleich.“ Staat ist fr Zarathustra das, „wo der langsame Selbstmord Aller Leben genannt wird“. Der Staat ist fr die Vielzuvielen. Erst wo der Staat aufhçrt, fngt der Mensch an, der nicht berflssig ist; der Mensch, der die Brcke ist zum Uebermenschen. Vor den Staaten ist Zarathustra auf seinen Berg geflchtet, in seine Hçhle. In Schonung und Mitleid lag die grçßte Gefahr fr ihn. Reich an den kleinen Lgen des Mitleids lebte er unter den Menschen. „Zerstochen von giftigen Fliegen und ausgehçhlt, dem Steine gleich, von vielen Tropfen Bosheit, so saß ich unter ihnen und redete mir noch zu: unschuldig ist alles Kleine an seiner Kleinheit. Sonderlich die, welche sich „die Guten“ heißen, stechen in aller Unschuld, sie lgen in aller Unschuld; wie vermçchten sie, gegen mich gerecht zu sein?“ „Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid lgen. Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten nmlich ist unergrndlich.“ „Ihre steifen Weisen, ich hieß sie weise, nicht steif. Ihre Todtengrber, ich hieß sie Forscher und Prfer – so lernte ich Worte vertauschen. Die Todtengrber graben sich Krankheiten an. Unter altem Schutt ruhen schlimme Dnste. Auf Bergen soll man leben.“ Und mit seligen Nstern athmet er wieder Bergfreiheit ein. Erlçst sind nun seine Athemzge von dem Geruch alles Menschenwesens. Da sitzt Zarathustra mit den alten zerbrochenen Tafeln des Gesetzes und neuen halbbeschriebenen Tafeln um sich herum und wartet auf seine Stunde, die Stunde, da der Lçwe
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kommt mit dem Taubenschwarm, die Kraft mit der Sanftmut, und ihm huldigt. Und er reicht den Menschen eine neue Tafel, auf der solche Lehren wie diese stehen: Schone nicht deinen Nchsten! Die große Liebe zu den Fernsten gebietet es. Der Nchste ist etwas, das berwunden werden muß. Sage nicht: Ich tue gegen andere, wie ich will, daß andere gegen mich thun sollen. Was du tust, kann keiner dir thun. Es gibt keine Wiedervergeltung. Glaube nicht, daß du nicht rauben sollst. Ein Recht, das du dir rauben kannst, sollst du dir niemals schenken lassen. Hte dich vor den guten Menschen. Sie sprechen nie die Wahrheit. Denn alles, was sie bçse nennen: das verwegene Wagen, das lange Mißtrauen, das grausame Nein, der tiefe Ekel vor den Menschen, die Fhigkeit und der Wille, in Lebendiges zu schneiden, das alles muß hinzu, wo eine Wahrheit geboren werden soll. Alles Vergangene ist preisgegeben. Aber da es so ist, kçnnte es geschehen, daß der Pçbel Herr wrde und alles in seinen flachen Wassern erstickte, oder daß ein Gewaltherrscher sich Alles zueignete. Darum bedrfen wir eines neuen Adels, der allem Pçbel und allem Gewaltherrischen Widersacher ist, und der auf neuen Tafeln das Wort schreibt: edel. Sicherlich keines Adels, den man kaufen kann, oder dessen Vorvter Kreuzzge ins gelobte Land machten, oder dessen Tugend nur diejenige ist, das Vaterland zu lieben. Nein, lehrt Zarathustra, vertrieben sollt ihr sein von euren Vaterlndern und von euren Großvaterlndern und Urgroßvaterlndern. Nicht eurer Vter Land sollt ihr lieben, sondern eurer Kinder Land. Diese Liebe, das ist der neue Adel, die Liebe zu dem neuen Land, dem unentdeckten, das fern liegt in dem fernsten Meer. An euern Kindern sollt ihr das Unglck gutmachen, daß ihr eurer Vter Kinder seid. Alles Vergangene sollt ihr auf diese Weise erlçsen. Zarathustra ist voll von Milde. Andere haben gesagt: du sollst nicht ehebrechen. Zarathustra lehrt: die Redlichen sollen zueinander sagen: „Laßt uns zusehen, daß wir einander lieb behalten, laßt uns einander eine Frist setzen, damit wir versuchen kçnnen, ob wir eine lngere Frist wnschen.“ Was nicht gebogen werden kann, wird gebrochen. Ein Weib sagte zu Zarathustra: Wohl brach ich die Ehe; aber zuerst brach die Ehe mich. Und Zarathustra ist ohne Gnade. Es heißt: Stoße nicht an den Wagen, der abwrts geht. Aber Zarathustra sagt: was reif zum Fall ist, daran sollt ihr stoßen. Alles, was unserer Zeit angehçrt, fllt und verfllt. Keiner kann es aufhalten, aber Zarathustra will noch danach stoßen. Zarathustra liebt die Tapferen. Aber nicht die Tapferkeit, die jeden Angriff beantwortet. Es gehçrt oft mehr Tapferkeit dazu, sich zurckzuhalten und vorbeizugehen und sich fr den wrdigeren Feind aufzusparen. Zarathustra lehrt nicht: Ihr sollt euere Feinde lieben, sondern: Ihr sollt euch nicht in Kampf mit Feinden einlassen, die ihr verachtet.
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Warum so hart? Rufen die Menschen Zarathustra zu. Er antwortet: Warum so hart, sprach zum Diamanten einst die Kchenkohle: sind wir denn nicht Nah-Verwandte? Die Schaffenden sind hart. Ihre Seligkeit ist, ihre Hand auf Jahrtausende zu drcken wie auf Wachs. Keine Lehre empçrt Zarathustra mehr als die von der Eitelkeit und Bedeutungslosigkeit des Lebens. Sie ist in seinen Augen altes Geschwtz, Altweibergeschwtz. Und die Lehre des Pessimismus von der berwiegenden Unlust als Summe des Lebens ist Gegenstand seines entschiedenen Abscheues. Dieselbe schwrmerische Liebe zum Leben hat Nietzsche in dem „Hymnus an das Leben“ ausgesprochen, den er selbst fr Chor und Orchester gesetzt hat. Es heißt darin: Gewiß so liebt ein Freund den Freund Wie ich dich liebe, rtselvolles Leben, Ob ich gejauchzt in dir, geweint, Ob du mir Leid, ob du mir Lust gegeben. Ich liebe dich mit deinem Glck und Harme, Und wenn du mich vernichten mußt, Entreiße ich mich schmerzvoll deinem Arme, Wie Freund sich reißt von Freundes Brust.
Und das Gedicht schließt: Hast du kein Glck mehr brig mir zu schenken, Wohlan, noch hast du deine Pein.
Wenn Achilles es vorzog, Tagelçhner auf der Erde, statt Kçnig im Reich der Schatten zu sein, so ist die Aeußerung schwach und zahm im Vergleich mit diesem Ausbruch von Lebensdurst, der in seiner Paradoxie selbst nach dem Kelch der Qualen lechzt. Eduard von Hartmann glaubt an den Beginn und das Ende des „Weltprozesses“. Er meint, daß keine Ewigkeit hinter uns liegen kann; sonst mßten schon alle Mçglichkeiten eingetreten sein, was – nach seiner Behauptung – nicht der Fall ist. Auch auf diesem Punkt in scharfem Gegensatz zu ihm, lehrt Zarathustra mit eigenthmlicher, nicht eben berzeugender Mystik das ewige Wiederkommen, d. h., daß alle Dinge ewig zurckkehren und wir selbst auch, daß wir schon seit ewigen Zeiten gewesen sind und alle Dinge mit uns. Die große Uhr der Welt ist fr ihn eine Sanduhr, ein Stundenglas, das sich immer von neuem umkehrt, um immer wieder auszulaufen. Es ist das genaue Gegenstck zu Hartmann’s Weltuntergangslehre. Bei seinem Tode wird Zarathustra sagen: nun schwinde und sterbe ich; in einem Nu bin ich nichts, denn die Seele ist sterblich wie der Kçrper; aber der Knoten von Ursachen, in den ich hineinverknpft bin, kehrt wieder und wird mich immer wieder hervorbringen.
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Am Schluß des dritten Theils von Zarathustra ist ein Kapitel mit der Ueberschrift: „Das andere Tanzlied.“ Tanz ist in Nietzsche’s Sprache immer der Ausdruck fr den hohen Leichtsinn, der ber der Erdenschwere und ber all dem dummen Ernst erhaben ist. Dieses in sprachlicher Hinsicht sehr merkwrdige Lied ist eine gute Probe des Stils in diesem Werk, wo er sich zu dem hçchsten dichterischen Flug erhebt. Zarathustra sieht das Leben vor sich als ein Weib; sie schlgt Kastagnetten, und er tanzt mit ihr, all seinen Zorn auf das Leben und alle seine Liebe zum Leben hinaussingend: Wer haßte dich nicht, dich große Binderin, Umwinderin, Versucherin, Finderin! Wer liebte dich nicht, dich unschuldige, ungeduldige, windseilige, kindsugige Snderin! In diesem Gesprch zwischen dem Leben und seinem Liebhaber, Tnzerin und Tnzer, kommen die Worte vor: O Zarathustra, du liebst mich bei weitem nicht so hoch, wie du sagst, du bist mir nicht treu genug. Es gibt eine alte schwere Brummglocke; die brummt nachts bis zu deiner Hçhle hinauf. Hçrst du die Glocke mitternachts die Stunde schlagen, so denkst du bis Mittag, daß du mich bald verlassen willst. Und so folgt zum Schluß das Lied der alten Mitternachtsglocke. Aber im vierten Bande des Werks, im Abschnitt „Nachtwandlerlied“, wird Zeile fr Zeile jene kurze Strophe glossirt und commentirt, die halb wie ein mittelalterliches Wchterlied, halb wie der Psalm eines Mystikers geformt, die geheimnisvolle Stimmung in Nietzsche’s Geheimlehre zur krzesten Formel zusammengedrngt enthlt: Es geht gegen Mitternacht, und so heimlich, so schrecklich, so herzlich, wie die Mitternachtsglocke zu Zarathustra redet, ruft er den hçheren Menschen zu: Um Mitternacht hçrt man vieles, was am Tage nicht laut werden darf, und die Mitternacht spricht: O Mensch, gib Acht! Wo ist die Zeit hin? Sank ich nicht in tiefe Brunnen? Die Welt schlft. Und klteschauernd fragt es: Wer soll der Erde Herr sein? Was spricht die tiefe Mitternacht? Die Glocke brummt, der Holzwurm pickt, der Herzenswurm nagt: Ach! Die Welt ist tief. Aber die alte Glocke ist wie ein klangvolles Instrument; alle Qual hat sie ins Herz gebissen, der Vter und der Urvter Schmerz, und alles Glck hat sie in Schwingung gesetzt, der Vter und der Urvter Glck – es steigt aus der Glocke wie Ewigkeitsduft, ein rosenseliger Goldweingeruch von altem Glck und dieses Lied: Die Welt ist tief und tiefer, als der Tag gedacht. Ich bin zu rein fr die plumpen Hnde des Tages. Die Reinsten sollten die Herren der Erde sein, die Unerkanntesten, die Strksten, die Mitternachtsseelen, die heller und tiefer sind als jeder Tag. Tief ist ihr Weh. Aber Lust geht tiefer als Herzensqual. Denn die Qual spricht: Brich mein Herz! Flieg weg, meine Klage! Weh spricht: vergeh!
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Doch Ihr hçhern Menschen! Sagtet Ihr jemals ja zu einer Lust, so sagtet Ihr auch ja zu allem Wehe. Denn Lust und Qual sind verkettet, verliebt ineinander, unzertrennlich. Und alles beginnt von neuem, alles ist ewig. Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit. Also ist dies das Mitternachtslied: O Mensch! Gib Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? „Ich schlief, ich schlief – Aus tiefem Traum bin ich erwacht. Die Welt ist tief Und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh – Lust – tiefer noch als Herzeleid: Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit tiefe, tiefe Ewigkeit!“
VI. So also ist er, dieser streitbare Mystiker, Dichter und Denker, dieser Immoralist, der nicht mde wird zu verkndigen. Kommt man zu ihm von den englischen Philosophen, so tritt man in eine ganz andere Welt hinein. Die Englnder sind alle zusammen geduldige Geister, deren Wesen auf Aneinanderreihen und Umspannen einer Menge kleiner Thatsachen ausgeht, um dadurch ein Gesetz zu finden. Die besten unter ihnen sind aristotelische Kçpfe. Wenige fesseln persçnlich; die meisten scheinen als Persçnlichkeiten wenig zusammengesetzt zu sein. Sie wirken mehr durch das, was sie thun, als durch das, was sie sind. Nietzsche dagegen ist (wie Schopenhauer) ein Errather, ein Seher, ein Knstler, weniger interessant durch das, was er thut, als durch das, was er ist. So wenig deutsch er sich auch fhlt, setzt er doch die metaphysische und intuitive Ueberlieferung der deutschen Philosophie fort und hegt den tiefen Widerwillen der deutschen Denker gegen jeden Ntzlichkeitsgesichtspunkt. In seiner leidenschaftlichen, aphoristischen Form ist er unbedingt original; durch seinen Gedankeninhalt erinnert er hin und wieder an viele andere, sowohl in dem Deutschland wie in dem Frankreich der Gegenwart; er hlt es indessen augenscheinlich fr rein unmçglich, daß er einem Zeitgenossen etwas zu danken habe, und zrnt gegen alle, die ihm in dem einen oder anderen Punkte gleichen. Es ist schon berhrt worden, in wie hohem Grade er an Ernest Renan durch seine Auffassung der Cultur und seine Hoffnung auf eine Geistesaristokratie, welche die Herrschaft der Erde ergreifen kçnnte, erinnert. Nichtsdestoweniger hat er nie ein anerkennendes Wort fr Renan brig. Es ist gleichfalls berhrt worden, daß er in seinem Kampf mit der Schopenhauer’schen Mitleidsmoral Eduard von Hartmann zum Vorgnger hat. In diesem Schriftsteller, dessen Ernst und großes Talent unbestreitbar sind, will
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Nietzsche nach Art einiger deutscher Universittslehrer mit unkritischer Ungerechtigkeit einen Charlatan sehen. Hartmann’s Wesen besteht aus schwereren Stoffen als das Nietzsche’s. Er ist schwerfllig, suffisant, grundgermanisch und endlich, im Gegensatz zu Nietzsche, ganz unberhrt von franzçsischem Geist und sdlichem Sonnenbrand. Aber es gibt Berhrungspunkte zwischen ihnen, die auf den historischen Verhltnissen in dem Deutschland beruhen, das sie Beide erzogen hat. In erster Linie ist etwas Gleichartiges in ihrer Lebensstellung, da sie Beide als Artillerieoffiziere eine hnliche Schule durchgemacht haben; demnchst in ihrer Bildung, insofern sie beide von Schopenhauer ausgegangen sind und nichtsdestoweniger große Ehrerbietung fr Hegel bewahrt haben, also diese beiden feindlichen Brder in ihrem Cultus vereinen. Weiter stimmen sie in ihrer gleich fremden Stellung zur christlichen Religiositt und christlichen Moral berein, ebenso in ihrer ganz modern deutschen Geringschtzung der Demokratie. Nietzsche gleicht Hartmann in seinen Angriffen auf Anarchisten und Sozialisten, nur daß Hartmann’s Haltung hier wissenschaftlicher ist, whrend Nietzsche sich in geschmackloser Weise darin gefllt, von den „anarchistischen Hunden“ zu sprechen und das in demselben Athemzug, in dem er Abscheu fr den Staat hegt und ausspricht. Nietzsche gleicht Hartmann weiter in seiner immer wiederkehrenden Aufweisung der Unmçglichkeit des Gleichheitsideals und des Friedensideals, da das Leben nichts als Ungleichheit und Krieg ist. – „Was ist gut? Tapfer zu sein ist gut. Nicht die gute Sache heiligt den Krieg, sondern der gute Krieg heiligt jede Sache.“ Wie sein Vorgnger verweilt er bei der Nothwendigkeit des Kampfes um die Macht und bei dem vermeintlichen Culturnutzen des Krieges. In diesen beiden doch verhltnismßig so unabhngigen Schriftstellern, von denen der eine ein mystischer Naturphilosoph, der andere ein mystischer Immoralist ist, spiegelt sich der in dem neuen deutschen Reiche vorherrschende Militarismus. Hartmann nhert sich auf vielen Punkten dem gewçhnlichen deutschen Nationalgefhl. Nietzsche steht in principiellem Streit sowohl mit ihm wie mit dem Schçpfer des deutschen Reichs; aber etwas von Bismarcks Geist liegt gleichwohl ber den Werken beider Mnner. Was die Kriegsfrage angeht, so ist der Unterschied zwischen ihnen nur der, daß Nietzsche den Krieg nicht um einer phantastischen Welterlçsung willen liebt, sondern damit die Mannheit nicht aus der Welt verschwinde. In seiner Geringschtzung des Weibes, seinem Schmhen ihrer Befreiungsversuche begegnet sich Nietzsche wieder mit Hartmann, doch nur insofern beide hierin an Schopenhauer erinnern, dessen Schler auf diesem Gebiet Hartmann ist. Whrend Hartmann indessen hier nur als Doctrinr mit einem gewissen Anstrich von Pedanterie auftritt, sprt man bei Nietzsche unter seinen Ausfllen gegen das weibliche Geschlecht einen feineren Sinn fr die Gefhrlichkeit des Weibes, der auf schmerzliche, persçnliche Erfahrung hindeutet.
