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German Pages 218 Year 2014
Aleida Assmann, Karolina Jeftic, Friederike Wappler (Hg.) Rendezvous mit dem Realen
Erinnerungskulturen | Memory Cultures
Band 4
Die Reihe wird herausgegeben von Aleida Assmann und Birgit Schwelling.
Aleida Assmann, Karolina Jeftic, Friederike Wappler (Hg.)
Rendezvous mit dem Realen Die Spur des Traumas in den Künsten Unter Mitarbeit von Ines Detmers
Für einen substantiellen Beitrag zu den Druckkosten danken wir der Athenaeum-Stiftung und ihrem Leiter Prof. Dr. Dietrich Goetze.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar, soweit die Rechte nicht anderweitig vorliegen. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Gerhard Richter, September, 2005. Öl auf Leinwand (52 x 72 cm), Museum of Modern Art, New York; © Gerhard Richter, Köln Lektorat: Dr. Ines Detmers Satz: Dr. Ines Detmers, Romina Heimburger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2658-2 PDF-ISBN 978-3-8394-2658-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung
Aleida Assmann, Karolina Jeftic, Friederike Wappler | 9 »Es konnte mir ja nicht darum gehen, ein schönes Bild zu malen«: Gerhard Richters Gemälde zum 11. September
Hubertus Butin | 25
M EDIALE KOPIEN Dargestelltes Trauma – Trauma der Darstellung
Joachim Paech | 37 »The Piece Goes on ...« Repetition und Gewalt(-erfahrung) im Werk Bruce Naumans
Friederike Wappler | 59 Fremdes Trauma? Der Zweite Weltkrieg in A. L. Kennedys Roman Day
Karolina Jeftic | 79
R EENACTMENTS Trauma und Abjektes. Zur Autotherapie in den Materialaktionen von Otto Muehl
Gerald Schröder | 93 A Study on Memory. Erinnerung und Trauma in Rod Dickinsons The Milgram-Re-enactment
Anja Schwarz | 119
H EIMSUCHUNGEN Gespenstische Botschaften an die Nachgeborenen: »Cultural Haunting« in der neueren deutschen Literatur
Andreas Kraft | 141 Fotografie und Geister in der Gegenwartskunst: Treichel, Boltanski, Leibovitz
Aleida Assmann | 167 Postsowjetische Heimsuchungen: Die kulturelle Erinnerung an den Sowjetterror
Alexander Etkind | 191 Autorinnen und Autoren | 213
Vorwort
Die Publikation schließt an eine Tagung an, die im Rahmen der Ausstellung Rendez-Vous mit dem Realen. Die Spur des Traumas in der Kunst vom 30. Oktober 2008 bis zum 15. Februar 2009 in den Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum stattfand. Diese fächerübergreifende Tagung war der Frage nach dem Beitrag der Künste zur Trauma-Theorie gewidmet. Die Vorträge wurden für den vorliegenden Band grundlegend überarbeitet und durch weitere Texte ergänzt. Auf diese Weise hat der Band eine völlig neue Gestalt gewonnen. Die Tagung und die Drucklegung dieses Bandes wurden vom Exzellenzcluster der Universität Konstanz »Kulturelle Grundlagen der Integration« sowie vom Rektorat der Ruhr-Universität Bochum und dem Verein der Freunde und Förderer der Kunstsammlungen des Kunstgeschichtlichen Instituts der Ruhr-Universität Bochum ›Situation Kunst – Haus Weitmar‹ großzügig gefördert. Wir danken den Institutionen für ihre wichtige finanzielle und ideelle Unterstützung. Für die Deckung der Druckkosten haben wir der Athenäum Stiftung und ihrem Leiter, Herrn Prof. Dr. Dietrich Goetze, sehr zu danken. Ein besonderer Dank gilt der kompetenten und tatkräftigen Mithilfe von Dr. Ines Detmers bei der Endredaktion des Buches und der feinmaschigen Kommunikation mit dem Verlag. Ihr wichtiger Einsatz ist vom Konstanzer Exzellenzcluster unterstützt worden. Bei der mühsamen Arbeit der Formatierung hat sich Romina Heimburger einmal mehr mit ihrer Geschicklichkeit und Sorgfalt bewährt. Die Zusammenarbeit mit dem Transcript Verlag war in allen Phasen ebenso erfreulich wie konstruktiv. Herrn Gero Wierichs als Ansprechpartner danken wir für die freundliche, verständnisvolle Begleitung; Frau Gost
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hat sich persönlich in der Frage der Cover-Gestaltung eingeschaltet. Allen, die sich für das Gelingen dieses Buches eingesetzt haben, gebührt unser herzlicher Dank. Aleida Assmann, Karolina Jeftic, Friederike Wappler
Einleitung A LEIDA A SSMANN , K AROLINA J EFTIC , F RIEDERIKE W APPLER
Der Begriff des Traumas ist mittlerweile fester Bestandteil unserer Alltagssprache geworden. Wir bezeichnen einschneidende negative Erlebnisse landläufig vor allem dann als traumatisch, wenn unter dem anhaltenden Druck des erlebten Schreckens auch die Zukunft verformt wird. Ursprünglich im psychiatrischen und psychoanalytischen Kontext verankert, hat der Trauma-Begriff seit den 1990er Jahren auch in den Kulturwissenschaften Konjunktur. Wer das rasche Anwachsen seiner Bedeutung auf eine von führenden Theoretikern ausgerufene ›Wende‹ zurückführt, wird der Verbreitung, Tiefe und anhaltenden Aktualität des Themas jedoch in keiner Weise gerecht. Angemessener ist es deshalb, die theoretische Wende selbst als Teil eines übergeordneten sozio-politischen Prozesses zu begreifen, den wir seit den 1980er Jahren erleben und der Staaten und Gesellschaften weltweit mit der Wiederkehr ihrer traumatischen Vergangenheiten konfrontiert. Ein Auslöser dieser Entwicklung war die Erfahrung des Vietnamkrieges, in dessen Verlauf sich Ärzte erneut vor die Aufgabe gestellt sahen, demoralisierte und psychisch schwer verwundete Soldaten versorgen zu müssen. Diese Herausforderung zwang sie dazu, die medizinischen Trauma-Studien vom Beginn des Jahrhunderts wiederaufzunehmen und auf eine neue Grundlage zu stellen.1 Seit 1980 konsolidierte sich auf diese Weise eine medizinische Trauma-Forschung, die zunehmend auch denen zugute kam, die an Symptomen von länger zurückliegenden seelischen 1
Jonathan Shay, Achill in Vietnam. Combat Trauma and the Undoing of Character, New York: Scribner 1994.
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Verletzungen litten. Es entstand ein Bewusstsein für seelische Wunden, die durch eine längere Latenzperiode gegangen waren. Diese anhaltenden seelischen Wunden wurden nicht nur zunehmend zum Gegenstand medizinischer Therapie, sondern erhielten auch soziale Beachtung und kulturelle Anerkennung, was zu einer Privilegierung der Figur des ›Zeugen‹ führte und eine neue Auseinandersetzung mit dem Trauma des Holocaust aus der Perspektive der Opfer einleitete. Auf diese Weise wurde ein enger Zusammenhang zwischen der Gegenwart und einer überwunden geglaubten Vergangenheit wiederhergestellt. Diese Entwicklung zog bald immer weitere Kreise. Wir konnten erleben, wie Vietnamkrieg und Holocaust zu Türöffnern für andere kollektive historische Gewalterfahrungen wurden. Öffentliche Debatten rückten die Opfer von Sklaverei, Kolonialismus und anderen Genoziden ins Bewusstsein, über die die Geschichte der Sieger bislang achtlos hinweg gegangen war. Mit der Entwicklung einer neuen Erinnerungskultur im Namen der Opfer erreichte dieses Vergessen sein Ablaufdatum: unterschiedliche traumatische Vergangenheiten kehrten in die Gegenwart zurück.
D ER T RAUMA-B EGRIFF UND
SEINE
P ARADOXIEN
Neben Medizin, Psychologie und Hirnforschung haben auch die Künste und Kulturwissenschaften einen wichtigen Anteil am Trauma-Diskurs. Ihre Aufgabe ist es, allgemeine Veränderungen des Bewusstseins unter dem Druck des Traumas zu registrieren und die Erfahrungsperspektive des Traumas in die Gesellschaft hinein zu vermitteln. Im Folgenden sollen vier Herausforderungen skizziert werden, die der Trauma-Begriff an das herkömmliche Denken stellt. Die grundlegenden Verschiebungen, die sich dabei ergeben, schlagen sich in oszillierenden Kippbewegungen und Paradoxien nieder, die im Trauma-Begriff mit angelegt sind: 1. Überschuss und Leere, 2. Der Subjektbegriff zwischen Entleerung und neuer Autorisierung, 3. der Zusammenfall von Vergangenheit und Gegenwart, 4. der Einbruch des Realen und die Wiederkehr der Realität.
E INLEITUNG | 11
1. Überschuss und Leere In der Beschreibung des Traumas (wie auch des Sublimen)2 tut sich die Kluft des Widerspruchs zwischen zwei gegensätzlichen Qualitäten auf: es wird sowohl als Exzess, Überschwemmung und Überwältigung, als auch als Leere, Entzogenheit und Unzugänglichkeit beschrieben. Diese bipolare Begriffsfassung hat gewichtige Folgen für die Verfahren künstlerischer Repräsentation, denn auf Leere und Entzug kann man nur mit Ikonoklasmus antworten. Diese Form einer negativen Ästhetik war die Position, die maßgeblich Claude Lanzmann in seinem Film Shoah umgesetzt hat oder Daniel Libeskind in seiner Architektur des Jüdischen Museums in Berlin, in dem er den Begriff ›void‹ zu einer auratisch-ikonischen Formel erhoben hat. Eng verwandt mit dem Begriff der Leere ist auch die Metapher der ›Krypta‹. Mit diesem Bild aus der Architektur wird Trauma als ein unzugänglicher und nicht assimilierbarer Einschluss visualisiert, der sich allen Versuchen einer Integration ins Bewusstsein widersetzt. Die Krypta entsteht durch eine unbewusste Strategie dissoziativer Abspaltung, durch die sich das Individuum in einer schmerzhaften und identitätsbedrohenden Situation äußerster Ohnmacht rettet. Diese Strategie ermöglicht ein zunächst normal erscheinendes Weiterleben, das sich jedoch viel später als äußerst einsturzgefährdet, reduziert und verhärtet erweist. Die Einbruchstellen sind in der Kryptenbildung zu suchen, in der die traumatische Vergangenheit ihr Bedrohungspotential konserviert hat. Die Krypta lässt sich deshalb auch als ein Negativgedächtnis all dessen beschreiben, dem sich das Bewusstsein nicht zu stellen und das es deshalb auch nicht symbolisch zu kodieren vermag. 2. Der Subjektbegriff zwischen Entleerung und neuer Autorisierung Als die Kulturwissenschaften in den 1990er Jahren mit dem TraumaBegriff konfrontiert wurden, waren sie darauf in gewissem Sinne bestens vorbereitet. Denn im Rahmen einer dekonstruktiven Theorie und Praxis waren alteuropäische Begriffe wie ›Subjekt‹, ›Wahrheit‹ und ›Wirklichkeit‹
2
Vgl. u. a. Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, hrsg. von Christine Pries, Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft, Acta Humaniora 1989.
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längst einem systematischen Auflösungs- und Revisionsprozess unterzogen worden. Im Rahmen feministischer, poststrukturalistischer und postkolonialer Diskurse war das autonome, selbst autorisierte und selbstverantwortliche Subjekt ohnehin als eine westliche Konstruktion entlarvt worden. Das traumatisierte Subjekt konnte in dieser Tradition als ›diminished self‹ (Lawrence Langer) interpretiert werden. Die Begrifflichkeit des Traumas kommt der Kritik an dem Subjektbegriff durchaus entgegen, denn es gibt kein Subjekt des Traumas. Der/Die Traumatisierte verliert periodisch die Verfügungsgewalt über sein/ihr Bewusstsein und seinen/ihren Willen und gibt damit dem Konzept der Entleerung von Subjektivität eine plastische Gestalt. Der Kunsthistoriker Hal Foster hat allerdings auch auf den Widerspruch hingewiesen, der im Trauma-Begriff angelegt ist. Im psychologischen Register, so Foster, kehre das Subjekt, wie immer eingeschränkt es auch sein mag, zurück und reklamiere obendrein neue Autorität durch seinen Status als Zeuge, Zeugnis-Geber, Überlebender. In diesem Kontext kultureller Anerkennung und Wertschätzung kann das Trauma das Subjekt stärken, »ihm sogar absolute Autorität verleihen, denn das Trauma eines anderen kann man nicht in Frage stellen; man kann es nur glauben, sich damit identifizieren oder eben auch nicht.« Fosters These lautet deshalb: »Im Trauma-Diskurs wird das Subjekt sowohl entleert als auch erhöht. Damit erfüllt der Trauma-Diskurs zwei gegensätzliche Imperative unserer Gegenwartskultur: Dekonstruktion und Identitätspolitik«.3 Der Trauma-Begriff ist in der theoretischen Diskussion mit einer Kategorie in Verbindung gebracht worden, die es in postmodernen Zeiten eigentlich gar nicht mehr geben dürfte: der Authentizität. Diese Interpretation bezieht sich weniger auf die deformierenden, psychopathologischen Momente des Begriffs als auf die Spur einer nicht vermittelten psychischen Einschreibung und auf die Qualität des Unverfügbaren, die mit dem Trauma gegeben ist. Damit ist die in postmodernen Diskursen in Frage gestellte Authentizität mit dem Trauma-Begriff in einer neuen Gestalt zurückgekehrt. Das jedenfalls ist auch die These des Kunsttheoretikers Boris Groys, für den sich der Begriff der Authentizität, der einst für individuelle Echtheit
3
Hal Foster, The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge/Mass., London: The MIT Press 1996, S. 168.
E INLEITUNG | 13
und einen unverwechselbaren Wesenskern stand, nun mit der pathologischen Unverfügbarkeit des Traumas verschränkt hat.4 3. Der Zusammenfall von Vergangenheit und Gegenwart Eine dritte wichtige konzeptuelle Herausforderung hat mit dem Verlust der klaren Differenz von Vergangenheit und Gegenwart zu tun. Trauma steht für die nicht überwindbare Gegenwart eines vergangenen Geschehens. Die Erfahrung (oder gerade auch Nicht-Erfahrung) einer traumatischen Vergangenheit dringt als andauernde in die jeweilige Gegenwart ein. Diese paradoxe Durchkreuzung der gängigen Zeit-Ordnung ist immer wieder neu umschrieben worden. Ernst Nolte nahm Anstoß an einer »Vergangenheit, die nicht vergeht«; Martin Walser notierte: »Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen«; und der jüdische Germanist Georges-Arthur Goldschmidt schrieb über das Trauma des Holocaust: »dieser letzte Tag ist noch nicht vorbei; ein Morgen, der mit jedem Morgen dämmert«. Trauma bezieht sich in solchen Sätzen auf ein Ereignis, das nicht zurücksinkt in die Vergangenheit; es kann demnach auch nicht vergegenwärtigt, zurückgeholt werden, weil es ja immer noch gegenwärtig ist. Das hat entscheidende Folgen für die Grundfrage nach dem Verhältnis von Realität und Repräsentation. Für die Entdifferenzierung von Vergangenheit und Gegenwart, die das Trauma hervorbringt, gibt es unterschiedliche Konzepte und Bilder. Das in der Ökonomie des Traumas Abgespaltene und vom Bewusstsein Ausgeschlossene verbleibt im Zustand der Latenz, aus dem es sich in der Signalsprache des Unbewussten in unregelmäßigen Eruptionen bemerkbar macht und die Koordinierungsleistungen der Identitätsbildung immer wieder untergräbt. Die nicht in die Inaktualität zurückweichende Vergangenheit bringt sich immer wieder in Flashbacks oder körperlichen ›Reenactments‹ zur Geltung. Eine in Literatur und Folklore verbreitete Umsetzung solcher Rückkehr aus der Latenz ist das Gespenst oder der Wiedergänger, der die Lebenden heimsucht und bedrohende Forderungen aus der Tiefe einer unbewältigten, aber noch sehr gegenwärtigen und gebieterischen Vergangenheit an die Lebenden stellt.
4
Boris Groys, Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München: Hanser Verlag 2000.
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4. Der Einbruch des Realen und die Wiederkehr der Wirklichkeit Nach einem berühmten Satz von Jacques Lacan ist das Trauma eine »verpasste Begegnung mit dem Realen«.5 Da nach Lacan per definitionem keine Begegnung mit dem Realen stattfinden kann, besteht die Herausforderung des Traumas in einem Verlust der Differenz zwischen dem Realen und dem Imaginären. Das Trauma erzeugt einen zirkulären phantasmatischen Zustand, in dem das Reale in das Imaginäre einbricht und das Imaginäre das Reale überschwemmt. Ausgeschlossen in dieser kurzgeschlossenen Schleife ist die Dimension des Symbolischen. Diese kommt in der Therapie zum Einsatz und ist darauf ausgerichtet, Abgespaltenes in Bewusstsein zu verwandeln, sprachlich oder bildlich zu verarbeiten, in ein Narrativ einzubinden und in eine Erinnerung zu integrieren. Andere Theoretiker definieren das Trauma als einen ›Einbruch des Realen‹, der aufgrund seiner überwältigenden und lebensbedrohlichen Übermacht die Netze der kulturellen Symbolisierung zerreißt und damit die Grundlagen der Erfahrungsverarbeitung zerstört. Anne Fuchs hat dafür den Begriff des ›impact event‹ geprägt. Darunter versteht sie »historische Ereignisse, die auf spektakuläre Weise die materielle und symbolische Welt, die wir bewohnen, zerschlagen. Der Einschlag ist mit tiefgreifenden und anhaltenden Nachwirkungen in der materiellen Kultur und dem kollektiven Bewusstsein verbunden. [...] Aus der Perspektive unserer normalen Rahmen und Verstehensmodalitäten erscheinen Einschlagsereignisse als seismische historische Einschnitte, die meist mit extremen Formen von Gewalt einhergehen und die Welt, wie wir sie zu kennen glaubten, auf den Kopf stellen. Die Betonung liegt hier auf dem gewalttätigen Zusammenbruch der sozialen, kulturellen und – im Falle extremer Traumatisierung – auch der symbolischen Ordnung samt der Zerstörung der materiellen Welt, die wir als soziale Wesen bewohnen und in der wir gemeinsamen Sinn konstruieren.«6
5
Jacques Lacan, »The Unconscious and Repetition«, in: Jacques Lacan, The Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis, transl. Alan Sheridan, New York: W.W. Norton, 1978, S. 17-64.
6
Anne Fuchs, After the Dresden Bombing. Pathways of Memory 1945 to the Present, Palgrave 2011, S. 12. Fuchs bezieht sich bei ihrer Definition des ›impact event‹ auf Theoretiker wie Alain Badiou and Slavoj Žižek.
E INLEITUNG | 15
Während das ›Reale‹ im Diskurs der Theoretiker für gewaltförmige Grenzerfahrung und den ›Absolutismus der Wirklichkeit‹ (Hans Blumenberg) steht, ist die ›Realität‹ das, was die menschliche Lebenswelt ausmacht und praktisches Handeln erfordert. Realität in diesem Sinne ist das Gegenteil von ›Konstruktion‹ als einer kollektiven Fiktion, in die sich die Menschen eingesponnen haben, und die sich nach autopoetischen Regeln selbst reproduziert. Realität steht deshalb auch für Referenz und damit für das, was aus dem selbstgenügsamen Symbolsystem der Postmoderne hinausweist – auf Gegenstände, empirische Evidenz, Emotionalität, Wahrheitsgehalt und harte Fakten. In diese Welt hat das Trauma einen neuen/alten Begriff von Realität zurückgebracht, der die Wirklichkeit individueller und historischer Erfahrung sowie von Autorschaft affirmiert. Diese Werte bestimmten auch die 1990er Jahre der Kunst, weshalb Hal Foster diese Bewegung als »Avantgarde am Ende des Jahrhunderts« bezeichnet hat. Die Avantgarde am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte gegen den Realismus mit den Waffen der Abstraktion und des Surrealismus gekämpft; die Avantgarde am Ende des Jahrhunderts wendet sich gegen die Simulacra der Postmoderne mit dem Trauma und der Erneuerung der Referenz. Auf diese Weise gelangen wir, um noch einmal Hal Foster zu zitieren, »von der Realität als einem Effekt der Darstellung zu dem Realen als einem Ding des Traumas«. Und er fügt hinzu: Es sieht aus, »als sei das Reale, das die poststrukturale Postmoderne verdrängt hatte, als Trauma zurückgekehrt.«7
K ÜNSTLERISCHE P RAKTIKEN Philosophie und Literaturtheorie haben den psychiatrischen und psychoanalytischen Trauma-Begriff produktiv aufgenommen und in ihre Diskurse übersetzt. Als ein erster Begriff ist hier das ›Sublime‹ zu nennen, das im Lichte der Trauma-Theorie eine neue Bedeutung gewonnen hat. Es war JeanFrançois Lyotard, der die Brücke zwischen der philosophisch ästhetischen Theorie des Sublimen von Immanuel Kant und Edmund Burke in der Tradition des 18. Jahrhunderts einerseits und dem neuen Trauma-Konzept andererseits geschlagen hat. Die philosophische Diskurstradition, die grundsätzliche Fragen der Grenzerfahrung und der Brüchigkeit von Subjektivität und Identi-
7
Hal Foster, The Return of the Real, S. 146, 166.
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tät thematisiert hatte, wurde von ihm auf den Holocaust als eine nicht nur individuelle, sondern auch kollektive und historische Erfahrung des Zusammenbruchs von Identität, Repräsentation und Zivilisation hin durchlässig gemacht.8 In ihrer Einleitung zu einem Band über Modernität und Trauma hat Inka Mülder-Bach mit Blick auf die enge Verknüpfung von Trauma und Holocaust auf eine bedenkliche »Entgrenzung« des Trauma-Begriffs hingewiesen: »Als überwältigender Einbruch, auf den die Psyche erst nachträglich, nach einer Latenzphase, reagiert und der ihr in der Folgezeit unverfügbar bleibt – der willentlichen Erinnerung und Symbolisierung entzogen, aber in der Buchstäblichkeit von flashbacks und Wiederholungsträumen terroristisch präsent –, eignet dem Trauma eine Struktur, an die sich die poststrukturalistische und dekonstruktive Kritik der Referenz, Repräsentation und Geschichte anbinden lässt. Diese Anbindung aber hat gravierende Konsequenzen, denn sie ermöglicht die Entgrenzung des Traumas – und das heißt am Ende unseres Jahrhunderts, die Entgrenzung des Holocaust – zum Paradigma der Geschichte schlechthin.«9
Diese Sätze, die am Ende des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden, haben sich in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts bewahrheitet – aber diese Entwicklung hat gleichzeitig auch eine andere Wendung genommen. Denn der Holocaust ist nicht im dem Sinne »zum Paradigma der Geschichte schlechthin« geworden, dass er andere traumatische Geschichtserfahrungen verdeckt hat, sondern ihnen auch zum Ausdruck verholfen hat. Wir sind daher mit einer Vielfalt extremer Gewalterfahrungen konfrontiert, die heute im Zeichen einer neuen Ethik der Menschenrechte in ein neues Licht gerückt werden. Im post-traumatischen Zeitalter nach den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und weiteren Genoziden, Diktaturen und Bürgerkriegen, in der Nachgeschichte von Kolonialismus und Sklaverei sowie durch die
8
Jean-François Lyotard, »The Sublime and the Avant-Garde«, in: The Lyotard Reader, ed. by Andrew Benjamin, Oxford: Blackwell 1989, S. 196-211; Ders.: J. F. Heidegger and the »Jews«, transl. Andreas Michel and Mark S. Roberts, Minneapolis: University of Minnesota Press 1990.
9
Inka Mülder-Bach, »Einleitung«, in: Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Wien 2000. S. 7-18, hier: S. 10.
E INLEITUNG | 17
Erfahrung eines globalen Terrorismus haben Literatur und Kunst überall auf der Welt eine neue Bedeutung gewonnen für den Umgang mit traumatischer Erfahrung. Unter diesem Druck ist das Darstellungs- und Ausdrucksspektrum der Künste noch einmal erheblich erweitert worden. Bevor dies in Einzelanalysen genauer vorgestellt und analysiert wird, sind zu diesen künstlerischen Praktiken der Bearbeitung des Traumas noch einige allgemeine Bemerkungen angebracht. In seinem bereits zitierten Aufsatz stellt Hal Foster eine interessante Verbindung zwischen Popart und Trauma fest. Er sieht in der zwanghaften Geste der Wiederholung, die die weltberühmten seriellen Bildcluster von Andy Warhol mit Sujets wie Marilyn Monroe oder die Campbell Tomatensuppe organisiert, nicht nur eine paradoxe Gleichsetzung von referentiellem Gegenstandsbezug des Bildes und der Betonung eines Simulacrums, sondern auch eine Verbindung zum Trauma. Foster spricht in diesem Zusammenhang von einem »traumatic realism« sowie einer Trauma-Abwehr, die zwischen Affektüberschuss und Affektlosigkeit angesiedelt ist. Die entscheidende künstlerische Strategie ist dabei die Geste der mechanischen Wiederholung. Die in solchen Wiederholungsakten vollzogene Annäherung des Künstlers an die Maschine verspricht eine befreiende Reinigung von menschlichen Sinngebungen und Affekten, die allerdings nur denjenigen zugänglich ist, die selbst unter einem Schock oder einem Exzess von Affekten leiden. Diese Kunst, die einen unverhohlen autistischen Zug hat, interpretiert Foster als einen Schutzschild gegen Verletzung und Trauma. In diesem Sinne zitiert er Warhol mit dem Satz: »Ich mag langweilige Dinge.« Seine Bilder, so betonte Warhol, »sollen nicht im wesentlich gleich sein, sondern exakt gleich sein. Denn je mehr du auf das exakt Gleiche schaust, desto mehr verliert sich die Bedeutung, und desto besser und leerer fühlst du dich.«10 Die exakte Wiederholung ist für Warhol somit ein Schutzschirm gegen den Schrecken: »Wenn du ein schreckliches Bild immer wieder anschaust, dann hat es bald keine Wirkung mehr über dich.« Foster veröffentlichte seinen Aufsatz fünf Jahre vor den Terroranschlägen von 9/11. Er konnte damals noch nichts von der Wirkung wissen, die die Wiederholung der Endlosschleifen von Nachrichtenbildern hatte, die das Fernsehen und Internet von den zusammenstürzenden Twin Towers sendete. Jene Wiederholung versetzte die Zuschauer in einen zeitlosen
10 Andy Warhol zit. nach: Hal Foster, Return of the Real, S. 131.
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Zustand der Hypnose und brannte die traumatischen Bilder des Terrors ins Menschheitsgedächtnis ein. Durch die exakte mechanische Wiederholung entstand dabei, wie wiederholt betont wurde, der Effekt eines Simulacrums und einer Derealisierung, was allerdings keineswegs zu der von Warhol angestrebten Langeweile und ersehnten Reinigung geführt hat. Neben der künstlerischen Praxis der mechanischen Wiederholung, die das Reale unter einer Simulation verdeckt, gibt es für Foster weitere Varianten des ›traumatischen Realismus‹. Dazu zählt er künstlerische Praktiken des ›punctum‹, die mit einer Bearbeitung der Oberfläche des Bildes einhergehen. Der Begriff ›punctum‹ stammt von Roland Barthes, der ihn zusammen mit dem Begriff ›studium‹ in seiner Analyse der Wirkungsweisen und Interaktionsformen mit Fotografien eingeführt hat. Während ›studium‹ den langen meditativen Blick bezeichnet, der immersiv in das Dargestellte eindringt, steht ›punctum‹ für ein affektives Berührtwerden vom Bild, das über Brüche und Schocks führt. Barthes beschreibt das ›punctum‹ als eine Aktivität, die vom Bild ausgeht, wobei jedoch – ähnlich wie beim Trauma – offenbleibt, was hier externe und was interne Bewegung ist: »Es ist dieses Element, das aus der Szene herausfällt, wie ein Pfeil herausschießt und mich durchbohrt.«11 Foster, der die ästhetischen Repräsentationsprobleme des Traumas untersucht, entdeckt das ›punctum‹ in vielfältigen Formen der technischen Nachbearbeitung der Oberfläche, wobei es »die Oberfläche durchstößt und das Reale durchscheinen läßt«.12 Das geschieht nicht auf der Ebene des Dargestellten, sondern durch ein »Verwischen und Verschmieren, Bleichen und Auslöschen, Vervielfältigen und Kolorieren der Bilder«.13 In scharfem Gegensatz zu Warhols überdeutlich konturierten seriellen Bildern entziehen Gerhard Richters Techniken des Verschwimmens das Bild dem gierigen und gedankenlosen Zugriff des Betrachters. Er verfolgt dabei aber nicht nur eine entgegengesetzte Aufmerksamkeitsstrategie. Durch das Unkenntlichmachen des Dargestellten verwandelt er Fotografien in Erinnerungsbilder und holt sie damit aus dem maschinellen Speicher und Reproduktionsapparat in das unzuverlässige und versehrte menschliche Gedächtnis zurück.
11 Roland Barthes, Camera Lucida, New York: Hill and Wang 1980, S. 26; Ders.: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 36. 12 Hal Foster, The Return of the Real, S. 136. 13 Ebd., S. 134.
E INLEITUNG | 19
Zum traumatischen Realismus sind auch Formen einer expressiven Ästhetik zu rechnen, die Joseph Beuys’ Imperativ ›Zeige deine Wunde!‹ folgen. Neben der Ausstellung von Wunden in einer Ästhetik des Körpers und des Abjekten, des Schmerzes und der Betroffenheit besteht eine weitere wichtige Funktion der Künste heute in der Übernahme der kulturellen Aufgabe der (sekundären) ›Zeugenschaft‹, indem sie für das widerständige Erlebnis eine kommunizierbare Form finden und es in eine mitteilbare und gemeinsame Erfahrung übersetzen. Bezeugt wird dabei eine belastende Realität, die gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit beansprucht, aber von der Gesellschaft noch nicht anerkannt wird oder noch nicht ausgedrückt werden kann. In dieser Situation hat die Kunst selbst Anteil an der paradoxen Produktivität des Traumas zwischen Exzess und Leere und schafft mit an den Artikulationen eines gemeinsamen Imaginären. Auf diese soziale und durchaus auch therapeutische Rolle der Kunst hat die Literaturwissenschaftlerin Kathleen Brogan in ihrer Studie ›Cultural Haunting‹ besonders hingewiesen, in der sie sich mit der zeitgenössischen Konjunktur von Geister- und GespensterMotiven befasst. Sie hat gezeigt, dass diese Motive, die aus der Folklore und der ›gothic fiction‹ stammen, sich heute immer öfter auf kollektiv erlebte Geschichte beziehen und dabei für die intergenerationelle Langzeitkommunikation eine ganz neue Bedeutung gewonnen haben. Sie ermöglichen es insbesondere den Autorinnen ethnischer Minderheiten, sich auf neue Weise mit ihren gewaltsam zerstörten kulturellen Traditionen zu verbinden. Im Idiom des ›Magischen Realismus‹ der Geister-Erzählungen können Sklaverei-, Kolonialisierungs- und Immigrations-Geschichten auf eine Weise erzählt werden, die das traumatisch Abwesende in die Vorstellung zurückholt und damit ermöglicht, dass eine zerstörte kulturelle Tradition durch ›Re-Imagination‹ in die Gegenwart aufgenommen werden kann. Seit den 1990er Jahren sind das individuelle und vor allem das historische Trauma zu einem zentralen Gegenstand in der Literatur, den bildenden Künsten und im Film geworden. In den Künsten, so die These dieses Buches, gehen Darstellungsformen und Reflexionsformen ineinander über, was bedeutet, dass diese Werke auf ihre je eigene Weise auch einen bedeutenden Beitrag zur Trauma-Theorie leisten. Während die kulturwissenschaftlich orientierten Literatur- und Geisteswissenschaften auf diesem Forschungsfeld bereits eine wichtige Tradition vorweisen können (Cathy Caruth, Dominik LaCapra, Ruth Leys) ist der Trauma-Diskurs in den Kunst- und Medienwissenschaften schwächer ausgebildet. Dabei konnten
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Untersuchungen des Traumas gerade auch aus film- und medientheoretischer Perspektive ältere psychoanalytische Ansätze erheblich erweitern und erneuern. Und in der bildenden Kunst war die Frage nach der »Zerstörung von Kunst – oder Konflikt und Kunst, oder Trauma und die Kunst des Heilens«14 kuratorisches Leitmotiv der documenta 13. Da in der TraumaTheorie Fragen visueller Repräsentation und Repräsentierbarkeit eine zentrale Rolle spielen, legt der Band den Schwerpunkt auf diese Fragen und untersucht exemplarisch Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, die sich explizit und innovativ mit diesem Thema beschäftigen. In diesem Sinne bringt er die visuelle Dimension des Traumas in einen Diskurs ein, der von diesen Beispielen wichtige neue Impulse empfangen kann. Ein Leitmotiv dieses Bandes sind dabei Formen der Wiederholung, die hier als mediale Kopien, als körperliche ›Reenactments‹ und als Wiederkehr durch Heimsuchungen näher untersucht werden. Einführend thematisiert Hubertus Butin ein Gemälde Gerhard Richters aus dem Jahr 2005 mit dem schlichten Titel September. Es ist klein, überwiegend grau und auf den ersten Blick unscheinbar. Lässt sich der Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 malerisch reflektieren? Richter stellt sich dieser Herausforderung. Butin zeigt, wie Richter, der eine in Der Spiegel publizierte Aufnahme malerisch aufgreift und stark verfremdet, im Rückgriff auf das Genre des Historienbildes das ikonisch gewordene und massenhaft verbreitete Katastrophenbild in ein Reflexionsbild verwandelt.
M EDIALE K OPIEN In seinem Beitrag »Dargestelltes Trauma – Trauma der Darstellung« untersucht Joachim Paech, wie ›Medien‹, vor allem Fotografie, Film und Fernsehen, an traumatischen Prozessen beteiligt sind. Er beschreibt, wie sie mit ihren medialen Eigenschaften (fotografisches Abbild, narrative Struktur und Montage, Raum-Zeit-Verschiebungen, Echtzeit und Wiederholung,
14 Vgl. Carolyn Christov-Bakargiev, »On the Destruction of Art – or Conflict and Art, or Trauma and the Art of Healing / Über die Zerstörung von Kunst – oder Konflikt und Kunst, oder Trauma und die Kunst des Heilens«, 100 Notes – 100 Thoughts / 100 Notizen – 100 Gedanken – Nr. 40, Ostfildern: Hatje Cantz 2012.
E INLEITUNG | 21
etc.) traumatische Situationen dokumentieren und bezeugen und dabei auch selbst zu ›medialen Traumata‹ werden können. In seiner Analyse des Films Muriel von Alain Resnais, mit dem bezeichnenden Untertitel Die Zeit der Wiederkehr zeigt Paech, wie sich Dokumentation und Fiktionalisierung verschränken und dabei die psychische Funktionsweise eines Traumas auf die Form des Filmes übertragen wird. Mithilfe dieser ›doppelten Fiktion‹ (Trauma-Erzählung und Erzählung eines Traumas) ist der Film in der Lage, sich der Struktur traumatischer Erfahrung anzunähern. Friederike Wappler reflektiert mit dem Aufsatz »›The Piece Goes on ...‹ Repetition und Gewalt(-erfahrung) im Werk Bruce Naumans« die prozessuale Arbeit des US-amerikanischen Künstlers im Kontext von Umbrüchen in der Kunst und Kunsttheorie der 1960er Jahre. Sie beschreibt, wie Naumans Arbeiten auf den Diskurs der Minimal Art antworten und die dort angelegte Serialität in eine unendlich fortschreitende Repetition überführen. Indem sie der Frage nach der Integration im Kunstdiskurs ausgeschlossener außerkünstlerischer Realität nachgeht und zeigen kann, wie sich Nauman auf das in der Minimal Art ausgegrenzte ›Anthropomorphe‹ bezieht, ermöglicht sie einen neuen Zugang zur Repräsentation von zeitgenössischer gesellschaftlicher Gewalterfahrung in der US-amerikanischen Kunst der 1960er Jahre. In ihrem Aufsatz »Fremdes Trauma? Der Zweite Weltkrieg in A. L. Kennedys Roman Day« untersucht Karolina Jeftic literarische Darstellungsstrategien von Traumata. In der Erzählung eines britischen Bomberpiloten, der den Alltag im Zweiten Weltkrieg beschreibt, werden historische Fakten mit einem fiktiven Plot verknüpft, der eine Konfrontation mit traumatischen Kriegserfahrungen ermöglicht. Anhand eines Vergleichs von A. L. Kennedys Roman mit Pat Barkers Regeneration-Trilogie über den Ersten Weltkrieg wird herausgearbeitet, dass und wie sich Kennedys Kriegsroman im Rahmen einer ›Poetik des Traumas‹ lesen lässt.
R EENACTMENTS Dass sich Otto Muehl mit seinen Aktionen in den 1960er Jahren auf ein traumatisches Erlebnis aus dem Zweiten Weltkrieg bezieht, macht Gerald Schröders Aufsatz deutlich. Dabei reflektiert er nicht nur den performativen Charakter traumatischer Wiederholung als ›Reenactment‹, sondern versucht
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zugleich, eine Anmutung vom Präsenzcharakter traumatischen Erlebens zu vermitteln, das sich nicht mehr in traditionellen Formen künstlerischer Repräsentation fassen lässt. Er verdeutlicht, dass die ursprüngliche Szene traumatischen Erlebens in der Wiederholung entstellt wiederkehrt und dass Muehl diese Art und Weise der Entstellung nicht nur als künstlerische Reflexion traumatischen Erlebens versteht, sondern darüber hinaus auch als eine Möglichkeit, das Trauma therapeutisch zu bearbeiten. Dabei ist der Einsatz unterschiedlicher künstlerischer Medien nicht unerheblich. Zwar steht der Live-Charakter der Aktionen bei Otto Muehl im Zentrum seiner künstlerischen Arbeit, doch er nutzt, wie Gerald Schröder belegen kann, immer wieder die technischen Medien Fotografie und Film, deren Funktion gerade im Hinblick auf die therapeutische Bearbeitung des Traumas über das bloß Dokumentarische hinausgeht. Anja Schwarz analysiert in ihrem Aufsatz »A Study on Memory« den Zusammenhang von Trauma und ›Reenactment‹ in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst. Gegenstand ihres Beitrags ist ein Projekt des britischen Künstlers Rod Dickinson: The Milgram Re-enactment. Dickinson stellte – gemeinsam mit Graeme Edler und Steve Rushton – 2002 in Ausschnitten das ›Obedience to Authority‹-Experiment des Psychologen Stanley Milgram aus den frühen 1960er Jahren nach. Während Milgram daran interessiert war, herauszufinden, inwieweit Menschen auf Anweisung von Autoritäten bereit sind, anderen körperlichen Schaden zuzufügen, ging es Dickinson darum, die historischen Versuche mit größtmöglicher Authentizität zu wiederholen. Obwohl sich das wissenschaftliche Experiment und seine künstlerische Wiederholung visuell kaum unterscheiden lassen, wirft das Format des ›Reenactments‹ eine Reihe von Fragen auf, denen Anja Schwarz nachgeht. So kann sie zeigen, dass die künstlerische Nachstellung in Dickinsons Performance nicht nur ethische Problemstellungen des ursprünglichen Experiments reaktiviert, sondern weitere Fragen nach unserer Beziehung zu einer traumatischen Vergangenheit aufwirft.
H EIMSUCHUNGEN Bei ›Heimsuchungen‹ geht es um die Rückkehr einer traumatischen Vergangenheit in Form von Gespenstern und Wiedergängern. Andreas Kraft beschreibt in seinem Aufsatz »Gespenstische Botschaften an die Nachgebo-
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renen«, wie das anhand englischsprachiger Literatur entwickelte Konzept des ›Cultural Haunting‹ auch für die neuere deutsche Literatur und hier insbesondere die Generationenliteratur fruchtbar gemacht werden kann. So wird am Beispiel literarischer Texte deutlich, dass das Reale der traumatischen Vergangenheit, das nicht ohne Weiteres in die vorherrschenden Realitätsmodelle der Gesellschaft und ihre symbolische Ordnung überführt werden kann, im Phantastischen Ausdruck findet. Dieser Wiederkehr des Realen im Phantastischen geht Andreas Krafts Beitrag am Beispiel von Hanns-Josef Ortheils Erzählung Abschied von den Kriegsteilnehmern und Tanja Langers Roman Der Morphinist oder Die Barbarin bin ich nach. Der Zusammenhang zwischen Geistern und Fotografie ist in der Geschichte des analogen Mediums nicht neu. Im Gegensatz zu diesem okkulten Kapitel der Fotografiegeschichte des 19. Jahrhunderts entsteht in der post-traumatischen Kunst des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts eine neuer Bezug zwischen Geistern und Fotografie, den Aleida Assmann in ihrem Aufsatz zum Thema »Fotografie und Geister in der Gegenwartskunst« untersucht. Sie zeigt am Beispiel von Hans-Ulrich Treichels Roman Der Verlorene, Christian Boltanskis Foto-Installationen und den privaten Fotografien Annie Leibovitz von der toten Susan Sontag, wie Fotografien nicht nur zu Platzhaltern werden, die die Spur einer ›postmemory‹ (Marianne Hirsch) festhalten, sondern auch zu Wiedergängern im Sinne von Bildern werden, ›die man nicht mehr los wird‹. Heimgesucht von der nicht bestatteten Vergangenheit hat die postsowjetische Kultur verquere Erinnerungspraktiken hervorgebracht. Dies zeigt Alexander Etkind in seinem Aufsatz zum Thema »Postsowjetische ›Hauntologie‹«. In einem Land, in dem Millionen von Menschen unbestattet bleiben, kehren die Toten als Untote zurück. Die Erinnerung an den Sowjetterror ereignet sich in Romanen, Filmen und anderen Kulturformen, die die Erfahrungen der Menschen widerspiegeln, prägen und vereinnahmen. Um die verborgene Präsenz des Sowjetterrors zu beschreiben, entwickelt Etkind eine von Jacques Derridas ›Hauntologie‹ inspirierte Theorie des kulturellen Gedächtnisses, in der er zwischen Denkmälern (Hardware), Texten (Software) und Gespenstern (Ghostware) unterscheidet.
»Es konnte mir ja nicht darum gehen, ein schönes Bild zu malen«: Gerhard Richters Gemälde zum 11. September H UBERTUS B UTIN
I. Manche Besucher haben es gar nicht bemerkt und sind achtlos daran vorbeigegangen. Denn es ist klein, überwiegend grau und auf den ersten Blick recht unscheinbar. Doch wenn man realisiert, was auf dem Bild zu sehen ist, ist man mehr als überrascht. Im Frühjahr 2008 stellte Gerhard Richter in der Pariser Galerie von Marian Goodman seine neuesten Arbeiten vor, darunter auch ein Ölgemälde von 2005 mit dem schlichten Titel September. Es zeigt die stark verfremdete Wiedergabe einer Fotografie des New Yorker World Trade Center am 11. September 2001. Der Fotograf hat den Moment des Terroranschlags erfasst, als das zweite Flugzeug in den Südturm rast und in einem riesigen Feuerball explodiert. Kein anderes Ereignis hat die Weltöffentlichkeit in den letzten Jahren so erschüttert und traumatisiert wie das Selbstmordattentat durch das islamistische Terrornetzwerk alQaida, bei dem erstmals Zivilflugzeuge als Massenvernichtungswaffen eingesetzt wurden und das rund dreitausend Menschenleben forderte. Dieser Anschlag wird nicht zuletzt aufgrund seiner weitreichenden politischen Folgen als historische Zäsur aufgefasst. Nie zuvor war ein historisches Geschehen in so vielen fotografischen und filmischen Bildern festgehalten worden wie das des 11. September 2001 in New York. Die Katastrophenbilder fanden im Fernsehen und Internet sowie in den Printmedien sofort eine simultane und omnipräsente Ver-
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breitung, so dass sich die Motive der brennenden und einstürzenden Wolkenkratzer unauslöschbar in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben. Bei dem Anschlag auf die Twin Towers ging es nicht nur um die Tat selbst, sondern um die medienwirksame »Ikonisierung der Tat«1, wie es der Historiker Gerhard Paul formulierte. Der Soziologe Jean Baudrillard hob ebenfalls die ikonische Bedeutung des Ereignisses hervor: »Die Faszination des Attentats ist in erster Linie eine Faszination durch das Bild.«2 Die überwältigende, geradezu apokalyptische Symbolkraft des Anschlags hat somit auch unsere visuelle Vorstellung von Terror grundlegend verändert, da das Attentat von den Terroristen bewusst als globales Medienereignis inszeniert wurde. Am 11. September 2001 hat sich die Einheit von Geschichte, Politik und Visualität wohl deutlicher gezeigt als jemals zuvor.3 Sowohl das Ereignis des Attentats selbst wie auch dessen Bilder sind zweifellos eine Herausforderung für Künstlerinnen und Künstler, die mit ihrer Arbeit einen politischen Geltungsanspruch erheben. Die Stellungnahme der bildenden Kunst zu wichtigen Phänomenen des Zeitgeschehens mag wünschenswert sein, doch besonders in diesem Falle erscheint sie mehr als schwierig. Jenny Holzer, von der man in den USA noch am ehesten eine überzeugende Reaktion erwartet hatte, meinte im Rückblick in einem 2007 geführten Gespräch: Es gab »nichts, was ich unmittelbar anzubieten gehabt hätte, denn wie viele andere auch war ich buchstäblich betäubt von dem, was geschehen war. Es hatte mir, wie so vielen anderen, die Sprache ver-
1
Gerhard Paul, »Reality 9/11. Das Bild als Tat, der Aufmerksamkeitsterror und die modernen Bilderkriege«, in: Ders., Bildermacht. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 585.
2
Jean Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, Wien 2002, S. 30. Siehe auch das Gespräch von Wilfried Dickhoff und Heinz Peter Schwerfel mit Jean Baudrillard, »Kunst und Singularität«, in: Kunst nach Ground Zero, hrsg. v. Heinz Peter Schwerfel, Köln 2002, S. 201–214.
3
Zur veränderten Bedeutung der Medien im Terrorismus siehe den kurzen, aber prägnanten Beitrag von Sven Beckstette, »Terror«, in: Handbuch der politischen Ikonographie, Bd. II, hrsg. v. Uwe Fleckner, Martin Warnke und Hendrik Ziegler, München 2011, S. 416-423. Siehe auch vom selben Autor: Das Historienbild im 20. Jahrhundert. Künstlerische Strategien zur Darstellung von Geschichte in der Malerei nach dem Ende der klassischen Bildgattungen, Diss. Freie Universität Berlin 2008.
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schlagen [...].«4 Bereits 2001 hatte Jacques Derrida aus der Sicht des Philosophen gemeint, dass der Terror in New York in seiner Bedeutung »so unaussprechlich wie eine Anschauung ohne Begriff« sei.5
II. Auch Gerhard Richter, der selbst in einem Flugzeug nach New York saß, als das World Trade Center brannte, fand anfangs keine Möglichkeit, sich mit dem Thema bildnerisch auseinanderzusetzen. Ihn interessierte, wie er sagte, der menschenverachtende »Wahn«6, der die Terroristen angetrieben hatte. Nach langem Zögern nahm er eine fotografische Vorlage aus einer Ausgabe der Zeitschrift Der Spiegel von 2001 und übertrug die Umrisslinien und Details der beiden ins Bild ragenden Zwillingstürme, der Explosion und der Rauchwolken mit Bleistift auf eine Leinwand. Doch dann kamen ihm Zweifel. Lässt sich so etwas darstellen, kann man so etwas malen? Würde ein fein säuberlich in Öl ausgeführtes Bild nicht zwangsläufig zu einer dekorativen Ästhetisierung führen, die sich angesichts des Themas schlichtweg verbietet? Wie sehr sich Richter der Problematik be-
4
Jenny Holzer, »Wir wollten an so etwas wie die Wahrheit, im vagsten Sinne, herankommen. Ein Gespräch im New Yorker Bryant Park von Magdalena Kröner«, in: Kunstforum International, Bd. 189, Januar-Februar 2008, S. 163 f.
5
Jacques Derrida, »Autoimmunisierungen, wirkliche und symbolische Selbstmorde. Ein Gespräch mit Jacques Derrida«, in: Jürgen Habermas und Jacques Derrida, Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, Hamburg 2006, S. 118. Siehe zu dieser Problematik auch: Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001, hrsg. v. Matthias N. Lorenz, Würzburg 2004; 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien, hrsg. v. Sandra Poppe, Thorsten Schüller und Sascha Seiler, Bielefeld 2009; Nine Eleven – Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001, hrsg. v. Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen, 2. Aufl., Heidelberg 2011; Unheimlich vertraut/The Uncanny Familiar. Bilder vom Terror/Images of Terror, Ausst.-Kat. C/O Berlin, Köln 2011.
6
Gerhard Richter in einem Gespräch mit dem Autor im Atelier des Künstlers, Köln 2008.
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wusst war, zeigt eine Äußerung, die er 2008 gegenüber dem Autor machte: »Es konnte mir ja nicht darum gehen, ein schönes Bild zu malen.«7 Er zögerte über zwei Jahre, wollte das Gemälde zerstören und beendete es 2005 schließlich doch: Nachdem er das Motiv von der Fotovorlage realistisch in Öl übertragen hatte, nahm er ein langes Messer und schabte die noch feuchte Farbe mehrmals seitlich von der Fläche ab, bis stellenweise die weiße Grundierung wieder durchkam. Die Spuren der mechanischen Bearbeitung sind deutlich zu sehen; pastose graue Farbreste sind besonders vor den Motiven des rechten Turmes und des blauen Himmels stehen geblieben. Solche Verbindungen von gegenständlicher und gleichzeitig abstrakter Darstellungsweise in ein und demselben Bild finden sich in Richters Œuvre seit 1962 immer wieder sowohl in Gemälden als auch in Druckgrafiken und Fotoarbeiten. Diese verschiedenen, ja eigentlich gegenläufigen Modalitäten der Bildproduktion erscheinen in dem Gemälde, dem er den Titel September gab, als eine spannungsvoll verzahnte Einheit. Für unsere Erkenntnismöglichkeiten bedeutet diese Ambivalenz von Realismus und Ungegenständlichkeit, dass das Bildmotiv in seinem narrativen Informationsgehalt wie unter einem Schleier unserem direkten optischen Zugriff entzogen ist und gleichzeitig wie ein Palimpsest unter der Oberfläche noch sichtbar bleibt. Es entspricht also nicht Richters Absicht, uns ein perfekt mimetisches Bild des Terroranschlags zu liefern. Denn angesichts der vielen Millionen Abbildungen im Internet und Fernsehen, in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern wäre ein realistisches Gemälde nur eine weitere Reproduktion eines allzu bekannten, omnipräsenten Motivs. Angesichts der beispiellosen medialen Bilderflut wäre durch das Hinzufügen eines weiteren dokumentarischen Bildes wohl nichts gewonnen. Ein solches Bild wäre schlimmstenfalls eine platte, anachronistische Illustration. Gerade die vom Künstler durch das Abschaben der Farbmaterie bildnerisch uns auferlegte Distanz lässt das historische Geschehen zu einem Gegenstand der Reflexion werden. Denn der Betrachter muss sich selbst erinnern und im Geiste das zugrunde liegende Motiv rekonstruieren und wird somit auf besondere Weise herausgefordert, über das Attentat und die zerstörerische Dimension des Fanatismus nachzudenken.
7
Ebd.
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III. Trotz der abstrahierenden Darstellungsform ist es ein ganz wesentlicher Aspekt, dass Richter bei der malerischen Auseinandersetzung mit dem Thema auf eine Fotografie als Vorlage zurückgegriffen hat. Dies liegt nicht nur daran, dass der Künstler es ablehnt, den staubigen Mythos von der schöpferischen Unmittelbarkeit im Sinne eines direkten und voraussetzungslosen Schaffens zu bedienen. Deshalb basieren seine Gemälde mit gegenständlichen Motiven grundsätzlich auf Fotos. Für jene Bilder, die historische Ereignisse zeigen, gilt dies umso mehr. Richters amerikanischer Künstlerkollege Richard Serra äußerte 2007: »Die Erfahrung des 11. September war so medial überlagert, dass das, worüber man spräche, sich immer auf das Bild beziehen würde, das davon existiert.«8 Von daher wäre ein an der Staffelei frei erfundenes Motiv des Ereignisses unglaubwürdig, als fiktive Darstellung geradezu absurd. Die Malerei verlor bereits im 19. Jahrhundert ihre Funktion als wichtigstes Medium der gesellschaftlichen Bildproduktion. Vor allem mit der Entwicklung der Fotografie hat sich die Repräsentation und Vermittlung von Geschichte auf eine Weise etabliert, die die Malerei gegenüber dem historischen Geschehen und seiner fotografischen Dokumentation immer als ein Medium der Nachträglichkeit erscheinen lässt: zu spät, zu langsam, zu teuer und zu aufwendig. Geschichte konstituiert sich seitdem bildnerisch mehr denn je über die Fotografie, den Film, das Fernsehen und das Internet. So ist es kein Zufall, dass sich in den letzten Jahren im Bereich der bildenden Kunst die Auseinandersetzung mit dem Terror überwiegend in Installationen, Objekten, Videos und Fotoarbeiten manifestiert hat. Wenn Richter aber mit seinem September-Bild auf die Bildgattung der Historienmalerei zurückgreift, so kann ihm dies nur im Rekurs auf die Fotografie gelingen. Auch sein überschaubares Format von 52 x 72 Zentimetern bringt – wie der Kunsthistoriker Robert Storr beobachtet hat – »das Gemälde näher an die Medienbilder heran, die während und nach den Anschlägen auf den Fernsehbildschirmen zu sehen waren, und läuft der Tendenz der Historienmale-
8
Richard Serra zitiert nach Magdalena Kröner, »Political Landscapes. Eine Ortsbeschreibung«, in: Kunstforum International, Bd. 189, Januar-Februar 2008, S. 70.
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rei zuwider, geschichtliche Ereignisse pompös und melodramatisch im monumentalen Maßstab darzustellen«.9 Dass der Künstler bei der medialen Aneignung und malerischen Verarbeitung des 11. September auf jede Art von Sentimentalisierung, großer Geste oder gar explizit politischem Statement verzichtet hat, entspricht nicht nur seinem Temperament, sondern auch einem weiteren Funktionsverlust, den die Historienmalerei als künstlerische Gattung und symbolische Definitionsmacht im Laufe ihrer Entwicklung hinnehmen musste. Vor der Erfindung der Fotografie konnte die Malerei komplexe historische Themen nicht nur visualisieren. Vor allem konnte sie die Endgültigkeit des Todes und die damit implizierte Gefahr des Vergessens bildlich überwinden, indem die Dargestellten durch Überhöhung und Verklärung unsterblich gemacht wurden. Jedoch bereits Edouard Manet inszenierte 1864 seinen Toten Torero (L’homme mort) in dem gleichnamigen Gemälde als unwiederbringlich toten Protagonisten, der weder schicklich noch würdevoll in den Tod gleitet. Heute kann eine malerische Heroisierung oder tröstende Sinnstiftung erst recht nicht mehr überzeugend praktiziert werden. Richter erkennt und respektiert die Unzulänglichkeiten einer zeitgenössischen Historienmalerei und unternimmt keine trotzigen Wiederbelebungsversuche der längst verloren gegangenen Fähigkeiten dieser traditionellen Bildgattung. Die Umdeutung der Opfer des 11. September in Helden wurde in den Vereinigten Staaten jedoch in diversen Musikstücken, Kinofilmen, Theaterstücken, in Comics, Romanen und Sachbüchern sowie auf Briefmarken und in Bronzestatuen und Wachsfiguren ausgiebig und meist mit verfehltem Pathos praktiziert.10
IV. Gerhard Richter hinterfragt immer wieder kritisch die Bedingungen und Möglichkeiten einer bildnerischen Auseinandersetzung mit Geschichte auf der Basis der Fotografie: 1965 stellte er in dem Gemälde Onkel Rudi nach
9
Robert Storr, September. Ein Historienbild von Gerhard Richter, Köln 2010, S. 47.
10 September 11 in Popular Culture. A Guide, hrsg. v. Sara E. Quay und Amy M. Damico, Santa Barbara, Denver und Oxford 2010.
