Rechtsdogmatik in England 9783161552809, 3161552806

Lässt sich die Präsenz dogmatischen Denkens als Beleg für den europäischen Charakter des englischen Rechts anführen? Mar

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German Pages 355 [356] Year 2017

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1. Eine andere Rationalität? Max Webers Sicht auf das englische Recht
2. Die rechtsvergleichende Orthodoxie:
und
als Methodendualismus
3. Das zeitgenössische englische Privatrechtsdenken: Transformation in Differenz
4. Wie vergleichen?
Rechtsdogmatik in Deutschland
1. Ein produktives System des Rechts
2. Beständigkeit und Wandel der dogmatischen Tradition
3. Dogmatische Denkformen
Elemente dogmatischen Denkens in England – eine brüchige Tradition
1. Francis Bacon
2. Henry Finch
3. Matthew Hale
4. William Blackstone
5. Frederick Pollock
Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität
1. Wandlungen des englischen Nationalcharakters
2. Besteht ein Zusammenhang zwischen Volkscharakter und Rechtsdenken?
3. Die Mentalität der Juristen
4. Die englische Rechtsmentalität – eine Skizze
Institutionelle Hindernisse für die Verbreitung dogmatischen Denkens
1. Die angebliche Verwandtschaft zwischen englischem und römischem Recht
2. Systematische Tendenzen im Rechtsdenken der Römer
3. Die Rechtsarmut des
Dem Fallrecht eine Ordnung geben
1. Peter Birks und die englische Rechtswissenschaft der Gegenwart
2. Die Systematisierung des Bereicherungsrechts
Eine Taxonomie des Privatrechts
1. Birks’ Versuch einer Systematisierung des englischen Rechts
2. Einwände gegen die taxonomische Methode
Angriffe auf die Orthodoxie
1. Die Methodendiskussion der Gegenwart
2. Ein neues Verständnis des Deliktsrechts
Schluss
Literaturverzeichnis
Sachverzeichnis
Personenverzeichnis
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Rechtsdogmatik in England
 9783161552809, 3161552806

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Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 393 Herausgegeben vom

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:

Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann

Martin Flohr

Rechtsdogmatik in England

Mohr Siebeck

Martin Flohr, geboren 1981; Studium der Rechtswissenschaft an der Bucerius Law School und in Oxford; Wissenschaftlicher Assistent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht; Studium zum Magister Juris sowie Max Planck Fellow in Oxford; Visitor to the Faculty of Law in Cambridge; Referendariat am Kammergericht in Berlin; 2016 Promotion.

ISBN 978-3-16-155280-9 ISSN 0720-1141 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. © 2017  Mohr Siebeck, Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek­ tronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Vorwort Vorwort

Vorwort

Diese Abhandlung ist eine leicht veränderte Fassung meiner Dissertation, die im Sommertrimester 2016 von der Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft – angenommen worden ist. Die mündliche Prüfung fand am 26. September 2016 statt. Sehr herzlich möchte ich mich bei meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Reinhard Zimmermann FBA FRSE, bedanken. Er hat die Entstehung der Arbeit mit wertvollem Rat und Zuspruch begleitet, mir ein außergewöhnlich hohes Maß an Freiheit gewährt und mich in vielfältiger Weise gefördert. Dank schulde ich ferner Herrn Prof. Dr. Christian Bumke für das Zweitgutachten. Die Schrift ist in meinen Jahren am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg sowie an den Universitäten Oxford und Cambridge entstanden. Die hervorragenden Arbeitsbedingungen und der rege wissenschaftliche Austausch an diesen Orten haben erheblich zum Gelingen des Werkes beigetragen. Mein Dank gilt den vielen Freunden und Kollegen, mit denen ich das Thema erörtern und erste Entwürfe diskutieren durfte. Hervorheben möchte ich Philipp Eichenhofer, Dr. Thomas Coendet sowie Prof. Stefan Vogenauer, die mir wichtige Anregungen gegeben haben. Ganz besonders herzlich danke ich schließlich meinen Eltern für ihre liebevolle Unterstützung in jeglicher Hinsicht. Berlin, im Oktober 2017

Martin Flohr

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ......................................................................................................... V Abkürzungsverzeichnis ............................................................................... XI Einleitung ...................................................................................................... 1 1. Eine andere Rationalität? Max Webers Sicht auf das englische Recht ...... 1 2. Die rechtsvergleichende Orthodoxie: common law und civil law als Methodendualismus ............................................................................ 9 3. Das zeitgenössische englische Privatrechtsdenken: Transformation in Differenz .................................................................... 20 4. Wie vergleichen? .................................................................................... 24 Kapitel 1: Rechtsdogmatik in Deutschland................................................... 27 1. Ein produktives System des Rechts ......................................................... 27 2. Beständigkeit und Wandel der dogmatischen Tradition ...........................30 3. Dogmatische Denkformen ....................................................................... 39 a) Arrangement von Normen zu Rechtsgebieten ....................................40 b) Gewinnung von Prinzipien ................................................................ 44 c) Bildung von Grundbegriffen .............................................................. 49 d) Systematisierung................................................................................ 55 aa) Begriffssystem ............................................................................ 55 bb) Prinzipiensystem ......................................................................... 58 e) Konstruktion ...................................................................................... 61 Kapitel 2: Elemente dogmatischen Denkens in England – eine brüchige Tradition ............................................................... 71 1. Francis Bacon ......................................................................................... 72 2. Henry Finch ............................................................................................ 78 3. Matthew Hale .......................................................................................... 82

VIII

Inhaltsverzeichnis

4. William Blackstone ................................................................................. 87 5. Frederick Pollock .................................................................................... 91 Kapitel 3: Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität ................. 101 1. Wandlungen des englischen Nationalcharakters .................................... 102 2. Besteht ein Zusammenhang zwischen Volkscharakter und Rechtsdenken? ...................................................................................... 106 3. Die Mentalität der Juristen .................................................................... 111 4. Die englische Rechtsmentalität – eine Skizze ........................................ 115 Kapitel 4: Institutionelle Hindernisse für die Verbreitung dogmatischen Denkens .............................................................. 119 1. Die angebliche Verwandtschaft zwischen englischem und römischem Recht ......................................................... 120 2. Systematische Tendenzen im Rechtsdenken der Römer ........................ 128 3. Die Rechtsarmut des common law ......................................................... 135 a) Der Mangel an Rechtsnormen .......................................................... 135 b) Fiktionen als Mittel der Rechtsfortbildung ....................................... 141 c) Die Abwesenheit materiellen Rechts ............................................... 147 d) Der späte Aufstieg der Rechtswissenschaft ...................................... 149 Kapitel 5: Dem Fallrecht eine Ordnung geben .......................................... 157 1. Peter Birks und die englische Rechtswissenschaft der Gegenwart ......... 157 2. Die Systematisierung des Bereicherungsrechts...................................... 164 a) Der Zustand des Bereicherungsrechts zu Beginn der Achtzigerjahre ................................................................................. 164 b) Birks’ erstes System des Bereicherungsrechts ................................. 169 c) Die Entwicklung des Bereicherungsrechts in den Neunzigerjahren .............................................................................. 182 d) Birks’ zweites System des Bereicherungsrechts ............................... 188 Kapitel 6: Eine Taxonomie des Privatrechts .............................................. 203 1. Birks’ Versuch einer Systematisierung des englischen Rechts .............. 203 2. Einwände gegen die taxonomische Methode ......................................... 221

Inhaltsverzeichnis

IX

Kapitel 7: Angriffe auf die Orthodoxie ....................................................... 239 1. Die Methodendiskussion der Gegenwart ............................................... 243 a) Taxonomy ........................................................................................ 243 b) Interpretivism .................................................................................. 257 c) Rights-based analysis ...................................................................... 272 2. Ein neues Verständnis des Deliktsrechts ............................................... 281 Schluss ....................................................................................................... 295 Literaturverzeichnis .................................................................................... 301 Sachverzeichnis .......................................................................................... 329 Personenverzeichnis ................................................................................... 339

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis a. a. O. ABGB Abs. AC All ER All ER (Comm) ALR Art. Aufl.

Abkürzungsverzeichnis am angegebenen Ort Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Absatz Law Reports, Appeal Cases All England Law Reports All England Law Reports, Commercial Cases Australian Law Reports Artikel Auflage

BC BetrVG BGB BGHZ

Borough Council Betriebsverfassungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen

CA CC Ch Ch, ChD CLR Co Corp

Court of Appeal County Council High Court, Chancery Division Law Reports, Chancery Division Commonwealth Law Reports Company Corporation

D. dems. dens. ders. d. h. dies. DLR (3d)

Digesta Iustiniani demselben denselben derselbe das heißt dieselbe oder dieselben Dominion Law Reports, Third Series

East ebd. ER etc. Ex Div

East’s Term Reports, Court of King’s Bench ebenda English Reports et cetera High Court, Exchequer Division

f., ff. Fn.

folgende Fußnote

XII

Abkürzungsverzeichnis

G. GG

Gai Institutiones Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

HCA HGB HL Hrsg. hrsg.

High Court of Australia Handelsgesetzbuch House of Lords Herausgeber herausgegeben

Inst.