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Viele Frauen scheint er nicht gekannt zu haben, aber die er gekannt hat, hat er augenscheinlich geliebt und gehaßt, doch am meisten geringgeschtzt. Immer wieder kommt er darauf zurck, wie ungeeignet der freie, genialische Geist fr die Ehe ist. Es liegt in diesen Aeußerungen an mehreren Stellen etwas stark Individuelles, so besonders in der hartnckig betonten Nothwendigkeit vom einsamen Leben des Denkers. Was aber das weniger persçnliche Raisonnement ber das Weib angeht, so spricht das altvterische Deutschland aus Nietzsche wie aus Hartmann, dieses Land, dessen Frauen Jahrhunderte hindurch, im Gegensatz zu den Frauen Frankreichs und Englands, auf das husliche und streng private Leben hingewiesen waren. Man muß an diesen deutschen Schriftstellern im Allgemeinen anerkennen, daß sie Blick fr den tiefen Gegensatz und bestndigen Krieg zwischen den Geschlechtern haben, den Stuart Mill nicht sah und nicht verstand. Aber doch ist die Ungerechtigkeit gegen den Mann und die ziemlich flache Billigkeit gegen das Weib, in welche Mill’s bewunderungswrdiger Befreiungsversuch zuweilen herausluft, bei weitem der brutalen Unbilligkeit Nietzsche’s vorzuziehen, der es behauptet, daß wir in unserer Behandlung des Weibes zu der „ungeheuern Vernunft des alten Asiens“ zurckkehren mssen. In seinem Kampf gegen den Pessimismus hat Nietzsche endlich Eugen Dhring (besonders in dessen „Der Werth des Lebens“) zum Vorgnger, und dieser Umstand scheint ihm so viel Unwillen, ja Verbitterung eingeflçßt zu haben, daß er in einer bisweilen versteckten, bisweilen offenen Polemik Dhring als seinen Affen bezeichnet. Dhring ist ihm ein Greuel, als Plebejer, als Antisemit, als Racheapostel, als Schler von Comte und den Englndern; aber Nietzsche hat kein Wort brig fr das sehr Bedeutende an Dhring, das nicht in Bezeichnungen wie jenen aufgeht. Man versteht inzwischen recht wohl, wenn man Nietzsche’s eigenes Schicksal bedenkt, daß Dhring, der blinde Mann, der lange ignorirte Denker, der auf die offiziellen Gelehrten herabsieht, der außerhalb der Universitten lehrende Philosoph, der, obwohl ihn das Leben so wenig verwçhnt hat, seine Liebe zum Leben laut bekennt – vor Nietzsche wie seine eigene Karikatur dasteht. Das sollte indessen kein Grund fr ihn sein, dann und wann selbst den Dhringschen Scheltton anzuschlagen. Merkwrdig ist es, daß dieser Mann, der so unendlich viel von franzçsischen Moralisten und Psychologen wie La Rochefoucauld, Chamfort und Stendhal gelernt hat, sich so wenig von der Beherrschung in ihrer Form hat aneignen kçnnen. Er ist dem Zwange nicht unterworfen gewesen, den der literarische Ton in Frankreich jedem hinsichtlich der Erwhnung und Schilderung der eigenen Person auferlegt. Lange scheint er dafr gekmpft zu haben, sich selbst zu finden und ganz er selbst zu werden. Um sich zu finden, kroch er in seine Einsamkeit wie Zarathustra in seine Hçhle hinein. Als es ihm gelungen war, zu einer ganz selbstndigen Entwicklung zu gelangen, und er den eigenthmlichen Gedankenborn reich in seinem Innern strçmen fhlte, hatte er allen ußeren Maßstab
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fr seinen eigenen Werth verloren; alle Brcken zur umgebenden Welt waren abgebrochen. Daß die ußere Anerkennung ausblieb, steigerte nur sein Selbstgefhl. Der erste Schimmer einer Anerkennung von außen her gab diesem Selbstgefhl noch einen Hochdruck. Zuletzt ist es ber seinem Kopf zusammengeschlagen und hat fr eine Zeit lang diesen so seltenen und ausgezeichneten Geist verdunkelt.308 Doch wie er im Augenblick in seinem unvollendeten Lebenswerk ausgeprgt dasteht, ist er ein Schriftsteller, der es wohl verdient, sorgsam studirt zu werden. Reaktionen Arthur Fitger an Georg Brandes, 7. 5. 1890: „Ich habe mir vor Jahren auf Ihre dringende Mahnung hin Nietzsche: ,Jenseits von Gut und Bçse‘ angeschafft; aber ich mußte das Buch als eines mit sieben Siegeln wieder weglegen. Fast niemals verstand ich, was der Mann berhaupt wollte, geschweige, daß ich Stellung zu seinen Gedanken nehmen konnte. Ich kam mir so unendlich dumm vor, daß ich vor Verlegenheit Ihnen nichts schreiben mochte. Nun hat Ihr Aufsatz in der ,Rundschau‘ mich – wenn auch noch nicht aufgeklrt, so doch von Neuem angetrieben einen Sturmlauf auf die zehnfach verpalladisirte Weisheit Ihres gepriesenen Philosophen zu unternehmen. Aber viel Hoffnung auf Erfolg habe ich immer noch nicht.“ Krummel (1998), Bd. 1, S. 128 Arthur Fitger an Georg Brandes, 16. 6. 1890: „Ich habe mich nochmals mit Nietzsche zu beschftigen bemht; ich finde glnzende Einflle; aber im Ganzen ist mir der Mann eine Ober-Sphinx. Weshalb dieser ingrimmige Ton, wenn er die arme Welt zu einer Umwertung ihrer Begriffe erheben will.“ Krummel (1998), Bd. 1, S. 128 Franz Overbeck an Heinrich Kçselitz, 13. 4. 1890: „Haben Sie den Aufsatz von Brandes im Aprilheft der Deutschen Rundschau schon zu Gesicht bekommen? Etwas sehr sffisant, immerhin einer der bedeutsamsten Schritte, um N’s Schriften in der ffentlichkeit zu fçrdern. Im biographischen ist der Verfasser offenbar durch eigene Mittheilungen N.‘s, die wohl schon aus der Zeit und Stimmung des Ecce homo stammten, irregefhrt: die polnischen Grafen, der Antheil N.‘s am Kriege, sein Dienst bei der Kanone. Weit bedenklicher machte es freilich vor einigen Wochen der biographische Aufsatz eines oder einer Ola Hansson in der Frankfurter Zeitung (Jakob Burckhardt wenigstens behauptete 308 In Nietzsche’s vorletztem Buch heißt es: „Ich habe den Deutschen die tiefsten Bcher gegeben, die sie berhaupt besitzen – Grund genug, daß die Deutschen kein Wort davon verstehen.“ In dem letzten heißt es: „Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt.“
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es msse ein Frauenzimmer sein), welcher (nicht in feindseliger Absicht) ausbot, N. stamme aus einer Familie, in welcher der Wahnsinn seit ,Generationen‘ zu Hause sei, auch allerhand, mindestens zum Theil verkehrtes, ber die Bedeutung seiner Schwester und ihren Einfluss auf ihn, und das alles sollte auf Mittheilungen einer Familie beruhen, welche aus nchster Nhe die Geschwister htte aufwachsen sehen, auch nur ein geringer Theil dessen sein, was diese Quelle sonst geliefert habe und fr jetzt noch beiseite bleiben msse.“ Hoffmann, David Marc/Peter, Niklaus/Salfinger, Theo (Hrsg) (1998): Briefwechsel Heinrich Kçselitz – Franz Overbeck. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 3), Nr. 151, S. 295 f
ber die Rezensenten Avenarius, Ferdinand (*21. 12. 1856 Berlin; †21. 9. 1923 Kampen/Sylt), der Dichter und Publizist war eine Neffe und Patenkind Richard Wagners und studierte in Leipzig und Zrich Kunstgeschichte, Literatur und Philosophie. Er gab die Zeitschrift Kunstwart heraus, eine Mitarbeit daran lehnte Nietzsche ab und empfahl Kçselitz und Spitteler. Eine Rezension von Kçselitz ber Nietzsches WA versah Avenarius mit einem Vor- und Nachwort und nannte den Ton „unerfreulich“. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv I, 41, 218 f. Asher, David (* 8. 12. 1818 Dresden; †2. 12. 1890 Leipzig), der Lehrer und philosophische Schriftsteller war befreundet mit Schopenhauer. Er schrieb einen (verschollenen) Brief an Heinrich Romundt und legte ein Exemplar seines 1871 erschienenen Schopenhauerbuches bei mit seinen Aufstzen und Briefen von Schopenhauer an ihn. 1875 verfasste er eine zustimmende Rezension unter dem Titel: „Eine neue Stimme ber Schopenhauer“ in den Blttern fr litterarische Unterhaltung und verglich darin Nietzsche mit Carlyle und Emerson. Zur Person: Kosch, Wilhelm (1968ff ): Deutsches Literatur-Lexikon. Bauer, Bruno (* 6. 9. 1809 Eisenberg; †13. 4. 1882 Rixdorf bei Berlin), Theologe, Philosoph, Historiker. Jugendfreund von Karl Marx. Bauer bezeichnete Nietzsche 1880 in seinem Buch Zur Orientierung ber die Bismarck’sche ra als den deutschen Montaigne, Pascal und Diderot und empfahl Nietzsches Schriften. Nietzsche, der die bei Schmeitzner erschienene Schrift kannte, zhlte Bauer spter gern unter die wenigen, die ihn wirklich verstanden htten. Zur Person: Barnikol, Ernst (1972): Bruno Bauer. Studien und Materialien. Berg, Leo (* 29. 4. 1862 Zempelburg/Westpreußen; †12. 7. 1908 Berlin), Germanist, Naturalist, prgte die Epochenbezeichnung „Die Moderne“ mit. Schrieb im September 1889 eine Gesamtwrdigung von Nietzsches Schriften in der Zeitschrift Deutschland. Zur Person: Kosch, Wilhelm (1968ff ): Deutsches Literatur-Lexikon. Binder, Gustav (* ?; †?), Professor am theologischen Seminar in Schçnthal. Sohn des gleichnamigen langjhrigen Freundes von David Strauss. Besprach Nietzsches UB I in der Berliner Gegenwart im Dezember 1873 und bertraf Wilamowitz-Moellendorff noch an Schimpffreude.
ber die Rezensenten
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Brakl, Franz Josef (* 22. 7. 1854 Tyrnau/Ungarn; †16. 3. 1935 Mnchen), Schauspieler und Snger, wirkte in Brnn, Berlin, Budapest, Mnchen und Wien. 1893 wurde er administrativer Leiter des Schlierseer Bauerntheaters und 1899 Direktor des Grtnerplatztheaters. Ab 1900 war er Kunsthndler und Kunstsammler. 1905 erçffnete er einen Kunsthandel. 1911 erbaute er ein Wohnhaus und 1913 „Brakls Kunsthaus“. Er stellte Kunstwerke von u. a. Kandinski, Cezanne, Munch, Van Gogh und Lenbach zum Verkauf aus. Nachdem Brakl Ende der zwanziger Jahre in finanzielle Schwierigkeiten geriet, kaufte die amerikanische Millionrin Sophie Nordhoff-Jung im Jahr 1930 Kunst- und Wohnhaus fr die Universitt Mnchen. Brakl und seine Frau erhielten eine Leibrente und Wohnrecht in dem Wohnhaus. Brakl rezensierte lobend die GD im Neuen Mnchener Tageblatt vom 30. 3. 1889 und nannte Nietzsche einen „Selbstdenker“. Brandes, Georg (* 4. 2. 1842 Kopenhagen; †19. 2. 1927 ebda.), dnischer Kritiker und Literaturhistoriker. Zuerst Journalist, dann Literaturdozent in Kopenhagen. Seine Vorlesungen und Schriften ber die Hauptstrçmungen des 19. Jahrhunderts (die Heinrich Kçselitz Nietzsche in Basel vorlas) verhalfen der skandinavischen Literatur zu europischer Anerkennung. Als die in Dnemark regierenden Konservativen ihm wegen seines Eintretens fr die Meinungsfreiheit und Freiheit der Forschung die erhoffte Professur vorenthielten, ging Brandes nach Deutschland und lebte von 1877 bis 1883 in Berlin, wo er Paul Re und Lou von Salom kennenlernte und erste Bekanntschaft mit Nietzsches Schriften machte. Als Freunde ihm aus privaten Mitteln ein Professorengehalt aussetzten, kehrte er 1883 nach Kopenhagen zurck. Nietzsche sandte Brandes unaufgefordert Rezensionsexemplare von JGB und GM. Letzteres Werk weckte Brandes’ Interesse, und er begann im November 1887 einen Briefwechsel mit Nietzsche. Brandes machte auch Strindberg auf Nietzsche aufmerksam, dessen dann einsetzende Begeisterung Brandes wiederum bewog, sich nher mit Nietzsches Philosophie zu beschftigen. Im April und Mai 1888 hielt Brandes in Kopenhagen fnf Vorlesungen ber Nietzsches Philosophie; die çffentlichen Vortrge vor rund 150 bzw. 300 Zuhçrern begrndeten Nietzsches Popularitt in Dnemark. Nietzsche empfand Brandes’ Prgung „Aristokratischer Radikalismus“ fr seine Philosophie als das „mit Verlaub gesagt, gescheuteste Wort, das ich bisher ber mich gelesen habe“ (dabei vergessend, daß er sich hnlich euphorisch bereits ber Widmanns „Dynamit“ und Burckhardts „Gratwanderer“ geußert hatte). Brandes’ Aufsatz „Aristokratischer Radikalismus. Eine Abhandlung ber Friedrich Nietzsche“, der 1890 in der Deutschen Rundschau (Auflage 10.000 Exemplare) erschien, machte Nietzsches Philosophie erstmals einer grçßeren Leserschaft bekannt. Die versptete bersetzung des Artikels durch Hanssons Frau Laura und der frhere Abdruck von Hanssons Nietzsche-Artikel fhrte zum Bruch der Freundschaft von Hansson und Brandes.
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ber die Rezensenten
Zur Person: Bohnen, Klaus (1980): Brandes und die Deutsche Rundschau. Unverçffentlichter Briefwechsel zwischen Georg Brandes und Julius Rodenberg. (Text und Kontext. Sonderreihe H. 8). Uecker, Heiko (1982): Ein guter dnischer Europer. Georg Brandes und Friedrich Nietzsche, in: Arkadia 17, H. 3, S. 245 ff. Fambrini, Alessandro (1997): Ola Hansson und Georg Brandes. Bemerkungen ber die erste Rezeption Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 26, S.421 ff. Dahl, Per (2000): Die guten Nordwinde aus Kopenhagen, in: Widersprche. Zur frhen Nietzsche-Rezeption. Hrsg. von. Rdiger SchmidtGrply und Andreas Schirmer. Weimar. Brasch, Moritz (* 18. 8. 1843 Zempelburg/Westpreußen; †14. 9. 1895 Leipzig), studierte in Berlin, Greifswald und Leipzig Philosophie. Von 1874 – 79 Herausgeber des Brockhaus Konversationslexikon. Er verçffentlichte einige philosophischegeschichtliche Werke, darunter die Klassiker der Philosophie in drei Bnden. Er erwhnt Nietzsche 1888 in seinem Werk Die Philosophie der Gegenwart als „fruchtbaren und vielseitigen Schriftsteller“. Busse, Otto (* ?; †?), seit 1879 Briefpartner Nietzsches in Berlin. Busses Verehrung fr Nietzsches Schriften ging so weit, dass er versuchte, ihn in Naumburg persçnlich zu treffen, was jedoch misslang. 1881 wurde er psychisch krank und hielt sich fr Nietzsche. Jahre spter, 1887, schrieb er in Fritschs Antisemitischer Correspondenz einen Leserbrief, in dem er Nietzsches Schriften zitierte. Nietzsche schrieb ber ihn an Kçselitz am 30. Mrz 1881: „Nun noch ein Wort von unseren Bekmmernissen! Herr Otto Busse macht seinen Verwandten und Freunden die grçßte Sorge (– voller Grçßenwahn, (in Bezug auf sich und mich!)) und diese wenden sich nun an mich! – meinend, ich htte ihm etwas in den Kopf gesetzt! Das soll ich nun wieder hinausschaffen! Er hlt sich fr den Reformator der Deutschen und mich fr die ,Autoritt der Autoritten‘ – kurz: Muhammed und Allah! Er behauptet, daß ,wissenschaftliche Werke‘ von ihm in meinen Hnden seien! fr die die Deutschen noch nicht reif seien! u.s.w. Alles unter sieben Siegeln Ihnen anvertraut“ (KGB III/1, Bf. 97, S. 78). Conrad, Michael Georg (* 5. 4. 1846 Gnodstadt bei Marktbreit; †20. 12. 1927 Mnchen), der sptere Schriftsteller studierte 1864 – 68 Kunstgeschichte, Pdagogik und neue Sprachen, promovierte 1868 und wurde Lehrer in Genf. Ab 1871 machte er als freier Schriftsteller zahlreiche Reisen nach Frankreich, Spanien, England, Belgien und in die Schweiz. Zufllig Gast in der gleichen Pension, sah er auf einer seiner Reisen Nietzsche im September 1878 in Sorrent. 1885 grndete er die Zeitschrift Die Gesellschaft. Er war ein frher Verehrer von Nietzsches Schriften und rezensierte bewundernd mehrere von Nietzsches Werken in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Gesellschaft.