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einem alten Foto aus seinem Familienalbum den eigenen Verwandten, einen überzeugten Nationalsozialisten, in Wehrmachtsuniform dar.11 Diese künstlerische Arbeit durchbricht bildnerisch die damalige Verdrängung der deutschen Vergangenheit, indem der Betrachter mit einem exemplarischen Motiv aus der Zeit des Nationalsozialismus konfrontiert wird. Und wohl kein anderes deutsches Bild aus den 1960er Jahren verkörpert so exemplarisch das Phänomen, das die Philosophin Hannah Arendt als die »Banalität des Bösen«12 bezeichnet hat. Mit dem fünfzehnteiligen Gemäldezyklus 18. Oktober 1977 thematisierte der Künstler 1988 das tödliche Ende der ersten Generation der RAF-Terroristen im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim und leistete damit eine grundsätzliche Ideologiekritik und eine wichtige Erinnerungsarbeit an ein in Deutschland gesellschaftlich verdrängtes Trauma.13 Und mit seinem 2004 erschienenen Künstlerbuch War Cut widmete sich Richter dem Beginn des Irakkrieges, indem er Presseberichte aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit fotografischen Detailaufnahmen eines abstrakten Gemäldes zum Protokoll eines fernen Krieges kombinierte.14 Im Zusammenhang mit dem New Yorker Attentat erscheint es bemerkenswert, dass sich die Rezeption des erwähnten Zyklus 18. Oktober 1977 in den USA nach dem 11. September 2001 verändert hat. Es wurde nun ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen des Terrors gesehen, was letztendlich nicht verwunderlich ist. Denn der traumatische Schock der sich manifestierten Verletzbarkeit Amerikas führte zu einem Klima andauernder Angst und zu einem radikalen Nationalismus. »Jeder Versuch, diese Tat im Rahmen eines öffentlichen Diskurses zu verstehen, wurde auf einen
11 Gerhard Richter. Panorama, hrsg. von Mark Godfrey, Nicholas Serota, Dorothée Brill und Camille Morineau, Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie Berlin, München 2012, S. 60. 12 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (1963), 8. Aufl., München und Zürich 1998. 13 Gerhard Richter. 18. Oktober 1977, Ausst.-Kat. Museum Haus Esters, Krefeld, Portikus, Frankfurt/M., Köln 1989; Hubertus Butin, »Gerhard Richters RAFZyklus in der Kunstkritik«, in: Kunstforum International, Bd. 215, April-Juni 2012, S. 90-105. 14 Dieter Schwarz, »Gerhard Richter: War Cut. Ein abstraktes Bild als Buch«, in: Sechs Vorträge über Gerhard Richter. Februar 2007, Residenzschloss Dresden, hrsg. v. Dietmar Elger und Jürgen Müller, Köln 2007, S. 96-111.
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patriotischen Treueeid reduziert [...]«15, wie Robert Storr bemerkte. Bereits zwei Tage nach den Anschlägen verkündete etwa Ann Coulter, eine der berühmtesten und berüchtigsten politischen Kommentatorinnen der USA, die jede Woche mehrmals im Fernsehen auftritt: »Wir wissen, wer die selbstmörderischen Wahnsinnigen sind. Es sind die, die jetzt tanzen und jubeln. Wir sollten in ihre Länder einmarschieren, ihre Führer umbringen und sie zum Christentum bekehren.«16 Der damalige US-Präsident George W. Bush leitete Anfang Oktober 2001 als eine Reaktion auf die Anschläge den Krieg in Afghanistan ein und begründete mit dem 11. September teilweise auch den im März 2003 begonnenen Krieg gegen den Irak. Als Gerhard Richters Gemäldezyklus ein Jahr nach der Zerstörung des World Trade Center im New Yorker Museum of Modern Art in einer Retrospektive des Künstlers gezeigt wurde, sah sich Robert Storr als Kurator der Ausstellung massiven Anfeindungen ausgesetzt. So schrieb zum Beispiel der Kunstkritiker Eric Gibson im Wall Street Journal, dass man »nicht umhinkommt, den ›18. Oktober 1977‹ als Serie von Märtyrer-Bildern zu deuten«17 und die Gemälde im Zusammenhang mit dem 11. September sehen müsse. Gibson setzt den Terror der RAF und von al-Qaida gleich, obwohl beide Gruppierungen weder historisch noch ideologisch Gemeinsamkeiten aufweisen. Für den Kritiker gilt schlichtweg: »Terror ist Terror.«18 Eric Gibson attackiert in seinem Beitrag Robert Storr frontal mit der Unterstellung: »Was ist das für ein Gehirn, das sich beim jetzigen Stand der Dinge noch immer weigert, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, zwischen Zivilisation und Barbarei [...].«19 Das September-Gemälde hat solche heftigen Reaktionen bisher nicht hervorgerufen, da es weder Opfer noch Täter explizit zeigt, sondern bei aller motivischen Nähe auf Distanz bleibt, was die Zeitzeugen und Zeitgenossen umso mehr herausfordert.
15 Robert Storr, September. Ein Historienbild von Gerhard Richter, Köln 2010, S. 43. 16 Ann Coulter zitiert nach Nina Rehfeld, »Sie teilt aus wie Michael Moore, nur viel schöner«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Mai 2005. 17 Eric Gibson, »A Fuzzy View of Terror«, in: The Wall Street Journal, 1. März 2002. 18 Ebd. 19 Ebd.
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Gerhard Richters Gemälde zum 11. September erscheint nicht zuletzt aufgrund dieser kühlen bildnerischen Distanz und der künstlerischen Selbstbeschränkung als eindringliches Mahnmal, dem jedes vordergründige Pathos und jede spektakelhafte Geste fremd sind. So ist nachvollziehbar, dass der Künstler bei dieser Arbeit auch alle sensationsheischenden ökonomischen Spekulationen vermeiden wollte. Bei der Ausstellung in der Pariser Galerie von Marian Goodman stand das Bild nicht zum Verkauf. Da der wohl angemessenste und gleichzeitig auch emotionalste Platz für das Gemälde zweifellos ein Museum in New York als der Stadt seines motivischen Ursprungs ist, schenkte Gerhard Richter das Bild im Herbst 2008 dem dortigen Museum of Modern Art.
Mediale Kopien
Dargestelltes Trauma – Trauma der Darstellung J OACHIM P AECH
Es ist nicht das erste Mal, dass ein Begriff, der ursprünglich aus einem relativ klar definierten Zusammenhang stammt, im Nachhinein semantisch erweitert und umfassender verwendet worden ist. Trauma bezeichnet längst nicht mehr nur die Verbindung zwischen dem pathologischen Verhalten eines Menschen und dessen Ursache in der subjektiven Erfahrung von Ereignissen, die ihm tiefe seelische Wunden zugefügt haben. Trauma ist zum Schlüsselbegriff oder Passepartout für die Beschreibung komplexer gesellschaftlicher Konstellationen geworden und steht seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für den inneren Zustand (post-)moderner Gesellschaften, die durch die kollektive Erfahrung von bis dahin unvorstellbaren Katastrophen der Weltkriege und Massenvernichtung geprägt sind.1 Das individuelle Schicksal von Menschen, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust überlebt und immer wieder neue Katastrophen erlebt haben, wird zum Modell für die ganze Gesellschaft, die kollektiv mit diesen und ähnlichen Erfahrungen in der Vergangenheit konfrontiert worden ist. Trauma hat sich zu einem vielfach anschlussfähigen Konzept entwickelt. Die spezifische Struktur traumatischen Geschehens ist daher auf verschiedene Bereiche übertragen worden, die im engeren oder weiteren Zusammenhang mit den ursprünglich psychopathologischen Phä-
1
Vgl. Hayden White, »The Modernist Event«, in: Ders., Figural Realism. Studies in the Mimesis Effect, Baltimore und London 1999.
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nomenen stehen. Die modernen technischen Kommunikationsmedien sind nicht nur als Mittel der Übermittlung und Darstellung von Ereignissen mit traumatischen Folgen, sondern als in sich traumatisch strukturierte Medien behandelt worden, die auf diese Weise darüber hinaus, dass sie der (post-) modernen Trauma-Kultur Ausdruck verleihen, in ihr auch analog strukturiert sind und ihr daher wesentlich zugehören. Als ihr audiovisuelles Gedächtnis teilen sie die besonderen Probleme des Erinnerns von Gesellschaften im Zeichen des Trauma: So werden Ereignisse von den Medien als ein Geschehen vermittelt, das am selben Ort und zur selben Zeit zugleich subjektiv erlebt und objektiv erinnert und außerdem ständig wiederholt werden kann (zum Beispiel in der Fernsehberichterstattung der 9/11-Ereignisse 2001 in New York). Wo Ereignisse durch Medien vermittelt vor dem Monitor wahrgenommen werden, sind sie grundsätzlich spurlos abwesend, und nur die Vorstellungskraft kann nachträglich den Abstand zwischen ihrer bloßen Darstellung und der Wirklichkeit ihres Geschehens zu füllen versuchen. Diese Struktur des Verhältnisses zwischen dem Ereignis und seiner durch Medien vermittelten Darstellung, die an dessen Stelle tritt, weist Analogien zur Struktur der Trauma-Erfahrung auf, wo davon ausgegangen wird, dass die Erinnerung das traumatische Ereignis nur in signifikanter Veränderung oder als Deckerinnerung wieder/holen kann, was bedeutet, dass mediale Darstellungen von vornherein die Rolle des Stellvertreters für das grundsätzlich unverfügbare und medial abwesende Ereignis und dessen Erinnerung spielen. Die Behauptung struktureller Analogie zwischen Trauma und Medien reicht bis ins Zentrum medialer Darstellungen, wenn vom »definitiv traumatischen Status des Bewegungsbildes in unserer Kultur als Symptom ohne Ursache und Ereignis ohne Spur«2 die Rede ist. Es ist das Ereignis selbst, das es referenzlos erinnert. Diese wenigen Hinweise zur trauma-theoretischen Mediendiskussion3 zeigen vor allem die Problematik einer derart breiten und unscharfen Verwendung des Begriffs. Die Gefahr besteht, dass eine solche Trauma-
2 3
Ebd., S. 197. Zur kritischen Diskussion vgl. Thomas Elsaesser, »Postmodernism as Mourning Work«, in: Screen 42. 2, Summer 2001, S. 193-201. Grundsätzlich zu Trauma und Medien vgl. Trauma. Explorations in Memory, hrsg. v. Cathy Caruth, Baltimore 1995; und Cathy Caruth, Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History, Baltimore 1996.
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Theorie leicht »zu einem griffigen Hebel für die Lösung von Widersprüchen und Ungereimtheiten früherer Theorieansätze im Bereich der Filmund Fernsehwissenschaften«4 im Besonderen und für die Beschreibung kultureller Phänomene im Allgemeinen werden könnte. Für sinnvoller halte ich es, deutlich zwischen traumatischen Erfahrungen und deren Folgen für das psychische (Er-)Leben eines Menschen einerseits und den Eigenschaften und Verfahren von Medien andererseits zu unterscheiden, gerade weil sie mit dem Leben und den Erfahrungen von Menschen in einer ›Mediengesellschaft‹ eng verknüpft sind. Die Struktur des Traumas könnte man folgendermaßen beschreiben: Traumatisierung ist zunächst ein individuelles Erleben (dessen Häufung angesichts übergreifender Katastrophen allerdings kollektive Ausmaße annehmen kann). Eine traumatische Situation ist durch die Beziehung zwischen einem ›Ereignis‹ und dessen Wahrnehmung oder Erleben eines Menschen bestimmt. Zum traumatischen Ereignis wird es erst im Nachhinein durch die Wirkung, die es auf die Psyche des Menschen hat. Die Traumatisierung macht es zu ›seinem oder ihrem‹ Ereignis, das zu seinem/ihrem individuellen psychischen Schicksal wird (in derselben Situation kann ein Ereignis bei unterschiedlichen Menschen verschiedene Reaktionen zur Folge haben). Das Trauma-Ereignis hat sich abgelöst von demjenigen, das es ausgelöst und an dessen Stelle einen Bruch im Erleben und eine symptomatische Lücke hinterlassen hat, in der nur noch die Abwesenheit des ursprünglichen Ereignisses anwesend ist. Das, was den Schock ausgelöst hat, ist vor der Erinnerung geschützt; erinnernd wiederholt wird das, was an die Stelle des ›unerträglichen‹ Ereignisses getreten ist. Dieser ›Stellvertreter‹ kann, ja muss erinnert und dargestellt werden, während das auslösende Ereignis dahinter verborgen und undarstellbar bleibt. Die Frage, die ich stellen möchte, lautet, wie ›Medien‹ an traumatischen Prozessen beteiligt sind. Welche Rolle spielen insbesondere Fotografie, Film und Fernsehen (Video) bei der Darstellung traumatischer Situationen, an denen sie womöglich (dokumentarisch) selbst beteiligt sind oder von denen sie (fiktional) erzählen? Medien sind sowohl im individuellen und wie im kollektiven Gebrauch; sie kommunizieren individuelle und kollektive Erfahrungen. So hat die Fotografie des verstorbenen Kindes teil an der traumatisch besetzten
4
Ebd., S. 201.
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Trauerarbeit der Eltern, das Ereignis und dessen Wiederholung in der Erinnerung kann der Fotografie im individuellen Erleben einen ganz besonderen Ort zuweisen, an dem der Verlust subjektiv bewältigt werden kann, wenn die Präsenz des Bildes (vorübergehend) den Schmerz durch die Erinnerung verdrängt. Der dokumentarische Charakter der Fotografie erleichtert, dass ihre Abbildung an die Stelle des wirklichen Ereignisses treten kann, dessen Erinnerung verweigert wird, um es erträglich zu machen. Traumatisch funktionieren sie, wenn ihre Darstellung im kollektiven Gedächtnis an die Stelle des originären Ereignisses getreten ist, dessen Erinnerung sie symptomatisch verdrängt hat. Und ähnliches gilt auch für den kollektiven Gebrauch von Fotografien, wenn sie Ereignisse in der Erinnerung mit sich selbst besetzen und es auf diese Weise ermöglichen, die dargestellte Wirklichkeit hinter ihrer fotografischen Darstellung zu vermeiden. Obwohl Fotografien für ihre indexikalische Beziehung zur dargestellten Realität in Anspruch genommen werden, kann sich die Abbildung von ihrem Ursprung lösen und verselbständigen; erst wenn sie an die Situation ihres Entstehens, an den fotografischen Akt5 zurück gebunden werden kann, ist auch die Authentizität ihrer medialen Erinnerung verbürgt. Der Apparat und der Fotograf, der ihn bedient, sind unauflösbar mit der fotografierten Situation verbunden: an diesem Ort zu dieser Zeit. Das dargestellte Ereignis ist auch das Ereignis seiner Darstellung. Fotografien, die in Situationen entstanden sind, die – wie zum Beispiel Kriegshandlungen – Traumatisierungen ausgelöst haben, sind auch Dokumente des Traumas ihrer Darstellung. Das hat Konsequenzen für die Rolle der Fotografie in traumatischen Prozessen. Als Dokumente von traumatischen Ereignissen müssen sie mit dem Akt ihrer Entstehung an der dargestellten Situation beteiligt sein, das dargestellte traumatisierende Ereignis impliziert das Trauma seiner Darstellung. Viele Ereignisse schließen aus demselben Grund ihre authentische fotografische Darstellung aus (zum Beispiel der Holocaust), wenn dennoch Fotografien existieren (im Holocaust Fotografien der Täter), dann als deren Stellvertreter, die in erster Linie die grundsätzliche Abwesenheit authentischer Bilder des traumatischen Geschehens abbilden. Es sind die medialen Eigenschaften einer ontologisch oder indexikalisch be-
5
Vgl. Philippe Dubois, Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, hrsg. v. Herta Wolf, Amsterdam, Dresden 1998.
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gründeten Fotografie6, die sie fest mit der konkreten fotografischen Situation verbinden und sie dadurch in einer traumatischen Situation auch dem Trauma ihrer Darstellung aussetzen. Die einzelne Fotografie kann uns, wie Roland Barthes im Rahmen einer ontologischen Zeichentheorie behauptet, nachträglich ein Bild der Realität, die vor der Kamera gewesen ist, geben. Sie ist ›durchsengt‹ vom Realen (Benjamin). »Damit besitzen wir, welch ein wertvolles Wunder, eine Realität, vor der wir [durch die Nachträglichkeit der Bilder] geschützt sind.«7 Das macht noch einmal den doppelten Status der Fotografie deutlich, ein Bild einer Realität und zugleich ein Bild anstelle einer Realität zu sein, was ihr eine Funktion in der Struktur traumatischer Prozesse zuweist. Die Verhältnisse des (fotografischen) Films und der Massenmedien, die sich des Films als multimedialer Form bedienen, sind noch wesentlich komplexer. Als fotografisches Medium hat der Film teil an den ontologisch-indexikalischen Eigenschaften der Fotografie. Aber derselbe Film, der in jedem Fall die fotografische Dokumentation dessen ist, was vor der Kamera war, kann mit denselben Mitteln auch fiktional erzählen. Nicht die medialen Eigenschaften, sondern die Absichten, die mit ihnen verfolgt werden, machen den Unterschied zwischen dokumentarischem und fiktionalem Film. Für letzteren spielt das vorfilmische Ereignis (wie im Dokumentarfilm) keine Rolle mehr; allein das im Film dargestellte Ereignis, das ästhetische ›Ereignis Film‹ zählt. Während Dokumentarfilme (wie Fotografien) an die Situation ihrer Entstehung, die sie darstellen und dadurch erinnern, gebunden bleiben, muss der fiktionale Film die Spuren seiner Entstehung tilgen (oder ebenfalls fiktionalisieren). Ein Film, der von der Schlacht der Römer und Germanen im Teutoburger Wald erzählt, indem er sie ›in actu‹ darstellt, muss vergessen, dass er im 21. Jahrhundert mit den Menschen und technischen Mitteln dieses Jahrhunderts gedreht wurde. Wie können fiktionale Filme, die gerade nicht auf die Realität der Situation ihrer Entstehung rekurrieren und daher auch keinerlei Authentizität dargestellter
6
Vgl. André Bazin, »Ontologie des fotografischen Bildes«, in: Ders., Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, hrsg. v. H. Bitomsky, H. Farocki, E. Kaemmerling, Köln 1975, S. 21-27; und bes. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 1985, hier: S. 86.
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Roland Barthes, »Rhetorik des Bildes«, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/M. 1990, S. 39.
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Erfahrung beanspruchen (können), dennoch an traumatischen Prozessen beteiligt sein? Zunächst trifft sie der grundsätzliche Verdacht, sich von vornherein als Stellvertreter- oder Deckerinnerung vor die zu erinnernde Wirklichkeit zu schieben, die allein, wenn überhaupt, der filmischen Dokumentation des Realen zugänglich ist. Die fotografischen Eigenschaften des Mediums verleihen auch dem fiktionalen Film den Anschein einer spezifischen Nähe zur dargestellten Realität, einen Realismus, der auch die dokumentarische Darstellung derselben Situation noch übertreffen kann. Genau weil sie nicht an der dargestellten Situation beteiligt sind, sondern nur an der realen Situation ihrer fiktionalen Darstellung, können sie auch Geschehnisse aus Positionen und Perspektiven zeigen, die für die dokumentarische Kamera unmöglich, wenn nicht überhaupt für die Kamera unzugänglich sind. Kriegsfilme erzählen von Kampfhandlungen, die vor der Kamera inszeniert wurden und die schon wegen ihrer unmittelbaren Gewalt nicht (oder kaum) dokumentiert werden können. Filme über den Holocaust erzählen vom Schrecken des Tötens und Sterbens in den Lagern, wo keine Kamera das Morden beobachten kann. Die fiktionale Kamera kann von den Geschehnissen erzählen, die zu wirklichen Traumatisierungen geführt haben, indem sie sich deren Voraussetzungen annähert und sie vergegenwärtigt. Der Film Schindlers Liste (1993) von Steven Spielberg lässt seine Handlung an den Schauplätzen des Naziterrors und der Massenvernichtung der Juden ›spielen‹. Er ist in Fabriken und Todeslagern in unmittelbarer Nähe der Täter und der Opfer, die ständig um ihr Leben fürchten müssen, bis es am Ende gelingt, eine Gruppe von ihnen vor der Vernichtung zu retten. Der fotografische Realismus der Darstellung weiß um die schreckliche Realität, der sich der Film ausschließlich mit fiktionaler Absicht annähern kann. Uns Zuschauern werden Situationen gezeigt, die uns verstehen lassen, dass sie bei den Überlebenden zu unauflösbaren Traumatisierungen geführt haben und dass ihre historische Tatsache, an die wir erinnert werden, die Gesellschaft, in deren Mitte das möglich wurde, post festum traumatisieren konnte. Dennoch, trotz aller Unmittelbarkeit des Geschehens und seiner fotografischen Wiedergabe gibt es in diesem Film (bis auf das Treffen der Überlebenden am Schluss) keinen Moment, in dem er mehr als nur die dargestellte Realität bedeutet, sondern auch im indexikalischen Sinn Abbildung des Realen ist. Claude Lanzmann ist in seinem Film Shoah (1985) umgekehrt verfahren: Hier steht die Kamera an genau der Stelle, wo zum Beispiel in Chelmno zehntausende jüdische Häftlinge ermordet und
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vergraben wurden, sie dokumentiert den Ort, an dem die Spuren der Verbrechen fast verblasst sind. Es ist der Boden der Tatsachen, auf dem die Erinnerungen der Überlebenden die Situation wiedererstehen lassen, die ihre Rede, ihr Schweigen und manchmal auch ihr Gesang beschwört. Der Ort des Geschehens und die Zeugen verbürgen das Undarstellbare, während die Kamera die traumatische Unzugänglichkeit des Geschehens, das sichtbar abwesend ist, dokumentiert. Nur kurz möchte ich auf die Frage nach den (möglichen) Reaktionen von Kino- und (unter anderen Bedingungen) Fernsehzuschauern auf filmisch dargestellte Ereignisse, die im Zusammenhang mit traumatischen Prozessen stehen, eingehen. Wirkungen filmischer Darstellungen sind manchmal erwünscht (zum Beispiel von der Werbung) oder gefürchtet. Die Diskussion von Kino-Pathologien hat die Filmgeschichte von Anfang an begleitet. Schädliche Folgen vermuteter hypnotischer Effekte des filmischen Bewegungsbildes könnten besonders bei jugendlichen Zuschauern dazu führen, dass dargestellte Gewalt nachgeahmt wird (»Wenn das Kino töten könnte«8) oder zu seelischen Verletzungen führt. Wie suggestiv filmische Darstellungen (auf der großen Kinoleinwand mehr als auf dem relativ kleinen Monitor) auch sind, sie werden auch dann noch distanziert ›ästhetisch‹ wahrgenommen, wenn die Bedrohung im 3D-Format von der Leinwand ausgeht oder Computerspiele zum Mitmachen einladen. Leinwand und Monitor sind eher Bild›schirme‹, die zwar schockierende Ereignisse darstellen (können), zugleich aber auch vor ihnen wie vor einer gefahrlosen Gefahr schützen. Die Routine der allabendlichen Fernsehnachrichten zeigt, dass Medien die Wahrnehmung von Katastrophen durchaus erträglich machen (können). Die Zuschauersituation vor dem Fernsehgerät (oder im Kino) jedenfalls ist als traumatische Erfahrung eher unwahrscheinlich. Das traumatische Geschehen ist hier dargestelltes Geschehen und nicht Effekt seiner Darstellung. Das in Fotografie und Film (in Kino oder Fernsehen) dargestellte Trauma kann in dokumentarischen Verfahren das Trauma der Darstellung einschließen, das in den Medien seine Spuren hinterlassen hat. In wie weit der erlebte und dargestellte Schrecken, die Schockerfahrung zu einer manifesten Traumatisierung geführt hat, wird sich an den folgenden
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Vgl. Thorsten Lorenz, »Wenn das Kino töten könnte. Medien-Mörder: Über den Ursprung eines pädagogischen Wahns«, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 255, 2. November 2002.
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Beispielen nur schwer nachweisen lassen. Es geht um die Struktur des Traumas, an dem diese Ereignisse und deren mediale Darstellung teilhaben. Erschießung eines Vietcong (Foto). Clip aus Guido Knopp u.a. »Bilder die Geschichte machten. Die Hinrichtung«, ZDF 1991-92
Ich beginne mit einem der bekanntesten Bilder aus dem gewiss an Bildern reichen Vietnamkrieg. Der Polizeikommandant von Saigon General Nguyen Ngoc Loan erschießt am 2. Februar 1968 auf offener Straße einen Vietcong. Es handelt sich um eines der ›Schlüsselbilder‹ des vergangenen Jahrhunderts. Der Fotograf Eddie Adams hat sein Foto in demselben Moment ›geschossen‹, in dem der Polizeikommandant seine Pistole abgedrückt hat. Die Koinzidenz der tödlichen Handlung und ihrer fotografischen Dokumentation ist geeignet, beim Betrachter durch die dargestellte Gleichzeitigkeit von Töten und Sterben einen heftigen Schock hervorzurufen, wie ihn nur das reflexhafte Auslösen des Kameraverschlusses in diesem Moment ›zwischen‹ Töten und Sterben vermitteln kann. Der Fotograf ist Teil der dargestellten Situation, wenn auch in der Abbildung nur durch den (Kamera-)Blick auf das Geschehen anwesend. Die Fotografie ist der Beleg seiner Zeugenschaft und seiner (professionellen) Reaktion auf das Ereignis. Weniger bekannt ist, dass es dieselbe Szene auch in einer Filmaufnahme gibt. Sie zeigt, wie der gefangene Vietcong durch eine Strasse geführt wird, dann hält die Gruppe von Soldaten an, der Polizeikommandant lässt sich eine Pistole geben und erschießt den Mann, der daraufhin im Kopf getroffen auf der Strasse liegend verblutet. Die Foto-
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grafie und die Filmaufnahmen sind unabhängig voneinander entstanden. Auch der Kameramann der Filmaufnahmen war an der Situation als Beobachter beteiligt. Die dokumentarische Filmaufnahme dieses Ereignisses (die hier aus Gründen medialer Differenz zwischen Buch und Film leider (noch) nicht dargestellt werden kann9) erstaunt zunächst. Überrascht davon, diese von der Fotografie bekannte Szene überhaupt als Bewegungsbild zu sehen, erwartet man nicht mehr das bereits bekannte schockierende Ereignis, sondern das Bild dieses Ereignisses, das uns längst gegenwärtig ist. Das Wiedererkennen der Fotografie im Film funktioniert wie ein medialer Rückkoppelungseffekt, der das Dargestellte nicht mehr in Bezug auf das längst abwesende Ereignis, sondern auf einer anderen medialen Ebene bestätigt, wo es endlos wiederholt werden kann.10 Genau darin haben diese Fotografie und dieser Film teil an der Struktur traumatischer Prozesse, indem sie die Erinnerung an ein schockierendes Ereignis, die in der Fotografie noch den Moment der situativen Wahrnehmung enthält, auf eine intermediale Ebene der Erinnerung an Bilder dieses Ereignisses verschiebt. Die Filmsequenz ist im Fernsehen als Bestandteil eines ZDF-Fernsehfeatures über Bilder, die Geschichte machten. Die Hinrichtung gezeigt worden. Interessanterweise ist darin sehr viel von Eddie Adams, dem Autor der berühmten Fotografie und der Situation ihrer Entstehung die Rede; der Filmmacher, der ebenfalls Teil der dargestellten Situation gewesen sein muss, wird nicht einmal erwähnt. Der Film in Farbe wird als Realhorizont oder wirklicher Kontext der in der Fotografie momenthaft dargestellten Situation benutzt. Er stellt die Situation des Ereignisses wieder her, das die schwarz/ weiße (d.h. authentische) Fotografie exemplarisch für die Erinnerung zusammenfasst.
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Dass das Foto als ›Schlüsselbild‹ bekannt geworden ist und nicht der Film liegt auch an der besseren Verbreitungsmöglichkeit von Fotografien in den Printmedien, wo sie endlos wiederholt werden können, während der Film technisch aufwendig im Rahmen von Programmen immer wieder neu gezeigt werden muss. Der Computer und neue Lesemaschinen wie das iPad sind zunehmend in der Lage, Texte, Einzel- und Bewegtbilder zu jeder Zeit an jedem Ortbilder darzustellen, was Filmen zum Beispiel über Youtube neue Verbreitungsmöglichkeiten eröffnet.
10 Diese Filmsequenz kehrt zum Beispiel in dem Film Der Baader-MeinhofKomplex von Uli Edel und Bernd Eichinger als Zitat wieder.
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Erschießung eines Vietcongs (Filmstills). Clips aus Guido Knopp u.a. »Bilder die Geschichte machten. Die Hinrichtung«, ZDF 1991-92
Das Vietnam-Foto ist ein besonders prominentes Beispiel für die unendlich vielen dokumentarischen und fiktionalen Darstellungen von Gewalt in den Medien. Erscheinen sie unvermittelt, so werden sie wie ›Schockfotos‹ wahrgenommen, von denen Roland Barthes gesagt hat, »dass wir ihnen gegenüber jedes Mal unserer Urteilskraft beraubt sind.«11 Diese Bilder des Entsetzens sind entsetzliche Bilder, weil sie keinen Spielraum für eine distanzierte Reaktion lassen, weshalb diese rein denotative »wörtliche Photographie [...] zum Skandal des Grauens, nicht zum Grauen selbst führt.«12 Das Bild tritt an die Stelle des (grauenvollen) Ereignisses und versperrt genau dadurch den (intelligiblen) Zugang dazu. Live-Übertragungen von Katastrophen (kriegerische Handlungen, Erdbeben, Unfälle) im Fernsehen würden eine ähnliche schockierende Wirkung haben, wenn ihre aktuelle Unmittelbarkeit der Wahrnehmung, das scheinbare Dabeisein vor dem Monitor nicht doch erkennbar durch Medien vermittelt wäre: reflexiv durch die Anwesenheit der Kamera in der dargestellten Situation und weil die Bilder immer Teil eines Programms sind, wo sie als Wiederholungen ähnlicher Bilder wiedererkannt werden können. Wie das Foto von Eddie Adams auf den Film beziehen sie sich auf den Horizont ähnlicher Bilder, die das Mediengedächtnis bereitstellt. Auf diese Weise, visuell oder verbal, schützt das Fernsehen seine Zuschauer vor den Ereignissen, die es darstellt,
11 Roland Barthes, »Schockphotos«, in: Ders., Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964, S. 55. 12 Ebd., S. 58.
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indem es sie von vornherein als Bilder unter Bildern anbietet. Die Fernsehsprecherin, »die das Bild des Grauens ansagt, sucht zu verhindern, dass der Blick, gleichsam durch das Bild hindurch, des Grauens ansichtig werden und unser Verstand an der Zivilisation verzweifeln könnte. Sprache, die Gesehenes in Bilder zwängt, domestiziert den Blick, hält ihn in Quarantäne. [...] Die Wendung ›ein Bild des Grauens‹ reguliert [...] die Transaktion zwischen dem Schock des Augenblicks, seiner (bildlichen) Zeichengestalt und unserem Vermögen, Wahrgenommenes zu verarbeiten. [...] ›Ein Bild des Grauens‹ – Wendungen wie diese drücken Bildern einen Sprachstempel auf, die bereits selbst die Wirklichkeit bildsprachlich abgestempelt haben.«13
Das real unverfügbare schockierende Ereignis wird in seiner Abbildung von ikonischen und verbalen Diskursen überlagert und schließlich verdrängt. Anders als die viel zu expliziten Schockfotos, die jede Reflektion verhindern, sind traumatische Bilder im Sinne von Roland Barthes Fotografien, die denotativ die Sache selbst bezeichnen, zum dargestellten Ereignis gewissermaßen ›durchschlagen‹, für die es keine Erklärung gibt, die haltlos im Entsetzen sind, weil sie den Betrachter im Ungewissen lassen und in seiner Verfügung über das Bilderuniversum verunsichern. Weil »traumatische Bilder mit einer Ungewissheit (oder einer Unruhe) hinsichtlich des Sinns der Objekte und Haltungen verknüpft«14 sind, können sie so lange traumatisierend wirken, bis sie durch ihre Verankerung mit RelaisFunktionen wie Pressetexten oder Bildern und eben auch Fernsehansagen unter Kontrolle gebracht werden. Das traumatische Bild scheint unmittelbar die denotierte Wirklichkeit zu berühren, erst die konnotativen Codes machen es zum Teil eines Diskurses über die Realität. Selbst im Film gibt es diese ›traumatischen Bilder‹ oder ›unités traumatiques‹15, und an dieser Stelle ist, soweit ich das überblicke, 1960 zum ersten Mal überhaupt im Zusammenhang mit Medien (hier in der filmologi-
13 Klaus Kreimeier, »Über Bilder«, in: Frankfurter Rundschau vom 30. 8. 1997. 14 Ebd., S. 34. 15 Roland Barthes, »Les ›unités traumatiques‹ au cinéma. Principes de recherche«, in: Revue Internationale de Filmologie, No. 34, Juillet-Septembre 1960, S. 1321.
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schen Diskussion eines psychologischen Testverfahrens mit Filmen) vom Trauma die Rede. Als es in einer linguistisch dominierten Filmtheorie darum ging, den Film als Sprache vor allem syntaktisch zu gliedern, ist Barthes auf diese merkwürdigen ›unités traumatiques‹ gestoßen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie überhaupt erst durch ihre verbale oder schriftliche Begleitung, ihren Kontext also, eindeutig werden, ohne die sie unklar bleiben und verunsichernd wirken. Diese Einheiten sind von vornherein Wort/Bild-Einheiten, die (film-)sprachlich angeordnet sind. Die Abhängigkeit eines bildlichen vom erklärenden, kontextierenden sprachlichen Zeichen in einer als sprachlich verstandenen Struktur des Films bezeichnet Barthes als traumatisch. Das entspricht dem Verfahren von 1964 in der »Rhetorik des Bildes«16, wo das isolierte denotative Bild als traumatisch gilt und ebenfalls durch verbale oder schriftliche Kontexte enttraumatisiert werden soll. In jedem Fall wird Trauma mit der Funktion eines isolierten visuellen Zeichens oder Bildes, einer ›Einheit‹ eben, in Verbindung gebracht, die kontextuell unter Kontrolle gebracht wird oder überhaupt erst kontextuell ›Sinn‹ macht. Isoliert ist es ein bloßes Zeichen ohne Code oder ein rein denotatives Bild, das ohne Zusammenhang unzugänglich ist und den ganzen Zeichenkomplex ›traumatisiert‹. Immerhin können hier Überlegungen zu einer immanenten Traumatisierung der Medien und ihrer repräsentativen Verfahren ansetzen. Die Undarstellbarkeit des Trauma-Ereignisses in der traumatischen Erfahrung hat auch auf der medialen Seite ein Moment der Verweigerung von Sinn durch traumatische Einheiten oder Wörter/Bilder, die in ihrer Singularität der traumatischen Erfahrung am nächsten stehen. Im Zusammenhang mit (elektronischen) Film-Reportagen von Kriegsreportern in den zahlreichen Kriegen der letzten Dezennien sind immer wieder Bilder aufgetaucht, die nichts anderes mehr darstellen als ihre eigene Zerstörung. In den meisten Fällen sind das die letzten Bilder, die ein getöteter Reporter gemacht hat, bevor auch seine Kamera zerschossen wurde oder zu Boden gefallen ist und dort noch weiter aufgenommen hat, bis der Motor der Kamera angehalten hat. Diese Bilder sind in einem radikalen Sinne authentische Bilder der Situation, in der sie entstanden sind und zerstört wurden. Wenn überhaupt, dann kann man von einem derartigen
16 Roland Barthes, »Rhetorik des Bildes«, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/M. 1990, S. 28-46, hier bes.: S. 34-36.
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Bild, das eigentlich gar keins mehr ist, sagen, dass es ein ›traumatisches Bild‹ oder eine ›unité traumatique‹ im Sinne von Roland Barthes ist. Ohne den Kontext, der es sprachlich in ein Geschehen einordnet, ist es in seiner Leere und Abstraktion erschreckend. So abstrakt wie es ist, wird es als zerstörtes Bild zum authentischen Bild der (Zer)-Störung. Indem es für den Tod seines Urhebers zeugt, ist es vielleicht die einzige filmische Dokumentation, deren mediale Zeugenschaft unzweifelhaft ist (aber längst als Form des Authentischen auch fiktional wiederum in Anspruch genommen wird17). Im Kern des traumatischen Ereignisses ist dessen Darstellung unmöglich – das Bild selbst ist traumatisiert. Erst wenn es wieder im Kontext seiner Entstehung und Übermittlung eingeordnet erscheint, enthüllt es seine Bedeutung, bekommt es Sinn. Am 17. August 2003 wurde der palästinensische Kameramann Mazan Dana während des Irakkriegs von amerikanischen Soldaten erschossen. Ein Bericht über dieses Ereignis zeigt zuerst Aufnahmen des Kameramanns, auf den ein Panzer zudreht und schießt. Man hört Schreien, das Bild ›bricht zusammen‹. Im Anschluss zeigt eine andere Kamera den Schauplatz, die Ausrüstung des getöteten Kameramannes Mazan Dana liegt am Boden. Das ›traumatisierte Bild‹, das den tödlichen Angriff in seiner Entstehung sogar dokumentiert, offenbart erst im zweiten Schritt, wenn eine andere Kamera den Kontext zeigt, seine schreckliche Bedeutung.18
17 Vgl. Joachim Paech, »Der Krieg als Form im Medium der Fotografie und des Films«, in: Krieg und Gedächtnis, hrsg. v. Waltraud ›Wara‹ Wende, Würzburg 2005, S. 328-345. 18 Arte-Themenabend, »Mission Kriegsreporter: Good Bye. Gestorben auf journalistischen Schlachtfeldern«, Deutschland 2003.
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Clips aus dem Arte-Themenabend, »Mission Kriegsreporter: Good Bye. Gestorben auf journalistischen Schlachtfeldern«, Deutschland 2003
In einem anderen Beispiel19 (von über 70 getöteten Reportern im Irakkrieg) wird die direkte Verbindung zwischen dem Sterben des Kamerablicks (des Kameramannes) und dem Bild aufgelöst in eine zweistellige Konstellation. Jetzt ist es ein Reporter (Mazem Al Tohmazy) vor der Kamera, der bei laufender Kamera erschossen wird. Kamera und Reporter teilen selbstverständlich die gemeinsame Situation. Auf die Schüsse reagiert auch der Kameramann während seine Kamera weiterläuft. Der Tod des Reporters kommt nicht ins Bild und wird durch eine Off-Stimme berichtet, aber das Bild selbst, das den Schauplatz des Ereignisses zeigt, ist sichtbar von der Situation betroffen (nur eben nicht getroffen). Blut ist auf das Objektiv gespritzt. Der Tod ist im Bild als abwesender anwesend, eine (Blut-)Spur auf dem Objektiv verweist darauf außerhalb des Sichtbaren. Der getötete Reporter verschwindet aus dem Bild, er wird sichtbar unsichtbar, der Tod ist nur als Störung des Bildes erkennbar. Die traumatische Situation ist hier deutlich verzeitlicht, so dass der nachträgliche kommentierende Text als Kontext für das selbst unsichtbare Ereignis des Todes an dessen Stelle treten kann.
19 Kulturzeit, 3SAT, 9. Januar 2007, 7 Min.
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Clip aus 3SAT-Kulturzeit, 9. Januar 2007
Alle drei bisher diskutierten Beispiele haben es mit dokumentarischen Verfahren der medialen Darstellung traumatischer Situationen zu tun, in denen der plötzliche Tod das zentrale Ereignis ist. Die Darstellung des Traumas kann sich nur auf die Situation beziehen, in der Momente traumatischer Erfahrung als eine bestimmte Struktur angeordnet sind. Das Trauma als subjektives Erleben eines Menschen schließt aus, dass es in einer Situation objektiv gegeben ist. Menschen reagieren unterschiedlich auf dieselbe Situation und von professionellen Kameraleuten kann man vermuten, dass ihr Blick durch die Kamera sie bereits vor dem Entsetzlichen schützt und sie technisch zum Geschehen distanziert, solange, bis sie selbst getroffen werden. Deutlich erkennbar ist ein Effekt auf das Medium, der (im Sinne Roland Barthes) als ein ›Trauma der Darstellung‹ bezeichnet werden kann. Dieser Effekt jedenfalls trägt wesentlich zur Beglaubigung des dokumentarischen Anspruchs der Darstellung bei, zu einer medialen ›Wahrheit‹ also und Legitimität einer Zeugenschaft, die aus der selbstreferentiellen Rückkoppelung des Dargestellten an das Medium der Darstellung entsteht. Wir als Betrachter können unmittelbar sehen, dass das Medium der Darstellung Teil der dargestellten Situation ist, es ist selbst von den Ereignissen beoder sogar getroffen, die es beobachtet, um sie darstellen zu können (ein Umstand, der wie gesagt, als Form von fiktionalen Filmen gerne für Authentizitätseffekte verwendet wird). Für den fiktionalen Film ist das Spiel mit dem (Er-)Schrecken, dem Grauen und Entsetzen von Anfang an fester Bestandteil; ein besonders erfolgreiches Genre, der Horrorfilm, widmet sich diesem Spiel mit dem Schrecklichen ausschließlich. Welche Wirkungen diese Filme auf die psychische Konstitution ihrer Zuschauer, vor allem von Kindern, haben, ist
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lang und breit diskutiert worden. An dieser Stelle interessiert nicht so sehr, wie das Entsetzen im Film inszeniert wird und wie das Publikum möglicherweise darauf reagiert, sondern wie im Film selbst von traumatischen Reaktionen auf Ereignisse der dargestellten Handlung erzählt wird. Diese erzählten Ereignisse haben am allerwenigsten mit Horrorszenarien zu tun; im Gegenteil, es sind vor allem Melodramen, die von Traumatisierungen berichten und für ihr Happy End auch von deren Therapie. Ein berühmt gewordenes Beispiel ist der frühe melodramatische Stummfilm Le Mystère des Roches de Kador (1913) von Léonce Perret.20 Eine junge Frau, Suzanne, hat die Erinnerung an die traumatische Situation einer schrecklichen Bedrohung, aus der sie schließlich gerettet wurde, verdrängt. Das Leiden an diesem Trauma wollen Ärzte durch die Wiederholung ›derselben‹ Situation in einer lebendigen filmische Darstellung heilen. Suzanne sieht am anderen Ort auf der Kinoleinwand sich selbst (als eine andere), erkennt und erinnert die traumatische Situation und die Rettung durch den geliebten Mann und ist fortan geheilt. Das der traumatisierten Erinnerung unzugängliche Geschehen (das Verbrechen) wird aus ihrer verdunkelten Seele (nur sie kann wissen, was sich ereignet hat) gewissermaßen ins Licht der Leinwand projiziert. Die filmische Wiederholung des traumatischen Ereignisses kann nur fiktional sein, denn in der ursprünglichen Situation war selbstverständlich keine Filmkamera zugegen, während die Filmarbeiten für deren Wiederholung ›dokumentiert‹ werden. Eine Stellvertreterin wird im Film gerettet und zusammen mit der Trauma-Situation Suzanne zur erinnernden Identifikation angeboten, auch wenn sie das, was geschehen ist, nie auf diese Weise ›von außen‹ hätte wahrnehmen können. Hinzukommt, dass Suzannes Gesundung dazu beiträgt, dass der Täter überführt werden kann, der sie um ihr Erbe bringen und den Geliebten töten wollte.
20 Vgl. Heike Klippel, »Le Mystère des Roches de Kador (1913), F 1913, Regie: Léonce Perret«, in: Moderne Film Theorie, hrsg. v. Jürgen Felix, Mainz 2002, S. 186-190.
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Clips aus Le Mystère des Roches de Kador, F 1913, Regie: Léonce Perret.
Der Film (1), der das Trauma-Ereignis zeigt, und seine Rezeption sind Bestandteile des Films (2), der sie für seine Erzählung verwendet. Als ›Film im Film‹ gewinnt er aus der Differenz der Darstellungen an dokumentarischer Glaubwürdigkeit, so wie das auch schon zwischen Foto und Film als Steigerung dokumentarischer Authentizität funktioniert hat. Darauf komme ich gleich noch am Beispiel Muriel (1963) von Alain Resnais zurück. Eine Mischung aus Melodram und Kriminalfilm ist Alfred Hitchcocks Film Marnie (1964). Ihre Psychose, die deutlich traumatisch strukturiert ist, kann am Ende des Films geheilt werden, weil sie, von ihrem Mann gezwungen, an den Ort der Entstehung ihres Problems zurückkehrt. Dort wiederholt sich die Situation, deren Verdrängung die Psychose bewirkt hat – und zwar doppelt. Im Haus ihrer Mutter (Situation 1) löst ein Gewitter (für die erlebte Gewalt) als Symptom die Erinnerung an die Situation (2) aus, in der ihre Mutter einen Freier, um das damals kleine Mädchen zu schützen, attackiert und das Kind den Mann tötet, weil er die Mutter verletzt hat. Marnie erlebt diese sicherlich traumatische Szene unmittelbar als ein aktuelles Flashback21; aktuell, weil das Wiedererleben der Szene aus ihrer Kindheit wie ein neuerliches Durchleben hier und jetzt stattfindet, als sie mit ihrem Mann die Mutter besucht. Ein Flashback ist die Erinnerung,
21 Auch Maureen Turim sieht in ihrem Buch über Flashbacks in Marnie einen besonderen Fall. Mit der recht gewaltsamen Hilfe des Ehemanns anstelle des Psychiaters soll in der aktuellen Szene die andere Szene der Ursache für Marnies Psychose in einer traumatischen Erfahrung ihrer Kindheit offenbar werden. Vgl. Maureen Turim, Flashbacks in Film. Memory and History, New York, London 1989, S. 169-170.
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weil diese Szene der Kindheit die Bilder der vergangenen Gegenwart wiederholt, an die sich Marnie nun erinnert: Beide Situationen werden zeitgleich am selben Ort durchlebt. Die traumatische Szene wird wie auf einem Screen der Erinnerung eingefügt, der sowohl den beteiligten Personen als auch den Zuschauern ›sichtbar‹ das vergangene traumatische Ereignis vergegenwärtigt (bis hier zeigt das Verfahren viele Gemeinsamkeiten mit Perrets Le Mystère des Roches de Kador). Weil dieser Screen von Marnie selbst mit ihrer Projektion der Ereignisse bespielt wird, ist es zumindest teilweise ihr subjektives Erleben, das auf den tatsächlichen Ereignis-Kern des Traumas von Marnie zurückführt. Was verdrängt wurde, kann nun durchgearbeitet und bewältigt werden. Die Heilung bedeutet, dass sie endlich als Subjekt der Liebe mit ihrem Gatten verbunden ist. Clips aus »Marnie«, USA 1964, Regie: Alfred Hitchcock
Nur der fiktionale Film kann davon erzählen, dass das traumatische Ereignis über die Erinnerung des Subjekts erreicht werden kann, weil sich die Bilder der Kamera unmittelbar der Einbildungen des Subjekts bemächtigen und sie narrativ auf ›tatsächlich Erlebtes‹ zurückführen können. Deren Projektion tritt an die Stelle der symptomatischen Projektionen des Sub-
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jekts und füllt die Leerstelle des verdrängten und abwesenden Ereignisses mit dessen neuerlicher Anwesenheit als Tatsache der Erzählung. Fiktion, wie gesagt, auch wenn der Durchbruch auf die wahren Ursachen der Psychose wie das Erreichen einer endlich dokumentierten Tatsache wirken soll, ist es nur die Wirklichkeit der Fiktion. Über Alain Resnais’ Film Muriel hat Paul Sztulman eine wundervolle Analyse vorgelegt, die den gesamten Film untersucht, der »mit den Mitteln des Films versucht, die psychische Funktionsweise des Traumas zu erfassen.« Er versucht »zu zeigen, wie die psychische Funktionsweise des Traumas im Leben der Personen auf die Form des Films übertragen wird.«22 Es lohnt sich sehr, sich mit jedem Aspekt der Argumentation Sztulmans auseinanderzusetzen, um durchaus auch zu anderen Ergebnissen zu kommen, eine Diskussion, die hier nicht geführt werden kann. Ich werde auf eine, vielleicht die Schlüsselsequenz eingehen, in der ein ›Film im Film‹ eine entscheidende Rolle spielt und die Sztulman für seine TraumaAnalyse des Films vernachlässigt oder zu gering geachtet hat. Der Film Muriel hat den Untertitel Die Zeit der Wiederkehr. Und die Wiederkehr des Verdrängten bestimmt den Schauplatz ebenso wie die Personen des Films. In der nach dem Zweiten Weltkrieg zerstörten und wieder aufgebauten Stadt Boulogne sind die Ruinen des Weltkriegs noch gegenwärtig. Die Personen kämpfen mit und gegen Erinnerungen an den Krieg, die ihre Beziehungen untereinander und zu ihrer Umwelt beeinflussen. Während der Weltkrieg als Vergangenheit stets gegenwärtig bleibt, ist der Algerienkrieg als unmittelbar vergangene Gegenwart präsent. Bernard, der Stiefsohn von Hélène, die im Mittelpunkt der Gruppe von Menschen steht, die in Boulogne zusammentreffen, ist vor wenigen Monaten vom Militärdienst in Algerien zurückgekehrt. Jean Cayrol, der das Drehbuch zu Muriel geschrieben hat, beschreibt Bernard folgendermaßen:
22 Paul Sztulman, »Muriel, ein Film, den man vergisst«, in: Erinnern und Vergessen. Zur Darstellbarkeit von Traumata, hrsg. v. Karolina Jeftic, Jean-Baptiste Joly, Stuttgart 2005, S. 57-75. Vgl. auch Jean Cayrol, Muriel oder Die Zeit der Wiederkehr. Text und Regieanmerkungen zum Film von Jean Cayrol und Alain Resnais, Olten und Freiburg i. B. 1965. Claude Bailblé, Michel Marie, MarieClaire Ropars, Muriel. Histoire d’une recherche, Paris 1974.
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»Er versucht, den Krieg zu verleugnen, sich für die Gegenwart, die ihn belastet, nicht zu interessieren [...] man spürt, dass ihn etwas quält, er ist abwesend, bereit, irgend etwas zu erfinden, um den Ansprüchen seiner Umgebung und den Ansprüchen des Militärdienstes, den er eben hinter sich hat, zu entrinnen. [...] Er fühlt sich wie ein Zeuge, den niemand anhören will. Seine zweiundzwanzig Monate in Algerien haben ihn entstellt. Was er sah, was er tun musste, hat ihn so verletzt, dass er wie vor den Kopf geschlagen bleibt, aber er hält sich zurück, er schweigt, behält alles für sich, gesteht niemandem sein schreckliches Wissen ein. [...] Sein Gedächtnis sucht in seiner Kamera, in seinem Tonbandgerät, in seinen Waffen, in seinen Filmen Zuflucht, er braucht ein Zwischenglied [...]«.23
Wenn Bernard jetzt einen Amateurfilm, den er in Algerien gedreht hat, auf einem Dachboden, der ihm als Aufbewahrungsort von Objekten der Erinnerung und Werkstatt dient, projiziert, dann ganz allein für sich selbst, als eine Erinnerungsstütze, während er von seinen Erlebnissen und von Muriel spricht. Nur ein unbeteiligter alter Mann hört ihm zu, mehr um den Eindruck zu vermeiden, Bernard würde Selbstgespräche führen, als dass er wirklich zu ihm spricht. Clips aus «Muriel ou Le temps d’un retour«, F 1963, Regie: Alain Resnais
Die Szene beginnt mit dem anderen ›Film im Film‹. Parallel dazu im Off erzählt Bernard die Geschichte von der Folterung einer Frau, die er während seines Militärdienstes in Algerien miterlebt und mitgemacht hat. Der ›Film im Film‹ setzt unvermittelt ein, er ersetzt an der Stelle den bisherigen Film Muriel durch Bilder vom Soldatenleben während des Algerienkrieges und 23 Jean Cayrol, Muriel oder die Zeit der Wiederkehr, S. 13-14.
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Bernards Erinnerungen an Muriel, die gefolterte Frau. Die Umstände der Projektion des Films, der Motivation seiner Eingliederung in den übergeordneten Film, werden erst am Schluss der Sequenz nachgeholt. Der Film ist stumm, er wird ergänzt durch Bernards Erzählung im Off. Bernards Erinnerungen an die Folterung Muriels haben in den Bildern des Films keine Entsprechung, sie markieren lediglich ganz allgemein Ort und Zeit des Geschehens als Hintergrund für Bernards beklemmende Darstellung der Folter, von der es keine ›dokumentarischen Bilder‹ geben kann.24 AmateurfilmAufnahmen sind grundsätzlich in einem starken Sinne ›dokumentarisch‹ weil persönlich motiviert und legitimiert. Offenbar war es wichtig, hier, wo es um die Ereignisse in Algerien geht, jeden Anschein von Fiktionalität zu vermeiden, den Bilder von der Folter gehabt hätten. An die Stelle der unmöglichen Bilder tritt der sprachliche Bericht der schrecklichen Erlebnisse Bernards, die er im Sprechen noch einmal durchzumachen scheint. Beides zusammen, das ›Dokumentarische‹ der Bilder und der Bericht, der nur durch die Stimme Bernards mitgeteilt wird, authentifiziert sich gegenseitig. Der Sprecher ist ganz aus seiner aktuellen (fiktionalen) Situation herausgenommen, er ist nur als Stimme vor Bildern anwesend, die der Stimme ihren Ort, Algerien, geben. Der Wendepunkt in Bernards Erzählung, der sich zunächst an der Folter beteiligt hatte, kommt, als die gepeinigte Muriel ihn anzublicken scheint. Bernard ist betroffen. Auch wenn er danach behauptet, dass ihm das alles nichts ausgemacht hätte, er wird den Blick und Muriel nicht mehr los. Ihre Folter ist die Situation (›hat mir nichts ausgemacht‹), in der es zu dem Trauma-Ereignis (Muriels Blick und Bernards persönliche Betroffenheit) kommt, das die gesamte Situation – auch aus der Täter-Perspektive, traumatisch erleben lässt. Auf der medialen Ebene – und Bernard ist mit Filmkamera und Tonbandgerät gut ausgerüstet – lässt sich das mediale Gedächtnis nicht mit der persönlichen Erinnerung synchronisieren, es bleibt ein wesentlicher Abstand, der genau darin besteht, dass ein Trauma wohl fiktional erzählt, nicht aber dokumentiert werden kann – das aber ist die Voraussetzung für eine Zeugenschaft, die auch vor der eigenen Erinnerung bestehen kann. Die Sequenz endet mit der ›anderen Situation‹ der Projektion, die in die fiktionale Handlung des übergeordneten Films zurückgestellt wird. Der Amateurfilm hat alle Merkmale einer ›unité traumatique‹ im Sinne von Roland Barthes,
24 Der Skandal der Fotografien von Abu Ghraib war auch, dass es sie überhaupt geben konnte.
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indem er, sprachlos, den Sinn verweigert, den er erst durch Bernards Erzählung im Off bekommt. Er ist die leere und dadurch beunruhigende Projektionsfläche für das Undarstellbare, das sprachlich erinnert wird, aber in seiner schrecklichen Wirklichkeit unerreichbar bleibt. Bernard zerstört die Medien der Erinnerung und verlässt seine Mutter und Boulogne. * Ich habe versucht, die Rolle der Medien in traumatischen Prozessen zu diskutieren, indem ich davon ausgegangen bin, dass ein Trauma immer eine bestimmte Besetzung einer subjektiven Erfahrung ist, die auf ein Ereignis in einer Situation zurückzuführen ist, die ebenso wie das Ereignis post festum, als eine psychische Reaktion erst nachträglich traumatisch ist. Medien können Ereignisse dokumentarisch oder fiktional darstellen: Fiktionale Filme erzählen vornehmlich melodramatisch von Traumatisierungen, ihrer Entstehung und ihrer Lösung. Im dokumentarischen Sinne einer Zeugenschaft müssen Fotografien und Filme teil an der auslösenden Situation haben, während sie das subjektive Trauma-Erleben grundsätzlich verfehlen müssen. In der Struktur von Trauma-Prozessen sind sie von vornherein Stellvertreter-Erinnerungen und in diesem Sinne ›fiktional‹, was zum Teil auch ihre Rolle in den Massenmedien erklärt. Eine andere Ebene der Argumentation ging der Frage nach, ob es so etwas wie ein Trauma der Medien selbst, ein ›Trauma der Darstellung‹, geben kann, von dem Roland Barthes am Beispiel der ›unités traumatiques‹ der Fotografie und des Films gesprochen hat. Jedenfalls würde dieser Blick auf die Medien auch ihre Rolle als historisches Gedächtnis zumal katastrophaler Ereignisse in einem anderen Licht erscheinen lassen.
