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German Pages 111 Year 1975
CLAUSDIETER SCHOTT
"Rechtsgrundsätze" und Gesetzeskorrektur
Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 9
"Rechtsgrundsätze" und Gesetzeskorrektur Ein Beitrag zur Geschichte gesetzlicher Rechtsfindungl'regeln
Von
Clausdieter Schott
DUNCKER &
HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1975 bei Buchdruckerei Richard Schröter, Berlln 61 Printed in Germany
® 1975 Duncker
ISBN 3 428 03331 0
Für Claudia
Vorwort Die vorliegende Studie wurde angeregt durch einen Fund im Archiv der Universität Freiburg i. Br. anläßlich meiner Untersuchung zur Spruch- und Gutachtertätigkeit der Freiburger Juristenfakultät. Aus der Beschäftigung mit dem Kollegialvotum vom Jahre 1797 zum Entwurf des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs ergab sich über den lokalhistorischen Ansatz hinaus notwendig eine Hinwendung zur Österreichischen Gesetzgebungsgeschichte, was wiederum zu einer Einordnung in den weiteren Rahmen der deutschen und europäischen Rechtsgeschichte führen mußte. Die mit der Kodifikationsidee wieder aufgenommene Diskussion um das Verhältnis von Gesetzesbindung und Richterfunktion setzte tiefere Traditionen des europäischen Rechtsdenkens fort, so daß deren skizzenhafte Nachzeichnung unerläßlich erschien. Andererseits konnte auch in einer Untersuchung aus dem Bereich der neuzeitlichen Privatrechtsgeschichte kaum auf den Gegenwartsbezug verzichtet werden. Die vergleichende Bearbeitung des hier angesprochenen Aspekts gesetzlicher Rechtsfindungsregeln ließ es bei der Darstellung erforderlich erscheinen, die einschlägigen Texte, wenn auch in gebotener Beschränkung, wörtlich wiederzugeben, zumal diese im einzelnen oft schwer greifbar sind. Schließlich darf ich noch Herrn Dr. Johannes Broermann danken für die Aufnahme in die "Schriften zur Rechtsgeschichte". Freiburg i. Br.
Clausdieter Schott
Inhaltsverzeichnis I. Spruchregeln als Generalklauseln II. Das Freiburger Votum .
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III. Die Verfasser des Votums ..
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IV. Die richterliche Bindung in der Österreichischen Gesetzesgeschichte 26 V. Bayern
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VI. Preußen . VII. Hannover
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VIII. Frankreich IX. Baden
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X. Billigkeit und Interpretation
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XI. Reformen des Absolutismus ..
XII. Früh-rechtsstaatliche Bestrebungen XIII. Wissenschaft und Kodifikation
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XIV. Wandlungen im Verständnis der "Grundsätze" . Personenverzeichnis
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33 36 46 49 56 59 74 81 86 97 109
Abkürzungen ABGB AGB AGO ALR
AöR BGE BGB BGHZ BVerfGE
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DRiZ EBl.
= Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für Osterreich
=- Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten
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Allgemeine Gerichtsordnung Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Archiv des öffentlichen Rechts Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts Bürgerliches Gesetzbuch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Codex Justimanus Digesta Justiniani Deutsche Richterzeitung Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen, in: OJZ Zivilrechtliche Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes, hrsg. v. Glaser, Unger u. a. Neue Folge Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte Juristische Blätter Juristenzeitung Neue Juristische Wochenschrift Novellae Justiniani Osterreichische Juristenzeitung (Österreichischer) Oberster Gerichtshof Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Zivilgesetzbuch Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Romanistische Abteilung, Kanonistische Abteilung
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I. Spruchregeln als Generalklauseln Die grundsätzliche und eingängige Funktionsabgrenzung zwischen gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt hat sich niemals als problemlos erwiesen. Nach einer Zeit verbreiteter Gutgläubigkeit haben die unter der Bezeichnung "Interessenjurisprudenz" zusammenlaufenden Strömungen1 , aber auch die engagiert streitende, in sich jedoch disparate sog. "Freirechtslehre" 2 die Polarität von Gesetzesbindung und Richterfreiheit wieder bewußter gemacht. Das damit stärker gewordene Interesse am richterlichen Entscheidungsvorgang hat zu vermehrter Beschäftigung mit methodologischen Fragestellungen geführt3 • Darüber hinaus ist die reale Richterpersönlichkeit als Individuum und als Mitglied eines Entscheidungskollegiums, aber auch der Berufsstand insgesamt in das Blickfeld wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt. Soziologie4 und Psychologie5 haben hier inzwischen ihre 1 Vgl. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 574 ff.; Wilfried Kallfass, Die Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz, 1972, mit einschlägigem Schrifttumsverzeichnis; Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1969, S. 126 ff.; 0. A. Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl., 1967, S. 80 ff., 159 ff. 2 Vgl. Wieacker, S. 579 ff.; Hans Thieme, Was bleibt von der Freirechtsschule?, in: Die Entwicklung des Zivilrechts in Mitteleuropa, hrsg. v. A. Csizmadia u. K. Koväcs, Budapest 1970; Dietmar Moench, Die methodologischen Bestrebungen der Freirechtsbewegung auf dem Wege zur Methodenlehre der Gegenwart, 1971; Gustav Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung II. 1, 1951, S. 158 ff. 3 Anstöße gingen aus von Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl. 1956 (jetzt 2. Aufl. 1964); Theodor Vieh weg, Topik und Jurisprudenz, 1. Aufl. 1953 (jetzt 4. Aufl. 1969). Vgl. jetzt Franz Wieacker, Zur Topikdiskussion in der zeitgenössischen deutschen Rechtswissenschaft, in: Festschrift Pan. J. Zepos, I. Bd., 1973, S. 391 ff. « Vgl. Walther Richter, Zur Bedeutung der Herkunft des Richters für die Entscheidungsbildung, 1973; ders., Zur soziologischen Struktur der deutschen Richterschaft, 1968; ders., Die Richter der Oberlandesgerichte der Bundesrepublik, in: Hamburger Jb. f. Wirtsch.- u. Gesellschaftspolitik 5 (1960) S. 241 ff.; Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1966, S. 260 ff.; ders., Zur Soziologie des Richters, in: DRiZ 1965, S. 5 ff.; ders., Deutsche Richter, in: Gesellschaft und Freiheit, 1962, S. 176 ff. (zuvor in: Hb. Jb. f. W. u. Ges.pol. 5, S. 260 ff.; Klaus Zwingmann, Zur Soziologie der Richter in der Bundesrepublik, 1966; Rüdiger Lautmann, Rolle und Entscheidung des Richters, in: Jb. f. Rechtssoz. u. Rechtstheorie 1 (1970) S. 381 ff.; Hubert Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973. 5 Vgl. Robert Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, 1969; Ludwig Bendix, Zur Psychologie der Urteilstätigkeit des Berufsrichters und andere Schriten, 1968 (Soziologische Texte 43); Jörg Berkemann, Die richterliche Entscheidung in psychologischer Sicht, in: JZ 1971, S. 537 ff.
12
I. Spruchregeln als Generalklauseln
Kompetenzen angemeldet und versprechen neue Einsichten in das Richterbild. Den Verfassungen der westlichen Tradition ist die Gewaltentrennung, unabhängig von der jeweiligen Begründung, selbstverständlich6• Der Gesetzgeber schützt die Grenzziehung zwischen Legislative und Rechtsprechung, indem er die Problematik ignoriert und tabuisiert. Die Rechtsprechung, der nahezu ausschließlich die Problembewältigung überbürdet ist, hütet sich ebenfalls streng davor, das Dogma in Frage zu stellen. Selbst dort, wo sie das bisherige Gefüge aufbricht und in Abkehr vom geläufigen Normverständnis neuen Lösungen Raum gibt, wahrt sie den Schein der Gesetzestreue. Die neuere Rechtsgeschichte kennt das in seiner Weise einmalig dastehende Beispiel einer Selbstbehauptung der rechtsprechenden Gewalt gegenüber der Legislative, wobei Rechtssatz gegen Rechtssatz ausgespielt wird: Das Reichsgericht hatte seit 1923 sein streng gehütetes Nominalprinzip bei Geldschulden aufgegeben und "selbstschöpferisch" 7 inflationär zerfallene Geldschulden aufgewertet. Den "als wünschenswert und nötig erachteten Anhalt im positiven Rechte" 8 hatte es in dem in § 242 BGB zum Ausdruck kommenden Grundsatz von "Treu und Glauben" gesehen. Die Reichsregierung erwog darauf, dieser ihr unerwünschten Äquivalenzjudikatur durch ein Stabilitätsgesetz zu begegnen, das jede Umwertung verbieten und dem Prinzip "Mark gleich Mark" wieder Geltung verschaffen sollte. In einer Eingabe an die Regierung verwahrte sich der Richterverein des Reichsgerichts am 8. 1. 1924 gegen einen solchen "Machtspruch des Gesetzgebers", eine Terminologie, die den gesetzgeberischen Akt in das Vorstellungsfeld absolutistischer Eingriffe in den geordneten Verfahrensgang rückt. Weiter stellte aber das Schreiben den Gesetzesinitiatoren den staatlichen Autoritätsverlust vor Augen, "wenn es dazu kommen müßte, daß jemand, der sich im Rechtsstreit auf die neue 6 Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl. 1974, 8.192 ff.; Hans Peters, Geschieht!. Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, bearb. v. J. Salzwedel u. G. Erbel, 1969, S. 184 ff.; ders., Die Gewaltentrennung in moderner Sicht, 1954; Peter Schneider, Zur Problematik der Gewaltenteilung im Rechtsstaat der Gegenwart, in: AöR 82 (1957) S. 1 ff.; Werner Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 253 ff.; Werner Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Festschrift für Hans Huber, 1961, S. 151 ff. Vgl. auch BGHZ 11, Anhang S. 50. 7 RGZ 104, 397. Vgl. dazu die informative und kritische Darstellung bei Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968, insbes. S. 64 ff. Zur Entwicklung in Österreich: Heinrich Klang, Der Oberste Gerichtshof und die Entwicklung des bürgerlichen Rechts, in: Festschrift zur Hundertjahrfeier des österr. Obersten Gerichtshofs 1850 - 1950, 1950, S. 154 ff. In Frankreich ist der Grundsatz "le franc vaut le franc" von den Gerichten nie durchbrachen worden. Vgl. Murad Ferid, Das französische Zivilrecht I, 1971, S. 445. s RGZ 100, 132.
I. Spruchregeln als Generalklauseln
13
gesetzliche Vorschrift beriefe, damit von den Gerichten mit der Begründung abgewiesen würde, seine Berufung auf die Vorschrift verstoße gegen Treu und Glauben" 9 • Bei dieser Androhung künftiger "Estoppel"-Verfahren ist bemerkenswert, daß die Richter sich auf eine Norm des positiven Rechts, nämlich § 242 BGB, berufen und damit Gesetzesgehorsam demonstrieren. Die Gerichte betreten die Problemzone nicht über ein Infragestellen der Gewaltenteilung, sondern mit Hilfe ihrer hergebrachten Standeskunst. Dabei können sie auf ein reichhaltiges Arsenal juristischer Hermeneutik zurückgreifen, die vom schlichten Regelverstehen bis zur hierarchischen Normenbewertung reicht. Stellt der Gesetzgeber selbst Rechtsquellen- und Interpretationsregeln auf, sucht er schon in diesem Bereich zu steuern. Wenn er andererseits hier wieder Generalklauseln einfügt, so nimmt er - meist ungewollt - die möglichen Einbruchstellen der Geschichtlichkeit des Rechts wieder in das System auf. Daß generalklauselartige Rechtsfindungsregeln auch die richterliche Hemmungsschwelle senken und freirechtlich-subjektivistischen Bestrebungen den Weg ebnen, ist damit keineswegs gesagt. Solche Regeln sind nur Teil der gesamten Rechtskultur, in der sie ihren mehr oder minder hoch zu veranschlagenden Stellenwert haben. In der kontinentalen Rechtsmentalität wird darin meist weniger die Einsetzung eines "Richterkönigtums" 10 gesehen, als vielmehr der tunliehst zu meidende und ohne Not gar nicht erst zu betretende Zufluchtsort11 • Aus dem geltenden Recht läßt sich eine Reihe von Rechtsquellen anführen, die methodische Anweisungen und dabei Generalermächtigungen enthalten12 • So nennt Art. 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs im Haag als Erkenntnismittel des Völkerrechts die internationalen Abkommen, den internationalen Brauch, die Spruch- und Lehrautoritäten, darüber hinaus aber auch "die von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze" 13• Der vorsichtige 9 DRiZ 1924, Sp. 7. Abgedruckt auch bei Hattenhauer!Buschmann, Textbuch zur Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 308 ff. 10 Zum Reizwort geworden seit der Streitschrüt von Ernst Fuchs, Schreibjustiz und Richterkönigtum, 1907; neuaufgelegt: Ernst Fuchs, Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechtsreform, hrsg. v. A. S. Foulkes, I, 1970. S. 109 (Ges. Sehr. S. 135): "Nur Richterkönigen können wir die freie Rechtsfindung und Interessenabwägung, also die Rechtsprechung vom höheren Standpunkt wahrer Gerechtigkeit anvertrauen, die unsere niedere Begriffsjurisprudenz ablösen muß. Die dialektische Konstruktion mit ihren Interpretationskünsten für die subalterne Schreibjustiz, die freie Rechtsfindung mit ihrer Schöpferkraft für das Richterkönigtum!" u Vgl. unten XIV. 12 Zur Verwendung und Funktion "allgemeiner Rechtsgrundsätze" vgl. Esser, Grundsatz und Norm; Claus-Wilhelm Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, S. 93 ff. 13 "Les principes generaux de droit reconnus par les nations civilisees" "the general principles of law recognized by civilised nations." Vgl. dazu
14
I. Spruchregeln als Generalklauseln
Gebrauch, den der Internationale Gerichtshof von dieser letzteren Rechtsquelle macht, bestätigt nur den Hang der Gerichte zur Positivität. Als Mittel der Ausfüllung von Gesetzeslücken finden sich die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" in can. 20 Codex Juris Canonici von 1917. Hier werden nebeneinander als Hilfen aufgezählt: die Analogie, Stil und Praxis der römischen Kurie, die herrschende Meinung der Gelehrten und die "generalia juris principia cum aequitate canonica servata" 14• Weit über seinen Geltungsbereich hinaus bekannt und immer wieder als Vorbild empfohlen ist Art. 1 des schweizerischen Zivilgesetzbuchs von 1907, der bei einem Schweigen des ·Gesetzes den Richter anweist, er solle "nach Gewohnheitsrecht und, wo solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde", wobei er "bewährter Lehre und Überlieferung" folgen soll15• Das Ethos dieses Textes hat Ernst Fuchs, den unermüdlichen Streiter der Freirechtsschule, im Jahre 1929 angeregt, für das deutsche BGB einen Einleitungstitel ähnlichen Charakters vorzuschlagen1G. Zu den ältesten noch in Kraft befindlichen Rechtsanwendungsregeln gehören schließlich die §§ 6 und 7 des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1811. § 6 ABGB gebietet die Bindung des Richters an den Gesetzeswortlaut und an den gesetzgeberischen Willen; er findet in § 14 der Einleitung zum preußischen Allgemeinen Landrecht sein genaues Seitenstück. § 7 ABGB leitet den Richter an zur Schließung gesetzlicher Lücken über Gesetzes- und Rechtsanalogie Wilhelm Wengler, Völkerrecht I, 1964, S. 361 ff.; Friedrich Joseph Berber, Lehrbuch des Völkerrechts I, 1960, § 7; Altred Verdross, Völkerrecht I, 5. Aufl., 1964, S. 146 ff.; Paul Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts I, 1948, S. 139 ff. Mit jeweils weiteren Schrifttumsnachweisen. 14 Vgl. Eugen Wohlhaupter, Aequitas canonica, 1931; Eichmann/Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Juris Canonici, I. Bd., 11. Aufl., 1964, S. 113; Heribert Jone, Gesetzbuch der lateinischen Kirche, 2. Aufl., 1950, S. 46 ff.; Carl Joseph Hering, Die Billigkeit im kanonischen Recht, Sonderveröff. RabelsZ 1950, S. 99 ff.; F. Merzbacher, "Aequitas cano-
nica" in HRG. 15 Vgl. Arthur Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber Eine Besinnung auf die von den Gerichten befolgten Verfahrensgrundsätze im Bereich der freien richterlichen Rechtsfindung gern. Art. 1 Abs. 2 des schweiz. Zivilgesetzbuches, 1951; ders., Lücken intra legem, in: Festschrift für 0. A. Germann, 1969, S. 149 ff.; Claude Du Pasquier, Les lacunes de la loi et la jurisprudence du Tribunal federal suisse sur l'art. 1er CCS, 1951; Peter Liver, Das schweizerische Zivilgesetzbuch, Kodifikation u. Rechtswissenschaft (erstmals 1961), Neuabdruck in: Peter Liver, Privatrecht!. Abhandlungen, hrsg. v. H. Merz, 1972, S. 110 ff.; Rudolf Gmür, Das schweizerische Zivilgesetzbuch verglichen mit dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, 1965, S. 48 ff.; Henri Deschenaux, Der Einleitungstitel, in: Schweizerisches Privatrecht II, 1967. Die Bücher von Meier-Hayoz und Du Pasquier sind aus österreichischer Sicht besprochen von Albert Ehrenzweig in: JBl. 1953, S. 146 ff. 16 In: Die Justiz, Bd. II, 1926/27, S. 333 ff. Neuabdruck in: Ernst Fuchs, Gerechtigkeitswissenschaft, hrsg. v. A. S. Foulkes u. A. KaJJ,fmann, 1965, s. 207 ff.