Institutiones Iustiniani

J

Judge

KB KSchG

High Court, King’s Bench Division oder Law Reports, King’s Bench Division Kündigungsschutzgesetz

LBC LJ Ltd

London Borough Council Lord Justice Limited

M&S MBC

Maule & Selwyn’s King’s Bench Reports Metropolitan Borough Council

n. Chr. No NSW NSWCA NSWLR N.Y. PC plc

nach Christus Numero New South Wales New South Wales Court of Appeal New South Wales Law Reports Reports of Cases Decided in the Court of Appeals of the State of New York Privy Council public limited company

QB QB, QBD

High Court, Queen’s Bench Law Reports, Queen’s Bench Division

Re RGZ Rn.

In Sachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer

S. s SCC Sel Cas Temp King Sp.

Satz, Seite oder Seiten section Supreme Court of Canada Select Cases in Chancery tempore King Spalte

u. a. UKSC

und andere Supreme Court of the United Kingdom

Abkürzungsverzeichnis USA

Vereinigte Staaten von Amerika

v Var. v. Chr. vgl. VR VSC

versus Variante vor Christus vergleiche Victorian Reports Supreme Court of Victoria

WLR

Weekly Law Reports

XIII

Einleitung Einleitung

1. Eine andere Rationalität? Max Webers Sicht auf das englische Recht

1. Eine andere Rationalität?

Wie ließe sich die Geschichte des abendländischen Rechtsdenkens schreiben, wenn nicht als Geschichte einer Wissenschaft, die danach strebt, eine innere Ordnung des Rechts nachzuweisen oder herzustellen? In seiner „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ hebt Franz Wieacker die außergewöhnliche Kulturleistung hervor, die in der erstmaligen „logischen Durchdringung der Rechtsprobleme“1 durch die Glossatoren des hohen Mittelalters gelegen habe. Der mit der „intellektuelle[n] Diskussion des autonomen juristischen Sachproblems“ verbundene Anspruch habe „das öffentliche Leben in Europa für immer juridifiziert und rationalisiert; unter allen Kulturen der Erde“ sei „durch ihn die europäische die einzige legalistische geworden“.2 Den am Ausgang des Mittelalters einsetzenden Prozess der Rezeption des spätantiken, durch die oberitalienischen Kommentatoren jedoch neu geformten, römischen Rechts will Wieacker daher auch nicht in erster Linie als Aufnahme von Normen und Lehrsätzen verstanden wissen, sondern als Übernahme eines Lehrgebäudes sowie einer besonderen Methode der Bearbeitung des Rechts,3 als „Verwissenschaftlichung und Rationalisierung des deutschen Rechtslebens“.4 Damit klingt ein Leitmotiv aus dem Werk Max Webers an:5 der spezifisch geartete, nach „Entzauberung“6 und Berechenbarkeit strebende Rationalismus des Abendlandes. Dessen Emanationen fand Weber in den verschiedensten Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 69. Wieacker, ebd. Berman, Recht und Revolution, S. 24 ff., führt neben dem Systemgedanken auch die Unterscheidung von Recht und Moral beziehungsweise Recht und Religion, die Administration des Rechts durch Berufsjuristen sowie den Gedanken einer Entwicklungsfähigkeit des Rechts als Charakteristika der „westlichen Rechtstradition“ an – zu der er ausdrücklich auch England rechnet. 3 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 129. 4 Wieacker, Das römische Recht und das deutsche Rechtsbewußtsein, S. 18. 5 Zum Einfluss von Webers Rationalisierungsparadigma auf Wieackers Rezeptionsmodell siehe Dilcher, Franz Wieacker als „Germanist“, S. 243 ff.; zu anderen Einflüssen siehe Avenarius, Verwissenschaftlichung als „sinnhafter“ Kern der Rezeption, S. 124 ff. 6 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 109. Zu dem Begriff siehe Schluchter, „Die Entzauberung der Welt“, S. 1. 1 2

2

Einleitung

Lebensbereichen vor, so zum Beispiel in der Musik – in Zwölftonsystem, Dreiklangsharmonik und Kontrapunkt; auf dem Gebiet der Verwaltung – in der Gesetzesbindung und beim Einsatz fachlich geschulter Beamter; vor allem jedoch in der kapitalistischen Unternehmensführung – im planvollen und nüchternen Streben nach immer wieder neuem Gewinn, das mit regelmäßiger Bilanzierung verbunden ist.7 Max Weber hatte ursprünglich die Laufbahn eines Universitätsjuristen eingeschlagen und mit rechtshistorischen Arbeiten debütiert.8 Gegen Ende seines Lebens, vermutlich von 1911 bis 1914,9 entfaltete er im Rahmen seiner Arbeit an „Wirtschaft und Gesellschaft“ eine typologisch vergleichende Universalrechtsgeschichte10 und legte dabei den Schwerpunkt auf die Affinitäten zwischen verschiedenen Formen des Rechtsdenkens sowie bestimmten religiösen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen. Den zentralen Begriff der Rationalisierung des Rechts definierte Weber als „begriffliche Vereinfachung und Gliederung des Rechtsstoffes“. 11 Das Verfahren beginne mit einer Verallgemeinerung einzelner Elemente des Rechts. Diese könne sowohl durch „Analyse“,12 das heißt eine „Reduktion der für die Entscheidung des Einzelfalles maßgebenden Gründe auf ein oder mehrere ‚Prinzipien‘“, 13 als auch im Wege der „‚juristischen Construction‘ von ‚Rechtsverhältnissen und Rechtsinstituten‘“14 erreicht werden. Die Ergebnisse dieser Generalisierung könnten sodann einer Systematisierung unterworfen werden. Erforderlich sei eine „Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, daß sie unter einander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses, und, vor Allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: daß alle denkbaren Thatbestände unter einer seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können“.15 7 M. Weber, Vorbemerkung, S. 1 ff.; zum Rationalisierungsprozess in der Musik siehe darüber hinaus M. Weber, [Zur Musiksoziologie], S. 146 ff. Die dem „bürgerlichen Betriebskapitalismus“ (M. Weber, Vorbemerkung, S. 10) zugrunde liegende Geisteshaltung wird behandelt von dems., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 17 ff. 8 Siehe beispielsweise M. Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, S. 139 ff.; ders., Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staatsund Privatrecht, S. 91 ff. 9 Zur Datierung des in Webers Nachlass befindlichen, von Marianne Weber unter dem Titel „Rechtssoziologie“ veröffentlichten Manuskripts siehe Gephart / Hermes, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], Editorischer Bericht, S. 249 ff. 10 Im Anschluss an die heute vorherrschende Lesart, die Weber als „Repräsentanten einer typologisch vergleichenden Universalgeschichte“ deutet; dazu Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus, S. 46. 11 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 62. 12 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 302. 13 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 301 f. 14 M. Weber, ebd. 15 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 303.

1. Eine andere Rationalität?

3

Formell-rationale Rechtsschöpfung, wie Weber es nannte, strebe danach, „die einzelnen anerkanntermaßen geltenden Rechtsregeln durch die Mittel der Logik zu einem in sich widerspruchslosen Zusammenhang von abstrakten Rechtssätzen zusammenzufügen“.16 Solche Formulierungen lesen sich wie eine Paraphrase der von Rudolf von Jhering ein halbes Jahrhundert zuvor entworfenen „Theorie der juristischen Technik“.17 Es sind die methodischen Ideale der pandektistischen Rechtsdogmatik, deren Befolgung Max Weber einen „Höchstgrad methodischlogischer Rationalität“18 zugesteht und die für ihn Ausdruck einer „spezifisch modernen okzidentalen Art der Rechtspflege“19 sind. Gleichzeitig ist mit ihnen ein Idealtypus geschaffen – ein aus Elementen der Wirklichkeit gebildetes, aber utopisches Konstrukt, das ein analytisch kontrolliertes Vermessen der empirisch vorgefundenen Realität ermöglicht.20 Durch Vergleich mit diesem Typus konnte Weber beispielsweise feststellen, dem klassischen römischen Recht habe der konstruktiv-systematische Charakter noch gefehlt, den erst später das justinianische Recht ausgebildet habe.21 Der Idealtypus erlaubte ihm schließlich, einen universalhistorischen Kontinuitätsfaden des „juristische[n] Rationalismus“ zu spinnen, der von den spätmittelalterlichen italienischen Scholastikern über die „Hofjuristen und gelehrten Richter der kontinentalen Fürsten“ sowie der „Noblesse de Robe der französischen Parlamente“ bis zu den „Advokaten der Revolutionszeit“ reichte.22 Vor dem Hintergrund dieser gewaltigen Tradition musste sich das Rechtsdenken eines Landes an der Peripherie des europäischen Kulturraumes in deutlichem Kontrast abzeichnen: England. Weber scheute sich nicht, die englische Rechtspflege, die aus seiner Sicht „soweit als […] möglich abweicht von der Struktur des kontinentalen Rechts“23 als „rückständig[…]“24 und „höchst irrational[…]“25 zu diffamieren. Der Rationalität seien schon durch die herausragende Stellung der jury im Zivilprozess Grenzen gesetzt, denn die Laienrichter entschieden über konkrete Rechtsfragen, ohne dass sich daraus eine Bindungswirkung für künftige Entscheidungen ergebe.26 Die M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 304 f. Siehe Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 322 ff. 18 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 305. 19 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 615. 20 Diese Deutung des Weber’schen Idealtypus findet sich bei Dilcher / Lepsius, Einleitung, S. 71 f. 21 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 501. 22 M. Weber, Politik als Beruf, S. 186 f. 23 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 634 f. 24 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 62. 25 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 634. 26 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 450. 16 17