»The Piece Goes on...« Repetition und Gewalt(-erfahrung) im Werk Bruce Naumans F RIEDERIKE W APPLER
In den 1930er Jahren untersuchte Walter Benjamin, wie die Großstadt Paris die Dichtung verändert hat. Es sind Baudelaires Prosagedichte, die ihm zeigen, dass »diese Stadt, die in steter Bewegung«1 ist, Wahrnehmungsbedingungen und damit auch die Kunst verändert hat. Er skizziert sie als einen Ort bislang ungewohnter Reizüberflutungen. Um beschreiben zu können, wie die Eindrücke und Sinneswahrnehmungen den psychischen Reizschutz der Menschen durchbrechen, eine Abwehr provozieren und so veränderte Formen künstlerischer Produktion ermöglichen, bezieht er sich auf Sigmund Freuds Überlegungen zur traumatischen Neurose. Darüber hatte der Psychoanalytiker 1919/1920 – im Anschluss an den Ersten Weltkrieg – in seinem Essay »Jenseits des Lustprinzips«2 geschrieben. Benjamin folgert: »Die Bedrohung durch diese Energien ist die durch Chocks«3, ihre Abwehr bestimmt die Dichtung Baudelaires. Um deren traumatische Wirkung abzufangen, wird die Schockwirkung vom Bewusstsein pariert: »Je 1
Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapita-
2
Sigmund Freud, »Jenseits des Lustprinzips« (1920), in: Ders., Studienausgabe
lismus, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1974, S. 81. Band III. Psychologie des Unbewußten. Frankfurt/M. 1975, S. 217-272. 3
Walter Benjamin, »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: Ders., Charles Baudelaire, S. 103-149, hier: S. 109.
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größer der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewußtsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muss, je größer der Erfolg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses.«4 Die Lyrik Baudelaires steht, so seine These, im Zeichen der Schockabwehr. Der Erste Weltkrieg und das Aufkommen von Kriegsneurosen zwangen Freud, sich mit der pathogenen Wirkung traumatischer Erfahrungen auseinanderzusetzen und seine bis dato entwickelte Theorie der Psychoanalyse zu modifizieren. In »Jenseits des Lustprinzips« setzte er sich mit der traumatisierenden Wirkung von Außenweltfaktoren auseinander und konstatierte: »Solche Erregungen von außen, die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heißen wir traumatische.«5 Doch nicht unmittelbar im Anschluss an den Ersten und Zweiten Weltkrieg, sondern erst nach dem Vietnamkrieg konnte sich eine medizinische Traumaforschung etablieren, die langfristige psychische Folgen des Krieges untersuchte und die ›posttraumatische Belastungsstörung‹ in die psychiatrische Nomenklatur aufnahm.6 Der folgende Beitrag nimmt eine Kunst in den Blick, die in den 1960er Jahren in Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg und dessen Wahrnehmung in den USA entstanden ist und mit Wiederholungsstrukturen arbeitet. Hat die Schockerfahrung im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts die artistische Arbeit von Baudelaire modelliert, so untersucht dieser Aufsatz Bruce Naumans Antwort auf Gewalt(-erfahrungen) in den 1960er Jahren und deren ›Einschreibung‹ in die zeitgenössische US-amerikanische Kunst. Sie geschieht in Auseinandersetzung mit dem Kunstdiskurs der 1960er Jahre, insbesondere der Minimal Art. Anders gesagt: Es ist der US-amerikanische Künstler Bruce Nauman, der sich in dieser Zeit der Herausforderung stellt, den diskursiven Tabus des herrschenden Kunstdiskurses zu begegnen und zu fragen, ob die Kunst seiner Zeit in der Lage ist, Gewalt(-erfahrung) in einer programmatisch
4
Ebd., S. 111.
5
Sigmund Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, S. 239.
6
Vgl. dazu Werner Bohleber, »Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse«, in: Trauma, Gewalt und kollektives Gedächtnis, Sonderheft Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 54. Jahrgang, Hf. 9/10, September/Oktober 2000, S. 797-839, hier. S. 810.
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anti-illusionistischen Kunst zu reflektieren, die sich ausdrücklich auf das bezieht, was ist und was wahrgenommen werden kann. Keine eigene Kriegs- oder biografisch bezeugten Gewalterfahrungen führen ihn dazu, den (nach-)minimalistischen Kunstdiskurs weiter zu denken, sondern die Fragestellung, wie sich die bildende Kunst angesichts des Vietnamkriegs sowie des Terrors und der Folter in Süd- und Mittelamerika weiterentwickeln könnte. Erklärtermaßen führen ihn »Wut« und »Enttäuschung über die ›conditio humana‹«7 zu einer Kunst, die »[w]ie ein Hieb ins Gesicht mit dem Baseballschläger, oder besser, wie ein Schlag ins Genick« wirken solle.8
U MBRÜCHE IN DER US- AMERIKANISCHEN K UNST DER 1960 ER J AHRE Seine künstlerische Sprache entwickelte Nauman in einer Zeit, in der der Vietnamkrieg massenmedial vermittelt in die Wohnzimmer der Amerikaner eindrang und den US-amerikanischen Alltag prägte. Seit 1964 formierten sich Protestbewegungen gegen den Krieg. Studenten, Hippies und Bürgerrechtsbewegungen erprobten – insbesondere auch in und um San Francisco, wo Nauman von 1964 bis 1968 lebte – neue Lebensformen und kämpften für gesellschaftliche Veränderungen.9 In der Kunst wurde der Abstrakte Expressionismus kritisch befragt. Gemeinsam mit William T. Wiley, seinem Lehrer an der University of California in Davis, und befreundeten Künstlern wie Bill Allan und Robert Nelson erkundete Nauman Möglichkeiten kooperativer künstlerischer Produktionen. Mit Filmen, gemeinsamen Ausstellungen und Kunstprojekten versuchten sie, die vorherrschende mediale Engführung der Kunst zu überwinden.10
7
Bruce Nauman, »Das Schweigen brechen. Ein Interview mit Joan Simon«, in: Bruce Nauman, Interviews 1967-1988, aus dem Amerikanischen und hrsg. v. Christine Hoffmann, Amsterdam 1996, S. 147-177, hier: S. 170.
8
Ebd., S. 149.
9
Vgl. Looking for Mushrooms. Beat Poets, Hippies, Funk, Minimal Art. San Francisco 1955-1968, hrsg. v. Barbara Engelbach, Friederike Wappler, Hans Winkler, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln 2008.
10 Ebd.
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Ein Stipendium des ›National Endowment for the Arts‹ führte ihn 1968 nach New York. Hier stellte er in der ›Leo Castelli Gallery‹ aus: Fotografien und Abgussarbeiten seines Körpers, Werke, die mit indexikalischen Verfahren die Rolle des Künstlers und die Möglichkeiten einer nichtillusionistischen Kunst befragen.11 Ein Jahr später, 1969, gehörte Nauman zu den Künstlern, die anlässlich der Ausstellung Anti-Illusion: Procedures / Materials im ›Whitney Museum of American Art‹ in New York Arbeiten zeigten, die mit einer prozessualen und handlungsorientierten künstlerischen Haltung auf die Minimal Art antworten.12 Der Kunstkritiker Robert Pincus-Witten hat diese Kunst mit dem Begriff der ›Postminimal-Art‹ bezeichnet.13 Zu den an der Ausstellung Anti-Illusion teilnehmenden Künstlern zählen neben Bruce Nauman auch die bildenden Künstler Richard Serra, Robert Morris, Richard Tuttle, die Musiker Steve Reich und Phil Glass sowie die Performance-Künstlerin Meredith Monk. Das in dieser Ausstellung sichtbar werdende Interesse aller Künste an Prozessualität macht deutlich, dass sich in den ausgehenden 1960er Jahren Künstlerinnen und Künstler aus ganz unterschiedlichen Bereichen von den ästhetischen Imperativen der formalistischen Moderne lösten. Die Modernismuskonzeption des einflussreichen US-amerikanischen Kunstkritikers Clement Greenberg hatte die Kunst seit den 1930er Jahren maßgeblich geprägt. Greenberg hatte, in Abgrenzung von der westlichen Massenkultur und kulturellen Entwicklungstendenzen in der Sowjetunion, eine Entwicklungslogik der künstlerischen Avantgarde konstruiert, die sich – strikt autonom und ohne Bezug auf eine außerkünstlerische Wirklichkeit – auf die kritische Reflexion der Möglichkeiten des jeweiligen ›Mediums‹ zu kon-
11 In demselben Jahr räumte ihm auch die Düsseldorfer Galerie Konrad Fischer eine erste Einzelausstellung in Europa ein, und er nahm an der documenta 4 teil, wo seine Werke im Umfeld der US-amerikanischen Pop Art und Minimal Art gezeigt wurden. 12 Anti-Illusion. Procedures / Materials, Ausst.-Kat. Whitney Museum of American Art, New York 1969. 13 Vgl. Friederike Wappler, »Postminimal Art«, in: DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, hrsg. v. Hubertus Butin, Köln 2002, S. 254-257.
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zentrieren habe.14 Zu den Tabus der Greenberg’schen Moderne zählten sowohl intermediale Tendenzen als auch die Durchmischung der Künste. Auch Bruce Nauman hatte als Maler begonnen; in seinem Catalogue Raisonne15 ist nur noch eine malerische Arbeit verzeichnet. Sie zeigt bereits die Tendenz zu einem intermedialen ›Objekt‹. Deutlich wird, was auch Nauman bestätigt: Für ihn war die künstlerische Arbeit von Frank Stella eine wichtige Orientierung. Stella experimentierte mit dem Ausstieg aus dem traditionellen Bild. Bereits Ende der 1950er Jahre malte er mit Industriefarbe und suchte mit seinen Shaped Canvases nach Wegen, um die illusionistische Leinwand zu dekonstruieren. 1964 äußerte er sich wie folgt: »Ich gerate immer wieder in Streit mit Leuten, die die alten Werte in der Malerei erhalten wollen – die humanistischen Werte, die sie immer auf der Leinwand finden. Wenn man sie auf etwas festlegen will, behaupten sie am Ende immer, daß da außer der Farbe noch mehr auf der Leinwand sei. Meine Malerei basiert dagegen darauf, daß nur das, was gesehen werden kann, auch da ist. Es ist tatsächlich ein Objekt. Jedes Bild ist ein Objekt, und jeder, der sich intensiv genug damit beschäftigt hat, muß sich schließlich der Objekthaftigkeit dessen, was er macht, stellen.«16
Und auch Donald Judd realisierte, mit der Absicht, Illusion und Allusion aus der Kunst zu verbannen, Objekte, die als tatsächlicher Raum wahrgenommen und als ›Ganzes‹ in Erscheinung treten sollten, auch dann, wenn sie aus mehreren Teilen bestehen. Er zielte auf die Überwindung einer bildinternen Beziehung von Teilen zu einem Ganzen und forderte: »eine Sache nach der anderen«17. Kunst sollte nicht mehr auf etwas verweisen,
14 Vgl. Clement Greenberg, »Modernistische Malerei« (1960), in: Ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hrsg. v. Karl-Heinz Lüdeking, Amsterdam, Dresden 1997, S. 265-278. 15 Catalogue Raisonne in: Bruce Nauman, Ausst.-Kat. Walker Art Center, Minneapolis 1994, S. 191-339. 16 Frank Stella zit. nach Bruce Glaser, »Fragen an Stella und Judd«, in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, hrsg. v. Gregor Stemmrich, Dresden, Basel 1995, S. 46f. (Radiogespräch, das im Februar 1964 im WBAI-FM (New York) gesendet wurde, veröffentlicht unter »Questions to Stella and Judd«, in: Art News, Vol. 65, No. 6, Sept. 1966, S. 55-61). 17 Ebd., S. 67.
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sondern als eigene Realität wahrgenommen werden. Mit der Wahrnehmung der ›Objekthaftigkeit‹ von Werken wurde auch das Umfeld der Ausstellung bedeutsam. So bemerkte Judd: »Tatsächlicher Raum ist aus sich selbst heraus viel kraftvoller und spezifischer als Farbe auf einer ebenen Oberfläche. Ganz offensichtlich kann alles Dreidimensionale jede Form annehmen, regelmäßig oder unregelmäßig, und es kann zur Wand, zum Boden, zur Decke und zum Raum, zu Innen- und Außenräumen oder zu nichts von alledem in jeder nur denkbaren Beziehung stehen. Jedes Material kann verwendet werden, so wie es ist oder bemalt.«18
Diese 1965 im Arts Yearbook publizierte Überlegung Donald Judds mag Bruce Nauman noch in demselben Jahr zu einer Arbeit bewegt haben, in der er an die Stelle des aus industriellem Material hergestellten Objekts seinen Körper rückt, den er während einer, eine halbe Stunde dauernden Performance in 28 unterschiedliche Beziehungen zum Raum setzte. Die Performance 28 Position Piece: Wall-Floor-Positions, die er 1965 in der University of Davis aufführte, blieb ein einmaliges Ereignis. Nauman hat sie weder fotografisch noch filmisch dokumentiert. 1968 greift er die Aktion allerdings nochmals auf. Er führt sie in seinem Atelier auf und zeichnet sie nun mit einer fest installierten Videokamera auf. Die Aufnahme – Wall Floor Positions (1968) – dient ihm nicht als Dokumentation. Die Videoaufzeichnung ermöglichte es ihm, den einmaligen Prozess der Performance in einen apparativen und durch permanente Wiederholung potentiell unendlich fortschreitenden Prozess zu überführen.
18 Donald Judd, »Spezifische Objekte« (1965), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, S. 68f.
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Bruce Nauman: Wall-Floor-Positions, 1968 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Was hier zunächst als kleine Verschiebung und Variation erscheint, ist ein diskursives Ereignis: An die Stelle eines sich aus der flachen Leinwand ›emanzipierenden‹ Objekts, dem dreidimensionalen Kubus, dem ›Spezifischen Objekt‹ und seiner Beziehung zum umgebenden Raum, einem Werk, das die Betrachter auf Anhieb als ›Ganzheit‹ erfahren sollen, sowie der Judd’schen Serialität – »eine(r) Sache nach der anderen« – rückt eine reale und fortwährende Aktivität – ein apparativ aufgezeichnetes und auf einem Monitor sichtbares Stück ohne Anfang und Ende. Einmal in Gang gesetzt, schreitet es – ganz im Sinne der von Sol LeWitt beschriebenen ›Conceptual Art‹ – wie eine Maschine voran. Ein ständig aufs Neue gezeigtes Video stellt auf eine ästhetische Erfahrung ab, die sich nicht mehr plötzlich, in einem privilegierten Moment,
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ereignet und in dieser Augenblickserfahrung eine ›Essenz‹ des Werkes freilegt,19 sondern mit einem potentiell unendlich fortschreitenden Prozess arbeitet. Die Aufnahme zeigt keine abgeschlossene Handlung: Sie schreitet in permanenter Wiederholung voran. Erklärtermaßen bezieht sich Nauman bei der ästhetischen Organisation dieser Aufnahmen und ihrer ständigen Wiederholung sowohl auf die stundenlang laufenden 16mm-Filme Andy Warhols wie Sleep (1963) oder Empire (1964) als auch auf die musikalischen Experimente der Minimal Musiker La Monte Young, Terry Riley, Steve Reich und Phil Glass. Steve Reich hatte seine Musik 1969 anlässlich der Ausstellung Anti-Illusion: Procedures/Materials als ›gradual process‹ bezeichnet und Phil Glass reflektierte in demselben Zusammenhang die veränderte Rolle des Zuhörers/Zuschauers: »The listener is free do deal with the experience directly. As he so chooses. While the piece goes on.«20 Aus Sicht der modernistischen Kunstkritik wird Naumans Arbeit damit ›theatralisch‹.21 Es ist jedoch eine ›Theatralität‹, die vor dem Hintergrund von Entwicklungstendenzen des ›New Theatres‹22 geschieht, d. h. künstlerischen Experimenten im Tanz und Theater in den 1950er und 1960er Jahren, die sich gleichermaßen mit der Frage auseinandersetzen, ob es eine Kunst ohne ›Als-ob‹ geben kann.23
19 Vgl. Michael Fried, »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, S. 334-374, hier: S. 364. »Art and Objecthood«, in: Artforum, Vol. V., No. 10, Summer 1967, S. 12-23. 20 Steve Reich und Phil Glass in: Anti-Illusion: Procedures/Materials, S. 14 (Glass) und S. 56 (Reich). 21 Vgl. Michael Fried, »Kunst und Objekthaftigkeit«, S. 334-374. 22 Michael Kirby, »The New Theatre«, in: The Tulane Drama Review, Vol. 10, No. 2, Winter 1965, S. 23-43; Friederike Wappler, »›New Theatre‹. Zur Theatralisierung der Kunst in den 1960er Jahren«, in: Looking for Mushrooms, hrsg. v. Barbara Engelbach, Friederike Wappler, Hans Winkler, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln 2008, S. 144-175. 23 Mit seiner Videoinstallation Art Make-Up und dem Video Flesh to White to Black to Flesh spielt Nauman auf zeitgenössische Experimente im Tanz und im Theater an. Im neuen amerikanischen Tanz rückten alltägliche, von Tänzern und Nicht-Tänzern ausgeführte Handlungen wie laufen, gehen, essen, sich oder etwas anderes bewegen oder bewegt werden an die Stelle des traditionellen Balletts, in dem beispielsweise der grand jeté eine Leichtigkeit vortäuscht, die den
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N AUMANS A RT M AKE -U P ODER ZUR C RUX DES MINIMALISTISCHEN W AHRNEHMUNGSPOSITIVISMUS Wenn sich Bruce Nauman 1968 in seinen 16mm-Filmen Art Make-Up No.1-4 sowie in dem Videotape Flesh to White to Black to Flesh, 1968, in strikter Frontalität beim Auflegen von Theaterschminke auf Oberkörper und Gesicht aufnimmt und sich dem Betrachter im Vollzug dieser Handlungen als direktes Gegenüber präsentiert, so spielt er auf diese Diskussion an und macht gleichzeitig die mit der Absage an den Schein einhergehende Crux deutlich. Bruce Nauman: Flesh to White to Black to Flesh, 1968 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Die von ihm ausgeführten Handlungen konnotieren eine Back-StageTheaterpraxis, ein Handeln hinter der Bühne, in der Garderobe, wo sich ›Schau-Spieler‹ auf das Als-ob des Theaterspiels vorbereiten bzw. die zuvor gespielte Rolle wieder ablegen. Auch in diesen Arbeiten geht es nicht um eine Dokumentation, sondern erneut um die Transformation einer Aktion des Künstlers in einen apparativ aufgezeichneten Prozess, der ausgestellt die Betrachter durch die jeweils organisierte dispositive Ordnung in wirklichen Kraftverhältnissen des tänzerischen Einsatzes nicht entspricht. Yvonne Rainer spricht 1966 von »Bewegung-als-Aufgabe« oder »Bewegung als Objekt«. Vgl. Yvonne Rainer, »Ein Quasi Überblick...«, in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, S. 121-132, hier: S. 127.
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bestimmter Weise einbezieht und so die mögliche Rezeption des durch Wiederholungen ständig fortschreitenden Prozesses steuert. So zeigt das Video Flesh to White to Black to Flesh auf einem Monitor den mit einer feststehenden Kamera aufgenommenen Künstler, der sich – dem Titel der Arbeit folgend – zunächst Gesicht und Oberkörper mit weißer, dann mit schwarzer Theaterschminke einreibt, um sich im Anschluss von der ›Maskierung‹ zu befreien: Er wischt das Theater-Make-Up wieder ab. Das ständig wiederholte Abspielen des Videos und somit der aufgezeichneten Handlungssequenz des Schminkens und Abschminkens überführt diesen Vorgang in einen nicht abschließbaren, unendlichen Prozess. Während der Aktion scheint sich Nauman in einem Spiegel oder – was bei einer Videoaufnahme näher liegt – auf einem Monitor, der die Aufnahme im ›ClosedCircuit-Verfahren‹ zeitgleich sichtbar macht, zu beobachten. So wird die Aufnahme bildintern reflektiert zu einem apparativen Spiegel, der den Betrachtern die Aktion seitenverkehrt vor Augen führt. Rosalind Krauss hat die frühen Videos von Bruce Nauman in den 1970er Jahren als narzisstisch beschrieben.24 Was kritisch gemeint war, lässt sich mit Blick auf die Arbeit und die damit einhergehende Reflexionsmöglichkeiten durchaus positiv wenden, denn es geht in Flesh to White to Black to Flesh nicht um ein einfaches Sich-Bespiegeln oder Bemalen des Künstlers, sondern um eine kunst- und medienreflexive Aktion, die apparativ aufgenommen und in ständiger Wiederholung gezeigt, eine ›wirkliche‹ Erfahrung von endloser Dauer und permanenter Repetition ermöglicht und so ein fortschreitendes Reflexionsbild zur historisch neuen Rolle der Kunst bzw. eines Künstlers an der Grenze von Kunst und Nichtkunst, Illusion und deren Offenlegung, ermöglicht. Dass diese Reflexion zugleich, im Kontext einer Kunst, die sich gegen jede über die Faktizität dessen, was ist und wahrgenommen werden kann, hinausreichende Bedeutungszuschreibung abgrenzt, nicht nur die Frage nach einem (Anti)-Illusionstheater berührt, sondern zugleich ein gesellschaftliches Konfliktfeld konnotiert, wird deutlich, wenn man sich die Theaterexperimente im San Francisco der 1960er Jahre vergegenwärtigt. Indem sich Nauman in dieser Arbeit zunächst mit weißer, dann mit schwarzer Theaterschminke einreibt und sich so zunächst in einen weißen, dann in einen schwarzen Ak-
24 Vgl. Rosalind Krauss, »Video: The Aesthetic of Narcissm«, in: New Artists Video. Anthology, hrsg. v. Gregory Battcock, New York 1978, S. 43-64.
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teur verwandelt, spielt er nicht nur auf die Medialität des Schwarz-WeißVideos an; er verweist auf die Darstellungskonventionen von Minstrel Shows, in der Weiße in stereotyper Weise geschminkt Schwarze darstellten. 1965 eskalieren mit der Ermordung von Malcom X in New York und den Rassenunruhen in Watts/Los Angeles mit 35 Toten und 4.000 Verhaftungen die Rassenkonflikte in den USA. Eine Theatertruppe im Umfeld Naumans und William T. Wileys, The San Francisco Mime Troupe, bezog sich 1965 darauf, indem sie mit slapstickartigem Humor die Darstellungskonventionen der rassistischen Minstrel Shows aufgriff und sie invertierte. Mit A Minstrel Show legte The San Francisco Mime Troupe mit schwarz und weiß geschminkten Schauspielern die Rassenstereotype der Show-Branche offen.25 The San Francisco Mime Troupe: Minstrel Show, 1965 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Anders als The San Francisco Mime Troupe legte Nauman die Täuschungen des Illusionstheaters nicht durch groteske Übertreibung bloß, sondern dadurch, dass er das Sich-Schminken und Sich-Abschminken als eine Tätigkeit des in eine Rolle Schlüpfens und wieder Ablegens thematisiert. Dabei nimmt er sich in Flesh to White to Black to Flesh so auf, dass die 25 Für A Minstrel Show drehte Robert Nelson den Film O Dem Watermelon und Steve Reich schrieb eine den Titel aufgreifende repetitive Musik für den Film.
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Aktivität – auch für ihn sichtbar – gleichzeitig gespiegelt sichtbar wird. Auf diese Weise konstruiert er eine inter-subjektive Konstellation, welche die den Rassenkonflikten zugrunde liegende imaginäre Opposition zwar nicht unmittelbar thematisiert, doch das ihr zugrundeliegende narzisstische Spiel mit Differenzen im Akt der Wahrnehmung erfahrbar macht. Jacques Lacan hat aufgezeigt, welche Funktion der Spiegel für die Konstruktion eines imaginären Ich hat und wie sich das Imaginäre anfänglich an das Visuelle und die reale Anwesenheit dessen hält, was wahrgenommen wird. Er hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass imaginäre Beziehungen äußerst prekär sind, da sie alles im Hinblick auf die Opposition ›gleich‹ oder ›verschieden‹ abgleichen, die ›petite différence‹ imaginärer Beziehungen, und auf Ähnlichkeit mit Zuneigung und Identifikation und auf Unterschiede mit Hass und Rivalität antworten. Anders gesagt, es geht in dem Video nicht nur um eine Aktion im Kontext des Neuen Theaters und eine damit gekoppelte Reflexion der im Theater üblichen Rollenstereotype, sondern um eine reale, psycho-physische Erfahrung, die durch die Spiegel-Konstruktion der Aufnahme evoziert wird: die Wirklichkeit einer narzisstisch organisierten Wahrnehmung. Das heißt, dass die von Hal Foster 1986 mit Blick auf die Minimal Art formulierte These: »Bei allem Positivismus in der Minimal Art wird die Wahrnehmung auf sich selbst zurückgeworfen, und dadurch werden die Werke komplex.«26 – angesichts der Arbeiten Naumans weiter gedacht werden muss. Denn indem er die der Wahrnehmung inhärente Dialektik des Blicks und des Begehrens integriert, kehrt nicht nur das von der Minimal Art ausgegrenzte ›Anthropomorphe‹ in der Kunst wieder; deutlich wird darüber hinaus, dass eine Wahrnehmung integrierende und reflektierende Gewalt die positivistische Einstellung der Minimal Art unterläuft und konterkariert.
Z U N AUMANS C ONCRETE T APE R ECORDER P IECE Wie lassen sich diese Überlegungen mit Blick auf eine Arbeit weiterdenken, die mit dem Entzug von Sichtbarkeit arbeitet? 1968 produziert Nauman einen Kubus, den er als Concrete Tape Recorder Piece bezeichnet.
26 Hal Foster, »The Crux of Minimalism / Die Crux des Minimalismus«, in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, S. 592.
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Bruce Nauman: Concrete Tape Recorder Piece, 1968 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Zu sehen ist ein auf dem Boden des Ausstellungsraumes platzierter, aus Beton gegossener Kubus von 30,5 x 61 x 61 cm Größe, der an die minimalistischen Kuben erinnert: an Donald Judds ›Spezifische Objekte‹ und Robert Morris’ ›unitary forms‹. Doch nicht nur der Gebrauch von Beton ist für ein Objekt der Minimal Art ungewöhnlich; auch ein aus dem Betonkubus herausragendes, mit der Stromversorgung verbundenes Elektrokabel durchkreuzt die Vorstellung von einem Kubus’, der als prägnante, auf eine, nur auf sich selbst verweisende Gestalt in Erscheinung tritt. Eine zu der Arbeit gehörende Zeichnung führt eine weitere Differenz ein: Die Kuben von Judd oder Morris waren leer; Naumans Kubus, darauf weist sowohl die Zeichnung als auch eine handschriftliche Notiz auf demselben Blatt hin, birgt einen Kassettenrekorder mit einem Band, das ständig – als Loop – um sich selbst kreist. Laut schriftlichem Kommentar, der zugleich Titel der Arbeit ist, dokumentiert das Band einen Schrei eines Menschen: »tape recorder with a tape loop of a scream wrapped in a / plastic bag and cast into the center of a block of concrete / weight about 650 pounds or 240 kg« (»Tonband mit Loop eines Schreis, in eine Plastiktüte gewickelt und in die Mitte des Betonblocks gegossen, Gewicht etwa 650 Pfund oder 240 kg«).
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Bruce Nauman: Tape recorder with a tape loop of a scream wrapped in a / plastic bag and cast into the center of a block of concrete / weight about 650 pounds of 240 kg, 1968 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Die Vorstellung der Künstler der Minimal Art, ein einfaches Sehobjekt anzubieten, das nichts repräsentiert, sondern nur ist, was es ist, und den Betrachter auf eine entsprechende positivistische Wahrnehmung verpflichtet, wird hier ad absurdum geführt. Für diese Arbeit ist konstitutiv, dass sich etwas sprachlich Bezeichnetes der visuellen Wahrnehmung entzieht. Unsicher bleibt, ob die schriftliche Notiz auf dem Blatt eine Wirklichkeit verbürgt. Dennoch: Was sinnlich nicht verifizierbar, nicht sichtbar und nicht hörbar ist, evoziert dennoch die Vorstellungskraft, modelliert die Wahrnehmung und irritiert auf mehreren Ebenen die scheinbare Faktizität des Sichtbaren. Erneut rückt Nauman mit seinem Kubus eine Gewalt ins Bewusstsein, für die es im Diskurs der Minimal Art keinen Ort gibt und die mit den Mittel visueller Wahrnehmung nicht greifbar ist. Anders als in dem Video Flesh to White to Black to Flesh unterläuft er hier den Wahrnehmungsoptimismus der Minimal Art durch den Entzug von Sichtbarkeit. Auf eine mögliche Wirklichkeit verweist nur eine die Zeichnung ergänzende sprachliche Notiz. Mangel, Entzug, das ist eine Pointe des Aufsatzes von Sigmund Freud, »Jenseits des Lustprinzips«, setzt den ›seelischen Apparat‹ in Gang und
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führt, wie er am Beispiel des ›Fort-Da-Spiel‹ seines Enkels zeigt, zu einer proto-symbolischen Aktivität. In Naumans Arbeit ist es die Spannung, die durch die sprachliche Vergegenwärtigung und die gleichzeitige Verneinung einer im Kunstdiskurs zu erwartenden sichtbaren Präsenz entsteht, mit der das im Diskurs Ausgegrenzte, nicht Sichtbare, ins Bewusstsein gerückt wird. Auf diese Weise wird eine paradoxe Wahrnehmungserfahrung erzeugt, die die positivistische Erkenntnisgewissheit der Minimal-Art-Künstler unterläuft. Die Frage nach sichtbarer Evidenz, nach einer Möglichkeit von Erkenntnis, die nicht nur dem Auge vertraut, reflektiert Nauman nicht nur innerästhetisch. Er bringt die Frage nach der Repräsentation einer traumatisierenden Realität ins Spiel und konterkariert so den auf Faktizität abstellenden, Illusion verneinenden Kunstdiskurs der Minimal Art gerade dort, wo er sich der Frage nach dem Ausschluss bzw. der Darstellbarkeit von Gewalt stellt. Dazu gehört auch die massenmedial vermittelte ›Wirklichkeit‹ des Vietnamkriegs. Nauman stellt sich dieser Fragestellung mit der Gruppe von Arbeiten, in die er sprachliche Zeichen integriert.
RAW/WAR 1968 produziert er die mit Wasserfarbe kolorierte Zeichnung RAW/WAR, die eine Neon-Arbeit aus dem Jahr 1970 antizipiert. Er spielt drei Varianten von Buchstaben- und damit verbunden Bedeutungsverschiebungen durch, die sich durch die farbige Hervorhebung ausgewählter Buchstaben des Wortes ›WAR‹ ergeben. In der ersten Zeile wird das ›R‹ rot gekennzeichnet; in der zweiten Zeile springt das kolorierte ›A‹ hervor. Und in der dritten Zeile ›leuchten‹ im übertragenen Sinn alle drei Buchstaben auf, so dass das Wort ›WAR‹, das allen Zeilen der Bleistiftzeichnung zugrunde lag, in besonderer Weise in Erscheinung tritt. Diagonal gelesen tritt das Wort ›RAW‹ in Erscheinung.
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Bruce Nauman: Raw War, 1968 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Wieder ergänzt er handschriftlich auf der Zeichnung eine Handlungsanweisung: »aufzuhängen, wenn es einen Krieg gibt – / in dieser Größe oder bis zu 6 Fuss lang / Reihenfolge 1 + 2 + 3 + abschalten + 1 + 2 + 3 + abschalten + 1 etc. Ungefähr 1 Sek., Bewegung ½ ½ Sek. Oder ½ Sek. an 1, dann aufleuchten 2, dann abschalten, dann 3 aufleuchten, dann / abschalten und wiederholen etc. / ›Off‹ sollte ungefähr 2 Sekunden oder mehr betragen.«
Zwei Jahre später realisiert er die hier konzipierte Neonarbeit: Raw War, 1970.
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Bruce Nauman. Raw War, 1971 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Raw War, 1971, eine der frühesten Lithografien im Werk des Künstlers, entstand, nachdem Nauman im Medium der Zeichnung und im Rahmen einer Neonarbeit mit dem Palindrom ›RAW WAR‹ Bedeutungsverschiebungen des Wortes ›WAR‹ hin zu ›RAW‹ und zurück durch farbiges Kolorieren von Buchstaben auf dem Blatt und flackerndem Aufleuchten unterschiedlicher Buchstabenfolgen eines Neon-Signs erprobt hatte. Auf einem schwarzgrundigen Blatt lässt er nun die Buchstabenfolgen in einem aus zarten Linien konstruieren, transparent wirkenden Kubus aufscheinen. Er ist so ins Bild gesetzt, dass die Buchstaben den fiktiven Raum diagonal durchlaufen und parallel hintereinander gestaffelt einen aus feinen Linien auf dem flachen Bildträger modellierten stereometrischen Körper ergeben. Auch hier spielt Nauman durch Umkehrungen von Buchstaben vier Varianten der Wortfolgen ›RAW WAR‹ durch. Er dreht die Buchstaben im fiktiven Raum um 180 Grad und um ihre eigene Achse, bringt die im Vordergrund diagonal das Bildfeld durchkreuzende Wortfolge durch eine rotorange-farbige Kolorierung zum Leuchten und lässt die anderen, sich aus Inversionen ergebenen Wörter blasser werden und im schwarzen Grund nahezu verschwinden. Auch wenn er hier mit den Mitteln der zeichnerischen Illusion arbeitet, so wird auch die Zeichnung durch den Einsatz von
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sprachlichen Zeichen durchkreuzt. Wie in den Bildern Magrittes lassen auch hier die hintereinander gestaffelten, zu einem fiktiven, aus Buchstaben konstruiertem Raum aufeinander bezogenen Wörter den alten Raum der Repräsentation aufscheinen und zersetzen ihn zugleich.27 Auch diese Zeichnung lässt sich so als ein Versuch lesen, sich einer im Kunstdiskurs ausgegrenzten Erfahrung, dem Groben und Rohen einer im Krieg aufscheinenden Gewalt, dem Zusammenspiel von ›RAW‹ und ›WAR‹ und somit dem Traumatischen – dem Lacan’schen Realen – zu begegnen. Es wird in ein Sprachspiel verwandelt, das ›RAW‹ und ›WAR‹ als zwei aufeinander bezogene und miteinander verschränkte Ebenen zeigt und in Beziehung setzt. Doch indem Nauman durch anagrammatische Permutationen die Beziehungen von ›RAW‹ und ›WAR‹ nicht arretiert und somit festschreibt, sondern durch ständige Verschiebungen Bedeutungsfunken schlägt, vermag er das Reale zwar nicht einfach in ein Narrativ einzubinden, denn sowohl die mit dem Aufblitzen von roten Buchstaben arbeitende Lithografie als auch die abwechselnd aufflackernden Buchstaben in seiner gleichnamigen Neonarbeit ermöglichen keine abschließende Bedeutungszuweisung; doch er schlägt damit ›schöpferische Funken‹. Oder, um mit den Lacan zitierenden Bruce Fink zu sprechen: »Als Bewegung mit dem Kopf zuerst oder als Präzipitation bricht das Subjekt zwischen zwei Signifikanten hervor, so wie der ›schöpferische Funke der Metapher [...] zwischen zwei Signifikanten [entspringt], deren einer sich dem anderen substituiert hat.‹ Mit anderen Worten, der ›schöpferische Funken der Metapher ist das Subjekt; die Metapher erzeugt das Subjekt. [...] Es gibt keine Metapher ohne subjektive Beteiligung und keine Subjektivierung ohne Metaphernbildung.«28
Vor dem Hintergrund des zuvor skizzierten ästhetischen Programms einer Weiterführung und zugleich Überbietung des Anspruchs, Kunst zu machen, die Wirklichkeit nicht abbildet, sondern der Faktizität dessen, was ist und gesehen werden kann, Raum gewährt, gelingt es Nauman so nicht nur das im Kunstdiskurs Ausgegrenzte zum Moment einer über die Minimal Art hinausweisenden Kunst zu machen; er bietet mit seinen Arbeiten Raum für
27 Vgl. Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, München 1974, S. 31. 28 Bruce Fink, Das Lacansche Subjekt, Wien 1995, S. 99.
» T HE P IECE GOES ON «
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›symbolische Funken‹, die den Wahrnehmungspositivismus der Minimal und die unendliche Repetition seiner Arbeiten durchkreuzen. Dass diese Wiederholungen wie ein »repetitive ›popping‹ of the image«29 wirken, lässt sich im Vergleich mit Andy Warhols Disaster Series zeigen. Hal Foster hat die Katastrophenbilder des Pop-Künstlers in seiner Studie zur Wiederkehr des Realen in der Kunst des ausgehenden 20. Jahrhunderts analysiert.30 Er zeigt, dass diese Bilder – entgegen der üblichen Lesarten der Pop Art, die die Referentialität bzw. Indexikalität der Fotografien thematisieren oder die spektakuläre Repetition postmoderner Simulacra untersuchen – als Bilder eines ›traumatic realism‹ analysierbar sind. Die Wiederholung bereits zuvor massenhaft verbreiteter Medienbilder, so Foster, verweist auf eine melancholische Fixierung an ein Objekt. Deren peinigende Repetition in den Serigrafien Warhols legt er im Sinne Roland Barthes als ›punctum‹31 aus, als ein wiederholtes ›popping‹, das die Betrachter trifft. Auch Naumans Kunst zielt erklärtermaßen daraufhin, dass sie die Betrachter wie ein Schlag trifft.32 Seine Arbeiten handeln nicht von der individuellen Bewältigung von Traumata; sie wirken durch permanente Wiederholung traumatisierend und schlagen zugleich ›Bedeutungsfunken‹. Damit ›schreiben‹ sie der nachminimalistischen Kunst eine Realität ein, die die auf Faktizität zielende Minimal Art ausgeschlossen hat und erweitern so den bis dahin reale Gewalterfahrungen ausgrenzenden Diskurs der USamerikanischen Kunst der 1960er und 1970er Jahre.
29 Vgl. Hal Foster, The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge/Mass., London 1996, S. 127-136, hier: S. 134. 30 Ebd. 31 Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, 2. Auflage. Frankfurt/M. 1986, S. 33-37. 32 Bruce Nauman, »Das Schweigen brechen«, S. 149.
Fremdes Trauma? Der Zweite Weltkrieg in A. L. Kennedys Roman Day K AROLINA J EFTIC
Hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nähern wir uns diesem – wie auch dem Zweiten Weltkrieg – mit grosser Distanz. Die Zeitzeugen des ersten Krieges leben nicht mehr, die des zweiten werden immer weniger. Die Schrecken und Wirrnisse der Weltkriege scheinen uns fremd, kennen wir sie doch meistens nur aus dritter Hand, aus Büchern und Filmen.1 Diese aber zeigen auf, was in der offiziellen Rhetorik – damals wie heute – oft verschwiegen wird: Neben den Toten ließen und lassen Kriege Hunderttausende von Überlebenden zurück, die schwerste traumatische Störungen davongetragen haben. Solche psychisch versehrten Soldaten, die an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, stehen im Mittelpunkt der Romanerzählungen von Pat Barker zum Ersten Weltkrieg und von A. L. Kennedy zum Zweiten Weltkrieg. Die Historikerin und Autorin Pat Barker, geboren 1943, zeigt in ihrer Regeneration-Trilogie2,
1
Zum kulturellen Gedächtnis als Streitfall vgl. Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013.
2
Pat Barker, Regeneration, The Eye in the Door, The Ghost Road, London 1991. Siehe dazu auch Karolina Jeftic, »Der Erste Weltkrieg als Fiktion: Pat Barkers Regeneration-Trilogie«, in: Erinnern und Vergessen. Zur Darstellung von Traumata, hrsg. v. Karolina Jeftic und Jean-Baptiste Joly, Stuttgart 2005, S. 4357. Pat Barkers letztes Buch Toby’s Room (2012) untersucht, welche Rolle die
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fern von Glorifizierungen, den Ersten Weltkrieg in einer Überblendung historischen und fiktiven Geschehens aus der Perspektive der kämpfenden Soldaten. Barkers Romane bilden hier die Folie für A. L. Kennedys Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg. Kennedy teilt mit Pat Barker nicht nur die grosse historische Distanz, sondern auch die Verfahrensweise und die Perspektive.
A. L. K ENNEDY : AUTORIN
DER
E XTREME
Alison Louise Kennedy, Jahrgang 1965, lässt sich als eine Autorin der Extreme beschreiben. Ihre Romane greifen oft menschliche Grenzsituationen auf, ohne dabei effekthascherisch oder voyeuristisch zu werden. Vielmehr verbindet die Schottin minutiöse Psychostudien mit einem durchaus warmherzig zu nennenden Blick auf ihre Charaktere. Im Roman Everything You Need3, der ihr internationale Beachtung einbrachte, beschäftigt sie sich mit einer zerbrochenen Familie. Die Protagonisten, die einzelnen Familienmitglieder, beschreibt sie in ihrer nackten Bedürftigkeit nach emotionaler Nähe und Geborgenheit. Kennedy seziert (Gefühls-)Zustände schonungslos und doch wird ihr Ton dabei nie kalt. Das gilt auch für ihren vier Jahre später erschienen Roman Paradise4. Dieser gibt Einsichten in das Leben einer Alkoholikerin; der Leser wird in Trinkexzesse und Halluzinationen eingebunden. Hier ist man versucht, von Barmherzigkeit als Grundton der Erzählerin zu sprechen, zu deren wichtigsten Techniken der innere Monolog gehört. In ihrem neuestem Roman The Blue Book5 beschäftigt sich Kennedy mit der Hellseherbranche und stellt dabei eine erstaunliche Parallele zu ihrer eigenen Zunft her. Wieder geht es um existentielle Situationen, in denen Menschen ausgeliefert sind – sich selbst und anderen. Nach eigenen Angaben recherchiert die Autorin ihre Themengebiete jahrelang, so dass ihre Romane auch als Milieustudien gelten können.
Kunst im Krieg spielen sollte, wiederum vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs. 3
A. L. Kennedy, Everything You Need, London 2000.
4
A. L. Kennedy, Paradise, London 2004.
5
A. L. Kennedy, The Blue Book, London 2012.
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Ihr Roman Day, der 2007 erschienen ist, scheint auf den ersten Blick eine Ausnahme darzustellen, da er von einem realen historischen Geschehen handelt, dem Zweiten Weltkrieg. Kennedy interessiert sich aber vor allem für die Verwundungen des Einzelnen durch den Krieg. Wieder geht es um Menschen in Extremsituationen, um Charaktere, die auf sich selbst zurückgeworfen sind. Die sehr vielseitige Autorin, die sich auch politisch engagiert, beschreibt ihr Interesse am Krieg selbst so: »Three separate things: I was always interested in aerial bombing and when we started doing it in the current Iraqi war, it only meant this was the time to write about it. I always had an interest in looking at war and the parallels of being on the wrong side and being on the right side.«6 Der neue Krieg im Irak erinnert Kennedy an einen älteren Krieg: den Zweiten Weltkrieg. Haben sich die Briten im Zweiten Weltkrieg verteidigt, so ist ihre Position im Irakkrieg weniger eindeutig. Damit sind wir mittendrin in den komplexen Dichotomien von ›Falsch‹ und ›Richtig‹, von ›Täter‹ und ›Opfer‹, von erlittenen und zugefügten Verletzungen, von traumatischen Erfahrungen, die sich einer klaren Zuordnung entziehen. In Day verkörpert der Protagonist Alfred Day die Widersprüche und Traumata des Krieges. Der Roman spielt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Krieg ist noch dauerpräsent, sei es in Rückblenden oder in den Filmaufnahmen, in denen Alfred mitwirkt, die auch den Krieg zeigen und zudem in Deutschland gedreht werden. Die Schauspieler des Films sind ehemalige Soldaten und Kriegsgefangenen, die in einem ›Camp‹ untergebracht sind. Kennedy schildert in einzelnen Rückblenden auch immer wieder die heimatliche Front in England, wo Alfred eine Affäre mit der Offiziersgattin Joyce beginnt. Der reale Hintergrund des Romans gerät durch den hohen Konstruktionsgrad sehr ins Wanken. Zusätzlich verwirren den Leser innere Monologe, die die Zeitachsen aufheben, so dass sich das Geschehen in einem dauerhaften ›Jetzt‹ präsentiert. Die vier Konstruktionselemente des Romans: der reale Kern, die Erzählzeit des andauernden Jetzt, sowie auch die Fortsetzung der Gewalt an der heimischen Front und die Vermischung der
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Ashley Van Buren, »When Darkness Turns to Day: A. L. Kennedey Talks About the Process of Writing War and Performing Stand-Up Comedy«, in: Huffington Post, 05/07/2008.
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Genres ergeben eine Poetologie des Traumas, die ich im Folgenden ausführen werde.
R EALER K ERN Den realen Kern des Romans bildet die ›Operation Gomorrha‹, die im Juli und August 1943 durchgeführt wurde. Diese Operation bestand in einer Serie von Luftangriffen, befohlen vom britischen Luftmarschall Arthur Harris, Oberbefehlshaber der Britischen Bomber-Command. In der Nacht vom 27. bis 28. Juli 1943 lösten die Angriffe einen Feuersturm im Osten Hamburgs aus, bei dem 35.000 Menschen starben. Dieser Kern, aus dem sich das gesamte (Roman-)Geschehen entfaltet, wird erst am Ende des Buchs erzählt. Das Buch dreht sich in einer Ellipse um einen ausgeblendeten Höhepunkt, auf den sich die Handlung zuspitzt. Alfie Day und seine Crew führen eine Serie Bombardierungen durch, als deren Meisterstück ›Gomorrha‹ gilt, was im folgenden inneren Monolog wiedergegeben wird: »Such a good job you did, such a perfect, perfect job – back over Hamburg and the target indicators had gone down so tight, backed up so tight, and then every stick of bombs – it didn’t seem that anyone could miss, did miss.«7 Als britischer Bomberpilot ist Alfred Täter und Opfer zugleich. Denn sein Meisterstück, die Bombardierung von Hamburg, bedeutet nicht nur für die Stadt ein neues Ausmaß an Zerstörung, sondern auch für ihn selbst: »[…] – a whole new kind of fire – one solid flame that sees you and gives you a name that is no name, no word – christens you outside words. […] This is death. This is the edge of the real face of death, its size – we burned the sky open today and now death will come in. […] It was our ruination.«8 Das Extreme der Gewalt, das bis dahin unvorstellbare Ausmaß der Zerstörung, lassen uns die letzten Bombardierungen von Alfreds Crew als ›impact event‹ im Sinne von Anne Fuchs erkennen.9 Dieses traumatische Ereignis kostet Zehntausende von Opfern das Leben, einschließlich Alfreds Besatzung. Er überlebt, als einziger, gerät jedoch in deutsche Kriegsgefan-
7
Ebd., S. 236.
8
Ebd., S. 236f.
9
Vgl. die Einleitung zu diesem Band, S. 14.
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genschaft. Ein weiteres Element des ›impact events‹ bzw. der Traumatisierung wird in der oben zitierten Passage besonders deutlich: Die Sprachlosigkeit, die Nicht-Darstellbarkeit von Traumata. Sie wird als ein dramatischer Akt der Wiedergeburt ausgedrückt, die zugleich den Tod bedeutet. Bis zum großen Finale existierte Alfred nur als Darsteller seiner selbst – alles erscheint ihm also als enorme Anstrengung, selbst das Atmen: »The trouble was, you had too much to do: breathing, sleeping, waking, eating: you couldn't avoid them, were built to need them, and so they just went on and on.«10 Die Selbstentfremdung wird durch seine Rolle im Kriegsfilm verstärkt. An einer anderen Stelle wird der Autonomieverlust des Subjekts als Verdinglichung beschrieben: »Men who lay in the morning and never rose, men who forgot how to walk, men who slipped at the crack of a bullet, tumbled. Men who were things.«11 Alfred gewinnt mit dem Erzählen seines Traumas an Konturen. Er macht mit der Erzählung im doppelten Sinne als Romangeschehen wie auch als Roman im Ganzen den Schritt vom Imaginären ins Symbolische. Erst so bietet sich die Möglichkeit der Erlösung, die zunächst in weiter Ferne, ja unmöglich, schien. Der mögliche Selbstmord stellt sich für Alfred oft im Laufe der Handlung als der einzige Ausweg dar – immer wieder greift er zu seiner ›Luger‹, einer deutschen Selbstladepistole. Und doch beschert uns Kennedy am Ende des Romans einen versöhnlichen, hoffnungsvollen Ausgang: Alfreds bzw. Alfies Erlösung besteht in seiner Liebe zu Joyce, die er wiedersehen wird.
Z EITSTRUKTUR VON D AY – D AS IMMERWÄHRENDE J ETZT Die Aufhebung der Zeit-Ordnung, die für Traumata charakteristisch ist, wird im Roman zum einen durch seine Erzählstruktur und zum anderen im Plot dargestellt. Genauso wenig wie Alfred Day sich selbst entrinnen kann, entkommt die Erzählung nicht der Vergangenheit. Sie schreitet so auch nicht voran, sondern wird immer wieder zurückgeworfen.
10 A. L. Kennedy, Day, London 2007, S. 2 11 Ebd., S. 58.
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»One afternoon, there’d been this rushing inside his arms and his heart doubling, racketing about – there was no way to misunderstand the terrible life that roared back in. He’d been caught again and no escaping. It all would come for and hurt him and he wouldn’t die, he would only want to and not get his way. He would have to be there, be Alfie Day and feel.«12
Das Gefangensein im eigenen Körper, das das Zitat ausdrückt, ahmt der Text nach. Die Erzählung kippt immer wieder zwischen dem Plot, dem Drehen eines Films über den Krieg und Kriegsgefangenlager, und der Erinnerung an den wirklichen Krieg in inneren Monologen und einer auktorialen Erzählung hin und her. Die Ebene von Realität und Erinnerung bzw. Verdrängung werden immer wieder wechselseitig überschrieben, obwohl die Grenze, der sprichwörtliche Zaun, zwischen beiden ganz klar markiert ist: »The fence itself was quite accurate. [...] Because the camp was winning, beating him again, and the edges of his dreams had dogs in them and they were running closer.«13 Das Bild der Hunde, die immer näher kommen, steht ein für das Einbrechen der traumatischen Erfahrung in die Realität. Die Hunde vermitteln eine konkrete Bedrohung: Der Leser vermutet keine Schosshündchen, sondern gefährliche, grosse Hunde, die das vom Bewusstsein ausgeschlossene traumatische Ereignis verkörpern. In Analogie zu diesem Motiv bricht in die Erzählung vom Filmcamp der erlebte Krieg immer wieder in ›flashbacks‹ ein. Alfred wähnt sich gerade noch in den Aufnahmen und findet sich im nächsten Moment wieder im Krieg, bei seiner Crew in einer Vollmondnacht, die sich nicht für Angriffe eignete: »No wonder you shouldn’t fly when she was full – and not only because she’d light you up just as clearly as the target.«14 Die nicht-lineare Erzählweise entspricht der Erfahrungsperspektive von Traumatisierten, die nicht zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem unterscheiden können. In der Aussparung des ›impact events‹ bis zum dramatischen Finale ahmt der Text zudem die Latenzphase von traumatischer Erfahrung nach. Roman und die Hauptfigur verkörpern das immerwährende Jetzt des Traumas, was nicht zuletzt auch in der
12 Ebd., S. 62. 13 Ebd., S. 36. 14 Ebd., S. 37.
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Namensgleichheit von Figur ›Alfred Day‹ und Roman Day offensichtlich wird. Der Plot, das Drehen eines Films über ein Kriegsgefangenenlager, entspricht einem ›Reenactment‹ erfahrener Traumatisierung. Ehemalige Kriegsgefangene stellen Kriegsgefangene dar – Alfred Day verkörpert Alfred Day. Diese Doppelung stellt nicht nur die oben beschriebene Entfremdung des Subjekts von sich selbst dar, sondern bringt dem Leser auch das performative Nachstellen von Ereignissen der Vergangenheit mittels ›Reenactment‹15 nahe. Alfred Day leidet nochmals, denn »was richtig wiederholt wird, fühlt sich richtig an, riecht echt und sieht authentisch aus.«16 Die Filmaufnahmen bedeuten für Alfred sowohl Qual wie auch Therapie. Sie konfrontieren ihn mit der Vergangenheit und bereiten dadurch einen Ausweg, denn nur durch die Einbindung des Traumatischen in ein Narrativ, durch die Be- und Verarbeitung des Abgespaltenen, ist eine Therapie überhaupt möglich.17 Kennedy erreicht durch die Rahmenhandlung der Filmaufnahmen nicht nur die Aufhebung der Zeitordnung, sondern auch eine Steigerung der Authentizität und Unmittelbarkeit. Als Leser ist man ganz nah dran an Alfred Day und seinen Erfahrungen – eine Perspektive, die durch die vielen inneren Monologe verstärkt wird. Interessanterweise wird die Rahmenhandlung nie aufgelöst, d. h. wir erfahren nicht, wer genau und zu welchem Zweck diesen Film dreht. Der doppelte Boden des Romans ist also reine ›Technik‹, er bringt die traumatische Zeitstruktur zum Ausdruck und dient der Ausdruckskraft. In seiner Expressivität schliesst sich Day gleichzeitig gut an die früheren Romane Kennedys an.
H EIMISCHE F RONT Wie eingangs bemerkt, interessiert sich Kennedy, wie Pat Barker, ebenfalls für die Geschehnisse an der heimischen Front. Dort wird die Gewalt mit anderen Mitteln ausgeübt und fortgesetzt. Alfreds Vater misshandelt seine
15 Vgl. den Beitrag von Anja Schwarz zum Reenactment als zeitgenössischer Performancepraxis in diesem Band, S. 115-135. 16 A.L. Kennedy, Day, S. 37. 17 Vgl. die Einleitung in diesem Band, S. 14.
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Frau, die während des Krieges stirbt. Es heisst, sie sei von einem Dachziegel erschlagen worden. Alfie macht seinen Vater für den Tod der Mutter verantwortlich und bringt ihn in einem Racheakt um. Zentral ist aber die Liebesgeschichte, die sich in England entspinnt – A. L. Kennedy führt durch diesen Handlungsstrang das Geschehen immer wieder nach Grossbritannien zurück. Alfie Day verliebt sich bei einem Ausgang in die Offiziersgattin Joyce Antrobus. Er selbst stammt wie Pat Barkers Billy Prior aus der ›lower middle class‹. Der Klassenunterschied scheint in Nebensätzen immer wieder durch, so auch bei Alfies Crew, von denen die meisten aus der Oberschicht stammen. Alfie ist sich häufig unsicher, ob er gut genug ist, sei es für seine Geliebte oder für seine Kampfgefährten: »You will always be wrong.«18 Dessen Minderwertigkeitsgefühl liegt auch in seiner Körpergröße begründet: Alfie ist buchstäblich etwas zu kurz geraten. Er lässt sich zudem einen Schnurrbart wachsen. Sein kurzer Steckbrief lautet also: Er ist klein gewachsen, stammt aus der unteren Mittelschicht und trägt einen kurzen Schnurrbart – kurzum er erscheint als Hitlers verzerrtes Spiegelbild, als Wiedergänger auf der anderen Seite. Doch funktioniert diese Spiegelung nicht ganz, sie wird nicht eingelöst, wie ohnehin vieles in diesem Buch ›unerlöst‹ bleibt. Für Alfie gibt es aber letztlich doch noch eine Erlösung: Joyce liebt ihn, was am Ende des Romans deutlich wird. Ihr Ehemann ist als pflegebedürftiger Invalide aus dem Krieg zurückgekehrt. Obwohl es gegen ihre Moralvorstellungen verstößt, will sie ihre Beziehung zu Alfie aufrechterhalten.