I. Spruchregeln als Generalklauseln
15
und gestattet als äußerstes Mittel die Entscheidung "nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen" 17• Die Österreichische Regelung hat sich in neuerer Zeit noch der italienische Codice civile von 1942 in Art. 12 der "Bestimmungen über das Recht im allgemeinen" zu eigen gemacht mit dem Unterschied, daß als letztes Auskunftsmittel die "allgemeinen Grundsätze der staatlichen Rechtsordnung" berufen werden18 •
17 "Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle und auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechtsfall noch zweifelhaft, so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältjg gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden." 18 " ••• secondo i princip1 generali dell'ordinamento giuridico dello Stato." Das unmittelbare Vorbild für diese Regelung war allerdings der Codice civile von 1865, dessen Art. 3 formulierte: " ... secondo i principii generaU di diritto." Vgl. dazu: GeoTgio del Vecchio, Die Grundprinzipien des Rechts, 1923; Neudruck 1963 in "Grundlagen und Grundfragen des Rechts" unter dem Titel: Über die allgemeinen Rechtsgrundsätze.
11. Das Freiburger Votum Die §§ 6 und 7 ABGB traten, sprachlich geringfügig verändert, an die Stelle der §§ 18 und 19 des von Karl Freiherr von Martini vorgelegten Entwurfs, der als westgalizisches Gesetzbuch 1797 probeweise Geltungskraft erlangte. Der hier vornehmlich interessierende § 19 lautete: Findet aber der Richter einen Rechtsfall durch die Worte des Gesetzes nicht geradezu entschieden, so muß er in seinem Urteile auf den natürlichen Sinn des Gesetzes, er muß ferner auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetze und auf ähnliche, im Gesetz bestimmt entschiedene Fälle Rücksicht nehmen. Bleibt ihm der Rechtsfall nach allem diesem noch zweifelhaft, so muß er ihn mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Sachumstände nach den allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätzen entscheiden19 • Der Entwurf Martinis wurde noch 1797 den Landständen, Justizkollegien und Fakultäten zur Begutachtung vorgelegt20. Die vorderösterreichische Universität wurde durch Dekret vom 16. Jänner, eingegangen am 12. April1797. um ihre Stellungnahme ersucht. Nach dem Protokoll der Freiburger Juristenfakultät hatte der Erlaß folgenden "hauptsächlichen Inhalt"21: Da nunmehr der Entwurf des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs für die gesamten böhmisch-österreichisch-deutschen Erbländer zustande gekommen sei und nun Sr. k.k. Majestät Gesinnung dahin gehe, daß über diesen Entwurf (wovon Exemplarien nächstens anher geschickt werden würden) auch der Konsess der juridischen Lehrer der deutschen erbländischen Universitäten sich äussern solle, als geschehe hiemit die Weisung für die diesseitige Juristen-Fakultät, 19 Julius Ofner, Der Ur-Entwurf und die Beratungs-Protokolle des Österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches I, 1889, S. IV. 2o Vgl. auch Zeillers Eröffnungsvortrag, in: Ofner, Ur-Entwurf, S. 4. 21 Universitätsarchiv Freiburg i. Br., Juristische Fakultät, Protokolle Bd. III, S. 295 ff. Vgl. dazu die erbetene Kritik zum "Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten" 1. Teil, 1784, S. 6 ff., abgedruckt bei Hans Hattenhauer, Allg. Landrecht für die Preuß. Staaten von 1794, 1970, S. 21 (Einführung).
II. Das Freiburger Votum
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daß die Lehrer derselben in ordentlichen Kommissionen zusammen sitzen, den Entwurf von § zu § prüfen, und ihn ohne anderweite Critisierung, bloß daher beurteilen, a) ob er mit den wahren Begriffen der Gerechtigkeit und dem Wohl der Länder übereinstimme, b) ob er deutlich und bestimmt genug abgefasset, c) ob nicht ein oder ander § ganz überflüssig sei, d) ob er den Gegenstand ganz erschöpfe und also keine Lücke der Gesetzgebung zurückließe. Die Beratschlagungskommissionen sollen unausgesetzt fortgehen und nach vollendeter Arbeit das allfällige Resultat der gepflogenen Kommissionen mit einem ordentlichen Protokolle (wobei auch die abgehaltenen Kommissionstage samt der Unterzeichnung aller Mitglieder anzusetzen seie) an die oberste Justizstelle abgeschickt werden. Der Entwurf wurde von der Fakultät in 12 Sitzungen beraten. Am 27. September 1797 lag das mundierte Protokoll den Fakultätsmitgliedern zur Unterschrift vor, am "nächsten Posttage", dem 29. September ging es nach Wien ab22• Die Fakultät hatte beschlossen, "daß der Conceptus Protocolli ad acta facultatis verwahrlich hinterlegt werden solle". Dieser Entwurf ist erhalten und wird jetzt im Archiv der Universität Freiburg aufbewahrtn·. Das Freiburger Gutachten scheint von allen Österreichischen Universitätsvoten das einzige zu sein, das noch greifbar ist, nachdem beim Brand des Wiener Justizpalastes im Jahre 1927 der Bestand der Gesetzgebungshofkommission stark in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Das Gutachten hat entsprechend der Anweisung des Dekrets die Form eines Protokolls, das jeweils auf der linken Seitenhälfte "Erinnerungen und Gründe" enthält und auf der rechten Seite die vorgeschlagene "Textierung" wiedergibt. 22 Fakultätsprotokoll v. 9. Sept. 1797: "Zusammenkunft der Fak. Praes. omnib., wobei die letzte Beratschlagung über das allg. b. Gesetzbuch ist abgehalten, das Protokoll geschlossen, vom Dekane u. übrigen Professoren der Fakultät eigenhändig unterschrieben u. zum Mundieren übergeben worden." 27. Sept. 1797: "Zusammenkunft der Fakultät, p. o. Das mundierte Protokoll der bisher über den Entwurf des allg. bürg. Gesetzbuches gepflogenen Beratschlagungs-Kommissionen ward revidiert, gut befunden u. von jedem Mitgliede eigenhändig unterschrieben u. dem Dekane zur baldigsten Abfertigung an die oberste Justizstelle nach Wien überlassen mit dem Beisatze, daß der Conceptus Protocolli ad acta facultatis verwahrlich hinterlegt werden solle. N. B. Gleich am nächsten Posttage I am 29. Sept. I ward das obgen. Protokoll dem hiesigen Postamte nebst Rückerhaltung eines gewöhnlichen Recipisse übergeben. Die Postkösten samt der Abschreibungsgebühr des Protokolls übernahm das Aerarium der Hohen Schule." 23 Universitätsarchiv Freiburg, Juristische Fakultät: Consilien. Vgl. dazu Clausdieter Schott, Rat und Spruch der Juristenfakultät Freiburg i. Br., 1965 (Beiträge z. Freiburger Wissenschafts- u. Universitätsgeschichte, 30. Heft), s. 133, 163, 269.
2 Schott
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11. Das Freiburger Votum
Der Auftrag der obersten Justizstelle ließ geringen Spielraum, so daß nur wenig grundsätzliche Gedanken, dafür um so mehr textformende Kleinarbeit erwartet werden dürfen. Fragen von prinzipieller Bedeutung werden aber durch die Erinnerung zu § 19 des Martinisehen Entwurfs angeschnitten. Die Freiburger Juristenfakultät nahm die "allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätze" zum Anlaß, um einen noch weitergehenden Vorschlag anzufügen. Das Gutachten bemerkt zu dieser Subsidiärquelle24 : Da der Gesetzgeber ein Mensch ist, folglich unmöglich immer alle Umstände und deren unendliche Modifikationen vorhersehen kann, so könnte am Ende dieses§ noch füglieh hinzugesetzt werden: Dieses nämliche [gemeint ist der Rückgriff auf die "allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätze"] hat auch der Richter zu tun, wenn aus der wörtlichen Auslegung eines an sich zwar klaren Gesetzes wegen vorkommender, ganz besonderer, vom Gesetzgeber nicht vorhergesehenen Umstände eine offenbare Ungerechtigkeit oder Ungereimtheit folgen sollte. Dieser Zusatzantrag wurde von dem neuen Referenten der "Hofkommission in Gesetzessachen", Franz von Zeiller, schlechthin ignoriert, obwohl er im übrigen die meisten, weniger bedeutsamen Redaktionsvorschläge der Freiburger Fakultät verarbeitete und getreulich vortrug25. In der betreffenden Kommissionssitzung vom 4. Jänner 1802 traf Zeiller im Gegenteil eine ganz andere Auswahl der Voten und beschränkte seinen Bericht auf die negativen Äußerungen zu den "allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätzen": "Außer einer Spruchberichtigung konzentrierten sich die angeführten Erinnerungen darauf, daß zur Beseitigung der Willkür dem Richter nicht gestattet werden sollte, nach der Absicht des Gesetzgebers und noch weniger nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen zu entscheiden26." Zeiller wollte offensichtlich den Freiburger Vorschlag nicht mehr diskutieren. Er regte vielmehr an, eine Bestimmung in das spätere Kundmachungspatent aufzunehmen, wonach zur Verhütung von Mißbräuchen den Gerichten eine Vorlage solcher rechtskräftiger Entscheidungen zur Pflicht gemacht werden sollte, die sich auf die "natürlichen Rechtsgrundsätze" stützten. Die Kommission war damit einverstanden, behielt jedoch die Form eines solchen Gebots späterer Beratung vor: "Nun warf man die Frage auf, ob die diesfällige Vorschrift nicht vielmehr in die Instruktion für die Richter als in das Kundmachungs24 S. 8 des Gutachtens. 25 Vgl. Ofner, Ur-Entwurf I, S. 34, 45, 46, 146, 161, 163, 172, 221, 229, 231 passim. 26
Ofner, Ur-Entwurf I, S. 23.
II. Das Freiburger Votum
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Patent einzuschalten sein dürfte27." Das Kundmachungspatent vom 1. Juni 1811 enthielt dann keine derartige Regelung und vermied damit einen Weg, der sich in der Vergangenheit schon mehrfach als Irrweg erwiesen hatte. Zeillers Vorschlag war ein verspätetes Relikt eines zwar aus älteren Traditionen überkommenen28 , im gegenwärtigen Zeitpunkt aber wieder allgemein aufgegebenen Bestrebens, das Recht durch Konzentration an höchster Stelle zu gewinnen und zu sichern.
Ebd., S. 25. Vgl. schon Justinian, Const. Tanta § 21: "Si quid ... ambiguum fuerit visum, hoc ad imperiale culmen per iudices referatur et ex auctoritate Augusta manifestetur, cui solum concessum est leges et condere et interpretari." 27 28
111. Die Verfasser des Votums Das Gutachten des Freiburger Studienkonsesses wurde von den Professoren de Bcnedictis, Petzek, Lugo und Mertens verfaßt und unterzeichnet. Diese vier Gelehrten bildeten zu dieser Zeit die gesamte Fakultät, da zwei Lehrstühle vakant waren29 • Die Lehrkanzel des Naturrechts war durch kürzlich erfolgte Emeritierung von Franz Borgias Schneller (gestorben 1799) unbesetzt. Die Professur des römisch-bürgerlichen Rechts, zugleich des Kriminalrechts, war durch Berufung von Franz Xaver Jellenz (1749- 1805) an das Oberösterreichische Appellationsgericht zu Innsbruck freigeworden. Mit Jellenz fehlte bei der Erstattung des Gutachtens eine sachkundige und gewichtige Stimme, da er bereits 1792 zu den Arbeiten am bürgerlichen Gesetzbuch Stellung genommen hatte30• Bei dem 1797 erstatteten Kollegialgutachten verteilt sich die Urheberschaft keineswegs gleichmäßig auf die vier Unterzeichner, vielmehr läßt sich bei näherer Betrachtung eine Eingrenzung vornehmen. Dabei vermitteln schon einige biographische Bemerkungen Aufschluß. Franz de Benedictis zu Loverberg (1721 -1800)31 • Geboren zu Rottenburg am Neckar als Sohn eines Oberamtsrats. Die Familie stammte aus Loverno/Loverberg. Studium und Doktorat zu Innsbruck. Hier Eintritt in den Jesuitenorden und Lehrer an verschiedenen Gymnasien. Studium der Theologie in Freiburg und Ingolstadt. Promotion zum Doktor der Theologie. In Freiburg erhielt er die Professur für Geschichte, bis diese 1767 anläßlich der Auseinandersetzungen zwischen Universität und Regierung eingestellt wurde. Darauf lehrte er Moral und Kirchenrecht zu Luzern, Augsburg, Eichstätt und Rottenburg. Nach Aufhebung des Jesuitenordens Rückkehr nach Freiburg, wo er deutsche Staatsund Rechtsgeschichte sowie Statistik las. Nach einer weiteren Promotion im Kirchenrecht wechselte er 1784 in die Juristenfakultät über. Als das 29 Vgl. Heinrich Schreiber, Geschichte der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br. III, 1860, S. 172 ff. 30 Über Jellenz siehe Schreiber, S. 182 ff. Das erwähnte Gutachten ist auszugsweise abgedruckt bei Pfaff/Hofmann, Excurse über österr. allgemeines bürgerliches Recht I, 2. Aufl., 1878, S. 21 ff. 31 Schreiber, S. 127 ff. Vgl. auch Elisabeth Liefmann-Keil, über die Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften im 19. Jh., in : Aus der Geschichte der Rechts- u. Staatswiss. zu Freiburg i. Br., hrsg. von H. J. Wolff,
1957,
s. 47 ff.,
63.
III. Die Verfasser des Votums
21
Gutachten zum Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch erstattet wurde, war er Dekan. Joseph Anton Petzek (1745 -1804)32• Geboren zu Trautnau in Böhmen. Eintritt in den Jesuitenorden, nach dessen Aufhebung Studium der Rechtswissenschaft zu Olmütz und Prag. Doktorat in Wien. Als in Freiburg mit dem Wegang Joseph Anton Rieggers (1742 -1795) die Lehrkanzel für Kirchenrecht frei wurde, folgte ihm Petzek nach einem in Wien abgehaltenen Konkurs 1778 nach. Seit 1791 hatte er auch das außerordentliche Lehramt des Österreichischen Privatrechts (Provinzialrecht) und der juristischen Praxis inne. Im Jahre 1791 wurde er auch zum vorderösterreichischen Appellationsrat unter Beibehaltung der Professur ernannt. Zugleich amtierte er als vorderösterreichischer Bücherrevisor. Politisch hat sich Petzek durch seine Rolle im Kampf des Erzherzogs Karl gegen Moreau hervorgetan, weshalb er 1799 vor den Franzosen flüchtete. In Wien wurde ihm nebst einer Ernennung zum Appellationsrat die Professur des Kirchenrechts übertragen. Nach kurzer Tätigkeit starb er hier. Petzek hat in Freiburg eine rege Publikationstätigkeit entfaltet. Seine kirchenrechtlichen Arbeiten weisen ihn als Vertreter des Josephinismus aus und machten ihn einem weiteren Publikum bekannt. 1792 - 1797 erschien eine von ihm herausgegebene fünfbändige "Systematisch-chronologische Sammlung aller jener Gesetze und allerhöchsten Verordnungen, die von ältesten Zeiten her bis 1792 für die vord.österr. Lande erlassen worden sind und itzt noch bestehen". 1789 gab er die Allgemeine Gerichtsordnung in einer auf den Zeitstand gebrachten Privatredaktion heraus. Als Lehrbuch seiner Vorlesung zum Österreichischen Privatrecht, zugleich als Leitfaden der Rechtspflege und als Vorbereitungshilfe für Praktikerprüfungen verfaßte er in drei Bänden die "Grundsätze des Vorderösterreichischen Privatrechts" (1792 - 1794). Dieses Lehrbuch folgt dem Institutionenschema und befriedigt ein systematisch-praktisches Bedürfnis ohne tieferen wissenschaftlichen Ansatz, wie überhaupt bei Petzek das pädagogische und das kompilatorische Anliegen weitgehend im Vordergrund stehen. Bei der Anfertigung des Kollegialgutachtens zum Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch wurde Petzek als Senior der Fakultät bezeichnet. Johann Alphons Lugo (1745 -1816)33 war zunächst in seiner Geburtsstadt Wien Korrepetitor am Theresianum. 1786 wurde er an die Universität Freiburg als "ordentlicher öffentlicher Professor der Staatswissenschaften und des Geschäftsstils" berufen unter der Auflage, die erforderlichen "scharfen Prüfungen" nachzuholen. Erst 1797 er32 Schreiber, S. 177 ff.; Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich, Bd. 22, 1870, S. 150 ff. 33 Schreiber, S. 191; Liefmann-Keil, S. 63.