ber die Rezensenten
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Drseke, Johannes (* 1844; †6. 9. 1916 Wandsbeck), Altphilologe, Theologe. Dr. phil. et theol., Kritisierte 1881 Franz Overbeck in seiner Schrift Der Brief an Diognetos. 1889 Gymnasialprofessor am Gymnasium zu Wandsbeck. Dem Kirchenhistoriker, der mehrere Bcher verfasste, wurde schon zu Lebzeiten eine „ihm eigene Ausfhrlichkeit“ (Byzantinische Zeitschrift, Bd. 6, 1897, S. 214) nachgesagt, die auch seine „Beitrge zur Wagnerfrage“ im Musikalischen Wochenblatt 1873 auszeichnen, in denen er Nietzsches GT bespricht. Druskowitz, Helene von (* 2. 5. 1856 Wien; †31. 5. 1918 Mauer-Oehling), Pseudonyme: E. Rene, Adalbert Brunn, H. Foreign, H. Sackorausch. Nach einem Externen-Abitur in Wien studierte sie ab 1874 Philosophie in Zrich und promovierte dort 1878 als zweite Frau berhaupt zum Dr. phil. In den folgenden Jahren lebte sie als freie Schriftstellerin in Wien und Zrich, hielt Vorlesungen und Vortrge und unternahm zahlreiche Reisen. Im Oktober 1884 traf sie Nietzsche in Zrich und war zunchst sehr beeindruckt von ihm. Nietzsche schrieb ber sie an seine Schwester: „sie hat sich von allen mir bekannt gewordenen Frauenzimmern bei weitem am ernstesten mit meinen Bchern abgegeben, und nicht umsonst. […] Ich meine es ist ein edles und rechtschaffnes Geschçpf, welches meiner Philosophie keinen Schaden thut“ (KGB III/1, Bf. 549, S. 548). Druskowitz’ Begeisterung fr Nietzsche legte sich bald wieder, und in ihrem Essay Moderne Versuche eines Religionsersatzes rhmte sie 1886 zwar seine schriftstellerischen Fhigkeiten, sprach ihm aber die philosophische Qualifikation ab. Darauf brach der Kontakt ab; Nietzsche erwhnt sie nur noch ein einziges Mal als „kleine Litteratur-Gans“ (KGB III/5, Bf. 914, S. 159). Druskowitz war aktiv in der Frauenbewegung und grndete die Zeitschriften Der heilige Kampf und Der Fehderuf, in denen sie Nietzsches Philosophie angriff. Seit Ende 1889 litt sie an Wahnvorstellungen und wurde 1891 ins Dresdener Siechen- und Irrenhaus zwangseingewiesen; bis zur ihrem Tod lebte sie in Heilanstalten in Ybbs und Mauer-Oehling. Schriften: Druskowitz, Helene (1988): Der Mann als logische und sittliche Unmçglichkeit und als Fluch der Welt. Pessimistische Kardinalstze. Mit biographischer bersicht von Hinrike Gronewold und Traute Hensch. Zur Person: Hacker, Hanna (1987): Frauen und Freundinnen: Studien zur „weiblichen Homosexualitt“ am Beispiel sterreich 1870 – 1938. (Ergebnisse der Frauenforschung, Bd. 12). Dryander, Ernst von (* 18. 4. 1843 Halle; †4. 9. 1922 Berlin), Pfarrer. Studium der Theologie in Halle und Tbingen.1865 Hauslehrer in Hamburg. Nach zweijhrigem Besuch des Domkandidatenstifts in Berlin reiste er Ende 1869 nach Frankreich, um den sdfranzçsischen Protestantismus zu studieren. Als 1870 der Deutsch-Franzçsische Krieg ausbrach, meldete er sich, obwohl militrfrei, zum Dienst als Krankenpfleger. Die Kirchenbehçrde beurlaubte ihn aber
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nicht, sondern ernannte ihn zum Hilfsprediger am Dom und Adjunkten am Domkandidatenstift. Er wurde 1872 Diakonus in Torgau und 1874 Pfarrer in Bonn, wo ihn Prinz Wilhelm, der sptere Kaiser, kennen lernte. Ab 1882 Pfarrer in Berlin und Brandenburg und Ende 1890 vertretungsweise und 7 Jahre spter endgltig Schloßprediger, 1898 Oberhofprediger. 1903 wurde er Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats und 1906 – 1918 geistlicher Vizeprsident. Er hielt am 24.11. 1918 den Abschiedsgottesdienst vor der Hausgemeinde Wilhelms II. im Neuen Palais zu Potsdam. Im Mai 1920 weihte er Haus Doorn. Pries in der Neuen evangelischen Kirchenzeitung vom 3. 1. 1874 Nietzsches UB I als ebenso mitleidslos wie geistreich. Zur Person: Bautz, Friedrich-Wilhelm (1990): Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd.1. Ewald, Georg Heinrich August (* 16. 11. 1803 Gçttingen; †4. 5. 1875 Gçttingen), Orientalist. Er promovierte schon 1823 zum Dr. phil. und wurde 1827 ao., 1831 o. Professor an der Philosophischen Fakultt in Gçttingen. Begrndete die semitische Grammatik. Ende 1837 als einer der „Gçttinger Sieben“, die gegen die Aufhebung des hannoverschen Staatsgrundgesetzes durch den Kçnig Ernst August protestiert hatten, seines Amtes enthoben. Im Mai 1838 Berufung an die Universitt Tbingen. Hier folgten seine bahnbrechenden Untersuchungen zu den prophetischen und geschichtlichen Bchern des Alten Testaments. 1848 nach Gçttingen zurckberufen, konzentriert er sich auf die neutestamentlichen Schriften. Daneben gab er 1849 – 1865 eine Rezensionszeitschrift, die Jahrbcher der biblischen Wissenschaft, heraus, fr die er die meisten Beitrge selbst verfasste. Nach der preußischen Annexion Hannovers 1866 verweigerte Ewald den Eid auf den neuen Herrscher und wurde, allerdings unter Belassung des Gehalts, entlassen. Seit 1869 vertrat er die Welfenpartei im Reichstag. Verfasste in den Gçttingischen Gelehrten Anzeigen eine Rezension ber Nietzsches UB I. Falckenberg, Richard (* 23. 12. 1851 Magdeburg; †28. 9. 1920 Jena), Philosoph, nach dem Studium in Jena 1889 – 1920 Professor in Erlangen, 1885 – 1917 Herausgeber der Zeitschrift fr Philosophie und philosophische Kritik. Er besprach im Musikalischen Wochenblatt wohlwollend die GT am 3. 10. 1873 und positiv UB IV am 17. 11. 1876. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv I, 306, 196. Flach, Johannes (* 1. 3. 1845 Pillau/Ostpreußen; †16. 9. 1895 Hamburg), klassischer Philologe. Promovierte 1867, wurde dann Gymnasiallehrer in Elbing, habilitierte 1874 in Tbingen. Widmete sich seit 1885 der freien Schriftstellerei, nachdem ein çffentlich ausgetragener Streit um ein Extraordinariat Flachs zu dessen Entlassung fhrte. Schrieb 1873 eine recht zustimmende Rezension
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ber Nietzsches „Florentinisches Tractat ber Homer und Hesiod“ im Jahresbericht ber die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaften. Eine Begegnung mit Nietzsche in Leipzig ist mçglich, aber nicht belegt. Bekannter Erwin Rohdes, vgl. Patzer (1989): Briefwechsel Rohde/Overbeck S. 278 f. Zur Person: Wandel, Uwe Jens (1977): 500 Jahre Eberhard-Karls-Universitt Tbingen. S. 259 ff. Fçrster, Bernhard (* 31. 3. 1843 Delitzsch; †3. 6. 1889 San Bernhardino/Paraguay), vierter Sohn des Superintendenten Karl Friedrich Fçrster (*1799; +1875). Nach dem Studium in Berlin und Gçttingen Promotion zum Dr. phil., ab 1869 Gymnasiallehrer in Berlin. Kmpfte 1866 gegen bayrische Truppen und im Krieg 1870/71. Sein Hang zu extremen Verhalten ußerte sich anfangs nur in bedingungsloser Anhngerschaft. So bezeichnete ihn Gersdorff 1873 in einem Brief als Panegyriker Eduard von Hartmanns. Der im gleichen Jahr erschienene Artikel im Grenzboten ber Nietzsches UB I, mit b. f. gezeichnet, stammt vermutlich von Fçrster. Wenig spter galt Fçrster als Verehrer der Schriften Nietzsches und Richard Wagners. 1875 und 1878 besuchte Fçrster Nietzsche in Basel. In der Folge wurden Nietzsche ab 1879 antisemitische Schriften zugeschickt, in der man sich zu seinem Entsetzen auf seine Bcher berief. Fçrster war 1881 Mitinitiator der ersten antisemitischen Massenpetition in Deutschland mit 267.000 Unterschriften. Sein zunehmend radikaler Antisemitismus, selbst Freunde bezeichneten ihn als „Radauantisemiten“, fhrte 1882 zu seiner Entlassung aus dem Schuldienst und dem Verlust seines Offiziersrangs. Stattdessen propagierte er nun ein „arisches“ Siedlungsprojekt in Sdamerika. Nach seiner Paraguayreise heirateten Bernard Fçrster und Elisabeth Nietzsche im Mrz 1885. Genau ein Jahr spter bersiedelte das Paar in die von Fçrster in Paraguay gegrndete Kolonie „Nueva Germania“, die von Anfang an in großen finanziellen Schwierigkeiten steckte. Whrend Elisabeth Nietzsche um den Erhalt der Kolonie kmpfte, hielt Bernhard Fçrster dem Druck nicht stand und beging Anfang Juni 1889 in Asuncin Selbstmord, was von der Witwe als Schlaganfall ausgegeben wurde. Schriften: Verçffentlichungen in der „Antisemitischen Correspondenz“, den „Bayreuther Blttern“, im „Deutschen Tageblatt“, den „Preußischen Jahrbchern“ und den „Sdamerikanischen Kolonial-Nachrichten“. Fritsch, Theodor (* 28. 10. 1852 Wiesenau/Sachsen; †8. 9. 1933 Gautzsch bei Leipzig), Verleger, Schriftsteller, befreundet mit Bernhard Fçrster und Elisabeth Fçrster-Nietzsche. Der Sohn eines Bauern besuchte die Berliner Gewerbeakademie und arbeitete als Ingenieur in Berlin. 1879 grndete er dort ein mhlentechnisches Bro, an das eine Verlagsanstalt angegliedert war. Neben Fachzeitschriften wie Der deutsche Mller verlegte er vor allem antisemitische Schriften und Pamphlete. Er verbreitete sein rassistisches Gedankengut durch
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Flugbltter mit Millionenauflage; sein 1887 unter dem Pseudonym Thomas Frey verçffentlichter Antisemitismus-Catechismus wurde spter auch von Hitler gelesen. Fritsch war Mitbegrnder der Deutschvçlkischen Freiheitspartei. Seit 1902 gab er die antisemitische Zeitschrift Der Hammer heraus. 1886 verfasste Fritsch unter dem Pseudonym F. Roderich Stoltheim einen Leserbrief in seiner Antisemitischen Correspondenz, in dem er aus Nietzsches Z zitierte. Nietzsche schrieb Fritsch nach der unverlangten Zusendung der Antisemitischen Correspondenz im Frhjahr 1887 zwei ablehnende Briefe, in denen er seine antiantisemitische Haltung herausstrich und sich die weitere Zusendung von dessen Schriften und die Nennung seiner Werke darin nachdrcklich verbat. Daraufhin verriss Fritsch Nietzsches JGB in seiner Antisemitischen Correspondenz im Dezember 1887. Zur Person: Deutsche Biographische Enzyklopdie, 1995 ff., Bd. 3. Groos, Anton (1960): Nietzsche und die „Antisemitische Correspondenz“, in: Deutsche Rundschau 86, H. 4, S. 333 ff. Fritzsch, Ernst Wilhelm (* 24. 8. 1840 Ltzen; †14. 8. 1902 Leipzig), Musikverleger. Studierte 1857 – 60 am Leipziger Konservatorium und lebte dann als Musiker und Knstler an verschiedenen Orten. 1866 kehrte er zurck nach Leipzig, bernahm im April 1870 die Redaktion des Musikalischen Wochenblattes und arbeitete als Musikschriftsteller und Musikalienverleger. Er war Richard Wagners und – von 1871 bis 1874 und 1886/87 – auch Nietzsches Verleger. Vermutlich verfasste er die Rezension ber UB I im Musikalischen Wochenblatt 1873. ber einen Artikel Pohls im selben Blatt ber WA, in dem Pohl das Buch als Beweis von Nietzsches „Geistesschwche“ nahm, kam es zwischen Fritzsch und Nietzsche zum Streit, in dessen Verlauf Nietzsche seine Werke aus Fritzsch’ Verlag zurckforderte, woraufhin Fritzsch 10.000 Taler Ablçse verlangte. Zur Person: Riemann, Hugo (1884): Musik-Lexikon. Fuchs, Carl Dorius (* 22. 10. 1838 Potsdam; †27. 8. 1922 Danzig), der Pianist und Musikschriftsteller war ein berzeugter Schopenhauerianer. Der sptere Freund und Briefpartner Nietzsches studierte Theologie und wurde 1871 in Greifswald promoviert. Schon zuvor war er Schler von Hans von Blow und bildete sich zum Pianisten und Organisten aus. Lange ohne feste Position von Klavierstunden lebend, zog er 1879 nach Danzig, wo er 1882/83 die Singakademie leitete. 1886 wurde er Organist an der Petrikirche, dann auch an der Synagoge; zuletzt war er Musikdirektor. Als Musikreferent der Danziger Zeitung hob er das Feuilleton dieses Blattes auf ein international beachtetes Niveau. Nietzsche lernte ihn 1872 im Haus des Musikverlegers Fritzsch in Leipzig kennen, traf ihn Ende 1873 in Naumburg und dann noch einmal im August 1876 in Bayreuth. Der persçnliche Kontakt riss der großen geographischen
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Distanz wegen ab, aber vor allem von Fuchs’ Seite wurde eine rege und ausfhrliche Korrespondenz bis zuletzt beibehalten. In seinem Artikel ber Grillparzers Studien im Musikalischen Wochenblatt 1874 erwhnte er Nietzsche mehrfach. Zur Person: Fuchs, Hans (Hrsg.) (1938): Festschrift zum 100. Geburtstag von Carl Fuchs. Gizycki, Georg von (* 14. 4. 1851 Glogau; †2. 3. 1895 Berlin), Philosoph, Fachautor. Studium und a.o. Professor in Berlin. Der an den Rollstuhl gefesselte und als Kathedersozialist verschriene Gizycki gehçrte zum Kreis um Re und Salom in Berlin 1882 – 87. Er war verheiratet mit der Frauenrechtlerin Lily Braun. Rezensierte 1887 Nietzsches JGB in der Deutschen Rundschau: es stelle eine „Sammlung stylistisch vollendeter, geistreicher, origineller, jedoch großentheils barocker und bizarrer Aphorismen dar – Gedanken unter denen manches Schçne, Feine und – Pikante sich findet, mehr aber leider, was (um das Wenigste zu sagen) hart an die Sphre des Pathologischen, Psychiatrischen streift“. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 451, 205. Glogau, Gustav (* 6. 6. 1844 Laukischken/Ostpreußen; †22. 3. 1895 Laurion/ Griechenland), der sptere Philosoph studierte Medizin, Philologie und Philosophie in Berlin. Nach der Hauslehrerzeit in Rußland und Ttigkeit als Gymnasiallehrer 1878 Professor in Zrich, 1884 in Kiel. Besprach im Oktober 1886 Nietzsches JGB in der Deutschen Litteraturzeitung enthusiastisch und bezeichnete ihn als „der Edelsten einen“. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 454, 183. Deussen, Paul (1895): Zur Erinnerung an Gustav Glogau. Gedchtnisrede, gehalten an der Universitt Kiel am 11. Mai 1895. Graue, Georg Heinrich (* 19. 8. 1836 Bremen, †22. 8. 1918 Nordhausen), evangelischer Theologe. Graue wuchs als Sohn eines Volksschullehrers in Bremen auf und studierte Theologie in Halle und Tbingen. Seit 1859 Hilfsgeistlicher in Ringstedt, einem Dorf nçrdlich von Bremerhaven. Von 1862 bis 1870 Pfarrer in Kirchhuchting bei Bremen. Graue widmete sich neben seiner Amtsttigkeit der Theologie Schleiermachers. Im Frhjahr 1870 wurde er Pfarrer in Jena, im folgenden Jahr dort auch Superintendent. Von 1876 bis zum Eintritt in den Ruhestand 1902 amtierte Graue als Oberpfarrer an der Jacobikirche in Chemnitz. In seiner 1879 erschienenen Flugschrift Darwinismus und Sittlichkeit setzt sich Graue kritisch mit Paul Rees und Nietzsches Philosophie auseinander.