V ERMISCHUNG VON G ENRES : D ER R EIZ AM E XPERIMENT Day zeichnet sich durch einen hohen Konstruktionsgrad aus, der sich nicht nur in der Rahmenhandlung der Filmaufnahmen manifestiert. Der Roman setzt verschiedene Erzählstrategien ein: Die auktoriale Erzählhaltung wird mit inneren Monologen sowie Tagebuch- und Briefexzerpten vermischt. Die verschiedenen Darstellungsverfahren werden in der Typografie markiert, so sind beispielsweise innere Monologe kursiv gedruckt oder Briefe
18 Kennedy, Day, S. 43.
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werden in einer ganz anderen Schrift wiedergegeben. In diesen Erzählhaltungen kommen unterschiedliche Perspektiven auf das Kriegsgeschehen zum Ausdruck, so dass nicht nur ein vielstimmiges Bild gezeichnet wird, sondern auch ein Effekt von Nähe gerade erzeugt wird. Obwohl der Text sehr konstruiert ist, stellt er trotzdem oder deswegen die Erfahrbarkeit von Authentizität her. Der Genremix dient also der Differenzierung von Sichtweisen zum einen und der Authentifizierung zum anderen. A. L. Kennedy eignet sich die Vergangenheit an, so dass ihre Erzählung zu einer ›wahren‹ Geschichte wird:. »It was somebody’s true story, anyway, […].«19 Aus der historischen Tatsache des Zweiten Weltkriegs wird eine persönliche Geschichte, die sich so oder ein bisschen anders hätte ereignen können. Das fremde Trauma, fremd weil weder Autorin noch wir als Leser es erfahren haben, wird durch die Geschichte Alfie Days ein Stück weniger fremd. Kennedy ahmt in der Aneignung von historischem Geschehen eine strukturelle Eigenschaft bei der Weitergabe von Traumata nach: »Die traumatische Erfahrung der Eltern werden den Kinder kaum merklich als Fremdes implantiert, sie bilden nun im Kind einen Fremdkörper […]«.20 Der Roman stellt in dieser Lektüreweise den Fremdkörper dar, mit dem uns Kennedy die Schrecken des Zweiten Weltkriegs vergegenwärtigt.
F REMDES T RAUMA? Die beiden Weltkriege rücken uns in den Romanen von A. L. Kennedy und Pat Barker näher, die im Folgenden genauer betrachtet werden. In den Erzählungen beider Autoren treten uns traumatisierte Soldaten gegenüber. Das kollektive Leid der Kriege wird in den dargestellten Traumata der Einzelnen greifbar. Die Romane eröffnen so einen Raum der Erfahrbarkeit, die vor allem der Verständigung darüber dient, was Krieg bedeutet.21 Für Grossbritannien scheinen Romane der Ort zu sein, was Hollywood für die
19 Ebd., S. 179. 20 Matthias Hirsch, Psychoanalytische Traumatologie. Das Trauma in der Familie. Psychoanalytische Theorie und Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen, Stuttgart 2004, S. 60. 21 Vgl. dazu Bernd Hüppauf, Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs, Bielefeld 2013.
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USA bedeutet: »Tatsächlich ist im Laufe des 20. Jahrhunderts Hollywood zu dem [sic] Ort geworden, an dem die amerikanische Kultur über ihre Verstrickung in die traumatische Geschichte des Krieges nachdenkt, [...]«.22 Wie die Filme den authentischen Bericht mit ästhetischer Bearbeitung mischen, verweben Pat Barkers Regeneration Trilogy und A. L. Kennedys Roman Day Historisches mit Fiktivem. Bei Barker erfolgt diese Vermischung vor allem auf der Ebene der Figuren. So kombiniert sie in ihrer Trilogie die Berichte der ›soldier poets‹ des Ersten Weltkriegs, wie die von Siegfried Sassoon, mit erfundenen Figuren und Biografien. Kennedys Roman verdichtet Wahres und Erfundenes auf der Ebene der Handlung: Hier wird um einen realen Kern herum konstruiert und imaginiert. Die Romane bringen uns aber nicht nur die Schrecken des Krieges näher, sondern verhandeln auch nationale Identität neu. Die englische Prosaliteratur hat diese Funktion im späten 20. Jahrhundert mit dem Erstarken des Nationalismus im eigenen Land übernommen. Wenn Silvia Mergenthal in ihrer Studie untersucht, wie ›Englishness‹ bei so unterschiedlichen Autoren wie Graham Swift oder V. S. Naipual konstruiert wird, geht es um eine ›Englishness‹, die durch den Verlust des Empires und den wirtschaftlichen Niedergang gekennzeichnet ist.23 So stellt Mergenthal für den frühen Roman Pat Barkers Union Street eine dem armen Norden Englands verpflichtete Identität fest, die vor allem durch ein antagonistisches Geschlechterverhältnis geprägt ist: »[…] Barker refrains from representing non-working class characters altogether, and focuses on gender relationships within the working class […]«.24 Was bedeuten die Erfahrungen der traumatisierten Soldaten für das Verständnis von ›Great Britain‹? In ihrer Regeneration-Trilogie macht Barker den prägenden Antagonismus nicht mehr in Gruppen aus, d. h. Männer versus Frauen, sondern verlegt die Gespaltenheit in die einzelnen Figuren. Diese Schizophrenie tritt als klinische Diagnose bei der fiktionalen Figur des Billy Priors zutage, während sich die Gespaltenheit bei der histo-
22 Elisabeth Bronfen, Hollywoods Kriege. Geschichte einer Heimsuchung. Aus dem Amerikanischen von Regina Brückner, Frankfurt/M. 2013, S. 9. 23 Silvia Mergenthal, A Fast-Forward Version of England, Constructions of Englishness in Contemporary Fiction, Heidelberg 2003, S. 13. 24 Ebd., S. 99.
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rischen Figur des Militärarztes Rivers nur im Unbewussten, d. h. in Träumen, äußert. Bei Pat Barker wird die Gespaltenheit zur Existenzform. Für A. L. Kennedy scheint dagegen die dauerhafte Durchmischung von Gegenwart und Vergangenheit, Opfer- und Täterperspektive ein prägendes Merkmal für die britische Identität darzustellen. Die traumatischen Kriege durchdringen die Gegenwart, den Alltag. Alfies Filmcamp kann so als Metapher gelesen werden für eine Gegenwart, in der die Rollen von ›Gut‹ und ›Böse‹ austauschbar sind.
Reenactments
Trauma und Abjektes Zur Autotherapie in den Materialaktionen von Otto Muehl G ERALD S CHRÖDER
Nahrungsmitteltest nannte Otto Muehl die Aktion, die er im Februar 1966 in seinem Kelleratelier in Wien durchführte. Sie gehört zu den so genannten Stillleben, die Muehl zwischen 1964 und 1966 in unterschiedlichen Variationen aufgeführt hat. Den Auftakt der Aktion bildete eine Art Tableau vivant, bestehend aus einer großen Platte, die mit weißer Leinwand bezogen war. Otto Muehl, Nahrungsmitteltest, 1966. Fotografie von Ludwig Hoffenreich (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
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An einigen Stellen war die Platte durchlöchert, so dass zwei darunter liegende weibliche Modelle ihre Köpfe sowie ihre nackten Arme und Beine durch die Öffnungen stecken konnten. Von oben betrachtet entstand der erschreckende Eindruck zerstückelter Körper und abgerissener Gliedmaßen, die auf dem Boden verteilt wurden. Mit anderen Worten, das Tableau vivant entpuppte sich als Nature morte, ergänzt durch allerlei Lebensmittel wie Gemüse, Eier, Würste und Marmelade, die dem Vanitas-Aspekt traditioneller Stilllebenmalerei hier eine buchstäbliche Präsenz verliehen. Die eigentliche Aktion bestand darin, dass Muehl die Szene zunehmend mit Farbpulver und weiteren Lebensmitteln beschüttete. Otto Muehl, Nahrungsmitteltest, 1966. Fotografien von Ludwig Hoffenreich (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
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Dabei begann er zunächst mit roter Farbe, die sich vor allem auf die Körperteile konzentrierte. Nachdem er das Tableau mit weiteren kräftigen Farben regelrecht umkreist hatte, fügte er sich selbst in die Szene ein und zwar direkt ins Zentrum, wo ein entsprechendes Loch in der Platte für seinen Kopf freigehalten worden war. Weiß bestäubt begannen sich die Körperglieder zu bewegen und vermengten dadurch die unterschiedlichen Farbbereiche und organischen Substanzen zu einem chaotischen aber durchaus farbenfrohen Bild, das durch seine schmierige Substanz zugleich Ekel provozierte und somit abstoßend wirkte. Verstärkt wurde diese affektive Ambivalenz nicht zuletzt durch die nackten Körperglieder, die zwar ein erschreckendes Assoziationspotential entfalteten, aber nichtsdestotrotz auch erotische Attraktivität besaßen. Im Folgenden möchte ich die These vertreten, dass Otto Muehl mit dieser und anderen seiner Aktionen auf ein traumatisches Erlebnis aus dem Zweiten Weltkrieg Bezug nimmt. Dabei reflektiert er mit dieser Aktion nicht nur den performativen Charakter traumatischer Wiederholung als Reenactment, sondern versucht zugleich, eine Anmutung vom Präsenzcharakter traumatischen Erlebens zu vermitteln, das sich nicht mehr in traditionellen Formen künstlerischer Repräsentation fassen lässt. Darüber hinaus wird deutlich, dass die ursprüngliche Szene traumatischen Erlebens in der Wiederholung ausschließlich als entstellte wiederkehrt. Allerdings versteht Muehl die Art und Weise dieser Entstellung nicht nur als weitere künstlerische Reflexion traumatischen Erlebens, sondern darüber hinaus auch ganz programmatisch als eine Möglichkeit, das Trauma therapeutisch zu bearbeiten. In diesem Zusammenhang ist der Einsatz unterschiedlicher künstlerischer Medien nicht unerheblich. Zwar steht der Live-Charakter der Aktion bei Otto Muehl auch programmatisch im Zentrum seiner künstlerischen Arbeit, doch nutzt er immer wieder auch die technischen Medien Fotografie und Film, deren Funktion gerade im Hinblick auf die therapeutische Bearbeitung des Traumas über das bloß Dokumentarische hinausgeht. Diese These möchte ich nun im Folgenden entfalten und an weiteren künstlerischen Arbeiten anschaulich machen. Dafür ist es sinnvoll, zunächst kurz den künstlerischen Werdegang Otto Muehls zu skizzieren.1 Dieser kann
1
Vgl. Wiener Aktionismus. Wien 1960-1971. Der zertrümmerte Spiegel, hrsg. v. Hubert Klocker, Ausst.-Kat. Graphische Sammlung Albertina, Wien; Museum Ludwig, Köln 1989, Klagenfurt 1989, S. 185-265.
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als Entwicklung weg von der malerischen Repräsentation, hin zur aktionistischen Präsenz beschrieben werden. Insofern ist Muehl Teil einer internationalen Bewegung in der Kunst der 1960er Jahre, die später von der Kunstgeschichte als »Ausstieg aus dem Bild« beschrieben wurde.2 Wichtig für seine künstlerische Entwicklung war die Freundschaft mit Günter Brus und Hermann Nitsch, mithin jenen Künstlern, die sich 1965 zusammen mit Rudolf Schwarzkogler zur ›Wiener Aktionsgruppe‹ zusammenschlossen und nachfolgend als ›Wiener Aktionisten‹ bezeichnet wurden.3 Für die programmatische Ausrichtung der Gruppe war Muehl insofern wichtig, als er sein Interesse für die Kunst von Anfang an mit einer psychotherapeutischen Perspektive verbunden hat. Kennen gelernt hatten sich Günter Brus (Jahrgang 1938) und Otto Muehl (Jahrgang 1925) bereits im Dezember 1960. Trotz des relativ großen Altersunterschieds von dreizehn Jahren sah Muehl den jungen Maler zunächst durchaus als Lehrer an. Denn auch Muehl war zu dieser Zeit noch an Fragestellungen der Malerei interessiert, die bei ihm jedoch eine pädagogische und therapeutische Ausrichtung besaßen. Nach Abschluss seines Lehramtsstudiums in Deutsch und Geschichte hatte sich Muehl 1952 für ein Studium der Kunstpädagogik an der Akademie der bildenden Künste in Wien eingeschrieben.4 Bereits während des Studiums arbeitete er als Zeichenlehrer in einem Therapieheim der Stadt Wien und hatte von 1957-1963 eine Stelle als Zeichentherapeut in einem Heim für ›entwicklungsgeschädigte‹ Kinder inne, das von der Psychoanalytikerin Eva Rosenfeld geleitet wurde.5 Sein
2
Der Begriff »Ausstieg aus dem Bild« wurde von Laszlo Glozer anlässlich der Ausstellung »Westkunst« (1981) in Köln geprägt. Zu diesem Kapitel der Kunstgeschichte siehe v. a. Stefan Germer, »Entzauberung des Außen: Bruchstücke einer Theorie der Überschreitung«, in: Im Blickfeld, Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle, 2, 1997, S. 129-142.
3
Vgl. Peter Gorsen, »Der Wiener Aktionismus: Begriff und Theorie«, in: Kunst in Österreich 1945-1995. Ein Symposion der Hochschule für angewandte Kunst in Wien im April 1995, hrsg. v. Patrick Werkner, Wien 1996, S. 140-154.
4
Vgl. Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus. Wien 1960-1965, Ausst.-Kat. Museum Fridericianum, Kassel; Kunstmuseum Winterthur; Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh 1988/89, Klagenfurt 1988, S. 113.
5
Vgl. Otto Muehl. Leben / Kunst / Werk. Aktion. Utopie. Malerei 1960-2004, hrsg. v. Peter Noever, Ausst.-Kat. MAK Wien, 3. März – 31. Mai 2004, Köln 2004, S. 400.
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Interesse für Psychoanalyse ging in dieser Zeit so weit, dass er sogar eine Analyse bei dem Therapeuten Josef Dvorak begann.6 Hatte Otto Muehl bei seiner ersten Ausstellung in der Galerie Junge Generation im Herbst 1960 noch figurative Arbeiten gezeigt, so hatte die Auseinandersetzung mit der informellen Malerei von Günter Brus mit dazu geführt, dass er ein Jahr später das traditionelle Tafelbild ganz hinter sich ließ und damit noch einen Schritt über die Position seines Freundes hinausging. Bei seiner zweiten Ausstellung in der ›Galerie Junge Generation‹ – einer Gruppenausstellung zusammen mit Adolf Frohner und Hans Niederbacher – zeigte Muehl nämlich im Herbst 1961 erstmals seine so genannten Gerümpelskulpturen.7 Otto Muehl, Destruktion eines weiblichen Körpers, 1964. Fotografie von Siegfried Klein (Khasaq) (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
6
Vgl. Robert Fleck, Die Mühl-Kommune. Freie Sexualität und Aktionismus. Geschichte eines Experiments, Köln 2003, S. 13-14.
7
Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus, 1988, S. 168.
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Diese bestehen aus einzelnen Schrottteilen, die so lange mit Axt und Hacke bearbeitet wurden, bis eine lockere raumgreifende Struktur entstand. In gewisser Weise handelt es sich dabei um eine Übersetzung jenes aggressiven Aktes malerischer Gestaltung, den er bei Brus kennen und schätzen gelernt hatte, in ein dreidimensionales Medium. Als Ergebnis entstand so etwas wie eine ›informelle Skulptur‹. Dass dabei auch die Bekanntschaft mit dem jüngst proklamierten ›Nouveau Réalisme‹ eine Rolle gespielt hat, macht nicht zuletzt die Zusammenarbeit mit Adolf Frohner deutlich, der kurz vor der Ausstellung noch über ein Stipendium in Paris gewesen war, wo er neben Yves Klein auch Arman und Daniel Spoerri kennen gelernt hatte.8 Die dadaistische anti-künstlerische Geste, welche die ›Nouveaux Réalistes‹ ins Poetische wenden wollten, zeigt sich bei Muehl auch in Titeln wie Laokoon oder Dornauszieher, die seine Gerümpelskulpturen als Persiflage berühmter Kunstwerke der Antike ausweisen. Doch schließlich geht es auch ihm um eine neue Form des Realismus. Denn der Akt der Zerstörung des traditionellen Tafelbildes ist nicht nur gegen dessen fiktionalen Status und illusionistische Erscheinung gerichtet, sondern soll zugleich die Materialität des Bildes als solches freisetzen: »In unserer Malerei erkennen wir das Material als den eigentlichen Gegenstand unserer Werke an. Es geht um die Darstellung des Materials, der Materie schlechthin.«9 Beeinflusst von den aktionistischen Arbeiten Hermann Nitschs, den Muehl 1961 kennen gelernt hatte, entwickelte er aus den Gerümpelskulpturen eine performative Form künstlerischer Produktion: Die Materialaktion. Der Herstellungsprozess, der schon bei den Skulpturen wichtig war, rückte nun ins Zentrum seiner Arbeit und war nicht mehr auf ein Werk hin orientiert. An die Stelle harter Eisenelemente traten jetzt weiche Materialien, vorrangig klebrige oder flüssige Lebensmittel wie beispielsweise Marmelade, Eier oder Milch. Auch hier ist der Einfluss von Nitsch nicht zu übersehen, der schon bei seiner ersten Zusammenarbeit mit Frohner und Muehl – der Blutorgel im Sommer 1962 – mit organischen Materialien gearbeitet hatte. Richtete Nitsch seine Gewalt bei dieser und den nachfolgenden Aktionen gegen einen symbolisch hoch besetzten Lammkadaver, der zerrissen und ausgeweidet wurde, so war es bei Muehls Materialaktionen zunächst der Körper einer Frau, der zum Gegenstand analsadistischer Aggressionen wurde. Dabei wurde das nackte
8
Ebd., S. 167f.
9
Ebd., S. 196.
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und völlig passive Modell regelrecht besudelt, indem es mit den genannten Materialien beschmiert und beschüttet wurde. Nicht ohne Grund nannte er seine erste Aktion, die im September 1963 noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit im eigenen Atelier stattfand, Versumpfung einer Venus.10 Schließlich war der Körper der jungen Frau auch für Muehl symbolisch besetzt als Sinnbild idealer Schönheit, das bekanntlich für viele Jahrhunderte den Maßstab für künstlerisches Schaffen abgegeben hatte.11 So kann die Aktion als inszenierter Bruch mit dieser traditionellen Kunstauffassung verstanden werden. Das konventionelle Sinnbild künstlerischer Schönheit wurde hier buchstäblich beschmutzt und aus der distanzierten Sphäre vorbildhafter Idealität ins Profane gerückt. Muehl liefert hier eine ganz neue Interpretation der ›irdischen Venus‹, indem er den Mythos im Sinne einer künstlerischen aber durchaus auch sexuellen Entsublimierung umkehrt. Venus, die aus dem Schaum geboren ihre feste Gestalt erlangte, kehrt zurück in den unförmigen Sumpf und verliert dabei ihre ästhetisch sublimierte Attraktivität. Stattdessen wird sie zum Objekt einer regressiven analsadistischen Lust, welche sich über die durch Erziehung gesetzten Schranken des Ekelgefühls hinwegsetzt. Die kunsthistorisch spezifische Stoßrichtung der Aktion wird jedoch erst vor der Folie der so genannten Anthropometrien deutlich, die Yves Klein seit 1960 herstellte.12 Auch Klein benutzte bekanntlich nackte weibliche Körper als Modelle, die sich auf seine Regieanweisungen hin mit blauer Farbe bestrichen, um dann einen entsprechenden Körperabdruck auf Papier zu hinterlassen. Diese verstand Klein allerdings als Ausdruck einer neuen geistigen Epoche, in welcher die Schwerkraft irdischer Körper letztlich überwunden werden könne. Gegenüber solch einer spirituellen Kunstauffassung erscheint die Aktion von Otto Muehl wie eine bewusste Demontage oder sogar Persiflage. Der von Klein angestrebten Immaterialität setzte er die Schwere und affektive Kraft der materiellen Welt entgegen.
10 Muehl, Leben / Kunst / Werk, S. 69. 11 Vgl. v. a. Faszination Venus. Bilder einer Göttin von Cranach bis Cabanel, hrsg. v. Ekkehard Mai, Ausst.-Kat. Wallraf-Richartz-Museum, Köln 2001, Köln 2000. 12 Silvia Eiblmayr, Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993, S. 65-75. Nicole Root, »Kostbare Körperflüssigkeiten«, in: Yves Klein, hrsg. v. Olivier Berggruen u. a., Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, 17. Sep. 2004 – 9. Jan. 2005, Ostfildern-Ruit 2004, S. 141-145.
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Dass Muehl mit seinen Materialaktionen auch auf ein Kriegstrauma Bezug nimmt, hat er erstmals anlässlich seiner ersten öffentlich durchgeführten Aktion am 14. April 1964 zur Eröffnung des Nachtlokals ›Chattanooga‹ im Zentrum von Wien gegenüber der Kunstkritikerin Hilde Spiel geäußert.13 Auch hier steht wieder die Zurichtung des weiblichen Körpers im Zentrum. Das Model wurde zunächst mit saurer Milch begossen, mit aufgeschlagenen Eiern beschmiert, anschließend in Plastikfolie verpackt und mit Gartenschläuchen gefesselt. Seinen Abschluss fand das makabre Schauspiel darin, dass der Körper schließlich mit Brettern verschalt wurde, so dass der Eindruck eines notdürftig zusammen gezimmerten Sargs entstand, in dem das Gewaltopfer mehr schlecht als recht seine letzte Ruhe fand. Otto Muehl, Turnstunde in Lebensmitteln, 1965. Fotografie von Ludwig Hoffenreich (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
13 Hilde Spiel, »Aus der Tiefe der Zeit. Abwege der Wiener Avantgarde«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. April 1964, S. 32. Vgl. Muehl, Leben / Kunst / Werk, S. 77.
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In ihrer Besprechung der Aktion, die in der Frankfurter Allgemeine Zeitung erschienen ist, bezieht sich Hilde Spiel auf Selbstaussagen des Künstlers: »Als junger Soldat hatte er an der Rundstedt-Offensive teil genommen und von etwa 150 Kameraden alle bis auf dreizehn fallen sehen. Die Erinnerung an den frostigen Wintertag, an dem ihre Leichen, mit Blut und Dreck bedeckt, festgefroren und von Reif überzogen, vor Augen kamen, hat sich in all ihrer ›grausigen Schönheit‹ in ihm festgesetzt.«14
Ohne auf dieses konkrete Erlebnis Bezug zu nehmen, hebt Muehl 1964 auch erstmals die therapeutische Ausrichtung seiner Materialaktionen hervor, wie seine programmatischen Texte aus dieser Zeit belegen: »die materialaktion ist dargestellte malerei. sie ist sichtbar gemachte autotherapie.«15 Ausführlich berichtet der Aktionskünstler von diesen Kriegserlebnissen in seiner Autobiografie Weg aus dem Sumpf (1977). Ein ganzes Kapitel ist hier dem Zweiten Weltkrieg gewidmet, wodurch seine einschneidende Bedeutung für die Biografie dieser Generation exemplarisch unterstrichen wird. Muehl wurde 1943 mit achtzehn Jahren zur Deutschen Wehrmacht eingezogen. Vor allem die Ereignisse während der Ardennenoffensive am 24. Dezember 1944 haben sich tief in sein Gedächtnis eingegraben: »es bot sich mir ein bild wie in der grottenbahn. zahlreiche tote, festgefroren und vom schnee überlagert. ein wintermärchen, schön und grausig. da kniete einer, eine telefonkabelrolle am rücken, er kniete an einem baum aufrecht und starrte glasig vor sich hin. viele lagen hier beinhart gefroren in stellungen, in denen sie der tod überrascht hatte. plötzlich bemerkte ich einen kopf ohne körper vor mir liegen. mich erschreckte nichts mehr, abgerissene hände und füsse, zerrissene und aufgerissene körper, gefrorenes blut und fleisch, kitschig auf weisser unterlage präsentiert, ein grausiges arrangement für den heldentod. dieser verzauberte böse hexenwald in rot und weiss war das faszinierendste kunsterlebnis, das ich je hatte und haben sollte. Dieser tote, halbverschneite krieger, der, in voller ausrüstung, mit durchschlagenem stahlhelm eine föhre umarmte, war ein denkmal von nicht überbietbarem wahnsinn.«16
14 Ebd. 15 Ebd., S. 55. 16 Muehl, Weg aus dem Sumpf, 1977, S. 109f.
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Muehl deutet in diesem Zusammenhang die traumatische Qualität seiner Erlebnisse an, die er zwar registriert habe, doch ohne sie letztlich in seinen psychischen Haushalt integrieren zu können.17 Bestärkt wurde die Abspaltung des traumatischen Schreckens auch durch die gesellschaftliche Ausblendung der unmittelbaren Vergangenheit nach 1945: »es war einfach erstaunlich, alle taten nun so, als ob nichts geschehen war. […] niemand dachte daran, aus dem geschehen nur irgendeine konsequenz zu ziehen. man machte genau dort weiter, wo die wirklichkeit ausgesetzt hatte.«18 Erst die Aktionskunst habe ihm eine Möglichkeit geboten, sich mit den traumatischen Kriegserlebnissen auseinanderzusetzen: »später nach 20 jahren versuchte ich solche und ähnliche erlebnisse in meinen aktionen aufzuarbeiten, statt blut nahm ich marmelade und himbeersaft, für aufgerissene wunden verwendete ich teig und aufgeschlagene hühnereier und creme und für den schnee setzte ich weizenmehl ein.«19 Noch deutlicher als bei der Aktion Destruktion eines weiblichen Körpers im Nachtlokal ›Chattanooga‹ wird die Inszenierung der traumatischen Kriegsszene in der eingangs beschriebenen Aktion Nahrungsmitteltest. Geradezu gespenstisch kehren hier die zerstückelten Körper wieder, die zwischen ›Tableau vivant‹ und ›Nature morte‹ changieren. Auch atmosphärisch wird hier auf die Kriegsszene angespielt, indem die Körper durch rote Farbe wie blutverschmiert erscheinen und das weiße Pulver an Raureif oder Schnee erinnert. Dementsprechend kann die Aktion also als künstlerische Inszenierung einer traumatischen Wiederholung beschrieben werden: Nachträglich kehrt das traumatische Kriegserlebnis wie ein isoliertes Bild – völlig aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst – wieder und erscheint dabei merkwürdig verschoben und entstellt. Vor allem irritiert die Sexualisierung der traumatischen Szene. Muehl wählte bewusst keine männlichen Modelle, die den getöteten Soldaten viel eher entsprochen
17 »mit 19 jahren war ich gezwungen, diese erlebnisse in meinem hirn zu speichern. ich war damals nicht in der lage, irgendeine antwort darauf zu geben, weder negativ noch positiv. nur mein körper wehrte sich dagegen, und mein hirn folgte widerwillig. […] somit kann ich sagen, dass ich die chaotik und sinnlosigkeit dieser kriegserlebnisse erst nach 25 jahren in ihrer vollen gesellschaftlichen bedeutung begriffen habe.« Ebd., S. 111. 18 Ebd., S. 117. 19 Ebd., S. 111.
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hätten, sondern junge Frauen, die einem männlichen heterosexuellen Blick begehrenswert erscheinen mussten, ihn aber zugleich auch abstoßen konnten, weil sie zerstückelt und beschmutzt in Szene gesetzt wurden. Gerade durch die sexuelle Aufladung gewinnt die künstlerische Inszenierung einer traumatischen Vergangenheit noch eine weitere psychische Konnotation. In Verbindung mit der traumatischen Szene wird das Weibliche selbst als Bedrohung inszeniert. Klaus Theweleit hat dargelegt, wie das Weibliche gerade für den Typus des soldatischen Mannes im Nationalsozialismus zur Gefahr werden musste, weil es nicht nur ganz allgemein mit Natur und Nahrung in Verbindung gebracht wurde, sondern speziell mit allem Flüssigen und Schmierigen, das die klar geschiedenen Substanzen miteinander vermischt.20 Als Bedrohung wurde dieser weiblich konnotierte Aggregatzustand deshalb empfunden, weil er den klar konturierten Körperpanzer als Idealbild des soldatischen Mannes radikal in Frage stellte. Dabei kam die Gefahr aber nur vordergründig von außen, wie Theweleit unterstreicht. Denn die Angst vor der Frau, die mit patriarchalen Formen von Gewalt und Unterdrückung einhergeht, sei letztlich eine Angst vor den Fluten des eigenen Unbewussten und seiner Wunschproduktion: »Wir haben gesehen, dass die fließfähigen vermischten Substanzen wie Sumpf, Schlamm etc. regelmäßig verwendet werden, um etwas anderes zu bezeichnen. […] Ich habe zu zeigen versucht, wie sehr ihr Auftreten sich auf die Körper der betroffenen Männer bezieht: fast könnte man sagen, diese Substanzen und Zustände hätten gar keinen anderen Bezugspunkt als den soldatisch-aufrechten Körper. […] Auch hier also erscheint das Fließfähige, Vermischte unter den Aspekten von Schmutz und Strafe und Weibertum, oder schlimmer: Unmännlichkeit.«21
In gewisser Weise können die erwähnten Aktionen von Otto Muehl als künstlerische Inszenierung dieses psychischen Dramas verstanden werden. So erscheint die Destruktion eines weiblichen Körpers als krasse Bloßstellung männlicher Gewalt und macht damit die sadistische Abwehr des Weiblichen deutlich. Beim Nahrungsmitteltest wird das hierarchische Machtverhältnis zwischen Mann und Frau jedoch nivelliert. Zwar tritt der Künstler auch hier zunächst als Akteur auf, der die Frauenkörper in seinem
20 Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1, Frankfurt/M., 1978. 21 Ebd., S. 425-427.
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Sinne ›zurichtet‹, doch fügt er sich schließlich selbst in diese Szene ein und erscheint ebenso zerstückelt sowie beschmiert und verschmutzt. Wie schon bei der Aktion Versumpfung einer Venus, sind es aber auch hier zunächst die Frauenkörper, die – ganz im Sinne der Thesen von Klaus Theweleit – gerade vom männlichen Akteur mit schmierigen organischen Substanzen in Verbindung gebracht werden und durch ihre Bewegungen die getrennt voneinander aufgetragenen Farbpartikel miteinander vermischen. Den sadistischen Affekt gegen das Weibliche, der sich auch in anderen Aktionen und Bildern von Muehl zeigt, beschreibt er selbst in seiner bereits erwähnten Autobiografie rückblickend als ›symbolischen Muttermord‹.22 In diesem Sinne kann auch bereits die erste seiner Aktionen interpretiert werden, die er im Sommer 1963 beim ›Fest des psychophysischen Naturalismus‹ durchführen wollte, jedoch wegen des Polizeieinsatzes nach dem Aktionsteil von Hermann Nitsch nicht mehr durchführen konnte.23 Geplant war der Fenstersturz einer mit Lebensmitteln gefüllten Küchenkredenz aus dem vierten Stock, deren Trümmer auf der Straße noch weiter zerhackt werden sollten. Auch hier ging es also bereits um die symbolische Zerstörung der mütterlichen Welt, in deren Zentrum traditioneller Weise die Küche als Ort der Ernährung steht. Dabei ist der von Muehl so genannte ›symbolische Muttermord‹ durchaus ambivalent. Zwar richtet sich die inszenierte Aggression ganz offensichtlich gegen die mütterliche Welt und den weiblichen Körper, doch wird gerade dadurch auch der ›mütterliche Körper‹ im Sinne der psychoanalytischen Theorie von Julia Kristeva erst in Szene gesetzt. Gemeint ist damit freilich nicht der empirische Körper der Mutter, sondern seine psychische Repräsentanz als Inbegriff der Lust (›jouissance‹) und des Abjekten zugleich. In ihrer Studie Pouvoirs de l’Horreur. Essais sur l’abjection hat Kristeva die ursprüngliche Mutter-Kind-Dyade als ›absoluten Ort‹ beschrieben, der eine Quelle grenzenloser Lust darstellt, die jegliches spätere Begehren des Subjekts (›désir‹) und seine Möglichkeit, Befriedigung zu finden, übersteigt.24 Doch um Subjekt mit einem eigenen abgegrenzten
22 Muehl, Weg aus dem Sumpf, S. 151. 23 Vgl. Muehl, Leben / Kunst / Werk, S. 66. 24 Vgl. Julia Kristeva, Powers of Horror. An Essay on Abjection (1980), New York 1982. Siehe auch Anja Zimmermann, Skandalöse Bilder. Skandalöse Körper. Abjekt Art vom Surrealismus bis zu den Culture Wars, Berlin 2001.
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Körper werden zu können, muss der mütterliche Körper als Bereich des Ungeschiedenen verworfen werden: »Ein (narzißtisches) ›Subjekt‹ mit einem ›corps propre‹, einem eigenen und reinen Körper, gibt es nur, sobald und sofern der mütterliche Körper mit seiner ungeschiedenen Ökonomie der Flüssigkeiten und der rhythmischen Triebregungen als das die eigenen Grenzen Bedrohende und Unreine verworfen wird.«25
Als solcher – eben als Verworfenes oder Abjektes – kehrt der verdrängte mütterliche Körper jedoch wieder, was sich vor allem im Affekt des Ekels als körperlicher Abwehrreaktion des Subjekts zeigt, die besonders von schmierigen, klebrigen oder sich auflösenden Substanzen ausgelöst wird. Kristeva sieht gerade in der Kunst eine Möglichkeit, den Ekel vor dem Abjekten zu überwinden, um sich dem lustvollen Ort des mütterlichen Körpers wieder anzunähern, ohne dabei die psychische Integrität des Selbst zu gefährden. Denn in der Kunst erscheint das Abjekte gleichsam distanziert und abgeschwächt, weil es in die Ordnung des Symbolischen eingeschrieben ist. In diesem Sinne kann die Aktion Nahrungsmitteltest auch als künstlerische Annäherung an das Abjekte des mütterlichen Körpers beschrieben werden. Die aggressive Verwerfung des mütterlichen Körpers wird hier ebenso inszeniert wie seine Wiederkehr als verekeltes Objekt und Ort einer spielerisch ausgelebten anal-sadistischen Lust, die sich über die zunächst gesetzten Ekelschranken hinwegsetzt. Ermöglicht wird diese Annäherung durch Momente ästhetischer Reflexion, die das Abjekte auf Distanz halten und an kunsthistorisch tradierte Muster anbinden. In diesem Zusammenhang spielen nicht nur die ironisch gebrochenen Verweise auf die Tradition der Stilllebenmalerei eine Rolle. Denn die Aktion erinnert auch an das malerische Verfahren Jackson Pollocks. Wie dieser bearbeitet Muehl seine großformatige Leinwand am Boden und arrangiert von allen vier Seiten eine chaotisch anmutende polyfokale Bildstruktur. Doch im Unterschied zu Pollock zielt seine Aktion nicht mehr auf ein Tafelbild und verleiht der rein optischen Präsenz der Bilder Pollocks eine materielle Qualität, die – wie
25 Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt/M. 1999, S. 524.
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gesehen – stark sexuell und psychisch aufgeladen ist.26 Muehls Aktion unterscheidet sich schließlich auch von jener Meret Oppenheims, die erstmals 1956 in Bern aufgeführt und dann drei Jahre später in Paris noch einmal wiederholt wurde anlässlich der Exposition Internationale du Surréalisme in der ›Galerie Cordier‹.27 Auch Oppenheim hatte hier einen nackten weiblichen Körper mit Lebensmitteln arrangiert. Dieser wurde dann als Festmahl auf einer mit Tellern und Besteck gedeckten Tafel serviert. Durch eine direkte Partizipation des Publikums, das hier am Tisch zum Essen Platz nehmen sollte, lotete Oppenheim nicht nur die als Tabu gesetzte Grenze zwischen zulässiger Nahrung und verbotenem menschlichen Körper aus, sondern reizte auch die Fantasie der Gäste, mehr noch: genau diese Grenze durchaus im Sinne der literarischen Fantasien de Sades zu überschreiten. Muehl hingegen inszeniert die weiblichen Körper – wie erwähnt – als abjekt und attraktiv zugleich. Und vor allem bringt er den verworfenen und zugleich lustvollen ›mütterlichen Körper‹ in Zusammenhang mit seinem Kriegstrauma. Wie lässt sich dies verstehen? Zunächst mag dies auf den prinzipiellen Zusammenhang von Abjektem und Traumatischem verweisen, den Winfried Menninghaus als komplementäres Verhältnis beschrieben hat: »Als Grenzen sprengende ›jouissance‹ einerseits, als überwältigende Leidenserfahrung andererseits stellen das Abjekte und das Traumatische so zwei komplementäre Transzendenzen des Symbolischen und darin zugleich zwei Weisen der ›Wahrheit‹ und des ›Realen‹ dar.«28 Seine spezifische Bedeutung gewinnt dieser Zusammenhang bei Muehl aber dadurch, dass die Annäherung an den mütterlichen Körper auch als Therapeutikum des Traumas verstanden werden kann. Bezeichnet er die Materialaktion programmatisch als Autotherapie, so mag dies mit der affektiven Umkodierung der traumatischen Kriegsszene zu tun haben. Das Bild tödlichen Schreckens wird zwar aufgerufen, doch scheint es sich in ein Bild spielerisch ausgelebter, polymorph perverser Lust zu verwandeln. An die
26 Dass die Bilder Jackson Pollocks auch von anderen Künstlern in den 1960er Jahren entgegen der Thesen Clement Greenbergs durchaus sexuell interpretiert wurden, unterstreicht Rosalind Krauss, The Optical Unconscious, Cambridge/ Mass. und London 1993, S. 243-320. 27 Vgl. Pierre Restany, »Achte Internationale Ausstellung des Surrealismus«, in: Das Kunstwerk, 8, 1960, S. 33f. 28 Menninghaus, Ekel, S. 558.
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Stelle fest gefrorener Soldatenkörper, die das nationalsozialistische Ideal gestählter Körper in seiner lebensfeindlichen Instrumentalisierung regelrecht zur Kenntlichkeit entstellen, treten bei der Aktion weibliche Körper, die im Kontakt mit den verwendeten Materialien ihre festen Grenzen verlieren und weich oder sogar verflüssigt wirken. In diesem Zusammenhang ist auch die Verwendung von Lebens-Mitteln durchaus emphatisch zu verstehen als Versuch, den traumatischen Anblick des Todes durch ein Bild voller Leben und Lust zu ersetzen. Die Annäherung an den mütterlichen Körper als Ort der Lust bildet ein Gegenmittel vor allem zur Verhärtung des Körperpanzers gerade des soldatischen Mannes. Klaus Theweleit bringt die Genese des soldatischen Körpers, der im Nationalsozialismus solch eine zentrale Rolle spielte, nicht zuletzt mit der strengen Erziehung vor allem zur Reinlichkeit des Kleinkindes in Zusammenhang. Weil das Kind dadurch keine eigenen lustvoll besetzten Körpergrenzen ausbilden kann, kommt es zum Phänomen der Panzerung des eigenen Körpers durch äußere Instanzen: »Die ungenügende Erotisierung der Körperoberfläche durch mangelnde Zuwendung zum Kleinkind […] bezeichnet eine neue Phase in dem Prozeß der ›Panzerung‹ des Körpers […]. Es entsteht ein Körper ohne Gefühl seiner psychischen Grenzen; die eigene Peripherie wird nicht oder nur teilweise und unsicher besetzt. Die Grenze, die die Körper dennoch bekommen, wird von außen gezogen, von den Drillinstanzen der imperialistischen Gesellschaft. Das ist der Grund dafür, daß jede Art von Grenzziehungen so sehr im Zentrum faschistischer Propaganda und gesellschaftlicher Praxis steht.«29
Vor diesem theoretischen Hintergrund, der zentrale Diskussionen der so genannten ›68er-Generation‹ über die Genese des Faschismus noch einmal zusammenfasst, erscheinen die Materialaktionen von Otto Muehl als autotherapeutischer Versuch, über die Annäherung an den ›mütterlichen Körper‹ fremdbestimmte und verhärtete Körpergrenzen aufzulösen, die vor allem für den Typus des soldatischen Mannes symptomatisch sind. Dabei zielt der therapeutische Anspruch schließlich über die eigene Biografie hinaus, wenn Muehl als Künstler auch öffentlich auftritt und gleichsam
29 Theweleit, Männerphantasien, S. 435.
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stellvertretend und sinnbildhaft für seine Generation agiert.30 Die künstlerisch inszenierte Wiederkehr der traumatischen Kriegsszene ist eben nicht nur ein therapeutischer Versuch, das psychisch und gesellschaftspolitisch Abgespaltene wieder zu integrieren, sondern zielt außerdem darauf, die Ursachen zu bekämpfen, die zu dieser historischen Szene geführt haben. Die Materialaktionen erscheinen somit als Abrechnung mit dem Ideal des soldatischen Mannes. Wenn man so möchte, strebt Muehl demgegenüber eine Verweiblichung des Mannes an, wie er in seiner Autobiografie ausdrücklich betont: »ich wollte stark, beherrscht, konsequent und streng sein, so wie mein vater, und dadurch meine minderwertigkeit überdecken. aber gerade in einem solchen männlichen verhalten drückt sich die minderwertigkeit und bewusstlosigkeit aus. ich wollte ein held sein. aber heute möchte ich lieber wie eine frau sein.«31
Dass sich Otto Muehl mit seiner Kunst immer wieder um eine sinnbildliche Verflüssigung und Auflösung des soldatischen Körperpanzers bemüht hat, wird noch deutlicher in jenen Aktionen, die mit einem männlichen Modell durchgeführt wurden wie Bodybuilding oder Turnstunde in Lebensmitteln. Die Aktionen fanden im Mai und Juni 1965 statt und folgten direkt aufeinander.32
30 In einem späteren Interview spricht Muehl ganz allgemein von »Kunst als Therapie fürs Volk.« Danièle Roussel, Der Wiener Aktionismus und die Österreicher. Gespräche, Klagenfurt 1995, S. 42. 31 Muehl, Weg aus dem Sumpf, S. 66. Zur problematischen Betrachtung des Geschlechterverhältnisses in Muehls Kunst siehe Peter Weibel, »Das Regime der Repräsentation. Geschlecht und Gewalt in Otto Muehls Arbeiten auf Papier«, in: Otto Muehl. Arbeiten auf Papier aus den 60er Jahren, Ausst.-Kat. Portikus, Frankfurt/M., 16. Juni – 12. Juli 1992, Frankfurt/M. 1992, S. 31-42. 32 Vgl. Muehl. Leben / Kunst / Werk, S. 109-117. Zur Aktion Bodybuilding vgl. auch Stephen Barber, The Art of Destruction. The Films of the Vienna Action Group, New York 2004, S. 93-98.
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Otto Muehl, Wehrertüchtigung, 1967. Kader aus dem Film von Kurt Kren (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Otto Muehl, Bodybuilding, 1965. Fotografie von Ludwig Hoffenreich (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
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Auch inhaltlich gleichen sich die beiden Aktionen, bei denen das nackte Modell, das sich durch einen eher athletischen Körperbau auszeichnet, einige Turnübungen mit Expander, Ball oder Seilen vorführte und dabei mit Farbe, Marmelade und Mehl beworfen wurde. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass der männliche Körper bei der Aktion Bodybuilding von Muehl alleine bearbeitet wurde, während bei der nachfolgenden Aktion auch das Publikum aktiv daran beteiligt war. In einer spielerischen Art und Weise wurde das Publikum dadurch einerseits mit eigenen aggressiven Trieben konfrontiert, die lustvoll auf die Verdinglichung eines anderen menschlichen Körpers zielen. Andererseits trug das Publikum jedoch mit dazu bei, dass sich das Körperbild des Mannes zunehmend veränderte. Dabei erschien er nicht nur verschmutzt, sondern verlor auch seinen Muskelpanzer, dessen Konturen immer stärker verwischt wurden und dessen Härte durch weiche und schmierige Materialien regelrecht aufgelöst wurde. Dass die Stählung des männlichen Körpers durch sportliche Übungen durchaus im Zusammenhang mit seiner Instrumentalisierung im Krieg gesehen werden kann, macht die Aktion Wehrertüchtigung vom Juni 1967 noch deutlicher.33 Bei dieser Aktion, die im Hinblick auf einen Film konzipiert worden war, ließ der Künstler gleich vier männliche Akteure zusammen auftreten und reihte sich schließlich selber in die Gruppe mit ein. Gemeinschaftlich durchgeführte Kniebeuge sowie weitere Übungen, zu denen auch der Stechschritt und das Salutieren gehören, lassen die Aktion als Persiflage des Militärs erscheinen. Durch die körperliche Nähe, die eine offensiv dargestellte Homoerotik einschließt, wird die homosoziale Struktur militärischer Männerbünde kritisch bloßgestellt. Auch bei dieser Aktion wurden die Körper, die bis auf ihre kurzen Hosen nackt waren, wieder zunehmend mit Farbe, Saft und Eiern sowie Teig und Marmelade beschmiert, so dass sie immer flüssiger erschienen. Schließlich macht die Aktion Vietnam-Party vom Juli 1966 deutlich, dass sich die Verflüssigung und Auflösung des soldatischen Körpers nicht nur vor dem Hintergrund traumatischer Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg vollzog, sondern mit dem Vietnamkrieg auch einen aktuellen Anlass besaß.34 Gerade durch die medial vermittelte Gegenwart des Vietnamkriegs konnte auch der selbst erlebte Schrecken im längst vergangenen Krieg
33 Vgl. Muehl. Leben / Kunst / Werk, S. 141-144. 34 Ebd., S. 130-132.
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nachträglich als traumatische Szene wiederkehren. Durchgeführt hat Muehl die Aktion zusammen mit Günter Brus. Sie ist damit Teil einer intensiven Zusammenarbeit der beiden Künstler im Sommer 1966. Programmatisch sprechen beide dabei von »Totalaktion« und meinen damit eine »synthese zwischen der materialaktion otto muehls und der selbstverstümmelung von günter brus.«35 Und in der Tat ist die Verschnürung und Beschüttung eines weiblichen Modells durch Otto Muehl ebenso Teil der Aktion wie die Selbstbemalung mit weißer Farbe durch Günter Brus. Wie schon bei der Turnstunde in Lebensmitteln wird auch hier das geladene Publikum aktiv mit einbezogen. In der Einladung wurde ausdrücklich zur Kostümierung aufgefordert gemäß der Devise: »Wir sind Krüppel.«36 Außerdem wurde empfohlen: »pro person 2 kg mehl zum anrühren des großen vietkongteigbottichs mitzunehmen und verschiedene lebensmittel, die sich für die künstlerische darstellung von folter und grausamkeit eignen: topfen, kakaopulver, konfitüre und säfte aller art (in feldflaschen).«37 Zum Einsatz kamen diese Materialien vor allem bei der Aktionssequenz, als Brus und Muehl aufeinander zurobbten und somit zwei verfeindeten Soldaten glichen, die sich auf einem imaginären Schlachtfeld treffen. Dabei beschütteten sie sich schließlich nicht nur gegenseitig mit Weizenmehl, sondern wurden eben auch vom Publikum mit den mitgebrachten Lebensmitteln beworfen. Mag der Titel der Aktion zunächst zynisch klingen und die spielerische und durchaus lustvolle Darstellung schmerzhafter Kriegsverletzungen irritieren, so scheint es doch auch hier um eine künstlerische Annäherung an den Schrecken des Krieges zu gehen, der seine Aktualität nicht verloren hat. Nicht ohne eine Portion schwarzen Humors wird der Krieg als burleskes Schauspiel inszeniert, das den realen Schmerz im grotesk entstellten Körper zwar aufscheinen lässt, dabei aber zugleich – im Sinne einer karnevalesken Umkehrung – auf Distanz hält.38 Verstand Otto Muehl seine Materialaktionen programmatisch als Autotherapie, so zeigen jedoch nicht zuletzt Aktionen wie die Vietnam-Party, dass er zunehmend darum bemüht war, seine Aktionen zu einer Art Grup-
35 Ebd., S. 129. 36 Ebd., S. 132. 37 Ebd. 38 Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1965). Frankfurt/M. 1995.
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pentherapie zu erweitern. Selbst wenn das Publikum nicht direkt partizipierte, stellt sich abschließend die Frage nach den besonderen Rezeptionsweisen solcher Live-Aktionen gerade im Unterschied zu anderen Aktionen von Otto Muehl, die – wie beispielsweise der eingangs beschriebene Nahrungsmitteltest – unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, jedoch später als Foto und Film rezipiert werden konnten. Diese technischen Medien besaßen für Muehl eine untergeordnete Funktion und dienten erklärtermaßen dazu, seine Aktionen zu dokumentieren. Schließlich ging es bei seinen Aktionen ja gerade darum, den traditionellen Repräsentationsstatus von Bildern zu zerstören zugunsten einer besonderen Präsenzqualität, die sich durch körperlich und mithin unmittelbar spürbare Affekte wie Lust oder Ekel einstellen sollte. Diese Präsenzqualität sollte schließlich nicht nur von den Akteuren empfunden werden, sondern auch vom Rezipienten der Aktion.39 Selbst wenn er nicht direkt am Geschehen beteiligt und durch Partizipation zum Mitakteur wurde, sollte durch die Affektübertragung von Körper zu Körper ein höherer Grad an Intensität emotionalen Erlebens erreicht werden als dies über herkömmliche Repräsentationsmedien der Fall ist. Durch die Intensität der provozierten Affekte sollte eine kontemplative Kunstrezeption in der Tradition eines ›interesselosen Wohlgefallens‹ vermieden werden. Dabei kann die Verschränkung der gegensätzlich ausgerichteten Affekte wie Lust und Ekel, die zugleich Anziehung und Abstoßung provozieren, dem Rezipienten durchaus eine emotionale Anmutung der traumatischen Qualität der dargestellten Szene vermitteln. So wird das Trauma im künstlerisch vermittelten Ekel als ›unclaimed experience‹ spürbar, mithin als Erfahrung, die vom Rezipienten nicht gewünscht ist und als deren Adressat er sich zunächst auch gar nicht empfindet.40 Im Ekel wird die psychische Dimension traumatischer Erfahrung gleichsam körperlich spürbar, weil der Rezipient hier ungewollt mit etwas konfrontiert wird, was seine körperliche Integrität bedroht und das er sich demzufolge vom Leibe halten möchte. Der Ekel verweist hier letztlich auf die Gefahr, vom Trauma
39 Zur Relevanz des Präsenzcharakters in den Aktionen des Wiener Aktionismus siehe umfassend Oliver Jahraus, Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewusstseins, München 2001. 40 Vgl. Cathy Caruth, Unclaimed Experience: Trauma, Narrative, and History, Baltimore u. a. 1996. Zur Kritik an Caruth siehe Ruth Leys, Trauma. A Genealogy, Chicago 2000.
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des Anderen gleichsam angesteckt zu werden. Dabei signalisiert die gleichwohl empfundene Lust, die sich gerade im Durchbrechen der Ekelschranke einstellen soll, eine therapeutisch verstandene Annäherung an das Abgespaltene. Was in der traumatischen Erfahrung zunächst Jenseits des Lustprinzips wiederkehrt, soll schließlich wieder in den psychischen Haushalt integriert werden und damit seinen unkontrollierten Schrecken verlieren. Erklärtes Ziel der Materialaktionen ist es, durch die therapeutische Bearbeitung traumatischen Schreckens neue Lust am Leben zu wecken. Was ändert sich nun aber bei der Rezeption, wenn die Aktion wie beim Nahrungsmitteltest über Fotografie und Film vermittelt wird? Gerade im Hinblick auf die künstlerische Reflexion und Bearbeitung traumatischen Erlebens fällt auf, dass die fotografischen und filmischen Bilder – entgegen den Selbstaussagen Otto Muehls – über eine bloß dokumentarische Funktion hinausgehen.41 Dies wird deutlich bei den schon gezeigten Fotografien, die Ludwig Hoffenreich von der Aktion Nahrungsmitteltest gemacht hat. Denn aufgrund der Besonderheit des Mediums sind die Fotos zwar indexikalisch, mithin wie eine Spur mit der Präsenz der Aktion verbunden. Jedoch zeigen sie jeweils nur einen Schnitt durch Raum und Zeit und eben nicht den szenischen Zusammenhang der Aktion, ihre zeitliche Entfaltung und ihren räumlichen Kontext.42 Doch gerade weil die Fotos nur einen begrenzten räumlichen Ausschnitt zeigen, was durch die Nahaufnahmen von Ludwig Hoffenreich noch verstärkt wird, kann sich unsere Fantasie viel stärker an dem entzünden, was nicht gezeigt wird. Durch ihre medial bedingte Ausschnitthaftigkeit reflektieren die Fotos also in einem noch präziseren Sinn die Wiederkehr des traumatischen Ereignisses als isoliertes Bild, das aus dem größeren Zusammenhang der Ereignisstruktur herausgelöst ist. Darüber hinaus mag der stärkere Appell an unsere Fantasie darauf
41 Zur Rolle der Fotografie im Wiener Aktionismus generell siehe Peter Weibel, »Die Frage der Fotografie im Wiener Aktionismus als die Frage nach Autor und Autonomie in der Fotografie«, in: Fotogeschichte, 21, 1986, S. 52-53. Peter Gorsen, »Wiener Aktionismus und Fotografie«, in: Camera Austria, 45, 1993, S. 50-51. Wieder abgedruckt in: Wiener Aktionismus. Sammlung Hummel. Wien, hrsg. v. Julius Hummel, Mailand 2004, S. 114-118. 42 Vgl. Philippe Dubois, Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv (1983), hrsg. und mit einem Vorwort versehen v. Herta Wolf, Amsterdam, Dresden 1998.
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aufmerksam machen, dass das traumatische Ereignis nicht immer in seiner bloßen Faktizität wiederholt, sondern eben auch durch Fantasien bearbeitet wird. Insofern ist es oft schwierig, die Wahrheit eines traumatischen Ereignisses zu rekonstruieren, ausgehend von den Inhalten der traumatischen Wiederholung.43 Doch bieten die Fotografien nicht nur eine weitere Möglichkeit, die Strukturen traumatischen Erlebens zu reflektieren. Denn sie können auch als Teil der von Otto Muehl avisierten therapeutischen Funktion seiner Kunst verstanden werden. Bieten sie doch einen Zugang zum traumatischen Schrecken, der sich hier nur noch als Spur zeigt und damit auch in notwendiger Distanz, um nicht mehr lebensbedrohlich zu wirken. In gewisser Weise fungieren die Fotos somit als Schirm vor dem Realen des Traumas.44 Zusätzliche Distanz schafft dabei auch die ästhetische Dimension der Fotos. Wie beobachtet, spielte diese bereits bei den Aktionen mit ihren Anspielungen auf diverse Positionen der Kunstgeschichte eine wichtige Rolle. Bei den Fotografien wird die Möglichkeit ästhetischer Reflexion noch verstärkt, was nicht zuletzt ganz generell mit ihrem Bildstatus zu tun hat und im Besonderen mit ihrer koloristischen Qualität, die den fantasierten Schrecken auf der inhaltlichen Ebene immer wieder konterkariert durch ein farbenfrohes Spiel auf der formalen Ebene des Bildes. Auch der Film reflektiert noch einmal auf seine spezifische Art und Weise den traumatischen Schrecken, wie ich abschließend kurz zeigen möchte. Dies ist in besonderem Maße der Fall bei den Filmen, die Kurt Kren von einigen Aktionen Otto Muehls gemacht hat.45 Bekannt geworden war Kren durch seine Technik des Kurzschnitts, die durch Montage weniger oder sogar einzelner Kader mit der gewohnten Illusion eines kontinuierlichen Bewegungsablaufs radikal bricht und traditionelle Formen filmischer Narration außer Kraft setzt.46 Vor allem die frühen Filme wurden oft nach einem mathematisch strukturierten Kaderplan geschnitten und montiert,
43 Vgl. Leys, Trauma, S. 266-297. 44 Vgl. Slavoj Žižek, Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, hrsg. v. Michael Wetzel, Köln 1993. 45 Gerald Schröder, »Kurt Kren filmt Günter Brus. Zur medialen Dekonstruktion des Wiener Aktionismus«, in: Schnitt. Das Filmmagazin, 32, 2003, S. 12-14. 46 Vgl. Ex Underground Kurt Kren. Seine Filme, hrsg. v. Hans Scheugl, Wien 1996. Kurt Kren. Das Unbehagen am Film, hrsg. v. Thomas Trummer, Wien 2006.