22
III. Die Verfasser des Votums
langte er jedoch die juristische Doktorwürde. 1792 wurde er durch Hofdekret beauftragt, binnen Jahresfrist ein Lehrbuch über die Verfassung der Österreichischen Vorlande zu schreiben. Der Auftrag blieb unausgeführt. Nach dem Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1795/96 las er "Politische Wissenschaften nach Sonnenfels" und "Geschäftsstil nach Sonnenfels". Nach dem Tode von de Benedictis übernahm er auch das Lehrfach der Statistik.
Johann Anton Mertens (1755- 1827)34• Geboren zu Wüstenrode im Limburgischen. Studium der Philosophie in Bonn, der Rechtswissenschaft zu Wien, wo er das Doktorat erlangte. Zunächst Korrepetitor für Staatsrecht und Reichsgeschichte am Theresianum in Wien erhielt er in Freiburg 1786 den Lehrstuhl für Staats- und Lehensrecht. Daneben las er auch deutsche Reichsgeschichte, deutsches und vorderösterreichisches Privatrecht und juristische Praxis, später auch den Code Napoleon und das badische Landrecht. 1803 wurde er unter der modenesischen Regierung breisgau-ortenauischer Appellationsrat. Auch unter der badischen Herrschaft war er Referent am Hofgericht. Aus seiner Feder stammt ein Lehrbuch "Grundsätze des gemeinen Lehnrechts" (1789) und eine "Geschichte der Deutschen" (1810). Unter den Gelegenheitsschriften verdient eine 1803 anläßlich einer Promotion gehaltene Rede "Etwas über den Zustand der deutschen Gesetzgebung" einige Aufmerksamkeit35• Mertens führte als Jüngster im Kollegium bei den Beratungen zum ABGB-Entwurf Protokoll. Der biographische Exkurs zeigt soviel, daß die Professoren de Benedictis und Lugo als Kameralisten kaum nennenswerten sachlichen Einfluß auf die Beratungen zum Entwurf genommen, sondern das Feld den ausgewiesenen Fachleuten Petzek und Mertens überlassen haben dürften. Welcher von diesen beiden jedoch gerade den Vorschlag eines gesetzeskorrigierenden Rückgriffs auf die "natürlichen Rechtsgrundsätze" eingebracht hat, läßt sich schwer mit Bestimmtheit sagen. Der Blick richtet sich zunächst auf Petzek, der zu dieser Zeit das Österreichische Privatrecht vertrat und daher auch mit den Rechtsfindungsregeln des Josephinischen Gesetzbuches und deren späteren Novellierung befaßt war. Entsprechend widmet Petzek diesen Bestimmungen in seinem Lehrbuch des vorderösterreichischen Privatrechts einen eigenen Abschnitt: "Von Auslegung der Gesetze36.'' In herkömmlicher Weise unterscheidet er neben der authentischen eine "doctrinal oder erklärende Auslegungsart", die wieder in eine "philologische" und eine "philosophische" eingeteilt werde. Die philologische 34
35 3&
Schreiber, S. 184 ff., F. v. Weech, Badische Biographien II, 1875, S. 73. Näheres darüber siehe unten. Petzek, Grundsätze des Vorderöst. Privatrechts I, S. 39 ff.
III. Die Verfasser des Votums
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Methode befasse sich "mit der Auslegung der Worte, ihrer Bedeutung und Verbesserung, wenn je ein Fehler oder Verstoß oder eine Verfälschung unterläuft". Die philosophische Methode "untersucht den Grund und die Endursache der Gesetze, um deren Sinn zu bestimmen, und wird in die ausdehnende und einschränkende Auslegungsart unterteilt. Diese letzteren zwei Auslegungsarten sind in Österreich ausdrücklich aufgehoben" 37• Im weiteren referiert Petzek fast wörtlich die Vorschriften des J osephinischen Gesetzbuchs und die Interpretationsnovelle von 1722. Zu dieser Novelle bemerkt er und berichtigt damit seine vorige Aussage: "Weil nun diese allerhöchste Verordnung den Richtern die Verbindlichkeit auferlegt, einen zweifelhaften Fall aus dem Sinn des Gesetzes und dessen Absichten zu entscheiden, so hat sie wenigstens dem Ric..hter die philosophische Gesetzesauslegung wieder bewilliget38." Obwohl das Lehrbuch sich als bloße Gesetzeskunde versteht39 und sich dieser Aufgabe unkritisch unterzieht, scheint aus dieser letzten Anmerkung eine positive Einstellung zur größeren richterlichen Bewegungsfreiheit zu sprechen. Als Richter am k.k. vorderösterreichischen Appellationsgericht Freiburg mochte Petzek auch kaum Gefallen an einer übermäßigen Beschränkung gefunden haben. Bei ihm wird man daher die Initiative für den Zusatzantrag zu den "natürlichen Rechtsgrundsätze" suchen dürfen. Auch Mertens hat sich mit Fragen der Rechtsgewinnung beschäftigt, allerdings weniger aus der Sicht des Richters als unter dem Gesichtspunkt der Gesetzgebung. In seiner 1803 gehaltenen Rede40 beklagt er die mit der Rezeption aufgekommenen unverläßlichen Rechtszustände in Deutschland und das ungeklärte Nebeneinander von älterem deutschen und übernommenem römischen und kanonischen Recht. "Der Richter steht unschlüssig da, und weil es ihm an diesfallsigen bestimmten Vorschriften mangelt, so kann es nicht anders sein, als daß auch er sehr oft durch Zufall, vorgefaßte Meinungen, Leidenschaften oder sonstige unrechtliehe Beweggründe zu seinen Entscheidungen bestimmt werde, und der Gewissenhafteste schätzt sich noch glücklich, wenn er wegen Vernachlässigung irgend einer Formalität in den Stand gesetzt wird, einen unbestreitbaren Grund seiner Entscheidung anzugeben41." Die ablehnende Haltung gegenüber dem römischen Recht ist Ebd. S. 40 f. Über die Rechtslage in Osterreich vgl. das folgende Kapitel. Ebd. S. 43. Näheres im folgenden Kapitel. 39 Ebd. S. 5: "Das Österreichische Recht für eine Wissenschaft genommen: ist die Fertigkeit, die Österreichischen Gesetze richtig auszulegen und auf die vorkommenden Rechtsfälle anzuwenden." Petzek erweist sich damit bereits als Vertreter einer exegetischen Ausrichtung. 40 Siehe oben. 41 Mertens, Etwas über den Zustand der deutschen Gesetzgebung, 1803, S.IO. Die hier angeschlagenen düsteren Töne sind typisch für das zeitge37
as
III. Die Verfasser des Votums durchaus juristischer Zeitsti142 • Mertens ist sogar der Meinung, daß mit der Rezeption "auch die römische Chikane und Rabulisterei, der ganze Schwarm römischer Subtilitäten und Formalitäten" in die deutsche Rechtspflege eingedrungen sei und nachteilig auf das Ethos der Richter eingewirkt habe. Überaus schädlich sei auch die Flut der zwar wohlmeinenden, aber nur Verwirrung erzeugenden Rechtsliteratur, und "es ist doch gewiß, daß mancher Richter für diesen oder jenen Rechtsschriftsteller eine Vorliebe habe, daß dieser den Stryck, jener den Leyser, ein dritter den Cramer als seinen heiligen Vater verehre und nicht selten dem Tribonian vorziehe" 43 • Betrug und Überlistung würden "in dem unendlichen Chaos der Gesetze" gedeihen. Mertens beschwört in dieser Situation der Rechtsunsicherheit das klassische Kommentierverhot Justinians und versteigt sich dazu, dieses als vorbildlich anzupreisen: "Dieses nämliche könnte, dieses sollte jeder Gesetzgeber tun, sobald er ein eigenes Gesetzbuch zustande bringt." Der Leitgedanke dieser Idee ist also, Rechtsklarheit durch ein Gesetzbuch zu schaffen, das möglichst alle Zweifelsfragen ausschließt. Auch das sprachliche Postulat bleibt im Gesichtsfeld: "Soll es endlich nicht Männer geben, welche die nötigen Sprachkenntnisse besitzen, um die zu entwerfenden Gesetze und Verordnungen in einer reinen deutschen, jedem Deutschen verständlichen Sprache - ohne Unbestimmtheit, Dunkelheit und Zweideutigkeit - welche Fehler ohnehin meistens nur von Mangel an Sachkenntnis herrühren, abzufassen44?" Aus diesen Sätzen spricht ein durch nichts in Frage gestelltes Vertrauen in die Fixierungsmöglichkeit der Sprache und ihre Leistungsfähigkeit bei Gesetzestexten. Vom Richter ist hier zwar nicht die Rede, jedoch bedarf es keiner Spekulation zu der Feststellung, daß nach diesen Grundsätzen die richterliche Tätigkeit durch das Gesetz vorgezeichnet sein und keinen Raum für eigene Meinungsbildungen lassen soll. Damit fügen sich die Vorstellungen von Mertens ganz in die Grundgedanken der Gesetzesgeschichte ein, wie sie etwa noch im Josephinischen Gesetzbuch, teilweise aber auch wieder bei Zeiller zum Ausdruck kommen. Auch der Vorschlag einer ständigen Gesetzesrevision wird aufgegriffen: da "man nicht sogleich vom ersten Versuche schon eine Vollkommenheit erwarten" könne, müßte man von Zeit zu Zeit "Abänderungen, Verbesserungen, Erläuterungen und Zusätze" anbringen und um die Übersichtlichkeit zu erhalten, alle 10 Jahre eine Neuauflage des Gesetzbuchs veranstalten45• nössische Schrifttum zur Gesetzgebungsthematik. Vgl. Claproths Vorrede zu seinem "Ohnmaßgeblichen Entwurf" (unten Anm. 118). .u Vgl. Hans Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, In: ZRG Germ. Abt. 56 (1936), S. 241 ff. 43 44 4.11
Mertens, S. 14. 8.18.
s. 19.
III. Die Verfasser des Votums
25
Es muß offen bleiben, ob man diesen Darlegungen über den Gelegenheitsanlaß hinaus Bedeutung beimessen darf, ob diese Äußerungen in ihren Folgen tiefer durchdacht worden sind und ob man Mertens eine solche Grundeinstellung schon 1797 zurechnen darf. Wie dem auch sei, es wäre falsch, in Mertens einen Gegner der "natürlichen Rechtsgrundsätze" als Rechtsquelle zu sehen. Zwischen Wortlautbindung und Generalklausel besteht nach dem Zeitverständnis kein grundsätzlicher, sondern nur ein gradueller Unterschied. In jedem Falle ging es um die Verwirklichung einer objektiven Gerechtigkeit, nur lag die Generalklausel eher im Bereich der Mißbrauchsmöglichkeit, der man durch strikte Verweisung in die Subsidiarität steuern zu können glaubte. Niemals sah jemand in den "natürlichen Rechtsgrundsätzen" die Anweisung zu subjektivistischer Rechtsprechung. Die Diskussion oder nur Darstellung der Extrempositionen zeigte nur das Dilemma, in dem man sich befand, das man aber nicht wahrhaben wollte.
IV. Die richterliche Bindung in der Österreichischen Gesetzesgeschichte Mit dem Freiburger Votum nach richterlicher Vollmacht zur Gesetzesüberschreitung und dem oben geschilderten Antrag Zeillers, die Richterbefugnis einzuschränken, sind auseinanderliegende Standpunkte bezogen. Es bleibt die Frage nach einer richterlichen Gesetzeskorrektur über die "natürlichen Rechtsgrundsätze". Die hier zum Ausdruck gekommenen Auffassungen und ihre Durchsetzungschancen erhalten mit einem Rückwärtsblick in die Gesetzesgeschichte die ihnen zukommende Einordnung46 • Der 1758 fertiggestellte erste Teil des Codex Theresianus enthielt einen ausführlichen Abschnitt "Von Ausdeutung der Gesetzen und Befreiungen" (Cap. I §V). Diese Interpretationsvorschriften entwerfen ein ängstlich enges Funktionsbild des Richters. Durch strenge Bindung an den Gesetzeswortlaut und Vorlagepflicht von Zweifelsfällen sucht man die absolute Kontrolle durch den Gesetzgeber zu garantieren47 : 81. Jedermann ist an die ausdrücklichen Worte Unserer Gesetzen in ihrem wahren und allgemeinen üblichen Verstand gebunden. Niemandem ist daher gestattet, sich einer rechtskräftigen Ausdeutung Unserer Gesetzen anzumaßen, noch unter dem Vorwand eines Unterschieds zwischen den Worten und dem Sinne des Gesetzes solche auf einerlei Weise zu erweiteren oder einzuschränken. 82. Wir verbieten auch allen Richtern, unter dem nichtigen Vorwand einer von der Schärfe der Rechten unterschiedenen Billigkeit von der klaren Vorschrift Unserer Gesetzen im mindesten abzugehen. 84. Wo ferne aber dem Richter ein Zweifel vorfiele, ob ein vorkommender Fall in dem Gesetz begriffen seie oder nicht, oder da ihme das Gesetz selbst dunkel schiene, oder ganz besondere und sehr erhebliche Bedenken der Beobachtung des Gesetzes entgegen46 Zur Gesetzgebungsgeschichte des ABGB: Josef Schey und Heinrich Klang im Klang-Kommentar I, 2. Aufl. 1964, S. 1 ff.; Harras v. Harrasowsky, Geschichte der Codification des österr. Civilrechts, 1868 (Neudruck 1968); Moriz Wellspacher, Das Naturrecht und das allg. bürgerl. Gesetzbuch, Festschrüt z. Jahrhundertfeier des ABGB I, 1911, S. 173 ff.; F . Klein-Bruckschwaiger, ,.Allgem. Bürger!. Gesetzbuch" in HRG. 4.7 Philipp Harras v . Harrasowsky, Der Codex Theresianus und seine Umarbeitungen, I. Bd. 1883, S. 49 ff.