4

Einleitung

Praxis der für Alltagsstreitigkeiten zuständigen justices of the peace hielt Weber gar für „‚Kadijustiz‘, wie es für uns auf dem Continent völlig unbekannt ist“. Auch sein Urteil über die „Präjudizienwirtschaft“27 fällt ungünstig aus, weil den Vorentscheidungen je nach der persönlichen Autorität des Richters ein höchst verschiedenes Gewicht zukomme, wodurch ihre Stabilisierungsleistung konterkariert werde.28 Bedeutsamer für die angebliche Irrationalität des englischen Rechts war noch, dass dieses keinerlei Anspruch auf Systematisierung erhebe.29 Die Ursachen hierfür suchte Max Weber in den institutionellen Rahmenbedingungen der englischen Rechtstradition. Bis in die jüngste Vergangenheit habe eine englische Rechtswissenschaft völlig gefehlt. Stattdessen sei die zunftmäßige Rechtslehre durch Anwälte an den typisch wiederkehrenden Einzelbedürfnissen der Rechtsuchenden orientiert gewesen und habe nur zur Entwicklung praktisch brauchbarer Schemata von Vertragstypen und Klagearten geführt. „Der rein empirische Betrieb der Rechtspraxis und der Rechtslehre“, so Weber, „schließt immer nur vom Einzelnen auf das Einzelne und strebt nie vom Einzelnen zu allgemeinen Sätzen, um dann aus diesen die Einzelentscheidung deduzieren zu können.“30 Stattdessen sei die Begriffsbildung „an handfesten, greifbaren, der Alltagserfahrung anschaulich geläufigen und in diesem Sinne formalen Tatbeständen [sic!] orientiert [gewesen], welche sie thunlichst nach äußeren eindeutigen Merkmalen gegeneinander abgrenzte und […] nach Bedarf erweiterte“.31

Mit Hilfe von Analogien und Fiktionen seien „oft mit größter Kühnheit einzelne Rechtsbegriffe benutzt [worden], um mit ihrer Hülfe höchst verschiedenen Sachverhalten die rechtliche Klagbarkeit zu verschaffen“, 32 was dazu geführt habe, dass „juristisch Heterogenes zusammengeworfen“33 werden musste. Während Weber an einer Stelle des unvollendeten, nur aus dem Nachlass überlieferten Manuskripts von „Wirtschaft und Gesellschaft“ zu dem Schluss gelangt, das englische Rechtsdenken bringe „nur in begrenztem Sinn eine Rationalisierung des Rechts“34 hervor, zieht er an anderer Stelle das Fazit, „der Grad der Rationalität des Rechts [sei] ein wesentlich geringerer und die Art derselben eine andere […] als im kontinentalen europäischen Recht“.

Man wird den Begründer der Soziologie in Deutschland nicht von dem Vorwurf freisprechen können, er habe die Methodenpraxis der damaligen Rechts27 28 29 30 31 32 33 34

M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 611. M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 633. M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 303 und 480. M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 481. M. Weber, ebd. M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 506. M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 507. M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 480 f.

1. Eine andere Rationalität?

5

wissenschaft seines Heimatlandes in unzulässiger Weise zu einem überzeitlichen, kulturneutralen Referenzwert gesteigert und das englische Rechtsdenken am Maßstab des deutschen gemessen, weswegen das Verdikt der Rückständigkeit unausweichlich werden musste. Ein kritischer Leser wird den Ausführungen Webers jedenfalls nur die wenig überraschende – wenngleich tatsächlich unzutreffende – Erkenntnis entnehmen, dass es in England keine Rechtsdogmatik pandektistischer Prägung gegeben hat. Gleichwohl ist anzuerkennen, dass Weber ausdrücklich hervorhob, Rationalität habe es in allen Kulturkreisen gegeben und Rationalisierung könne sich unter verschiedenen Gesichtspunkten oder in unterschiedlichen Richtungen vollziehen.35 Solchen interkulturellen Variationen der Rationalität versuchte er in seiner Universalrechtsgeschichte durch die Einführung weiterer Idealtypen Rechnung zu tragen. So beschrieb er einen zweiten Typus des formalen Rechtsdenkens, dessen Begriffe nicht abstrakt sind, sondern sich gerade durch ihren anschaulichen Charakter auszeichnen. Formal ist das daraus entstehende Recht in dem Sinne, dass die Einhaltung bestimmter Formen oder die Erfüllung bestimmter symbolischer Handlungen Voraussetzung für das Eintreten der gewünschten Rechtsfolgen ist. Eine solche strenge Formalisierung führe aber nicht zu Systematik, sondern zu Kasuistik. Zusätzlich entwickelte Weber noch den übergeordneten Gegenbegriff der materiellen Rechtsrationalität. Von dieser wollte er immer dann sprechen, wenn die Entscheidung von Rechtsproblemen anhand ethischer Prinzipien, Zweckmäßigkeitsregeln oder politischer Maximen vorgenommen wird.36 Doch auch mit diesem differenzierten typologischen Instrumentarium fiel es Weber sichtlich schwer, die Andersartigkeit der englischen Methoden auf den Begriff zu bringen. Er beließ es bei Andeutungen, die Jurisprudenz vor den königlichen Gerichten des common law sei eine „streng formale“,37 aber doch „‚empirische‘ Kunst“,38 welche die rechtlich relevanten Tatbestände „anschaulich, nach handgreiflichen Merkmalen“39 voneinander abgrenze. Damit rückte er die englische Rechtstradition in die Nähe seiner zweiten Spielart formeller Rationalität. In seiner Studie „The Rational Strength of English Law“ hat Frederick Lawson als einer der ersten gegen die seiner Ansicht nach verbreitete Vorstellung von der Irrationalität des englischen Rechts protestiert.40 Als rational wollte er eine Rechtsordnung dann bezeichnen, wenn diese ihre Zwecke einfach und störungsfrei verwirkliche; ein derartiges Rechtssystem könne mit 35 M. Weber, Vorbemerkung, S. 20; ders., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 62. 36 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 304. 37 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 518. 38 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 632. 39 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 451. 40 Lawson, The Rational Strength of English Law.

6

Einleitung

einer reibungslos funktionierenden Maschine verglichen werden.41 Der unvorteilhafte Ruf, den das eigene Recht sowohl bei kontinentaleuropäischen Juristen als auch bei den englischen Rechtswissenschaftlern habe, sei einerseits darauf zurückzuführen, dass diese nur das Vertrags- und Deliktsrecht mit ihren jeweiligen kontinentalen Äquivalenten verglichen hätten und nicht die wesentlich stärker strukturierten Gebiete des Sachenrechts und des Erbrechts. Auch die einheimischen Kritiker des common law im 19. Jahrhundert, die stark vom römischen Recht beeinflusst waren, hätten dessen leicht verständliche Kategorien zu Unrecht in dem völlig verschiedenen englischen Umfeld gesucht; deshalb mussten ihnen die feinsinnigen Einteilungen des englischen Sachenrechts als überkomplex und exzentrisch gelten. 42 Seit seiner Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien die Begriffe des Grundstücksrechts hingegen abstrakt, klar definiert und auf eine logische Weise miteinander verbunden, so dass dieses Rechtsgebiet geradezu eine mathematische Präzision erlangt habe.43 Ungeachtet ihres teilweise hohen Abstraktionsgrades seien die englischen Rechtsbegriffe greifbar wie körperliche Gegenstände geblieben und hätten damit die Gefahren eines übertriebenen Rationalismus vermieden: „English law has always been much more like a thing than an idea; it has a quality of hard fact like that possessed by a rock against which one knocks one’s head in vain. […] English law is therefore not only rational but strong.“44

Wenig später nahm Max Rheinstein weitere Korrekturen an Max Webers Sicht auf das englische Recht vor. Er betonte, gerade die strikte Bindung des Richters an Vorentscheidungen und Prinzipien stelle eine konsistente Rechtsprechung sicher. Gleichzeitig wies er die Rede von der Irrationalität der juryEntscheidungen zurück, weil auch diese um Folgerichtigkeit bemüht und an der Alltagsmoral orientiert seien, in Webers Terminologie folglich als materiell-rational bezeichnet werden müssten. 45 Insgesamt nähere sich das common law allerdings dem Typus der materiellen Irrationalität, also der sprichwörtlichen Kadijustiz, wenngleich besonders in denjenigen Rechtsgebieten, in denen ein Einfluss des civil law fühlbar sei, formelle Rationalität des logischen Typs durchaus vorkomme. 46 Allerdings seien die Richter des common law Meister darin, hinter ihren formalen Argumentationen die tatsächlich wirksamen materiellen Erwägungen zu verdecken.47 Rheinstein stellte dem „angloamerikanischen Recht“ aber nicht nur das paradoxe Attest gleichzeitiger Rationalität und Irrationalität aus; er bemühte sich auch, den begrifflichen Unter41 42 43 44 45 46 47

Lawson, The Rational Strength of English Law, S. 12 ff. Lawson, The Rational Strength of English Law, S. 37 und 76 ff. Lawson, The Rational Strength of English Law, S. 79. Lawson, The Rational Strength of English Law, S. 147. Rheinstein, Introduction, S. lv f. Rheinstein, Introduction, S. li. Rheinstein, Introduction, S. lvi.