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was bei ihrer Betrachtung zu einem gleichsam musikalischen Bildrhythmus führt. Damit unterstreicht Kren gleich in doppelter Hinsicht seinen selbstreferentiellen Umgang mit dem Medium Film: Indem er seine frühen Filme vom Einzelkader ausgehend aufbaut, macht er einerseits auf das fotografische Substrat des Mediums aufmerksam. Andererseits reflektiert er durch den häufigen Schnitt die spezifische Zeitlichkeit des Films, die nicht an die Wahrnehmung kontinuierlicher Bewegung gebunden ist. Doch thematisieren die frühen Filme von Kurt Kren nicht nur ihre eigene Medialität, sondern nutzen die spezifischen Qualitäten des Mediums, um psychische Zustände existentieller Bedrohung zu visualisieren, wie in 1/57 Versuch mit synthetischem Ton, in dem das Bild einer näher rückenden Mauer in Parallelmontage mit dem irritierenden Blick in einen Revolverlauf abwechselt. Im Film 5/62 Fenstergucker, Abfall etc. nutzt Kren Schnitttechnik und Montage, um einen kritischen Blick auf die österreichische Gesellschaft der Nachkriegszeit zu werfen. So wird der Blick älterer Wiener Bürger aus ihren Wohnungsfenstern zum einen als voyeuristisch bloßgestellt, indem er mit Bildern von Passanten auf der Straße konfrontiert wird, deren Körper durch Detailaufnahmen von Hand, Gesäß und Fuß eine erotische Aufladung im Sinne libidinös besetzter Partialobjekte erfahren. Zum anderen verweisen Bilder von Abfall und Aas in diesem Zusammenhang auf die abwertende und ausgrenzende Kraft ihrer Blicke, denen das Andere als Verworfenes erscheint. Kren bringt die Macht solcher Blickregime nach eigenen Aussagen mit dem Verhalten der Wiener Bevölkerung während des Austrofaschismus und der nationalsozialistischen Besatzung in Zusammenhang. Gesellschaftskritisches Potential, psychologische Tiefendimension und eine selbstreflexive Kunstsprache waren die verbindenden Momente, die eine Zusammenarbeit Kurt Krens mit Otto Muehl beförderten. Dass bereits Krens besondere Filmsprache eine traumatische Dimension besitzt, kann mit der Begrifflichkeit Jacques Lacans umrissen werden. In diesem Zusammenhang bietet sich der Begriff der ›suture‹ als Instrument der Analyse an, dessen zentrale Bedeutung für die Psychoanalyse Mitte der 1960er Jahre zunächst von Jacques-Alain Miller – einem Schüler Lacans – herausgestellt wurde.47 Im Anschluss daran hat Jean-Pierre Oudart diesen Begriff
47 Jacques Alain Miller, »Suture. Elements of the Logic of the Signifier«, in: Screen, 18, 4, 1977/1978, S. 24-34. Zur Geschichte des Begriffs vgl. Stephen Heath, Questions of Cinema, London 1981, S. 76-112. Silvia Eiblmayr, »Suture
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bekanntlich für die Filmtheorie fruchtbar gemacht.48 Versteht Miller ›suture‹ als Naht oder Versteppung der ursprünglichen Kluft, die das Subjekt vom Anderen als der Instanz des sprachlich strukturierten Symbolischen trennt, so beschreibt Oudart diese Naht als Verbindung zwischen der Sprache des Films und dem Betrachter. So wie die Sprache beispielsweise mit dem Wort ›Ich‹ einen Signifikanten zur Verfügung stellt, der es dem Subjekt erlaubt, sich in das Symbolische einzuschreiben und damit den Riss zu verdecken, der eigentlich zwischen dem Subjekt und der Sprache als Sprache des Anderen besteht, so existieren auch in der Sprache des Films diverse Techniken, die dem Betrachter zur Identifikation mit dem Filmgeschehen dienen. Durch Kameraführung und Montage kann der Betrachter beispielsweise zeitweilig den Blick eines Filmsubjekts einnehmen und wird dadurch direkt in das Filmgeschehen eingebunden: Die ursprüngliche Trennung zwischen Betrachter und Filmsprache wird also im Sinne der ›suture‹ versteppt. Damit wird die ›suture‹ aber zum Charakteristikum einer gängigen und weit verbreiteten Filmsprache, die letztlich darauf angelegt ist, eine Kontinuität innerhalb der Signifikantenkette des Films zu schaffen, so dass der Betrachter in den Fluss der Erzählung eingebunden bleibt.49 Im Unterschied zur üblichen Filmerzählung zeichnen sich die Filme Kurt Krens nun gerade dadurch aus, dass die ›suture‹ aufgelöst wird. Und diese Auflösung kann im Sinne Lacans als Einbruch des Realen in das Symbolische und damit als Sinnbild einer traumatischen Erfahrung aufgefasst werden.50 An die Stelle einer kontinuierlichen Filmerzählung, die dem Betrachter Möglichkeiten der Identifikation bietet, tritt bei Kren eine Filmsprache, die durch Risse, Sprünge und Lücken bestimmt ist sowie durch Beschleunigungen, welche die Wahrnehmung überfordern und den Betrachter regel-
– Phantasmen der Vollkommenheit«, in: Suture – Phantasmen der Vollkommenheit, hrsg. v. Silvia Eiblmayr, Ausst.-Kat. Salzburger Kunstverein, 20. April – 29. Mai 1994, Salzburg 1994, S. 40-47; Katharina Sykora, Unheimliche Paarungen. Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie, Köln 1999, S. 58-62. 48 Jean-Pierre Oudart, »Cinema and Suture«, in: Screen, 18, 4, 1977/1978, S. 3547. 49 Heath, Questions of Cinema, S. 97. 50 Jacques Lacan, Die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI (1964), Olten und Freiburg 1978, S. 59-66.
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recht ausschließen. Gerade weil die spezifische Grammatik des Films durch die besondere Schnitttechnik im Modus eines selbstreflexiven Verfahrens freigelegt wird, erscheint die Sprache des Films gleichsam als Sprache des Anderen, die keine Einschreibung oder Identifikation des Subjekts mehr zulässt. Dadurch wird der ursprüngliche Riss zwischen dem Subjekt und dem Symbolischen sichtbar und als Schock auch emotional spürbar: Das Reale dieser ursprünglichen Kluft manifestiert sich für das Subjekt als Zusammenbruch der symbolischen Ordnung, mit anderen Worten als Trauma, das jedoch auch im Film wie in der Fotografie medial auf Distanz gehalten wird.
A Study on Memory Erinnerung und Trauma in Rod Dickinsons The Milgram-Re-enactment1 A NJA S CHWARZ
Besucher des ›Centre for Contemporary Art‹ in Glasgow sahen sich im Februar 2002 mit dem detailgetreuen Nachbau eines jener Labors konfrontiert, in denen der Psychologe Stanley Milgram in den frühen 1960er Jahren Experimente für seine umstrittene Obedience to Authority-Studie durchgeführt hatte.2 Die Ausstattung eines Containers im Ausstellungsraum mit zeitgenössischem technischen Gerät und Büromobiliar sowie die Protokollformulare und Schreibutensilien auf den Arbeitstischen vermittelten den Eindruck, Milgram und seine Versuchspersonen hätten den Raum erst kürzlich während einer laufenden Versuchsreihe verlassen. Der exakte Nachbau des Labors war Teil eines Ausstellungsprojekts des britischen Künstlers Rod Dickinson, der in dieser Kulisse am 15. und 17. Februar 2002 Experimente aus Milgrams kontroverser Versuchsreihe von Schauspielern nachstellen ließ. Auf Grundlage von Protokollen und Videoaufzeichnungen der Originalstudie wiederholte die Performance noch einmal 1
The Milgram Re-enactment hat Rod Dickinson 2002 gemeinsam mit Graeme
2
Eine Beschreibung der Performance und umfangreiches Begleitmaterial findet
Edler und Steve Rushton realisiert. sich in The Milgram Re-enactment. Essays on Rod Dickinson’s Re-enactment of Stanley Milgram’s Obedience to Authority Experiment, hrsg. v. Steve Rushton, Maastricht 2003.
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jene Experimentreihe, mit der der Psychologe 40 Jahre zuvor hatte ermitteln wollen, bis zu welcher Grenze Menschen bereit waren, den Anweisungen einer Autorität zu folgen und dabei in Kauf nahmen, andere möglicherweise tödlich zu verletzen. Im Rahmen von Milgrams Untersuchungen waren die Testpersonen aufgefordert worden, anderen Menschen starke Schmerzen zuzufügen. Auf diese Anweisung waren sie keinesfalls vorbereitet. Vielmehr hatten die Studienteilnehmer sich auf eine Anzeige hin gemeldet, die Probanden für ein Gedächtnisexperiment – ›a study on memory‹ – gesucht hatte und eine Aufwandsentschädigung von 4 Dollar plus Fahrtkosten versprochen hatte. Ihnen war vor Ort erklärt worden, dass die Studie zum Ziel habe, herauszufinden, ob und inwiefern körperliche Bestrafung sich positiv auf den Lernprozess auswirke. Die in der Versuchsanordnung als ›Lehrer‹ bezeichneten Freiwilligen wurden dann instruiert, sogenannte ›Schüler‹ mit fortlaufend stärker werdenden Elektroschocks zu bestrafen, wenn sie bestimmte Wortsequenzen nicht wiederholen konnten. Die ›Lehrer‹ folgten den Anweisungen und unterlagen damit einer Täuschung. Denn tatsächlich war die Maschine, die diese Schocks verabreichen sollte, eine Attrappe, und die vermeintlichen Schüler waren von Milgrams Forschergruppe rekrutiert worden. Ziel der Versuchsreihe war es daher auch nicht, etwas über den Zusammenhang von Schmerz und menschlichem Kurzzeitgedächtnis herauszufinden. Vielmehr ging es darum, zu untersuchen, bis zu welchem Punkt sich die Versuchspersonen von der wissenschaftlichen Autorität des Versuchsleiters dazu bewegen ließen, immer stärkere Stromstöße zu verabreichen. Die Ergebnisse Milgrams sind genauso bekannt wie umstritten: 65% der Teilnehmer verabreichten vermeintliche Stromstöße bis zum tödlichen Level von 450 Volt. Die von Rod Dickinson gemeinsam mit Graeme Edler und Steve Rushton organisierte Performance im Februar 2002 wiederholte dieses Originalexperiment bis ins kleinste Detail: Schauspieler waren engagiert worden, um die Rolle der als Lehrer agierenden Versuchspersonen einzunehmen. Sie gaben deren in den Protokollen aufgezeichnete Äußerungen wortgetreu wieder und spielten die ebenfalls dokumentierte Mimik und Gestik exakt nach. Andere Schauspieler übernahmen die Rolle der von Milgram rekrutierten Darsteller der Schüler und des anweisenden Wissenschaftlers. Sie wiederholten ihre schon im Originalexperiment immer gleich bleibenden Äußerungen, mit denen Milgrams Team jede der Versuchspersonen konfrontiert hatte. Die Vorführung stellte die Experimente mit acht Probanden
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nach und rief – bei einer von Wiederholungen geprägten Gesamtlänge von dreieinhalb Stunden – keinesfalls uneingeschränkte Begeisterung unter den Galeriebesuchern hervor, die den Zuschauerraum in dieser Zeit nicht verlassen durften. Rod Dickinson in Zusammenarbeit mit Graeme Edler und Steve Rushton: The Milgram Re-enactment, Aufnahmen der 3 Stunden, 45 Minuten dauernden Performance, © 2002 Rod Dickinson, Graeme Edler, Seve Rushton
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Installation von The Milgram Re-enactment in der Ausstellung ›History will repeat itself‹, Kunst-Werke, Berlin 2007-2008
Seit der Jahrtausendwende prägen Reenactments wie das hier beschriebene Projekt von Rod Dickinson vermehrt die Kunst-, Performance- und Theaterszene. Der vorliegende Aufsatz möchte dieses Format vorstellen und in den Kontext von sich wandelnden Formen des kulturellen Gedächtnisses stellen. Dickinsons Wiederaufführung von Milgrams Experiment erscheint vor diesem Hintergrund als Versuch einer performativen Annäherung an medial vermittelte historische Traumata.
R EENACTMENTS : E INE ANNÄHERUNG DIFFUSE P ERFORMANCEPRAXIS
AN EINE
Der Begriff ›Reenactment‹ bezeichnet das performative Nachstellen von Ereignissen der Vergangenheit. Bis vor kurzem wurden damit im anglophonen Sprachraum fast ausschließlich von offizieller Seite inszenierte Geschichtsdarstellungen zu historischen Jahrestagen – beispielsweise dem Jubiläum der ›Entdeckung‹ Australiens durch James Cook – oder aber das Nachstellen vergangener Schlachten durch Hobbyisten bezeichnet, das sich seit den 1960er Jahren immer größerer Beliebtheit erfreut. Wie Ulf Otto zusammenfassend beschreibt, geht diese populärkulturelle Praxis auf ein bestimmtes Ereignis in den Südstaaten der USA zurück: »Im Juli 1961 fand dort [in Manassas, Virginia; A.S.] anlässlich der Hundertjahrfeier des Amerikanischen Bürgerkrieges das Reenactment der Battle of Bull Run statt, das als Gründungsszene und Initialzündung des Hobbys gehandelt wird. Von einem
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General im Ruhestand mit 2.500 Teilnehmern inszeniert, ließ es den Bürgerkrieg für zwei Tage vor 500.000 Zuschauern vor Ort wieder auferstehen.«3
Seit der Jahrtausendwende gewinnt nun diese Form des Umgangs mit der Vergangenheit in populären, pädagogischen, medialen und künstlerischen Kontexten an Bedeutung. Sogenannte Geschichtsdarsteller werden vermehrt als ›Living Historians‹ in die pädagogische Arbeit von Museen eingebunden;4 Fernsehsender versetzen ausgewählte Zuschauer wahlweise in die Steinzeit, auf ein Auswandererschiff des 19. Jahrhunderts oder ein Mecklenburgisches Landgut der 1920er Jahre, wo sie unter wissenschaftlich gewährleisteten Bedingungen die Vergangenheit am eigenen Leib erfahren dürfen;5 die Völkerschlacht von Leipzig wird von 6.000 historischen Darstellern wiederholt, und der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) berichtet in einem an die gegenwärtige Kriegsberichterstattung aus Syrien oder Afghanistan erinnernden Medienformat von dem Ereignis;6 eine Gruppe von Zeitgeschichtlern entwickelt eine Performance-Trilogie zur ›Erfindung und Vernichtung des Untermenschen‹, in der sie Konferenzprotokolle zum organisierten Mord an Juden, Slawen, Sinti und Roma durch NS-Deutschland in verteilten Rollen vortragen;7 Dokumentarfilmer bedienen sich dieses Mittels, um sich historischer Traumata auf neue Weise zu nähern – eine Genealogie, die sich von Claude Lanzmanns Shoah (1985)
3
Ulf Otto, »Die Macht der Toten als das Leben der Bilder. Praktiken des Reenactments in Kunst und Kultur«, in: Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, hrsg. v. Jens Roselt und Christel Weiler, Bielefeld 2011, S. 185-201, hier: S. 188.
4
Andreas Sturm, »Quo vadis Living History? Auf der Suche nach dem richtigen Umgang mit Geschichte als Erlebniswelt«, in: Vermittlung von Vergangenheit. Gelebte Geschichte als Dialog von Wissenschaft Darstellung und Rezeption, hrsg. v. DASV e. V., Weinstadt 2011, S. 27-40.
5
Es handelt sich um die Programme Steinzeit. Das Experiment (SWS 2006), Windstärke 8. Das Auswandererschiff 1855 (ARD 2005) und Sommerfrische 1927 (ARD 2005).
6
Eine Website des MDR archiviert Sequenzen der ausgestrahlten Sendungen: http://www.mdr.de/voelkerschlacht/index.html.
7
Historikerlabor. Forschen, Darstellen, Erinnern. Siehe: .
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über Rithy Panhs S-21. La machine de mort Khmère rouge (2003) bis hin zu Joshua Oppenheimers jüngster mehrfach ausgezeichneter Dokumentation The Act of Killing (2013) ziehen lässt. Im Kunstfeld schließlich stellt Turner-Preisträger Jeremy Deller mit The Battle of Orgreave (2001) die gewaltsame Niederschlagung eines Bergarbeiter-Streiks der 1980er Jahre nach, und der Theatermacher Milo Rau lässt mit Hate Radio (2011) eine Radiostation wieder auferstehen, die eine maßgebliche Rolle im ruandischen Völkermord gespielt hatte. Über diese Beispiele hinaus sind ›Reenactments‹ zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion in den Geschichts-, Kultur- und Medienwissenschaften. Schnell wird bei einer solchen, relativ beliebigen Auflistung deutlich, dass sich die unterschiedlichen Praktiken, die mit dem Begriff ›Reenactment‹ bezeichnet werden, »kaum sinnvoll einem Genre subsumieren lassen«8, zu sehr unterscheiden sich Inhalt und Form, Publikum und Zielsetzung der Formate voneinander. Für den Versuch eines systematischen Zugangs zu diesem Feld erscheint es jedoch wenig sinnvoll, wie von Inke Arns vorgeschlagen, eine kategoriale Unterscheidung in populärkulturelle und künstlerische ›Reenactments‹ vorzunehmen. Arns, die mit der von ihr kuratierten Gruppenausstellung History will Repeat Itself (2007/2008) künstlerische ›Reenactments‹ erstmals einer größeren deutschen Öffentlichkeit vorgestellt hatte, argumentiert, dass es in populärkulturellen ›Reenactments‹ »um ein Sich-WegImaginieren in eine andere Zeit geht, die nichts (oder wenig) mit der Gegenwart zu tun hat, darum, mal eine ganz andere Rolle zu spielen, die nichts (oder wenig) mit der eigenen Realität zu tun hat«.9 Künstlerische ›Reenactments‹, so Arns, bezweckten das genaue Gegenteil. Sie wiederholten »solche (durchaus traumatischen) Ereignisse […], die als bedeutsam für die Gegenwart erachtet werden. […] [Es sind] Befragungen der Gegenwart mittels des Rückgriffs auf historische Ereignisse, die sich dem kollektiven Gedächtnis unwiderruflich eingeschrieben haben.«10 Angesichts der Breite des Feldes ist die von Arns vorgeschlagene Systematisierung jedoch nicht aufrecht zu erhalten. Die Herstellung eines Gegenwartsbezugs ist schließlich einer der Grund-
8
Otto, »Die Macht der Toten«, S. 187.
9
Inke Arns, »Strategien des Reenactment.« In: History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, hrsg. v. Inke Arns und Gaby Horn, Frankfurt/M. 2007, 38-62, hier: S. 41.
10 Ebd., S. 42.
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sätze der gegenwärtigen Museumspädagogik, und auch die Berichterstattung des MDR zum 200. Jahrestag der Völkerschlacht war grundsätzlich darauf ausgerichtet, sowohl inhaltlich als auch visuell eine Beziehung zwischen vergangenen Gräuel und den Kriegsschauplätzen der Gegenwart zu etablieren. Darüber hinaus widmen sich populärkulturelle ›Reenactments‹ vermehrt Ereignissen einer jüngeren Vergangenheit, deren Verhältnis zur Gegenwart nicht anders als traumatisch bezeichnet werden kann. So wirbt das Imperial War Museum in London beispielsweise mit einer ›Trench‹ bzw. ›Blitz Experience‹, die Besucher dazu einlädt, diese Ereignisse noch einmal nachzuempfinden, und im Sommer 2010 stellten polnische Überlebende und ihre Angehörigen die erste Deportation von Gefangenen nach Auschwitz zum 70. Jahrestag des Ereignisses nach.11 Wenn es somit nicht gelingen kann, klare taxonomische Unterscheidungen zwischen einzelnen Formen des ›Reenactments‹ einzuführen, so ist sehr wohl ein systematisierender Zugang zum Feld möglich, der auf bestimmte Gemeinsamkeiten abhebt, von denen vier hier kurz vorgestellt werden sollen: 1.
Negation der Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Während die klare Trennung von Vergangenheit und Gegenwart eines der Grundprinzipien der Moderne ist, wird diese Unterscheidung im ›Reenactment‹ performativ aufgehoben. Rod Dickinson stellt in Bezug auf The Milgram Re-enactment heraus: »My aim was to literally re-animate the archive; live, in real time and real space.«12 ›Reenactments‹ sind somit charakterisiert durch eine besondere zeitliche Logik, die das Handeln in der Gegenwart an Abläufen der Vergangenheit orientiert, die nun ein weiteres Mal ausgeführt werden. Wie der britische Künstler und Autor Tom McCarthy in einem Kommentar zu Dickinsons Arbeit herausstellt: »[Y]ou’re doing something while
11 Hillel Fendel, »Poles Mark 70th Anniversary of First-Ever Auschwitz Transport«, unter: . Zum populärkulturellen Reenactment in Polen siehe: Tomasz Szlendak (u.a.), Dziedzictwo w akcji. Rekonstrukcja historyczna jako sposób uczestnictwa w kulturze, Warszawa 2012. 12 Rod Dickinson zitiert in: Ali MacGilp, »Interview with Rod Dickinson. The Milgram Reenactment (2002)«, in: Artvehicle 47 (2010). Vgl.: .
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2.
3.
4.
you’re simultaneously not ›doing‹ it, but rather citing, quoting, laying down a ›marker‹ for another event that this one isn’t.«13 Zwar hat dieser zitierende Zugang zur Vergangenheit eine postmoderne Note, es fehlt dem ›Reenactment‹ jedoch an spielerischer Distanz. Die Wiederaufführung des Vergangenen erfolgt ohne die für die Postmoderne charakteristische ironische Brechung. Streben nach Authentizität: Dickinsons akribischer Nachbau von Milgrams Laborräumen war nicht allein seinem Interesse an dokumentaristischen Verfahren geschuldet. Vielmehr findet sein Vorgehen eine populärkulturelle Entsprechung in den Praktiken von Hobbyisten, die mit großem Aufwand historische Ereignisse nachstellen – möglichst am Originalschauplatz und mit einer Ausstattung, die den Vorbildern der Vergangenheit so nah wie möglich kommt. In ihren Darstellungen soll durch Kleidung, Ausrüstung, Gestus und Sprache eine größtmögliche Authentizität erreicht werden, die im Idealfall so etwas wie einen ›Period Rush‹ erzeugt: die Erfahrung einer als authentisch wahrgenommenen historischen Situation, die vergessen lässt, dass das, was erlebt wird, nur Wiederholung ist.14 Eine körperbezogene Epistemologie: Der ›Period Rush‹, der dem Teilnehmer eines ›Reenactments‹ vermittelt, dass es nur so und nicht anders gewesen sein kann, erschließt sich nicht rational, sondern vermittelt sich auf Grundlage einer Sinneserfahrung. Was richtig wiederholt wird, fühlt sich richtig an, riecht echt und sieht authentisch aus. Medialität: Der vermeintlichen Vergangenheitsvergessenheit des ›Reenactments‹ steht entgegen, dass »meist irgendwo eine Kamera steht, die das Ganze erst zu dem werden lässt, was es ist.«15 Neben der zentralen Rolle körperlicher Erfahrungen erlangen ›Reenactments‹ ihre Beweiskraft häufig erst im Abgleich der Archivbilder von damals mit den visuellen Eindrücken ihrer Wiederaufführung. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass ›Reenactments‹ vor dem Hintergrund einer sich verändernden Konstitution des kulturellen Gedächtnisses zu verstehen
13 Tom McCarthy, »Invoking the Invocation«, urprünglich unter: . 14 Vanessa Agnew, »Introduction: What Is Reenactment?«, in: Criticism 46/3 (2004): S. 327-339, hier: S. 330. 15 Otto: »Die Macht der Toten«, S. 187.
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sind, das zunehmend visuell kodiert ist. Arbeiten von Künstlern wie Rod Dickinson bauen genau auf diese »trancehafte[ ] Eigengesetzlichkeit kultureller Bilder und Szenen« auf, so Milo Rau. Sie thematisieren deren »gespenstische[ ] Kraft, sich uns unauslöschlich einzuprägen und jenseits aller Verarbeitung weiterzuleben.«16 ›Reenactments‹ scheinen somit besonders geeignet dafür zu sein, Ereignisse, die immer schon medial vermittelt waren, oder um die sich in besonderer Weise Medienbilder angelagert haben, noch einmal mit Leben zu füllen. So werden die meisten der Glasgower Galeriebesucher die Studie Milgrams gekannt haben, die sie sich nun noch einmal anschauten – wenn auch nicht in dieser Detailgenauigkeit. Was ist es also, das die Wiederholung von bereits Bekanntem (vielleicht allzu Bekanntem) zu einem Faszinosum macht? Bevor wir uns wieder dem Milgram Reenactment zuwenden, soll mit Pia Lindmans New York Times Project ein weiteres künstlerisches ›Reenactment-Projekt‹ vorgestellt und ein erster Antwortversuch auf diese Frage unternommen werden.
P IA L INDMANS N EW Y ORK T IMES P ROJECT – E INE W IEDERANEIGNUNG Ein Jahr nach den Anschlägen des 11. Septembers begann die Performancekünstlerin Pia Lindman, Aufnahmen aus der New York Times zu sammeln, die Trauernde nach den Anschlägen auf das World Trade Center zeigten. Von diesen Bildern fertigte die Künstlerin skizzenartige Handlungsanweisungen an, auf deren Basis sie in einem weiteren Schritt die Gestik und Mimik der Trauernden vor laufender Kamera einnahm. Anschließend stellte Lindman wieder Skizzen her – dieses Mal von den Aufnahmen ihrer eigenen ›Reenactments‹. Erst diese Zeichnungen machte sie schließlich zur Grundlage von Performances im öffentlichen Raum, in denen sie ein weiteres Mal versuchte, die in den Skizzen umrissenen Körperhaltungen der Trauer exakt nachzuvollziehen. Lindman beschreibt diesen Prozess wie folgt:
16 Milo Rau, »Die seltsame Kraft der Wiederholung. Zur Ästhetik des Reenactments«, in: Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments, hrsg. v. Jens Roselt und Ulf Otto, Bielefeld 2012, S. 71-78, hier: S. 7374.
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»I have not invested the Reenactments with emotion, nor have I interpreted the enactment as an actor would perhaps do. I simply wanted to repeat the physical gesture with my own body as accurately as I could. […] [I was] adjusting and seeking out the correct gesture, sometimes painstakingly slowly, and often evoking comic aspects of the process. Then there is the moment when I ›strike‹ the pose and stay in it for twenty seconds or so.«17
Drei Black Square Drawings aus Pia Lindmans Werkgruppe New York Times Projekt, 2002-2004 © Pia Lindmann
17 Pia Lindman, »The New York Times, Monuments, Art and Affect. Reenactments in Grey-Scale«, in: Art in the Age of Terrorism, hrsg. v. Graham Coulter-Smith und Maurice Owen, London 2005. S. 80-95, hier: S. 87-88.
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Zu einem Zeitpunkt der hochpolitisierten Trauer um die Opfer des Anschlags vom 11. September, interessierte sich Lindman gerade nicht für ein emphatisches Nachempfinden der Trauer. Ihr alleiniges Ziel war es vielmehr, die in den Bildern dokumentierte Körperhaltung genau einzunehmen, die ein trauernder Mensch vor ihr innegehabt hatte. Für ihr Projekt gilt somit auch, was Milo Rau in Bezug auf die Arbeiten Dickinsons und die des polnischen Künstlers Artur Żmijewski18 festgestellt hat: »Sie wiederholen ihr Original scheinbar ohne jede ästhetische Haltung, in einem betont passiven Bemühen um Vollständigkeit. Kein Versuch zur Abstraktion […], kein avantgardistisches Statement über die Rolle des Autors oder des Zuschauers, kein Gefühls-Extremismus, kein Sarkasmus und auch kein ironisches Dandytum […]. Es wird getan, was bereits einmal getan wurde, nicht mehr und vor allem nicht weniger. […] Es wirkt wie ein Ready-made.«19
Allerdings handelt es sich bei diesen Arbeiten anstelle von ›objects trouvés‹ im Stil Duchamps nun um im kulturellen Gedächtnis vorgefundene und medial vermittelte ›Ready-mades‹. Die Arbeiten dieser Künstler betonen durch Multiplizieren und Kopieren ohnehin schon vielfach multiplizierter und kopierter Medienbilder, wie sehr ihr und unser Zugang zu historischen Ereignissen immer schon medial vermittelt ist. Der verblüffende Effekt: Gerade aufgrund ihrer puren Oberflächlichkeit scheinen die so hergestellten Abbilder wieder einen Blick auf die dargestellten Ereignisse zu ermöglichen, der mit den zahlreichen bereits existierenden und sich überlagernden Bedeutungen bricht. Ein ›Rendez-vous mit dem Realen‹? Für Lindman zumindest ist klar, dass die von ihr angefertigten einfachen Zeichnungen ihren Betrachtern die Möglichkeit eines erneuten Zugangs zu längst verschütten Emotionen eröffnen:
18 Żmijewskis eigene Arbeiten (v. a. Berek [Fangspiel] und 80064) sowie seine Tätigkeit als Kurator der 7. ›Berlin Biennale‹, die viele Reenactment-Arbeiten zeigte, rufen meist heftige Reaktionen hervor. So hatte Żmijewski im Frühsommer 2012 unter der Überschrift ›The Battle of Berlin‹ polnische ReenactmentGruppen eingeladen, den Häuserkampf um Berlin zwischen Alliierten und Wehrmacht vom Frühjahr 1945 nachzustellen. 19 Rau: »Die seltsame Kraft der Wiederholung«, S. 73.
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»[T]he simple pencil line drawings of myself became almost like empty containers, depositums, creating room for emotional investment by the viewer, something I perceive all but lost by the browsing of one’s daily newspaper over breakfast, or better yet, the flow of multiple images and crawling texts on today’s hyper-mediated television or computer screen. […] [M]y audience finds opportunity to reprocess lost moments of emotion with my artwork. These drawings are the very site for that process.«20
R OD D ICKINSONS O BEDIENCE TO A UTHORITY – E INE W IEDERAUFFÜHRUNG VON T RAUMA? ›Reenactments‹, wie hier beschrieben, weisen eine gewisse strukturelle Affinität zu Konzepten von Traumata auf, die, ausgehend von Spezialdiskursen der Psychoanalyse und der Politik bestimmter Opfergruppen, spätestens seit den 1980er Jahren Eingang in die Gegenwartskultur gefunden haben.21 Zum einen setzen sowohl Trauma als auch ›Reenactment‹ dem linearen Zeitmodell, wie es für das moderne Geschichtsdenken charakteristisch ist, eine rekursive Zeitlichkeit entgegen und widersetzen sich Versuchen der Historisierung aufgrund ihres iterativen Charakters. Was beim ›Reenactment‹ das Zitieren oder indexikalische Verweisen auf ein zuvor stattgefundenes Ereignis ist (»citing, quoting, laying down a ›marker‹ for another event«), entspräche dem von Flashbacks geprägten Zeitempfinden Traumatisierter. Wie die Symptome von Trauma verweisen auch ›Reenactments‹ somit auf einen Ursprung, der sich jedoch dem direkten Zugriff aus der Gegenwart entzieht und allein in den ihn aufrufenden Akten erkennbar wird. Pia Lindman beispielsweise betont in Bezug auf ihre Arbeit, dass es ihr keinesfalls darum gehe, sich unmittelbar mit dem historischen Ereignis des 11. September zu beschäftigen. Vielmehr erschließe sich das Ereignis allein über medial vermittelte Szenen »We respond to this scene, not the trauma itself.«22 Zum anderen rücken sowohl Trauma als auch ›Reenactment‹ die körperliche Di-
20 Lindman, »The New York Times, Monuments«, S. 88. 21 Roger Luckhurst spricht von einer »trauma culture«. Vgl. Roger Luckhurst, The Trauma Question. London and New York 2008, S. 2; vgl. auch: Andreas Huyssen, Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Palo Alto 2003, S. 8. 22 Lindman, »The New York Times, Monuments«, S. 90.
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mension von Erinnern in den Vordergrund. Macht Trauma den individuellen Körper zum unfreiwilligen Gedächtnisort gewaltvoller Erfahrungen, so heben ›Reenactments‹ ebenfalls auf den Körper ab, wenn sie, wie beschrieben, Sinneseindrücke zur Grundlage ihres epistemologischen Programms machen. Nun könnte diese strukturelle Nähe von ›Reenactment‹ und Trauma dahingehend verstanden werden, als sei die derzeitige Konjunktur dieser Praxis Ausdruck eines gesamtkulturellen Wiederholungszwangs und somit symptomatisch für eine durch historische Traumata konstitutiv gekennzeichnete Gegenwartserfahrung.23 Wichtiger für das Verständnis von Dickinsons Milgram Reenactment erscheint allerdings, dass es sich bei Reenactments trotz allen akribischen Bemühens um die exakte Wiederaufführung der historischen Handlungen immer um ›Wiederholungen‹ handelt, denen letztendlich das jeder Iteration inhärente Potential zur Transformation und Resignifizierung eingeschrieben ist.24 Kurator Sven Lüttiken betont dieses Potential, wenn er davon spricht, dass ›Reenactments‹ Handlungen ausstellen, die den Raum für zukünftige, derzeit noch undenkbare Performances eröffnen. »[They] may lead to artistic acts that, while not instantly unleashing a ›tremendous emancipatory potential,‹ create a space – a stage – for possible and as yet unthinkable performances.«25 Anstatt sie als Symptome einer traumatisierten Gegenwartskultur zu begreifen, lassen sich ›Reenactments‹ also besser als Aufführungspraktiken verstehen, die in besonderer Weise dazu geeignet sind, kulturelle Traumata zu thematisieren. Rod Dickinson, um dessen Milgram Reenactment es nun abschließend noch einmal ausführlich gehen soll, argumentiert entsprechend: »Reenactment seems, as a form of representation,
23 Vgl. Marc S. Micale und Paul Lerner, »Trauma, Psychiatry and History«, in: Traumatic Pasts: History, Psychiatry, and Trauma in the Modern Age, 18701930, hrsg. v. Marc S. Micale und Paul Lerner. Cambridge 2001, S. 1-27, hier: S. 10. 24 Vgl. Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990. 25 Sven Lütticken, »An Arena in Which to Reenact«, in: Life, Once More. Forms of Reenactment in Contemporary Art, hrsg. v. Sven Lütticken. Rotterdam 2004, S. 17-60, hier: S. 60.
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strangely well equipped to address moments of collective trauma and anxiety.«26 Was also macht das ›Reenactment‹ mit Milgrams bekannter Obedience to Authority-Studie? Für Vivienne Gaskin, Kuratorin des ›Centre for Contemporary Art‹ in Glasgow, ist klar, dass die ›Performance‹ den Aufführungscharakter des Originalexperiments in den Vordergrund rückt. Dieses erscheine plötzlich als »a piece of scripted theatre«:27 Lehrer: [spricht in Mikrophon] Full: glass, tank, house, tub. [Prüft Display] No that’s incorrect. It’s 255 Volts. Full tub. Schüler (aus dem off): Argh. Get me out! Lehrer: [an Wissenschaftler] Keep going or back to the beginning? Wissenschaftler: Please continue going up the scale on the board. Continue with the procedure, teacher. Lehrer: [spricht in Mikrophon] Blue: boy, girl, grass, hat. [Prüft Display] That’s wrong. This will be a shock of 270 volts. It was blue boy. Schüler (aus dem off): Argh. Get me out of here, get me out of here, get me out of here, get me out of here, get me out of here! Lehrer: [an Wissenschaftler] I don’t really think I should do this. Wissenschaftler: Continue please. Lehrer: Alright. Lehrer: [spricht in Mikrophon] Slow: walk, dance, truck, music. [Prüft Display] No wrong this will be a shock of 285 volts. The answer was slow dance. Schüler (aus dem off): Argh [verzögert]. Lehrer: [spricht in Mikrophon] New: house, pet, book, name. [Prüft Display] No, no wrong this is 300 volts. It was new house. Schüler: Argh [verzögert]. I absolutely refuse to answer any more ... get me out, get me out of here! Lehrer: [an Wissenschaftler] I wonder if he’s sick in there you know, I don’t think we can go on.
26 Rod Dickinson zitiert nach Robert Blackson, »Once More... with Feeling: Reenactment in Contemporary Art and Culture.« In: Art Journal 66/1 (2007), S. 2840, hier: S. 33. 27 Vivienne Gaskin, »Subjects in Search of an Author«, in: The Milgram Reenactment. Essays on Rod Dickinson’s Reenactment of Stanley Milgram’s Obedience to Authority Experiment, hrsg. v. Steve Rushton. Maastricht, S. 6-13, hier: S. 7.
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Wissenschaftler: Continue, go on please. Lehrer: [spricht in Mikrophon] Sharp: axe, stick, needle, blade.28
Es ist nicht angenehm, dieser Wiederaufführung des Dramas aus Milgrams Labor zu folgen. Galeriebesucher betonten wiederholt, wie schwer es ihnen gefallen sei, Dickinsons Performance in ihrer vollen Länge beizuwohnen. So kommentierte Elisabeth Mahoney, die Kunstkritikerin des Guardian: »By the halfway point I’m with the guy wailing to be set free […] Rather than a sign of the project’s failure, however, the creeping enervation of being here is central to its dark power.«29 Die von Mahoney festgestellte ›dunkle Macht‹ von Dickinsons Arbeit ebenso wie das Gefühl der ›langsamen Entkräftung‹, das die Zuschauer beschleicht, haben ihre Ursache nicht zuletzt in der Tatsache, dass die Originalstudie und damit auch ihre Neuaufführung neben der sie strukturierenden Gewalt grundsätzlich von der Figur der Wiederholung geprägt sind. Um naturwissenschaftlichen Ansprüchen an Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit zu genügen, waren sowohl die Äußerungen des im Nebenraum unsichtbaren Schülers als auch die Anweisungen des Wissenschaftlers in Milgrams Experiment durch ein Skript festgelegt worden. Der Wortlaut des Schülers wurde sogar von Band abgespielt und umfasste je nach Höhe der vermeintlich verabreichten Stromstöße zunächst Stöhnen und Schreien zuletzt gefolgt von dem wiederholten Betteln, nun unbedingt aufzuhören. Die Instruktionen des Wissenschaftlers steigerten sich ebenfalls bei jedem neuen Probanden von der einfachen Aufforderung weiterzumachen über das Argument ›Es ist wichtig für das Experiment, dass Sie weiter machen‹ bis hin zu der Anweisung ›Sie müssen weiter machen, Sie haben keine Wahl.‹ Jeder einzelne Schritt des Experiments (Verlesen der Wortliste, Prüfung, Bestrafung) hatte selbstverständlich ebenfalls einen Wiederholungscharakter, da er sich von dem vorangegangenen nur in der Höhe des strafenden Stromstoßes unterschied. Doch damit nicht genug der Repetitionen, zumindest was das Milgramsche
28 Transkription einer Sequenz des Milgram Reenactments, die auf Grundlage eines Performancevideos von der Projektwebsite angefertigt wurde. Vgl.: . 29 Elisabeth Mahoney, »If you think this looks boring…«, in: The Guardian, 21. Februar 2002.
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Original betrifft, das statt in nur acht Durchläufen – wie bei Dickinson – mit über 700 Versuchspersonen durchgeführt worden war. »Every hour for every subject,« so Tom McCarthy, »this drama was replayed, repeated almost exactly word for word.«30 Fortgeführt wurde diese Kette der Wiederholungen bis in die 1980er Jahre hinein durch zahlreiche Nachfolgestudien in verschiedenen Ländern der westlichen Welt, die Milgrams Drama immer wieder von neuem aufführten. Wenn Dickinsons ›Reenactment‹ die der Obedience to Authority-Studie inhärente Wiederholungsstruktur sichtbar werden lässt, so verweist sie den Betrachter zumindest indirekt auch darauf, dass Milgram sein Experiment ebenfalls im Sinne einer Nachahmung begriffen hat: als Wiederaufführung – unter veränderten Vorzeichen – der bürokratischen und hierarchischen Befehlsstrukturen des Nationalsozialismus. Mit seinen Versuchen wollte der Psychologe Wissen darüber erlangen, wie der Holocaust hatte organisiert werden können. Seine Publikationen nehmen daher auch explizit Bezug auf den zeitgleich stattfindenden Eichmann-Prozess und zitieren mehrfach Hannah Arendts Reportagen aus Jerusalem: »Trotz der Tatsache, dass viele Personen Stresserfahrungen durchmachten, trotz der Tatsache, dass viele von ihnen gegenüber dem Versuchsleiter protestieren, macht doch ein bemerkenswerter Prozentsatz bis zum höchsten Schock auf dem Generator weiter. – Viele gehorchen dem Versuchsleiter, gleichgültig wie heftig das Opfer unter Schock auch fleht, gleichgültig, wie schmerzhaft die Schocks zu sein scheinen, gleichgültig, wie sehr es darum bittet, erlöst zu werden. [...] [Ich] gelange […] zwangsläufig zu dem Schluß, dass Hannah Arendts Konzept der Banalität des Bösen der Wahrheit näherkommt, als man sich vorzustellen wagen würde.« 31
Bei allem aufklärerischen Interesse scheint Milgram selbst jedoch blind für eine weitere Wiederholungsschleife von Gewalt, Autoritätsgehorsam und Gleichgültigkeit gewesen zu sein, die durch seine Studie in Gang gesetzt wurde; eine Repetition, die für die Betrachter von Dickinsons ›Reenactment‹ umso sichtbarer war: Milgrams Studie ist von vielen Seiten harsch kritisiert worden, und die Kontroverse darum ist heute fast so bekannt wie
30 McCarthy, »Invoking the Invocation«, 2002. 31 Stanley Milgram, Das Milgram Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Reinbek bei Hamburg [11969], 1997, S. 22.
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ihr erschütterndes Ergebnis. Am vehementesten richtet sich diese Kritik gegen die unethische Behandlung von Testpersonen, die über das tatsächliche Ziel der Studie im Unklaren gelassen wurden, und deren eigene Gewalterfahrung im Rahmen des Experiments der Soziologe Stephen Dandaneau als die ›dunkle Ironie‹ von Milgrams Projekt beschrieben hat: »Milgram’s own attitude toward his unwitting experimental subjects […] mirrors the experimental subject’s attitude towards the people they were ordered to ›teach‹. In both cases, a certain banality of evil was present because, in both cases, people were routinely treated as things to be experimented on with little regard for the violence or harm that might result.«32
Hatte Milgram eigentlich nur erfahren wollen, unter welchen Bedingungen Autorität menschliches Mitgefühl ausschaltet, so tat er dies in einer Weise, die ihn selbst das Mitgefühl gegenüber seinen Testpersonen vergessen ließ. Milgram hat sich gegenüber solchen Vorwürfen stets verwehrt und mit dem Verweis auf das höhere Gut der Wissenschaft gerechtfertigt: »It is true that technical illusions were used in the experiment. I would not call them deceptions because that already implies some base motivation.«33 Und doch hat die Einschätzung über die Autoritätsgläubigkeit seiner Versuchspersonen, zu der Milgram kommt, auch für den Psychologen selbst Geltung: »[A] man feels responsible to the authority directing him but feels no responsibility for the content of the actions that the authority prescribes.«34 Milgrams Autorität, in deren Namen er bereit war, anderen Leid zuzufügen, war die Wissenschaft selbst, deren Ansprüchen er um jeden Preis genügen wollte. Ironischerweise lässt sich Milgrams Experiment also doch als eine Gedächtnisstudie – ›a Study on Memory‹ – verstehen, und es ist diese Bedeutungsdimension, die durch Dickinsons Wiederaufführung in den Vordergrund gerückt wurde. Die vorangegangene Diskussion von Pia Lindmans
32 Stephen P. Dandaneau, Taking it Big. Developing Sociological Consciousness in Postmodern Times, London 2001, S. 50. 33 Stanley Milgram zitiert nach James H. Korn, Illusions of Reality. A History of Deception in Social Psychology, New York 1997, S. 104. 34 Stanley Milgram, Obedience to Authority. An Experimental View, New York 1969, S. 145.
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Arbeiten zum 11. September hat gezeigt, dass ›Reenactments‹ gerade aufgrund ihrer Verweigerung gegenüber aller nachträglichen Überformung, Ästhetisierung oder Bedeutungszuschreibung einen neuen Blick auf historische Ereignisse ermöglichen können, der mit dem, was wir vermeintlich immer schon über die Vergangenheit zu wissen scheinen, bricht. Insbesondere künstlerische ›Reenactments‹ wie Dickinsons Milgram-Projekt scheinen dieses Potential des ›Reenactments‹ nutzen zu wollen, um einen neuen Zugang zu gesellschaftlich traumatischen Erinnerungen zu eröffnen. Während von Milgrams Studie vor allem das Ergebnis in Erinnerung geblieben ist – 65% seiner Teilnehmer wären bereit gewesen, der Befehlskette bis zum letalen Stromstoß zu folgen –, so rückte bei der Wiederaufführung die Situation der Testpersonen im Labor in den Vordergrund. Dickinson beschreibt seine Sichtung von Milgrams Filmmaterial in diesem Sinne: »The film […] shows them in acute distress, in this terrible moral dilemma, not sure what they should do, believing in the moral worth of the experiment which they think they are taking part in, which of course is not the experiment they are taking part in at all, and at the same time empathising with this person who is screaming their head off in the other room and begging them to stop.«35
Tatsächlich hatte auch Milgram schon von dem emotionalen Stress berichtet, dem seine Probanden aufgrund der ihnen auferlegten Aufgabe ausgesetzt waren, und der einige von ihnen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu treiben schien.36 Indem Dickinson diesen emotionalen Stress noch einmal vorführt, lässt sein ›Reenactment‹ Milgrams Lehrer als Menschen sichtbar werden, denen – jenseits der ihnen zugeschriebenen Banalität des Bösen – selbst Unrecht wiederfahren ist.
35 Charlie Gere, »The Technologies and Politics of Delusion. An Interview with Artist Rod Dickinson«, in: Studies in the History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 35 (2004): S. 333-349, hier S. 338f. 36 »Many subjects showed signs of nervousness […]. Subjects were observed to sweat, tremble, stutter, bite their lips, groan and dig their fingernails into their flesh. […] [A] businessman enter[ed] the laboratory smiling and confidant. Within 20 minutes he was reduced to a twitching, stuttering wreck, who was rapidly approaching a point of nervous collapse.« (Milgram, Obedience to Authority, S. 375).
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AUSBLICK Dickinsons ›Reenactment‹ zeigt, wie das Zusammenwirken von Autoritätsglauben, Gleichgültigkeit und Gewalt, das Milgram als charakteristisch für den Nationalsozialismus begriff und das er im Rahmen seiner Obedience to Authority-Studie hatte wissenschaftlich untersuchen wollen, dessen eigenes Projekt heimsuchte. Kann die Wiederaufführung der Versuchsreihe im Februar 2002 sich von dieser Art der Heimsuchung freimachen oder wiederholt sie nicht ebenfalls etwas, ohne es zu intendieren? Aus Dickinsons Beschreibung der Zumutungen, denen er seine Zuschauer aussetzt, lässt sich zumindest ein schwaches Echo von Milgrams eigener Blindheit gegenüber den Bedürfnissen seiner Probanden heraushören; ein Echo das nicht zuletzt Elisabeth Mahoneys Beschreibung von Dickinsons Arbeit als einer ›dunklen Macht‹ zu rechtfertigen scheint. »I also wanted to create a situation where the audience was forced to become both voyeurs and witnesses. I also requested that audience members not leave the performance/gallery space for the duration of the piece – the whole four hours – in the hope that their predicament would echo that of the subject who was effectively also trapped in front of the shock machine.«37
Auf welche Art der erzwungenen Zeugenschaft hebt Dickinson hier ab? Wenn man sein ›Reencactment‹ als Wiederaufführung einer wissenschaftlichen Versuchsreihe versteht, mit der ihrerseits die Entstehungs- und Wirkungsbedingungen nationalsozialistischer Gewalt unter Laborbedingungen re-inszeniert werden sollten, bietet es sich vielleicht an, die Rolle der Galeriezuschauer im Sinne von Marianne Hirschs Konzept der ›postmemory‹ zu begreifen: Sie befinden sich in der Position einer indirekten Zeugenschaft des Holocaust, die sich trotz zeitlicher und räumlicher Distanz zum historischen Ereignis durch eine »deep personal connection« auszeichnet und mit der ein bestimmter ethischer Zugriff auf die Vergangenheit einhergeht.38
37 Rod Dickinson zitiert in MacGilp (Hervorhebungen A. S.). 38 Marianne Hirsch, Family Frames. Photography, Narrative, and Postmemory, Cambridge/Mass. 1997, S. 22, und »Surviving Images: Holocaust Photographs and the Work of Postmemory«, in: Visual Culture and the Holocaust hrsg. v. Barbie Zelizer, London 2001, S. 215-246, hier. S. 211.
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Tom McCarthy bietet diese Interpretation an, wenn er in seinem Kommentar zu Dickinsons ›Reenactment‹ von Trauma als einer Form der Wiederholung spricht, die eine ethische Beziehung zur Vergangenheit erst ermöglicht: »[Trauma] is a space of repetition. Repetition […] is what connects us too, diachronically or anachronistically, irrationally and ethically – what makes us subjects within history. […] No repetition, no connection; no connection, no ethical relation, hence no subjectivity. If I stop, walk away, have done, forget, I am not connected, not responsible, just not.«39
39 Tom McCarthy, »Between Pain and Nothing«, in: The Milgram Re-enactment. Essays on Rod Dickinson’s Re-enactment of Stanley Milgram’s Obedience to Authority Experiment, hrsg. v. Steve Rushton, Maastricht 2003, S. 16-32, hier: S. 31.
Heimsuchungen
Gespenstische Botschaften an die Nachgeborenen: »Cultural Haunting« in der neueren deutschen Literatur A NDREAS K RAFT
E INLEITUNG Es gibt gute Gründe, den Begriff des »Cultural Haunting«, wie er von der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Kathleen Brogan entwickelt wurde, auch auf die deutsche Gegenwartsliteratur anzuwenden. Denn auch hier gibt es reichlich Beispiele dafür, dass Protagonisten von Gespenstern heimgesucht werden, wobei diese Form der Heimsuchung als eine Spätfolge der deutschen Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu lesen ist. An zwei Romanen – Hanns-Josef Ortheils Abschied von den Kriegsteilnehmern (1992) und Tanja Langers Der Morphinist oder Die Barbarin bin ich (2002) – soll eine solche Heimsuchung der Protagonisten durch Gespenster genauer untersucht werden.1 Mithilfe dieses zentralen Bildes spürt das literarische Schreiben der unbewältigten Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart nach und registriert die Symptome einer nachhaltigen Traumatisierung. Die Gespenster der traumatischen Vergangenheit, die als Phantasmen am Ort des Realen auftauchen, erweisen sich dabei als entscheidende Fingerzeige auf eine Kommunikationsblockade. Im Modus des Romans arbeiten die literarischen Texte solche Sperren der Informationsübermitt1
Zitiert wird nach folgenden Ausgaben: Hanns-Josef Ortheil, Abschied von den Kriegsteilnehmern, München [11992] 2005; Tanja Langer, Der Morphinist oder Die Barbarin bin ich, München 2002.
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lung heraus. Indem sie die Bannung des Gespenstes inszenieren, tragen sie zur Klärung von Familienbeziehungen bei.
D AS R EALE DES T RAUMAS DER G ESPENSTER
UND DIE
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Wenn wir den Grundthesen der Kulturwissenschaften folgen, dann leben wir in Ordnungen von Zeichen und Narrationen, die uns dabei helfen, Sinn und Ordnung in den Verlauf unseres Lebens zu bringen und dabei auch mit jenen Anteilen fertig zu werden, die uns mehr oder weniger unvorbereitet zustoßen. Während uns diese konstruktivistischen Theorien suggerieren, dass alles vom Netz der Zeichen erfasst und ihrer Logik unterworfen ist, so macht sich zugleich auch immer mehr der Verdacht breit, dass hier ein Rest verbleibt, von dem immer wieder Irritationen und auch tiefgreifende Störungen und Bedrohungen ausgehen können2. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan hat für dieses gewisse Etwas, das sich dem Signifikationsprozess grundsätzlich entzieht, den Begriff des Realen eingeführt: »das Reale oder das, was als solches wahrgenommen wird, ist das, was der Symbolisierung absolut wiedersteht.«3 Für Lacan ist die ontogenetische Entwicklung des Individuums ein Prozess, in dem es unwiderruflich in die symbolische Ordnung der Gesellschaft und der Kultur eingebunden wird. Dabei wird das Reale zum Teil dem Primat des Zeichens unterworfen und zu dem verwandelt, was als Realität bezeichnet wird: »Indem es das Reale aufhebt, erschafft das Symbolische die ›Realität‹, Realität verstanden als das, was durch die Sprache benannt wird und worüber es sich somit nachdenken und sprechen lässt.«4 Die Realität ist nichts anderes, das Bewältigte in die Form der Zeichenhaftigkeit überführte Reale. Nach Lacan leistet jedoch das Reale einen Wider-
2
Vgl. hierzu etwa die Kritik von Catherine Belsey an Judith Butler in Catherine Belsey, Culture and the Real. Theorizing Cultural Critisism. London und New York 2005.
3
Jacques Lacan, Das Seminar XI (1964). Die vier Grundbegriffe der Psychoana-
4
Bruce Fink, Das Lacanʼsche Subjekt. Zwischen Sprache und Jouissance. 2.
lyse. 4. Aufl., Weinheim und Berlin 1996, S. 89. Aufl., Wien und Berlin 2011, S. 48.
G ESPENSTISCHE B OTSCHAFTEN AN DIE N ACHGEBORENEN | 143
stand gegen dieses Prozess fortschreitender Symbolisierung, es entzieht sich und zieht sich an die Ränder zurück: »Das Reale lässt sich vielleicht am besten als das Verstehen, was noch nicht symbolisiert wurde, noch symbolisiert werden muss oder sich der Symbolisierung sogar widersetzt; und es kann sehr wohl neben den und trotz der beachtlichen sprachlichen Fähigkeiten eines Sprechers existieren.«5 Für Lacan ist dieses Reale, das nicht in Zeichen überführt werden kann, vor allem auch die Quelle des Traumas. Im seinem Seminar über »Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse« hat er das Reale und seine Beziehung zum Symbolischen über zwei Begriffe eingeführt, die er seiner Aristoteles-Lektüre entnommen hat. Das Symbolische, das er mit dem »Signifikatennetz« gleichsetzt,6 bezeichnet er als »Automaton«, während er für das Reale den Begriff »Tyche« einführt. Dieser lässt sich für Lacan nur unzureichend mit »Glück« oder »Zufall« übersetzen. Sehr viel allgemeiner handelt es sich bei Tyche um das Kontingente, also um den nicht im Deutungsnetz der Signifikanten aufgehenden Fall. Und eben dieses radikal Kontingente, das sich der Erfassung durch die Zeichen sperrt, ist auch der Kern des Traumas, das Lacan für einen der wichtigen Untersuchungsgegenstände der Psychoanalyse hält: »Schon die erste Form, in der die Funktion der Tyche, des Realen, als Begegnung in der Geschichte der Psychoanalyse auftrat [...] reicht aus, unsere Aufmerksamkeit zu wecken – ich meine das Trauma.«7 Traumatische Erfahrungen sind also solche, die sich in bedrohlicher Weise der narrativen Einbindung in unsere Welt widersetzen und sie tun dies in einer Weise, die die ganze Ordnung der kulturellen Zeichen bedroht. In dieser Lacanschen Perspektive ist es eben das Reale, das sich im Trauma nicht ohne weiteres in einen Signifikationsprozess und damit in jene bewohnbare Realität übersetzen lässt, die wir uns durch Zeichen erbaut haben. Das, was sich dem Übersetzungsprozess sperrt, erscheint in verrätselter Form und in seiner »Bedeutung« verschoben indirekt in Träumen, Halluzinationen und Symptomen wieder und verlangt nach Aufarbeitung.8 Nach Freud sind dies Symptome eines Wiederholungszwangs, der für Traumata symptomatisch ist und der sich zum Teil im Bereich des Phantastischen und Irrationalen entfaltet.
5
Ebd., S. 48.
6
Lacan, Seminar XI, S. 58.
7
Ebd., S. 61.
8
Ebd., S. 66.
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Genau in diesem Bereich des Phantasmas, das seinen Anfang in der Erfahrung eines Realen hat, begegnen wir auch den Gespenstern. Ein Blick in die Kulturgeschichte der Gespenster seit der Frühen Neuzeit macht deutlich, dass diese einen umstrittenen Platz in der westlichen Psyche innehatten. Mit der Reformation entwickelten sich im Katholizismus und Protestantismus unterschiedliche Deutungsgeschichten des Geister-Phänomens. Während der Geisterglaube von der offiziellen katholischen Kirche gänzlich verbannt wurde, spielte er im Protestantismus im Rahmen eines verinnerlichten Schuldbewusstseins eine beträchtliche Rolle. Aus dieser protestantischen Tradition geht die in vielen Texten belegte Vorstellung hervor, dass Geister den Lebenden erscheinen, um diese vor moralischen Verfehlungen zu warnen. In seinem Aufsatz über »Die Theologie der Geister in der frühen Neuzeit« schreibt Wolfgang Neuber: »Die Klassifizierung von Verfehlungen und die Stabilisierung der menschlichen Sozietät, die sich aus der Vermeidung bzw. Ahnung der Verfehlungen ergibt, ist die durchgängig zu beobachtende Hauptfunktion aller protestantischen Geistererscheinungen und ihrer Aufzeichnung bzw. Tradierung.«9
Mit der Aufklärung fand dann eine Wende in der Deutung von Geistererscheinungen statt, als die neu aufkommende Psychologie und Medizin die Geister aus der religiösen Überlieferung herauslösten. Diese Psychologisierung des Geister-Diskurses hat zwar Vorläufer wie etwa Augustinus: für ihn erschienen Geister im Traum und waren damit als Formen einer inneren Wahrnehmung zu deuten.10 Doch erst im 18. Jahrhundert setzt sich diese Anschauung in weiten Bereichen durch. In seiner Untersuchung über »Gespenst und Gespenster-Diskurs im 18. Jahrhundert« stellt Ulrich Stadler fest, dass »in keiner Epoche [...] die Grundsatzdebatte«, ob es nun Gespenster gäbe, nicht »hartnäckiger, verbissener geführt worden« sei.11 Wie andere
9
Wolfgang Neuber, »Die Theologie der Geister in der Frühen Neuzeit«, in: Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, hrgs. v. Moritz Baßler, Bettina Gruber und Martina Wagner-Egelhaaf, Würzburg 2005, S. 25-37, hier: S. 33.