IV. Die richterliche Bindung in der Österreich. Gesetzesgeschichte
27
stünden, so ist die maßgebige Erklärung des Gesetzes allemal bei Uns anzusuchen4s. Eine Berufung auf die "natürliche Billigkeit" sollte nur dort gestattet sein, wo das Gesetz selbst eine Anweisung dazu gibt49 • Dagegen hatte die Kompilationskommission zunächst noch für alle "selbsterdenkende Billigkeit" eine Strafsanktion vorgesehen, da ja das Gesetz selbst auf Billigkeit beruhe50 • Die Diskussion der Kommissionen um die Fixierung von Rechtsfindungsregeln offenbart eine gewisse Hilflosigkeit und Unerfahrenheit in der Bewältigung dieser Materie. Die Vorschriften sollten den Versuch darstellen, in einfacher Weise die Denkgesetze der juristischen Hermeneutik zu formulieren, die bis dahin als "arcana jurisprudentiae" angesehen worden seien51 • Mit der letzteren Bemerkung wurde allerdings weniger eine geheimnisvolle Kunstlehre angesprochen, als eher ein methodisches Ungenügen umschrieben. Der Codex Theresianus hat zwar niemals Gesetzeskraft erlangt, bildete aber die Grundlage für den 1771 von Horten vorgelegten neuen Entwurf, dessen erster Teil mit geringfügigen Änderungen 1786 als "Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch", sog. Josephinisches Gesetzbuch publiziert wurde52 • Das Richterbild hat sich darin jedoch nicht geändert. Die §§ 24 ff. des Ersten Hauptstückes wiederholen fast wörtlich die lähmenden Regeln des Codex Theresianus, und das Kundmachungspatent schärft den Buchstabengehorsam nochmals eigens ein53 • Das Gesetzbuch geht sogar über seine Vorlagen hinaus. Hatten sowohl der Codex Theresianus (1. Teil, Caput I, §V, Nr. 85) wie der Entwurf von Horten (1. Teil, 1. Kap., § 33) eine äußerst bescheidene, aber doch selbstverantwortliche Analogie zugelassen, so behält zwar das Josephinische Gesetzbuch diese Regelung bei jedoch mit der Einschränkung, daß "ein solcher Fall jedesmal dem Landesfürsten angezeigt werden" solle (1. Hauptstück, § 26). Einsichtige Stimmen hatten schon bei den Beratun48 Die Häufung der Belehrungsgesuche wollte die Kommission hinnehmen in der Meinung, daß sich andererseits die Einlegung von Rechtsmitteln entsprechend vermindern würde Es sei leichter, zehn Anfragen zu beantworten als über eine Revision zu entscheiden. Harrasowsky I, S. 50. 49 So Nr. 87, Harrasowsky I, S. 52. 110 Harrasowsky I, S. 50, Anm. 30. &1 Harrasowsky I, S. 50, Anm. 29. Hier auch die Diskussion um die Interpretationsregeln. 52 Harrasowsky IV, 1886. Das "Josephinische Gesetzbuch" ist auch abgedruckt bei Petzek, Systematisch-chronolog. Sammlung, Bd. I, 1792. 53 Absatz 3: "Zugleich werden Richter und Untertanen an den wahren und allgemeinen Verstand der Worte dieses Gesetzes angewiesen, und sollen sie unter keinem ersinnlichen Vorwande von der Vorschrift derselben abweichen. Nur wenn dem Richter ein Fall, der in dem Gesetze nicht bestimmet wäre oder ein gegründeter Zweifel über den Verstand des Gesetzes auffiel, soll Unsere Entschließung durch die vorgesetzte Behörde eingeholet werden."
28
IV. Die richterliche Bindung in der Österreich. Gesetzesgeschichte
gen die Vorstellungswelt dieser Bestimmungen kritisiert, ohne sich jedoch durchsetzen zu können. Gegenüber Anregungen, den Rekurs auf den "Sinn der Gesetze" oder auf die "allgemeinen Grundregeln" zu gestatten, hatte sich die Kommission verschlossen gezeigt und hatte dazu bemerkt, "daß dem Richter unmöglich eine interpretatio legis eingeraumet werden könne, ohne die ganze bei Verfassung des neuen Gesetzbuches gehegte Absicht zu vereitlen"54 • Der Idee einer Fixierung des Verstehens und ihre Dienstbarmachung für die soziale Ordnung liegt ein absolut instrumentales Sprachverständnis zugrunde. Treffend bringt dies Kreittmayr in seinen Erörterungen zur Auslegung der Gesetze zum Ausdruck: "Man pflegt sich der Worten wie der Münzen zu bedienen55 ." Diese Verkürzung der Sprache und damit des Rechts selbst um eine Dimension ist in der Rechtshistorie in doppeltem Sinne als klassisch zu bezeichnen. Als Textvorbild sind der Jurisprudenz die Einführungskonstitutionen Justinians (c. Deo auctore § 12, c. Tanta § 21), die eine Kommentierung und Interpretation strikt untersagen, seit langem vertraut56 • Abgesehen davon lebt aber jeder Kodifikationsgedanke aus der Trugvorstellung eines ruhenden Normengefüges, das mehr oder weniger nur der Subsumtion bedarf. Dieses naive Reproduktionsbild hat die Rechtswissenschaft mit allen textorientierten Disziplinen gemein, nur hat sie immer wieder besondere Anstrengungen unternommen, "eine übersichtliche Zahl einfacher Körper" zu gewinnen57• Es ist hier nicht der Ort, den bisweilen bis zur Resignation reichenden Gesinnungswandel zu verfolgen. Als Kontrastzitat zu Jherings Äußerung sei aber das Wort Wilburgs angeführt, wonach "die rechtlichen Erscheinungen nicht als Körper, sondern als Ergebnis einer Kräftewirkung zu sehen" seien56• Diese juristischen Einsichten haben ihre sprachwissenschaftlichen Seitenstücke, zu denen an hervorragender Stelle Wilhelm von Humboldts Ausspruch zu zählen 54 56
Harrasowsky IV, S. 22, Anm.17. W. X. A. Frhr. v. Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maxi-
milianeum Bavaricum Civilem I, 1759, S. 27. 116 Bezeichnend etwa Coccejis Bemerkungen zur mittelalterlichen Rechtszersplitterung in der Vorrede zum "Project des Corporis Juris Fridericiani", 1749, S. 9: "Es würde diese incertitudo juris noch leidlich gewesen sein, wenn nach des Justiniani ausdrücklichem Verbot keine Commentaria über dieses Corpus Juris wären verfertiget worden, weil sich die Advocaten und Richter einzig und allein auf die Leges würden gelegt, deren wahren Sinn ergründet und die rationem legis mit mehrem Grund untersucht haben." Zum Kommentier- und Auslegungsverbot vgl. jetzt eingehend H.-J. Becker unter dem entsprechenden Stichwort im HRG. 67 So Rudolph v. Jhering, Geist des römischen Rechts, I. Teil, 9. Aufl., 1953, S. 39. Zur hermeneutischen "Naivität" vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl., 1965, S. 374 ff. 58 Walter Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, 1950.
I
IV. Die richterliche Bindung in der Österreich. Gesetzesgeschichte
29
ist, daß Sprache nicht nur "Werk (ergon)", vielmehr auch "Tätigkeit (energeia)" seis9. Mit dem Josephinischen Gesetzbuch war der Höhepunkt judizieller Restriktion erreicht. Die 1790 von Kaiser Leopold II. eingesetzte neue Kommission machte sich unter dem Vorsitz Martinis daran, die Dinge wieder zurechtzurücken. In dem Kommissionsmitglied Lewinski fand sich ein scharfer Kritiker der bestehenden Rechtslage und ein Befürworter einer größeren richterlichen Bewegungsfreiheit: "Durch diesen § habe man alle Jurisprudenz verbannt, er mache die Richter alle zu Maschinen und öffne der Ignoranz Tür und Angel, weil sie sich nur an den Buchstaben anhalten darf, womit schon alles gut ist60." Überzeugt, aber wohl auch aus Sorge um die Flut weiterer Vorlageneingänge, beschloß die Kommission die Zulassung der Analogie und die Berücksichtigung des Gesetzeszwecks. Diese Empfehlung erlangte mit der Novelle vom 22. Februar 1791 Gesetzeskraft. An Stelle von § 26 (1. Hauptstück) Josephinisches Gesetzbuch wurde nunmehr bestimmt: daß der Richter, wenn er einen vorkommenden Fall nicht in den Worten des Gesetzes entschieden fände, auf den zusammenstimmenden Begriff und Sinn desselben, auf gleichförmige, darin ausgedrückte Fälle, auf die aus der Verbindung der Gesetze sich darstellenden Grundsätze und Absichten sehen, und den Fall nach derselben Maßgebung beurteilen soll. Stünden der Beobachtung des Gesetzes besondere und sehr erhebliche Bedenken entgegen, so wäre die Belehrung bei Hof anzusuchen61 • Der sich an diese Regelung anschließende Entwurf von Martini ging noch weiter und gab dem Richter ein gutes Stück Selbständigkeit schon allein dadurch zurück, daß die Vorlagepflicht zweifelhafter Fälle gänzlich beseitigt wurde. Daß später Zeiller eine solche in abgeschwächter Form nochmals zu beleben suchte, wurde bereits erwähnt62 • An die Stelle der obrigkeitlichen Weisung traten nunmehr die "allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätze". Wegen der Verweisung auf das Naturrecht mußte sich Martini bei den Beratungen 1793 von der Kommission vorhalten lassen, daß ,,die Lehrer des Naturrechts in gewissen Grundsätzen unter sich selbst nicht einig sind" 63 • Man korrigierte daher vorläufig nochmals den Text und formulierte "all69 Die sprachphilosophischen Werke Wilhelm v. Humboldts, hrsg. und erklärt von Steinthal, 1884, S. 52, 260 ff. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1953, S. 329. 60 Harrasowsky IV, S. 22, Anm. 17. &1 Abgedruckt bei Petzek, Systematisch-chronologische Sammlung, Bd. I, S.252. 62 Siehe oben bei Anm. 27. 63 Harrasowsky V, 1886, S. 11, Anm. 6.
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IV. Die richterliche Bindung in der Österreich. Gesetzesgeschichte \
gemeine Rechtsgrundsätze"M. Mit dem Zugeständnis der Generalklausel war aber dann die äußerste Grenze erreicht. Die Kommission war sich einig, "daß man die von dem Richter sich selbst gegebenen rationes legis nicht gelten lassen kann" 65• Zeiller hat die "natürlichen Rechtsgrundsätze" lustlos übernommen mit der Bemerkung: "Ungezweifelt sei zwar das Befugnis, welches man den Richtern für die Zukunft einräumen wolle, besonders da die Richter oft eben keine gründlichen Rechtsphilosophen seien, ein Übel, aber ein Übel, das nicht ganz gehoben werden könne, ... es komme nur darauf an, dem besorgten Mißbrauche soviel möglich Grenzen zu setzen66." Aus diesen Worten spricht das Eingeständnis des Scheiterns einer allzu kleinlichen Richterbindung. Andererseits war mit der Aufnahme der Generalklausel die Diskussion, aber auch ein jahrelanges Experimentieren mit dem Ergebnis abgeschlossen, daß der gesetzeskorrigierende Billigkeitsspruch dem Richter auf keinen Fall gestattet sein sollte. Die Generalklausel hebt sich fast wie ein Kompromiß aus dem bunten Meinungsbild heraus, das durch die zahlreichen Gutachten, Eingaben, Erinnerungen und Bemerkungen der verschiedensten Stellen und Personen entstanden war. Die Voten bewegen sich immer wieder um Themen wie die Verhütung richterlicher Willkür und Rechtsbeugung, um die Bekämpfung juristischer Kunstgriffe und Unehrenhaftigkeiten, um die Interpretationshilfen der Analogie und der Ratio legis, überhaupt um die Lückenproblematik, aber auch um die Anerkennung einer Regelhierarchie, einer Individualgerechtigkeit, um die Fehlerhaftigkeit eines allgemeinen Gesetzes usw., alles Fragenkreise, die sich überschneiden, gegenseitig bedingen oder auch nur jeweils andere Aspekte des gleichen Problems darstellen67 • Auch das Freiburger Fakultätsgutachten nimmt die Thematik an anderer Stelle nochmals auf, allerdings hier weniger auf das Verantwortungsgefühl und Pflichtbewußtsein des Richters vertrauend. In einer generellen Anmerkung wird nämlich bemängelt, daß der am Institutionensystem ausgerichtete Entwurf keinen Aktionenteil enthalte: Jedes Privatrecht besteht in Rechten der Personen, Sachen und Klagen. Die ersten zwei Teile sind in dem Gesetzbuchsentwurfe bearbeitet worden, der dritte Teil, der doch zum theoretischen Rechte gehört, ist weggeblieben. Wenn also dieser Teil nicht als eine Vorbereitung der entworfenen neuen Gerichtsordnung vorausgeschickt 64 Die Fassung des westgaUzischen Gesetzbuchs erhielt dann aber wieder die Formulierung ". . . nach den allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätzen entscheiden". 65 Wie Anm. 63. 66 Ofner, Ur-Entwurf I, S. 23. 67 Vgl. die Diskussionsbeiträge bei Harrasowsky I, S. 49 ff.; IV, S. 22; V, S.lO ff.; 0/ner, Ur-Entwurf I, S. 22 f.
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worden ist, so muß derselbe zum theoretischen Teile nachgetragen werden. Denn ob man zwar heutzutage sich um den Namen der Klage nicht bekümmert, so muß doch durch das Gesetz bestimmt werden, was jede Klage in sich enthalte, wem sie gebühre, was darin zu beweisen, gegen wen sie statt habe und wie das Begehren zu stellen sei. Außer diesen Bestimmungen ist die Justiz der Willkür der Richter und den Verdrehungen der Advokaten ausgesetzt68 • Diese Bemerkungen und vornehmlich die unumwundene Begründung geben einen Hinweis dafür, daß das Freiburger Fakultätsgutachten sich grundsätzlich weit mehr im Feld der allgemeinen Argumentationsweise bewegt, als dies nach dem Redaktionsvorschlag zu den "allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätzen" den Anschein haben mag. Außerdem stand jene Anregung nicht ganz vereinzelt im Konzert der gutachtlichen Stimmen. So sollte nach einer Empfehlung der niederösterreichischen Stände dem Richter gestattet werden, "bei einem sich äußernden Unterschiede zwischen den Worten des Gesetzes und dem auffallenden Sinne desselben sich nach diesem letzteren zu benehmen, auf gleiche Art von der wörtlichen gesetzlichen Vorschrift und der hierin enthaltenen Strenge der Rechte abzuweichen und vielmehr der natürlichen Billigkeit Platz zu geben, wenn diese Billigkeit mit dem Sinne jener Vorschrift ungezweifelt vereinbar ist" 69 • Auch die Stände von Kärnten plädierten für eine Billigkeitsentscheidung gegen den Gesetzeswortlaut, "wenn der selbsteigene Geist des erlassenen Gesetzes eine Abweichung davon fordert" 70• Diese beiden Voten sind dem Freiburger Vorschlag aufs engste verwandt. Die Erinnerungen der beiden Stände unterscheiden sich von dem Antrag der Juristenfakultät jedoch darin, daß sie die Korrektur primär über die Auslegungsregel der Ratio legis vornehmen, während die Fakultät den unmittelbaren Rückgriff auf das höherrangige Naturrecht empfiehlt. Die Unterscheidung ist aber nur äußerlich und erweist sich letztlich nur als Variation desselben Grundthemas. Die über einen längeren Zeitraum gestreckte Textformung des Österreichischen ABGB ist keine singuläre Erscheinung in der deutschen und europäischen Rechtsgeschichte. Vernunftrecht und Aufklärung haben den Boden für eine radikale Neuordnung der Gesellschaft bereitet, und überall werden nun planungsgläubige Kodifikationsbemühungen unternommen. Unterscheiden sich die Ergebnisse äußerlich bisweilen beträchtlich, so verbindet sie doch der gemeinsame geistige Zuschnitt71 • Gerade in der Frage der Richterfunktion und der 68 69 70
71
Oben (Anm. 23), S. 169. Hervorhebung vom Verfasser. Harrasowsky V, S. 10, Anm. 6. Ebd. Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 322 U.
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damit zusammenhängenden Regulierungsversuche der Rechts- und Gesetzesbefolgung tritt dies deutlich zutage. In der Zusammenschau mit den parallellaufenden Gesetzgebungsanstrengungen der anderen Länder gewinnt die Geschichte der "natürlichen Rechtsgrundsätze" des § 7 ABGB an Tiefenschärfe. Dies gilt um so mehr, als das ABGB die letzte der großen Zivilrechtskodifikationen der vernunftrechtlichen Epoche ist und die Regelungen früherer Stufen in sich aufgenommen oder überwunden hat.