1. Eine andere Rationalität?

7

schied zwischen formeller und materieller Rechtsrationalität zu relativieren. Beiden Rationalitätstypen sei gemeinsam, dass sie sich logischer Operationen bedienten, während der eigentliche Unterschied in der Art der verwendeten Prämissen liege – also darin, ob eher auf Begriffe des Rechtssystems oder in der Gesellschaft vorfindbare Interessen rekurriert werde.48 Im Rahmen ihres groß angelegten Vergleichs des englischen und des USamerikanischen Rechts stellten Patrick Atiyah und Robert Summers ebenfalls eine Unterscheidung in den Mittelpunkt, die eine gewisse Nähe zu den Weber’schen Idealtypen der formellen und der materiellen Rationalität aufweist. Die beiden Rechte ähnelten sich nur oberflächlich und unterschieden sich insofern stark, als ihnen zwei entgegengesetzte „visions of law“ – damit sind unbewusste rechtstheoretische Überzeugungen gemeint – zugrunde lägen. 49 Das US-amerikanische Rechtsdenken sei tendenziell eher „substantive“, insofern als moralischen, politischen oder ökonomischen Erwägungen im Prozess der Rechtsfindung ein erhebliches Gewicht zukomme. Im englischen Rechtssystem ließen sich dagegen sämtliche Merkmale einer „formal vision of law“ nachweisen, weil Entscheidungen allein auf das tatsächlich geltende Recht gestützt würden und andere Gesichtspunkte, die bei der Lösung eines Falles zum Tragen kommen könnten, aus dem juristischen Diskurs ausgeschlossen seien. Der Formalismus des englischen Rechts zeige sich beispielsweise in der großen Wertschätzung für Rechtsnormen: Gesetzesrecht werde ganz überwiegend im Einklang mit dem Wortlaut interpretiert und die Entscheidungsregeln des Fallrechts würden relativ strikt befolgt. Insgesamt sei die Rechtsanwendung deshalb unparteiischer und vorhersehbarer als in den USA. 50 Patrick Atiyah erblickte in dem Formalismus des englischen Rechts jedoch keineswegs einen Garanten für Rationalität. Im Gegenteil verhindere der verbreitete sklavische Gehorsam gegenüber alten Präjudizien (beziehungsweise die Möglichkeit, im Wege des distinguishing willkürlich von unliebsamen Vorentscheidungen abzuweichen) eine offene Auseinandersetzung mit der Frage, ob eine überlieferte Regel einen vernünftigen Zweck verfolge.51 Die konsistenzstiftende Wirkung einer authority werde mit einem Verlust an reason erkauft.52 Gleichzeitig führe der für das englische Rechtsdenken typische Pragmatismus nicht nur zu ad-hoc-Dezisionen, deren Auswirkungen auf künftige Fallgestaltungen nicht bedacht würden;53 er bedinge auch, dass englische Richter und Rechtslehrer geradezu eine Aversion gegenüber juristiRheinstein, Introduction, S. liv. Atiyah / Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, S. 1. Zu dem Begriff der „vision of law“ siehe a. a. O., S. 411. 50 Atiyah / Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, S. 409 ff. 51 Atiyah, Pragmatism and Theory in English Law, S. 98. 52 Atiyah, Pragmatism and Theory in English Law, S. 94. 53 Atiyah, Pragmatism and Theory in English Law, S. 102. 48 49

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Einleitung

scher Theoriebildung hegten.54 Wenn Entscheidungen überhaupt auf eine begrifflich-theoretische Grundlage gestellt würden, so setzten sich viele Richter mit diesen nur halbherzig auseinander oder klammerten sich an schwache, pseudo-logische Konstruktionen.55 Deshalb versänken englische Richter immer wieder in tiefstem Begriffsmorast. Es sind also Defizite in der juristischen Begründung, die Atiyah dafür verantwortlich macht, dass das englische Recht oft den Eindruck äußerster Irrationalität hinterlasse.56 Lawsons Untersuchung der methodischen Qualitäten des englischen Rechts anhand der Analyse zentraler Rechtsgebiete ist ein Einzelfall geblieben. Im Gegensatz zu Weber war ihm jedoch weniger daran gelegen, das Vorkommen bestimmter gedanklicher Operationen in der Jurisprudenz zu analysieren. Sein Begriff der Rationalität steht dem der Effizienz nahe, und seine Botschaft lautet, dass das moderne englische Recht sich in dieser Hinsicht durchaus mit den wichtigen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen messen könne. Die von Rheinstein in ihrer Bedeutung relativierte sowie von Atiyah und Summers wieder aufgenommene Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Rechtsdenken erfasst dagegen eine wichtige Dimension juristischer Methode, wenngleich nicht diejenige, die sich für die Beschreibung der Differenz zwischen englischem und kontinentalem Rechtsdenken als tauglich erweist. Denn die Präferenz eines Rechtssystems entweder für begriffliche oder für interessenbezogene Argumente verdeutlicht nur, bis zu welchem Punkt ein Abdriften in sachbezogene Erörterungen erlaubt ist, beziehungsweise wann die in den Begriffen geronnenen und gegebenenfalls verdeckten Interessenbewertungen zur juristischen Begründung genügen müssen.57 Zwar ist die Einordnung einer Rechtsordnung auf einer Skala von Selbstbezug zu Fremdbezug, oder wahlweise von einem positivistischen zu einem nichtpositivistischen Rechtsbegriff, von hohem Interesse für die Methodenvergleichung.58 Mit ihr allein lässt sich die Andersartigkeit der juristischen Arbeitsweise in England indes nicht erfassen. Das gilt schon insoweit, als auch auf dem europäischen Festland keine ungebrochene Entwicklung hin zu begrifflich-konstruktiver Systematik feststellbar ist, sondern es seit der Begründung der europäischen Rechtstradition immer wieder gegenläufige Tendenzen gegeben hat, welche die Rechtswissenschaft zu einer stärkeren Berücksichtigung wirtschaftlicher oder sozialer Bedürfnisse gedrängt haben. Insofern Atiyah, Pragmatism and Theory in English Law, S. 4. Atiyah, Pragmatism and Theory in English Law, S. 100 f. 56 Atiyah, Pragmatism and Theory in English Law, S. 99. 57 Vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 393 ff. 58 So geht etwa Schröder, Recht als Wissenschaft, davon aus, die Entwicklung der juristischen Methode habe in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Rechtsbegriffs gestanden, und beginnt deshalb die Darstellung einer jeden methodengeschichtlichen Epoche mit einem Abschnitt über die Rechtsquellenlehre. 54 55

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ließe sich die europäische Rechtsgeschichte als ein ständiges Abwechseln mehr begriffsbezogener und mehr zweckorientierter Phasen deuten.59 Darüber hinaus ist die Dichotomie in ihrer Aussagefähigkeit auch deshalb beschränkt, weil sie nur die Herkunft zulässiger Argumente ins Visier nimmt und nicht deren spezifische Form. Auch wenn man die These von Atiyah und Summers, das englische Recht zeichne sich durch eine „formal vision of law“ aus, akzeptiert, so bleibt doch die Frage: In welcher Weise unterscheidet sich diese von der „formalen Rationalität“ des kontinentaleuropäischen Rechts?

2. Die rechtsvergleichende Orthodoxie: common law und civil law als Methodendualismus 2. Die rechtsvergleichende Orthodoxie

Die Andersartigkeit der beiden großen „westlichen“ Rechtstraditionen der Welt, des auf den Fundamenten des römischen Rechts ruhenden civil law Kontinentaleuropas, Südamerikas und Ostasiens sowie des eigenständig auf englischem Boden gewachsenen und von dort in die ehemaligen Kolonien des britischen Weltreiches verbreiteten common law, bildete die wichtigste Herausforderung für die Rechtsvergleichung des 20. Jahrhunderts.60 Auf dem Pariser Rechtsvergleichungskongress von 1900 wurde sogar noch in Zweifel gezogen, ob sich die beiden Systeme überhaupt sinnvoll miteinander vergleichen lassen, weil sie nicht auf gleicher Entwicklungsstufe stünden.61 Auch wenn sich diese Differenz in den zeitgenössischen Bemühungen um eine Vereinheitlichung des Rechts in Europa und der Welt erneut aktualisiert, ist eine Annäherung der beiden Rechtskreise heute kaum mehr zu übersehen. Die Vertreter der sogenannten Konvergenzthese62 finden ihre eindrucksvollsten Belege in der jüngeren Rechtsentwicklung Englands und Deutschlands. So lässt sich im Mutterland des common law seit geraumer Zeit ein enormes Anwachsen des Gesetzesrechts feststellen; gleichzeitig haben sich dort die Richter von der streng am Wortlaut haftenden Interpretationsweise gelöst und beziehen nun parlamentarische Materialien oder Zweckerwägungen in die Vgl. H. Kantorowicz, Die Epochen der Rechtswissenschaft, S. 1 ff. Martinek, Wissenschaftsgeschichte der Rechtsvergleichung und des Internationalen Privatrechts in der Bundesrepublik Deutschland, S. 560. 61 Siehe die Nachweise bei Michaels, Im Westen nichts Neues?, S. 101 f. 62 Zum Folgenden siehe Reimann, Die Erosion der klassischen Formen, S. 209; vgl. daneben auch Glenn, La civilisation de la common law, S. 567. Markesinis, Learning from Europe and Learning in Europe, S. 20 ff., geht zumindest von einer zunehmenden Europäisierung des englischen Rechts aus. Die Wandlungen der Gesetzesinterpretation in England beschreibt eingehend Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, S. 963 ff.; zur Abschwächung der Präjudizienbindung siehe dens., Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, S. 74 f. Den Aufstieg der englischen Rechtswissenschaft stellt Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 64 ff., ausführlich dar. 59 60