10 Ebd., S. 27. 11 Ulrich Stadler, »Gespenster und Gespenster-Diskurs im 17. Jahrhundert«, in: Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, hrgs. v. Moritz Baßler, Bettina Gruber und Martina Wagner-Egelhaaf, Würzburg 2005, S. 127-152, hier: S. 127.
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grundsätzliche Debatten dieser Epoche wurde der Streit in moralischen Wochenschriften, in Zeitschriften, Aufsatzsammlungen, in Almanachen aber auch in literarischen Erzählbänden ausgetragen. An dieser Geschichte ist bemerkenswert, dass die Aufklärung nicht in der Lage war, die Gespenster endgültig zu vertreiben, obwohl sie sich das explizit zur Aufgabe gemacht hatte.12 Christoph Martin Wieland hat sich in seinem Aufsatz »Über den Hang der Menschen an Magie und Geistererscheinungen zu glauben« mit diesem Faktum des Weiterlebens, ja der Zunahme des Geisterglaubens unter dem Druck der Aufklärung auseinandergesetzt. Je weiter die Aufklärung und die Wissenschaft die Grenzen der Erkenntnis verschob, desto mehr rückte von dem, was zuvor noch als unwahrscheinlich erachtet wurde, nun in den Bereich des Möglichen. Stadler konstatiert deshalb, dass im Rücken der Entzauberung der Welt gleichzeitig eine Remystifikation stattgefunden habe.13 In gewissem Sinne hat sogar die Aufklärung den Geistern einen neuen Ort eröffnet, an dem sie ihr Unwesen treiben können. Indem man behauptete, die Geister seien nichts weiter als Ausgeburten des Geistes, erhielten sie eine neue Heimat in der menschlichen Psyche.14 So ist es nur folgerichtig, dass wir in den Arbeiten Sigmund Freuds, dessen Metapsychologie sich ja das Ziel einer aufklärerischen Überwindung der Metaphysik widmet, auch den Geistern wiederbegegnen. Sie erscheinen dort, wo der Mensch angesichts des körperlichen Todes aufgrund seines Narzissmus nicht auch den Tod der Psyche glauben kann. Deshalb bleibt der Mensch in seinem Unbewussten vom körperlosen Weiterleben der Seele überzeugt. Dieser Glaube an die Unsterblichkeit der Seele verschränkt sich nach Freud aufs Engste mit dem schlechten Gewissen der Lebenden gegenüber den Toten. Auf diesem Wege sind die Gespenster in der Psychoanalyse angekommen, wo sie als psychische Projektionen der Lebenden gedeutet werden.
12 Owen Davies, The Haunted Subject. Deconstruction, Psychoanalysis and the Return of the Dead. Houndmills, Basingstoke und New York 2007, S. 6. 13 Stadler, »Gespenster und Gespenster-Diskurs«, S. 134f. 14 Davis, Haunted Subjects, S. 7.
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»C ULTURAL H AUNTING « – G ESPENSTER ALS S YMPTOM PROBLEMATISCHER K OMMUNIKATION Viele Gespenstergeschichten handeln von ungehörten Botschaften, uneingelösten Versprechungen, gebrochene Schwüren und unschuldig Verurteilten. Es geht dabei immer um Schuld und moralische Verantwortung, deren Bedeutung die Gespenster, die erscheinen, den Lebenden vor Augen führen wollen, bzw. müssen. Sie überbringen eine Botschaft, die möglicherweise artikuliert worden ist, aber noch nicht angemessen gehört wurde.15 Im Folgenden beziehe ich mich auf Reinhold Görling, der in einem Aufsatz über »Kleist und der Cyberspace« den Gespensterdiskurs unter dem Gesichtspunkt der Medialität befragt hat. Nach seiner Definition markieren Gespenster eine Unterbrechung: Sie sind Symptome einer Störung in der Medialität der Kommunikation.16 Das Problem der unterbrochenen bzw. gestörten Kommunikation hat seinen Ursprung in einer Überblendung bzw. Verzerrung der drei in den Kommunikationsakt involvierten Positionen: Sprecher, Adressat und Botschaft. »Gespenster sind Manifestationen des Medialen, die dann zur Erscheinung kommen können, wenn eine Kommunikation vorliegt, die es nicht erlaubt, zwischen Sprecher, Adressat und Botschaft zu unterscheiden. Ein Grund kann sein, dass die Mitteilung zensiert oder aus einem anderen Grund so fragmentiert ist, dass der Angesprochene sie nicht zu einem Zusammenhang fügen kann, obwohl er sich gemeint fühlt.«17
Diese von Görling formulierte Deutung der Gespenster als Ausdruck einer problematischen Kommunikationssituation hat auch eine psychologische Seite. Diese stellt sich als Erfahrung des Unheimlichen dar, bei der das Wohlbekannte, Eigene von einem Bedrohlich-Fremden heimgesucht zu werden scheint. Das Fremde und das Eigene gehen dabei untrennbar und entsprechend unheimlich ineinander über. Somit ist es nicht verwunderlich,
15 Reinhold Görling, »Kleist und der Cyberspace«, in: Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, hrgs. v. Moritz Baßler, Bettina Gruber und Martina Wagner-Egelhaaf, Würzburg 2005, S. 189-200, hier: S. 190. 16 Ebd., S. 190. 17 Ebd., S. 191.
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dass angesichts eines Gespenstes die Frage »Wer ist da?« problematisch wird. »Dies genau ist die Frage, die angesichts des Gespenstes nie mit Sicherheit beantwortet werden kann, und es ist die Frage, die, jedenfalls seit der Moderne, auch dann gestellt wird, wenn man sich selbst nicht mehr identisch ist, wenn man sich selbst gespenstisch wird, weil Züge eines anderen in einem sichtbar werden, oder auch Stimmen und Gedanken, die man nicht (oder nicht mehr) als die eigenen akzeptiert«.18
In psychologischer Deutung stellt die Geistererscheinung eine Situation dar, in der das Individuum heimgesucht wird von etwas, das ihm fremd ist und das durch eine unklare Botschaft die Subjekt-Objekt-Grenze in unheimlicher Weise verschwimmen lässt. Gespenster können darum nur dann verschwinden, wenn diese »Verunschärfung« durch eine Klärung der Positionen überwunden wird, d.h. wenn sich das »Ineinander von Subjekt, Objekt und Botschaft, von Ich, Du und Es, differenzieren läßt.«19 Für Medien gilt ganz allgemein, dass sie in einer spezifischen Form das Raum-Zeit-Verhältnis organisieren. Genau dies gilt auch für das Gespenst. Eine zeitlich entfernte Vergangenheit gerät im Spuk in eine räumliche Nähe, in eine unheimliche Präsenz.20 Das Gespenst als Medium kann damit vergangene, nicht gehörte Botschaften der Geschichte an ein Individuum in der Gegenwart richten. In dieser unheimlichen Vermittlung, in der der Geist eine unerledigte Geschichte dem Individuum nahebringt, kann neben der psychologischen auch eine historisch-soziale Dimension zum Ausdruck gebracht werden. Damit sind wir beim Stichwort des »Cultural Haunting«. In neueren Untersuchungen, die Literatur und Geschichte in einen psychohistorischen Zusammenhang stellen, werden Gespenster und Spuk erhellend als Symptome einer gesellschaftlichen Problematik interpretiert.21
18 Ebd., S. 192. 19 Ebd., S. 192. 20 Ebd., S. 195. 21 Vgl. Renee L. Bergland, The National Uncanny. Indian Ghosts and American Subjects, Hanover and London 2000; Judith Richardson Possessions. The History and the Uses of Haunting in the Hudson Valley, Cambridge/Mass. 2003;
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In den Geistergeschichten kehren die Opfer jener unterdrückten Minderheiten wieder, für deren Erfahrung und Leid es in der offiziellen Geschichte keinen Platz gibt. Nach dieser These des »Cultural Haunting« artikuliert sich die verschwiegene Seite von Sklaverei und Kolonialismus in Wiedergängern, die auf diese Weise aus dem Vergessen in das kollektive Bewusstsein drängen und ihr Recht einklagen. Die Gesellschaft wird demnach von ihrer eigenen, unbewältigten Geschichte, von ihrem Realen in Form von Geistern heimgesucht. Ein solches Auftreten der Geister als »Cultural Haunting« bestimmt über das individuelle Psychische hinaus das Soziale als einen weiteren Ort, an dem Geister zu Hause sind. Avery F. Gordon schreibt in seinem Buch Ghostly Matters. Haunting and the Sociological Imagination (1997): »Haunting is a constituent element of modern social life. It is neither premodern superstition nor individual psychosis; it is a generalizable social phenomenon of great import. To study social life one must confront the ghostly aspects of it.«22 Genaugenommen leben diese Geister aber gerade in der Vermittlung zwischen Individuen und der Gesellschaft. So stellt sich hier für den Soziologen eine Aufgabe, die Gordon in folgender Weise formuliert: »Rather, it is a matter of exploring here the particular mediation that is haunting. As a concept, mediation describes the process that links an institution and an individual, a social structure and a subject, a history and a biography.«23 Dies bedeutet, dass manch eine Gespenstererscheinung nicht nur ein angemessenes Objekt einer individualpsychologischen Analyse ist, sondern zugleich auch als ein sozio-historisches Phänomen gedeutet werden muss: »The ghost is not simply a dead or missing person, but a social figure, and investigating it can lead to that dense site where history and subjectivity make social life.«24 Literatur, und das ist eine weitere Prämisse des Konzepts »Cultural Haunting«, ist ein Medium besonderer Art, in dem das Zusammenspiel von Geschichte und Subjektivität besonders gut artikuliert und studiert werden kann; so überrascht es auch nicht, dass im Zentrum von Gordons Buch die Analyse lite-
sowie Kathreen Brogan, Cultural Haunting. Ghosts and Ethnicity in Recent American Literature, Charlottesville 1998. 22 Avery F. Gordon, Ghostly Matters. Haunting and the Sociological Imagination. London 1997, S. 7 (Hervorhebungen A. K.). 23 Ebd., S. 19. 24 Ebd., S. 8.
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rarischer Texte von Luisa Valenzuela und Toni Morrison stehen. Damit bin ich an dem Punkt angelangt, wo nun der Schritt von der Theorie zur Lektüre und von der amerikanischen zur deutschen Literatur erfolgen kann.
H ANNS -J OSEF O RTHEIL A BSCHIED VON DEN K RIEGSTEILNEHMERN Hanns-Josef Ortheils Roman schildert die Trauerarbeit, die der Erzähler als Sohn nach dem Tod des Vaters zu leisten hat. Diese Trauerarbeit nimmt die Form der Selbsterkundung an, bei der der Trauernde verschiedene – auch geografische – Wege, zurücklegen muss. Doch bereits vor dem Tod des Vaters hatte sich die Familie des Erzählers in einem chronischen Zustand der Trauer befunden, weil der frühe Verlust von vier Brüdern des Erzählers nie wirklich überwunden wurde. So hat sich die Mutter, die ihr Verweilen »in einem Sud von Erinnerungen«25 an ihre toten Söhne fast getötet hätte, ganz in der Trauer eingerichtet, die so zu ihrem Lebensmittelpunkt als »manische Friedhofsgängerin«26 geworden ist. Für sie, die obsessiv Trauernde, gibt es nur die Vergangenheit. Die in der Familie kursierende Darstellung dieser Vergangenheit, die durch den Sohn als Erzähler vermittelt wird, verbindet kausal den endlos betrauerten Tod der Söhne mit dem Krieg, der als der einzige Grund für das Unglück der Familie brachtet wird. Dies Unglück begann schon damit, dass der Krieg zur Entwurzelung des jungen, noch kinderlosen Ehepaares führte, indem er dieses vom Westen in den Osten, nach Berlin, verschlug. Hier, fern der Heimat, konnte sich das junge Paar nur mühselig akklimatisieren: als dann der Vater weiter nach Kattowitz versetzt wurde, was »viel schlimmer«27 war, half ihnen die frohe Erwartung auf ihr erstes Kind, ihr Schicksal zu ertragen und das Heimweh zu vergessen.28 Als dann aber das Kind wohl aufgrund des Bombenterrors tot zur Welt kam, verlor die Mutter den Lebensmut. Gleichzeitig wuchs die pazifistische Überzeugung des Vaters, der nun besonders vorsichtig sein musste, um sich nicht durch unbedachte Äußerungen in Gefahr
25 Ortheil, Abschied von den Kriegsteilnehmern, S. 13. 26 Ebd., S. 35. 27 Ebd., S. 86. 28 Ebd., S. 87.
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zu bringen. Die Erwartung auf ein weiteres Kind, füllte das Ehepaar mit neuer Hoffnung. Der Vater wurde zur Trümmerbeseitigung nach Berlin geschickt und dort verletzt. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, wurde er wieder nach Berlin entsandt, aber diesmal zum Endkampf, dem er nur knapp mit dem Leben entkam.29 Noch nicht ganz genesen floh er dann auf Krücken quer durch Deutschland, um, endlich nach Hause gelangt, zu erfahren, dass sein zweiter Sohn durch eine Granate ums Leben gekommen ist. Der Mutter verschlug dieser Verlust die Sprache und sie begann, sich psychisch auffällig zu verhalten.30 Der Vater bemerkte, dass er »dem Krieg nicht, wie gedacht, entkommen sei, sondern dass der Krieg ihn eingeholt und endlich doch noch zu fassen bekommen habe.«31 Er schwor nun, nie mehr nach Osten zu fahren und konsequenter Weise war jede Reise, die er dann viele Jahre später mit seinem einzigen Sohn unternahm, eine Reise in den Westen. Nach dem Krieg nahm er eine Stelle in Köln an, Beförderungen jedoch schlug er aus, wenn diese einen Umzug in den Osten erforderlich machten.32 In dieser Schilderung des Schicksals der Familie ist diese das Opfer eines Krieges, der Soldaten in den Osten schickte, um Lebensraum für Deutsche zu schaffen. Die Gesellschaft, die den Krieg führte, störte die Lebenslinien der Menschen auch im friedlichen Hinterland empfindlich, indem sie diese den sozialen und ökonomischen Sachzwängen eines megalomanen Eroberungskrieges unterwarf. Die Entwurzelung aus der Heimat, die die kriegerische Expansion nach sich zog, ist hier direkt mit dem traumatischen Tod der Söhne in Beziehung gesetzt. Die Trauer über die Söhne ist damit zugleich eine Trauer über das eigene schmerzhafte Schicksal, das die Familie im Krieg ereilte. Ihren Ausdruck findet diese Trauer im Drang des Vaters nach Westen. Auch zwei weitere, kurz nach dem Krieg gezeugte Söhne überleben nicht, da sie an einem schwachen Herzen leiden. In der Deutung, die sich die Familie zurechtgelegt hat, sind auch sie zu den Opfern des Krieges zu zählen. Der Erzähler klagt den verstorbenen Vater an, der durch seine Wanderungen nach Westen seinem Schicksal zu entkommen glaubte: »Du
29 Ebd., S. 99-101. 30 Ebd., S. 104f. 31 Ebd., S. 105. 32 Ebd., S. 105f.
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hast geglaubt, Du kannst den Krieg hinter Dir lassen, irgendwie kommt man zu Fuß über alles hinweg, doch der Krieg hat dich noch lange nicht freigegeben. Du Kriegsteilnehmer, ja, Kriegsteilnehmer, Du und Deine vier Söhne, Kriegsteilnehmer seit ihr gewesen!«33 Diese »Kriegsteilnehmer« suchen den einzigen überlebenden Sohn als Gespenster heim. Er, der Trauernde, muss sich schreibend seiner eignen Identität gegenüber den Geistern der Brüder erwehren, die schon in seiner Kindheit das ganze Leben der Familie bestimmten: in der Trauer um die toten Kinder war kaum Platz für den einzigen lebenden Sohn in der Familie. So wird das Ringen des trauernden Sohnes um eine eigenständige Identität zum Ringen mit dem Krieg, der in Form der Gespenster der Brüder das Familienleben noch Jahrzehnte nach dem Krieg bestimmte. In einem eindrucksvollen Film hat Abel Gance 1918/19 in seinem Film »JɅaccuse« die Toten Soldaten des Ersten Weltkrieges aus den Gräbern wieder auferstehen und sie in die Städte der Lebenden zurückkehren lassen. Diese Gespenster tragen eine Vergangenheit in die Gegenwart und stellen den Lebenden die Aufgabe, sich klärend, d.h. deutend, sinngebend mit dem Geschehenen auseinander zusetzen. Auch diese Gespenstergeschichte handelt von uneingelösten Versprechungen, gebrochenen Schwüren und umsonst Gemordeten. Und so machen sich die Gespenster der gefallenen Soldaten auf in die Stadt zu den Lebenden, um zu sehen, ob ihr Leiden und Opfer eine sinnvolle Spur im Leben der Menschen, der Gesellschaft hinterlassen hat.34 Die Frage, die die Gespenster der Gefallenen den Lebenden stellen, ist also die nach dem Sinn des Krieges. Es geht um Schuld und die moralische Verantwortung der Überlebenden, und der pazifistische Film macht deutlich, dass es gar keinen Sinn geben kann, der dieses maßlose Opfer rechtfertigen könnte. So wird das Erscheinen der Gespenster zu einem warnenden Menetekel vor dem Krieg und ein Appell für den Frieden. Das, was sich hier im Bild der Gespenster ereignet, die Wiederkehr oder die anhaltende Präsenz der Verstorbenen, findet sich auch in der Psychotherapie wieder: wie in Ortheils Roman können verstorbene Familienmitglieder über ihren Tod hinweg in der Familie eine psychische Präsenz
33 Ebd., S. 245. 34 Vgl. Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History. Cambridge und New York 2007, S. 15.
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haben und das System der Familie unbewusst nachhaltig beeinflussen. Es geht dabei um eine als unheimlich, bedrohlich, und obsessiv spürbare Anwesenheit abwesender Familienmitglieder, die nicht sterben können, weil ihr Tod die Familie traumatisiert zurückließ. In Hanns-Joseph Ortheils Roman erlebt der Sohn sich immer wieder wie aufgesogen von der Identität des toten Vaters und der toten Brüder, die in der Familie immer präsent sind und die ihn verfolgen. Er ist somit unausweichlich und unselbstständig an das Trauma der Eltern gebunden. Er lebt in der Gegenwart und ist zugleich ein Subjekt aus der Vergangenheit, das mit einer leidvoll-traumatischen Erfahrung verbunden ist, die artikuliert werden muss aber nicht ausreichend artikuliert werden kann. In der Familie ist keine Kommunikation, kein normaler Austausch zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit möglich. Ein ähnliches Szenario haben Nicolas Abraham und Maria Torok in ihrer Studie über transgenerationale Traumatisierung beschrieben:35 In der Kindergeneration hat sich das Trauma der Eltern eingenistet, ohne dass dieses Trauma in Beziehung zu der Identität des Kindes steht. Das elterliche Trauma ist ein Fremdkörper, ein Phantom, das sich in Symptomen äußert, die der »Wirtspsyche« fremd bleiben.36 Doch der in Ortheils Roman geschilderte Fall unterscheidet sich in einem zentralen Aspekt von jenen Fällen, die Abraham und Torok im Auge haben: sie gehen davon aus, dass das Kind, das das Trauma der Eltern in einer Einkapselung in sich trägt, unwissend ist gegenüber jenem Fremdkörper. Es erfährt nur in den ihm fremden Symptomen etwas von jenem traumatischen Kern. »The phantom is a formation of the unconscious that has never been conscious – for good reason. It passes [...] from the parentɅs unconscious into the childɅs. [...] The phantomɅs periodic and compulsive return lies beyond the scope of symptomformation in the sense of the repressed; it works like a ventriloquist, like a stranger within the subjectɅs own mental typography.«37
35 Nicolas Abraham und Maria Torok, The Shell and the Kernel. Renewals of Psychoanalysis. Vol. I, London 1994. 36 Ebd., S. 173f. 37 Ebd., S. 173.
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Der Protagonist in Ortheils Roman weiß jedoch durchaus, dass er von seinem Vater und dessen Trauma umhergetrieben wird. Der Roman schildert das bewusste Ringen mit dem Vater und die hilflosen Versuche, ihm zu entkommen. Dieser Kampf mündet in eine Schlüsselszene, in der der Sohn sich selbst vom Vater zu emanzipieren vermag, indem er sich auf seine eigene Identität als Autor besinnt. In diesem Moment stellt sich eine neue Kommunikation zwischen den Generationen, zwischen dem Sohn und dem toten Vater ein. Es kommt damit zu einer Entzerrung der überblendeten Positionen der Kommunikationssituation von Sender, Empfänger und Botschaft. Indem er über seinen Vater zu schreiben beginnt, erfährt er sich als Empfänger und selbstständiges Individuum, das in der Lage ist, eine Botschaft des Leidens zu vernehmen, die die Brüder und der Vater in der Vergangenheit »gesendet« haben, und die aber nicht seine Botschaft ist. Damit kann er aus dem Reich des Phantastischen wieder austreten und in einer letzten Traumsequenz die Geister seiner Brüder und seines Vaters ein zweites Mal zu Grabe legen: diesmal im Osten.
D AS T ÄTERTRAUMA UND ALS G ESPENST
DER
N ATIONALSOZIALISMUS
In seinem Aufsatz »The Holocaust’s Life as a Ghost« stellt Zygmunt Bauman fest, dass wir in einer Welt leben, die immer noch vom Gespenst des Holocausts »besessen« ist: »The spectre of the Holocaust hovers over this world and a world with a spectre hovering over it is a possessed world (or, rather, a world of the possessed).«38 Diese Form der Heimsuchung bedeutet für ihn, dass niemand von diesem Geist sicher ist, dessen Erscheinen die Grenzen zwischen den verschiedenen moralischen Positionen verschwimmen läßt: »Today [...] no one can confidently claim immunity to the possession. Indiscriminately, the ghost selects the houses it will haunt, and the lines dividing evil form innocence, guilt from good reason, clear from dirty conscience, are anything but straight and uncontentious.«39 Während Bau-
38 Zygmunt Bauman, »The Holocaust’s Life as a Ghost«, in: The Holocaustʼs Ghost. Writing on Art, Politics, Law and Education, hrsg. v. Frederick Charles Decoste und Bernhard Schwarz, Edmonton 2000, S. 3-15, hier: S. 3. 39 Ebd., S. 3.
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man in seinem Text der Frage nachgeht, welche Lehre die Opfer und deren Nachkommen aus dem Spuk ziehen, stellt Tanja Langers Roman die Frage nach dem, was aufseiten der Gesellschaft der Täter und deren Nachgeborenen von jenem Gespenst gelernt werden kann bzw. soll. Im Roman wird dabei die Protagonistin nicht von einer traumatischen Kriegserfahrung in der Familie, sondern vielmehr von der Vergangenheit der deutschen Gesellschaft im Allgemeinen heimgesucht. Das Gespenst, mit dem sie sich auseinandersetzt, ist Dietrich Eckart, einer der Gründungsväter des Nationalsozialismus. Anstelle eines individuellen Traumas, in dem sich das Reale einer Geschichte abzeichnet, geht es im Roman von Langer um jene Form des kollektiven Traumas, die Bernhard Giesen als Tätertrauma bezeichnet. Das kollektive Tätertrauma unterscheidet sich vom Opfertrauma insofern, als es nicht durch die existentiell bedrohliche Erfahrung eigener Sterblichkeit hervorgerufen wird: der Täter wird – so Giesen – dann von seiner Tat traumatisiert, wenn er im Nachhinein erkennt, dass die in der Annahme souveräner Machtbefugnis begangene Tat in Wirklichkeit ein Verbrechen war. Dies geschieht, wenn etwa im Falle seiner Niederlage der Täter in einem neuen Wertehorizont ankommt, bzw. wenn er wieder in einen früheren Wertehorizont zurückkehrt. »Die selbstgesetzte absolute Subjektivität wird jedoch nur dann zu einem Tätertrauma, wenn sie mit der Realität konfrontiert wird, wenn etwa, wie im deutschen Fall, der Krieg verloren wird und sich die Allmachtsphantasie der Volksgemeinschaft als Trug erweist. Eine alte (oder neue) Rechtsordnung gilt wieder, die Tat wird ihr unterstellt, das Allmachtserlebnis wird als Verbrechen entlarvt.«40
Die Herausforderung, die sich den Tätern, bzw. den nachfolgenden Generationen in der Gesellschaft, in deren Namen die Täter gehandelt haben, stellt, ist die Verarbeitung und Anerkennung von Schuld, aber auch die Aufklärung jener Dynamik, die diese Taten möglich machte. Dabei geht es im Zusammenhang mit dem Holocaust aber um mehr als nur um den Absturz der »Tätergesellschaft« aus einer triumphal-narzisstischen Identität in die
40 Bernhard Giesen, »Das Tätertrauma der Deutschen. Eine Einleitung«, in: Tätertrauma: nationale Erinnerung im öffentlichen Diskurs, hrsg. v. Bernhard Giesen und Christoph Schneider, (Historische Kulturwissenschaft: 2) Konstanz 2004, S. 11-54, hier: S. 20.
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eines Verbrechertums. Es ist vielmehr auch der besondere Charakter dieses Verbrechens, den Hannah Arendt in folgender Passage über die Konzentrationslager hervorhob: »nicht nur der unnütze Charakter der Lager selbst; nicht nur die Sinnlosigkeit vollkommen unschuldige Menschen zu ›bestrafen‹ [...] nicht dies allein macht den unverwechselbaren und so verstörenden Charakter dieser Institution aus, sondern auch deren geradezu schädliche Funktion, nämlich der Umstand, dass nicht einmal vordringlichste militärische Erfordernisse diese ›demografische Politik‹ beeinträchtigen dürften. Die Nazis schienen überzeugt, dass es wichtiger sei, die Vernichtungsfabriken in Betreib zu halten als den Krieg zu gewinnen.«41
Das mörderische Tun im Nationalsozialismus sperrt sich einer rationalen Erklärung, da es ein Handeln darstellt, das jenseits aller soziologischer und psychologischer Erklärungsversuche einfach sinnlos, ja verrückt erscheinen muss: »Nur Menschen, die aus irgendeinem Grund kein Interesse an der Selbsterhaltung mehr haben und den gesunden Menschenverstand über Bord geworfen haben, konnten sich mit einem derartigen Fanatismus auf pseudowissenschaftliche Überzeugungen stützen [...], der im Hinblick auf die unmittelbaren praktischen Ziele (nämlich den Krieg zu gewinnen oder die Arbeitskraft auszubeuten) ganz offensichtlich selbstzerstörerisch war.«42
Für diese »vollendete Sinnlosigkeit«, die Hannah Arendt hier konstatiert und mit der sie dann in ihrer großen Studie über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft 900 Seiten lang gerungen hat, hat Dan Diner den Begriff des »Zivilisationsbruchs« geprägt. Die überbordende Gewaltdynamik einer Gemeinschaft, die in die Verbrechen der KZs und der Erschießungskommandos mündete, stellt einen Teil der Geschichte dar, der sich bis heute dem Signifikantennetz der schlüssigen Erklärbarkeit entzieht. Das Rätsel dieser Gewaltdynamik bleibt
41 Hannah Arendt, »Die vollendete Sinnlosigkeit«, in: Dies., Hannah Arendt: Nach Auschwitz. Essays und Kommentare 1, hrsg. v. Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin 1989, S. 7-30, hier: S. 9. 42 Ebd., S. 26.
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als ein ›Rest‹ jener Vergangenheit, der nicht ohne weiteres in die Realität all der Deutungsversuche überführt werden kann, die die Geschichte als solche fassbar zu machen versuchen. Solange dieser Rest der Vergangenheit nicht entschlüsselt ist, besteht zudem die Gefahr, dass das Geschehene sich wiederholen könnte oder in den Worten Zygmunt Baumans: »We live in a world which contains a holocaust as its possiblility.«43 Dieser Rest, das Reale der NS-Vergangenheit, kann weiterhin als eine unheimliche Präsenz, ja als Bedrohung in der Gegenwart gespürt werden. So wird sie in beliebten und kritisierten Fernsehdokumentationen durch Soundeffekte heraufbeschworen, die jedem Horrorfilm zu Ehre gereichen würden. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man sich die Anstrengungen vor Augen führt, die in der Gesellschaft, der Politik und in verschiedenen Wissenschaften unternommen wurden, die Vergangenheit in eine Realität zu überführen und sie dadurch erst wirklich zu einer Vergangenheit werden zu lassen, über die wir in den verschiedensten kollektiven Gedächtnisformationen dann mehr oder minder verfügen. Und doch scheint trotz aller Bemühungen der Erinnerungskultur ein uneinholbarer Rest zu bleiben.
T ANJA L ANGER D ER M ORPHINIST D IE B ARBARIN BIN ICH
ODER
Tanja Langers Roman widmet sich genau jener Frage nach der Gewaltdynamik des Nationalsozialismus und dessen Weiterleben in unserer Gesellschaft. Indem sie versucht, mit ihrem literarischen Text die Frage zu beantworten, wie (rassistische) Gewalt in die Welt kam und wie diese uns noch heute heimsucht, leistet sie einen Beitrag zur Aufarbeitung des deutschen Tätertraumas. Die Erzählerin berichtet, wie sie zwanghaft an einen gewissen Dietrich Eckart denken muss, »[a]ls wäre er mein Geliebter. Mein vertrauter, heimlicher, nicht fassbarer Feind.«44 Es handelt sich dabei um Dietrich Eckart, der am 26. Dez. 1923 an einem Herzleiden gestorbene Dichter, Journalist und nationalsozialistische Vordenker der allerersten Stunde, dem Hitler den zweiten Teil von Mein Kampf widmete. Sie sieht in den gewalttätigen Ausschreitungen nach einem Tabori-Stück die Gefahr
43 Zygmunt Bauman, »The Holocaust’s Life as a Ghost«, S. 3. 44 Langer, Der Morphinist, S. 7.
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einer neuen Rechten und beginnt daraufhin Dietrich Eckart direkt zu befragen: »aber da bist du schon in der Nähe, im Tiergarten, nächtlich, auf einer Parkbank und lächelst. Sitzt mondsüchtig zwischen dunklen Bäumen und hältst dich für – Peer Gynt.«45 Er ist ein Wiedergänger, der sie in die Bibliotheken treibt, um durch das Studium historischer Quellen den Geist zu bannen: »Glauben, dass die Buchstaben, die Zeilen, die Geschichten und Jahreszahlen, wenn wir sie versammelt, auf eine bestimmte Weise angeordnet und unsere Schlüsse aus ihnen gezogen haben, uns eine Auskunft erteilen, wie ein Geheimcode, der von unserem Unbewussten an unser Tagessein gesendet wird und uns sagt: Entschlüssle mich. Lies mich einmal ganz anders. Und du wirst endlich fertig mit dieser Sache, die dir den Schlaf raubt.«46
Der Roman, der genau aus solch einer intensiven Beschäftigung mit historischen Dokumenten hervorgegangen ist, ist der Versuch, jene gespenstische Botschaft des Wiedergängers an die Nachgeborenen zu entziffern und ihn dadurch zu bannen. Jene Unschärfe, die bei Geistererscheinungen zwischen Subjekt und Objekt herrscht, prägt auch hier deutlich die Erzählsituation: die Grenze zwischen Erzählerin und Eckart verschwimmt immer wieder. Im Text werden auch verschiedene Zeitebenen unvermittelt nebeneinander montiert. Die Erzählerin bereitet den Leser auf eben jene Verschmelzung der Figuren vor, wenn sie zu Beginn formuliert »Ich schlüpfe in das Fell, das er trug.«47 Nach einem »Prolog« beginnt das Buch mit dem Kapitel »Familienbilder«, in dem die Autorin die Jugend und die Familienverhältnisse des NSDichters mit ihrem eigenen Familienhintergrund vergleicht. Dieses Unternehmen ist für die Erzählerin ein Prozess der Selbstvergewisserung, der der Notwendigkeit bei Geistererscheinungen folgt, sich der eigenen unscharf werdenden Identität zu versichern: »In das Fell eines anderen zu schlüpfen bedeutet, die eigene Haut kennenzulernen. Seit ich begonnen habe, mich mit Dietrich Eckart zu beschäftigen, habe ich dieses
45 Ebd., S. 9f. 46 Ebd., S. 7. 47 Ebd., S. 15.
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Gefühl, und auch jetzt, da ich beginne, meinen Weg zu ihm in Worte zu fassen, laufen diese in meine eigene Vergangenheit zurück. [...] Er ist für mich zum Katalysator geworden. Und die Zeit, die ich mit ihm verbringe, ist zum geheimen Versteck geworden, für das Nachdenken über mich selbst. Und umgekehrt? Denke ich nicht an das Kind, das ich war, um ihn zu verstehen? Denke ich nicht an die Konflikte mit meinen Kindern, wenn ich versuche, mir den kleinen Eckart vorzustellen?«48
Beim Vergleich zwischen sich und dem Dichter entdeckt die Erzählerin einige Parallelen: beide verstehen sich als Nonkonformisten, d.h. sie weigern sich, »einen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft einzunehmen«.49 Dabei sind sie zugleich orientierungslos und »süchtig nach Anerkennung«.50 Und beide leiden bzw. litten an ihrer Familie, in der Kommunikationsprobleme, Gefühlskälte und Unverständnis herrschen. Sie, die von ihrer eigenen Faszination für den Nazidichter befremdet ist, findet eine psychologisierende Erklärung für die Gewalt; sie vermutet ihren Ursprung in eben jenen emotionalen Defiziten, die bei ihr, als auch bei Dietrich Eckart, das Produkt einer problematischen Kindheit und Jugend sind: »Steckt in mir eine solche Gewalttätigkeit, dass ich mich von einem Faschisten und Frauenhasser faszinieren lasse? Sich im Töten Luft machen? Ich kenne sie, die Wut der Unterdrückten. Ich kenne den Eisernen Vorhang, der herabsaust in mir, kommt einer mir zu nah. / Eingekapselt aber wuchert der Hass in uns. Die ungebrochene Sehnsucht nach Vertrauen.«51
In der Figur eines jungen rechtsradikalen Skinheads, der sich über seine Gewalttätigkeit äußert, wird dies deutlich gemacht: Im Gesicht des jungen Mannes, der davon spricht, keine Mutter zu kennen, glaubt sie dessen »ungeweinte Tränen«52 zu sehen. Der Moment der Gewalt lässt ihn die Erinnerung an eine schmerzhafte Vergangenheit vergessen, denn »Nur dieser eine
48 Ebd., S. 22. 49 Ebd., S. 19. 50 Ebd., S. 22. 51 Ebd., S. 13. 52 Ebd., S. 38.
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Moment zählt. Kurz vor dem Schlagen. Und dann im Schlagen.«53 Die Erzählerin erkennt in diesem Skinhead sofort ihr eigenes Verhalten während eines Wutausbruchs wieder: Die Gewalt bricht hier aus, »[d]amit die Sehnsucht aufhört.«54 Im zweiten Kapitel schildert Langer wie Dietrich Eckart unter dem Einfluss von Morphium fieberhaft Fantasien durchlebt, in denen er mit seiner Mutter spricht und zugleich versucht, den Vater fern zu halten. Dann beginnt etwas zu knurren, was die Mutter verscheucht: »Du hast sie verscheucht! Unhold! Namenloser! Gesichtsloser! Grausamer!«55 Dieser ›Namenlose‹, ›Gesichtslose‹, der in der Funktion des Vaters aufzutreten scheint, bleibt aber eine Leerstelle. Da dieser aber nicht zu fassen ist, verfügt Eckart über kein Objekt, auf das er seine aufkommenden Aggressionen richten kann: »Ach wäre der Feind nur ein fassbares Gegenüber! So ein fassbarer Feind ist doch was Feines! Dann weißt du, wer dich trifft. Weißt, wen du schlagen kannst.«56 Auch wenn er hier noch keinen fassbaren Feind gefunden hat, so wird dennoch deutlich, wer dies letzten Endes sein wird: die Kritiker, die seine Werke schlecht beurteilten und bei denen es sich in der Mehrzahl um Juden handelt. Etwas später träumt Eckart, dass er so wie Peer Gynt vom »großen Krummen« heimgesucht wird; d.h. einer geisterhaften Gestalt aus Ibsens Theaterstück, deren Bedeutung dunkel und damit interpretationsbedürftig bleibt. Eckart macht sich als Übersetzer des Theaterstücks Gedanken, wer diese Gestalt wohl sei: »›Der Krumme, der tot ist, und der Krumme, der lebt‹: was heißt das? Wer ist das? Ein Wiedergänger?«57 »Und er schließt, dass der große Krumme formlos sei und dass alles, was formlos sei, Angst mache: Und dann kommt die Einsicht: ›Formlos! /Das ist es! Ihr zersetzt die deutschen Städte mit eurem FORMLOSEN UNGEIST! Intellektuelle Hülsen! Nichts als leere Hülsen! Intellekt hat noch nichts erhoben, aber Form! Darauf verstehen wir Deutschen uns!‹«58
53 Ebd., S. 39. 54 Ebd., S. 39. 55 Ebd., S. 136. 56 Ebd., S. 176. 57 Ebd., S. 209. 58 Ebd., S. 210.
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Der Jude als Vertreter des »formlosen Ungeistes« rückt für ihn in die Position jenes formlosen-bedrohlichen, das ihm – wie bereits gezeigt – in einer Rauschfantasie auch die Mutter zu nehmen schien. Damit hat er ein Objekt für seine Aggressionen gefunden: es ist ihm – in Lacanscher Terminologie ausgedrückt – gelungen, seinen Hass an einem Signifikanten festzumachen. Langer scheint hier Lyotards Lesart des Antisemitismus aufzunehmen, die dieser in seiner Studie »Heidegger und ›die Juden‹« formuliert hat.59 Das, was der Antisemit als »den Juden« bezeichnet, ist eine ›Lücke‹ in der Textur der Welt, von der eine tiefe Bedrohung ausgeht und die darum beseitigt werden muss. In Langers Roman entfaltet sich aber vor allem auch eine psychoanalytische Erklärung für die Aggression und Wut des Nationalsozialisten. Jerome Bruner hat festgestellt, dass Kulturen über eine »folk psychology« verfügen, die Modelle darstellen, mit denen Motivation, Bedeutung und Zielsetzung menschlichen Handelns in der sozialen Welt erklärt und bewertet werden.60 Dies geschieht, indem menschliches Handeln in Narrative übersetzt wird, wodurch ihm eine Bedeutung (»meaning«) zugesprochen werden kann. Eine solche »folk psychology« verbindet sich in Langers Buch mit einer psychoanalytischen Betrachtungsweise, die in gewissen Umfang selbst zu einem psychologischen Allgemeinplatz geworden ist. Über den fast schon als Klischee zu bezeichnenden ödipalen Konflikt hinaus weist aber das Narrativ, das Langer im Roman entwickelt, eben auch Elemente auf, die darauf hindeuten, dass weniger eingängige und bekannte psychoanalytische Konzepte in die analysierende Darstellung Eckarts eingeflossen sein könnten: so scheint der »Namenlose« und »Gesichtslose«, der an der Stelle des Vater wie ex negativo erscheint, das Konzept der Verwerfung in der Lacanschen Psychoanalyse aufzunehmen. Dort, wo das Kind im ödipalen Konflikt mit dem Vater die »paternal function«,61 d.h. dessen kastrierende Autorität nicht anerkennt und dessen Existenz verwirft, entsteht laut Lacan eine psychotische Disposition. Indem Langer die Vaterfigur in Eckarts Morphiumrausch als eine bedrohliche Leere auftreten lässt,
59 Jean-François Lyotard, Heidegger und »die Juden«, 2. Aufl., Wien 2005. 60 Jerome Bruner, Acts of Meaning, Cambridge/Mass. und London 1990, S. 33-65, hier: S. 35. 61 Vgl. Bruce Fink, A Clinical Introduction to Lacanian Psychoanalysis. Theory and Technique, Cambridge/Mass. und London 1997, S. 81.
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scheint sie genau auf das Konzept der Verwerfung bei Lacan verweisen zu wollen. Ob nun diese Darstellung des nationalsozialistischen Dichters im Roman damit auch als die Anamnese eines Psychotikers im Lacanschen Sinne gelesen werden kann, bleibt aber fraglich. Dies nicht zuletzt auch aufgrund der Konzeption des Romans, der eine Lehre aus der Pathogenese Dietrich Eckarts ziehen will und damit letztendlich behauptet, es gäbe die Möglichkeit, die Psychose zu überwinden. Dabei ist eine solche Überwindung laut Lacan gerade problematisch.62 Vielleicht lassen sich die Spuren einer psychoanalytischen Theorie der Gewalt, die in den Roman eingeschrieben ist, besser im Rückgriff auf die Objekttheorie Melanie Kleins sichtbar machen. In die Mutter-Kind Dyade bricht das Dritte, der »Vater« ein und bedroht die Liebes-Beziehung zwischen Kind und Mutter. Dieser Eindringling erzeugt Verlustängste, ja eine Verlusterfahrung und zugleich Aggressionen, die sich in narzisstischer Wut ausdrücken. Das Kind möchte die Bedrohung beseitigen, den Eindringling töten. Insofern aber im Fall Dietrich Eckarts die Position des bedrohlichen Dritten leer bleibt, beginnt sich die Aggression ein neues feindliches Objekt zu suchen. Der ›Jude‹ als dieses feindliche Objekt hat nun wenig mit der Wirklichkeit zu tun: dieser erscheint als metaphysische Bedrohung und muss als Produkt einer psychotischen Projektion verstanden werden. In gewisser Weise regrediert Eckart hier auf jene Entwicklungsstufe, die Melanie Klein als »paranoid-schizoide Position« bezeichnet und auf der die Welt nur in Form der eigenen psychotischen Projektionen gesehen wird.63 Die besondere, psychotische Weltsicht wird im Roman auch dadurch deutlich gekennzeichnet, dass diese besondere Variante des ödipalen Konflikts gerade unter der psychogenen Wirkung des Morphiums geschildert wird. Der Titel macht deutlich, dass der von einer psychotisch verzerrten Weltsicht Beherrschte der »Morphinist« ist, der in psychisch ›anderen‹ Zuständen lebt und die Welt durch die eigenen Ängste und Gewaltfantasien verzerrt wahrnimmt. Die psychotische Verschiebung von Aggressionen auf ein böses Objekt geht dabei zwangsläufig mit der Leugnung der eigenen leidvollen Vergangenheit einher. Die eigentlichen Spuren einer biografischen Verletzung der Psyche verbirgt Eckart, wie die anderen Nazi-Größen, hinter narzisstischen Größenfantasien und
62 Ebd., S. 82. 63 Melanie Klein, »Zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände«, in: Dies., Das Seelenleben des Kleinkindes. 2. Aufl., Stuttgart 1982, S. 55.
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Gewaltbereitschaft. Sein verfälschender Umgang mit der Vergangenheit ist Symptom für die Verdrängung einer Verlust- oder Angsterfahrung, die bis auf die ödipale Stufe zurückverfolgt werden kann. Und die Strategie der Leugnung des Geschehenen geht einher mit dem Abspalten, dem Ausstoßen des vermeintlich Bedrohlichen: dem Bösen, das ist der Fremde, der Jude. So wie der Roman durch das Aufrufen von größtenteils psychoanalytischen Motiven die psychische Problematik Eckarts entfaltet hat, so kommt er nun am Ende auch zu einer Art von Diagnose, die man als die Lehre, bzw. die Nachricht verstehen muss, die die Erzählerin im Roman zu dekodieren versuchte: »Das Allerwichtigste in diesem Vorgang, den man ›Erwachsenwerden‹ nennt, scheint mir zu sein, Menschen mit ihren Widersprüchen zu akzeptieren, mit ihren ›guten‹ Eigenschaften und mit ihren ›schlechten‹, die doch so oft zueinander gehören. Wenn Eckart zu Beginn des Jahres 1919 noch vom ›Judentum in uns‹ spricht, ist es wie der letzte Schimmer der Hoffnung.«64
Das, was sie als Nachricht aus der Vergangenheit entziffert, folgt einem psychoanalytischen Verständnis von seelischer ›Gesundheit‹, bzw. Reifung: Erwachsen und damit psychisch reif zu sein bedeutet, das eigene Denken und Handeln dem Realitätsprinzip unterzuordnen. Die führt zu der Einsicht, dass die Dinge und Menschen in der Welt gelegentlich ambivalent sind, d.h. sie verfügen über eine Qualität, die man auszuhalten lernen muss. Dabei werden also nicht mehr die eigenen psychotischen Ängste auf die Welt projiziert, sondern deren Komplexität erkannt und angenommen. Erst wenn dieser Projektionsmechanismus, der alles in der Welt nach den Kategorien von gut und böse unterteilt, überwunden ist, kann auch die Gewalt überwunden werden. Diese Vorstellung einer psychischen Reifung ist die eigentliche Botschaft des Gespenstes, das mit jener Einsicht auch verschwindet, so wie sich auch die paranoiden Ängste des frühkindlichen Stadiums im Lichte des Realitätsprinzips auflösen.
64 Langer, Der Morphinist, S. 352f.
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R ESÜMEE In dem hier analysierten Roman von Hanns-Josef Ortheil geht es um die transgenerationale Vermittlung und Weitergabe von Vergangenheitserfahrungen und einer traumatisierten Kriegserfahrung. Diese Ausgangssituation ist durchaus charakteristisch für viele Generationentexte, in denen die Kinder oder Enkel der Kriegsteilnehmer sich in eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gezogen sehen. Diese Auseinandersetzung nimmt immer auch die Form einer Identitätssuche, bzw. -vergewisserung an, bei welcher der Deutung der Vergangenheit in der Gegenwart eine Schlüsselfunktion zukommt. Die Geistererfahrungen bzw. unheimlichen Präsenzen und der Einbruch des Fantastischen in die Realität belegen in diesen Texten Verwerfungen in der Beziehung zur Vergangenheit. Geistererscheinungen markieren eine spezifische Störung im Raum-Zeit-Kontinuum, was als zentrales Charakteristikum von traumatischer Temporalität verstanden werden muss. Die immerwährende Präsenz der Vergangenheit im Symptom führt dazu, dass die traumatische Erfahrung für den Traumatisierten nie Vergangenheit werden kann. Das Bannen des Geistes des Geschehenen geht dabei mit dem Verstehen dieser Vergangenheit einher, d.h. mit der Entzifferung einer Bedeutung, die von den Nachgeborenen bisher noch nicht realisiert werden konnte und die für deren Leben von existentieller Beziehung ist. In Ortheils Roman handelt es sich bei dieser Bedeutung genau genommen um eine einfache und doch so schwer zu realisierende Botschaft: Der Sohn muss das Leiden der Elterngeneration anerkennen. Das Problem besteht aber nun darin, dass die Nachgeborenen gerade dieses Leiden als psychisch verletzend erfahren, da im Schatten dieses Leidens, das die Familie erfüllte, der Sohn keine eigenständig-stabile Existenz entwickeln konnte. Die zu realisierende Botschaft hat darum einen zweiten Teil: Anerkenne das Leid deiner Eltern und befreie dich zugleich von der einengenden Kraft dieses Leidens und finde zu dir selbst. Es ist der Aufruf an den Sohn, die Kommunikationssituation, die im Spuk keinen klaren Sender und keinen klaren Empfänger kennt, in eine normale Kommunikation mit differenzierten Instanzen zu überführen, in der die gefahrlose Anerkennung des elterlichen Leidens möglich wird. Ortheils Roman schildert hier einen jener Fälle, die Torok und Abraham beschrieben haben: Das Leiden des Sohns ist nicht sein eigenes. Erst als er dies erkennt, kann er sich von diesem Leiden lösen
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und ist zugleich in der Lage, die toten Brüder und den Vater mit ihrer Geschichte anzuerkennen. Damit verschwinden die Geister der Vergangenheit, die ihn an einem eigenen Leben hinderten. Indem der Roman nun diese Geschichte mit dem Untergang des Kommunismus und der Öffnung des Ostens in den späten 1980er Jahren parallelisiert, bekommt die Familiengeschichte eine historische Rahmung, wodurch das Schicksal der Familie als Exemplum der deutschen Gesellschaft lesbar wird. Die Geschichte des Vaters und der Brüder ist – auch angesichts der aktuellen Ereignisse – zu einer Vergangenheit geworden, die anerkannt werden muss, die aber ihren begrenzten Ort nur noch im Gedächtnis der Gegenwart hat. Tanja Langers Roman geht in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einen Schritt weiter. Er folgt nicht dem Muster innerfamiliärgenerationaler Weitergabe von geschichtlicher Erfahrung, sondern stellt eine Arbeit am kollektiven Tätertrauma der Deutschen dar. Langer versucht in der psychologisierenden Deutung die Wurzeln der Gewaltbereitschaft im Nationalsozialismus zu bestimmen und zugleich zu zeigen, wo der Nazi in uns allen steckt und damit in der Gegenwart immer noch präsent ist. Zugleich versucht der Text in letzter Konsequenz eine psychologische Handreichung zu sein, die helfen soll, das Gespenst des Nationalsozialismus, das als Gewalterbe noch immer die Gesellschaft heimsucht, auszutreiben.65 Die Protagonistin als Ich-Erzählerin und ihre Psyche sind im Roman das Einfallstor, durch das das Gespenst der Vergangenheit in die Gegenwart einzutreten vermag. Der Vorgang der Austreibung des Gespenstes einer gewaltsamen Vergangenheit vollzieht sich in der Recherchearbeit der Protagonistin, mit der sie die Biografie Dietrich Eckarts durchleuchtet. Formal überträgt der Roman die wissenschaftliche Gattung der psychologisierenden Biografie in die Handlung eines Romans. Indem die Protagonistin selbst eine solche Analyse des Nationalsozialisten Dietrich Eckart versucht, formuliert der Text nicht einfach nur eine Deutung der Psyche des ideologischen Täters Eckart; es entsteht vielmehr zwischen der Protagonistin und dem Nationalsozialisten eine Art von Übertragungsgeschehen, bei
65 Hier unterscheidet sie sich deutlich von Baumans Analyse des Holocausts als Gespenst. Für ihn ist die »message«, d.h. die Lehre, die die Juden aus dem Geschehenen ziehen, keine Form, das Gespenst zu bannen. Die verschiedenen Lehren, die aus dem Holocaust gezogen werden, stellen vielmehr »Avatare« des Gespenstes dar. Vgl. Bauman, »The Holocaust’s Life as a Ghost«, S. 5.
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dem eine gegenseitige Ausdeutung möglich wird. Das Ergebnis dieser Deutung, die der Roman als die Bannung des Gespenstes darstellt, ist eine psychoanalytische These, die letztendlich nicht nur konventionell ist und die jenes erschrockene Staunen über das Geschehene, das Hannah Arendt formulierte, nicht wirklich mit einer befriedigenden Erklärung erlösen kann. Die erklärende Nachricht, die die Protagonistin am Ende ausbuchstabiert, bleibt vor allem auf die individualpsychologische Ebene beschränkt. Gesellschaftliche Strukturen und Praxen, die vielleicht bei der Frage nach der Gewaltdynamik ebenso eine zentrale Rolle spielen könnten und die kritisch analysiert werden müssten, kommen nicht zur Sprache. Nur am Ende ihrer individualpsychologischen Erkundung ruft Langer die gesellschaftliche Dimension mit zwei knappen Satz auf: »Wie hätte eine Gesellschaft ausgesehen, die begriffen hätte, daß all ihre Wesenszüge zusammengehören? Daß sie das, was sie ablehnt, nicht abschieben, das, was sie ›das Böse‹ nennt, nicht herausreißen kann, so wie ich das, was mich lähmt und traurig macht, nicht aus mir herauskatapultieren kann?« 66
So bleibt am Ende des Romans der Leser mit dem Gefühl zurück, nicht wirklich von dem Gespenst befreit worden zu sein, weil dieses noch immer gewisse Schauer auslöst, die von der NS-Vergangenheit ausgehen.
66 Langer, Der Morphinist, S. 352f.
Fotografie und Geister in der Gegenwartskunst: Treichel, Boltanski, Leibovitz A LEIDA A SSMANN Photography, ghostly revenants, are very particular instruments of remembrance, since they are perched at the edge between memory and
postmemory,
and also,
though differently, between memory and forgetting. MARIANNE HIRSCH1
»Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks.«2 Diesen Satz hat Nietzsche auf die Erinnerung gemünzt und hatte dabei deren unwillkürliche und oft auch unheimliche Wirkungen mit im Blick. Wir können diesen Satz aber auch auf die Fotografie anwenden, die einen isolierten Augenblick aus dem Strom der Zeit und dem Fluss des Erlebens heraushebt, um ein erstarrtes Bild von ihm in eine spätere Zeit wieder einzufädeln oder auf die psychische Wunde des Traumas, das Schreckensbilder einer vergangenen Erfah-
1
Marianne Hirsch, Family Frames. Photography, Narrative, and Postmemory, Cambridge/Mass. 1997, S. 22.
2
Friedrich Nietzsche, »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: Werke in Drei Bänden, Bd.1, hrsg. v. Karl Schlechta, München 1962, S. 211.
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rung gewaltsam in die Gegenwart zurückholt und auf diese Weise die Ruhe eines späteren Augenblicks erheblich stört. Im Folgenden werde ich versuchen, die beiden Begriffe Fotografie und Trauma in eine engere Beziehung zu setzen. Ich werde dafür auf einen literarischen Text von Hans-Ulrich Treichel und begehbare Installationen von Christian Boltanski zurückgreifen. Beide Künstler haben – soweit ich weiß – keine Beziehung zueinander; sie haben aber miteinander gemein, dass sie die Frage nach dem Verhältnis von Fotografie, Trauma und Tod ins Zentrum ihrer jeweiligen Werke stellen. Deutlicher als jedes gemalte Bild und jede literarische Mimesis stellt die Fotografie einen Referenzbezug zur Außenwelt her. Als Zeichen macht sie eine doppelte Aussage, die zwei unterschiedlichen Perspektiven auf denselben Sachverhalt entspringt. Die erste lautet: »Das hat hier einmal existiert« und die zweite lautet: »was hier zu sehen ist, ist nicht mehr da«. Diese beiden Aussagen über Anwesenheit und Abwesenheit des auf der Fotografie Dargestellten deuten dieselbe Vorgabe mit unterschiedlichen Akzenten, so wie sich etwa die beiden Sätze: »das Glas ist halb leer« und »das Glas ist halb voll« auf dasselbe Objekt beziehen. Im Falle der Fotografie werden damit nicht zwei charakterliche Dispositionen des Betrachters akzentuiert, sondern zwei unterschiedliche Funktionen hervorgehoben, die wir die ›dokumentarische Funktion‹ und die ›memoriale Funktion‹ nennen dürfen. In ihrer dokumentarischen Funktion vermittelt die Fotografie die exakte Evidenz einer so nicht mehr zugänglichen Vergangenheit. In ihrer memorialen Funktion bewahrt sie die affektive materielle Spur einer abwesenden oder verlorenen Sache oder Person. In ihrer dokumentarischen Funktion ist die Fotografie Teil des kulturellen Archivs, in ihrer memorialen Funktion ist sie Teil eines individuellen oder kollektiven Gedächtnisses. Die Evidenz-Funktion macht sie zum Gegenstand oder Mittel nachträglicher Rekonstruktion von Erzählungen, Argumentationen und Beweisführungen. Kraft ihrer Gedächtnisfunktion hebt die Fotografie einen winzigen Ausschnitt aus dem vergehenden Fluss der Zeit, der Vergänglichkeit und des Vergessens und macht ihn zu einem beständigen Gegenstand anhaltender Aufmerksamkeit, Andacht und Erinnerung. Im Folgenden wird es mir um die Wanderungen von Fotografien zwischen diesen beiden Polen gehen, dem Speicher der Evidenz auf der einen Seite und dem affektiven Gedächtnisbezug auf der anderen Seite.