V. Bayern An der Schwelle des Gesetzgebungszeitalters steht der Codex Maximilianeus Bavaricus, das Werk des gelehrten Praktikers Wiguläus Xav. Aloysius Frhr. v. Kreittmayr i1704- 1790)12 • Mit seiner doktrinalen Stoffanordnung entsprach der Codex ungefähr den Vorstellungen des Freiburger Professors J ellenz, die dieser 1792 in seinem Gutachten zum älteren Österreichischen Entwurf äußerte, nämlich "daß das Gesetzbuch mehr didaktisch sein sollte, als es ist, und der Gesetzgeber mit uns mehr als ein belehrender Vater, als ein trockener Prätor sprechen müsse" 73• Der bayerische Zivilkodex enthält in seinem Einleitungskapitel eingehende Rechtsfindungsregeln. Zunächst wird der Gesetzesanwender auf den Wortlaut festgelegt: "Deutliche Gesetze und Ordnungen soll man nicht auszulegen suchen, sondern die Worte bei ihrer gewöhnlichen und landläufigen Bedeutung ohne Verdrehung belassen" (§ 9). Für "dunkle und zweifelhafte" Texte wird auf die Konkretisierung durch die Rechtswissenschaft, den Gebrauch oder den Gesetzgeber hingewiesen. Als problematisch erweist sich die wissenschaftliche Interpretation, der das Gesetzbuch zwei weitere, erläuternde Paragraphen widmet: § 10. Bei der Doctrinal-Auslegung werden 1mo zweifelhafte Worte ex mente et ratione Legis erklärt, 2do wird das Gesetz von einem hierin benannten Special-Fall auf andere unbenannte Fälle aus der nämlichen oder stärkeren Ration sowohl in Strafen als sonst ausgedehnt. hingegen aber 3t1o ein in allzu generalen Terminis lautende Ordnung in besonderen Fällen eingeschränkt, wenn offenbar und augenscheinlich ist, daß Ratio Legis vollkommen und gänzlich hierin cessiert. Alle übrige bei denen Rechtsgelehrten findige Regeln sind 4to entweder von keinem Nutzen oder unter obigen schon begriffen. § 11. Die natürliche Billigkeit, welche lediglich auf itzt gedachter dritter Auslegungsregel beruhet, soll keiner Obrigkeit zum Vorwande 72 Stintzing/Landsberg, Gescllicllte der Deutscllen Reclltswissenscllaft III, 1898, S. 223 ff.; Wieacker, Privatreclltsgescllicllte, S. 326 ff. Vgl. jetzt aucll Sten Gagner, Die Wissenscllaft des gemeinen Recllts und der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, in: Wissenscllaft u. Kodifikation des Privatrecllts im 19. Jh., hrsg. v. H. Coing u. W. Wilhelm, I, 1974. 73 Pfaff/Hofmann, Excurse I (oben Anm. 30), S. 23. Ähnlicll übrigens aucll Schlosser in seiner Kritik am preußischen Entwurf: "So würde mein erster Titel des Gesetzbuclles aussehen, bloß doctrinal und nicllt legislatoriscll", Briefe über die Gesetzgebung (unten Anm. 94), S. 253. 3 Schott
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V. Bayern dienen, um von dem trocknen klaren Buchstaben des Gesetzes abzuweichen, wenn die angebliche Ratio Legis selbst noch im Zweifel oder ungewiß ist.
Der bayerische Codex läßt also das Erkenntnismittel der Ratio legis mit extensiver und restriktiver Kraft zu. Tiefere Einsicht in den Geist dieses Textes vermittelt das Kommentarwerk Kreittmayrs, die "Anmerkungen über den Codicem" 74• Dabei erweist sich der bayerische Kompilator als gelehriger Anhänger der älteren Naturrechtslehrer, der aber gleichzeitig im Strom wissenschaftlicher Kontroversen festen Boden zu gewinnen sucht. Die doktrinale oder logische Auslegung unterteilt er nach dem Vorbild von Thomasius in die interpretatio declarativa, extensiva und restrictiva75• Die deklarative Auslegung sieht im Gegensatz zur grammatikalisch-lexikalischen nicht primär auf den Begriffsinhalt, sondern erklärt den Gesetzestext "ex mente et ratione legis". Der Sinn einer Regelung ist aber aus der besonderen Verfassung des Staates, der Einstellung des Gesetzgebers, dem Volksgeist und der Rechtsgeschichte zu entnehmen. Reicht dies alles jedoch nicht aus, "so kommt man auf die Principia communia, welche ultimato in Jure Naturae bestehen". Auch hier findet sich also der Rekurs auf die "allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätze", die von Kreittmayr noch ganz im Sinne des älteren Vernunftrechts als festes Normengefüge und mit dem Hinweis auf das ius gentium in D. 1, 1, 1, 476 als Menschheitsrecht empfunden werden. Dem wie auch immer ermittelten Gesetzeszweck hat sich das Textverständnis unterzuordnen. Dabei wird eine Normdehnung, selbst im Strafrecht, als weniger problematisch empfunden als die Normrestriktion. Freilich ist dies leicht verständlich, bedeutet doch die engere Sinngebung zunächst einmal eine Nichtanwendung des Gesetzes und damit eine möglicherweise unerwünschte Gehorsamsverweigerung. Deshalb verlangt schon die Formulierung des Codex, daß der Gesetzeswortlaut evident gegen die Ratio legis verstoßen müsse, wenn der Richter von dessen Anwendung absehen will. Damit ist die Thematik erreicht, die auch das Freiburger Votum zu den "natürlichen Rechtsgrundsätzen" des Österreichischen Entwurfs anspricht. Hier wie dort gleichen sich die Formulierungen durch die Betonung des Ausnahmecharakters und durch das 74 Siehe oben Anm. 55. Ergänzend dazu Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Juris Bavarici Judiciarii I, 1778, S. 116 ff., zu 2. Kap. § 2. 75 Anmerkungen, S. 28. Bei dem zitierten Werk handelt es sich um die deutsch verfaßte "Vernunftlehre" (1. Teil: Einleitung, 2. Teil: Ausübung) des Christian Thomasius (mehrfach aufgelegt). Neben den größeren Handbüchern des Usus modernus und des Vernunftrechts benutzt Kreittmayr vor allem Christian Heinrich Eckhard, Hermeneutica juris, erstmals 1750. 76 Ius gentium est, quo gentes humanae utuntur; quod a naturali recedere facile intellegere licet, quia illud omnibus animalibus, hoc solis hominibus inter se commune sit.
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Erfordernis der Augenfälligkeit. Kreittmayr sieht ein warnendes historisches Beispiel in den Edikten der römischen Prätoren, die den Zwölf Tafeln nach und nach durch "gekünstelte" Restriktionen die Geltung entzogen hätten77. Der bayerische Gesetzesredaktor hält zur Lösung des Problems noch einen anderen, vordergründig praktischen Vorschlag bereit: D. 1, 3, 21 ff. entnimmt er die Lehre, "man soll auf die Rationern Legis nicht zu sehr nachgrübeln, weil sonst gemeiniglich auch das, was sicher ist, mit umgestoßen wird". Solange jedenfalls die Absicht des Gesetzgebers auch nur zweifelhaft sei, komme eine einschränkende Auslegung nicht in Frage und zwar selbst um den Preis einer zur Erhaltung des Gemeinwohls notwendigen Ungerechtigkeit78• Auch die "natürliche Billigkeit" soll keine unkoutrollierte Einbruchstelle zur Verengung des Normgehalts bilden. Kreittmayr wirft zwar die Frage auf, ob unter der "Billigkeit" die "Gerechtigkeit", das "Recht der Natur" oder das "bloße Gutdünken und arbitrarische Wesen" zu verstehen sei, er beantwortet sie aber nur dahin, daß hier allein die lnterpretatio restrictiva gemeint sei. Die Billigkeit dient ausschließlich als Fallkorrektiv für die Generalität des Gesetzes. Selbst dann komme es noch vor, daß "summum ius oft summa iniuria werde". Dies sei aber als "notwendige Ungerechtigkeit" und um des Gemeinwohles willen hinzunehmen79. Die Gleichungen, die Kreittmayr mit viel Aufwand an traditionellem Argumentationsstoff herstellt, gehen nur bei oberflächlicher Betrachtung auf und vermögen nur einer ohnehin schon bestehenden Harmonie zwischen Gesetzesbindung und Richterfreiheit zu genügen. Kreittmayr ist ganz der akkomodierte Jurist des Absolutismus, in dessen Vorstellungswelt die Ratio legis, selbst im Rückgriff auf die principia communia des Naturrechts, mit der Ratio principis niemals divergiert. Dem Naturrecht kommt keine radikale Qualität zu. Es gibt hier, von einer schmalen Unsicherheitszone abgesehen, kein unrichtiges Recht, sondern nur unrichtige Texte. Eine bewußte Normvernachlässigung durch den Richter kann sich niemals als eigenverantwortliche Rechtsschöpfung darstellen, sondern lediglich wenig originell als letzte Verkündung von Notorietäten.
77 Darüber hinaus schätzt Kreittmayr, hier wieder ganz dem Zeitstil verhaftet, die Interpretationskunst der Römer gering ein: "Die Römer haben überhaupt mit ihrer Philosophie, folglich auch in hermeneutica seu recta arte interpretandi nicht viel brilliert" (S. 32). 7B S. 31 und 33. 711
s. 34.
VI. Preußen Im Gleichlauf und in Interdependenz zur Österreichischen Textgeschichte entwickeln sich die Gesetzesvorhaben in Preußen80• Auch hier gipfelt der legislative Optimismus in einer illusionären Wortlautbindung der Gerichte oder doch wenigstens deren totalen Kontrolle durch Gesetzgebungsinstanzen. Für die erste Phase ist wiederum ein Festhalten an der Bindungsillusion kennzeichnend, im späteren Entwicklungsabschnitt erweisen sich Konzessionen als unumgänglich, und zuletzt folgt, wenn auch mit wenig Kredit bedacht, die Öffnung zur GeneralklauseL Von der Faszination, die von der Kodifikationsidee ausging, und den überspannten Erwartungen, denen man sich hingab, hat Friedrich II. mit eigener Feder Zeugnis gegeben. In seiner 1749 verfaßten "Dissertation sur les raisons d'etablir ou d'abroger les lois" läßt der König im Kodifikationsgedanken ein idealistisch-rationalistisches Regierungsziel aufscheinen81 • Denn "ein vollkommenes Gesetzbuch wäre das Meisterstück des menschlichen Verstandes im Bereich der Regierungskunst" 82• Die Funktion eines solchen Gesetzbuches wäre die einer Mechanik, die durch ihren Ablauf selbsttätig die gesellschaftliche Harmonie herstellt und erhält. "Man müßte darin die Einheit des Planes und so genaue und abgemessene Bestimmungen finden, daß ein nach ihnen regierter Staat einem Uhrwerk gliche, in dem alle Triebfedern nur einen Zweck haben." Diese in feinmechanischen Metaphern zum Ausdruck kommenden Vorstellungen setzen ein Präzisionswerk höchster Vollendung, ein akkurates Ineinandergreifen von Gesetzgebung und Gesetzesanwendung voraus. Das Mittel hierzu ist eine klare Begrifflichkeit: "Die einzelnen Bestimmungen müßten so klar und genau sein, daß jeder Streit um die Auslegung ausgeschlossen wäre . .. Alles wäre vorausgesehen, 80 Zur Kodifikationsgeschichte: Hans Thieme, Die preußische Kodüikation in ZRG Germ. Abt. 57 (1937), S. 355 ff.; ders., "Allgemeines Landrecht" in: HRG; Hermann Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allgem. Landrechts für die preuß. Staaten von 1794, 1958; Conrad Bornhak, Preußische Staatsu. Rechtsgeschichte, 1903, S. 246 ff.; Hattenhauer, Einführung (oben Anm. 21), S. 11 ff.; daselbst auch eine umfassende Bibliographie von Günther Bernert. 81 Vgl. Stintzing!Landsberg III, 1, S. 221. 82 übersetzung in Anlehnung an G. B. Volz, Werke Friedrichs des Großen, 8. Bd., 1913, S. 32. Dieses und die folgenden Zitate auch abgedruckt bei Hattenhauer (oben Anm. 21), S. 12.
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alles in Einklang gebracht, nichts würde zu Unzuträglichkeiten führen." Mochte Friedrich selbst in diesen Sätzen ideale Postulate sehen, hinter denen die Wirklichkeit zurückbleibt, so war damit doch ein Ziel aufgewiesen, das es in Annäherungs- oder Standardwerten zu erreichen galt. Dieses Vorhaben hatte der König bereits in der Cabinetsordre an Samuel Cocceji (1679- 1753)83 von 1746 konkret umrissen und hatte damit dem Bearbeiter die Stichworte für die Textierung gegeben84• Coccejis Project des Corptts Juris Fridericiani von 1749 hat der königlichen Anweisung durch Verbot der Interpretation, beschränkte Analogie und Vorlagepflicht Rechnung getragen. (Pars I, Lib. I, Tit. II): § 7. Wie denn auch keinem Richter freistehen soll, dieses Unser Landrecht, wann es zweifelhaftig zu sein scheinet, zu interpretieren oder argumento legis allerhand Exceptiones, Limitationes und Amplicationes nach Gefallen und öfters ex aequitate cerebrina zu fingieren. Wann aber eadem ratio legis vorhanden, so verstehet sich von selbsten, daß es zu dem Amt eines cordaten Richters gehöret, die Gesetze auf alle Fälle, wo eadem ratio militiert, zu appliciren und zu extendieren, weil es ohnmöglich ist, alle Special-Casus anzuführen und zu decidieren. § 8. Wann aber dieses Unser Landrecht in einem und andern Fall denen Richtern zweifelhaft scheinen und daher einiger Erläuterung bedürfen sollte, so stehet Unsern Gerichten frei, dasjenige was zur nähern Erläuterung gedachten Landrechts oder dessen Supplemente gereichen kann, an das Departement der Justiz-Sachen einzuschicken, da dann dem Befinden nach das Dubium decidiert und dergleichen Decisiones jährlich durch den Druck publiciert werden sollen.
In das Bemühen, das Gesetz als absolute Rechtsquelle zu konsolidieren, gehört dann auch die weitere Bestimmung, welche die Kommentierung und wissenschaftliche Bearbeitung verbietet85• Im übrigen ist die Verwandtschaft der preußischen Rechtsprechungsregeln mit denen des- etwas späteren- Codex Theresianus auffällig86• Allerdings geht Coccejis Entwurf in der Verengung der Richterperspektive nicht ganz soweit wie der Österreichische Textvorschlag, indem das Corpus Juris 83
Stintzing/Landsberg III, 1, S. 215 ff.; A. Erler, Cocceji, in: HRG; Bornhak,
s. 246 ff.
Vgl. Hattenhauer, Einführung, S.ll. ss § 10: "Es soll sich auch niemand unterstehen, einen Commentarium oder Dissertationes über dieses Land-Recht oder einen Teil desselben zu verfertigen, weil dergleichen Commentatores, welchen ratio legum öfters unbekannt ist, zu vielen unnötigen Disputen Gelegenheit zu geben pflegen." Dazu die königl. Cabinetsordre, Vorrede zum "Project", S. 12. 86 Vgl. auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 335. 84
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Fridericiani immerhin eine Lückenfüllung mit Hilfe der Zweckerstreckung zuläßt. Eine Normrestriktion wird im preußischen Entwurf selbst nicht zugelassen, hier bleibt nur der Weg der Vorlage. In der Vorrede geht Cocceji aber auch auf die Lückenproblematik überhaupt ein und verweist auf die aus der Ratio zu erkennenden "GeneralPrincipia"87. Der Rekurs auf die Ratio berechtige den Richter nicht nur zur Normdehnung, es folge daraus auch, "daß wenn die ratio vera et unica legis cessirt, auch die dispositio legis, folglich lex ipsa aufhöre" 88. Den Gedanken der interpretativen Gesetzesvernachlässigung verfolgt Cocceji jedoch nicht weiter, so daß ein Widerspruch zwischen der Vorbemerkung und dem Entwurftext bleibt. Jedoch läßt sich diese Unstimmigkeit damit erklären, daß der Verfasser in seiner Vorrede lediglich die geläufigen hermeneutischen Regeln des Usus modernus referiert, ohne zugleich damit auch den Richter in vollem Umfang ausstatten zu wollen. Diesem sollte vielmehr der Buchstabengehorsam geboten und eine den Wortlaut mißachtende "Limitation" untersagt sein. Die Erkenntnis, daß der Gesetzeswortlaut den Normzweck überschieße, war für den Richter nur "Dubium", das ihn zur Vorlage an höherem Orte berechtigte. Erst hier durfte aber die Restriktionsregel Beachtung finden, allerdings dann auch schon mit gesetzesbessernder Wirkung. Nach dem Tode Coccejis und mit dem Siebenjährigen Krieg gerieten die Gesetzesarbeiten zunächst ins Stocken, so daß das Corpus Juris Fridericiani über das Entwurfsstadium nicht hinausgelangte. Als das Kodifikationsvorhaben 1780 wieder aufgenommen wurde, hatte sich Coccejis wenig originelle Kompilation überlebt. Die jetzt berufenen, an der Aufklärungsphilosophie Christian Wolffs geschulten Redaktoren Carmer, Svarez und Klein griffen nicht mehr auf den veralteten Entwurf zurück, sondern b egannen in ihrem Geist von neuem 89. Läßt sich diese Feststellung für das Vorhaben insgesamt treffen, so zeigt sich dennoch kein Bruch gegenüber früheren Formulierungen zum Verhältnis von Gesetzesbefehl und richterlicher Folgepflicht. Für eine Kontinuität sorgte nämlich gerade hier König Friedrich selbst, indem er die schon 1746 angeschnittene Thematik in der 87 Vorrede S. 13: "Die Vernunft lehret uns, daß, wann bei einer jeden Materie derer Gesetze General-Principia festgesetzt werden, unter sotanen Principiis alle Casus begriffen sind, auf welche die Ratio sotaner Principiorum applicable ist: Es gehöret also hauptsächlich zu dem Amte eines cordaten Richters, in denen specialiter nicht decidierten Fällen zu untersuchen, ob und wie weit dieselbe zu denen Principiis generalibus gehören, das ist, ob eadem ratio legis vorhanden sei." ss Vorrede S. 13. Cocceji spricht hier ein dem gemeinen Recht als "regula vulgata" vertrautes Interpretationsprinzip an. Vgl. dazu Hermann Krause, Cessante causa cessat lex, in: ZRG Kan. Abt. 77 (1960), S. 81 ff. 89 Thieme, ZRG Germ. Abt. 57 (1937), S. 362; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 329.