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Auslegung mit ein. Überdies ist auch die starre Bindung der Gerichte an die eigenen Vorentscheidungen allmählich erodiert und die Anwendung von Präjudizien wird wesentlich flexibler gehandhabt. Demgegenüber hat in Deutschland das Fallrecht stark an Bedeutung gewonnen; insbesondere ist heute die richterliche Befugnis zur Rechtsfortbildung anerkannt, ebenso eine de factoBindung an höchstinstanzliche Entscheidungen. Dem Kompetenzzuwachs der deutschen Richterschaft entspricht wiederum ein größerer Einfluss der englischen Rechtslehrer, der sich in einer Zunahme von Literaturzitaten in Urteilen sowie in der größeren Verbreitung eines juristischen Studiums vor Beginn der praktischen Ausbildung zu den Anwaltsberufen zeigt. Das englische Recht hat sich in jüngster Zeit auch dadurch deutschen Verhältnissen angenähert, dass es möglich geworden ist, Fallrecht, Parlamentsgesetze und Verwaltungsentscheidungen am Maßstab positivierter Menschenrechte zu überprüfen. Schließlich wurden beide Rechtsordnungen in tiefgreifender Weise vom Recht der Europäischen Union beeinflusst, weswegen es zu Transplantationen von Rechtsinstituten kam, die der aufnehmenden Rechtsordnung vormals wesensfremd waren, 63 und weshalb die – zumindest oberflächliche – Inhaltsgleichheit ganzer Teilrechtsgebiete heute keine Seltenheit mehr ist. Soweit angesichts dieses Befundes überhaupt noch an der Unterscheidung von civil law und common law festgehalten werden kann64 und diese nicht lediglich mit der inhaltlichen Abweichung einzelner Regelungen voneinander begründet werden soll, bleibt nur die Zuspitzung der ursprünglichen Serie von Dichotomien (Fallrecht versus Gesetzesrecht; „seamless web“65 hier, kodifikatorische Einschnitte dort) auf einen Dualismus des Rechtsdenkens. Dies wird am Beispiel der nach wie vor einflussreichen66 „Einführung in die Rechtsvergleichung“ von Konrad Zweigert und Hein Kötz deutlich. Ihre Verfasser verteidigen die Einteilung der Rechte der Welt in verschiedene Kreise oder Stile und schlagen dafür gewisse „Stilelement[e]“67 vor, zu denen sie neben der geschichtlichen Entwicklung und gewissen idiosynkratischen 63 Man denke beispielsweise an die Inkorporation des römischrechtlichen Prinzips der bona fides in den englischen Unfair Contract Terms Act. 64 Gordley, Common law und civil law: Eine überholte Unterscheidung, S. 498, findet es „ganz und gar falsch“, heute noch von einem fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Systemen zu sprechen. Er begründet dies damit, dass das common law im 19. Jahrhundert vollkommen umorganisiert worden sei und dabei kontinentaleuropäische dogmatische Kategorien wie Vertrag und Delikt die alten Einteilungen nach den forms of action verdrängt hätten. Die dabei noch verbliebenen Strukturunterschiede seien im 20. Jahrhundert nach und nach abgeschafft worden. Seine Beispiele beziehen sich jedoch – abgesehen vom Vertragsrecht und Deliktsrecht des 19. Jahrhunderts – überwiegend auf das USamerikanische Recht. 65 Maitland, A Prologue to a History of English Law, S. 13. 66 Legrand, Paradoxically, Derrida, S. 632, spricht dem Werk eine „authoritatively dominant position within the field“ zu. 67 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 69.

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Rechtsfiguren insbesondere die juristische Denkweise zählen.68 Als Beispiel führen Kötz und Zweigert die Opposition zwischen dem abstrakten Denken in Institutionen auf dem europäischen Festland sowie dem konkreten, lebenszugewandten Problemlösungsdenken auf den britischen Inseln an. Während sich die eine Technik durch begriffliche Zergliederung auszeichne, gehe es bei der anderen um das Distinguieren von Fallgruppen; Systemfreudigkeit und die lange Zeit herrschende Vorstellung von der Lückenlosigkeit des Rechtssystems stünden einem vorsichtigen Tasten von Entscheidung zu Entscheidung und einer „tiefe[n] Skepsis gegen jede dürre Generalisierung“69 gegenüber.70 Als Erklärung für die unterschiedlichen Denkhaltungen bieten Zweigert und Kötz zunächst amüsante Beobachtungen zum Nationalcharakter an: Der kontinentale Mensch neige zur Planung und wolle alles im Voraus regeln; der Engländer sei dagegen improvisatorisch veranlagt und ringe sich erst dann zu einer Entscheidung durch, wenn das Leben dies von ihm verlange.71 Später knüpfen sie an Webers Rechtshonoratiorenthese an, die besagt, dass diejenige soziale Gruppe, welche die Führungsrolle in der Rechtsentwicklung übernehmen konnte und die das Monopol für die juristische Ausbildung innehat, eine spezifische Denkweise hervorbringt und damit dem Rechtssystem insgesamt ihren Stempel aufdrückt. Weber unterschied idealtypisch zwischen einer empirisch-handwerklichen Behandlung des Rechts durch Rechtspraktiker sowie einer theoretisch-wissenschaftlichen Bearbeitung durch Rechtslehrer.72 Dies deckt sich insofern mit dem von Zweigert und Kötz postulierten Methodendualismus, als auf dem europäischen Festland für die juristische Ausbildung stets das Universitätsstudium von zentraler Bedeutung gewesen sei und diese daher „immer einen mehr oder weniger praxisfremden und theoretischen Charakter gehabt“ habe.73 Die englische Juristenelite habe sich dagegen von Alters her aus Richtern und Anwälten zusammengesetzt, weshalb der englische Jurist seine Rechtskenntnisse bis ins 19. Jahrhundert hinein ausschließlich durch die Teilnahme an Gerichtssitzungen und durch Probeauftritte in fingierten Verhandlungen an den Inns of Court erwoben habe.74 Kötz und Zweigert warnen allerdings davor, den Methodendualismus zu einem unüberbrückbaren Gegensatz zu überhöhen; in Rede stünden vielmehr bloße „Neigungen und Tendenzen“.75 Dennoch verdichten sich diese ihrer Ansicht nach zu einem Stilmerkmal, das zur Einteilung der Welt in Rechts-

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Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 67. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 69. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 68 f., 177, 252 f. und 263 ff. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 69. M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 476 ff. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 188. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 188 ff. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 253.

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kreise wesentlich tauglicher erscheint als die Dominanz einer bestimmten Rechtsquelle: „Wichtiger [als die Bedeutung des kodifizierten Gesetzesrechts] ist die Frage, wie und von wem der juristische Stoff geordnet und kritisch analysiert, seine wesentlichen Grundgedanken ans Licht gehoben, Widersprüche aufgedeckt und Vorschläge zur Fortbildung des Rechts entwickelt werden“76

– womit eine Umschreibung dessen gegeben ist, was in Deutschland als „Rechtsdogmatik“ bezeichnet wird. Die komparatistische Antwort auf diese Frage fiel für England bislang ambivalent aus: Im Hinblick auf die Herausarbeitung der „wesentlichen Grundgedanken“ des Rechts, also die Bildung allgemeiner Rechtsprinzipien, gestand man den Juristen des common law schon immer eine gewisse Überlegenheit zu. Spätestens seit Josef Essers gedankenreicher, wenngleich manchmal etwas schwer verständlicher77 Studie „Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts“78 erhofften sich manche deutschen Juristen von der englischen beziehungsweise US-amerikanischen79 Methode der Prinzipienermittlung sogar Impulse für die Erneuerung ihrer heimischen Dogmatik. Dabei nahmen sie nicht selten die Behauptung englischer Richter für bare Münze, wonach die Rechtsprinzipien bereits unabhängig von ihrer Anwendung existierten und von den Richtern entweder im Wege eines Induktionsschlusses erkannt werden müssten80 oder sich in einer Kette von Entscheidungen als „durchlaufende Sachgesetzlichkeiten“81 fragmentarisch abzeichneten. Ein auf diese Weise gefundenes Rechtsprinzip könne zur Entscheidung neuer Fälle verwendet werden, wobei dadurch seine Geltung noch einmal verstärkt werde.82 Zusätzlich zögen englische Richter allgemeine Rechtsgrundsätze zur systematischen Auslegung von Gesetzen und zum Judizieren contra legem heran.83 Andererseits ist gerade in der besonders sorgfältigen, auch gegenläufige Präjudizien eingehend berücksichtigenden Prinzipienermittlung ein Beleg für die Skepsis englischer Juristen gegenüber vorschnellen Generalisierungen Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 264. Köndgen, Josef Esser – Grenzgänger zwischen Dogmatik und Methodologie, S. 113. 78 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts. 79 Essers Beschreibung bezog sich ganz überwiegend auf das US-amerikanische Recht; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band II, S. 83, war sogar der Auffassung, im Gegensatz zur US-amerikanischen komme die englische Rechtsordnung ohne Rechtsprinzipien aus. Ausführlich analysiert hat das Prinzipiendenken englischer Gerichte und Rechtslehrer dagegen Metzger, Extra legem, intra ius, S. 193 ff. 80 Metzger, Extra legem, intra ius, S. 201 ff. 81 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 284. 82 Metzger, Extra legem, intra ius, S. 207. 83 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, S. 976; Metzger, Extra legem, intra ius, S. 208 ff. und S. 214 ff. 76 77