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Guhrauer, Karl Berthold Heinrich (* 13. 3. 1844 Breslau; †14. 3. 1909 Wittenberg), der klassische Philologe, Philosoph und Musikhistoriker besprach die GT ablehnend in den Neuen Jahrbchern fr Klassische Philologie und Pdagogik 1874 und fand das Buch „unphilologisch“. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 495, 260. Hanslick, Eduard (* 11. 9. 1825 Wien; †6. 8. 1904 Baden bei Wien), studierte Jura in Wien, 1849 Promotion. Ab 1848 Musikreferent der Wiener Zeitung, spter der Neuen Freien Presse, deren Feuilleton er zu einem der fhrenden seiner Zeit ausbaute. 1856 habilitierte er in der Geschichte der Musik und sthetik. 1861 – 95 war er Professor fr Musik in Wien. Der gefrchtete Musikkritiker war ein erbitterter Gegner Wagners, der keine Gelegenheit ausließ, Wagner anzugreifen. Nietzsches Verleger Schmeitzner sandte ihm Nietzsches MA und Wagners Publikum und Popularitt, sich daraus einen ntzlichen Skandal versprechend. Der Skandal blieb aus, ein Treffen mit Nietzsche ist nicht belegt. Am 8. 11. 1888 besprach er in einem Artikel in der Wiener Neuen Freien Presse neben anderen Werken WA als „psychologisches Curiosum“. Zur Person: Riemann, Hugo (1884): Musik-Lexikon. Hansson, Ola (* 12. 11. 1860 Hçnsinge/Skane; †26. 9. 1925 Buyukdere bei Konstantinopel), der dnische Journalist und Dichter lebte ab 1889 im freiwilligen Exil zunchst in Deutschland, dann in Frankreich und der Schweiz, zuletzt in der Trkei. 1898 konvertierte er kurzzeitig zum Katholizismus. Er lernte das Werk Nietzsches durch seine Freunde August Strindberg, Georg Brandes und dessen bersetzerin und Hanssons sptere Frau Laura Mohr (* 1854; †1928) kennen und verçffentlichte zwei Aufstze ber Nietzsche, die der Verleger E. W. Fritzsch als Einfhrung in Nietzsches Schriften drucken ließ und deren unentgeltlichen Versand dann der sptere Verleger Nietzsches, C. G. Naumann, bernahm. Der Broschre wurde ein Holzschnitt-Portrt beigegeben, das Heinrich Kçselitz als „abscheulich“ bezeichnete. Es sei eine unglaubliche Ungeschicklichkeit, wenn ein Verleger selber ausposaune, sein Autor stamme aus einer zur Verrcktheit neigenden Familie! „Daß damit die Wirkung Nietzsches einfach zu vernichten wre, fhlte der Phlegmatikus nicht. Der ganze Altweiberklatsch ber Nietzsches Familie aus der Frankfurter Zeitung vom Verleger als Empfehlung abgedruckt! Wie klug!“ (an Overbeck, 21. 9. 1890). Auch die Mutter Franziska Nietzsche war tief verletzt ber diese Indiskretionen, die sie Max Heinze anlastete, der in einem Brief Hanssons auch als eine der Personen genannt wird, die er Ende Februar 1890 auf seiner Recherchetour in Leipzig besuchte. Hanssons Nietzscheartikel schlug auch im privaten Bereich Wellen: Brandes hatte seinen zuerst auf Dnisch im August 1889 erschienenen Artikel ber Nietzsche Hanssons Frau Laura Mohr im Manuskript vorab zur bersetzung
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gegeben. Diese wiederum ließ die bersetzung zugunsten des Artikels ihres Mannes liegen, so daß Hanssons Artikel vor Brandes‘ erschien. Dies rgerte Brandes so sehr, daß er die Freundschaft mit Hansson und seiner Frau beendete. Zur Person: Fambrini, Alessandro (1997): Ola Hansson und Georg Brandes. Bemerkungen ber die erste Rezeption Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 26, S. 421 ff. Helm, Theodor (* 9. 4. 1843 Wien; †23. 12. 1920 Wien), studierte erst Jura und war ab 1865 im Staatsdienst. Er widmete sich ab 1867 der Musikkritik, promovierte 1870 und schrieb fr verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. 1874 wurde er Lehrer fr Musikgeschichte und -sthetik an der Horakschen Musikschule in Wien. Leiter des musikalischen Teils der Deutschen Zeitung, Wien. 1900 war er Professor fr Musik. Er galt zu seiner Zeit als einer der besten Musikkritiker Wiens. Befreundet mit Wagner und Bruckner. Am 28. 12. 1888 rezensierte er Nietzsches WA in der Deutschen Zeitung, Wien. Hermann, Conrad (*30. 5. 1819 Anger bei Leipzig; †15. 7. 1897 Klosterlausnitz), studierte in Leipzig und Berlin Philosophie, 1849 Habilitation, 1861 a.o., ab 1881 ordentlicher Professor in Leipzig. Der Schler Hegels rezensierte Nietzsches JGB 1886 in den Blttern fr literarische Unterhaltung. Herrig, Hans (* 10. 12. 1845 Braunschweig; †4. 5. 1892 Weimar), der Schriftsteller und Journalist erhielt ein Freiexemplar und besprach MA in der Gegenwart vom August 1880 als „im hçchsten Grade anregend und lesenswert“. Zur Person: Kosch, Wilhelm (1968ff ): Deutsches Literatur-Lexikon. Hillebrand, Karl (* 17. 9. 1829 Gießen; †18. 10. 1884 Florenz), der sptere Philologe, Essayist und Historiker nahm als Student am badischen Aufstand von 1848 teil, wurde verhaftet und wre erschossen oder zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden, wenn ihm nicht mit Hilfe seiner Schwester die abenteuerliche Flucht geglckt wre. In Paris wurde er Sekretr Heinrich Heines. 10 Jahre spter war er ein angesehener Gelehrter und Schriftsteller, der in den hervorragendsten Pariser Salons heimisch war. 1863 erhielt er die Professur fr romanische Sprachen in Douai. Er wurde bei Entscheidungen in Unterrichtsfragen herangezogen und arbeitete, inzwischen Franzose geworden, in diplomatischer Mission fr die franzçsische Regierung. Bei Ausbruch des DeutschFranzçsischen Krieges 1870/71 ging er, um dem Nationalittenkonflikt auszuweichen, nach Florenz; auch spter lehnte er alle Berufungen an deutsche Universitten ab. 1879 heiratete er Jessie Laussot-Taylor (* 1827; †1905), die auch çfter Gast der Bayreuther Festspiele war. Außer fr englische, franzçsische und italienische schrieb er vor allem fr deutsche Zeitungen und wird unter die Klassiker des deutschen Essays gezhlt, die es verstanden, einen wissenschaftlich
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fundierten Stoff knstlerisch zu gestalten. Er gehçrte zu den ersten, die Nietzsche zu wrdigen versuchten. Er verçffentlichte Aufstze ber die UB I-III in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, die (so Nietzsche) „in einer etwas vorsichtigeren Form“ in Hillebrands Essaysammlung Zeiten, Vçlker, Menschen 1875 wiederabgedruckt wurden. Nietzsche nannte ihn den „letzten humanen Deutschen“ (KGW VI/3, S. 316 f ) und schickte ihm am 24. Mai 1883 aus Rom den ersten Teil des Z. Hillebrand war vom Begleitschreiben zu Trnen gerhrt und antwortete umgehend, wobei er allerdings mit seiner Meinung hinter dem Berge hielt. An Hans von Blow schrieb er ber Z: „Ich finde wirklich bewundernswertes, geradezu Großes darin; aber die Form lßt keine rechte Freude aufkommen. Ich hasse das Aposteltum und die Apostelsprache“ (NietzscheChronik, S. 557). Nietzsche selbst erwhnt Hillebrand namentlich und lobend in EH. Zur Person: Haupt, Leo (1959): Karl Hillebrand als Publizist und Politiker. (Diss.). Mauser, Wolfram (1960): Karl Hillebrand. Hoffmann, Franz (* 19. 1. 1804 Aschaffenburg; †22. 10. 1881 Wrzburg), der Professor der Philosophie in Wrzburg rezensierte 1873 Nietzsches UB I im Allgemeinen litterarischen Anzeiger fr das evangelische Deutschland. Nietzsche urteilte darber im EH: „Unbedingt fr mich entschieden sich nur einige alte Herren, aus gemischten und zum Theil unerfindlichen Grnden. […] Das Nachdenklichste, auch das Lngste ber die Schrift und ihren Autor wurde von einem alten Schler des Philosophen Baader gesagt, einem Professor Hoffmann in Wrzburg. Er sah aus der Schrift eine grosse Bestimmung fr mich voraus, – eine Art Krisis und hçchste Entscheidung im Problem des Atheismus herbeizufhren, als dessen instinktivsten und rcksichtslosesten Typus er mich errieth. Der Atheismus war das, was mich zu Schopenhauer fhrte.“ (KGW VI/3, S. 316) Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 600, 429ff Joneli-Riggenbach, Arnold (*1835 Grindelwald; †5.1894 Basel), nach dem Vikariat von 1861 – 73 Pfarrer. Ab 1873 Hausvater im Alumneum in Basel. Dann Redakteur, spter leitender Redakteur und Herausgeber der protestantischkonservativen „Allgemeinen Schweizer Zeitung“. Er bte nicht nur auf die Basler Lokalpolitik einen starken Einfluss aus, sondern mischte sich im Sinne seiner Konservativen Partei auch krftig in die Landespolitik ein. Janz vermutet Joneli als Verfasser der anonymen Rezension der GD in der Allgemeinen Schweizer Zeitung vom 9. 2. 1889 (Janz (1979) Bd. 3, S. 309), nach Krummel besteht dazu allerdings kein Anlass (Krummel (1998) Bd. 1, S. 165). Tatschlich ist die Rezension wohl Jacob Mhly zuzuschreiben.
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Kçselitz, Heinrich (* 10. 1. 1854 Annaberg/Erzgebirge; †15. 8. 1918 ebda.), Pseudonym: Peter Gast. Musiker, Schler und Freund Nietzsches. Nach einer kaufmnnischen Lehre 1870/71 in Leipzig studierte er 1872 – 75 am Konservatorium dortselbst. Durch seinen Freund Paul Heinrich Widemann wurde er auf Nietzsche aufmerksam. Die beiden Freunde bersiedelten nach Basel, wo Kçselitz Vorlesungen bei Nietzsche, Franz Overbeck und Jacob Burckhardt hçrte. 1878 – 91 hielt er sich hauptschlich in Italien auf, unterbrochen durch Aufenthalte in Leipzig, Wien, Zrich, Mnchen und Berlin. 1891 – 1900 lebte er in seiner Heimatstadt Annaberg. 1900 – 08 war er im Nietzsche-Archiv in Weimar als Mitherausgeber der (Großoktav-) Gesamtausgabe ttig, wo er sich ganz der Herrin des Nietzsche-Archivs unterwarf – was ihn die Freundschaft mit Overbeck kostete. Seine letzten Lebensjahre 1908 – 15 verbrachte er wieder in Annaberg. Bis zu Nietzsches Zusammenbruch bernahm Kçselitz 14 Jahre lang Sekretr- (und Samariter-)Dienste, er fertigte in vielen Fllen die Druckmanuskripte, las ausnahmslos alle Korrekturbçgen zu Nietzsches Verçffentlichungen und machte verschiedentlich Verbesserungsvorschlge. Er verfasste die Verlagsanzeigen fr das Buchhndler-Bçrsenblatt und mindestens eine Rezension – im Kunstwart 1888. Kuh, Emil (* 13. 12. 1828 Wien; †30. 12. 1876 Meran), studierte in Wien Philologie. 1847/48 fhrte er in Triest das vterliche Handesgeschft, 1848 wurde er Bahnbeamter in Wien, ab 1849 Freundschaft mit Friedrich Hebbel. 1857 begann er seine literarischen Ttigkeiten, 1861 wurde er Feuilletonist der sterreichischen Zeitung, 1862 der Presse, 1864 Professor fr deutsche Sprache und Literatur an der Wiener Handelsakademie. Seit 1867 schrieb er fr die Wiener Zeitung und galt als angesehener Literatur- und Theaterkritiker. Krankheitshalber musste er seinen Beruf aufgeben und zog erst nach Capri, dann nach Meran. Er war ein enger Freund und Biograph Friedrich Hebbels. Auch seine Biographien Grillparzers und Stifters wurden gelobt. Auch galt er als einer der ersten und wirksamsten Wrdiger Gottfried Kellers. Kuh rezensierte Nietzsches UB I ablehnend im Literaturblatt, Wien, vom September/Oktober 1878, verçffentlicht aus dem Nachlaß. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 771, 112 ff. Smidt, Irmgardt /Streitfeld, Erwin (Hrsg.) (1988): Gottfried Keller – Emil Kuh. Briefwechsel.
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Kulke, Eduard (* 28. 5. 1831 Nikolsburg/Mhren; †20. 3. 1897 Wien), der Musikschriftsteller rechnete 1884 in seinem Buch Richard Wagner, seine Anhnger und seine Gegner Nietzsche noch zu den Wagneranhngern. Schriften: Kulke, Eduard (1890): Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv I, 723, 219 ff. Laban, Ferdinand (*1. 2. 1856 Preßburg/Ungarn; †29. 12. 1910 Berlin), der Kunsthistoriker und Bekannte Heinrich von Steins stand dem Bayreuther Kreis nahe. Er kannte die Schriften Nietzsches seit 1878 und verehrte ihn. 1880 erwhnte er Nietzsche in seinem Buch Die Schopenhauer-Literatur, 1883 bat er Nietzsche um eine Photographie, die dieser ihm sandte. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 778, 45 ff. Lang, Heinrich (* 14.11. 1826 Frommern/ Wrttemberg; †13. 1. 1876 Zrich), studierte von 1844 – 48 in Tbingen Theologie, floh dann als Anhnger der Republik in die Schweiz. Ab 1848 Pfarrer in Gretschins im Wartau, seit 1859 Herausgeber der Reform. Zeitstimmen aus der Schweizerischen Kirche. Ab 1863 Pfarrer in Meilen am Zrichsee, ab 1871 in Zrich. 1872 – 76 war er Zrcher Kirchenrat. Als bedeutender Vertreter des theologischen Freisinns wurde er der erste Prsident des „Schweizer Vereins fr freies Christentum“. Besprach in seinem Artikel „Zwei seltsame Kuze“ in der von ihm herausgegebenen Reform. Zeitstimmen aus der Schweizerischen Kirche vom 13. 12. 1873 Overbecks ber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie und Nietzsches UB I. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 784, 26 ff. Langen, Heinrich (* 21. 3. 1839 Kçln; †28. 8. 1898 Bad Homburg), Theologe. Wurde 1862 Priester, 1874 Direktor des Lehrerseminars zuerst in Eltern, dann 1878 in Bren, seit 1882 in Odenkirchen. Im Juli 1875 rezensierte er ablehnend Nietzsches UB III im Theologischen Literaturblatt. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv I, 738, 58. Lanzky, Paul (* 8. 4. 1852 Weissagk bei Forst; †26. 4. 1936 Soregno bei Lugano), Schriftsteller. Lebte seit 1876 dauerhaft in Italien, wo er Mitbesitzer des Hotels „La Foresta“ in Vallombrosa bei Florenz war. Zeitweilig Redakteur der „Rivista Europea“ und Bekannter Ernst Tempels, bei dem ihm im Frhjahr 1880 MA „in die Hnde fiel“. Darauf ließ er sich von Nietzsches Verleger Schmeitzner die lieferbaren Werke senden. 1883 suchte er, nach der Lektre des Z brieflich die Bekanntschaft Nietzsches und besuchte ihn in der Folge mehrmals in Nizza, wo er, so Nietzsche, „die Einsamkeit nimmt, ohne mir die Gesellschaft zu geben“ (KGB III/3, Bf. 760, S. 263). 1886 ließ Nietzsche ihm sechs Exemplare von JGB senden. Lanzky redete Nietzsche in Briefen stets mit „Verehrter Meister“ an. Seine Verehrung fr Nietzsches Schriften ging so weit,
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daß er sich an eigenen (Nach-)Dichtungen versuchte, u. a. unter dem Titel Abendroete. Psychologische Betrachtungen, 1887, oder ihm seine Gedichte widmete. Nachdem Lanzky Nietzsche das Manuskript der Abendroete zu lesen gab, brach dieser den Kontakt ab. Lanzky schrieb auch verehrende Kritiken, u. a. 1881 ber die M in der Rivista Europea, und 1885 eine schwrmerische Rezension ber die ersten drei Teile von Z in dem Magazin fr die Litteratur des Inund Auslandes. Eine Gesamtwrdigung, nach Lanzky in einem Westeuropischen Courier erschienen, ist nicht auffindbar. Schriften: Lanzky, Paul (1893): Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. In: Allgemeine Zeitung (Mnchen), 16.10. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 789, 80. Kahn-Wallerstein, Carmen (1947): Paul Lanzky erzhlt von Nietzsche. In: Neue Schweizer Rundschau 5, S. 269 ff. Lehmann, Rudolf (* 26. 3. 1855 Krefeld; †7. 3. 1927 Breslau), Pdagoge. Nach dem Studium der klassischen Philologie und Philosophie und einer Dissertation ber Kant von 1878 bis 1906 Gymnasiallehrer in Berlin. Verfasste im April 1882 eine lobende Gesamtwrdigung von Nietzsches Schriften in Schmeitzners Internationaler Monatsschrift und lobte Nietzsche darin als einen Denker „von ungewçhnlicher Tiefe“. Lehmann verkehrte im Berliner Kreis um Re und Salom. 1900 habilitierte er sich in Berlin, bis 1906 Privatdozent, ab 1906 lehrte er an der Akademie in Posen Philosophie und deutsche Literatur, ab 1919 Honorarprofessor an der Universitt Breslau. Lequime, Leon (* ?; †?), Schriftsteller, Redakteur, war in Brssel als Wagnerverehrer bekannt. Er besuchte mehrfach die Festspiele in Bayreuth und schrieb u. a. im Oktober 1876 im Brsseler L’Artiste darber. 1878 rezensierte er in der gleichen Zeitschrift die von Marie Baumgartner angefertige bersetzung der UB IV. Lequime war 1878 Kassenwart des Brsseler Comit Wagnrien, das 40 Mitglieder zhlte. (Bayreuther Bltter Bd. 37, 1878, S. 79). 1881 war er Redakteur der Brsseler Zeitschrift der Wagneranhnger: L’art moderne. Revue critique des arts et de la litterature. Zur Person: Evenepoel, Edmond (1891): Le Wagnrisme hors d’Allemagne (Bruxelles et la Belgique). Paris. Leutsch, Ernst von (* 16. 8. 1806 Frankfurt a.M.; †26. 7. 1886 Gçttingen), studierte klassische Philologie in Gçttingen, wo er 1831 Privatdozent, 1837 a.o. Professor fr Philosophie wurde. Er gab den Philologischen Anzeiger, heraus, in dessen Nr. 3, 1873, eine mit -1- gezeichnete, wohl von ihm selbst stammende Rezension der GT erschien. Darin schrieb er u. a.: „Vom philologischen standpunkte aus begreift man nicht, wie der verfasser zu solchen ansichten gelangen konnte; die erklrung liegt darin, dass er die dinge durch die Wag-