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Kabinetts-Ordre vom 14. April1780 wieder aufnahm. In dieser Ordre, die den an Carmer ergangenen Auftrag umschrieb, wurde bereits die Einrichtung einer ständigen Gesetzeskommission angekündigt, in deren Aufgabenbereich unter anderem die Rechtssatzinterpretation fallen sollte90 • Über diese Kommission ging das Vertrauen des Königs nicht hinaus: "Dagegen aber werde ich nicht gestatten, daß irgend ein Richter, Collegium oder Etats-Ministre die Gesetze zu interpretieren, auszudehnen oder einzuschränken, viel weniger neue Gesetze zu geben, sich einfallen lasse, sondern es muß, wenn sich in der Folge Zweifel oder Mängel an den Gesetzen oder in der Prozeß-Ordnung finden, der Gesetz-Commission davon Nachricht gegeben, von dieser die Sache mit Rücksicht auf den Sinn und Absicht der übrigen Gesetze, unter Eurem Vorsitz, genau in Erwägung gezogen und wenn eine wirkliche Veränderung oder Zusatz nötig wäre, Mir gutachtlicher Bericht darüber erstattet werden91." Schon 1781 wurde das Erste Buch des Corpus Juris Fridericianum verkündet, das die Prozellordnung enthielt und sich als Zusammenfassung umfangreicher Justizreformen darstellte. Das Zweite Buch sollte dem materiellen Recht gewidmet sein. Die Prozeßordnung, 1783 als nachmalige Allgemeine Gerichtsordnung in revidierter Gestalt neu erlassen, enthält zwar keine Spruchregeln, setzt jedoch die richterliche Wortlautbindung und das Interpretationsmonopol der Gesetzeskommission voraus. Nach I, 13 § 7 hat das Gerichtskollegium über streitige Sachfragen durch Mehrheitsbeschluß zu entscheiden. "Wird aber über eine Rechtsfrage gestritten, welche nach Befinden der Pluralität des Collegii in den vorhandenen Gesetzen gar nicht oder nicht deutlich genug entschieden ist, so muß darüber bei der Gesetz-Commission angefragt und Declaratio legis nachgesucht werden." Untergerichte müssen sich bei einer "zweifelhaften Rechtsfrage" zunächst an ihr Obergericht wenden, das bei Verneinung der Zweifelhaftigkeit dem Untergericht die Norm anweist, bei Bejahung aber den Fall der Gesetzkommission vorlegt (II, 1 § 20). Damit war eine noch schärfere ZügeJung der richterlichen Tätigkeit ausgesprochen, als diese der Entwurf Coccejis beabsichtigt hatte. Die preußische Regelung ging nun ganz mit den Vorstellungen konform, wie sie in Österreich im Codex Theresianus und dessen Nachfolgematerien zum Ausdr uck gekommen waren. Der preußische König durfte sich nahe am Ziel der erstrebten 90 Vgl. Bornhak, S. 260. Die Cabinets-Ordre v. 14.4.1780 ist abgedruckt in der Ausgabe des "Corpus Juris Fridericianum", 1. Buch, 1781, S. III ff. Errichtet wurde die Gesetzkommission durch Ordre v. 29. 5. 1781, abgedruckt in: Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensicum, praecipue Marchicarum, oder: Neue Sammlung Kgl. Preuß. usw. Ordnungen usw., VII, 1, Nr. 26. 91 Cabinets-Ordre (Anm. 90), S. XIII.
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"Simplification" glauben, durch welche die Rechtsgelehrten "um ihren ganzen Subtilitäten-Kram gebracht" wurden92 • Das in der Prozeßordnung vorgestellte Richterbild wurde in dem 1784 der Öffentlichkeit unterbreiteten Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußi.schen Staaten93 nochmals mit aller Deutlichkeit und in prägnanter Kürze nachgezeichnet. Der herkömmlichen Einordnung gemäß sind die Spruchregeln in die Einleitung des Gesetzbuchs aufgenommen: § 34. Der Richter darf bei Entscheidung streitiger Fälle den Gesetzen keinen Sinn beilegen, der nicht durch die Worte, den Zusammenhang und den Gegenstand des Gesetzes deutlich bestimmt ist. § 35. Findet der Richter den Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muß er vor Abfassung des Urteils die Erklärung der Gesetzcommission einholen. § 36 bestimmt schließlich, daß die authentische Erklärung der Kommission allgemeinverbindlich sei. Mit dieser Verengung der Richterfunktion war allerdings dann das Äußerste dessen erreicht, was sich als Subordination der judikativen unter die legislative Gewalt denken ließ. Daß sich hieran die Kritik entzündete und die Rückführung auf ein normales Maß verlangt wurde, ist nicht verwunderlich. Hier hat daher der Entwurf eine gründliche Umarbeitung erfahren. Den nachhaltigsten Einfluß auf den Sinneswandel der Redaktoren dürfte die Stellungnahme des badischen Amtmanns Johann Georg Schlosser (1739- 1799)94 ausgeübt haben95• Schlosser bedachte die Buchstabenbindung des Entwurfs mit rückhaltlosem Spott und sah in den Interpretationsregeln einen Rückschritt gegenüber der klassischen Überlieferung: "Wann unsre Rechtslehrer noch vor unsrer Zeit der Aufklärung vor den Leguleien wie vor Kröten und Spinnen ausspiehen, siehe da, so wird diese Race nun nicht allein von den Gesetzen selbst authorisiert, sondern es wird sogar alle andere Art der Praxis als die Praxis der Leguleien verbotten96." Es sei schon verwunderlich, daß man 92 So in der Cabinets-Ordre v. 14. 4. 1780, S. XII. ss Vgl. dazu Hattenhauer, Einführung (oben Anm. 21), S. 21; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 330. 94 Briefe über die Gesetzgebung überhaupt und den Entwurf des preußischen Gesetzbuches insbesondere, Frankfurt 1789; Fünfter Brief über den Entwurf des Preußischen Gesetzbuchs insbes. über dessen Apologie in den Annalen der preuß. Gesetzgebung, 1790. (Beide Werke in Neudruck 1970.) Zuvor war Schlosser schon hervorgetreten durch seine Schrift: Vorschlag und Versuch einer Verbesserung des deutschen bürgerlichen Rechts ohne Abschaffung des röm. Gesetzbuches, Leipzig 1777 (Neudruck 1973). 95 So auch Thieme (oben Anm. 80), S. 397. es Schlosser, Briefe, S. 199.
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zur gleichen Zeit, in der man die wortgetreuen Bibelgläubigen für Erzdummköpfe halte, zugleich "auch die für Erzdummköpfe halten will, welche nicht an dem Wort des Codex hangen"t7. Der Richter habe den generalisierenden Rechtssatz zu individualisieren, was bei vier Fallgruppen problematisch werden könne: 1. wenn sich kein einschlägiges Gesetz finden läßt, 2. wenn sich die Gesetze widersprechen, 3. wenn das Gesetz einen Fall nur teilweise erfaßt, 4. wenn die Rechtsfolgen trotz engerer Voraussetzungen auch auf verwandte Sachverhalte passen. In allen diesen Fällen bedürfe es aber der "logischen Interpretation", wenn dem Richter nicht alles unerklärbar bleiben solle, wenn nicht unzählige Antinomien unaufgelöst bleiben sollen, kurz "wann der Richter nicht auf den Grund des Gesetzes sehen darf" 98 • Von einer jeweiligen Anfrage bei der Gesetzeskommission hält Schlosser überhaupt nichts: "Sehen Sie da nicht nach vielleicht 50 Jahren wieder neue Pandekten und einen neuen Codex entstehen, deren Dunkelheit und Widersprüche gerade daher entstanden sind, weil man aus Entscheidungen bestimmter Fälle Gesetze machte99 !" Welche Garantien gebe es, daß die Richter des vielen Fragens müde nicht selbst bloß nach dem Wortlaut entscheiden wollten oder gar ihre Parteilichkeit hinter der Buchstabentreue verbergen würden. Denn die Schikane sei "gewöhnlich eine Geburt der Wortklauberei der Gesetze" 100• Der Verfasser hält nicht mit dem Vorwurf zurück, daß der preußische Staat seit Friedrich II. die Entmündigung des Bürgers betreibe und daß die Obrigkeit sich allein im Besitz des Verstandes glaube. "Der Bube, dem man immer vorsagt, er wäre ein Dummkopf, wird endlich einer, die Natur mag für ihn getan haben, was sie will101 ." Schlossers Aus97 Ebd., S. 200. Die Polemik richtet sich vor allem gegen Beccaria; vgl. unten bei Anm. 269. 118 Ebd. S. 206. 99 Ebd. S. 208. Gleichzeitig wird Beccarias Optimismus verworfen: "Beccaria hat auch diese schöne Ausflucht ergriffen und glaubt, wenn der Richter in peinlichen Sachen sich an die Worte des Gesetzes halten müsse, so werde der Staat dadurch veranlaßt, seine Gesetze immer näher zu bestimmen, folglich sie endlich so klar zu machen wie der Tag. Welche eitle Hoffnung! Nur mehrere Gesetze wird er machen müssen und selbst ihre Menge wird ihre Dunkelheit vermehren." 1oo Ebd. S. 209. 1o1 Ebd. S. 210. Schlosser kritisiert die Wortlautbindung des Richters als grundsätzlichen Mangel in der Staatsführung: "Wie niederschlagend muß es für einen ·Richter, wie drückend für alle Staatsdiener sein, wenn sie sehen, daß die Gesetzgebung und die Regierung so gar kein Vertrauen auf sie setzt, und daß, wie Achill klagt, die Atriden allein Verstand und Menschensinn zu haben glauben. Schon hat der unsterbliche Friedrich in seinen Werken dem Bürgerstand alles Gefühl für Ehre so weit abgesprochen, daß Er ihm nicht einmal ein Portepee mehr anzuvertrauen wagen wollte. Soll auch nun das Gesetz, selbst das Gesetz diesem Stand auch noch den Verstand absprechen, und ihm mit dem Richterstab nicht einmal etwas mehr anvertrauen wollen als das bloße Wort des Gesetzes?" Versöhnlicher dagegen
s. 331 ff.
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führungen sind ein engagiertes Plädoyer für eine Rückkehr zur praktischen Vernunft. Zwar erschöpfen die von ihm gebildeten Fallgruppen keineswegs die Problematik der richterlichen Rechtsfindung, und auch die Einsichtigkeit der Lösungen seiner Beispiele rührt aus einem bereits an den Fall herangetragenen Vorverständnis. Blieb seine Argumentation auch ganz im Rahmen des Bekannten, so war doch zur rechten Zeit ein rechtes Wort gesprochen und der Weg aus der Sackgasse herausgewiesen. Die Darlegungen enden hier mit der Empfehlung: "Mich dünkt also nach allem diesem, das Gesetz täte wohl, wann es neben dem Wort, Zusammenhang und Gegenstand auch den Richter auf den nächsten Grund des Gesetzes sehen ließ102 ." Schlosser konkretisiert an anderer Stelle nochmals seine Vorstellungen über den Einleitungstitel eines bürgerlichen Gesetzbuchs und gibt darin dem Richter die Befugnis zur "logischen und grammatikalischen Erklärung" des Gesetzes103• Da aber auch das Gesetz keine erschöpfende Erkenntnisquelle darstelle. verweist er darüber hinaus auf "die alten, entweder notorisch allgemeinen oder durch Rechtssprüche gebilligten Gewohnheiten" als subsidiäre Rechtsquelle. "Endlich würde ich die natürliche Billigkeit und das Recht der Vernunft. da wo das geschriebene Gesetz schweigt, als das letzte vollständigste Supplement anerkennen." Schlossers Anregungen zur Gesetzesauslegung - nicht zur subsidiären Rechtsquelle des Naturrechts - haben auf die Neufassung des preußischen Entwurfs nachhaltig eingewirkt und sind zum Teil wörtlich in den Gesetzestext aufgenommen worden. Die Gedanken des badischen Hofrats waren auch der Wiener Gesetzeskommission nicht nur bekannt, sondern haben vielfache Beachtung gefunden, wie Zeillers Eröffnungsvortrag zeigt104• Die "natürlichen Rechtsgrundsätze" fanden hier in Schlossers Vorschlägen nur eine Bestätigung. Das Ergebnis der Neuredaktion lag 1791 mit dem Allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen Staaten vor, das am 1. Juni 1792 in Kraft treten sollte. Die Interpretationsregeln sind nach der Umarbeitung umfänglicher geworden. Ihr Wortlaut wurde unverändert in die Einleitung des am 1. Juni 1974 in Kraft getretenen Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten übernommen105: § 46 (§50) : Bei Entscheidungen streitiger Rechtsfälle darf der Richter den Gesetzen keinen andern Sinn beilegen, als welcher aus den Worten und dem Zusammenhange derselben in Beziehung auf den 102
Ebd. S. 211.
1os Ebd. S. 254 f.
Ofner, Ur-Entwurf I, S. 7. Die Zählung folgt derjenigen des ALR; die in Klammer gesetzten Paragraphen sind die des AGB. Über die Entwicklung vom AGB zum ALR vgl. Hattenhauer, Einführung (oben Anm. 21), S. 22 ff. 104 105
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streitigen Gegenstand oder aus dem nächsten unzweifelhaften Grunde des Gesetzes deutlich erhellet. § 47 (§51): Findet der Richter den eigentlichen Sinn des Gesetzes zweifelhaft. so muß er, ohne die prozeßführenden Parteien zu benennen, seine Zweifel der Gesetzcommission anzeigen und auf deren Beurteilung antragen. § 48 (§52) : Der anfragende Richter ist zwar schuldig, den Beschluß der Gesetzcommission bei seinem folgenden Erkenntnis in dieser Sache zum Grunde zu legen, den Parteien bleiben aber die gewöhnlichen Rechtsmittel dagegen unbenommen. § 49 (§53): Findet der Richter kein Gesetz, welches zur Entscheidung des streitigen Falles dienen könnte, so muß er zwar nach den in dem Gesetzbuche106 angenommenen allgemeinen Grundsätzen und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandnen Verordnungen seiner besten Einsicht gemäß erkennen. §50 (§54): Er muß aber zugleich diesen vermeintlichen Mangel der Gesetze dem Chef der Justiz sofort anzeigen. Hatten diese Spruchanleitungen die kritische Zwischenphase der Suspension zwar unbeschadet überstanden, so war doch im Publikationspatent vom 5. Februar 1794 gegenüber dem im übrigen fast wortgleichen von 1791 eine bemerkenswerte Verschärfung der Richterbindung eingetreten. Neu war das Verbot, auf "Grund eines vermeinten philosophischen Raisonnements oder unter dem Vorwande einer aus dem Zwecke und der Absicht des Gesetzes abzuleitenden Auslegung, die geringste eigenmächtige Abweichung, bei Vermeidung Unserer höchsten Ungnade und schwerer Ahndung, sich zu erlauben" 107 . Die Regelung des ALR lehnt sich weitgehend an Schlossers Vorstellungen an. Sie unterscheidet zunächst einmal, ob der Richter ein zur Fallbehandlung geeignetes Gesetz findet oder nicht. Erachtet der Richter eine Norm als einschlägig, so kommt es auf die Evidenz des Begründungszusammenhangs an, ob er sich eine eigene Entscheidung zutrauen darf. Bietet sich aber eine Beurteilung nicht ohne weiteres an, so ist die Vorlage an die Kommission geboten. Sieht sich das Gericht einer echten Regelungslücke gegenüber, darf und muß das Gericht selbst entscheiden und hat die gefundene Lücke nur anzuzeigen. Als Auskunftsmittel werden die "allgemeinen Grundsätze" des Gesetzbuchs selbst an die Hand gegeben. Daß damit nicht etwa die "natürlichen Rechtsgrundsätze" im Sinne von Martini oder Schlosser gemeint sind, 106 Hier zeigt sich die wörtliche übernahme aus dem AGB: Bei der Neuredaktion wurde die Anpassung der Terminologie vergessen. 107 Publikationspatent XVIII, Allg. Landrecht für die Preuß. Staaten, hrsg. u. kommentiert von C. F. Koch, 1. Bd., 8. Aufl., 1884, S. 19.