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und damit letztlich eine dogmatikfeindliche Tendenz gesehen worden.84 Es dürfe angesichts der manchmal überraschend weitreichenden Grundsätze nicht vergessen werden, dass auch derartige Verallgemeinerungen einzelnen Fällen entlehnt seien und deshalb eine größere Tatsachennähe aufwiesen als die meisten Gesetzesvorschriften kontinentaler Rechtsordnungen.85 Was freilich die Ordnung des juristischen Wissens und die Vermeidung von Widersprüchen im Recht angeht, so nahmen sich die Ansätze zu einem Begriffs- und Systemdenken in vergleichender Perspektive äußerst bescheiden aus. Dieses Defizit führten Rechtsvergleicher auf den forensischen Ursprung des common law sowie das späte Auftreten der englischen Rechtswissenschaft zurück. Die Begriffe des englischen Rechts seien im Gerichtsverfahren entstanden; in diesem ginge es naturgemäß darum, die eng umgrenzten Probleme des jeweiligen Rechtsstreits zu lösen.86 Deswegen könne der Richter es sich erlauben, auf trennscharfe Definitionen zu verzichten und sich mit partiellen Bestimmungen des Begriffsumfanges zu begnügen, solange die augenblickliche Rechtsfrage beantwortet werden könne.87 Dies habe außerdem dazu geführt, dass englische Rechtsbegriffe nur einen wesentlich geringeren Abstraktionsgrad erlangt hätten und allgemeine Oberbegriffe geradezu als nutzlos angesehen würden.88 Da die Rechtsstreitigkeiten nicht nach einem methodischen Plan vor die Gerichte gebracht würden, fiele es Richtern auch schwerer, die von ihnen verwendeten Begriffe zueinander in logische Relationen zu setzen; stattdessen stünden oft Begriffe unterschiedlicher Abstraktionshöhe nebeneinander.89 Deshalb sei auch nie eine bessere Möglichkeit gefunden worden, die Begriffe des common law zu ordnen, als das Alphabet.90 Erst recht hätten sich die englischen Juristen – trotz ihres ausgefeilten Prinzipiendenkens – nie bemüht, die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu einem „inneren System“ zusammenzufügen.91 Hein Kötz behauptete nicht nur, der englische Richter verliere das Interesse an systematischen Fragen, sobald seine praktische Aufgabe gelöst sei; nach 84 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 263; Metzger, Extra legem, intra ius, S. 201 f., 218 und 220. 85 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band II, S. 463, wiederum zum US-amerikanischen Recht. 86 Zajtay, Begriff, System und Präjudiz in den kontinentalen Rechten und im Common Law, S. 109. 87 Lawson, The Rational Strength of English Law, S. 66. 88 Weir, The Common Law System, 2-84 (S. 78); Zajtay, Begriff, System und Präjudiz in den kontinentalen Rechten und im Common Law, S. 111. 89 Zajtay, Begriff, System und Präjudiz in den kontinentalen Rechten und im Common Law, S. 109; Weir, The Common Law System, 2-84 (S. 78). 90 Rudden, Torticles, S. 110 („The truth is […] that the alphabet is virtually the only instrument of intellectual order of which the common law makes use“). 91 Metzger, Extra legem, intra ius, S. 218.

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seiner Ansicht enthält sich der englische Jurist darüber hinaus schon jeglicher systematischer Spekulation, solange nicht der Ernstfall eines Rechtsstreits eingetreten sei.92 Dies mache ihn „in hohem Maße tolerant gegenüber einem Defizit an Ordnung und System“.93 Tony Weir, dessen Artikel „The Common Law System“ in der „International Encyclopedia of Comparative Law“ darauf hinauslief, dass der Engländer eine systematische Ordnung des Rechts gar nicht anstrebe, argumentierte, aus der Teilnehmerperspektive des englischen Praktikers seien begriffliche Einteilungen eher hinderlich. Das Fehlen eines Systems müsse nicht notwendig effizienzmindernd sein: „A grimy and patched machine may operate very well, chaotic kitchens can produce good food, and if the index to a book is complete and accurate, it may not matter that the table of contents discloses profound disorder.“94

Bis in die jüngste Zeit ging die Rechtsvergleichung davon aus, dass englische Universitätsjuristen allenfalls einzelne Urteile kritisieren, sich jedoch Vorschlägen zur Weiterentwicklung des Rechts größtenteils enthalten. Die Jurisprudenz, behauptete Stefan Vogenauer, beziehe ihre Legitimation in erster Linie aus der Lehre und huldige einem positivistischen Rechtsbegriff. Solange ein Problem nicht Gegenstand eines konkreten Rechtsstreits geworden und von den Gerichten autoritativ gelöst worden sei, bliebe englischen Universitätsjuristen nichts anderes übrig als abzuwarten.95 Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade diejenigen deutschen Rechtswissenschaftler sich der Methode des common law zuwendeten, die in einem kritischen Verhältnis zur traditionellen Zivilrechtsdogmatik standen und eher zu einem offenen Problemdenken tendierten. So konstatierte beispielsweise Esser in seinem Vortrag über „Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht“96 die „Misere einer überdogmatisierten Praxis, die ihre eigenen Regeln nicht einzuhalten bereit ist“. 97 Die Präjudizientechnik zog er als Beweis dafür heran, dass ein Recht auf „Systemdoktrinen“ durchaus verzichten könne, ohne einen Verlust an Stabilität und Kontrollmöglichkeiten zu erleiden.98 Kötz sympathisierte ebenfalls offen mit dem angeblichen englischen Methodenpragmatismus und erhob das Sprichwort „We will cross the

Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, S. 80. Kötz, ebd. 94 Weir, The Common Law System, 2-82 (S. 77). 95 Vogenauer, Vorsprung durch Technik, S. 500 und 503 f. 96 Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, S. 97. 97 Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, S. 120. 98 Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, S. 115 und 124. 92 93

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bridge when we come to it“99 beinahe zu seinem Lebensmotto. Auch wenn er die Ordnungsleistung der Rechtsdogmatik und den daraus erwachsenden didaktischen Nutzen durchaus anerkannte, 100 sah er die deutsche Rechtswissenschaft in ständiger Gefahr, in eine spitzfindige Technik oder ein gelehrtes Glasperlenspiel zu entarten.101 Andererseits finden Weirs pointierte komparatistische Ausführungen ihre methodologische Entsprechung in seiner selbst für englische Verhältnisse extremen Skepsis gegenüber der Möglichkeit, das Fallrecht zu ordnen. Wie tendenziös seine Sicht der Dinge ist, mag man vielleicht daran ablesen, dass er in einem langen akademischen Leben neben einem casebook und einem Kurzlehrbuch zum Deliktsrecht, das vollständig auf Systematisierungsversuche verzichtet, ganz überwiegend case notes publiziert hat, die für ihre sarkastischen Bemerkungen bekannt wurden. Jedenfalls zeichnen sich all diese Beschreibungen des englischen Rechtsdenkens durch eine merkwürdige Inkongruenz aus: Sie wollen die fremde Methodik am Maßstab des deutschen Verständnisses von Rechtsdogmatik messen, richten ihren Blick aber fast ausschließlich auf das Verfahren der richterlichen Fallentscheidung. Obwohl auch deutsche Juristen in Bezug auf ihr eigenes Recht dogmatische Erkenntnisse und Vorschläge nicht in erster Linie von der Rechtsprechung, sondern von der Rechtswissenschaft erwarten würden, befanden Rechtsvergleicher die englische Rechtswissenschaft offenbar einer näheren Betrachtung nicht für würdig. Es genügte die Erklärung, der Unterricht im englischen Recht sei ein verhältnismäßig junges Phänomen und die englischen Rechtslehrer würden auch innerhalb Englands kaum wahrgenommen.102 So konnte man sich darauf zurückziehen, den undogmatischen Charakter des englischen Rechtsdenkens mit dem so geläufigen wie eingängigen Topos zu erklären, das englische Recht sei eine Dezisionensammlung, die kein System erzeuge. Erst in den letzten Jahren hat sich die Rechtsvergleichung der englischen Wissenschaftsgeschichte angenommen und dabei Gemeinsamkeiten des insularen Rechtsdenkens mit der dogmatischen Tradition des Kontinents festgestellt. Reinhard Zimmermann hat in seinem Eröffnungsaufsatz für die Zeitschrift für Europäisches Privatrecht – ebenfalls durchaus programmatisch betitelt mit „Der europäische Charakter des englischen Rechts“ – die VorstelZweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 69. Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, S. 78 f. 101 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 21; an anderer Stelle, a. a. O., S. 44, sprechen Zweigert und Kötz von einem „hochgezüchteten Lehr- und Dogmengebäude“; siehe auch ihr Urteil über die Dogmatik des gemeinen Rechts, a. a. O., S. 140: „spitzfindige Scholastik und juristisches Glasperlenspiel“. Diese Bewertung wiederholt sich in dem ironisch distanzierten Titel der Aufsatzsammlung Kötz, Undogmatisches. 102 Lawson, The Rational Strength of English Law, S. 27; Weir, The Common Law System, 2-83 (S. 77). 99