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nersche brille angeschaut hat.“ 1874 folgte im Philologischen Anzeiger noch ein Kommentar zu Rohdes Anzeige der GT, die auch von Leutsch stammen kçnnte. Er schrieb Nietzsche im Oktober 1872 einen nicht berlieferten Brief ber GT, nach Nietzsche im „,Altweiberton‘ und verrth Neigungen! “. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv I, 759, 131 ff. Lindner, Albert (* 24. 4. 1831 Obersulza; †4. 2. 1888 Dalldorf bei Berlin), der Journalist und Dramatiker „zerfleischte“ die zweite Auflage der GT in seiner 16spaltigen Rezension in der Nationalzeitung vom 6./7. November 1878. 1872 – 75 war er Bibliothekar des Reichstags, Ende 1885 wurde er geisteskrank. Zur Person: Neue Deutsche Biographie. Bd. 14, 1985, S. 334. Luthardt, Christoph Ernst, (* 22. 3. 1823 Maroldsweisach/Unterfranken, †21.9. 1902 Leipzig) evangelischer Theologe. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Nrnberg studierte er ab 1841 Theologie in Erlangen und Berlin, wo er auch philosophische Vorlesungen Leopold Rankes und Friedrich W. J. Schellings hçrte. 1845 folgte das kirchliche Examen, der Besuch des Predigerseminars Mnchen und 1846 die Ordination. Lehrer an verschiedenen Gymnasien Mnchens fr Religion und Geschichte. 1851 Repetent an der Erlanger Fakultt, 1852 Lic. theol. und dort habilitiert. 1854 Professor fr Dogmatik und Exegese in Marburg und 1856 Professor fr systematische Theologie in Leipzig. Neben anderen kirchlichen Zeitungen gab er das Theologische Literaturblatt heraus. Luthardt erwhnt Nietzsche wenig schmeichelhaft in seinen 1880 gehaltenen Vortrgen ber Fragen der Gegenwart, die im gleichen Jahr auch gedruckt wurden. Mhly, Ernst (* 1856 Basel; †1894) Dr. med. Der Sohn von Jakob Achilles Mhly begleitete Nietzsche am 17. 1. 1889 zusammen mit Franziska Nietzsche und einem Pfleger von Basel nach Jena. Ernst Mhly war 1870/71 Schler Nietzsches am Pdagogium und „ein heimlicher, verschwiegener Adept seiner letzten Schriften, erfllt von verhaltener wilder Verehrung fr den dmonischen Verknder der Umwertung aller Werte, den Schçpfer von Gut und Bçse“. (Bernoulli, Carl Albrecht (1922), S. 107). Ernst Mhly beging Selbstmord, sein Vater machte Nietzsches Schriften dafr verantwortlich: „Eine andere Frage ist, ob er nicht selbst zerstçrend gewirkt hat. Die Frage darf nicht rundweg verneint werden, auf einzelne seiner allzugetreuen Schler ist jener Einfluß ein verderblicher gewesen – ich kenne Beispiele aus meiner Verwandtschaft – und fr schwache Geister sind viele seiner Schriften eine gefhrliche Nahrung. Aber das geschah gegen seinen Willen und geschieht gegen seinen Willen, und sein reiner Wille ist es, der seinen Schuldtitel in unserem Gedchtnis auslçscht.“ (Mhly, Jacob (1900), S. 250). Unter dem Krzel E. M. erschien 1889 eine Doppel-
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rezension von WA und GD in den Deutschen Worten, Wien, die Ernst Mhly zugeschrieben wird. Mhly, Jacob Achilles (* 24. 12. 1828 Basel; †18. 6. 1902 Basel), studierte klassische Philologie in Basel und Gçttingen, 1850 Dr. phil. in Basel, 1852 Habilitation. 1853 Lehrer am Realgymnasium, ab 1859 Kollege Nietzsches am Pdagogium Basel, seit 1863 Privatdozent, ab 1864 außerordentlicher, 1875 – 90 ordentlicher Professor fr lateinische Sprache und Literatur an der Universitt Basel. Er vertrat Nietzsche am Pdagogium whrend dessen Beurlaubungen. Mhly schrieb anonym eine kurze Rezension der GD in der Allgemeinen Schweizer Zeitung vom 9. 2. 1889 und eine teilweise wortgleiche, lngere und wohlwollende Besprechung in der Allgemeinen Zeitung, Mnchen, vom 2.5. 1889. Am 7.9. 1889 erschien seine lobende Gesamtwrdigung von Nietzsches Schaffen in der Gegenwart, Berlin. Schriften: Mhly, Jacob (1900): Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, in: Die Gegenwart, Jg. 58, Nr. 42, S. 246 ff. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 846, 85 ff. Meyer, Bruno (* 28. 6. 1840 Kempen/Posen; †12. 11. 1917 Berlin), der sptere Kunstkritiker studierte in Berlin, anschließend ebenda Gymnasiallehrer, spter Professor in Karlsruhe und Berlin. In seiner Rezension vom November 1873 in der Deutschen Warte verurteilte er GT entschieden. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 885, 305 ff. Michaelis, Paul (* 8. 3. 1863 Libbesdorf; †24. 1. 1934 Naumburg), der Dr. phil., Schriftsteller und Redakteur des Berliner Tageblattes besprach JGB, GD und GM skeptisch, aber wohlwollend. Nietzsche hielt die ausfhrliche, sehr kritische Rezension von JGB in der Nationalzeitung, Berlin, vom 4. 12. 1886 fr die „achtbarste Recapitulation meines Gedankenganges, die ich bisher gelesen habe; daß sie mit Abneigung gemacht ist, verarge ich dem Referenten durchaus nicht“ (KGB III/5, Bf. 987, S. 246). Nietzsche ließ Michaelis auch M und FW zusenden. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 895, 315. Monod, Gabriel (* 7. 3. 1844 Ingouville; †10. 4. 1912 Versailles), Professor fr Geschichte am College de France. Seit Anfang 1866 mit Malwida von Meysenbug bekannt, 1873 heiratete er deren Pflegetochter Olga Herzen. Am 31. 8. 1872 kam er zusammen mit Malwida von Meysenbug und seiner Braut Olga Herzen fr einige Tage zu Besuch nach Basel; gemeinsam mit Nietzsche fuhren sie mit der Bahn auf den Rigi. 1873 schenkte Nietzsche dem Paar zur Hochzeit eine Komposition. Zusammen mit Meysenbug besuchte Monod Nietzsche noch einmal vom 6. bis 10. September 1877 in Basel. Monod wird eine im Januar
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1875 erschienene anonyme polemische Rezension zu Nietzsches UB III in der franzçsischen Zeitschrift Revue Critique d’histoire et de litterature zugeschrieben, nach Nietzsches Urteil „wohl eher von einem franzçsischen Kellner als von einem franzçsischen Gelehrten“ (KGB II/5, Bf. 426, S. 22). Von ihm stammt mçglicherweise auch die Rezension von Nietzsches UB I in der gleichen Zeitschrift vom 26. 9. 1874. Zur Person: Archives Biographiques Francaises II, 472, 188. Mnz, Sigmund (*7. 5. 1859 Leipnik/Mhren, †7. 9. 1934 Budapest). Bruder von Bernhard Mnz, Studierte an den Universitten Wien und Tbingen, Promotion 1883 in Wien. Er lebte von 1885 – 88 in Rom, von 1889 – 91 in Mailand, Venedig und Florenz. Ende 1891 zog er nach Wien und schrieb fr die Neue Freie Presse Artikel ber auslndische Politik, insbesondere Italien. Er schrieb mehrere Bcher ber Italien, u. a. Aus Quirinal und Vatikan, Berlin 1891, Italienische Reminiscenzen und Profile, Wien 1898 sowie das zweibndige Werk Moderne Staatsmnner, Wien 1901. In seinem Nachruf auf Karl Hillebrand in der Frankfurter Zeitung vom 1. 11. 1884 erwhnt er Nietzsche lobend. Zur Person: Kosel, Hermann (1902): Deutsch- sterreichisches Knstler- und Schriftsteller-Lexicon, Wien. Nohl, Ludwig (* 5. 12. 1831 Iserlohn; †15. 12. 1885 Heidelberg), Musikschriftsteller, Wagnerverehrer. Jurastudium in Bonn, Heidelberg und Berlin, in Berlin zugleich Generalbaß. Bekannt wurde er als Herausgeber von Beethovenund Mozart-Biographien. Nietzsche las Nohls Wagner-Biographie (Musiker Biographien Bd. 5) im Sommer 1888 in Sils Maria (KGW VIII/3, S. 304), in denen er als der „geistvolle Freund und Patron“ Wagners erwhnt wird. Zur Person: Riemann, Hugo (1884): Musik-Lexikon. Opitz, Theodor (* 22. 11. 1820 Frstenstein/Schlesien; †28. 11. 1896 Liestal). Journalist, Teilnehmer der 1848er-Revolution, emigrierte nach dem zweiten polnischen Aufstand in den 1860er Jahren aus politischen Grnden in die Schweiz. 1867 bis 1873 Redakteur des Schweizerischen Volksfreunds, dann „freier Geistesarbeiter“ und bersetzer in Liestal. Opitz stand in regem schriftlichen Kontakt mit namhaften Zeitgenossen wie Gottfried Keller, Adalbert Stifter, Joseph von Eichendorff, Bruno Bauer und Josef Victor Widmann. Am 24. Dezember 1873 schrieb Opitz, angeregt durch die Lektre der GT, an Nietzsche. Krummel (1998, Bd.1, S. 47) hlt Opitz fr einen mçglichen Verfasser des Artikels „Friedrich Nietzsche und sein neuster Kritiker“ in der Schweizer Grenzpost vom 25. 9. 1873. Opitz sandte am 21. Dezember 1874 ein Huldigungsgedicht auf die UB III an Nietzsche, der gerhrt dankte. Persçnliche Kontakte zwischen Nietzsche und Opitz sind nicht belegt.
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Pohl, Richard (* 12. 9. 1826 Leipzig; †17. 12. 1896 Baden-Baden), Musikschriftsteller. Mit Blow, Liszt und Wagner befreundet, fr die er publizistisch eintrat. Lebte 1864 – 96 in Baden-Baden. Nietzsche traf ihn 1878 dort und mehrfach bei Richard Wagner. 1888 besprach er Nietzsches WA sehr ungnstig und hielt das Buch fr einen Beweis der „Geistesschwche“ Nietzsches. Als Reaktion auf den Artikel schrieb Nietzsche Mitte November 1888 einen wtenden Brief an seinen Verleger Fritzsch, in dem er ihm seine Werke entziehen wollte. Fritzsch forderte daraufhin 10.000 Taler als Ablçsung. Nietzsche war mit Pohl bekannt, er traf ihn z. B. am 28. 7. 1871 in Tribschen sowie 1878 in BadenBaden. Zur Person: Riemann, Hugo (1884): Musiklexikon. Portig, Gustav (* 1838 Leipzig; †1911), Professor in Hamburg, lebte spter in Stuttgart, Mitglied der Deutschen Schillerstiftung. Portig besprach am 7. 2. 1889 WA in den Blttern fr literarische Unterhaltung, Leipzig. Schriften: Portig, Gustav (1882): Richard Wagners Ring der Nibelungen und Parsifal. Richter, Arthur (* 19. 1. 1837 Gumbinnen; †3. 2. 1892 Sondershausen), Dr. phil. Lehrer in Magdeburg, Halberstadt und Halle. Er rezensierte 1874 durchaus zustimmend Nietzsches UB I aus christlicher Sicht in der Zeitschrift fr Philosophie und philosophische Kritik. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv I, 1031, 152 f. Riemann, Hugo (* 18. 7. 1849 Groß-Mehlra bei Sondershausen; †10. 7. 1919 Leipzig), der Musiktheoretiker und -lexikograph studierte Jura in Berlin und Tbingen. Nach der Teilnahme am Krieg 1870/71 wendete er sich ganz der Musik zu und studierte am Konservatorium und der Universitt Leipzig, wo er sich 1878 habilitierte. Nietzsche wurde 1884 erstmals in ein Lexikon der Musik aufgenommen in der zweiten Auflage von Riemanns Musik-Lexikon. Riemann war mit Hans von Blow bekannt und schrieb ber GT in seinem Lexikon: „Die Schrift gehçrt zu denen, welche den Knstler [Wagner] so in phantastische Nebel hllen, daß er zum Gott wird“. Eine Begegnung Riemanns mit Nietzsche ist mçglich, aber nicht belegt. Zur Person: Bautz, Friedrich-Wilhelm (1994): Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 8. Rohde, Erwin (* 9. 10. 1845 Hamburg; †11. 1. 1898 Heidelberg), Altphilologe. Rohde wurde 1852 – 59 in dem damals berhmten Stoyschen Institut in Jena unterrichtet. 1860 kehrte er zu seiner Familie nach Hamburg zurck, wo er bis zum Abitur 1864 das Johanneum besuchte. Danach besuchte er noch ein Jahr lang die akademischen Vorlesungen des Johanneums, bis er im Sommersemester
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1865 das Studium der Philologie in Bonn aufnahm. Nach einem Semester folgte er seinem Lehrer Ritschl nach Leipzig und wurde Mitglied des „Philologischen Vereins“ und der Ritschlschen „Societas Philologae Lipsiensis“. Rohde freundete sich erst im Sommersemester 1867 in Leipzig mit Nietzsche an, obwohl sie sich schon zwei Jahre zuvor beim Studium in Bonn kennengelernt haben mussten. Im Mittelpunkt ihrer Freundschaft stand die gemeinsame Schopenhauer-Lektre. Im Frhjahr 1869 promovierte Rohde. Der Plan, mit Nietzsche lngere Zeit nach Paris zu gehen, wurde durch dessen Berufung nach Basel Anfang 1869 hinfllig. Rohde reiste dann im April 1869 mit seinem Leipziger Studienkollegen Roscher ein Jahr durch Italien bis nach Sizilien. Anfang Juni 1870 kehrte er ber Basel nach Hamburg zurck. Zusammen mit Nietzsche besuchte er zwei Tage lang Tribschen, wo er Richard Wagner und Cosima von Blow kennenlernte. Die daraus entstandene enge Freundschaft – Rohde gehçrte zum engsten Kreis der Fçrderer Bayreuths – endete jedoch spter mit dem Bruch Nietzsches mit Wagner. Rohde habilitierte sich 1870 in Kiel und begann im Wintersemester seine Lehrttigkeit als Privatdozent. 1872 wurde er in Kiel zum a.o. Professor ernannt. Am 26. Mai erschien in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung Rohdes Besprechung der GT, die Nietzsche binden ließ und als Sonderdruck an Freunde und Bekannte schickte. Ebenfalls im Mai 1872 erschien Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Streitschrift Zukunftsphilologie! eine erwidrung auf Friedrich Nietzsches geburt der tragçdie. Auf Nietzsches Bitten hin verfasste Rohde seine 48seitige Verteidigungsschrift Afterphilologie (der „gruliche Titel“ (Rohde) stammte von Overbeck), wohl wissend, daß er seiner eigenen beruflichen Karriere damit schaden wrde. Dennoch erfolgte 1876 eine Berufung nach Jena. 1876 markiert den Wendepunkt in Rohdes Freundschaft mit Nietzsche. Bis dahin hatten sie sich jedes Jahr gesehen, außer 1869, dem Jahr von Rohdes Italienreise. 1876 trafen sie sich bei der Auffhrung von Der Ring des Nibelungen in Bayreuth zum vorletzten Mal. Danach trat eine Entfremdung ein, Rohde mied bewusst den Kontakt. Obwohl Rohde Nietzsches Werken seit Erscheinen von MA nicht mehr viel abzugewinnen wusste, setzte er sich doch immer wieder in Briefen an den Freund teilnahmsvoll mit seinem weiteren Schaffen auseinander. 1877 heiratete Rohde die 18jhrige Valentine Framm (* 12. 10. 1859; †22. 8. 1901), mit der er vier Kinder hatte. 1878 folgte er einem Ruf nach Tbingen, und von dort wurde er Ostern 1886 nach dem Tod Georg Curtius’ auf dessen Lehrstuhl nach Leipzig berufen. Im Sommer 1886 kam es zu einer letzten Begegnung mit Nietzsche in Leipzig, ber die Rohde rckblickend an Overbeck schrieb: „Eine unbeschreibliche Atmosphre der Fremdheit, etwas mir damals vçllig Unheimliches umgab ihn. […] Als kme er aus einem Land wo sonst Niemand wohnt“. Wenig spter erreichte ihn Nietzsches neueste Schrift JGB, die er in einem Brief an Overbeck scharf kritisierte. Er erkannte darin nicht mehr als geistreiche AperÅus, willkrliche Einflle und „Einsiedlervisionen“. Zu einer letzten erbitterten Auseinanderset-
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zung im Briefverkehr zwischen den Freunden kam es im Frhjahr 1887 anlsslich eines negativen Urteils Rohdes ber den von Nietzsche so sehr geschtzten Hippolyte Taine. Nietzsche warf Rohde in diesem Zusammenhang „rasende Dummheit“ vor und war eher bereit, seine alte Freundschaft aufs Spiel zu setzen, als ein schlechtes Wort ber Taine zu dulden. In Leipzig verlief fr Rohde die Zusammenarbeit mit Ribbeck, Lipsius und Wachsmuth recht enttuschend, so dass er bereits nach einem Semester einem Ruf nach Heidelberg folgte. Ostern 1894 reiste er auf Bitten Elisabeth Fçrster-Nietzsches nach Naumburg, um sie bei der Herausgabe von Nietzsches Nachlass zu beraten. Sein Urteil war eindeutig negativ, er riet von allen weiteren Verçffentlichungen ab. Bei dieser Gelegenheit begegnete er auch ein allerletztes Mal Nietzsche, der ihn jedoch nicht mehr erkannte. Zur Person: KGB I/4, S. 724 ff. Patzer, Andreas/Hçlscher, Uvo (Hrsg.) (1989): Briefwechsel Franz Overbeck – Erwin Rohde. Berlin (Supplementa Nietzscheana Bd. 1). Rmelin, Gustav von (* 26. 3. 1815 Ravensburg, †28. 10. 1889 Tbingen), der langjhrige Kanzler der Universitt Tbingen und Anhnger Bismarcks erwhnt 1875 Nietzsche wenig schmeichelhaft in seinen Reden und Aufstzen. Schlaf, Johannes (* 21. 6. 1862 Querfurt; †2. 2. 1941 ebda.), der Schriftsteller schrieb im Januar 1887 eine sehr abgeneigte Rezension von JGB in der Deutschen Universittszeitung, Berlin. 1884 – 88 Studium in Berlin und Halle/Saale. Schlaf lebte danach als freier Schriftsteller in Berlin, arbeitete u. a. mit Arno Holz an den Neuen Gleisen, die fr das naturalistische Drama anregend waren. Ab 1904 lebte er in Weimar. Schriften: Schlaf, Johannes (1907): Der Fall Nietzsche, eine berwindung. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 1149, 173 ff. Schlemm, Oscar (* ?; †?), erwhnt Nietzsche 1883 in seinem Artikel „ber gymnasiale Erziehung“ in den Bayreuther Blttern. Schçll, Rudolf (* 1. 9. 1844 Weimar; †10. 6. 1893 Mnchen), Professor fr Klassische Philologie. 1862 – 65 Studium in Gçttingen und Bonn, wo er teilweise die gleichen Vorlesungen wie Nietzsche besuchte. Nach seinem Examen wurde er Lehrer in Berlin. Zwei Jahre spter unternahm er eine lngere Italienreise, die ihn u. a. nach Rom, Florenz und Genua fhrte. Ab 1872 Professor in Greifswald, spter in Jena, Straßburg und Mnchen. Er schrieb Artikel fr die Grenzboten, die Nationalzeitung und die Allgemeine Zeitung. Schçll war bekannt mit Rohde, Liszt, Studemund und Wilamowitz. Er kritisierte 1873 Nietzsches „Certamen“ in der Zeitschrift Hermes. Eine nhere Bekanntschaft mit Nietzsche ist nicht belegt, in ihrer gemeinsamen Bonner Zeit drften sich Schçll und
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Nietzsche aber zumindest gesehen haben. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 1129, 86 ff. Seemann, Otto S. (* ?; †?), Altphilologe. Oberlehrer am Gymnasium Essen, spter Prof. Verçffentlichte 1869 Die Gçtter und Heroen. Eine Vorschule der Kunstmythologie im Leipziger Seemann-Verlag. Rezensierte im April 1873 Nietzsches GT im Magazin fr die Litteratur des Auslandes. 1889 erschien sein Werk Die religiçsen Gebruche der Griechen und Rçmer. Seidl, Arthur (* 8. 6. 1863 Mnchen; †11. 4. 1928 Dessau), studierte in Mnchen, Tbingen, Berlin und Leipzig, 1887 Dr. phil. Verçffentlichte 1886 im Musikalischen Wochenblatt einen Artikel ber „Richard Wagner und Bayreuth“, in dem er Nietzsches GT lobend erwhnte. Der bis 1898 wenig bekannte Musikkritiker und Mitarbeiter an antisemitischen Zeitschriften wurde von Elisabeth Fçrster-Nietzsche als Ersatz fr den ein Jahr zuvor ausgeschiedenen Koegel als Herausgeber der Nietzsche-Werke engagiert. Er trat zum 1. Oktober 1898 ein und besorgte die Neuauflage und Korrektur der von Koegel herausgegebenen Bnde I–VIII. Am 31. August 1899 schied er aus dem Archiv aus, um die Chefredaktion der Mnchner Neuesten Nachrichten zu bernehmen. 1903 – 19 war er Musikdramaturg am Hoftheater Dessau und seit 1919 Leiter eines musikwissenschaftlichen Seminars ebenda. Zur Person: Frankenstein, Ludwig (1913): Arthur Seidl. Regensburg. Siebenlist, August (* ? Preßburg; †?), Mitbegrnder des Preßburger Politischen Wochenblatts Westungarischer Grenzbote, 1872 leitete er mit seinem Bruder deren Literaturteil. Erwhnt 1880 Nietzsches GT in seinem Werk Schopenhauer’s Philosophie der Tragçdie sowie lobend die UB als auch MA. 1890 wohnhaft in Wien. Sittard, Joseph (* 4. 6. 1846 Aachen; †24. 11. 1903 Hamburg), Musikschriftsteller. Studierte ab 1868 auf dem Konservatorium in Stuttgart Musik. 1872 wurde er ebenda Lehrer fr Gesang und Klavier und bernahm 1883 die Vorlesungen ber Musikgeschichte. Im Herbst 1885 trat er an Stelle von L. Meinardus als Musikreferent in die Redaktion des Hamburger Correspondenten, Mitte 1890 wurde er dessen Feuilletonredakteur. 1891 wurde er Professor. Er schrieb neben Aufstzen in u. a. der Allgemeinen musikalischen Zeitung und den Monatsheften fr Musikgeschichte auch ein Kompendium der Geschichte der Kirchenmusik, Stuttgart 1881 und eine Einfhrung in die Geschichte und sthetik der Musik, ebda. 1885. 1888 besprach Sittard im Hamburger Correspondenten Nietzsches WA.