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In ihrem Buch Family Frames hat sich Marianne Hirsch besonders auf die Rolle konzentriert, die Fotografien bei der Weitergabe und Traditionsbildung im Familiengedächtnis spielen. Sie hat dabei einen wichtigen Beitrag zur Gedächtnisfunktion von Fotografien geleistet, indem sie den Umgang mit ihnen in einem konkreten Gebrauchskontext untersucht hat. In ihrem Fall ist dieser Kontext ihre eigene jüdische Familie, in der sie als Kind von Holocaustüberlebenden aufgewachsen ist. Unter dem Aspekt der Rahmung spielt der Familienkontext eine entscheidende Rolle, wobei sich aber der Status der Fotografie in der Zeitdimension unweigerlich verschiebt. Diese Verschiebung läuft über drei Stationen. Zunächst ist die Fotografie mit ihrem Memorialwert noch konstitutiver Teil eines kommunikativen Gedächtnisses derer, die die abgebildete Person kannten. In der zweiten Generation kommt es dann zu einer Erweiterung und dabei zugleich zu einer Verschiebung dieser memorialen Funktion. Durch den Umgang der Erwachsenen mit den Bildern wird der Gedächtniswert auf die folgende Generation ausgedehnt, die auf diese Weise in die Erinnerungsgemeinschaft aufgenommen wird. Fotografien verlängern ein lebendiges Erfahrungsgedächtnis über die Generationenschwelle hinweg. Sie changieren dabei zwischen Memorialikonen, Stellvertretern, Geistern und neutralen Abbildungen anonymer Personen. In dieser Überlieferungskette hat Hirsch das Augenmerk auf die besondere Rolle der zweiten Generation gelenkt.3 Für die jüngeren Familienmitglieder nehmen die Bilder der Ermordeten einen geisterhaften Charakter an, weil sie diese nie zu ihren Lebzeiten kennenlernen konnten. Für diese neue Qualität von Erinnerung in einer familialen posttraumatischen Situation hat Marianne Hirsch ihren Begriff ›post-memory‹ eingeführt. »In my reading, postmemory is distinguished from memory by generational distance and from history by deep personal connection. Postmemory is a powerful and very particular form of memory precisely because its connection to its object or source is
3
Zur Profilierung der Zweiten Generation der Holocaustüberlebenden (kurz »2G« genannt) siehe Helen Epstein, Children of the Holocaust. Conversations with Sons and Daughters of Survivors, New York 1988; vgl. auch den programmatischen Text von Sonja Pilcer, »2G«, 1987, unter: ; sowie Sonja Pilcer, Holocaust Kid, New York 2001.
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mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation. This is not to say that memory itself is unmediated, but that it is more directly connected to the past. Postmemory characterizes the experience of those who grew up dominated by narratives that preceded their birth, whose own belated stories are evacuated by stories of the previous generation shaped by traumatic events that can be neither understood or recreated.«4
Mit ihrem Begriff ›postmemory‹ verweist Hirsch auf den Übergang von der Erfahrungsgeneration zu den Nachgeborenen, die noch in die lebendige Zirkulation des kommunikativen Gedächtnisses eingeschlossen sind, solange sie an den Familienerzählungen partizipieren. Außerhalb dieses lebendigen Interaktions- und Kommuniktionsrahmens erlischt der memoriale Wert der Fotografie, die damit mehrfach ihren Status verändert: »This is the transition from the representation of a person to a ghost to a pure picture.« In diesem Kontext gewannen Fotografien einen Gedächtniswert, der durch den traumatischen Verlust von Familienmitgliedern emphatisch gesteigert wird. In einem Klima der Anwesenheit der Abwesenden, in dem die Toten förmlich mit am Tisch sitzen, können die Fotografien geradezu an die Stelle der verstorbenen Familienmitglieder treten, um die sich durch ihren gewaltsamen Tod eine Aura von Schweigen gebildet hat. Ihre enge Verbindung zum Trauma macht die Fotografien zu Vertretern und Ikonen der toten Familienmitglieder. Solche Fotografien sind sowohl rituelle Bezugspunkte der Erinnerung, aber als letzte Spur eines gewaltsam ausgelöschten Lebens besitzen sie zugleich auch einen besonderen Evidenzcharakter. Evidenzfunktion und Memorialfunktion verstärken sich hier gegenseitig und führen zu einer Steigerung und Fetischisierung der konkreten Fotografie. Diese wird zum Stellvertreter der verlorenen Person und gewinnt damit einen geisterhaften Status zwischen Abwesenheit und Anwesenheit. Im Kontext eines traumatisierten Familiengedächtnisses sind Fotografien verstorbener und verschollener Familienmitglieder offenbar mehr als Evidenzträger und Gedächtnisstützen; sie sind zugleich Indices, Fingerzeige auf psychische Wunden, die nicht heilen, sondern in der Familienkommunikation eher unbewusst transportiert als bewusst tradiert werden. Am Beispiel eines deutschen Gegenwartsromans soll das von Hirsch vorgestellte Konzept des ›postmemory‹ auf einen anderen historischen Kontext angewendet werden.
4
Hirsch, Family Frames, S. 22.
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Dabei wird die Situation der zweiten Generation, die eine Leerstelle erbt, zugleich als eine emblematische Figur post-traumatischen Erinnerns und Erzählens verallgemeinert. In diesem Zusammenhang soll genauer überprüft werden, wie sich die Weitergabe von Erinnerungen im Familiengedächtnis zwischen den Erfahrungen der ersten Generation und der Imagination der zweiten Generation vollzieht, wenn diese Kommunikation unter dem Vorzeichen einer traumatischen Erfahrung steht.
T RAUMA UND P OST -M EMORY IN H ANS -U LRICH T REICHELS D ER V ERLORENE In seinem Roman Der Verlorene beschäftigt sich Hans-Ulrich Treichel (geb. 1952) mit dem Leben einer Vertriebenenfamilie in den 1950er Jahren. Der Roman ist in der Ich-Perspektive geschrieben und verarbeitet autobiografische Erfahrungen in einer fiktionalen Form.5 Der Titel bezieht sich auf das Schicksal seines älteren Bruders, von dem Treichel erst kurz vor dem Tode seiner Mutter im Jahre 1991 Näheres erfuhr. Die Eltern waren auf der Flucht vor den Russen dem Tode nur dadurch knapp entronnen, dass sie ihre gesamte Habe, darunter den 1943 geborenen Bruder Günter, auf einem Pferdewagen zurückließen.6 In seinem Roman hat Treichel die Themen von Trauma und Schuld, Auslöschung von Erinnerung und materiellem Wiederaufbau aufs Engste miteinander verflochten. Dabei hat er auch die gender-Perspektive besonders berücksichtigt: »Je mehr die Mutter unter der Last der Erinnerung zu erstarren drohte, umso aktiver wurde der Vater. Er, der zweimal, nach beiden Weltkriegen, erleben musste, Haus und Hof zu verlieren, und der nach dem Krieg mit leeren Händen nach Ostwestfalen gekommen war, hatte sich nun ein drittes Mal eine sogenannte Existenz aufgebaut.
5
Hans-Ulrich Treichel, Der Verlorene, Frankfurt/M. 1998.
6
Diese Information entstammt einem amtlichen Dokument, das die Eltern im Rahmen einer Suchanzeige Ende der 1950er Jahre aufgesetzt hatten. Vgl. HansUlrich Treichel, Der Entwurf des Autors. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt/M. 2000, S. 25.
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Er hätte in Frieden leben können, aber es gab keinen Frieden. Er baute das Haus um. [...] Er tat dies so gründlich, dass das neue Haus in nichts mehr dem alten glich.«7
Während die Mutter in Depressionen versinkt, investiert der Vater in den wirtschaftlichen Aufstieg. Treichels Beschreibung des Umbaus vom kleinen Lebensmittelladen zur Fleischgroßhandlung kann als eine Allegorie des architektonischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus der 1950er Jahre gelesen werden.8 Ich möchte mich hier auf die Rolle der Fotografie in diesem Roman konzentrieren. Er ist aus der Perspektive eines nach dem Krieg geborenen Sohnes erzählt, dessen älterer Bruder in den Wirren der Flucht von Polen in den Westen umgekommen oder jedenfalls abhanden gekommen ist. Der Roman beginnt mit der Beschreibung eines Foto-Albums, das das Bild des verlorenen älteren Bruders auf der ersten Seite zeigt. »Arnold war ganz vorn im Photoalbum, noch vor den Hochzeitsbildern der Eltern und den Porträts der Großeltern, während ich weit hinten im Photoalbum war.«9 Nicht nur durch ihren Platz in der Hierarchie des Albums unterscheiden sich die Brüder, auch in den Foto-Formaten gibt es auffällige Unterschiede. Der jüngere Bruder ist im hinteren Teil des Albums nur auf Schnappschüssen zu sehen oder besser: kaum zu sehen. Das Foto-Album gehört zu den materiellen ›Erinnerungsikonen‹, deren Bedeutung nicht zuletzt in den neuen Familienromanen immer wieder hervorgehoben wird.10 In Treichels
7
Treichel, Der Verlorene, S. 45.
8
Dazu Näheres in Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individu-
9
Treichel, Der Verlorene, S. 7-8.
ellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München 2007, S. 96-135. 10 Anne Fuchs hat in diesem Zusammenhang den Begriff der »memory icons« eingeführt: »While the genre of father-literature is based on a polemical dialogue with the father, the father in the family novels is no longer a real presence. He is dying or has died and is no longer available as an addressee for aggressive arguments and disdainful invectives. The memory icons become the substitute of dead and absent family members through which a belated form of communication becomes possible.« (Anne Fuchs, »From ›Vergangenheitsbewältigung‹ to Generational Memory Contests in Günter Grass, Monika Maron and Uwe Timm«, in: German Life and Letters, Special Issue: Memory Contests, hrsg. v. Anne Fuchs und Mary Cosgove, Vol. 59/2 (2006), S. 169-186, hier: S. 184).
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Roman konstruiert diese Erinnerungsikone eine Ordnung, die die der Lebenden invertiert und untergräbt. Der abwesende, der verlorene Sohn steht an der Spitze der Bedeutungshierarchie, wo seine überwältigende Präsenz alles andere überstrahlt und teilweise zur völligen Bedeutungslosigkeit herabstuft. Das Familienalbum spiegelt in akkurater Weise wieder, wie die beiden Brüder im Familienbewusstsein präsent sind: der Verlorene behauptet einen zentralen Platz in der familiären Trauer, Liebe und Sehnsucht, während der Anwesende unbeachtet und fast unsichtbar ist. Das Foto, das die Präsenz des Verlorenen festhält, wird zu einer zentralen Reliquie, die das gegenwärtige Leben der Familie auszehrt und damit das Existenzrecht und die Identität des jüngeren Bruders. Diese Identität jedenfalls ist mit der des verlorenen älteren Bruders von Anfang an unauflösbar verbunden. Der Ich-Erzähler erfährt von dem Lebenstrauma der Eltern, die ihn im Laufe des Romans mit verschiedenen Varianten der Erzählung konfrontieren. In der ersten Version ist der kleine Arnold auf der Flucht verhungert. In der zweiten Version wurde er von der Mutter in einer Situation größter Bedrängnis in die Hände einer anderen unbekannten Frau auf der Flucht gegeben. Dieser Augenblick höchster Gefahr wird nicht näher ausgemalt; es bleibt dem Sohn und den Lesern überlassen, ob sie sich dabei eine drohende Vergewaltigung oder Erschießung vorstellen. Deutlich wird nur, dass die Eltern dieser Gefahr nicht entkommen konnten, ohne sich von ihrem Kind zu trennen. Das Überleben auf der Flucht hat also einen hohen Preis, den die Eltern ihr restliches Leben lang abzuzahlen haben. Der fehlende Bruder wird dabei zu einem Untoten, der die Lebenden als Geist heimsucht. Das Trauma von Verlust, Scham und Schuld geht dabei auf den jüngeren Bruder über, der in einem bedrückenden emotionalen Milieu aufwächst: »Wohl spürte ich sehr genau, dass ich mich schuldig fühlte und dass ich mich schämte, aber es war mir gänzlich unerklärlich, warum.«11 Die Eltern, die sich mit dem Verlust nicht abfinden können, machen sich auf die Suche nach dem verlorenen Sohn. Das erste Jahrzehnt nach dem Krieg stand im Zeichen der Suche nach fehlenden Familienmitgliedern, die durch die Wirren des Krieges und durch Flucht und Vertreibung auseinandergerissen waren. Im diesem Chaos verloren viele Eltern ihre
11 Treichel, Der Verlorene, S. 17-18.
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Kinder (und umgekehrt), nach Kriegsende suchte jeder vierte Deutsche seine Angehörigen.12 Der Roman erzählt diese Suche aus der Perspektive des jüngeren Bruders. Tatsächlich erhält die Familie eine Spur; es handelt sich um das ›Findelkind 2307‹, dessen Umstände der Auffindung mit der Geschichte des Verlusts übereinstimmen könnten. Was jedoch folgt, ist nicht ein Treffen und eine Familienzusammenführung, sondern die absurde bürokratische Abwicklung des Verfahrens, das das Ziel der Wiedervereinigung nicht befördert, sondern systematisch verhindert. Die Suche wird nämlich durch wissenschaftlich-anthropologische Kontrollen abgesichert, die eine bruchlose Kontinuität der nationalsozialistischen Genetik in die Nachkriegszeit hinein erkennen lassen. Im Verlauf des Such-Verfahrens verwandelt sich das kostbare Foto von Arnold von einem affektiv besetzten Memorialobjekt in ein Evidenz verbürgendes Dokument. Dafür muss es jedoch zuerst einmal aus dem Album herausgelöst werden, eine Aufgabe, die die Mutter mit großer Sorge erfüllt: »Arnolds Photo aus dem Photoalbum war das einzige, was überhaupt von ihm existierte. Die Mutter löste es schweren Herzens aus dem Album. Würde es verloren gehen, wäre der ganze Arnold verloren.«13 Das Bild wechselt damit vom Kontext des Familiengedächtnisses in den der wissenschaftlichen Fakten und Spurensicherung über. Die Gefahr dabei ist groß, denn der materielle Verlust des Bildes würde den (zweiten) Tod des Sohnes bedeuten. Bei dieser Gelegenheit wird zugleich deutlich, dass das Foto im neuen Kontext der Evidenz seine Schwächen hat. Es wurde von einem Berufsfotografen aufgenommen, der in das kleine polnische Dorf Radowiec aus der größeren Stadt Gastynin gekommen war, um ein Bild des Erstgeborenen zu machen. Dabei hat er ein possierliches Babybild aufgenommen und keine besondere Aufmerksamkeit auf genetische Identitätsmarker wie zum Beispiel die Form der Ohren verwendet. »Schließlich sollte das Photo ja auch keine Vorlage für ein Gutachten werden, sondern eine Erinnerung an den ersten Geburtstag des Kindes.«14
12 Der Suchdienst der Roten Kreuzes und die Heimatortskarteien der Kirchen leisteten wichtige Hilfe bei der Suche. 13 Treichel, Der Verlorene, S. 63f. 14 Ebd., S. 69.
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Nachdem viele Formulare ausgefüllt und Anträge eingereicht worden sind, nachdem Briefe gewechselt wurden und sich die Familienmitglieder einer gründlichen medizinischen Untersuchung unterzogen haben, endet der Fall mit einem negativen Gutachten. Mit Auslöschung des letzten Hoffnungsschimmers macht sich ein depressives Familienklima breit. Nach dem Tode des Vaters ändern sich noch einmal die emotionalen Koordinaten des Familiensystems. Der jüngere Sohn muss erfahren, wie er immer weniger er selbst ist und sich immer mehr in einen Statthalter für die abwesenden Familienmitglieder verwandelt. Von seiner Mutter berichtet er: »wenn sie mich wahrnahm, dann war es, als erblickte sie in mir nicht mich, sondern jemand anderen. Ich spürte, dass sie in mir etwas erblickte, was sie verloren hatte. [...] Ich erinnerte sie an den Vater. Und ich erinnerte sie auch an Arnold.«15 Nachdem amtlich entschieden wurde, dass die Familienzusammenführung nicht zustande kommt, kann sich die Mutter mit der Situation nicht abfinden. Da sie nach wie vor von einem starken Drang bewegt ist, die Lücke in ihrer Erinnerung zu füllen, möchte sie sich das Findelkind, das man ihr abgesprochen hat, zumindest einmal aus der Ferne anschauen. Der Roman endet mit einem anonymen Treffen, das aus den gegensätzlichen Perspektiven von Mutter und Sohn berichtet wird. Die Mutter kann den jungen Mann, den sie durch die Scheibe hindurch als Verkäufer in einem Metzgerladen agieren sieht, nicht in Übereinstimmung bringen mit ihrem inneren Erinnerungsbild. Da sie mit ihrer Trauer in der Vergangenheit gefangen ist, ist es ihr unmöglich, in dem jungen Mann ihr Baby wiederzuerkennen. Der Sohn, der all die Jahre mit einem imaginären Doppelgänger hatte leben müssen, erfährt dagegen einen Schock des Wiedererkennens. Er ist plötzlich mit seinem geisterhaften Gegenüber konfrontiert: »Als ich durch die Schaufensterscheibe das Findelkind 2307 sah, erschrak ich und bemerkte sofort, dass Heinrich (so dessen Name) aussah wie ich. Ich sah im Laden mein eigenes, nur um einige Jahre älteres Spiegelbild, das gerade dabei war, eine Kundin zu verabschieden.«16 An das lebendige Erfahrungsgedächtnis der Mutter ist diese Episode nicht mehr anschließbar, ganz im Gegensatz zum Vorstellungsgedächtnis des Sohnes, der in der Lage ist, sich in die Situation hineinzuprojizieren
15 Ebd., S. 139f. 16 Ebd., S. 174.
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und der damit sein inneres Imaginäres durch die Realität beglaubigt sieht. Der Roman endet damit, dass die Familie nach Hause zurückkehrt und die melancholische Suche nach dem verlorenen Sohn an dem Punkt abbricht, wo sich die Pfade noch einmal hätten kreuzen können. Traumatische Erinnerung und Gegenwart, die Geister der Vergangenheit und die Realität haben bei Treichel jedoch keine Chance, sich zu begegnen.
D IE AURA DES I MAGINÄREN IN C HRISTIAN B OLTANSKIS F OTO -I NSTALLATIONEN Ich möchte im zweiten Teil meines Beitrags einige Arbeiten und Installationen eines Künstlers behandeln, der die Überschneidung von dokumentarischer und memorialer Funktion der Fotografie wie kaum ein anderer zum Inhalt seiner Kunst gemacht hat. Ich denke dabei an den französischen Künstler Christian Boltanski, der im Schnittfeld der beiden genannten Funktionen noch eine dritte hervorhebt: die ›memento mori-Funktion‹. Um diese einzuführen, möchte ich noch einmal auf Treichels Roman zurückkommen und eine wichtige Passage zitieren, die ausführlich auf Qualität und Wirkung von Fotografie eingeht. Es geht darum, dass der Erzähler einen Termin bei einem Fotografen hat, weil eine Fotografie von ihm für das amtliche Such-Dossier gebraucht wird. Für diesen Zweck der dokumentarischen Evidenz sind die hinten im Familienalbum eingeklebten Schnappschüsse natürlich völlig ungeeignet. Bevor der Ich-Erzähler das Fotostudio betritt, schaut er sich die im gläsernen Schaukasten ausgestellten Bilder genauer an. »Ich hatte den Schaukasten immer als eine Art Pranger empfunden, der die Menschen vor aller Welt bloßstellte. [...] Ich wusste nicht, was sie eigentlich bloßstellte, denn ganz offensichtlich waren sie nicht entblößt, sondern auf das beste gekleidet und frisiert. Und doch sah ich, wie die Zeit an ihnen fraß, wie die Kinder älter wurden und das Ehepaar alt. Wenn ich in den Schaukasten mit den Photos blickte, dann begriff ich, dass die Menschen sterben mussten. Und nicht nur das: oft sah ich sie jetzt schon als Tote, sie waren zu Tode frisiert, zu Tode gekleidet, zu Tode photographiert. Ich wollte nicht in den Schaukasten.«17
17 Ebd., S. 65.
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In den theoretischen Schriften über Fotografie spielt die metaphorische Verbindung zwischen Fotografie und Tod eine große Rolle.18 Der Augenblick, in dem das Bild ›geschossen‹ wird, führt wie bei einem schweren Schock zu einer Erstarrung, die nicht selten als ›Mortifikation‹ und ›Totenstarre‹ bezeichnet wird. Das arretierte Bild wird herausgehoben aus dem pulsierenden und fließenden Leben, es ist gebannt und fixiert für die Ewigkeit um den Preis seiner Annäherung und Angleichung an den Tod. Solche Assoziationen werden auch bei Boltanski aufgerufen, der in seinen Installationen vor allem mit privaten Porträt-Fotografien arbeitet. Diese werden in der westlichen Kultur massenhaft als ein zentrales Medium eingesetzt, um individuelle Identität abzusichern, Erinnerungen zu stützen und Biografien zu beglaubigen. Boltanski stellt diese Portrait-Fotos nicht selber her, sondern sammelt sie in großem Stil, wo immer er sie findet: in eigenen Kästen und Schubladen, auf Dachböden, im Trödel, in Zeitungen und Archiven. Sie bilden den materialen Rohstoff, aus dem er neue Konstellationen und Konfigurationen zusammenstellt. Seine Installationen leisten somit das, was der Schaukasten des Fotografen für den Ich-Erzähler in Treichels Roman leistet: sie stoßen uns an, über die Bedeutung der Fotografie in Bezug auf Tod und Leben, Erinnern und Vergessen neu nachzudenken. In Boltanskis Arrangements erscheinen die Fotos ohne Namen, Jahreszahlen oder sonstige Informationen. Durch die schiere Menge dieser anonymen Bilder werden die Betrachter optisch überfordert. Jedes Bild mag in sich einen Aufmerksamkeits- und Erinnerungsimperativ enthalten, der angesichts dieses Präsentationsmodus ins Leere geht. Es ist aber nicht nur die Fülle der Bilder, die die Besucher seiner Ausstellungen überwältigt und ratlos macht, sondern gerade auch die fehlende Kontextualisierung dieser Bilder. Damit führt er uns vor, dass ohne eine spezifizierende Referenz, d.h. die Rahmung durch Namen, Zahlen, Erzählungen oder andere Hinweise, diese exakten Fotos informationsleer und bedeutungslos werden. Siegfried Kracauer hat am Beispiel einer historischen Fotografie seiner Großmutter diesen Unterschied näher analysiert. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass die Fotografie, die mit ihrer detailgenauen Akkuratesse jede Rüsche und Falte des Gewandes festhält, das Gegenteil von Erinnerung ist. Sie zeigt
18 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/M. 1989, S. 80; Susan Sontag, On Photography, New York 1977.
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eine äußere Hülle, die die Qualität einer Mumie besitzt. Die Fotografie ist für Kracauer deshalb kein Medium des Erinnerns sondern Indiz eines Erinnerungsverlusts. Die eigentliche Erinnerung wird von der Fotografie »wie unter einer Schneedecke begraben«.19 Abgelöst von der menschlichen Gedächtniskraft wird die Fotografie zu einem Gespenst, das abgetrennt vom menschlichen Leben durch die Gegenwart geistert. »Diese gespenstische Realität«, so schreibt Kracauer, »ist unerlöst. Wir sind in nichts enthalten, und die Photographie sammelt Fragmente um ein Nichts. Die Photographie vernichtet (den Menschen), indem sie ihn abbildet, und fiele er mit ihr zusammen, so wäre er nicht vorhanden. Die Züge der Menschen sind allein in ihrer ›Geschichte‹ enthalten.«20
Auch Marianne Hirsch verwendete das Bild der Gespenster, um die Ablösung der Fotografie von der lebendigen Erinnerung zu beschreiben. Sie spricht von Fotografien im Familiengedächtnis der zweiten Generation als ›ghostly revenants‹; solche Bilder nehmen eine gespenstische Qualität zwischen Anwesenheit und Abwesenheit an, weil die jüngeren mit den von ihnen abgebildeten Personen vertraut sind, ohne ihnen je selbst begegnet zu sein. In einigen von Boltanskis Installationen stellen die Orte der Ausstellung noch einen identifizierenden Bezug zu den vielen reproduzierten Porträts her. In Schulen oder bestimmten Institutionen kann man annehmen, dass an diesen Orten noch lebendige Erinnerungen bestehen, die durch Wissen und Erzählungen gestützt sind. In den Museen dagegen wird dieses Band zu einem lebendigen Erinnerungsbezug bewusst gekappt. Sowohl die dokumentarische als auch die materiale Speicherkraft der Fotografie sind hier zerstört. Die abgebildeten Personen sind zwar sehr gut zu sehen, lassen sich aber weder ›erkennen‹ noch ›wiedererkennen‹. Die mit anonymen Gesichtern gepflasterten Foto-Wände präsentieren Gespenster in einem Mausoleum des Vergessens. Boltanskis künstlerischer Wiedergebrauch von Familien- und Personenfotografien stellt uns nachdrücklich die Erosion des Gedächtniswerts ungerahmter Fotografien vor Augen. Die ins Großformat gebrachten Abzüge
19 Siegfried Kracauer, »Die Photographie«, in: Ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt/M. [11927], 1963, S. 21-39, hier: S. 26. 20 Ebd., S. 32.
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dienen dabei gerade nicht, wie vordergründig suggeriert, der Steigerung von Bedeutung und Aufmerksamkeit, sondern eher der Inszenierung des Vergessens. Boltanski interessiert sich aber nicht nur für diesen Aushöhlungsprozess des Vergessens, sondern gerade auch für die Möglichkeiten einer psychischen, sozialen und kulturellen Wiederaufladung von Bildern. Indem er die gesammelten Fotografien noch einmal abfotografiert, rahmt und in neue räumliche Konstellationen einbringt, eignet er sie sich künstlerisch an und produziert auf seine Weise eine Aura des ›post-post-memory‹. Das Archiv ist das wohl wichtigste Format von Boltanskis Installationen. Archive gibt es in allen Schriftkulturen; sie enthalten das Wissen, das die Macht stützt, legitimiert und Handlungsorientierung festlegt. Historische Archive sind demgegenüber eine neue Errungenschaft des Historismus, die nicht älter sind als die Französische Revolution. Sie sammeln ein und beherbergen (wie auch die historischen und ethnografischen Museen) dasjenige, was keine unmittelbare Bedeutung mehr für die Gegenwart hat, aber auf eine erst noch näher zu bestimmende Art doch von historischem Interesse ist. Das Archiv ist die Grundlage dessen, was einst in der Zukunft über unsere Gegenwart gesagt und gewusst werden kann, wenn diese unwiderruflich zur Vergangenheit geworden sein wird. Die Objekte, die ins Archiv gelangen, haben ihren ursprünglichen ›Sitz im Leben‹ verloren; doch trotz ihres Funktionsverlusts für die Gegenwart wird ihnen – wenn sie als wichtig genug eingestuft werden – der zweite Kontext eines NachGedächtnisses geboten und damit die Chance eines zweiten Lebens und einer enormen Existenzverlängerung eingeräumt. Was in den historischen Archiven lagert, wird materiell konserviert, katalogisiert und erschlossen; es wird damit Teil einer Ordnung, die seine Wiederauffindung und weitere Nutzung möglich macht. Genau diese Möglichkeit der gezielten Rückholung des Abgespeicherten ist in Boltanskis Archiv-Installationen jedoch ausgeschlossen. Er zitiert verschiedene Aspekte des ›Speicherns‹ wie Auswahl, Konservierung, aseptische Sauberkeit, makellose Ordnung, Übersicht und Kontrolle, doch diese Verheißungen bleiben sämtlich unerfüllt, weil er das Rückgrat des Archivs, das Katalogsystem, nicht übernimmt. Er baut keine Archive auf, sondern zitiert lediglich die Form des Archivs; er speichert nichts, sondern inszeniert den Gestus des Speicherns. Seine Inventare, losgelöst von Namen, Schrift und Register, listen nichts auf. Boltanskis Archive sind reine Fassaden; die
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Hohlräume dieser Archive, die gestapelten, patinierten Blechbüchsen und in großen Regalen sortierten Pappschachteln, sind leer. Boltanski hat mehrere große Archiv-Installationen unter dem Titel Suisses morts (Tote Schweizer) zusammengestellt. Die Fotos hat er aus Todesanzeigen Schweizer Tageszeitungen herausgeschnitten und dabei zugleich alle identifizierenden Informationen weggeschnitten. Eine unabsehbare Masse von anonymen Gesichtern blickt in der Ausstellung auf die Besucher, die sich verwirrt fragen, welche Bedeutung tote Schweizer für sie haben und welche Gefühle sie für die vielen Unbekannten aufbringen sollen. Tote Schweizer ist offensichtlich kein klares kulturelles Schema, dafür gibt es keinen ›slot‹, keine mentale Kategorie, die feste Assoziationen aufrufen und bestimmte Reaktionen erzeugen könnte. Mit dieser Verwirrung macht Boltanski die Besucher auf ihre inneren Bilder aufmerksam, die sie in die Ausstellung mitbringen. Was immer wir wahrnehmen, ist nämlich bereits durch innere Bilder gerahmt, die wir mit uns herumtragen. Sie stellen die notwendigen Schemata, die Vorprägungen bereit, durch die hindurch wir überhaupt etwas wahrnehmen. Die Ausstellungswände der »toten Schweizer« kollidieren in der Imagination der Besucher automatisch und unausgesprochen mit den inneren Bildern von Millionen ermordeter Juden, die sich geradezu reflexartig als Hintergrund-Folie einstellen. Diese auf Trauma eingestellten und geeichten imaginären Bilder finden in der Ausstellung aber gerade keine Bestätigung. Die Besucher werden hier auf ihren eigenen Assoziations- und Resonanz-Raum zurückverwiesen, in dem auf indirekte Weise gerade das zum Gegenstand der Wahrnehmung und des Nachdenkens wird, was gar nicht ausgestellt ist. Sie werden dabei auf ihre visuellen Reflexe aufmerksam gemacht und müssen sich mit der unbewussten Rahmung der äußeren durch innere Bilder auseinandersetzen. Mein zweites Beispiel ist ein eigenes Klassenfoto von Boltanski aus dem Jahre 1951, aus dem er einzelne Köpfe der in Reih und Glied versammelten Schulkinder herausfotografiert und in einzelne Blechrahmen eingefasst hat.
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Christian Boltanskis Schulklasse in der Hulst Schule, Paris, 1951 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Christian Boltanski, Installation Monuments: Les Enfants de Dijon, Palazzo delle Prigione, 42. Biennale Venedig, 1986 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
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Diese Köpfe, an die er sich selbst, wie er gesteht, in den 80er Jahren schon nicht mehr erinnern konnte, die für ihn also gewissermaßen bereits ›gestorben‹ waren, hat er in geometrische Kompositionen aus Blöcken von gerahmten monochromen Papieren in den Farben Rot, Gold und Grau eingefügt. Die Installation, die den pathetischen Titel Monuments (1986) erhielt, unterstreicht die memoriale Dimension der Fotografien durch eine sakral anmutende Komposition und Beleuchtung. Durch Kerzen, verkabelte Spotlights und Klemmlampen hat er dabei nicht nur das Lenken der Aufmerksamkeit auf etwas, sondern gewissermaßen auch die Tätigkeit des Erinnerns selbst als synaptische Vernetzung feuernder Neuronen optisch in Szene gesetzt. Diese Kompositionen hat er nicht nur in Museen, sondern auch in Pariser Kirchenräumen wie der Kapelle von Salpêtrière (1986) oder in der Kirche Saint Eustache (1994) ausgestellt. Die Kirche mit ihren an den Wänden aufgestellten Grabskulpturen und Steintafeln ist ein einzigartiger Memorialraum, der Jahrtausende übergreift. Sie ist nicht nur der Inbegriff einer Ewigkeit symbolisierenden Architektur, sondern auch der Raum der liturgischen Pflege und Erneuerung religiöser Traditionen über die Jahrhunderte hinweg. In eklatantem Kontrast zu dieser Memorialarchitektur und Ritualpraxis stehen die von Boltanski hier ausgestellten anonymen und ephemeren Kindergesichter. In diesem Zusammenhang drängt sich mir ein berühmtes Gedicht von Ezra Pound auf, das ich hier in geringer Abwandlung zitieren möchte: »In a Station of the Metro. The apparition of these faces in the crowd Petals on a wet black bough.« [»In a Church in Paris. The apparition of these faces in the church Petals on a wet black bough.«]
Neben seiner eigenen hat Boltanski auch andere Schulklassen in Szene gesetzt. Dazu gehört die Abiturklasse der Chases Schule in Wien aus dem Jahr 1938 und ein Foto von Schulkindern einer jüdischen Schule in Berlin an der Großen Hamburger Straße.
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Abschlussklasse der Chases Oberschule, Wien 1931 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Christian Boltanski, Ausschnitt aus der Installation Le Lycée Chases, Lessons of Darkness, Museum of Contemporary Art, Chicago 1988 (© VG Bild- Kunst, Bonn 2014)
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Auch hier sind die einzelnen Schülerinnen und Schüler nicht namentlich identifiziert, aber ihre Anonymität erhält ein besonderes Gewicht angesichts des gewaltsamen Endes, das diese Generationen hoffnungsfroher Jugend brutal auslöschte. Durch seine Rahmungen macht Boltanski auf diese gewaltsam abgebrochenen Biografien aufmerksam. Der ethische Imperativ des Erinnern-Wollens bricht sich an der Unvorstellbarkeit dieses in seiner Intention, Größenordnung und Durchführung alles Bekannte sprengenden Verbrechens. Der Künstler individualisiert einzelne Gesichter, indem er sie aus der Gruppe heraustrennt und vergrößert. Mit dem Akt der Vergrößerung ist aber keine Annäherung oder Aneignung verbunden. Im Gegenteil werden die vergrößerten Gesichter durch ihre grobe Körnigkeit fremd und unerkennbar. Eine entsprechend paradoxe Wirkung erreicht er durch seine Technik des gleichzeitigen Aufhellens und Abdunkelns. Die Lampen sind so angebracht, dass sie die Gesichter sowohl beleuchten als auch verdecken. In einer anderen Installation werden einzelne ausgeschnittene Kindergesichter durch Tücher verdeckt, die durch einen Ventilator in Bewegung gehalten werden. Historische Fotografie der Jüdischen Schule an der Großen Hamburger Straße in Berlin, 1938
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Christian Boltanski, Projektion eines Bildausschnitts aus der Fotografie der Jüdischen Schule an der Großen Hamburger Straße in Berlin, 1938, 1994 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2014)
Hier verwandelt sich Fotografie in eine Geistererscheinung. Mit dieser Rahmung hat Boltanski ein äußeres Korrelat für das innere Bild eines Gespensts geschaffen, das aus der Leere zurückkehrt, um die Imagination heimzusuchen. Diese Bilder, die auf neue Weise den engen Zusammenhang zwischen Fotografie, Tod und Trauma unterstreichen, sind weit entfernt von der dokumentarischen und der memorialen Funktion der Fotografie. Nach Aushöhlung
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dieser beiden Funktionen inszeniert Boltanski in der post-traumatischen Situation sein eigenes Nach-Gedächtnis (post-post-memory). Er schafft mit seinen Installationen für diese Bilder eine Aura des Imaginären als ihren letzten Rahmen. In diesem Rahmen werden die Fotografien für die Besucher tatsächlich zu ›revenants‹: Es sind Bilder, die man nicht mehr los wird.
B ILD UND T OD – PRIVATE F OTOGRAFIEN ANNIE L EIBOVITZ
VON
Abschließend möchte ich mich noch dem Thema Bild und Tod aus der Perspektive einer Fotografin zuwenden. Es war bereits von der ›memento mori‹-Funktion der Fotografie und den metaphorischen Assoziationen zwischen Fotografie und Tod die Rede, doch diese Betrachtungsform und Redeweise ist weit entfernt von der Fotografie von Toten. Im 19. Jahrhundert gingen Fotografie und Tod eine enge Verbindung ein; das neue Medium löste die Totenmaske ab, es demokratisierte dieses bis dahin sozial exklusive Instrument der Verewigung von Künstlern und wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. So viel sich heute spekulativ über das Verhältnis von Fotografie und Tod sagen lässt, so gering ist die Bedeutung dieses Zusammenhangs in den gegenwärtigen Bildpraktiken.21 Im Gegenteil spielt die Fotografie bei der Verdrängung des Todes eine entscheidende Rolle. Sie mag, wie Kracauer betonte, eine Mortifikation sein, aber der Tod soll fotografisch nicht ins Bild gesetzt werden. Wer Aufnahmen von verstorbenen Angehörigen und geliebten Personen macht, hat damit hinterher ein Problem: Wird man sie sich überhaupt noch mal anschauen wollen? Wem sollte man sie zeigen? Und in welcher Form wären sie aufzubewahren? Passen sie in ein Fotoalbum? Bei Facebook lassen sie sich mit Sicherheit nicht posten. Obwohl die neue Software ›Timeline‹, die User dazu anhält, »ihr Leben, ihre Freundschaften und persönlichen Meilensteine
21 Zu Verwendungsweisen von Fotografien in den Toten-, Begräbnis- und Erinnerungspraktiken westlicher Kulturen vgl. Katharina Sykora, Die Tode der Fotografie. Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch, Bd. I, München 2009; Ina König, Die ›objektiven‹ Toten. Leichenfotografie als Spiegel des Umgangs mit den Toten, Hamburg 2008.
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durch Photos zu dokumentieren«,22 käme niemand auf die Idee, die Leichen-Fotos nahestehender Verstorbener hier auszustellen. Es ist im Rahmen unserer gegenwärtigen Kultur undenkbar, den alltäglichen privaten Tod in den Bereich kultureller Inszenierungen und Selbst-Darstellungen aufzunehmen. Es geht uns beim Fotografieren ähnlich wie Dorian Gray, der alles, was er nicht verkraften konnte, wie Altern, Krankheit, Schuld und Tod in eine verschlossene Kammer sperrte, um seine Restwelt davon freizuhalten. Es gibt viele Formen einer klaren Arbeitsteilung, die uns in unserer Kultur davor bewahren, mit dem Tod konkret in Berührung zu kommen. Es gibt dagegen eine andere Art von Tod, die wir visuell permanent genießen. Dieser Tod ist das Gegenteil von Tabu, nämlich ein visueller Dauerbrenner der Unterhaltungsindustrie, die ohne den Tod in großen Dosierungen gar nicht auskommt: kaum ein Film ohne tödlich getroffene, in sich zusammensinkende und irgendwo auf der Strecke bleibende Menschen. Auch die Besuche der Tatort-Kriminalkommissare im Leichenhaus betreffen uns nicht, weil wir die dort Aufgebahrten mit dem nachforschenden Blick des Spezialisten sehen. Wenn es um den Tod geht, sind wir im Kino (fast) immer auf der sicheren Seite. Die Fotografin Annie Leibovitz ist weltberühmt für ihre hoch stilisierten Fotos, die sie von Stars und anderen öffentlichen Berühmtheiten aufgenommen hat. Diese Bilder sind auf Ausstellungen und in vielen Publikationen zu sehen. Seit mehr als einem Jahrzehnt hat sie in dieses Œuvre auch private Familienfotos einfließen lassen, darunter auch solche, in denen sie uns mit den Toten ihrer eigenen Privatsphäre konfrontiert, einige sind zum Beispiel am Sterbebett ihres Vaters entstanden. Da wir Mutter und Vater bereits von anderen Fotos kennen, sehen wir in diesen Bildern keine fremden, sondern ›familiäre‹ Tote. Im Rahmen der Familie hat das Thema Sterben und Tod seinen Platz. Eine Familie ist ja ein überlebenszeitlicher Personenverbund, in dem Sterben und Geburten zu den entscheidenden gemeinsamen generationsübergreifenden Erfahrungen gehören. Durch Geburten und Todesfälle verschiebt sich dieses Gefüge unaufhörlich und bleibt in ständiger Bewegung. Das bedeutet, dass der Tod damit zu einer Grunderfahrung wird, die zugleich die Verschiebung der eigenen Position in der Generationenkette zum Bewusstsein bringt.
22 .
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Geburt und Tod sind in der Tat zwei zentrale Themen, die in Annie Leibovitz’ Privatbildern eine wichtige Rolle spielen. Der Beginn und das Ende des Lebens sind liminale Momente, Grenzen zwischen Sein und Nichtsein, aber im Zeitrahmen der Familie auch Teil einer übergreifenden Bewegung des Abschieds und der Erneuerung. Zwischen 2000 und 2005 erlebte Leibovitz die Geburten von drei Töchtern und den Tod zweier ihr am nächsten stehenden Personen, ihrer Partnerin Susan Sontag und ihres Vaters Sam Leibovitz. Diese Erfahrungen bewegten sie dazu, die elementaren Lebensgrenzen ihrer familialen Welt auch in ihr öffentliches Œuvre mit einzubeziehen. Ich möchte hier abschließend noch einige persönliche Bemerkungen zu den Bildern von Susan Sontag anfügen. In diesem Fall sind wir konfrontiert mit den Fotos einer Fotografin von einer Fotografie-Theoretikerin, die im Abstand von 25 Jahren zwei einflussreiche Bücher über Fotografie veröffentlicht hat.23 Ihre Person durchkreuzt somit die getrennten Kategorien der Starbilder und der Familienfotos, denn sie gehört beiden Sphären an. Sie ist eine öffentliche Person, die wir auf den Bildern der Fotografin in privaten Szenen erleben. Die Bilder bringen uns die öffentliche Person Susan Sontag als Privatperson dabei näher, als uns lieb sein kann. Wir sehen Bilder von höchster Intimität, ohne dazu emotional autorisiert zu sein. Während wir die Familienbilder empathisch als Stellvertreter für Personen annehmen können, denen wir ebenso nahe stehen, ist das bei der Ausstellung des Leiden und Sterbens einer öffentlichen Person nicht möglich. Deshalb – und im Folgenden spreche ich nur noch für mich – kann ich die emotionale Durchschlagskraft der Bilder der leidenden und toten Susan Sontag nicht beantworten; sie sind tief verstörend, nicht wegen des dargestellten Leidens und Sterbens, sondern weil ich dazu (ganz im Gegensatz zur Fotografin) keine angemessene emotionale Beziehung herstellen kann.24 Ich komme mir vor wie auf einer Beerdigung, wo ich den Verstorbenen nicht kannte, fühle mich deplatziert und in die Rolle eines Voyeurs gedrängt. Mir werden Bilder angeboten, die fortan in meinem Gedächtnis haften, aber sie haben
23 Sontag, On Photography; sowie Susan Sontag, Regarding the Pain of Others, New York 2002. 24 Die Bilder der verstorbenen Susan Sontag zirkulieren frei zugänglich im Internet. Vgl. unter: .
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dort nichts zu suchen. Deshalb suchen sie mich heim. Sie mischen sich nicht mit den vielen anderen Bildern, die ich von Susan Sontag im Gedächtnis habe. Ohne eine Beziehung der Nähe und das Gewicht der persönlichen Trauer habe ich kein Recht auf den Anblick der toten Susan Sontag. Es besteht keine Beziehung zwischen mir und der abgebildeten Person, die mir ein Anrecht auf diese intimen Bilder gäbe. Das bringt mich noch einmal zurück zum Zusammenhang von Fotografie als Medium des Erinnerns und Vergessens. Fotografien greifen ein in die psychische Ökonomie des Erinnerns und Vergessens. Sie stützen die Erinnerung an die abgebildete Person, sie kanalisieren und reduzieren sie zugleich aber auch. Der Name Susan Sontags ist fortan verbunden mit diesen Bildern, die sich – wie ich meine – in unserem Gedächtnis ungebührlich breit machen. Für viele, die ihre Texte nicht kennen, reduziert sich ihr Leben und Werk gar auf die dargestellten Grenzmomente. Diese Bilder, die nun auch durchs Internet geistern, haben tatsächlich etwas Gespenstisches. Sie sind Gegenstand einer engagierten Debatte geworden, sie erweitern aber nicht unser Verhältnis zu Susan Sontag, sondern stehen fortan zwischen uns und ihrer Person. Wir können im Rückblick drei Bild-Phänomene unterscheiden, die den ›gespenstischen‹ Charakter von Fotografien noch einmal unterstreichen. Das erste ist die Kommunikations-Lücke zwischen den Generationen, wenn die Älteren unter dem Druck einer traumatischen Erfahrung verstummen und die Jüngeren nicht verstehen oder nur ahnen können, dass das Bild einer Person zugleich das letzte Unterpfand ihrer nicht vollständig erzählbaren Geschichte ist. Das ist die Situation des ›postmemory‹, die eine paradoxe Situation der Verlängerung von Erinnerung unter der Bedingung ihrer Abwesenheit ist. Die Lücke zu erinnern und mit der eigenen Imagination aufzufüllen kann dann zu einem Imperativ für die folgende Generation werden. Das zweite Bildphänomen mit gespenstischem Charakter sind Markierungen des Nicht-Vorstellbaren und Nicht-Darstellbaren im Bild selbst. Hierzu gehören beispielsweise die Formen der Nachbearbeitung, durch die Boltanski die Fotos der jüdischen Schülerinnen und Schüler dem Blick das Betrachters entrückt, indem er deren Gesichter aus den Gruppenfotos herausvergrößert und dabei zugleich verdeckt und verhüllt. Die Entzogenheit des Bildes wird damit selbst zum Teil seiner Präsentationsform. Auch die Spur einer materiellen ›Wunde‹ im Bild selbst kann hier angeführt werden.
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Das ist das Merkmal einiger Bilder, die Annie Leibovitz von Susan Sontag gemacht hat. Ein Porträt, das die von ihrer Krebskrankheit Gezeichnete in Paris darstellt, ist in der Mitte durchgerissen und wieder zusammengefügt. Ein weiteres Bild, das die aufgebahrte Tote in einem flachen Querformat zeigt, ist mehrfach zerschnitten und wieder zusammengestückelt. Da die Achse der Liegenden rechts und links leicht nach oben abgerundet ist, durchbricht das Bild der Toten dabei zugleich die stabile Rahmung des gesicherten Rechtecks. Das dritte Form eines ›gespenstischen Bildes‹ betrifft seinen Bezug zum Betrachter, seinen affektiven Charakter, sein Punctum. Dieses wird nicht über ästhetische Betrachtung und Einfühlung vermittelt, sondern stellt sich nur ein, wenn zwischen Bild und Betrachter ein Band der persönlichen Erfahrung und Erinnerung besteht. Ganz anders als Bilder von Lebenden – die Fotografie ist ja auch ein Medium der ›Verewigung‹ – konfrontieren uns Fotografien von Toten nicht mit einem Bild der Person, das die Erinnerung bestätigt oder die Imagination dauerhaft stützen kann. Das Bild der Toten konfrontiert uns vielmehr mit der Erfahrung eines absoluten Risses zwischen Tod und Leben und stellt dabei diese schockartige Einsicht in die irreversible Trennung auf Dauer. Dieser Blick jedoch lässt sich ohne eine persönliche Bindung zu den Toten nicht einnehmen und ohne diesen Schock verliert das Bild seinen menschlichen Bezug.
Postsowjetische Heimsuchungen: Die kulturelle Erinnerung an den Sowjetterror A LEXANDER E TKIND
Die postsowjetische Kultur, die von ihrer unbestatteten Vergangenheit heimgesucht ist, hat merkwürdige Erinnerungspraktiken hervorgebracht, die eine detailliertere Untersuchung verdienen. Der amerikanische Historiker Stephen Kotkin hat in der postsowjetischen Transformation nichts weniger als eine ›Shakespeare’sche Qualität‹ wahrgenommen, und es überrascht nicht, dass Beobachter, die zu verstehen versuchen, was ihrem Land widerfahren ist, sich immer wieder drastischer Metaphern bedienen.1 Die Situation ist dabei ziemlich klar: In einem Land, in dem Millionen von Menschen unbestattet geblieben sind, kehren die Toten als Untote zurück. Das zeigt sich in besonderen Erinnerungspraktiken, um die es in diesem Beitrag gehen wird, aber auch in Romanen, Filmen und anderen Kulturformen, die die Erinnerung der Menschen widerspiegeln, prägen und vereinnahmen. Inspiriert von Jacques Derridas ›Hauntologie‹2 habe ich für die postsowjetische Situation meine Theorie des kulturellen Gedächtnisses, die aus ›Hardware‹ (Denkmälern) und ›Software‹ (Texten) bestand, um eine dritte Kategorie erweitert: ›Ghostware‹ (Gespenster). 1
Stephen Kotkin, Armageddon Averted: The Soviet Collapse, 1970-2000, Oxford
2
Jacques Derrida, Marx‘ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und
2003, S. 182. die neue Internationale, aus dem Frz. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt/M. 1996.
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D IE
SCHWARZE
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DER
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In der Nähe des Belomorkanals im nordwestlichen Winkel Russlands wurde im Juli 1997 von unabhängigen Sachverständigen aus St. Petersburg und Petrozavodsk ein großes Massengrab entdeckt. Dieser Ort, der nach dem nahe gelegenen Dorf Sandarmoch benannt ist, besteht aus einem Kiefernwald, der kleine, regelmäßige Vertiefungen in der Erde aufweist. An diesem Ort wurden zwischen 1937 und 1938 ca. 9.000 Menschen erschossen. Diese Opfer des Sowjetterrors waren Männer und Frauen, die sechzig verschiedenen Ethnien und neun Religionen angehörten, darunter ein ungewöhnlich hoher Anteil von Mitgliedern der politischen und akademischen Eliten. Mehr als Tausend der Ermordeten wurden aus unbekannten Gründen aus dem Hunderte von Kilometern entfernten Soloveckij-Lager an diesen Ort verbracht, wo sie gezwungen wurden, ihre eigenen Gräber auszuheben, um dann an Ort und Stelle erschossen zu werden. Die Gräber wurden 1997 von Veniamin Iofe und Irina Flige, den Leitern von Memorial in St. Petersburg, und einem lokalen Amateurhistoriker namens Jurij Dmitriev aus Petrozavodsk entdeckt. Keiner aus dieser Untersuchungsgruppe war als Fachhistoriker ausgebildet; Iofe hatte immerhin die solide Ausbildung eines politischen Gefangenen hinter sich. Die Entdeckung der Gruppe beruhte auf einer Zeugenaussage von Hauptmann Matveev, der 1937 vom Volkskommissariat des Inneren (NKVD) nach Karelija geschickt worden war und in Sandormoch Tausende erschoss, bevor er 1939 festgenommen und verhört wurde. Es waren die von ihm erbrachten Beweise, die sich im Archiv erhalten hatten, die zur Entdeckung der Überreste seiner Opfer führten. Auch Matveev überlebte; er starb erst 1981 als alter Mann. Bei den Ausgrabungen vor Ort entdeckte man Knochen und Schädel, viele davon mit Einschusslöchern. Die unter einer dünnen Erdschicht verwesenden Leichen der Menschen, die Matveev bei seinen täglichen Einsätzen hingerichtet hatte, zeichnen sich als eine sichtbare Vertiefung im Boden ab. Es gibt inzwischen in Sandarmoch einen Denkmalkomplex, der jeweils aus einem Pfosten mit einem spitzen Holzdach besteht. Jeder solcher Pfosten kennzeichnet eines der Massengräber, Dutzende dieser Markierungen sind über den ganzen Kiefernwald verstreut. Zu der Gedenkstätte zählt auch eine Skulptur von Grigorij Saltup, einem produktiven Künstler und Schriftsteller aus Petrozavodsk. Nachdem er an den Ausgrabungen teilgenommen
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hatte, bewarb er sich beim Kulturministerium von Karelija mit einem Denkmal-Projekt. Die Regierung versprach finanzielle Unterstützung, stellte aber kein Geld zur Verfügung. Saltup geht davon aus, dass das Ministerium bestochen werden wollte. Um das drei Meter hohe Modell in seiner Werkstatt realisieren zu können, nahm Saltup eine Hypothek auf seine Wohnung auf, verkleinerte das Projekt und setzte es in einer örtlichen Fabrik um.3 Das Denkmal zeigt einen Engel mit ausgebreiteten Flügeln und gefesselten Händen, der darauf wartet, erschossen zu werden. Die Spitze eines Steinobelisken trägt die Inschrift: »Ihr Menschen, tötet einander doch nicht!« Es war mir möglich, den lokalen Amateurhistoriker Jurij Dmitriev, einen schmächtigen Mann mit einem Seemannsschnauzbart und ungewöhnlicher Energie, selbst zu interviewen. Er ist besessen von der Pflicht des Gedenkens, die er als seine persönliche Verantwortung empfindet. Sein Vater diente im sowjetischen Militär: Eine Verbindung seiner eigenen Familie zum Sowjetterror scheint nicht gegeben zu sein.4 Zu seinen Entdeckungen zählt die größte bekannte Grabstätte im Gebiet der berüchtigten Gulag-Baustelle des Belomorkanals, der die Ostsee und das Weiße Meer verband. Dmitriev wusste, dass 1933 das hektische Rennen, den Frühjahrsfluten zuvorzukommen, etwa zehntausend Gefangenen das Leben kostete, die das zehn Kilometer lange felsige, gefrorene Terrain des 165. Kanals ausheben mussten, der den nördlichen mit dem südlichen Teil des Belomorkanals verbindet. Viele Monate lang durchforstete Dmitriev ohne Erfolg die Wälder und Sümpfe der Umgebung, bis er beim Durchstreifen des Waldes mit einem örtlichen Jäger auf ein tiefes Loch stieß. Es stammte von einem Waschbär, der die menschlichen Überreste unter einer Lage Steine ausgegraben hatte. In der Nähe entdeckte Dmitriev dann etwa hundert
3
Grigorij Saltup, Barak i sto devjatnadcatyj, Petrozavodsk 2004.
4
In diesem Punkt ähnelt Jurij Dmitriev einem anderen Erinnerungsenthusiasten, nämlich Dmitrij Jurasov, einem Leiter der Gedächtnisgesellschaft, dessen Interesse an der Unterdrückung sich aus der Lektüre von Sowjet-Enzyklopädien entwickelte; siehe hierzu Stephen Kotkin, »Terror, Rehabilitation, and Historical Memory: An Interview with Dmitrij Jurasov«, Russian Review, 51, April 1992, S. 245. Ein weiteres Beispiel für Exhumierungen und umstrittene Erinnerungen findet sich bei Irina Paperno, »Exhuming the Bodies of Soviet Terror«, Representations, 75, 2001, S. 89-118.
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weitere solche Vertiefungen in dem moosbewachsenen Boden. In diesem sumpfigen Gelände hatten die Opfer tiefe Löcher ausgehoben, in denen sie dann erschossen und mit Steinen bedeckt worden waren, um ihre Freilegung durch Raubtiere zu verhindern, letztlich ohne Erfolg. Die Stelle ist nicht weiter gekennzeichnet.5 1997 entdeckte Dmitriev ein weiteres Massengrab in Krasnyj Bor, 20 Kilometer von Petrozavodsk entfernt. Nachdem er etwa 40 weitere solcher ›Schießgruben‹ gekennzeichnet hatte, begann er mit seinen Ausgrabungen. Nach Monaten der Arbeit mit einer Schaufel und einem Computer hatte Dmitriev die Namen von 1.193 Opfern und zwei Henkern identifiziert. Da es ihm nicht gelang, die örtlichen Behörden zu motivieren, Geld für ein Denkmal bereitzustellen, nahm er die Sache selbst in die Hand und errichtete ein selbstgemachtes Monument. Zwei Felsen liegen wie riesige Zähne in der Landschaft unter dem freien Himmel. Nach vielen Jahren ausgiebiger Recherchen und dem Bemühen um finanzielle Unterstützung veröffentlichte Dmitriev im Jahre 2002 einen tausendseitigen Band. Darin werden der mehr als 13.000 biografische Einträge für diejenigen auflistet, die 1937-1938 in Karelija ermordet wurden.6 In der Anfangsphase der Arbeit an diesem Buch wurde Dmitriev von Ivan Čukčin, einem Polizeibeamten, unterstützt, der Abgeordneter der russischen Duma wurde. In den 1990er Jahren konnten solche Leute einem noch Türen öffnen. Ein drittes Mitglied dieser Gruppe war Pertti Vuori. Čukčins Vater war ein NKVD-Offizier, der selbst am Terror beteiligt war. Vuoris Vater wurde 1936 während der ›Repressionen‹ in Karelija ermordet. Obwohl sie gegensätzliche Beziehungen zu der Katastrophe in der Vergangenheit hatten, machten sie ihre Trauerarbeit zu einem gemeinsamen Projekt. Während ihrer Arbeit am Buch der Erinnerung starben Čukčin und Vuori bereits mit jungen Jahren. Dmitriev erklärte darauf öffentlich, seine Mitautoren seien »von der schwarzen Energie der Verbrechen und Morde« getötet worden, »die Jahrzehnte vorher begangen worden waren«. Sein eigenes Martyrium schilderte die örtliche Zeitung mit folgenden Worten:
5
Jurij Dmitriev, Belbaltlag otkryvaet tainy, Kur'er Karelii, 12. November 2003.