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lung von der fundamentalen Andersartigkeit des englischen Rechts attackiert, indem er zahlreiche historische Verbindungslinien zwischen englischer und europäischer Rechtsentwicklung nachzeichnete. Beispielsweise sei das anglonormannische Recht schon sehr früh mit der in Oberitalien aufblühenden Rechtsgelehrsamkeit in Berührung gekommen. So sei bereits bei Bracton eine Orientierung an den Begriffen und der systematischen Ordnung des römischen Rechts nachweisbar. Bracton habe mit seiner Rechtsaufzeichnung eine systematische Tradition begründet, die darauf abzielte, „das common law intellektuell beherrschbar zu machen und als in sich kohärentes Ganzes auszuweisen“.103 In dieser Tradition sei ihm Matthew Hale nachgefolgt, der sich darum bemüht habe, das englische Recht nach dem Vorbild des gemeinen Rechts in seinem Gesamtzusammenhang zu skizzieren.104 Schließlich habe William Blackstone mit seinen „Commentaries“ ein englisches Äquivalent zu den Institutionenlehrbüchern des Usus modernus pandectarum geschaffen und zur Einteilung des Rechtsstoffs auf das Gaius-Schema zurückgegriffen.105 Weil England in ständigem Kontakt mit den Ideen und Konzepten, aber auch den philosophischen Grundlagen der kontinentalen Rechtslehre gestanden habe,106 vergleicht Zimmermann das englische Recht mit einem „eher entlegenen Seitenarm im Strom des europäischen Gemeinrechts“.107 Hervorzuheben sind auch die Arbeiten von Alexandra Braun108 über das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung in England. Sie weist auf das in den letzten dreißig Jahren stark gestiegene Ansehen der Rechtswissenschaft sowie auf die veränderte Einstellung akademischer Juristen zur Richterschaft hin. Braun sieht Anzeichen dafür, dass sich der berufliche Schwerpunkt englischer Universitätsjuristen immer mehr von der Lehre zur Forschung verschiebt109 und führt an, dass in diesem Zusammenhang die Rationalisierung des case law, die Definition von Begriffen und die Erfindung neuer doctrines eine wesentliche Rolle spielen.110 Die Rechtslehrer scheuten sich inzwischen auch nicht mehr, deutliche Kritik an der Rechtsprechung zu üben.111 Ihre Analyse der jüngeren Entwicklung des law of restitution liefert ein Beispiel für ein Gebiet, in dem die systematische Analyse des alten Fallrechts neue Prinzipien, Begriffe und Einteilungen hervorbrachte, die Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts, S. 16. Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts, S. 15 f. 105 Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts, S. 17 ff. 106 Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts, S. 8 f. 107 Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts, S. 21. 108 Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese; dies., Judges and Academics, S. 227 ff. 109 Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 199 ff. 110 Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 375 ff. und 379 ff.; dies., Professors and Judges in Italy, S. 667. 111 Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 220 ff., insb. S. 225 f. 103 104

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später Eingang in die Rechtsprechung fanden.112 Weil Professoren sich mit ihren Aufsätzen und Lehrbüchern verstärkt an die Praxis wendeten und Richter in ihren Urteilen zunehmend wissenschaftliche Literatur zitierten, könne man heute – so wie traditionell für Deutschland oder Italien – von einem Dialog sprechen.113 Zeichnet sich also zu guter Letzt auch eine Konvergenz der juristischen Denkstile ab? Offenbar scheinen selbst Zweigert und Kötz dieser Auffassung zu sein, denn die zunächst deutlich auf die Betonung von Unterschieden bedachten Ausführungen in ihrem methodenvergleichenden Kapitel aus der „Einführung in die Rechtsvergleichung“ schließen sie mit der Bemerkung, in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen setze sich zunehmend ein undogmatisches, problemorientiertes Denken durch, während sich gleichzeitig im common law das Bedürfnis melde, „das gewachsene richterliche Regelrecht durch […] wissenschaftliche Analyse in eine systematische Ordnung zu bringen, um es dadurch beherrschbarer und übersichtlicher zu machen“. Die beiden Rechtsvergleicher sehen daher einigen „Grund zu der Annahme, daß von entgegengesetzen Ausgangspunkten her Common Law und Civil Law auch in ihren juristischen Methoden und Techniken allmählich näher zusammenwachsen werden“.114 Der solchermaßen gestärkten Konvergenzthese setzt Pierre Legrand seit zwei Jahrzehnten unermüdlich seine Auffassung von der vollkommenen Andersartigkeit des common law entgegen. Er ist davon überzeugt, dass eine Annäherung der beiden Systeme allenfalls an der Oberfläche wahrgenommen werden könne, während tiefere Schichten der Rechtskultur, die er mit Wörtern wie „mentalité“,115 „epistemological framework“116 oder „legal sensibility“117 bezeichnet, unüberbrückbare Differenzen aufwiesen. Auch für ihn sind Unterschiede in der juristischen Denkweise maßgeblich.118 Das französische Recht sei gekennzeichnet durch eine alles überstrahlende Wertschätzung für Klarheit und Stabilität, Ordnung und Kohärenz. Damit verbinde sich ein Verständnis des Rechts als einer Wissenschaft, der es darum gehe, die farbige Welt auf das rechtlich Relevante zu reduzieren und Irregularitäten mit Hilfe von Begriffen Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 395 ff. Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 314 ff. und 357 ff.; Braun, Judges and Academics, S. 239 ff. 114 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 265. 115 Legrand, Comparative Legal Studies and the Matter of Authenticity, S. 376 und 381; ders., The Same and the Different, S. 276; ders., Antivonbar, S. 31. 116 Legrand, Alterity: About Rules, for Example, S. 31. 117 Legrand, Alterity: About Rules, for Example, S. 21. 118 Legrand, Paradoxically, Derrida, S. 707 („[…] there is an urgent need to understand how foreign legal communities think about the law, why they think about the law as they do, why they would find it difficult to think about the law in any other way, and how their thought differs from ours“). 112 113

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und Schemata zu unterdrücken. In ihrer Marginalisierung von Tatsachen und ihrem Drang zur Abstraktion nähere sie sich der Mathematik an.119 Dagegen zeichnet sich das englische Recht nach Legrands Auffassung gerade durch eine Dominanz des Tatsächlichen aus. Der englische Jurist denke bei einem Fall zuerst an den individuellen Sachverhalt und nicht an allgemeinere Rechtsfragen, die durch ihn möglicherweise aufgeworfen werden. Die Entscheidung eines Rechtsstreits sei so sehr mit den Fakten verwoben, dass sie keine Geltung über diesen hinaus beanspruche. Deshalb könnten weder ein einzelnes Urteil noch eine Urteilskette eine abstrakt-generelle Rechtsregel erzeugen.120 Das englische Recht operiere demnach nur mit singulären, tatsachenbezogenen Begründungen, sei also „idiographisch“, ganz im Gegensatz zum „nomothetischen“ Recht des Kontinents.121 Weitere Konsequenzen dieser ausschließlich empirischen Wahrnehmung der Welt seien die Skepsis gegenüber der Idee subjektiver Rechte sowie die Präferenz für eine Deutung des Rechts als einer Sammlung von Rechtsbehelfen, schließlich ein geschärftes Bewusstsein für die Geschichtlichkeit des Rechts, die seine Systematisierung geradezu verbiete.122 Legrand will folglich auch nicht von einer englischen Rechtswissenschaft sprechen, sondern von einer Nicht-Wissenschaft, einer „ascience juridique“.123 Gerade weil die Einwände gegen Legrands „epistemisches Panorama“124 auf der Hand zu liegen scheinen, muss man sich fragen, ob nicht mehr dahinter steckt als bloße Spinnereien.125 Selbstverständlich wäre die Bindungswirkung von Präjudizien sinnlos, wenn diese nicht Rechtsnormen als Entscheidungsgründe enthielten, die einen einzigen Anwendungsfall transzendieren können; die Rede englischer Juristen von der „rule“ in dieser und den „prin-

Legrand, Perspectives du dehors sur le civilisme français, S. 176 ff. Legrand, Alterity: About Rules, for Example, S. 27 ff.; vgl. auch Legrand, European Legal Systems are not Converging, S. 67 f. 121 Legrand, Antivonbar, S. 30. Diese Wortwahl geht offenbar auf die Wissenschaftsphilosophie des südwestdeutschen Neukantianismus zurück, welche den Naturwissenschaften die Aufgabe zuwies, Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, wohingegen die Geschichtsschreibung das Einmalige und Besondere darstellen sollte; siehe Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 55. 122 Legrand, European Legal Systems are not Converging, S. 65 ff. und 70 f.; Legrand /  Samuel, Brèves épistémologiques sur le droit anglais tel qu’en lui même, S. 43. 123 Legrand / Samuel, Brèves épistémologiques sur le droit anglais tel qu’en lui même, S. 24. 124 Legrand / Samuel, Introduction au common law, S. 59 („Panorama épistémologique“). 125 In Fn. 161 des für seine Verworrenheit und seine aberwitzigen Unterstellungen berüchtigten Aufsatzes Legrand, Paradoxically, Derrida, S. 611, erklärt sich Legrand selbst für verrückt („‚Je ne suis pas fou tout seul‘“). 119 120