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Spatzier, Hans (†?; †?), Dr. phil. in Berlin. Schrieb 1881 eine Rezension der GD im Literarischen Merkur. Verfasser spiritistischer Schriften, 1890 Leiter der Berliner Handwerkervereinszeitung. Spitteler, Carl (* 24. 4. 1845 Liestal; †29. 12. 1924 Luzern), Schriftsteller. 1861 bis 1862 Schler des Basler Pdagogiums. Ab 1863 Jurastudium in Basel, nach einem schweren Konflikt mit dem Vater 1865 bis 1871 Studium der protestantischen Theologie in Zrich, Heidelberg und Basel, 1871 Examen und Ordination zum Pfarrer. Spitteler besuchte 1870 mehrere Vorlesungen Burckhardts (aber keine Overbecks) und htte durchaus mit Nietzsche, dessen Werke er spter rezensierte und bekannt machte, persçnlich zusammentreffen kçnnen. Spitteler schlug eine angebotene Pfarrstelle zugunsten einer Hauslehrerstelle in St. Petersburg aus, wo er bis 1879 blieb. Angeregt durch seinen Lehrer Jacob Burckhardt und bestrkt durch seinen Mentor Josef Victor Widmann bearbeitete er den antiken Prometheus-Epos neu, sein erstes Buch, das Gottfried Keller und auch Nietzsche sehr beeindruckte. Spitteler arbeitete dann als Lehrer an der Berner Mdchenschule, ab 1881 in La Neuveville, ab 1885 als Journalist in Frauenfeld und Basel und ab 1890 als Feuilletonredakteur der Neuen Zrcher Zeitung. Spitteler schrieb zwei Rezensionen zu Nietzsches Werken im Berner Bund. Da er anfangs keinen Erfolg mit seinen epischen Dichtungen hatte, schrieb er Lustspiele und Gedichte, doch der Erfolg blieb bescheiden. 1892 heiratete er die vermçgende Hollnderin Maria Op den Hooff, konnte sich nun ganz seinem Werk widmen und wandte sich wieder der Epik zu. 1919 erhielt er als erster Schweizer den Literaturnobelpreis. Schriften: Spitteler, Carl (1908): Meine Beziehungen zu Nietzsche. Auch in: Spitteler, Carl (1947): Autobiographische Schriften. (= Gesammelte Werke Bd. 6), S. 491 ff. Zur Person: Stauffacher, Werner (1994): Carl Spitteler und Friedrich Nietzsche – Ein Ferngesprch, in: David M. Hoffmann: Nietzsche und die Schweiz. S. 132 ff. Steiger, Edgar (* 13. 11. 1858 Egelshofen/ Schweiz; †24. 10. 1919 Mnchen), Schriftsteller, Novellist, Kritiker. Student Nietzsches in Basel im WS 1878/79. Steiger war mçglicherweise Verfasser der Rezension des WA in der Frankfurter Zeitung vom 24. 11. 1888. Er schrieb mehrere Artikel ber seine Erinnerungen an Nietzsche. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 1255, 172 f. Sturzenegger, Bartholomus (*12. 8. 1848 Trogen; †9. 7. 1934 Sirnach), Schler Nietzsches am Pdagogium 1869/70. 1874 – 79 Pfarrer in Sirnach, 1879 – 84 in Ebnat, 1885 – 1904 in Heiden, dann bis 1920 thurgauer Kantonshelfer in Sirnach. Er schrieb 1875 einen Brief an Nietzsche und im August 1875 einen
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Nietzsche sehr gewogenen Artikel ber die UB II in der Reform. Zeitstimmen aus der schweizerischen Kirche. Tappert, Wilhelm (* 19. 2. 1830 Ober-Thomaswaldau/Schlesien, †27.10.07, Berlin), der Musikschriftsteller und Wagnerverehrer absolvierte eine Lehrerausbildung in Bunzlau und arbeitete mehrere Jahre als Lehrer. 1866 zog er nach Berlin, wo er von 1876 – 1881 die Allgemeine Deutsche Musikzeitung redigierte und Artikel, u. a. fr das Musikalische Wochenblatt schrieb. Er verçffentlichte mehrere Wagner untersttzende Bcher sowie Klavierstcke und Noten. Er erwhnt Nietzsche 1873 im Musikalischen Wochenblatt. Vischer-Heusler, Wilhelm (* 4. 8. 1833 Basel; †30. 3. 1886 Basel), Historiker. Der Sohn des klassischen Philologen Wilhelm Vischer-Bilfinger studierte zunchst Theologie in Basel, dann Philosophie in Bonn, schließlich Geschichte in Berlin. 1856 promovierte er in Basel, war dann Assistent in Gçttingen und zwischenzeitlich Geschichtslehrer am Basler Pdagogium. 1866 – 71 war er Oberbibliothekar in Basel, 1867 wurde er zum außerordentlichen, 1874 zum ordentlichen Professor fr Geschichte ernannt. Seit 1874 war er Mitglied des Großen Rats des Kantons Basel-Stadt sowie des Kirchenrats. Nietzsche wandte sich am 24.3. 1869 auf Anraten seines Vorgngers Adolf Kießling an VischerHeusler mit der Bitte, ihm bei der Wohnungssuche in Basel behilflich zu sein. In Basel pflegten beide einen geselligen Umgang miteinander. Vischer-Heusler schrieb in der Allgemeinen Schweizer Zeitung vom 6. und 7.10. 1873 unter „Litterarisches“ einen konstruktiven Artikel ber Nietzsches UB I, in dem er auch die schon erschienenen Zeitungsartikel bewertete. Zur Person: KGB I/4, S. 730 f. Deutsches Biographisches Archiv II, 1341, 157 ff. Volkelt, Johannes (* 21. 7. 1848 Lipnik/Galizien; †8. 5. 1930 Leipzig), studierte Philosophie in Wien, Jena und Leipzig. 1876 wurde er Privatdozent, 1879 a.o. Professor an der Universitt Jena, 1883 ord. Professor in Basel. Befreundet mit Erwin Rohde und Franz Overbeck. 1889 folgte er einem Ruf nach Wrzburg, 1894 – 1921 nach Leipzig. Volkelt bewunderte Nietzsches Philosophie und traf ihn auch persçnlich: im Sommer 1884 in Basel und spter noch ein- oder zweimal in Sils-Maria. Volkelt erwhnt 1877 Nietzsche in seiner Rezension von Lipiners Prometheus. Zur Person: Felix Krueger: Nekrolog auf Johannes Volkelt. 1930. Wagner, Ernst (* ?, †?) Schrieb 1882 einen langen Artikel ber Nietzsches FW in Schmeitzners Internationaler Monatsschrift.
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Wagner, Richard (* 22. 5. 1813 Leipzig; †13. 2. 1883 Venedig), Komponist, Musikschriftsteller. Nietzsche lernte den gefeierten und schon zuvor verehrten Musiker am 8. 11. 1868 durch die Vermittlung der Ehefrau Ritschls in Leipzig kennen. Bald nach der Ankunft in Basel besucht Nietzsche den ihm in Leipzig vorgestellten berhmten Wagner im unweit gelegenen Tribschen. Aus der Bekanntschaft entwickelt sich bald eine Freundschaft, die befçrdert wurde durch die Schopenhauerbegeisterung des Musikers mit philologischen Neigungen Wagner und des Philologen mit musikalischen Ambitionen Nietzsche. Nietzsches unwissentlicher Aufenthalt in Tribschen am 6. Juni 1869 bei der Geburt des Sohnes Siegfried bestrkte den aberglubischen Wagner in der Ansicht, den richtigen Mitstreiter fr seine Sache gefunden zu haben. Unzufrieden mit der in Aussicht stehenden Philologenkarriere, hoffte Nietzsche auf einen Platz an Wagners Seite bei der geplanten Erneuerung von Musik und Gesellschaft. Uneingeschrnkt setzte er sich fr Wagners Plne ein und ruinierte mit GT seine wissenschaftliche Reputation. Fr Wagner war Nietzsche aber auch ein bereitwilliger Helfer, sei es bei der Besorgung seidener Unterhosen oder der Drucklegung seiner Autobiographie, eine Eigenschaft Nietzsches, die auch Cosima Wagner schtzte und fr sich nutzte. ber 20 Wochenenden in Tribschen zhlte Nietzsche bis zu Wagners Wegzug nach Bayreuth. Dann begann die Entfremdung der beiden Freunde, der persçnliche Kontakt fehlte, zudem war Nietzsche abgestoßen von dem Prunk und Pomp in Bayreuth. Wagners Hinwendung zu christlichen Themen im Parsifal ließ Nietzsche an der ursprnglichen Aufbruchsstimmung zweifeln. Wagners Rat zu Nietzsches hufigen Krankheitszustnden, zur Genesung entweder zu heiraten oder eine Oper zu schreiben, empfand Nietzsche, der Wagners grobe Witze nie mochte, als Zumutung. Ein letztes Mal trafen Nietzsche und Re die Wagners im Winter 1876 in Sorrent, doch der Bruch wurde verstrkt durch Wagners unverhohlene, antisemitisch motivierte Abneigung gegen den verehrten Freund Re. Auf den Tod des geliebten und gehaßten Wagner am 13. Februar 1883 reagierte Nietzsche mit einem mehrtgigen Krankheitsanfall, darauf schrieb er einen nicht erhaltenen Beiliedsbrief an Cosima Wagner. Zur Person: Borchmeyer, Dieter/Salaquarda, Jçrg (1994): Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Welti, Heinrich (* 8. 12. 1859 Zurzach/Schweiz; †2. 1. 1937 Aarburg), 1884 Dr. phil, Musikschriftsteller. Mitarbeiter der Allgemeinen Deutschen Biographie. Der Sohn des Schweizer Bundesprsidenten Emil Welti verçffentlichte im Dezember 1886 in der Neuen Zrcher Zeitung eine wohlwollende Besprechung von JGB, die Nietzsche zunchst freute, da er Welti offenbar als eine Art Sprachrohr der offiziellen Schweiz berschtzte. Aber schon wenig spter urteilte Nietzsche,
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Weltis Rezension sei etwas „Jmmerliches“. (KGB III/5, Bf. 811, S. 37). Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 1387, 182 ff. Widemann, Paul Heinrich (* 6. 7. 1851 Chemnitz; †Febr. 1928 Kohren bei Leipzig), der Komponist und philosophische Schriftsteller, dessen Vater Rechtsanwalt von Nietzsches Verleger Schmeitzner war, studierte in Leipzig und Berlin, bevor er zusammen mit seinem Freund Heinrich Kçselitz 1876 Vorlesungen Nietzsches in Basel hçrte. Daraus entstand eine engere Bekanntschaft, in der Nietzsche die Werke Widemanns beurteilte und dem Wagnerverehrer eine Nietzsche gewidmete Meistersinger-Partitur schenkte. Widemann stellte auch den Kontakt zu Nietzsches spterem Verleger Schmeitzner her, dessen Redakteur er spter wurde. Im Streit um Schmeitzners Konkurs versuchte Widemann vergeblich zwischen Nietzsche und Schmeitzner zu vermitteln. Spter lebte Widemann dann einige Zeit als Blumenzchter in Quinto bei Genua, bevor er in seine Heimat zurckkehrte. Widemann nennt 1885 in seinem Buch Erkennen und Sein zum großen Missfallen Nietzsches dessen Z in „einem Athem mit dem greulichen Anarchisten und Giftmaule Eugen Dhring“ (KGB III/3, Nr. 649, S. 117). Widmann, Josef Victor (* 20. 2. 1842 Nennowitz/Mhren; †6. 11. 1911 Bern), Dramatiker, Schler Jacob Burckhardts am Basler Gymnasium, dann Studium der Theologie in Basel, Jena und Heidelberg. 1866 wurde er evangelischer Pfarrhelfer in Frauenfeld, 1868 Schulleiter in Bern, schließlich Feuilletonchef des Berner Bund. Er rezensierte als einer der ersten ein Werk Nietzsches, JGB, in einer Tageszeitung ausfhrlich und spektakulr. Nietzsche war stolz auf Widmanns Vergleich des Buches mit Dynamit. Widmann regte außerdem Spittelers Gesamtwrdigung von Nietzsches Werk an. War Nietzsche zu Beginn ber die Beachtung durch den Bund hocherfreut; distanzierte er sich bald deutlich von Widmann und Spitteler. 1893 verçffentliche Widmann sein Drama Jenseits von Gut und Bçse, in dem er das Scheitern von Nietzsches Philosophie thematisiert. Zur Person: Fraenkel, Jonas (1960): Josef Victor Widmann. Kser, Rudolf (1994): „Ein rechter Sancho Pansa mßte nun kommen …“ – Josef Victor Widmanns Nietzsche-Kritik im Feuilleton des Berner „Bund“. In: David M. Hoffmann: Nietzsche und die Schweiz, S. 122 ff. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von (* 22. 12. 1848 Markowitz/Posen; †25. 9. 1931 Berlin), klassischer Philologe. Wie Nietzsche Schler in Pforta, aber vier Jahrgnge unter ihm. Studium in Bonn und Berlin. Nahm am Krieg 1870/71 teil, reiste dann 1872 – 74 nach Griechenland und Italien. 1871 traf er Nietzsche in Naumburg. 1872/73 erçffnete seine Kritik an Nietzsches GT eine erbitterte literarische Fehde gegen Nietzsche, bei der beide Seiten recht ausfllig wurden. Wagner als auch Nietzsches Freund Rohde (vgl. den Eintrag) mischten sich
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zugunsten Nietzsches in den Streit ein. Ein Hintergrund der Fehde war, das Nietzsche in seinem Buch Jahn angriff, worauf dessen Schler Wilamowitz zur Verteidigung mit seinem Artikel schritt, somit den Jahn-Ritschl-Streit fortfhrend. 1874 wurde er Privatdozent in Berlin, 1876 ord. Professor in Greifswald, 1883 in Gçttingen, 1897 in Berlin. Er gilt als einer der bedeutendsten Philologen Deutschlands in der Kaiserzeit. 1880 – 1925 war er Herausgeber der renommierten Philologischen Untersuchungen. Zur Person: Calder, William M. (Hrsg.) (1985): Wilamowitz nach 50 Jahren. Symposium aus Anlaß des 50. Todestages. Mansfeld, Jaap (1986): The Wilamowitz–Nietzsche struggle. Another new document and some further comments, in: Nietzsche-Studien 15, S. 41 ff. Wirth, Moritz (* 14. 9. 1849 Euba bei Chemnitz; †26. 4. 1917 Leipzig), Musikschriftsteller. Studium der Philologie und Philosophie in Leipzig ab 1869, verçffentlichte Schriften ber Wagner von seltsamer und streitbarer Auslegung und spiritistische Schriften. Rezensierte MA im Musikalischen Wochenblatt vom 8. 11. 1887. Eine Begegnung mit Nietzsche ist mçglich, belegt ist sie nicht. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 1416, 291 ff. Wundt, Wilhelm (* 16. 8. 18323 Neckarau; †31. 8. 1920 Groß-Bothen bei Leipzig), Psychologe, Philosoph. Studierte in Heidelberg, Tbingen und Berlin Medizin. Habilitierte 1857 und wurde Privatdozent in Heidelberg. 1864 außerordentlicher, ab 1874 ordentlicher Professor der Philosophie in Zrich, seit 1875 in Leipzig, wo er das Institut fr experimentelle Psychologie grndete. 1889 – 90 Rektor der Universitt Leipzig. Wundt gilt als einer der ersten und grndlichsten Philosophen jener Zeit, seine Lehre beruhte auf exakten einzelwissenschaftlichen Untersuchungen und naturwissenschaftlichen Forschungen. Empfnger eines Freiexemplars der GM. Erwhnt Nietzsches Werke in einem Artikel in Mind, 1877. Zur Person: Deutsches Biographisches Archiv II, 1433, 292 ff. Zdekauer, Ludwig von (* 16. 5. 1855 Prag; †30. 4. 1924 Florenz), Rechtshistoriker. Verließ mit 25 Jahren seine Heimatstadt Richtung Italien und erhielt 1893 die italienische Staatsbrgerschaft. Von 1889 bis 1923 Dozent fr Rechtsgeschichte an der Universitt Siena, bald darauf ordentlicher Professor in Macerata. Er machte sich einen Namen mit Verçffentlichungen zur italienischen Rechtsgeschichte, mit regionalem Schwerpunkt auf Venezien, Pistoia, Siena und Macerata. Seit 1879/80 mit Heinrich Kçselitz in Venedig bekannt. Ein Treffen mit Nietzsche wre mçglich gewesen, ist aber nicht belegt. Zdekauer wechselte Briefe mit Kçselitz und Gersdorff, in denen er u. a. MA kritisch beurteilte (Krummel (1998) Bd. 1, S. 95 Anm. 105). Zitierte Nietzsche 1888 in einem Artikel im Archivio storico italiano.
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Zur Person: Enciclopedia italiana di scienze, lettere et arti. Rom 1937. Bd. 35, S. 904. Zimmermann, Robert (* 2. 11. 1824 Prag; †1. 9. 1898 Wien), Studium der Philosophie in Prag, Leipzig und Wien, seit 1852 Professor in Prag, ab 1861 in Wien. Er gilt Rohde als „Verfasser einer ungeheuer langweiligen Aesthetik.“ (KGB II/4, Bf. 414, S. 215). Eine nchterne, aber ablehnende Rezension der GT im Litterarischen Centralblatt vom 15. Februar 1873 wird ihm zugeschrieben. Rohde hielt sie fr „dummes Zeug“ (KGB II/4 Bf. 414, S. 214). Schriften: Aesthetik. 1858 u. 1865, 2 Bde. Zur Person: Deutsche Biographische Enzyklopdie, 1995 ff., Bd. 10.