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haben die Redaktoren im Briefwechsel mit ihrem Gegner, dem schlesischen Justizminister von Danekelmann selbst klargestellt108. Das Naturrecht als Rechtsquelle würde nach Carmer und Svarez wieder einem richterlichen Subjektivismus Eingang verschaffen. Die Ergänzung soll daher mit Hilfe der Analogie und der gesetzlichen Gesamtkonzeption vorgenommen werden, wobei Umfang des Gesetzes und Dichte der Normen die gedanklichen Operationen erleichtern können. Letztlich müsse eben bei divergierender Rechtsprechung der Gesetzgeber einschreiten109. Der Fall, daß der Richter auch aus dem geltenden positiven Recht selbst keinen Rechtssatz herzuleiten vermag, ist also im preußischen Gesetzbuch im Gegensatz zum Österreichischen ABGB bzw. westgalizischen Gesetzbuch nicht geregelt. Zwar geben sich die preußischen Kompilatoren nicht, wie oft vorgeworfen, einer Vollständigkeitsillusion hin, mit ihrem Gesetzesoptimismus kommen sie dem aber sehr nahe110. Das Vorlagegebot der §§ 47, 48 ALR erwies sich schon bald als wenig geglückt, so daß es schon 1798 durch Kabinettsordre abgeschafft und durch folgende Regelung ersetzt wurde: Findet der Richter den Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so liegt es ihm zwar ob, den vorliegenden Fall nach den allgemeinen Regeln wegen Auslegung der Gesetze zu entscheiden, und findet die Anfrage an die Gesetzcommission während des Laufes des 1>rozesses nicht mehr statt; er muß aber die vermeinte Dunkelheit des Gesetzes dem Chef der Justiz zum Behuf der künftigen Legislation anzeigen111 • Mit dieser Novelle war zwar der Richter wieder in seine - wenn auch beschränkt verstandene - Gestaltungsfunktion eingesetzt, das Gefüge der Rechtsprechungsanleitungen war damit jedoch zerbrochen. Mit dem resignierenden Hinweis auf die allgemeinen Auslegungsregeln wurde viel gedanklicher Aufwand zu den Akten gelegt. Nicht 1os Schreiben des Großkanzlers v. Carmer - wohl von Svarez entworfenvom 8. Nov. 1793: "Hiernächst ist es für die Sicherheit des Eigentums und für die bürgerliche Freiheit allzu gefährlich, bei der Herleitung aus den Begriffen auf die individuellen Fähigkeiten, Einsichten und VorstellungsArten der richterlichen Personen allzu viel ankommen zu lassen. Diese sind bekanntermaßen unendlich verschieden, und man sagt mit Recht, daß jeder Mensch, d. h. auch jeder Richter seine eigene Logik habe. Eine uneingeschränkte Verweisung auf das Ius naturale würde folglich auf die größte Ungewißheit der Rechte und auf schwankende Willkür in den Entscheidungen führen." Abgedruckt im Anhang bei Thieme (oben Anm. 80), S. 420. 109 Aus dem gleichen Schreiben wie Anm. 108: "Je mehrere dergleichen Fälle im Gesetz bestimmt sind, desto zuverlässiger wird die Analogie, welche dem Richter in den unbestimmt gebliebenen Fällen zum Leitfaden dienen muß." Ebd. S. 421. 110 Vgl. Thieme, S. 396. 111 Koch I (oben Anm. 107), S. 57 als Anhang zu §§ 47, 48 ALR.
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zuletzt hat damit das immer wieder vorangestellte Ideal eines "ius certum" 112 an Anziehungskraft verloren. Die Wahrung der Rechtssicherheit und Rechtseinheit verlagerte sich künftig auf die Rechtsprechung des Obertribunals113 •
112 Gerade in Preußen stand die Leitidee des "ius certum" während der ganzen Kodüikationsgeschichte betont im Vordergrund. Die Idee hat nicht zuletzt deswegen so zentrale Bedeutung erlangt, weil sich darin verschiedene Zeitströmungen manifestierten. Vgl. Thieme, S. 395. m Dazu Koch I, S. 55, Anm. 85.
VII. Hannover Die aufwendigen Kodifikationsanläufe in Preußen und Österreich sowie der Vorausgang Bayerns fanden in den übrigen deutschen Territorien aufmerksame Beachtung und gaben Anstoß und Anregung zu eigenen Kompilationsversuchen, sei es auf öffentliche Initiative, sei es aus privater Feder. Beachtung verdienen zwei in sich abgeschlossene Privatentwürfe aus Hannover und zwar weniger wegen ihrer Originalität oder Genialität, sondern deswegen, weil die etwa gleichzeitig zustande gekommenen Textformulierungen das Problem der richterlichen Textbindung ungleich angehen. Räumlich und zeitlich zusammengerückt demonstrieren die beiden Gesetzesvorschläge den verschiedenen Meinungsstand der Fachwelt. Beide Arbeiten sind Entwürfe geblieben und haben das legislative Placet nicht erreicht114• In dem um 1772 von Friedrich Esajas Pufendorf (1707 - 1785)115 verfaßten Codex Georgianus116 nimmt die "Billigkeit" bei der Gesetzesanwendung eine hervorragende Stellung ein und erinnert insoweit an den bayerischen Codex Maximilianeus. Das Bemühen des Putendorfsehen Entwurfs, die Billigkeit zu objektivieren und vom Subjektivismus sichtbar abzuheben, dürfte die Mentalität des gelehrten höheren Richters treffend wiedergeben. Der Verfasser war Vicepräsident des Oberappellationsgerichts Celle und vereinte Gesetzesgehorsam und richterliche Gestaltung im Staatszweck der Gemeinwohlverwirklichung. Dabei wird die absolute Rechtssetzungsbefugnis des Landesfürsten unangetastet gelassen, und nur er kann etwa von Gesetzen dispensieren (Tit. 1, § 35). Somit versteht es sich, daß auch in Pufendorfs Entwurfs die "Billigkeit" ausschließlich als hermeneutisches Problem in Erscheinung tritt: 114 Eine übernahme durch den Gesetzgeber lag durchaus in der Absicht der Verfasser. Pufendorfs Arbeit ist schon im Titel als Auftragsarbeit des Ministers v. Behr ausgewiesen, und auch Claproth läßt in den Vorreden den Leser nicht im Unklaren über den Zweck und - in den Fortsetzungen über das entsprechende Echo seines Entwurfs. 115 Über ihn Stintzing!Lan,dsberg III, 1, S . 261 ff.; Noten S.175 ff. us Friedrich Esajas Putendorfs Entwurf eines hannoverschen Landrechts (vom Jahre 1772), hrsg. v. Wilhelm Ebel, 1970 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 78). Vgl. ferner Ebel, Fr. Es. Pufendorfs Entwurf eines hann. Landrechts, in: 250 Jahre Oberlandesgericht Celle 1711-1961, 1961, S. 63 ff.; ders., Über Legaldefinitionen, 1974, S. 151 ff.
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Tit. 1, § 43: Keine Erklärung der Gesetze kann bestehen, welche mit der Billigkeit streitet. § 44: Es ist aber nur das für billig anzusehen, was gemeinnützig ist, und die Beurteilung der Billigkeit muß von keinem bloßen Mitleiden regieret werden, wenn nicht solche Schwachheiten vorfallen, welche auch einem jeden andern ohne einige desselben Schuld begegnen können117• Die Billigkeit dient als höhere Interpretationsorientierung und ordnet sich damit in die Ratio-legis-Argumentation ein. Keineswegs wird Billigkeit aber als übergeordnete Norm ausgewiesen, da eine gegen das Gemeinwohl verstoßende Rechtssetzung dem Kurfürsten von Hannover und König von England nicht angesonnen wird. Dies ist allerdings um so verständlicher, als der Entwurf bereits im imperativen Stil des Monarchen formuliert ist. Bemerkenswert bleibt, daß schließlich eine individuelle Fallbehandlung doch noch in das Konzept aufgenommen und so dem Richter bewußt ein Freiraum belassen wird. Damit findet aber eher eine konservative Grundeinstellung ihren Ausdruck, wie überhaupt der gesamte Landrechtsentwurf eher den frühneuzeitlichen Land- und Stadtrechtsreformationen als dem vernunftrechtlichen Gesetzgebungsstil verhaftet ist. Nicht fehlen an Modernität läßt es dagegen der "Ohnmasgebliche Entwurf eines Gesetzbuches", der 1773 von dem Göttinger Rechtslehrer Justus Claproth (1728- 1805) veröffentlicht wurde118• Die frühen preußischen Reformstadien haben deutlich ihre Spuren hinterlassen, was kaum verwundert bei Claproths Verehrung des "verewigten Friedrich, in welchem die äußersten Kräfte des menschlichen Verstandes vereinigt sind" 119 • Der richterliche Bindungsrigorismus, begleitet von einem Ausschließlichkeitsanspruch des Gesetzes, ist hier in letzter Konsequenz durchgeführt. Die Frage, "wie weit die Auslegung denen Richtern zu gestatten", ist ausdrücklich geregelt (1, 1 § 19): Insoferne nicht von einer in Unsern Gesetzen enthaltenen Verordnung über einen namhaft gemachten Fall auf einen andern nicht Entwurf (Ausgabe Ebel), S. 28. us über Claproth vgl. Stintzing/Landsberg III, 1, S. 407 (Text), 265 (Noten). Gerade der "Entwurf" hat hier allerdings eine unzureichende Würdigung erfahren; vgl. Ebel, Legaldefinitionen, S. 165. Claproths "Ohnmaßgeblicher Entwurf eines Gesetzbuches" erschien in drei Bänden: 1. Band, 1773: Civil-Proceß-Ordnung Civil-Recht: 1. Buch, Von Gesetzen überhaupt 2. Buch, Von Rechten derer Personen Dorfrecht 2. Band, 1774: Criminal-Recht (u. a.: "Von Criminalgesetzen und deren Auslegungen") 3. Band, 1776,: Civil-Recht: 3. Buch, Vom Recht der Sachen. 119 I Vorrede, 1. Seite. 117
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VII. Hannover ausgedruckten Fall eine ganz unmittelbare richterliche Folge gezogen werden kann, verbieten Wir alle interpretationem doctrinalem, sowohl die restrictivam als extensivam, und gewärtigen vielmehr von Unsern Beamten Bericht um authentische Interpretation.
Analogie ist also nur zugelassen für offen zutage liegende Gleichungen. Darüber hinaus ist dem Richter jede weitergehende Interpretation im Rahmen der herkömmlichen Methodenlehre untersagt. In allen Fällen, "worüber in diesem Gesetzbuch keine ausdrückliche Verordnung enthalten oder welche durch eine richtige ungezwungene Folge aus einer anderen Verordnung nicht entschieden werden könnten", ist die Einholung einer authentischen Interpretation oder Entscheidung bei Hofe geboten (I, 1 § 17). Jede schriftliche Kommentierung und wissenschaftliche Rechtsfortbildung wird untersagt, die Rechtslehre bleibt auf eine Gesetzespädagogik beschränkt12o. Die geistige Urheberschaft dieses Konzepts läßt sich unschwer in der preußischen Cabinetsordre von 1746 und dem Entwurf Coccejis von 1749 erkennen. Auch die Formulierungen der beiden Entwürfe weisen Ähnlichkeiten auf, wenngleich Claproths Text weniger schwerfällig ist als die entsprechenden Bestimmungen in Coccejis "Project".
lto I, 1 § 18: "Gleichwie alle Zweifel, welche über Unsere Gesetze entstehen, nicht weniger alle Fälle, worüber noch keine Entscheidung vorhanden ist, an Uns gebracht werden sollen, so verbieten wir alle schriftliche Auslegung Unserer Gesetze. Die Rechtslehrer auf denen hohen Schulen sollen Unser Gesetzbuch selbst zum Grunde legen, die Güte oder Mängel Unserer Gesetze auf das kürzeste, wo es nötig ist, ausführen, und die jungen Leute, wenn sie von dem Sinne der Gesetze und dessen Güte oder Mangel unterrichtet sind, gleich bei jeder Materie zu denen hierzu gehörigen Ausarbeitungen anhalten und ihnen mit nötigen Mustern an die Hand gehen." In § 4 wird Richtern und Advokaten bei Strafe das Zitieren gelehrter Werke verboten, u. zwar nicht nur der bestehenden, sondern auch solcher Autoren, "welche nach diesem Gesetzbuche ... zu schreiben sich unterfangen mögten".
VIII. Frankreich Das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssetzung und Rechtsprechung ist auch in der französischen Kodifikationsgeschichte Gegenstand grundsätzlicher Erörterungen geworden. Binnen kaum mehr als einem Jahrzehnt wurden hier die gegensätzlichsten Standpunkte in der Gesetzgebung durchgespielt1 21 • Im gedrängten Zeitraum vom Revolutionsjahr bis zur Annahme des Code civil zeigt sich äußerlich wie bei den großen deutschen Kodifikationen die gleiche Entwicklung vom Bindungsrigorismus bis zur maßvoll konzedierten richterlichen Eigenverantwortlichkeit. Den historischen Erfahrungshintergrund geben dafür allerdings die besonderen Rechtszustände unter dem Ancien Regime ab122• Die Rechtsprechung wurde von einer vielfältig historisch gewachsenen Gerichtsbarkeit wahrgenommen, an deren Spitze das Parlament von Paris, die Provinzparlamente und der König standen. Das Verhältnis zwischen den "parlements" und dem König ist bis zum Ende der alten Monarchie durch ein merkwürdiges Ineinandergreifen und eine ungeklärte Konfliktsituation gekennzeichnet123• Das Parlament von Paris, dem später die gleichnamigen Institutionen in den Provinzen nachgebildet wurden, hatte sich schon im Mittelalter weitgehend vom König emanzipiert und hatte auf sich Kompetenzen vereinigt, die später selbst das absolutistische Königtum nicht mehr vindizieren 1Z1 Philippe Sagnac, La legislation civile dans la revolution fran!;aise 1789- 1804, Paris 1898; J. van Kan, Les efforts de codification en France, Paris 1929; ders. in: Tijdschr. voor Rechtsgesch. 1 (1918/19), S. 191 ff., 359 ff.; 2 (1920/21), S. 149 ff., 359 ff.; 3 (1922), S. 215 ff., 423 f.; 5 (1924), S. 76 ff.; Joseph Declareuil, Histoire general du Droit fran!;ais, Paris 1925; Wieacker, Privafrechtsgeschichte, S. 340 ff.; W. Leiser, "Code Civil", in: HRG; Stobbe II, S. 481 ff. Die Materialien: Recueil complet des travaux preparatoires du Code civil, hrsg. v. P. A. Fenet, 15 Bde., 1827, Neudruck Osnabrück 1968; Corps du Droit fran!;ais ou recueil complet des lois etc. publies depuis 1789 jusqu'a nos jours, hrsg. v. C.-M. Galisset, 1833 ff. 122 Dazu F. Olivier-Martin, Histoire du Droit fran!;ais des origines a la revolution, 2. Aufl., 1951; Paul Viollet, Histoire du Droit civil fran!;ais, 3. Aufl., 1905; ders., Histoire des institutions politiques et administratives de la France, 3. Bd., 1903 (Nachdruck Aalen 1966); J. van Kan, Les efforts, und die Beiträge in Tijdschr.; L. A. Warnkönig, Französische Staatsgeschichte I, 1846; Robert Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, 1910; Walter Wilhelm, Die Gesetzgebung und Kodifikation in Frankreich im 17. und 18. Jh., in: Ius Commune 1 (1967), S. 241 ff. 123 Olivier-Martin, S. 512 ff.; Viollet, Institutions III, S. 295 ff.; Holtzmann, s. 217 ff., 250 ff., 335 ff.