6
Jurij Dmitriev (Hrsg.), Pominal'nye spiski Karelii, 1937-1938, Petrozavodsk 2002, siehe auch Jurij Dmitriev, Mesto rasstrela Sandarmoch, Petrozavodsk 1999, und Jurij Dmitriev (Hrsg.), Bor krasnyj ot prolitoj krovi, Petrozavodsk 2000.
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»Nach vielen Monaten, die Dmitriev im Archiv mit der Lektüre der Akten derjenigen verbracht hatte, die exiliert oder erschossen worden waren, verlor er den Appetit und konnte nicht mehr schlafen … Es gibt eine schwarze Energie, die in jeden einsickert, der die gelblichen Seiten der Verhöre, Denunziationen und Erschießungsprotokolle liest. Doch Dmitriev setzte seine Arbeit am Buch der Namen fort. Ihm ging das Geld aus. Seine Freunde starben. Seine Nerven ließen ihn im Stich. Seine Beziehungen wurden zerstört. Monatelang verfiel er dem Alkohol.«7
Ich vergleiche Denkmäler gerne mit Kristallen, die sich in einer Erinnerungslösung bilden, vorausgesetzt, diese Lösung ist stark, stabil und nicht zu heiß. Die zeitgenössische russische Erinnerung nähert sich nicht diesen Minimalbedingungen der Kristallisierung an. Eine wichtige Bedingung für den Erinnerungsprozess, der der Temperatur der Lösung entspricht, ist der gesellschaftliche Konsens. Ein starker gesellschaftlicher Konsens trägt zur Vermehrung von Denkmälern bei; da es aber nicht mehr viel zu diskutieren gibt, wenn alle einer Meinung sind, bleiben öffentliche Debatten aus, wie das im zeitgenössischen Deutschland der Fall ist. In Russland dagegen unterdrückt ein schwacher Konsens die öffentliche Erinnerung, die dafür in der kleinen Minderheit eine umso größere Intensität annimmt. Das Ergebnis sind die enthusiastischen Bemühungen Einzelner. In dieser Situation schlägt die Stunde für wirkliche Helden des Gedenkens wie Dmitriev. Doch an vielen Orten, an denen der Sowjetterror gewütet hatte, gibt es nach wie vor keinerlei Denkmäler. So ruhen etwa, um ein bekanntes Beispiel zu nennen, etwa 30.000 Tote in nicht gekennzeichneten Gräbern in Toksovo in der Nähe von St. Petersburg. Ein Teil dieser Gegend ist bei wohlhabenden Russen wegen ihrer landschaftlichen Schönheit und Nähe zur Stadt beliebt. An einem anderen Teil befindet sich ein Schießstand, der von der Marineartillerie nach wie vor genutzt wird, um Waffen zu testen. Eine Moskauer Zeitung schrieb dazu 2002: »Sie werden noch immer erschossen.«8
7
»Cena pamjati«, Karel'skaja gubernija, 26 (315), 26. Juni 2002.
8
Pavel Gutiontov und Andrej Černov, »Ich prodolžajut rasstrelivat' do sich por«, Novaja gazeta, 9. November 2002.
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E IN V ERGLEICH D EUTSCHLAND
ZWISCHEN
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UND
Um die Unterschiede der Erinnerungssituation in Russland und Deutschland genauer herauszuarbeiten, müssen wir einige wichtige Faktoren berücksichtigen. Erstens dauerte das sozialistische Regime in Russland viel länger als das Naziregime in Deutschland. Auch das ›Beheben‹ des Schadens erfordert wahrscheinlich mehr Zeit, doch Russland ist noch sehr viel weniger weit vom Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Sowjetstaates entfernt als Deutschland von Ende des Nazistaats. Zweitens waren die Opfer der Sowjets viel weniger einheitlich als die Opfer der Nazis. Ihre Nachfahren leben weit verstreut und haben in manchen Fällen konkurrierende Interessen, so etwa die russischen und ukrainischen politischen Eliten. Drittens wurde Deutschland seine Umgestaltung nach dem Krieg als Folge seiner Niederlage und Besetzung aufgezwungen, während die postsowjetische Umgestaltung Russlands in eigener Regie verlief. Viertens hat sich die Erinnerung an die Nazizeit im Westen und im Osten Deutschlands unterschiedlich entwickelt. Möglicherweise ähnelt die Situation in Russland eher der Entwicklung in Ostdeutschland. Fünftens unterschied sich die Traumatisierung und subjektive Opfererfahrung erheblich. In den sowjetischen Lagern teilten die meisten politischen Gefangenen die Prinzipien ihrer Verfolger, waren jedoch in ihrem jeweiligen Einzelfall davon überzeugt, dass es sich um eine Verwechslung handeln müsse. In den Nazilagern hingegen stellte das typische Opfer seine Identifikation (z. B. als Jude) nicht in Frage, sondern lehnte die allgemeinen Gründe für seine Verfolgung ab. Diese unterschiedlichen Empfindungen hatten auch unterschiedliche Folgen: eine starke und kohärente antifaschistische und zionistische Bewegung im einen Fall und eine chaotische Mischung aus Loyalität, Eskapismus und Widerstand gegenüber dem Sowjetstaat im anderen. Mit wenigen Ausnahmen verschwanden die jüdischen Opfer des Naziregimes auf eine Weise, die es ihren Familien und Gemeinschaften unmöglich machte, noch irgendwelche Hoffnungen zu hegen. Im Gegensatz hierzu kehrten viele Gefangene des Gulags aus diesem zurück; von den vielen, die nicht zurückkehrten, wussten Verwandte und Freunde häufig jahre- und jahrzehntelang nichts. Die Formen der Trauer in einer Situation anhaltender Ungewissheit ist schwierig und theoretisch noch nicht ausreichend analysiert. Jacques Derrida hat dies folgendermaßen formuliert: »Nichts ist
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schlimmer für die Trauerarbeit als die Verwirrung oder der Zweifel. Man muß wissen, wer wo begraben ist – und man muß wissen oder sich versichern, daß der Begrabene in dem, was von ihm übrig ist, auch wirklich ruht. Daß er dort bleibe und sich nicht mehr rühre!«9 Unter der Bedingung von Lebensweisen, die relativ geordnet waren, unterschied Freud bekanntlich zwischen Trauer und Melancholie und begründete diese Unterscheidung mit der unterschiedlich stark ausgeprägten Fähigkeit des Einzelnen, die Wirklichkeit des Verlustes anzuerkennen oder eben auch nicht. Nach Freud wird ein Verlust verdrängt, wenn er nicht anerkannt wird, und nimmt dann seltsame Formen an; das Verdrängte kehrt in Gestalt des Unheimlichen zurück. Tote, die nicht angemessen bestattet und betrauert werden, verwandeln sich in Untote. Freuds Metaphern behalten ihren heuristischen Wert, doch aufgrund unterschiedlicher historischer Kontexte verschieben sich die Grenzen erheblich zwischen Gewissheit und Zweifel, Trauer und Hoffnung, Gesundheit und Pathologie, Leben und Tod. Deshalb bleibt vorerst unklar, wie sich die Grenze zwischen Trauer und Melancholie im Zustand eines ungewissen Verlustes darstellt. In Situationen, in denen die geliebte Person aus unerklärlichen Gründen verschwindet, in denen sie vielleicht noch lebt und möglicherweise auf wunderbare Weise zurückkehrt oder in denen es keine zuverlässigen Informationen über ihren Verlust gibt, sollte man Freuds klinische Unterscheidung modifizieren.10 In der Situation der sowjetischen Verfolgungen war
9
Derrida, Marx‘ Gespenster, S. 26.
10 Versuche, Freud und Benjamin über den Nachweis einer Verbindung zwischen Melancholie und Historismus zusammenzudenken, finden sich bei Martin Jay, Refractions of Violence, New York: Routledge, 2003, in Loss: The Politics of Mourning, hrsg. v. David L. Eng und David Kazanjian, Berkeley 2003; sowie Alessia Ricciardi, The Ends of Mourning. Psychoanalysis, Literature, Film, Palo Alto/CA., 2003. Neue Lesarten von Freuds Werken zu Trauer, Melancholie und Objektbeziehungen neigen dazu, das kontinuierliche, endlose Trauern als einen nicht-pathologischen Zustand zu akzeptieren, den Derrida als ›midmourning‹ [Wortspiel mit ›midmorning‹ [Vormittag], A.d.Ü.] bezeichnet hat; vgl. Tammy Clewell, »Mourning beyond Melancholia: Freud’s Psychoanalysis of Loss«, Journal of the American Psychoanalytic Association, 52, Nr. 1, 2004, S. 43-67. In diesen Werken wird der Einfluss von Freuds ›Wirklichkeitsprüfung‹ auf die Trauerarbeit als selbstverständlich vorausgesetzt.
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die Ungewissheit äußerlich und realistisch und nicht (wie Freud bei seinen Patientinnen konstatierte) innerlich und pathologisch. Bei einem Großteil der sowjetischen Erfahrung konnte der Tod nicht als Tod anerkannt und dem Überleben nicht als Leben getraut werden. Der Staat, die Quelle der Repressionen, war zugleich die einzige Informationsquelle. Millionen wurden zu langen Haftstrafen ›ohne Recht auf Korrespondenz‹ verurteilt. Jahre- oder jahrzehntelang gab es keine Informationen über sie. Wie wir heute wissen, wurden einige dieser Opfer unmittelbar nach ihrer Verurteilung ermordet, während andere erst später in den Lagern starben. In beiden Fällen wurden die Angehörigen in der Regel nicht informiert. Menschen kehrten früher oder später aus den Lagern zurück, als dies bei ihrer Verurteilung festgelegt worden war. Das Urteil hatte keinen oder nur einen geringen prognostischen Wert. Der Gulag bot keine Wirklichkeitsüberprüfungen für Hoffnung oder Trauer. Dafür bot er einen fruchtbaren Boden für die Produktion von Gespenstern.
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Das erste Denkmal für die Opfer des Gulags, ein einfacher Granitstein, wurde 1989 auf dem Friedhof der Insel Soloveckij von Veniamin Iofe und einigen Aktivisten der Nichtregierungsorganisation Memorial errichtet.11 Dieselbe Gruppe errichtete übrigens Jahre später in Moskau und St. Petersburg ähnliche Gedenksteine. 1999 äußerte sich Iofe auf dem SoloveckijFriedhof: sein Stein sei »ein Fragezeichen gewesen, das den Sinn dieser Tragödie hinterfragt. Wir wollten wissen, warum all diese Millionen geopfert wurden, wenn sie tatsächlich geopfert wurden? Was war der hohe Wert, der diese Opfer erforderlich machte?«12 Dieser Zweifel Iofes an der Idee des Opfers ist ein Widerhall auf Giorgio Agambens philosophisches Werk über die Konzentrationslager der Nazis, das wiederum von dem Auschwitz-Überlebenden Primo Levi inspiriert wurde. Um den Status des
11 Zu westlichen Geschichten der Gedächtnisgesellschaft vgl. Nancy Adler, Victims of Soviet Terror: the Story of the Memorial Movement, Westport/CT. 1993; Anne White, »The Memorial Society in the Russian Provinces«, Europe-Asia Studies, 47, Nr. 8, 1995, S. 1343-1366. 12 Iofe, »Itogi veka«, in Ders., Granitsy smysla, S. 52.
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Opfers eines ›Ausnahmezustands‹ zu definieren, entwickelte Agamben das Konzept des ›Homo sacer‹. Darunter versteht er ein Menschenleben, »das nicht geopfert werden kann und dennoch getötet werden darf.«13 Nur ein Leben, das einen Wert besitzt, darf geopfert werden. Da Lager dauerhaft rechtlose Bereiche waren, ließ sich, so Agamben, dieses Leben nicht mit Begriffen ausdrücken, die jenseits dieser Bereiche Geltung hatten. Suspendiert im Schwellenbereich zwischen gesellschaftlichem und biologischem Tod, war das Leben des Opfers ›nackt‹; es war keiner rechtlichen oder religiösen Ordnung unterworfen. Vielmehr war es das Leben eines Tieres oder einer beweglichen Sache. In den sowjetischen Lagern nannte man solche Menschen ›dochodjaga‹ (»diejenigen, die bald tot sein werden«), in Auschwitz nannte man sie ›Muselmänner‹. Agamben merkte an, dass Opfer nur selten Zeugnis ablegen. Überlebende schreiben Erinnerungen, Opfer nicht. Deshalb befindet sich die Erinnerung an die Lager im Besitz der Überlebenden; das sei zwar unvermeidlich, aber nicht fair.14 Im Hinblick auf die sowjetischen, nicht die deutschen Lager, löste Nadežda Mandel'štam dieses Paradox auf dieselbe Weise, wie Agamben dies Jahrzehnte später tat: »Nur diejenigen, die beinahe in den Lagern zugrunde gegangen wären, aber zufällig überlebten, können von ihnen Zeugnis ablegen.«15 Sie hatte bereits Varlam Šalamov gelesen, einer »derjenigen, die bald tot sein werden«, aber zufällig überlebt hatten, und hatte seine Erfahrung in die einzigartigen Zeugnisse des sinn- und wehrlosen Lebens des sowjetischen ›Homo sacer‹ übertragen. Ein weniger bekanntes, aber ebenso bemerkenswerte Beispiel lieferte Boris Svešnikov (1927-1998), ebenfalls einer »derjenigen, die bald tot sein werden«, und der wie Šalamov von einem Lagerarzt gerettet wurde, den Rest seiner Haft in einem Lagerkrankenhaus verbrachte und seine Erfahrungen in Dutzenden von Bleistiftskizzen und, nach seiner Freilassung, auch in Ölgemälden schilderte. Ein Großteil von Svešnikovs Werken, die zunächst von einem lettischen Gefangenen und dann von einem amerikanischen Sammler gerettet wurden, wird heute im Zimmerli-Museum in New Brunswick, New
13 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt/M. 2002, S. 92. 14 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III), aus dem Italienischen von Stefan Monhardt, Frankfurt/M. 2003. 15 Nadežda Mandel'štam, Vtoraja kniga, Paris 1972, S. 685.
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Jersey, aufbewahrt. Eines der eindrucksvollsten Werke der Sammlung im Zimmerli-Museum zeigt einen »derjenigen, die bald tot sein werden«, bereits im Sarg liegend, aber noch von einem Hauch Leben erfüllt. Aus aktuellen soziologischen Umfragen wissen wir, dass Russen ihre Vergangenheit zunehmend neu deuten.16 Sarah H. Mendelson und Theodor P. Gerber finanzierten 2003-2005 eine Reihe von Erhebungen in Russland, bei denen etwa 26% der jungen Befragten berichteten, sie hätten mindestens einen Verwandten, der in der Sowjetzeit »unterdrückt« worden sei.17 2007 machten Dina Chapaeva und Nikolaj Koposov in drei russischen Städten Umfragen. Sie berichten, dass 63,5% mit Sicherheit wissen, dass »viele Zehnmillionen von Opfern« unter »Repressionen«18 litten. Das sind eindrucksvolle Zahlen: Russen erinnern sich offensichtlich überraschend gut an Ereignisse, die fünfzig oder siebzig Jahre zurückliegen. In allen modernen Gesellschaften wäre es ungewöhnlich, wenn jeder Fünfte oder Vierte spezifische Details darüber wüsste, was in den 1930er oder 1950er Jahren in ihrer jeweiligen Gesellschaft und mit ihrer Familie geschah. In Abwesenheit jeglicher Bildungs- und Erinnerungspolitik seitens des Staates wirken diese Resultate noch überraschender. Paradoxerweise neigen Wissenschaftler immer wieder dazu, den Zustand der Erinnerung im heutigen Russland zu beklagen. Viele spekulieren über kollektive Nostalgie und kulturelle Amnesie oder registrieren den ›kalten‹ Charakter der Erinnerung
16 1967 trafen die Mitscherlichs in Deutschland eine ähnliche Unterscheidung zwischen der Verleugnung der Vergangenheit, die bereits unmöglich gemacht worden war, und dem Veralten der Schuld, das sie als das tatsächliche Gefühl von Millionen beschrieben; vgl. Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967. 17 Sarah E. Mendelson und Theodore P. Gerber, »Failing the Stalin Test«, Foreign Affairs, 85, Nr. 1, Januar/Februar 2006. Leonid Byzov zufolge erinnern sich etwa 20,1% der Russen daran, dass ihre Verwandten im Gulag waren. Online vremja novostej, 187, 12. Oktober 2007, abrufbar unter . 18 Dina Chapaeva und Nikolaj Koposov, »Požalejte, ljudi, palačej. Massovoe istoričeskoe soznanie v postsovetskoj Rossii«, abrufbar unter .
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an den Sowjetterror.19 Die Untersuchungen vermitteln ein anderes Bild. Sie zeigen die komplexen Haltungen von Menschen, die eine lebhafte Erinnerung an den Sowjetterror haben, diese Erinnerung aber nicht gemeinsam deuten können. Die große Mehrheit der Russen leugnet die sowjetische Katastrophe keineswegs, sondern ist mit der Geschichte durchaus vertraut. Doch in ihrer Haltung zu dieser Geschichte sind die Russen gespalten. Nicht das historische Wissen selbst steht also zur Debatte, sondern seine Interpretation, die unweigerlich von den Programmen, Theorien und Mythen abhängt, die den Menschen durch Wissenschaftler, Künstler und Politiker vermittelt werden. Dominick La Capra unterscheidet zwischen zwei typischen Reaktionen auf ein Trauma, einem konstruktiven ›Durcharbeiten‹ und einem obsessiven ›Ausagieren‹.20 Ich möchte diesen beiden einen dritten Modus hinzufügen, nämlich die ›Sinngebung‹. Während des Terrors leugnet die Macht, die ihre Souveränität mithilfe von Ausnahmezonen befestigt, jegliche Verantwortung für ihre Verbrechen. Doch mit dem Verstreichen der Zeit und der Enthüllung des Ausmaßes dieser Verbrechen verändert die Macht ihre Strategie. Ihr letztes Mittel ist eine Deutung des Leidens als Opferhandlung, bei der die Verfolgten als heroische Opfer (›sacrifices‹) und die selbstmörderischen Täter als grausame, doch verständige Strategen präsentiert werden. 2007 genehmigte die Regierung Vladimir Putins die Richtlinien für das neue Lehrbuch der sowjetischen Geschichte, das Stalins Terror als »Unkosten für die großen Errungenschaften der Sowjetunion« deutet. Darin heißt es, Stalins Säuberungen hätten zur »extremen Effizienz der herrschenden Elite« geführt und »eine neue Managerklasse« geschaffen, »die den Aufga-
19 Vgl. auch Sarah E. Mendelson und Theodore P. Gerber, »Soviet Nostalgia: An Impediment to Russian Democratization«, Washington Quarterly, 29, Nr. 1, 2005, S. 83-96; Maria Ferretti, »Rasstrojstvo pamjati: Rossija i stalinizm«, abrufbar unter ; Charles S. Maier, »Heißes und kaltes Gedächtnis. Über die politische Halbwertszeit von Nazismus und Kommunismus«, Transit, 22, Winter 2001-2002, S. 153-165; hinsichtlich einer Neubewertung dieser Position, siehe Tat'jana Žurženko, »The geopolitics of memory«, abrufbar unter 20 Dominick La Capra, Writing History, Writing Trauma, Baltimore 2001.
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ben der Modernisierung gewachsen war. Diese Klasse zeichnete eine unbedingte Loyalität gegenüber den Machthabern aus. Die Disziplin dieser Führungskräfte war tadellos.«21 Filippovs Lehrbuch leugnet die massenhafte Gewalt der Stalinzeit nicht, vielmehr deutet es sie radikal um. Obwohl dieses Lehrbuch von vielen Historikern und Lehrern scharf kritisiert wurde, herrscht kein Zweifel daran, dass viele Russen Filippovs Wunsch nach einer rationalen Begründung für den Großen Terror teilen. Laut soziologischen Umfragen erklärt etwa die Hälfte der russischen Bevölkerung den Sowjetterror mit einer übertriebenen, aber rationalen Reaktion auf tatsächliche Probleme, mit denen sich das Land konfrontiert sah. Viele glauben, der Terror sei für das Überleben der Nation, seine Modernisierung, den Sieg im Krieg usw. notwendig gewesen. Und wenn er in der Vergangenheit notwendig war, dann kann er auch in der Gegenwart und möglicherweise in der Zukunft wünschenswert sein.
H ARDWARE , S OFTWARE , G HOSTWARE Bei der Betrachtung nahezu jedes Denkmals in Washington, London oder St. Petersburg spürt man, wie der Staat seine fortdauernde Verbindung mit der Vergangenheit feiert. Diese Denkmäler sind der zur Schau gestellte Leib der Nation. Sie repräsentieren die ideale Identität der Nation als einer Einheit von Staat und Volk und ihrer gemeinsamen Geschichte. Unter der Führung von Pierre Nora hat eine Gruppe französischer Autoren eine acht-
21 Aleksandr Filippov, Novejšaja istorija Rossii, 1945-2006. Kniga dlja učitelja, Moskau 2007, S. 90. Dieses Buch war Gegenstand mehrerer Lehrerkonferenzen und hitziger Debatten in der Presse. Trotz der öffentlichen Empörung unterstützte die Präsidialregierung die Verwendung des Buches in Gymnasien. Auf der Grundlage dieser Richtlinien wird derzeit das tatsächliche Lehrbuch für die russischen Gymnasien erstellt. Im Dezember 2007 erklärten die Verfasser, sie würden ihre Formulierungen zu Stalin und den Repressionen abschwächen. Die Zusammenstellung dieses Lehrbuchs wurde von Gleb Pavlovskij, dem führenden Ideologen des Putinregimes, überwacht, der »die Sowjetunion« zum »globalen Schatz gesellschaftlicher, rechtlicher und existenzieller Modelle« erklärte. »Predislovie«, in: Sovetskie ljudi. Sceny iz istorii, hrsg. v. Natal'ja Kozlova, Moskau 2005, S. 4f.
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bändige Untersuchung französischen Denkmäler, Les lieux de mémoire (1984), publiziert, die viele Nachfolgeprojekte angestoßen hat. Mit deren Errichtung, so Nora, schreibt der Staat den Bürgern seine wechselnden Selbstdarstellungen ein. Das Modell dafür ist die Erinnerung als Pantheon: die enge, hochverbindliche Auswahl großer Persönlichkeiten und Ereignisse der Vergangenheit. In einer Ausstellung, die von August-September 2007 im SacharovMuseum in Moskau zu sehen war, war zu erfahren, dass es heute 1.140 Denkmäler und Gedenktafeln an verschiedenen Schauplätzen des Gulags auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gibt: Steine, Kreuze, Obelisken, Glocken, Basreliefs und Engel. Außerdem finden sich in diesem Zusammenhang seltsame Ungeheuer wie etwa ein Beton-Leviathan in Magadan, der aus mannigfaltigen menschlichen Gesichtern zusammengesetzt ist und anstelle einer Nase ein Kreuz aufweist, oder der ›Moloch des Totalitarismus‹ in Levašovo nahe St. Petersburg, der einen roboterhaften Kannibalen repräsentiert, welcher eine menschliche Figur verschlingt oder vergewaltigt. Im Gegensatz zur künstlerischen Erfahrung von HolocaustDenkmälern finden sich an den Schauplätzen des Gulag kaum realistische Denkmäler, die einen echten Gefangenen im Moment des Leidens darstellen. Die Trauer über einen sinnlosen Verlust von solch katastrophalem Ausmaß übersteigt das künstlerische Vermögen. Obwohl das Problem der Nicht-Darstellbarkeit im Fall des Gulag theoretisch weniger stark aufgearbeitet worden ist als im Fall des Holocausts, haben die nachwachsenden Generationen für das Gedenken der Toten des Gulag intuitiv Denkmäler ohne heroische Opfersemantik gewählt. In der aktuellen Praxis stehen Steine und Ungeheuer im Mittelpunkt als zwei Arten von Monumenten, die den politischen Charakter von Leben und Tod in den Lagern ausdrücken. Nackte Steine vermitteln aus der Perspektive der Opfer die Erinnerung an das nackte Leben. Monumente mit Ungeheuern bringen den unvorstellbaren Charakter der Erfahrung derjenigen zum Ausdruck, ›die bald sterben werden‹. Denkmäler sind stumm und bleiben unsichtbar, wenn man sie nicht diskutiert, hinterfragt, deutet, mit anderen Worten: solange sie nicht einbezogen werden in aktuellen intellektuellen und politischen Diskurs. Andererseits gilt natürlich auch, dass öffentliche Meinungen, historische Debatten und literarische Imaginationen mit jeder nachfolgenden Generation oder Mode von der Bildfläche verschwinden, wenn sie nicht von Denkmälern,
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Gedenkstätten und Museen verkörpert und in ihnen verankert werden. Denkmäler ohne Inschriften sind stumm, Texte ohne Denkmäler sind ephemer. Wie im Computer gibt es auch in der Kultur eine Hardware und eine Software der Erinnerung. Die weiche Erinnerung besteht primär aus Texten (einschließlich literarischer, historischer und anderer Narrative), die harte Erinnerung dagegen primär aus dreidimensionalen Denkmälern. Natürlich sind weiche und harte Erinnerung abhängig voneinander. Museen, Friedhöfe, Gedenkfeiern, Führungen und Geschichtslehrbücher sind Einrichtungen, die aus komplexen Interaktionen zwischen der Hardware (Skulpturen, Obelisken, Gedenkstätten, historische Orte) und der Software (Lieder, Filme, Reiseführer, Inschriften, historische Untersuchungen) des kulturellen Gedächtnisses bestehen. Nicht das bloße Vorhandensein von Hardware und Software verleiht dem kulturellen Gedächtnis Leben, sondern erst ihre Interaktion, ihre wechselseitige Transparenz, ihre Anordnung. Als Medien des kulturellen Gedächtnisses unterscheiden sich Texte und Denkmäler auch in ihrer Beziehung zur Öffentlichkeit. In einer demokratischen Gesellschaft bilden Repräsentationen von Geschichte einen wichtigen Teil einer Öffentlichkeit und ihrer gemeinsamen Ideale von Inklusion, freier Rede und fairem Wettbewerb. Diese Sicht lässt sich problemlos auf Texte über die Vergangenheit anwenden (professionelle und populäre Geschichtsschreibung, historische Romane, Filme usw.), doch mit Denkmälern wird des komplizierter. Sie haben einen monologischen Charakter und stehen an ihren Orten ohne Rivalen, die ihnen widersprechen und sie herausfordern könnten. Nur selten stehen sie in einem Debattier- oder Konkurrenzzusammenhang. Der Erinnerungsort bietet in aller Regel keinen Platz für zwei Denkmäler, die zwei verschiedene historische Positionen vertreten. Es gibt Ausnahmen, wie etwa Gedenkstätten zur Erinnerung an den amerikanischen Bürgerkrieg, bei denen es in manchen Fällen Monumente für beide Kriegsparteien in unmittelbarer Nachbarschaft voneinander gibt. Die diskursive Habermas’sche Öffentlichkeit ist jedoch eine textuelle Angelegenheit, öffentliche Denkmäler bleiben außerhalb ihrer Gesetze. Während das Verfassen von Erinnerungen vor allem eine individuelle Angelegenheit ist, ist der Bau von Gedenkstätten und die Anlage von Denkmälern immer schon ein kollektives Projekt, das schon aufgrund seines Umfangs, seiner Kosten und seines öffentlichen Charakters die Beteiligung des Staates erfordert. Indem er Denkmäler für seine früheren Führer errichtet, bekräftigt der Staat die Kontinuität seiner politischen Tradition.
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Indem er Denkmäler für seine früheren Feinde und Opfer errichtet, demonstriert der Staat einen Bruch seiner historischen Kontinuität. Jedes derartige Denkmal bekräftigt den Unterschied zwischen dem derzeitigen Staat und seinem Vorgänger. Für jeden Staat ist die politische Offenbarung seiner Schuld eine schwierige Aufgabe, und noch schwerer fällt es ihm, seinen Opfern ein Denkmal zu setzen. Deshalb wurden in Russland fast sämtliche Projekte, bei denen mit Denkmälern an die Opfer der Sowjetherrschaft erinnert wird, von Privatpersonen in Angriff genommen. Ohne diese Privatinitiativen würde uns kein Buch und kein Denkmal in Russland an die Erfahrung des Terrors erinnern. Diese Initiativen werden von Erinnerungsaktivisten ergriffen, die jeweils einen völlig unterschiedlichen Hintergrund haben. Unter den von mir Interviewten waren ein Physiker, ein Klempner, ein ehemaliger Armeeoffizier und ein Museumsdirektor. Diesen Aktivisten sind jedoch enge Grenzen gesetzt: Privatleute und ehrenamtliche Verbände können ohne Kooperation mit dem Staat keine Denkmäler errichten. Der Zugang zu den Archiven wird vom Staat kontrolliert (insbesondere vom FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB), und dieser Zugang wurde während des letzten Jahrzehnts immer stärker eingeschränkt. Die finanziellen Mittel und Grundstücke, die für eine Gedenkstätte benötigt werden, sind normalerweise Eigentum des Staates. Die ›harte‹ Erinnerung wird somit von Staat kontrolliert, während die ›weiche‹ eine Angelegenheit der Zivilgesellschaft ist. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass so viele russische Denkmäler nicht an den historischen Tatorten der Verbrechen errichtet werden, wie dies bei deutschen Monumenten häufig der Fall ist, sondern in der Nähe davon. Diese Praxis spricht weniger für einen Prozess der politischen Transition, bei dem das alte Regime durch ein neues ersetzt wird, als für eine friedliche Koexistenz von altem und neuem Regime. Doch selbst eine solche näherungsweise Verortung der Erinnerung ist in Russland keineswegs die Regel. Die russische Erinnerung ist durchdrungen von ›weichen‹ Texten, die sich nur selten in monumentaler Gestalt manifestieren. Erinnerung ohne die Stütze von Denkmälern ist anfällig für sich wiederholende Prozesse der Infragestellung und Verleugnung. Über Schuldgefühle können neue Stimmen hinwegtrösten, und selbst die einflussreichsten Texte können durch neue Texte in Frage gestellt werden. Aufgrund der je spezifischen Kombination politischer Umstände bildeten die deutsche und die russische Kultur unterschiedliche Formen des Umgangs mit der Vergangenheit aus. Die deutsche Erinnerung kristallisiert
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sich in ›harten‹ Denkmälern, wobei die Intellektuellen häufig den Mangel an einer belebenden diskursiven Auseinandersetzung beklagen. Die lange Entstehungszeit des Holocaust-Denkmals in Berlin, das 1999 initiiert und 2005 vollendet wurde, hat allerdings bewiesen, dass auch eine riesige Erinnerungshardware von einer beträchtlichen öffentlichen Auseinandersetzung begleitet sein kann. Während sich die Zyklen der deutschen Erinnerung vorwiegend von der ›weichen‹ zur ›harten‹ Struktur entwickelten, entwickeln sich die russischen Zyklen ausnahmslos in die Gegenrichtung, sprich von der ›harten‹ zur ›weichen‹ Erinnerung. Allerdings befriedigt mich dieses simple Schema, das ich vor einigen Jahren veröffentlicht habe,22 nicht mehr ganz. Ich sehe nämlich inzwischen in der russischen Erinnerung auch die Ausbreitung eines dritten Typus oder Trägers der Erinnerung, nämlich die Ghostware der Untoten. Damit meine ich Gespenster, Geister, Vampire, Puppen und andere von Menschen geschaffene und imaginierte Simulakren, die die Erinnerung an die Toten verkörpern. Die drei Elemente des kulturellen Gedächtnisses, seine Software, Hardware und Ghostware sind eng miteinander verknüpft. Normalerweise leben Gespenster in Texten, manchmal wohnen sie auf Friedhöfen und tauchen aus Denkmälern auf. Am häufigsten erscheinen Gespenster vor Lebenden, deren Tote nicht angemessen bestattet wurden. Gegenüber Texten und Denkmälern weisen Gespenster einige interessante Besonderheiten auf: sie sind ikonisch, ephemer und unheimlich. Vor vielen Jahrzehnten interpretierte der russisch-amerikanische Gelehrte Roman Jakobson Puškins Gedichte (»Der bronzene Reiter«, »Der steinerne Gast« usw.), in denen sich eine Statue in ein Gespenst verwandelt, um einem Menschen den Verstand oder das Leben zu rauben. Jakobson entdeckte diesen ›skulpturalen Mythos‹ als ein zentrales Thema des großen russischen Dichters.23 Vor kürzerer Zeit hat Michail Jampol'skij, eine andere russisch-amerikanischen Gelehrte, eine andere Deutung des Denkmals vorgeschlagen. Er beschreibt den Raum Denkmals als eine ›mystische
22 Vgl. Alexander Etkind, »Hard and Soft in Cultural Memory: Political Mourning in Russia and Germany«, Grey Room, 16, 2004, S. 36-59. 23 Roman Jakobson, Pushkin and His Sculptural Myth, Den Haag 1975.
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Schutzzone‹, die dem Fluss der Zeit Einhalt gebiete.24 Diese beiden Ideen passen gut zusammen. Gerade weil Denkmäler die Geschichte einfrieren, können sie auch zu Orten der Heimsuchung werden. Die mystische oder halluzinatorische Wiederauferstehung von Monumenten wie in Puškins Gedicht ist unheimlich. Die realen und praktischen Ereignisse, die Monumenten widerfahren, wie etwa ihre Entfernung, Zerstörung, Umbenennung oder Vandalismus, rufen bei den Beobachtern starke Reaktionen hervor. 2002 schrieben unbekannte Rowdies auf den Soloveckij-Stein in St. Peterburg mit rotem Öl: »Zu wenige wurden erschossen.« Die Aktivisten der Gedächtnisgesellschaft machten aus dieser Situation ein Medienereignis, bei dem das örtliche Fernsehen junge Männer und Frauen zeigte, die über den Stein kletterten und ihn behutsam mit Schwämmen säuberten. Im April 2007 versetzte die estländische Regierung den Bronzesoldaten, ein Denkmal, mit dem der sowjetischen Gefallenen des Zweiten Weltkriegs gedacht wird, vom Hauptplatz von Tallinn auf einen Friedhof am Rande der Stadt. Dieser Schritt löste Straßenschlachten aus und eine erfolgreiche Cyberattacke auf das Kommunikationsnetz der Regierung. Die Esten beschuldigten russische ›politische Technologen‹, nach Tallinn gekommen zu sein und diese Straßenschlachten organisiert zu haben, und russische Hacker, die Cyberattacken durchgeführt zu haben. Unter weniger dramatischen Umständen wollte die Moskauer Stadtregierung den Soloveckij-Stein, ein bedeutendes russisches Mahnmal für die Opfer des Gulag, vom einen Teil des Lubjanskaja-Platzes, wo er heute steht, an eine andere Stelle umsetzen, doch die Gedächtnisgesellschaft organisierte eine Reihe öffentlicher Ereignisse, die die Regierung im April 2008 davon überzeugte, den Stein lieber an Ort und Stelle zu belassen. Der vor Kurzem herausgekommene Film 4 (Drehbuch Vladimir Sorokin, Regie Il'ja Chržanovskij, 2005) veranschaulicht die gespenstische Dynamik einer postkatastrophischen Erinnerung, die Untote produziert, sie liebevoll pflegt und, in seltenen Fällen von Heroismus, bestattet. Die Hauptfigur, eine Moskauer Prostituierte, reist weit ins Hinterland, um dort an der Beerdigung ihrer Schwester teilzunehmen. Diese hatte in einer Gemeinschaft verlassener Frauen gelebt, die Puppen aus Brot herstellen. Ihre
24 Mikail Yampolsky, »In the Shadow of Monuments«, in: Soviet Hieroglyphics. Visual Culture in Late Twentieth-Century Russia, hrsg. v. Nancy Condee, Bloomington 1995, S. 93-112.
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Hefepuppen dienen den Frauen als Ersatz für richtige menschliche Partner: Sie spielen, trinken Alkohol und haben Sex mit den Puppen. Diese kreieren eine Welt schauriger Simulakren und müssen bestattet werden. In einem dramatischen Höhepunkt verbrennt die Prostituierte mit einer Geste, in der sich Verzweiflung und Triumph mischen, auf dem Grab ihrer Schwester die Brotleichen. Der populärste russische Film des Jahrzehnts, Wächter der Nacht – Nochnoi Dozor (2004), und sein Nachfolger, Wächter des Tages – Dnevnoi Dozor (2006), zeugen in einem bewusst abstrakten, ahistorischen Kontext von der postsowjetischen Vernarrtheit in das Magische. Basierend auf der Trilogie von Sergej Luk'janenko, einem Psychiater aus Kasachstan, der einer der erfolgreichsten postsowjetischen Schriftsteller ist, präsentieren diese Filme eine beeindruckende Taxonomie unsterblicher Geschöpfe. Vampire und andere übernatürliche Bestien leben in Russland und beherrschen das Land. Die Menschen üben in dieser Welt keine Kontrolle über ihr eigenes und das politische Leben aus. Wie in einem Lager des Gulag sind diese Moskauer auf das nackte Leben reduziert und nehmen im Wesentlichen die Position des Viehs für die Vampire ein; die Vampire in diesem Film bevorzugen Menschenblut, doch wenn dies partout nicht zu beschaffen ist, trinken sie zur Not auch Schweineblut. Die eigentliche Politik wird von Geschöpfen betrieben, die einer höheren Ordnung angehören als Vampire und Menschen. Diese Geschöpfe sind unsterblich und mächtig, doch im Übrigen sehen sie wie Menschen aus. Wie die Amerikaner sind sie in zwei gleichstarke Parteien gespalten, eine Leistung, zu der die Moskauer nie imstande waren. Der Ursprung ihres Streits spiegelt sich in einer Episode, die im mittelalterlichen Europa spielt, sowie in einer anderen, die im Asien Dschingis Khans angesiedelt ist. Wie bei »historischen Debatten« zwischen heutigen russischen Intellektuellen werden die Wurzeln der aktuellen Probleme in den entlegensten Zeiten und Räumen gesucht und gefunden, aber nie in der aktuellen oder jüngeren russischen Politik. In diesem Film werden Stalin oder die Sowjets mit keinem Wort erwähnt. Die heutigen Bürger, allesamt potenzielle Opfer der Vampire, werden jenen edlen Kriegern zur Seite gestellt, deren Momente des Ruhms und deren Streitursachen alle in der Vergangenheit liegen. Was zählt, geschieht nicht hier und jetzt, weil alles Wichtige und Entscheidende in der Vergangenheit geschehen ist. Die Vergangenheit, die als etwas Groß- und Fremdartiges imaginiert wird, bestimmt die tatsächliche, trostlose Gegenwart. Während
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die heutigen Herrscher alle fremden und metaphysischen Ursprungs sind, sind die Vampire lokale und erdverbundene Wesen. Seltsamerweise wird der wichtigste dieser Vampire von Valerij Zolotuchin gespielt, dem einzigen Schauspieler in diesem jungen, nur mit Stars besetzten Ensemble, der schon zu Sowjetzeiten berühmt war. Wie in der slawischen Folklore repräsentieren die Vampire die unbestatteten Toten, während das bemerkenswerte Gesicht ihres Führers ein freies Spiel sowjetischer Schatten widerspiegelt.25 Diese Filme vermitteln eine statische, unauflösliche Melancholie, die Gefahr läuft, in Verfolgungswahn abzugleiten. Wäre Russland in der Hand von Vampiren, wäre dies die Weltsicht, die sie unter sich verbreiten würden. Im Kampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis geht es aber offenbar nicht darum, die blutsaugerischen Aktivitäten der Vampire gutzuheißen, wie dies Wächter der Nacht nahelegt. Das einzige Mittel, in einer Umkehrung der Metapher des Films die Reproduktion von Vampiren zu verhindern, besteht darin, die Toten zu bestatten, sie anzuerkennen und ihrer zu gedenken. In der Nachfolge Sigmund Freuds, Walter Benjamins und Jacques Derridas beharren einige Soziologen und Kulturwissenschaftler darauf, dass man sich, »beim Studium des sozialen Lebens seinen gespenstischen Aspekten stellen muss« und dass »die Aufgabe des Lesers […] nicht darin besteht, diese Geister auszutreiben, sondern vielmehr zu lernen, das durchzudenken, was sie uns zur Betrachtung aufgegeben haben«26.
25 Diese Filme sind Gegenstand mehrerer Untersuchungen geworden. Stephen M. Norris zieht Parallelen zwischen ihrer Handlung und den tatsächlichen Ereignissen in der russischen Politik; »In the Gloom: The Political Lives of Undead Bodies in Timur Bekmanbetovs Night Watch«, Kinokul'tura (2007), abrufbar unter . Ein russischer Hochglanzband veranschaulicht die »kul'turologija«-Herangehensweise an diese Filme und enthält Essays von Boris Groys und Mikhail Ryklin, Dozor kak simptom, hrsg. v. B. Kuprijanov und M. Surkov, Moskau 2006. 26 Avery F. Gordon, Ghostly Matters. Haunting and the Sociological Imagination, Minneapolis 1997, S. 7; sowie Gerhard Richter, »Introduction«, in: Ders. (Hrsg.), Benjamin’s Ghosts. Interventions in Contemporary Literary and Cultural Theory, Palo Alto/CA. 2002, S. 5. Zu den Gespenstern der postsozialistischen Erinnerung siehe Istvan Rev, Retroactive Justice: Prehistory of Post-
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Wie Freud in seinem berühmten Aufsatz Das Unheimliche (1919) erklärte, haben Geister und Gespenster nichts Neues oder Außerordentliches an sich. Laut seiner Definition ist »das Unheimliche das HeimlichHeimische […], das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist«27. Freud betonte die besondere Weise, wie die Erfahrung des Unheimlichen vermittelt wird, die spätere Gelehrte als ›metonymisch‹ bezeichnen sollten. »Abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf, eine vom Arm gelöste Hand«28 und andere körperliche Metonymien sind Bestandteile dieser Geschichten. Die Erfahrung des Unheimlichen beruht auf den verlorenen und wiedergefundenen Gliedern menschlicher Körper, die manchmal unabhängig sind und manchmal in andere, nun monströse Körper inkorporiert werden. Wenn ein lebendes oder wiederkehrendes Teil das umgekommene Ganze repräsentiert, fühlt sich das unheimlich an. Die Vergangenheit ist groß, ganzheitlich und eigenständig wie die UdSSR selbst. Was daraus zurückkehrt, ist verstreut, fragmentiert und angsterregend. Freuds Formeln definierten das Unheimliche als eine bestimmte Form der Erinnerung, die eng mit Angst verbunden ist. Je größer die Energie des Vergessens, desto stärker wird der Horror der Erinnerung. Das Unheimliche ist genau diese Verbindung von Erinnerung und Angst. In Tengis Abuladzes Film Die Reue (1984), der inzwischen ein sowjetischer Klassiker ist, gräbt die Tochter eines Opfers den Leichnam des Diktators aus. Sie wird vor Gericht gestellt, bereut aber nicht, sondern erklärt, sie würde ihre Tat noch 300-mal wiederholen. Unheimlich ist in diesem Film nicht der Leichnam des Diktators, sondern der lebende Diktator, wie ihn seine ehemaligen Untertanen erinnern oder sich ihn vorstellen. Wie in SophoklesɅ Antigone bringt der sich unermüdlich bewegende Leichnam neue Tragödien hervor, in diesem Fall den Selbstmord des Enkels des Diktators.29 Allerdings wurde die ethische Botschaft des Films, die Verantwor-
Communism, Palo Alto/CA. 2004, und Heonik Kwon, Ghosts of War in Vietnam, Cambridge 2008. 27 Sigmund Freud, »Das Unheimliche«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. XII, Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt/M. 1999, S. 259. 28 Ebd., S. 257. 29 Interessanterweise bezieht sich auch der Film Katyn von Andrzej Waida (2007), der die brutale Hinrichtung Tausender polnischer Offiziere durch ihre russischen ›Verbündeten‹ im Jahr 1940 zum Thema hat, ebenfalls auf Antigone. Eine weib-
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tung des Leichnams und das Recht auf Rache, selten in Frage gestellt. In Aleksandr Veledinskijs neuem Film Der Lebende (2006) wird Kir, ein russischer Soldat im Tschetschenienkrieg, von seinen Kameraden gerettet, die im Kampf fallen. Auf dem Heimweg ermordet Kir seinen Offizier und betrügt seine Braut. Doch das macht ihm nichts aus, denn er ist von den Geistern seiner gefallenen Kameraden besessen, die ihm als Lebende erscheinen, obwohl andere Menschen sie nicht sehen können. Als Kir und seine gespenstischen Begleiter nach Moskau kommen, sehen sie dort das Grabmal Stalins an der Kremlmauer. Der Film endet mit einem Besuch Kirs auf einem aufgelassenen Friedhof, wo er seine, wie er hofft, als Helden bestatteten Freunde treffen möchte. Während er nach deren Gräbern sucht, stirbt Kir und schließt sich sofort der Gesellschaft seiner Geistergefährten an. Die vielfältigen Tricks, die die Untoten den Lebenden in diesem Film spielen, verleiten den Zuschauer zu der Annahme, dass der Soldat möglicherweise bereits von Anfang an tot gewesen sein könnte. Vielleicht widerfuhr alles oder ein großer Teil dessen, was wir tatsächlich sehen, nicht ihm sondern seinem Gespenst. Diese beiden Filme, Die Reue und Der Lebende, markieren den Beginn und möglicherweise auch das Ende der postsowjetischen Übergangszeit. In den 1980er Jahren schien das wichtigste Ziel darin zu bestehen, den toten Diktator zu bestrafen und wenigstens auf diese Weise für posthume Gerechtigkeit zu sorgen. Zwanzig Jahre später kämpfen die Lebenden immer noch mit der Macht, aber ihre unbeerdigten Toten sind Freunde, keine Feinde. Die frühe postkatastrophische Kultur schrieb die tatsächlichen Probleme weder der Gegenwart noch den Leichen der Vergangenheit zu. Heute ist diese Kultur stärker an der Gegenwart interessiert. Es gibt Feinde, die leben, obwohl sie den Tod verdienen, doch es gibt auch Freunde, die tot sind und beerdigt werden müssen. Beide Filme spielen mit den unheimlichen Effekten der Kommunikation zwischen den Lebenden und den Toten. Doch während Die Reue noch den Generationenwechsel, das Gedächtnis als Gerichtsprozess und die historische Zeit feierte, dekonstruiert Der Lebende die Bedeutung des Todes auf eine obsessive Weise, die die Zeit zyklisch und die Historie belanglos werden lässt. Die Reue hegte noch
liche Figur kämpft darum, ihren von Russen ermordeten Bruder zu bestatten. Um Geld für das Denkmal aufzutreiben, verkauft sie ihre Haare an ein Warschauer Theater, das Perücken für seine Produktion von Antigone benötigt.
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Hoffnung für die Zukunft und sprach sich für eine neue ethische Ordnung aus, die auch die Toten in ihren Verantwortungsbereich einbezieht. Indem Der Lebende jedes Zeichen von Hoffnung einer Selbstzensur unterwirft, zeigt dieser Film in Reinkultur die gespenstische Natur des postkatastrophischen Bewusstseins, in dem sich die Grenze zwischen Lebenden und Toten verwischt. Der postsowjetische Gerichtsprozess ›an den Toten‹ verwandelt sich in eine neurussische Verschmelzung ›mit den Toten‹. Seit Langem schon suchen Gespenster diesen post-kommunistischen Raum heim. Und während die Lebenden und die Untoten sich stärker aneinander gewöhnen, entwickeln sie beklommene Freundschaften. Aber auch darin kann man einen Hoffnungsschimmer entdecken, wenn wir noch einmal auf Derridas ›Hauntologie‹, seine post-traumatische Variante der ›Ontologie‹, zurückkommen. In diesem Sinne gilt es, zu »[l]ernen, mit den Gespenstern zu leben, […] anders zu leben und besser. Nicht besser, sondern gerechter. […] Wenn ich mich anschicke, des langen und breiten von Gespenstern zu sprechen, […] dann geschieht es im Namen der Gerechtigkeit.«30 Dieser Essay entstand während meiner Zeit als Fellow am Shelby Cullom Davis Center for Historical Studies an der Princeton University. Elizabeth R. Moore half mir ganz wesentlich bei der Formulierung meiner Ideen in klarem Englisch. Für wertvolle Kommentare danke ich Andy Rabinbach, Eric Naiman, Svetalna Boym, Eli Zaretsky, Yuri Slezkone, Mischa Gobowitsch, Alexi Yurchak, Sergei Oushakine und Igal Halfin. Übersetzung aus dem Englischen: Nikolaus G. Schneider
30 Derrida, Marxʼ Gespenster, S. 10f.
Autorinnen und Autoren
Assmann, Aleida, lehrt seit 1993 Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Nach dem Studium der Anglistik und Ägyptologie in Heidelberg und Tübingen folgten Lehraufträge an den Universitäten Heidelberg und Mannheim. Promotion 1977, Habilitation 1992. Zahlreiche Fellowships und Gastprofessuren an den Universitäten Rice, Princeton, Yale und Wien. Forschungsgebiete: Geschichte und Theorie der Medien, besonders der Schrift und des Lesens, Deutsche Erinnerungsgeschichte, Kulturelles Gedächtnis. Butin, Hubertus, studierte Kunstgeschichte in Bonn und Zürich. Von 1996 bis 1998 arbeitete er als kunsthistorischer Assistent im Atelier Gerhard Richters in Köln und anschließend als Gastkurator an verschiedenen internationalen Museen, zuletzt 2013 in der Fondazione Sandretto Re Rebaudengo in Turin. Seit 1991 hat er zahlreiche Aufsätze und Bücher zur zeitgenössischen Kunst und Kunsttheorie publiziert. 2014 erschien sein neues Werkverzeichnis der Editionen Gerhard Richters, und Ende desselben Jahres wird er das aktualisierte und erweiterte »Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst« herausgeben. Er lebt heute als freier Publizist und Kurator in Berlin und ist weltweit vor allem als Autor für Museen tätig. Etkind, Alexander, studierte Psychologie und Slavische Literaturen. Er war Professur an der Europäischen Universität in St. Petersburg, mit der er weiterhin zusammenarbeitet. Von 2010 bis 2013 lehrte und forschte er an der Universität Cambridge, wo er das europäische Forschungsprojekt »Memory at War: Cultural Dynamics in Poland, Russia, and Ukraine« leitete. 2013 wurde er auf eine Professur der Europäischen Universität in
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Florenz berufen. Etkind war Gastprofessor an der New York University und der Georgetown University, Fellow in Harvard, Princeton, dem Woodrow Wilson Center for International Scholars in Washington D.C., dem Wissenschaftskolleg zu Berlin und der University of Canterbury in New Zealand. Seine Forschungsinteressen umfassen die innere Kolonisierung des Russischen Reichs, vergleichende Gedächtnisforschung und die Dynamik von Protestbewegungen in Russland. Jeftic, Karolina, Dr. phil., Director Arts Program, UBS Wolfsberg, studierte englische und deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz und an der University of Wales, Lampeter. 2003 promovierte sie zu Visualitätskonzepten in der englischen Moderne. Von 1999 bis 2002 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich Literatur und Anthropologie an der Universität Konstanz.
Mitarbeit bei verschiedenen Ausstellungs- und Buchprojekten, u.a. für das »Museum of the Moving Image«, London. 2003 bis 2004 war sie Stipendiatein im »art, science & business Programm« an der Akademie Schloss Solitude. Im Anschluss daran übernahm sie die Projektleitung des UBS Arts Forum im Wolfsberg, Schweiz. Kraft, Andreas, studierte an der Universität Konstanz deutsche, englische und amerikanische Literatur. Er wurde 2006 mit einer Doktorarbeit zur deutsch-jüdischen Autorin Nelly Sachs promoviert. Von 2003 bis 2008 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG- Forschungsprojekt »Grenzen des Verstehens. Generationsidentitäten in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg« im SFB »Norm und Symbol« an der Universität Konstanz. Neben der Untersuchung von Generationenbeziehungen in der neueren deutschen Literatur ist einer seiner Forschungsschwerpunkte der Holocaust aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Seit 2010 arbeitet er als Stipendiat der »Buber Society of Fellows« an der Hebräischen Universität Jerusalem an einem Projekt über »Wut«. Paech, Joachim, ist (pensionierter) Professor für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Geschichte des Films und der Neuen Medien sowie Intermedialität des Films, der Literatur und der traditionellen Künste. Buchveröffentlichungen u.a.: ›Passion‹ oder: Die Ein‘bild’ungen des Jean-Luc Go-
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dard (Frankfurt/M. 1989); (Hrsg.) Film – Fernsehen – Video und die Künste. Strategien der Intermedialität (Stuttgart 1994); Literatur und Film (Stuttgart ²1997); (zs. mit A. Schreitmüller und A. Ziemer) Strukturwandel medialer Programme. Vom Fernsehen zu Multimedia (Konstanz 1999); (zs. mit Anne Paech) Menschen im Kino. Film und Literatur erzählen (Stuttgart 2000; Madrid 2002); Der Bewegung einer Linie folgen ... Schriften zum Film (Berlin 2002); (Hrsg. zs. mit Jens Schröter) Intermedialität. Analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen (München 2008); Warum Medien? (Konstanzer Universitätsreden, 2008); (Hrsg. zs. mit Irma Durakovic, Michael Lommel) Raum und Identität im Film. Historische und aktuelle Perspektiven (Marburger Schriften zur Medienforschung 37, Marburg 2012). Schröder, Gerald, ist Professor für Design- und Kunstwissenschaft an der Hochschule Trier. Zuvor war er Akademischer Oberrat am Kunstgeschichtlichen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Habilitiert hat er 2008 mit einer Arbeit über Schmerzensmänner – Trauma und Therapie in der westdeutschen und österreichischen Kunst der 1960er Jahre. Die Promotion erfolgte im Jahr 2000 mit einer Schrift über den Florentiner Gelehrten und Kunstschriftsteller des 16. Jahrhunderts Francesco Bocchi: Der kluge Blick – Studie zu den kunsttheoretischen Reflexionen Francesco Bocchis. Publiziert hat Gerald Schröder darüber hinaus über moderne und zeitgenössische Kunst sowie zur Kunsttheorie und Skulptur des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Zu seinen jüngsten Publikationen zählen Ekstase, hrsg. v. Gerald Schröder und Änne Söll, kritische berichte, 4, 2010; Coolness. Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde, hrsg. v. Annette Geiger, Gerald Schröder und Änne Söll (2010). Schwarz, Anja, ist Juniorprofessorin für Cultural Studies am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Potsdam. Sie promovierte 2008 mit einer Arbeit zum australischen Strand als postkolonialem Gedächtnisort. Sie war von 2003 bis 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Englische Philologie der Freien Universität Berlin und von 2008 bis 2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Anglistik des FB Literaturwissenschaft der Universität Konstanz. Sie arbeitet derzeit an einer Monografie, die sich aus medienwissenschaftlicher, ethnologischer und geschichtsphilosophischer Perspektive mit Praktiken des Reenactments befasst.
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Wappler, Friederike, ist Wissenschaftliche Leiterin der Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum. Studium der Freien Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf/Münster sowie Kunstgeschichte und Germanistik in Bielefeld, Münster, Bochum und New York. Nach Staatsexamen und Diplom Freie Kunst: Tätigkeit als Kunstkritikerin und Lektorin in Kunstbuchverlagen, nach Promotion: 1999 bis 2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hamburger Kunsthalle; 2001 bis 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte des Kunstwissenschaftlichen Instituts der Universität Konstanz sowie freie Kuratorin, seit 2005 wissenschaftliche Leitung der Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum. Zahlreiche Publikationen und Ausstellungsprojekte zur Kunst und Kunsttheorie des 20. und 21. Jahrhunderts, u.a. Bruce Nauman: Mental Exercises (Hrsg. mit dem NRWForum), Düsseldorf 2006, Looking for Mushrooms. Beatniks, Hippies, Funk und Minimal Art. Kunst und Counterculture in San Francisco um 1968 (Hrsg. mit B. Engelbach und H. Winkler), Köln (Museum Ludwig) 2008/09, New Relations in Art and Society, Zürich: jrp/ringier 2012, »Unheimliche Orte. Oder: Fallen des Imaginären«, in: Architektonika, (Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Berlin) 2012, Franz Erhard Walther. Perpetuum mobile: Lager – Sockel – Handlung, Düsseldorf 2013.
Erinnerungskulturen / Memory Cultures Kirstin Frieden Neuverhandlungen des Holocaust Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas Januar 2014, 370 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2627-8
Elisabeth Kübler Europäische Erinnerungspolitik Der Europarat und die Erinnerung an den Holocaust 2012, 280 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1787-0
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