Literaturverzeichnis Literatur mit Siglen BA: FW: GD: GM: GT: JGB: KGB: KGW: KSA: M: MA: UB: UB I: UB II: UB III: UB IV: WA: Z: ZA:
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Literatur
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Personenregister Achilleus Tatios 132 Adam 168, 201, 841, 873, 931 Adam, Juliette 698 Aias 14, 69, 89 Aischylos 59, 69, 75, 135, 178 Alexander 286, 510, 715 Alkidamas 14 – 18 Angelus Silesius 424 Antigone 69, 98, 105, 148 Antiphos 18 Apelles 59 Apollon 57, 60 – 63, 65 f., 71 f., 80, 98, 126, 129, 131, 137, 139, 221 f., 224, 230 Aragon, Eugen 559, 573, 770 Archilochos 58, 63 – 65, 72, 130 – 133, 137 f., 225 f. Aristarch 99 Aristophanes 56, 59, 72, 113, 147, 266, 653 Aristoteles 15 f., 18, 50, 58, 62, 68, 71, 75, 90, 97, 101 f., 112 f., 116 – 118, 138, 153, 337, 348, 486, 523, 754, 798, 854, 862 Asher, David 498, 502 f., 944 Avenarius, Ferdinand 628, 712, 722, 763, 944 Averros 523 Baader, Franz von 334, 340, 346 f., 350, 353 – 356, 359, 363, 418, 954 Bach, Johann Sebastian 54, 156 f., 173, 191, 270, 426, 710, 778 Bahnsen, Julius 522 f., 533 Baligand, Max von 34, 37 Baudelaire, Charles 713 Bauer, Bruno 455 f., 806, 944, 960 Bauer, Ludwig 447 f., 451 Baumgartner, Marie 513, 515, 537, 957 Bebel, August 327 Beck, August 27 Beethoven 44, 54, 156 f., 166 – 168, 173, 176 – 178, 188, 190 – 195, 198, 201 f., 204, 207 – 209, 236, 241,
250 – 252, 255, 270, 274, 287, 289 f., 297, 305, 315, 337, 349, 375, 423, 426, 431, 435, 440, 446, 473, 512, 517, 562, 564, 697, 701, 710, 741 f., 745, 778, 960 Bentley, Richard 107 f. Berg, Leo 764, 861, 944 Berkeley, George 486 Bilharz, Alfons 533 Binder, Gustav 367, 391, 944 Binet, Alfred 855 Bismarck, Otto von 123, 419, 455 f., 469, 538, 748, 756, 850, 940, 944, 963 Bizet, Georges 686 f., 690, 707, 723, 734, 740 – 742 Blum, Hans 6 f., 322 Boscovich, Roger Joseph 858 Bçttcher, Friedrich 6, 322 Bourdeau, Jean 475, 771 Bourget, Paul 714 Brahms, Johannes 623 f., 649 f., 693, 703, 709 f., 723, 727, 732 Brakl, Franz Joseph 761, 945 Brandes, Eduard 876 f. Brandes, Georg 2, 480, 531, 714, 810 f., 872, 874 f., 900, 907, 942, 946, 952 f. Brasch, Moritz 811, 946 Brendel, Franz 168 f., 201 f., 204 Brockes, Barthold 448 Brockhaus, Clemens 30 Brutus 125, 839 f., 929 Bchner, Georg 301, 524 Buddha 93, 376, 608, 803 Blow, Hans von 32, 37, 96, 537, 592, 695, 950, 954, 961 f. Burckhardt, Jacob 9 f., 12, 27, 457, 537 f., 567, 575, 590 f., 593, 623 – 625, 650, 668, 748, 753, 899, 942, 945, 955, 965, 968 Busse, Otto 545, 610 – 612, 667, 946 Byron, George Gordon 244, 681
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Personenregister
Caesar 131, 763 Calderon 57, 442, 489 Calvin, Johannes 471, 487 Camp, Maime du 748 Carlyle, Thomas 451, 498, 502, 752, 757, 762, 764, 944 Carriere, Moriz 479, 639 Cavour, Camillo Benso von 437 Chamfort, Nicolas 488, 556, 851, 941 Charax 18 Chariepe 16 Chrysostomus 53, 112 Cicero 16, 243 Claudius, Matthias 267 Clauren, Heinrich 315 Condillac, tienne Bonnot de 301 Conrad, Michael Georg (Pseud.: Hammer, Fritz; Stahl, Erich) 4, 558, 676, 728, 734, 762 f., 946 Courier, Paul Louis 292, 452, 534 Darwin, Charles 142 f., 289, 300, 305 f., 349 f., 352 – 354, 404, 416, 434, 471, 529, 540, 547, 555, 671 Demetrios 132 Demokrit 523 Deussen, Paul 79, 682, 951 Diderot, Denis 455 f., 944 Diogenes 25, 523 Dionysos 57, 60, 65 – 67, 69 – 73, 76, 80, 126, 129, 131, 137, 145, 148, 151, 204 f., 221 f., 226 f., 230, 260 f., 264, 267, 270, 273, 621, 828, 883, 916 Dohm, Ernst 38 Dostojewskij, Fjodor M. 618, 809 f., 868 Dove, Alfred 164 f., 186, 379, 569 Drseke, Johannes 159, 175, 179, 181, 192, 214, 217, 234, 947 Druskowitz, Helene 4, 598, 679, 711, 947 Dryander, Ernst von 397, 947 Dhring, Eugen 585, 597, 612, 667, 679 f., 711, 812, 830, 835, 851, 918, 925, 941, 968 DuMont, Emerich von 533, 542, 545 Ebrard, Johannes Heinrich August 612
523,
Eckermann, Johann Peter 276, 441, 552, 817, 829, 904, 917 Edlinger, Anton 455 Eeden, Frederik Willem van 770 Elektra 69, 89 Ennius 98, 128 Epikur 584, 785 Erikapaios 63, 98 Euepes 17 Euripides 36, 57 – 61, 66 f., 69 – 75, 88 – 90, 98, 113 – 115, 134 – 136, 142, 145, 153, 178, 219, 227 – 230, 265 – 270, 425 f., 857, 862 Ewald, Heinrich Georg August 327, 413 f., 948 Falckenberg, Richard 4, 175, 507, 514, 794, 948 Fallmerayer, Jakob Philipp 451 Fechner, Gustav Theodor 354, 527 Feuerbach, Ludwig 212, 336, 347, 362, 484, 524, 648 Fichte, Johann Gottlieb 144, 176, 248, 299, 333, 340, 361, 395, 438, 486, 508, 526 f., 815, 901 Fincke, Fritz 770 Fitger, Arthur 942 Flach, Hans 14, 23, 948 Flaubert, Gustave 585, 822, 909 Fontenelle, Bernard Bovier de 855 Fçrster, Bernhard 2, 4, 6 – 9, 273, 302, 322, 574, 614, 949, 963 f. Franz von Assisi 447 Frenzel, Karl 450 Frey, Thomas 654, 950 Freytag, Gustav 6, 322 Friedrich der Große 297 Friedrich II. 929 Frischlin, Nicodemus 374, 446 Fritsch, Theodor 238, 607 f., 612 f., 654, 946, 949 f. Fritzsch, Ernst Wilhelm 11, 32, 39 f., 45 f., 55 f., 87, 144 f., 149, 181, 193, 217, 238 f., 272, 276, 292, 305, 316, 324, 329, 331, 399, 403, 407, 412 f., 423, 429, 458 f., 479 f., 522, 560, 564, 566, 610, 623, 626 – 628, 640, 647, 689, 692, 694 f., 735, 796, 878, 950, 952, 961
Personenregister
Fuchs, Carl 5, 158 f., 183, 231 f., 330, 401, 403, 459, 590, 677, 950 f. Furia, Francisco del 452 Galilei, Galileo 300 Garnyktor 18 Gelzer, Heinrich 538 Gersdorff, Carl von 7 f., 10, 30, 46, 56, 77 f., 122, 141, 143, 232, 302, 312, 322, 329, 401, 454, 457, 490, 494, 530, 575, 591, 593, 949, 969 Gervinus, Georg Gottfried 293, 444 Ghariepe 17 Gibbon, Edward 529 Gizycki, Georg von 650, 951 Glasenapp, Carl Friedrich 514 Glogau, Gustav 630, 680, 951 Gluck, Christoph Willibald 176 f., 191 f., 194, 207, 236, 250, 252 – 256, 258, 743 Gneist, Rudolf von 469 Goethe, Johann Wolfgang von 8, 35, 57, 59, 71, 75 f., 85, 89, 153, 156, 181, 231, 234 – 236, 240 f., 271 f., 276, 280, 357 f., 360, 376, 387, 390 f., 400, 416, 430 f., 437 – 439, 441 – 443, 445, 451 f., 471 – 473, 485, 489 f., 498, 501, 506, 518, 528 – 530, 543, 552, 556, 562 f., 632, 687, 693, 729, 741, 750, 762 f., 815, 817, 820 f., 825, 870, 900 f., 904, 908, 913, 919 Gçtz, Hermann 710 Gçtzinger, Max Wilhelm 443 Grabbe, Christian Dietrich 870 Graue, Georg Heinrich 546 Grillparzer, Franz 231, 241, 401 f., 444, 951, 955 Grimm, Jakob 67, 80, 85, 126, 290 f., 345, 385, 387 – 391, 436, 483 Grote, George 470 Guerrieri-Gonzaga, Emma 233, 455, 473, 482 Guhrauer, Heinrich 217, 952 Guicciardini, Francesco 470 Gumprecht, Otto 159 – 161, 172, 174, 182, 238 Gwinner, Wilhelm 900
977
Hbler, Gotthelf 238 Hadrian 15 Haeckel, Ernst 432 Hagen, Edmund von 518, 628, 632 Hagen, Hermann 33, 37 Hamann, Johann Georg 334, 470 Hndel, Georg Friedrich 191, 256 f., 304, 709, 732 Hanslick, Eduard 4, 517, 632, 686, 698, 750, 952 Hansson, Ola 771 f., 872, 878, 899 f., 942, 945 f., 952 f. Hartmann, Eduard von 7 f., 358, 467, 499, 507, 522, 525, 527, 532, 581, 797, 812, 822, 827, 830, 832, 835, 837, 847, 850 f., 858, 909, 918, 921, 925, 927, 937, 939 – 941, 949 Hauff, Wilhelm 315 Hauser, Caspar 437 Haydn, Joseph 157, 178, 191, 290, 337, 377, 394, 426, 446 Haym, Rudolf 349, 359, 361 f., 522, 526 Hebbel, Friedrich 433, 453, 455, 870, 955 Hecker, Justus 426 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 144, 176, 244, 248, 259, 281, 284, 295, 298 f., 335 f., 340, 346, 353, 356, 358, 360, 374, 395, 399, 417, 419, 434, 445, 470 f., 483 f., 486, 488, 499, 522, 524 – 527, 631, 688, 719, 850, 914, 940, 953 Heine, Heinrich 8, 128, 231, 293, 322 f., 465, 490, 706, 750, 764, 866, 870, 953 Heinze, Max 899, 952 Helm, Theodor 722, 953 Herbart, Johann Friedrich 144, 340, 348, 522 Herder, Johann Gottfried 235, 256 f., 297, 451, 462, 470, 484, 619 f., 729 Hermann, Conrad 633 f., 953 Hermann, Gottfried 59, 142 Hermippos 69 Herodot 109, 246, 469 f. Herrig, Hans 8, 550 f., 557, 953 Hesiod 14 – 18, 53, 98, 949 Hieronymi, Wilhelm 331, 403, 406
978
Personenregister
Hillebrand, Karl 1, 4, 292, 302 – 304, 313, 367, 460, 474 f., 483, 498, 534, 543 f., 592, 806, 953 f., 960 Hoffmann, Franz 5, 10, 13, 331, 335, 363, 418, 455, 522, 748, 807, 899 f., 943, 954, 965, 968 Holbach, Paul-Henri Thiry d’ 356 – 358 Hçlderlin, Friedrich 6, 281 f., 307, 336, 370, 406, 431 Homer 14, 16, 21, 53, 61 – 63, 71 f., 84, 98, 133, 139, 146, 221 f., 473, 562, 949 Huber, Johannes 331, 403 f. Hugo, Victor 498, 684, 731, 748, 752, 757, 762, 870 Hutten, Ulrich von 367, 374, 446 – 450 Ibykus 17 Iffland, August Wilhelm
313
Jacoby, Johann 327 Jahn, Otto 3, 58, 79, 128, 148, 172, 210, 220, 246, 444, 969 Jean Paul 295, 298, 498 Jesus 518, 529, 895 Joinville, Jean de 469 Jullien, Adolphe 713 Kalbeck, Max 517 Kalidasa 57 Kallimachos 128 Kant, Immanuel 44, 53, 144, 155, 173, 212, 231, 244, 298, 301, 339 – 342, 348, 350, 361, 372, 374, 384, 426, 439, 445 f., 485, 487 f., 490, 503, 523, 539, 601, 638, 653, 750, 757, 762, 766, 768, 777 – 779, 805, 812, 820, 831, 858, 871, 920, 957 Karl von Wrttemberg 451 Kasandra 69 Keller, Gottfried 9 f., 203, 440, 453 f., 576, 590, 593, 625, 628, 693, 868, 955, 960, 965 Keppler, Johannes 300 Kerner, Justinus 369, 450 Kierkegaard, Sçren 819, 827, 833, 906 f., 915, 922 Kimon 228 Kistler, Cyrill 564 Klein, Hermann J. 342 f.
Klein, Julius Leopold 862 Kleist, Heinrich von 96, 447 Klette, Anton 45 Klopstock, Friedrich Gottlieb 174, 213 – 215, 293, 297, 346, 448 f., 451, 729, 815, 901 Knauer, Vincenz 522 Knigge, Adolph Freiherr 488 Knortz, Karl 474, 771 Kopernikus, Nikolaus 300, 843 Kçselitz, Heinrich (Pseud.: Peter Gast) 5, 7, 12 f., 39, 455 f., 480 f., 520, 537 f., 567, 585, 589 – 591, 593, 595, 597, 611 f., 614, 623, 625 f., 645, 647, 649, 651, 653, 676, 694, 699, 703, 712, 720 – 722, 747 – 749, 769, 771, 807, 861, 899 f., 942 – 946, 952, 955, 968 f. Kraus, Christian Jakob 340 Kretzer, Eugen 330 Kretzschmar, Hermann 160 Kritias 64 Krockow, Elisabeth von 29 Krçnig, August Karl 526 Kronos 63, 98 Krug, Gustav 36 f., 79, 123 Krug, Wilhelm Traugott 523 Ktimene 16 f. Kuh, Emil 272, 422, 453 – 455, 955 Kulke, Eduard 520, 956 L’ Arronge, Andrea 800 Laban, Ferdinand 557, 590, 593, 956 Lachmann, Karl 59, 63, 99, 107, 130, 142 Lagarde, Paul de 612 Lamennais, Hugues Felicit de 844, 934 Lang, Heinrich 5, 331, 392, 956 Lange, Friedrich Albert 780, 812 Lanzky, Paul 2, 5, 568, 570, 595, 792 – 794, 956 f. Laokoon 62, 185 Laplace, Pierre-Simon 372 Laussot, Jessie 537, 953 Lehmann, Rudolf 772, 780, 957 Leibniz, Gottfried Wilhelm 340, 346, 348, 353, 488, 565 Lenbach, Franz von 30, 591, 945 Leo, Heinrich 470 Leopardi, Giacomo 37, 301, 487, 489
Personenregister
Lequime, Leon 1, 515, 957 Lessing, Gotthold Ephraim 31, 58 f., 62, 71, 75, 114, 154, 185, 194, 197, 216, 235, 240, 248, 267 f., 292, 298, 305, 315, 355, 375, 377, 388, 391, 394, 416, 435 f., 446, 448, 490, 534, 862 Leutsch, Ernst von 15, 112, 121, 145, 149, 957 f. Lichtenberg, Georg Christoph 88, 235, 292, 391, 445, 534 Liliencron, Detlef von 763 Lindau, Paul 517, 587, 649 Lindner, Albert 259, 271 f., 958 Lindwurm, Arnold 522 f., 527 Lipiner, Sigfried 258 f., 532, 539, 966 Liszt, Daniel 29 Liszt, Franz 32, 36 f., 562, 682, 709, 719, 726, 748, 752, 757, 762, 764, 961, 963 Locke, John 488, 624, 734 Lotze, Hermann 486, 527 Ludwig, Otto 96, 262 f., 862 Luthardt, Christoph Ernst 558, 958 Luther, Martin 175, 178, 201, 319, 426, 447, 471, 487, 659, 827, 915 f. Lykurgos 58 Lysippos 59 Macchiavelli, Niccolo 437, 470 Mhly, Ernst 746, 958 f. Mhly, Jacob 4 – 6, 13, 749, 853, 861, 954, 959, 973 Maier, Mathilde 124 Marbach, Oswald 233 Maupassant, Guy de 714 Menandros 59, 75 Mendelssohn, Moses 82 Merloff, Franz 238 Meyer, Bruno 159, 161 – 169, 171 – 174, 179, 189, 199, 204, 212, 234 – 253, 258, 959 Meyer, Jrgen Bona 398, 414, 420 f., 496 Meyerbeer, Giacomo 744, 799 Meysenbug, Malwida von 38, 123, 458, 494, 505, 532, 539, 545, 559, 573, 624, 682, 770, 959 Michaelis, Paul 4, 634, 640, 670, 676, 755, 959 Michelangelo 198, 201, 741
979
Mickiewicz, Adam 934 Mignet, FranÅois-Auguste 470 Mill, Stuart 835, 840, 851, 873, 875, 911, 924, 930, 941 Mimnermos 65, 132 Minckwitz, Johannes 870 Mirabaud, Jean Baptiste de 357 Mnaseas 17 Moliere 473 Moltke, Helmuth Karl Bernhard von 401 Mommsen, Theodor 373, 393 Monod, Gabriel 5, 412, 492, 494, 532, 771, 959 Montaigne, Michel de 94, 455 f., 488 – 490, 715, 785, 797, 820, 855, 907, 944 Morley, John 819, 906 Morsch, Gustav 43, 56, 92, 193, 247, 364, 455, 514, 665, 780 Mozart, Wolfgang Amadeus von 157, 166, 176 – 178, 188, 190 – 193, 195, 198, 204, 207 – 209, 236, 241, 250, 252 – 256, 287, 290, 337, 378, 426, 431, 435, 472, 564, 638, 710, 741, 743, 796, 960 Mller, Max 93 Mller, Otfried 9, 60, 109, 114, 273, 424 Muntaner, Ramon 469 Mnz, Sigmund 439 f., 534, 752, 960 Napoleon 441, 675, 680, 711, 715, 750, 829, 839, 868, 917, 929 Naumann, Constantin Georg 517, 614 f., 618, 623, 625 f., 630, 632 – 634, 641 f., 648, 650 – 653, 668 – 670, 676, 680, 682, 686, 688, 692, 695 f., 698, 702, 704, 711, 722, 728, 738, 740, 746 f., 750, 754, 756, 761 – 764, 771, 805 f., 861, 866, 952 Neobule 64 Nepos, Cornelius 469 Nero 66 Newton, Isaac 300 Nietzsche, Elisabeth 7, 9, 27, 30, 32, 46, 55, 122, 141, 366, 505, 514, 534, 557, 591, 593, 614, 771, 794, 949