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konnte. Neben der streitentscheidenden Funktion hatten die "parlements" das Recht, "arrets de reglement" auszusprechenu4 • Dabei handelte es sich um allgemeinverbindliche Rechtssetzungsakte in Urteilsform, die ihren geschichtlichen Ursprung in administrativen Aufgaben hatten. Außer mit dieser Verordnungstätigkeit konnten die Parlamente auch durch das "droit d'enregistrement" auf die königliche Gesetzgebung einwirken. Mit diesem Recht der Protokollierung und Registrierung von Erlassen, entstanden wohl aus einer Registraturkontrolle, lag die Promulgation in ihrer Hand. Damit im Zusammenhang stand ferner das "droit de remontrances", die Befugnis, gegen königliche Erlasse Einwände vorzubringen125 • Seit dem 17. Jahrhundert behaupten sich die Parlamente schließlich noch als die Hüter der Verfassung und beaufsichtigen das Thronfolgeverfahren126• Trotz dieser weitreichenden Kompetenzen versteht sich der König als oberster Richter und Gesetzgeber. Er macht von seinem unbestrittenen Evokationsrecht Gebrauch und greift durch Macht- und Billigkeitssprüche mit Hilfe der sogenannten "lettres patentes" und "lettres de cachet" unmittelbar in das Verfahren ein127• Die Zuständigkeitsüberlagerungen zwischen König und Gerichtsbarkeit komplizieren sich nochmals dadurch, daß die Gerichte ihrerseits wiederum das Recht haben, das Urteil dem König zuzuschieben. Das institutionell unausgewogene Verhältnis zwischen König und Parlament führte immer wieder zu Konflikten128, zumal sich die "noblesse de robe" den absolutistischen Reformplänen nachdrücklich widersetzte. In diesem Tauziehen um die Behauptung und Erweiterung der einmal gewordenen Machtkonstellation ist der Erste Titel "De l'observation des Ordonnances" der berühmten Ordonnance civiP29 von 1667 zu sehen. Dieser Titel des Verfahrensgesetzes Ludwigs XIV. verdient hier um so mehr Beachtung, als er später den Teilnehmern der Beratungen zum Code civil noch lebhaft in Erinnerung ist und mit den Rechtsfindungsregeln der Entwürfe in Beziehung gebracht wird130• Gegenstand dieses Titels ist die Befolgung der königlichen Gesetze durch Gerichte und Behörden sowie die Regulierung des "enregistreOlivier-Martin, S . 598; Holtzmann, S. 218. Olivier-Martin, S. 541 ff.; Holtzmann, S . 218. Holtzmann, S. 348. Olivier-Martin, a.a.O.; Holtzmann, S. 364. Vgl. dazu Olivier-Martin, S. 547 ff.; Holtzmann, S. 346 ff. V an Kan, Les efforts (oben Anm. 121), S. 84; Olivier-Martin, S. 274 ff.; Wilhelm (oben Anm. 122), S. 243 ff. 130 Vgl. den Kommissionsbericht v. 3. Dez. 1801 (Tribunat): "Les articles ..., 124 125 126 127 128 129
relatifs aux devoirs des juges, a la maniere dont ils doivent appliquer ou meme suppleer les lois rappellent le premier titre de l'ordonnance de 1667 ,de l'observation des ordonnances'; et ce souvenir nous avertit qu'ils appartiennent au Code judiciaire, non pas au Code civil." Fenet (oben Anm. 121) VI, S. 55 f.
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ment" und der "remontrance". Das Gehorsamsgebot ist in zwei Bestimmungen näher ausgeführt. Art. 6: Voulons que toutes Nos ordonnances, edits, declarations et lettres patentes soient observees tant aux judgement des proces qu'autrement, sans y contrevenir; ni que sous pretexte d'equite, bien public, acceleration de la justice, ou de ce que nos cours auraient a Nous representer, elles ni les autres juges s'en puissent dispenser, ou en moderer les dispositions, en quelque cas et pour quelque cause que ce soit. Art. 7: Si dans les jugements des proces qui seront pendant en Nos cours de parlement et autres nos cours, il survient aucun doute ou difficulte sur l'execution de quelques articles de nos ordonnances, edits, declarations et lettres patentes, Nous leur defendons de les interpreter; mais voulons qu'en ce cas elles aient a se retirer par devers Nous pour apprendre ce qui sera de notre intention. Die Affinität dieser Regelung zum Textgut Justinians, aber auch zu den späteren Bindungsvorstellungen ist unverkennbar. Eine andere Frage ist, ob mit diesen Artikeln der Ordonnance von 1667 schon ein wirksamer Schritt zur Beseitigung der Mißstände gemacht war. Letztlich erwiesen sich die Parlamente als stark genug, ihre Position im wesentlichen zu behaupten, bis sie durch die Revolution beseitigt wurden131• Die Abschaffung der feudalistischen und partikularistischen Institutionen machte den Weg frei für eine Neuordnung des Rechtswesens. Die Forderung nach Vereinheitlichung und Vereinfachung des Rechts wurde Programmsatz der Revolution und Verfassungsversprechen der Konstitutionen von 1791 und 1793132• Man verlangte Befreiung der Nation "de l'incertitude et de la fiuctuation de la jurisprudence" 133• Mit der Erinnerung an die vorrevolutionären Zustände hielt sich ein tiefes Mißtrauen in die richterliche Entscheidungstätigkeit. Ein Mitglied des Nationalkonvents brachte dies am 7. August 1793 zum Ausdruck mit dem Hinweis auf die "monstrueux abus sous lesquels ... une jurisprudence tortueuse [faisait] depuis des siecles gemir en France la raison, l'honneur et la justice"134• Die Folge dieses Argwohns war der Versuch, die Gewaltenteilung radikal und bis ins letzte konsequent Vgl. OZivier-Martin, S. 548 ff.; Holtzmann, S. 355. Verfassung von 1791, 1. Titel, letzter Satz: "Il sera fait un code de lois civiles communes a tout le royaume." Galisset I, 1 (oben Anm. 121), S. 520. -Verfassung von 1793, Art. 85: "Le Code des lois civiles et criminelles est uniforme pour toute la republique." Galisset I, 2, S. 993. Vgl. auch Wilhelm (oben Anm. 122), S. 263. 133 Zitat nach van Kan, Les efforts, S. 242. 134 Van Kan, S. 312 ff., 314. Vgl. auch Hein Kötz, Über den Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, 1973 (Konstanzer Universitätsreden 62), S. 10 ff. 131 134!
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durchzuführen. Wieder zeigt sich der Planungsillusionismus des aufgeklärten Rationalismus, der sich eine umfassende Systematisierung des Rechts zutraute und den Richter lediglich zur Konkretisierung anweisen 2.u müssen glaubte. Man konnte sich nicht genug tun, in der Nationalversammlung die absolute Dominanz der Gesetzgebung zu betonen und die Rechtsprechung als deren Exekutive beschränktesten Zuschnitts zu definieren: "On ne saurait trop repeter aux juges qu'ils ne sont que les organes de la loi et qu'ils doivent se taire quand eile n'a pas parle135." Im Gesetz über die Gerichtsorganisation vom August 1790 fanden diese Bestrebungen ihren vorläufigen Niederschlag. Art. 12 des zweiten Titels beschreibt, noch mit deutlichem Seitenblick auf die "parlements", die Funktion der Gerichte: Ils ne pourront point faire de reglements; mais ils s'adresseront au corps legislatif toutes les fois qu'ils croiront necessaire, soit d'interpreter une loi, soit d'en faire une nouvelle136• Der kompromißlose Trennungsschnitt führte schließlich noch zur Einrichtung des "Tribunal de cassation", das als Kontrollorgan für die Gesetzesbefolgung durch die Gerichte selbst nicht als Teil der rechtsprechenden Gewalt, sondern als legislative Institution verstanden wurde137• Die zunehmende politische Radikalisierung gab diesem System eine einmalige Verwirklichungschance, deren Ergebnis dann dessen Funktionsunfähigkeit offenlegte. Unter dem einsetzenden Terrorregime übten die Gerichte ängstliche Selbstbeschränkung und verweigerten immer häufiger die Entscheidung, wenn sie keinen offenkundig einschlägigen Rechtssatz fanden. Die überhandnehmenden Verweisungen an den Gesetzgeber und die Stagnation der Justiz beschleunigten einen GesinnungswandeL Auch die Rechtsprechung des Tribunal de cassation, das die eingerissene Praxis als mißbräuchliche Rechtsverweigerung mißbilligte, trug ihren Teil dazu bei138. Zur Zeit des Konsulats ist der Umschwung erreicht. Der erste Entwurf zum Code civil, bei dem J. Etienne-Marie Portalis (1746- 1807)139 federführend war, dokumentiert die wiedereingetretene V an Kan, S. 310. Galisset I, 1 (oben Anm. 121), S. 135. Vgl. dazu van Kan, S. 306 ff. Vgl. Edmond Seligman, La justice en France pendant Ia revolution (1789- 1792), Paris 1901, S. 321; Gabriel Lepointe, Histoire des institutions et des faits sociaux (987 - 1875), Paris 1956, S. 751; Kötz (oben Anm. 134), S. 11. 135 136 137
138 Vgl. Discours preliminaire: "Sur le fondement de la maxime que les juges doivent obeir aux lois et qu'il leur est defendu de les interpreter, les tribunaux, dans ces dernieres annees, renvoyaient par des referes les justiciables au pouvoir legislatif, toutes les fois qu'ils manquaient de la loi, ou que la loi existante leur paraissait obscure. Le tribunal de cassation a constamment reprime cet abus, comme un deni de justice." Fenet I, S. 474. Vgl. auch van Kan, S. 315. 1311 Vgl. L. Adolphe, Portalis et son temps, Paris 1936.
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Beruhigung und spiegelt eine praktikable Harmonie zwischen Legislative und Rechtsprechung. Das Naturrecht ist nicht mehr allein dem Erkenntnismonopol der Gesetzgebung überlassen, vielmehr wird auch der rechtsprechenden Gewalt diese Erkenntnisquelle wieder angemessen zugänglich gemacht. Die gleichfalls von Portalis redigierte Vorrede zum Entwurf gibt den Blick frei auf den gedanklichen Hintergrund der Konzeption. Die Ideen der Vollständigkeit, der vereinfachenden Klarheit und der Zeitlosigkeit einer Kodifikation werden als Trugbilder bezeichnet. Man habe es daher vermieden, eine solche "dangereuse ambition" überhaupt erst anzustreben140. Viele Dinge blieben daher notwendigerweise der tatsächlichen Übung, der Erörterung der Sachverständigen und dem Schiedsspruch der Richter überlassen141. Die Aufgabe des Gesetzes sei es, die Generalmaximen des Rechts festzuhalten und entwicklungsfähige Leitlinien aufzustellen, nicht aber sich in Einzelfragen zu verlieren, die bei jeder Materie entstehen können142 • Die Kunst des Gesetzgebers bestehe darin, für jede Materie diejenigen Grundsätze zu finden, die dem Gemeinwohl am förderlichsten sind143. Mit diesen hier nur skizzierten Gedankengängen ist die Rolle der Rechtsprechung hinreichend vorgezeichnet. Den Gerichten obliege es daher, den wahren Sinn der Gesetze zu erfassen, sie mit Verstand anzuwenden und gesetzliche Lücken auszufüllen. Wenn das Gesetz eindeutig sei, müsse es befolgt werden. Ist es unklar, muß sein Zweck ergründet werden. Gebe es kein Gesetz, so sei die tatsächliche Übung oder die Billigkeit zu befragen. Die Billigkeit sei die Rückkehr zum natürlichen Recht, wenn die positiven Gesetze schweigen würden, dunkel oder widrig seien144 • Denn wo es an einem genauen Gesetzestext fehle, träten eine hergebrachte, beständige und wohl eingerichtete Übung, eine ununterbrochene Folge ähnlicher Entscheidungen, eine herrschende Meinung oder ein eingeführter Grundsatz an die Stelle des Gesetzes. Wenn auch das nicht ausreiche und wenn der Richter vor einem absoluten Novum stünde, dann müsse auf die Prinzipien des 140 Fenet I, S. 469. "Une foule de choses sont donc necessairement abandonnees a l'empire de l'usage, a la discussion des hommes instruits, a rarbitrage des juges." 141
Fenet I, S. 469 f.
142 "L'office de la loi est de fixer, par de grandes vues, les maximes generales du droit; d'etablir des principes feconds en consequences, et non de descendre dans le detail des questions qui peuvent naitre sur chaque matiere." Fenet I, S. 470. 143 "La science du legislateur consiste a trauver dans chaque matiere, les principes les plus favorables au bien commun." Fenet I, S. 476. 144 "Quand la loi est claire, il faut la suivre; quand elle est obscure, il faut en approfondir les dispositions. Si l'on manque de loi, i1 faut consulter l'usage ou l'equite. L'equite est le retour a la loi naturelle, dans le silence, l'opposition ou l'obscurite des lois positives." Fenet I, S. 474.
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Naturrechts zurückgegriffen werden. Denn der Gesetzgeber sei in der Voraussicht beschränkt, die Natur aber sei unendlich und beziehe sich auf alles, was die Menschen angehen könne145• Von einem Rekurs an den Gesetzgeber hält Portalis überhaupt nichts. Dadurch würde sich die Gesetzgebung in Einzelheiten und letztlich in Widersprüchlichkeiten verlieren, die Prozesse würden verschleppt und die Gesetzgebung wäre dauernd von Einzelinteressen belagert. Geschickt und klug weist Portalis wohl jene, die in der extremen Gewaltenteilung das Höchstmaß an rechtsstaatliehen Garantien sehen, darauf hin, daß man weniger den ängstlich-bedächtigen Schiedsspruch eines absetzbaren und noch dazu der Amtshaftungsklage ausgesetzten Richterbeamten zu befürchten habe als den Schiedsspruch einer unabhängigen und niemals verantwortlichen Gewalt146. Das Vertrauen in die Rechtsprechung ändert nichts an dem Grundsatz, daß die rechtsprechende Gewalt der Legislative untergeordnet ist und von dieser überwacht wird. Portalis, der hinsichtlich dieser Kontrolle ziemlich zurückhaltend ist, hält es für nützlich und erforderlich, daß der Gesetzgeber die Gesetzesanwendung durch bestimmte Regeln lenkt147• "Nous les [les regles] avons tracees: elles sont telles, que la raison particuliere d'aucun homme ne puisse jamais prevaloir sur la loi, raison publique148." Der Entwurf faßt die geschilderten Gedanken in einem Titel "De l'application et l'interpretation des lois" mit 13 Artikeln zusammen149• Die wichtigsten Bestimmungen seien hier wiedergegeben: Art. 1. Le ministere du juge est d'appliquer les lois avec discernement et fidelite. Art. 2. Il est souvent necessaire d'interpreter les lois . . . L'interpretation par voie de doctrine consiste a saisir le veritable sens d'une loi, dans son application a un cas particulier ... t«11 "Mais a defaut de texte precis sur chaque matiere, un usage ancien, constant et bien etabli, une suite non interrompue de decisions semblables, une opinion ou une maxime recue, tiennent lieu de loi. Quand on n'est dirige par rien de ce qui est etabli ou connu, quand il s'agit d'un fait absolument nouveau, on remonte aux principes du droit naturel. Car si la prevoyance des Iegislateurs est limitee, la nature est infinie; elle s'applique a tout ce qui peut interesser les hommes." Fenet I, S. 471. Vgl. ähnliche Formulierungen bei Zeiller, Commentar über das allg. bürg. Gesetzbuch I, 1811, S. 65 zu den "natürlichen Rechtsgrundsätzen": "Diese Quelle ist unversiegbar, weil jede Frage, die inner dem Gebiete der (rechtlichen) Vernunft liegt, auch von ihr (als dem Vermögen der Principien) beurteilet und aufgelöset werden kann." ue Fenet I, S. 475. 147 Ebd. S. 476, 479. 148 Ebd. S. 480. 149 Abgedruckt bei Fenet II, S. 6 ff.
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Art. 3. Le pouvoir de prononcer par forme de disposition g{merale, est interdit aux juges. Art. 5. Quand une loi est claire, il ne faut point en eluder la lettre sous pretexte d'en penetrer l'esprit; et dans l'application d'une loi obscure, on doit preferer le sens le plus nature! et celui qui est le mois defectueux dans l'execution. Art. 11. Dans les matiE~res civiles, le juge, a defaut de la loi precise, est un ministre d'equite. L'equite est le retour a la loi naturelle, ou aux usages re