980
Personenregister
Nietzsche, Franziska 27, 32, 141, 534, 588, 623, 628, 645 f., 650, 667, 794, 900, 952, 958 Nietzsche, Friedrich 2, 4 – 6, 32, 39 f., 46, 56, 81, 88, 141, 145, 149, 153, 168, 193, 217, 238, 259, 272, 276, 283, 292, 303 f., 309, 312, 322 – 324, 329, 331, 367, 392, 396, 403, 407, 411 – 413, 420, 422 f., 453, 455, 458, 460, 475, 479 f., 483, 495, 498, 507, 518, 520 – 522, 524, 528, 532, 534, 536, 542 f., 551, 558 – 560, 565, 568, 570 f., 577, 586, 589, 592, 595, 597 f., 610 f., 614, 618, 630, 632 – 635, 641 f., 648, 650, 654, 668 – 670, 676, 679, 682, 686, 688, 695 f., 704 f., 711, 714, 720, 722, 724, 728, 734, 738, 740, 746 f., 749 – 751, 754 f., 761 – 765, 769, 772 f., 793 – 795, 809, 811 f., 814, 853, 858, 861, 874, 878, 899, 901, 945 f., 956 f., 959 f., 962, 965, 971 Nikomachos 128 Nippold, Friedrich 316, 331, 348, 359, 397 Nohl, Ludwig 122, 168, 171, 205, 519 f., 687, 794, 960 Odysseus 75, 266, 785 Oedipus 62, 69, 90, 98, 148, 262 Opitz, Theodor 5, 309, 396, 491, 960 Oulibicheff, Alexander 274 Overbeck, Franz 9 f., 13, 28 f., 87, 121, 273, 275 f., 303 f., 328, 391 – 393, 395 f., 403, 455 f., 489 f., 503, 513, 538, 540, 543 f., 550, 559, 567 f., 574, 585, 587, 589 f., 591 f., 597, 613, 615, 617 f., 625 – 627, 634, 639, 645 – 647, 649, 651, 699, 722, 748 – 750, 769 – 772, 794, 807, 861, 899 f., 942 f., 947, 949, 952, 955 f., 962 f., 965 f. Overbeck, Ida 396, 568, 592, 900 Ovid 75, 286 Pachnicke, Herman 272, 539 Paneth, Josef 593, 794 Pascal, Blaise 292, 301, 420, 455 f., 488 f., 534, 785, 842, 944 Paulsen, Friedrich 531, 918
Periander 103 Perikles 72, 228, 472, 488 Phanes 63, 98 Phegeus 18 Pheidias 59, 228 Philochorus 108 Philoktetes 69, 75 Phokylides 65, 132 Phrynichos 68 Phrynis 68, 113 Piccard, Julius 589 Pitt, William 488 Platen, August von 191, 870 Platon 7, 62, 64, 72, 74, 103, 130 f., 230, 235, 337, 348, 350 f., 486, 488, 509, 523, 570 Plutarch 17 f., 25, 101, 104, 113, 132 f., 469, 839, 929 Podach, Erich F. 628, 900 Pohl, Richard 122, 688, 694, 723, 794, 950, 961 Porges, Heinrich 122, 518, 521 Portig, Gustav 738, 961 Praxiteles 59, 139 Prel, Karl du 672 Prometheus 42, 60, 62, 75 f., 89, 118, 231, 258, 423, 965 f. Protagoras 72 f. Puschmann, Theodor 161 – 165, 172, 179 f., 183 – 186, 190, 197, 236 – 238, 240, 244, 252, 686 Pythagoras 66, 622, 746, 827, 915 Quintilian
71
Rafael 741 Ranke, Leopold von 39, 373, 393, 463, 815, 901, 958 Rapp, Ernst 454 Rau, Leopold 490 Rauwenhoff, Lodewijk Willem Ernst 316, 331, 348, 397 f. Ree, Paul 532, 536 – 538, 545 f., 951 Reimarus, Hermann Samuel 374, 448 Reinecke, Carl 690, 692 Reissmann, August 178 Renan, Ernest 822, 839, 849 f., 909, 928 f., 939 Reuter, Fritz 291 Ribbeck, Otto 108, 303, 538, 963
Personenregister
Ribot, Thodule 532 Richter, Ludwig 617 Riehl, Wilhelm Heinrich 394 Riemann, Hugo 273, 739, 950, 952, 960 f. Riemenschneider, Georg 459 Ritschl, Friedrich 3, 6, 14, 20, 29, 33 f., 38, 45, 55, 79, 101, 123, 217, 225, 276, 325, 329, 404, 453, 856 f., 901, 962, 967, 969 Robertson, George Croom 530, 532 Rochholz, Ernst Ludwig 430, 454 Rodenberg, Julius 900, 946 Rohde, Erwin 1, 3, 5 f., 11, 18, 21, 27, 33 f., 37, 39 f., 45 f., 55 f., 77 – 80, 87 f., 121 – 123, 126 f., 141 f., 145, 149, 175, 179, 217 f., 226, 238, 248 f., 272, 275 f., 303, 329 f., 396, 403, 457, 492, 502, 538, 543 – 545, 550, 567 f., 590, 615, 617 f., 771 f., 949, 958, 961 – 963, 966, 968, 970 Romundt, Heinrich 35, 37 f., 698, 944 Rose, Valentin 16, 18, 62, 109 Rosegger, Peter 632 Rosenkranz, Carl 244, 522 Rossini, Gioachino 428, 732, 803 Rousseau, Jean-Jaques 501, 508, 528, 543, 748, 757, 781, 785, 795, 797, 821, 841, 908, 931 Rubinstein, Joseph 541, 692 Rckert, Friedrich 632 Rmelin, Gustav 421, 963 Salis, Arnold von 27 Salis-Marschlins, Meta von 10, 565, 630, 645, 703 Sallust 470 Salter, William Mackintire 603 Sand, George 748, 752, 757, 822, 870, 909 Schfer, Heinrich 358, 470 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 299, 340, 358, 361, 395, 486, 499, 527, 958 Schemann, Ludwig 533 Schiller, Friedrich 8, 57, 59, 63, 80, 94, 96, 120, 142, 156, 223, 226, 228, 262 f., 270 f., 297, 315, 346, 364, 372, 377, 409, 424 f., 431, 439, 445 f., 448, 451, 471, 475, 488, 526,
981
559, 585, 632, 675, 687, 710, 719, 726, 729, 741, 748, 752, 757, 764, 786, 858, 870, 914 Schlaf, Johannes 646, 963 Schlegel, August Wilhelm 70 f., 176, 206 Schlegel, Friedrich 53, 228, 231, 297, 360, 465, 812 Schlegel, Johann Elias 815, 901 Schleiermacher, Friedrich 246, 284, 374, 417 f., 449, 951 Schleinitz, Marie von 37 Schlemm, Oscar 504, 963 Schletterer, Hans Michael 175 – 179, 517 Schlosser, Friedrich Christoph 470 Schmeitzner, Ernst 271 – 273, 474, 492 – 495, 497 f., 502 f., 506 f., 515, 522, 530, 536 – 538, 540 – 544, 550, 552, 557, 572, 577, 585 – 587, 589 f., 594 f., 614, 784, 794, 944, 952, 956 f., 966, 968 Schneider, Otto 17 Schneidewin, Friedrich Wilhem 8, 62 Schçll, Rudolf 20, 23 f., 79, 963 f. Schopenhauer, Arthur 44, 50 f., 54, 56, 58, 62 f., 92 f., 95 f., 113, 130, 141, 144 f., 149 f., 155, 173, 176, 223 – 225, 248 f., 258 – 260, 265, 269, 272 f., 284, 287 – 289, 292, 298 f., 309, 312, 323, 326 f., 332 – 336, 339 – 350, 352, 354 – 363, 370 – 376, 380 – 383, 386, 395 f., 406, 411, 424, 427 – 429, 431, 434, 436 – 442, 445, 454, 458, 470, 472, 474, 478 f., 482 – 499, 501 – 505, 507 – 509, 520, 522 – 526, 528 – 530, 532 f., 541, 543 – 545, 552, 554, 556 f., 571 – 573, 581, 587, 599 – 601, 603, 631, 635, 638, 648, 652, 671, 686, 716, 724, 733, 754, 757 f., 762, 766, 768, 770 f., 777 – 779, 781, 785, 794, 796 f., 812, 814, 816, 820 f., 824, 829, 832, 849 f., 858, 863, 866, 869, 881 – 883, 900, 903, 907 – 909, 911, 916 f., 921 f., 928, 939 f., 944, 954, 956, 962, 964, 971 Schubart, Daniel 446, 448 Schubert, Franz 374, 426 Schur, Edouard 37, 238, 274, 713
982
Personenregister
Schtz, Ludwig 97, 286, 366, 523, 641 Seemann, Otto S. 149, 964 Seidl, Arthur 274, 964 Seneca 136, 752, 757 Seydlitz, Reinhard von 538 Shakespeare, William 6, 57, 142, 178, 234, 256, 267, 269 f., 296, 298, 425, 473, 489, 562, 653, 690, 741, 839, 929 Shelley, Percy Bysshe 586, 820, 907 Siebenlist, August 272 f., 964 Sittard, Joseph 685, 964 Slowacki, Juliusz 844, 934 Sokrates 43, 51, 57, 60, 64, 67, 71 f., 74, 84, 114 f., 131, 134 – 136, 147, 153 f., 229 f., 235, 265, 267 – 270, 348, 366, 425, 440, 757, 762, 767, 776 f., 779, 789, 857, 863, 885 Solon 65, 103 Sophokles 61 f., 71, 73 – 75, 90, 98, 105, 114, 116, 135 f., 138, 142, 145, 147 f., 153, 178, 207, 219, 228, 230, 262, 266, 268 f., 425, 556 Spatzier, Hans 1, 571, 965 Spinoza, Baruch 247, 357 f., 416, 486, 488, 490, 601, 653, 785 Spitteler, Carl 9 f., 12, 606, 629 f., 640, 698 f., 702 – 705, 722, 795, 805 – 808, 944, 965, 968 Spitzer, Daniel 427 Steiger, Edgar 711, 965 Stein, Heinrich von 471, 539, 545, 592, 956 Stendhal 851, 941 Stephanus, H. 18, 20 – 22 Stesichoros 16 f. Stirner, Max 648, 867 Stobaeus 15 Stoltheim, Roderich 608, 950 Strauss, David Friedrich 3, 8, 11, 25, 141, 248, 275 – 277, 283, 286 f., 289 f., 307, 312, 398, 401, 412, 414 – 422, 433 f., 454 – 456, 460, 492 f., 509, 522, 524, 529 f., 533, 779, 816 f., 828, 879, 917, 944, 971 Strindberg, August 771 f., 876 f., 945, 952 Sturzenegger, Bartholomus 5, 475, 479, 965 Suidas 69, 104, 108 f.
Susemihl, Franz 16, 18 Sybel, Heinrich von 133, 470, 660 Taine, Hippolyte 649, 668, 714, 821, 839, 908, 929, 963 Talleyrand, Charles-Maurice de 237 Tappert, Wilhelm 158, 238, 966 Theognis 65, 103 f., 112, 261, 834, 923 Theophrastus 436 Thespis 69, 107 f., 264 Thierry, Augustin 470 Thukydides 228, 463, 470, 763 Tieck, Ludwig 71, 234, 297, 369 Timotheos 68, 137 Tçnnies, Ferdinand 530 f. Treitschke, Heinrich von 28 f., 275, 303, 328, 437, 455 f., 470, 485, 660 Tyrtaios 65, 132 Tzetze, Johannes 14, 18 Uhland, Ludwig 389 f. Ulrici, Hermann 331, 348, 399 Vauvenargues, Luc de 488, 855 Venetianer, Moritz 341 f., 346, 349, 360 Vera, Augusto 331, 398 f., 568, 570 Vinci, Leonardo da 715 Virchow, Rudolf 404, 469 Vischer, Friedrich Theodor 25, 257, 282 f., 302, 307, 330, 336, 370, 403, 413, 431, 433 – 435 Vischer-Bilfinger, Wilhelm 34, 46, 55, 966 Vischer-Heusler, Wilhelm 5, 316, 320, 966 Volkelt, Johannes 258, 966 Voltaire 267, 276, 301, 325, 367, 374, 377, 394, 436, 448 – 450, 536 f., 541, 552, 556, 579, 591, 753, 829, 855, 863, 872, 917 Wachsmuth, Friedrich 470, 963 Wagner, Cosima 28 – 30, 32, 37 – 39, 46, 78, 81, 86, 123 f., 329, 396, 457 f., 482, 491, 536 f., 967 Wagner, Ernst 577 Wagner, Richard 1, 3, 5, 9, 11, 28, 30, 34 f., 38 f., 44 f., 54, 56 – 58, 60, 77 f., 80 f., 86 – 88, 122 – 124, 126, 140, 142, 144 f., 147 – 149, 156,
Personenregister
158 – 169, 171 – 174, 176, 179 – 183, 185 – 187, 189, 191 f., 198 – 202, 204, 206 – 208, 210 f., 213 f., 216 – 218, 220, 228, 230 f., 233 – 242, 244 f., 247, 249 – 255, 257 – 261, 265, 270, 273 – 275, 287, 294, 298 f., 311 f., 315, 327, 329, 352, 364 – 366, 396, 422 – 424, 426 f., 429, 431, 439, 443 f., 453, 457 f., 471, 503, 505 – 507, 509 – 520, 532, 537 – 541, 552, 554, 556, 560 – 562, 564, 587, 598, 612, 639, 652, 678, 682 – 705, 707 – 714, 716 – 746, 751, 754, 756, 762, 764 – 766, 771, 773 f., 778, 784, 794 – 799, 811 – 813, 815 f., 820, 829, 853, 858, 861 – 864, 866, 868 f., 881 – 883, 885, 902 f., 907, 917, 944, 949 f., 952 f., 956, 960 – 962, 964, 966 – 969, 971 Wahrmund, Adolf 612 Waitz, Georg 463 Weber, Carl Maria von 176, 207, 238, 252, 564 Weis, Ludwig 331 Weisse, Christian Hermann 526 f. Welcker, Friedrich Gottlieb 67, 98 – 100, 105, 107 – 109, 129, 424 Welti, Heinrich 9 f., 641, 645 f., 967 f. Wenzel, Ernst 179 Westermann, Antonius 14, 22 f. Westphal, Rudolf 100, 102, 109, 113, 132 f., 225 f. Widemann, Paul 39, 597, 955, 968
983
Widmann, Joseph Victor 9 f., 12 f., 618, 623, 625 – 630, 640, 645, 649, 703 f., 754, 807 f., 945, 960, 965, 968 Wieland, Christoph Martin 293, 297, 390, 451, 490 Wienbarg, Ludolf 813 Wigand, Otto 353, 357 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 56, 79 f., 124, 944, 962, 968 Winckelmann, Johann Joachim 31, 59 f., 97, 111, 156 Wirth, Moritz 4, 559, 685, 734, 969 Wolzogen, Alfred von 518 Wolzogen, Hans von 182, 239, 274, 518, 537, 687 Wundt, Wilhelm 531 f., 969 Xenophon 72, 112, 136 Xerxes 70 Zarncke, Friedrich 39 f., 56, 145, 238, 542 Zdekauer, Ludwig 479 – 481, 969 Zeller, Eduard 25, 29, 454, 485, 492 Zelter, Carl Friedrich 442 Ziegler, Theobald 403 f. Zimmermann, Robert 144 f., 970 Zimmern, Helen 530 Zirngiebl, Eduard 331 Zçckler, Otto 524 Zola, Emile 714, 748, 752, 762 Zçllner, Karl Friedrich 343
Zeitschriftenregister Allgemeine Deutsche Universittszeitung. Berlin 646 Allgemeiner literarischer Anzeiger fr das evangelische Deutschland. Gtersloh 141, 331 Allgemeine Schweizer Zeitung. Basel 316, 749 Allgemeine Zeitung. Augsburg 292, 313, 483 Allgemeine Zeitung. Mnchen 764 Archivio storico italiano. Florenz 479 Bayreuther Bltter 8, 504, 539, 731, 949, 957, 963 Bçrsenblatt fr den Deutschen Buchhandel. Leipzig 536, 614 Der Bund. Bern 618, 699, 704, 751, 795 Deutsche litterarische Volkshefte. Berlin 764 Deutsche Litteraturzeitung. Berlin 680 Deutsche Rundschau. Berlin 543, 650, 668, 901 Deutsches Tageblatt. Berlin 273, 574 Deutsche Warte. Umschau ber das Leben. Leipzig 179, 234 Deutsche Worte. Monatshefte. Wien 746 Deutsche Zeitung. Wien 722 Die Gegenwart. Wochenschrift. Berlin 367, 551, 586 Die Wage. Wochenblatt fr Politik und Literatur. Berlin 258 Frankfurter Zeitung 534, 711, 878, 899, 942, 952, 960, 965 Gçttingische Gelehrte Anzeigen 948 Hamburger Nachrichten
685
413,
Hamburger Signale. Allgemeine MusikZeitung 724 Hamburgischer Correspondent 685 Jahrbcher fr classische Philologie. Leipzig 217 Kçlnische Zeitung 741 Kunstwart. Dresden 669, 682, 685, 712 La Rivista Europea 45, 568 Literarisches Centralblatt fr Deutschland. Leipzig 144, 503, 506, 541, 572, 587, 594, 652 Mannheimer Journal 283 Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy. London 531 Musikalisches Wochenblatt. Leipzig 143, 158f., 175, 179, 231, 234, 274, 401, 459, 507, 514, 559, 688, 734, 740 Nationalzeitung. Berlin 259, 634, 670, 755 Neue evangelische Kirchenzeitung. Berlin 397, 494 Neue freie Presse. Wien 460, 696, 872 Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung. Berlin 632, 639, 750 Neues Mnchener Tageblatt 761 Neue Zrcher Zeitung 9f., 641, 965, 967 Norddeutsche Allgemeine Zeitung. Berlin 81 Nord und Sd. Breslau 648 Nouvelle Revue. Paris 698 Philologischer Anzeiger. Gçttingen 145
56,
Reform: Zeitstimmen aus der Schweizer Kirche. Bern 475
Zeitschriftenregister
Revue critique d’histoire et de littrature. Paris 412 Schmeitzners Internationale Monatsschrift. Chemnitz 577, 772 Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel 26, 286, 309, 312 Theologischer Jahresbericht. Wiesbaden 403 Theologisches Literaturblatt. Bonn 495
985
Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte. Braunschweig 740 Westminster Review and Foreign Quarterly Review. London 527 Zeitschrift fr exacte Philosophie im Sinne des neueren Realismus. Leipzig 414 Zeitschrift fr Philosophie und philosophische Kritik. Leipzig 407