2. Die rechtsvergleichende Orthodoxie

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ciples“ in jener Entscheidung wäre eine grandiose Selbsttäuschung.126 Ein böswilliger Leser könnte sogar vermuten, dass der franko-kanadische Rechtsvergleicher sich zu solchen Überzeichnungen hinreißen lässt, weil er sich die Rettung einer bedrohten Rechtskultur vor den Gleichsetzungs- und Vereinheitlichungsambitionen der etablierten Rechtsvergleichung auf die Fahnen geschrieben hat.127 Dass er die Suche nach Unterschieden zum einzig sinnvollen komparatistischen Programm erhebt128 und die von ihm postulierten Differenzen als „irreducible“129 hinstellt, ist daher genauso tendenziös wie seine Bestrebungen, die eigenen methodologischen Überzeugungen durch selektive rechtsvergleichende Beobachtungen zu legitimieren. Schließlich lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die von ihm entworfenen Rechtsmentalitäten an Holzschnittartigkeit kaum zu überbieten sind und seine Erklärungsangebote für die Verschiedenheit des englischen Rechtsdenkens – nicht anders als diejenigen der etablierten Rechtsvergleichung – wiederum an die angebliche Zentralität der richterlichen Einzelfallentscheidung anknüpfen. Dennoch könnte es sich als wesentlich fruchtbarer erweisen, nach den methodologischen Ausprägungen einer besonderen englischen Rechtsmentalität zu fragen, als das heimatliche Paradigma der Rechtsdogmatik oder gar das Modell eines Dialoges zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung in England wiederfinden zu wollen. Denn die letztgenannte Option lässt nur zwei diametrale Forschungsergebnisse zu: Die euphorisierende Bestätigung, dass die Engländer letztlich genauso denken wie die restliche Gemeinschaft der europäischen Juristen, oder die ernüchternde, ja herabwürdigende Feststellung, das englische Recht sei dogmatisch rückständig. Insofern sollten zumindest Legrands ethische Anforderungen130 an gute Rechtsvergleichung selbstverständlich sein: nicht den Versuch zu scheuen, ein tieferes Verständnis für das fremde Recht zu gewinnen und sich auf seine Andersartigkeit tatsächlich einzulassen sowie Respekt zu zeigen gegenüber einer fremden Kultur, indem 126 Tatsächlich kanzelt Legrand, Alterity: About Rules, for Example, S. 23 f., den etablierten Sprachgebrauch als unmaßgeblich ab. Dies steht im Widerspruch zu seinen sonstigen Einlassungen, das fremde Recht für sich selbst sprechen lassen zu wollen; siehe zum Beispiel Legrand, Comparative Legal Studies and the Matter of Authenticity, S. 445. An anderer Stelle geht der Autor jedoch davon aus, das fremde Recht ließe sich nur in der Sprache des Vergleichers erfassen, vgl. Legrand, Comparing in Circles, S. 5. 127 Siehe die Aufrufe zum Rechtskulturschutz von Legrand, Against a European Civil Code, S. 44, oder dems., Antivonbar. 128 Legrand, The Impossibility of Legal ‘Transplants’; ders., The Same and the Different, S. 271 f.; ders., Comparative Legal Studies and the Matter of Authenticity, S. 453. 129 Legrand, European Legal Systems are not Converging, S. 64 („I argue that the common law mentalité, specifically as it is expressed in England, is irreducibly different from the civil law’s […]“). 130 Legrand versteht seine Auseinandersetzung mit der etablierten Rechtsvergleichung als „ethical in character“, vgl. dens., Paradaoxically, Derrida, S. 655 und 713.

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man sich voreiliger Überlegenheitsurteile enthält beziehungsweise eine Instrumentalisierung des Fremden im heimischen Diskurs vermeidet.

3. Das zeitgenössische englische Privatrechtsdenken: Transformation in Differenz 3. Das zeitgenössische englische Privatrechtsdenken

Wer heute nach einer Rechtsdogmatik in England fragt, muss sich vor allem der Avantgarde der Privatrechtswissenschaft an den englischen, aber auch den kanadischen, australischen und neuseeländischen Spitzenuniversitäten zuwenden. Seit den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts haben sich verschiedene Strömungen herausgebildet, deren gemeinsames Ziel es ist, das Privatrecht als ein kohärentes und sinnvolles Ganzes zu verstehen. Diese Forschungsansätze gehen weit über das dem common law typischerweise zugeschriebene Prinzipiendenken hinaus, indem sie sich um klare und verständliche Begriffe, eine übersichtliche Binnengliederung des Rechtsstoffs sowie um moralische Rechtfertigungen für einzelne Regeln oder größere Regelungskomplexe bemühen. Es ist vielleicht nicht übertrieben zu behaupten, dass sich eine ganze Generation junger Privatrechtswissenschaftler auf den Weg gemacht hat, das Privatrecht aus sich selbst heraus neu zu verstehen und, wo dies notwendig erscheint, einfacher und gerechter zu gestalten. Neben Versuchen, einzelne Rechtsgebiete gedanklich zu durchdringen oder das Privatrecht insgesamt neu einzuteilen, hat sich mittlerweile auch eine explizite Methodendiskussion entsponnen, die von der Analyse konkreter rechtlicher Fragestellungen losgelöst ist.131 Der Rechtsvergleichung bietet sich daher die Gelegenheit, sowohl die methodologischen Überzeugungen englischer Rechtswissenschaftler als auch ihre Methodenpraxis zu untersuchen. Wenn dabei zu Tage tritt, dass einer der zentralen Begriffe dieser neuen Privatrechtswissenschaft der des subjektiven Rechts ist und die Bildung allgemeiner Teile mittlerweile als ein verheißungsvolles Mittel der Strukturierung des Rechtsstoffs angesehen wird, so zeigen sich damit auf den ersten Blick frappierende Ähnlichkeiten zur deutschen Rechtsdogmatik. In Anbetracht dieser Gemeinsamkeiten dürfen folgende Unterschiede jedoch nicht übersehen werden: Der Wandel der juristischen Methode vollzieht sich vor dem Hintergrund einer gänzlich unterschiedlichen rechtswissenschaftlichen Tradition – die Ausgangsbedingungen englischer Rechtslehrer sind wesentlich bescheidener als die ihrer kontinentaleuropäischen Kollegen. Es sind zudem durchaus verschiedene Gründe, die sie zur Rationalisierung des Rechts bewegen – ihr Systematisierungstreben wird oftmals durch völlig andere Fragestellungen ausgelöst. Schließlich verlaufen auch die Frontlinien in den wissenschaftlichen Kontroversen mitunter 131

Siehe dazu unten, S. 239 ff. (Kapitel 7).

3. Das zeitgenössische englische Privatrechtsdenken

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gänzlich anders – insbesondere, wenn es zur Auseinandersetzung mit einer älteren Generation von Universitätsjuristen kommt.132 Der angedeutete Wandel des englischen Privatrechtsdenkens soll deshalb nicht nur anhand der jüngeren Methodendebatte sowie einzelner Versuche von Universitätsjuristen, das Recht analytisch zu durchdringen, exemplifiziert werden. Um die vielschichtige Andersartigkeit der Ausgangssituation und die damit verbundenen Hindernisse für dogmatisches Denken in England zu verstehen, darf die Untersuchung nicht auf eine rein geistesgeschichtliche Dimension beschränkt bleiben, sondern muss auch mentalitäts- und institutionengeschichtliche Faktoren miteinbeziehen.133 Die Annäherung an Rechtsdogmatik in England soll deshalb in drei aufeinanderfolgenden Anläufen erreicht werden. Als erster Zugang bietet sich die Frage an, ob die dogmatische Tradition des römisch-kanonischen Rechts in England tatsächlich nicht Fuß fassen konnte. So wie England an allen wesentlichen kulturellen Entwicklungen Europas teilhatte, gab es seit der Frühen Neuzeit auch immer wieder – an entsprechende kontinentale Vorbilder anknüpfende – Versuche, das englische Recht im Ganzen darzustellen und dabei sinnvoll zu unterteilen. Diese Unternehmungen blieben jedoch Einzelleistungen, die sich nicht zu einem durchgehenden dogmatischen Strang zusammenfügen lassen. Während manche ordnenden Gesamtdarstellungen des englischen Rechts wie Matthew Hales „Analysis“ oder William Blackstones „Commentaries“ höchst folgenreich für die englische Rechtsgeschichte wurden, fanden ihre Autoren keine unmittelbaren Nachfolger. Andere Werke mit ähnlichen Ambitionen blieben schon in ihrer unmittelbaren Wirkung deutlich hinter den genannten zurück.134 Kommt darin ein geringeres Interesse an juristischer Systembildung zum Ausdruck, das sich möglicherweise auf Mentalitätsunterschiede zurückführen lässt? In einem zweiten Schritt soll die geläufige These hinterfragt werden, die Aversion der Engländer gegenüber allem Theoretischen und Spekulativen sei dafür verantwortlich, dass diese niemals ein komplettes Gedankengebäude des Rechts entworfen, sondern das vorhandene Bauwerk immer wieder den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend erweitert hätten, ohne auf einen eleganten Gesamteindruck Rücksicht zu nehmen. Gegenüber einem solchen Schluss von dem angeblichen englischen Nationalcharakter auf den juristischen Denkstil ist jedenfalls schon deshalb Vorsicht geboten, weil sich derarSiehe dazu unten, S. 239 ff. und 295 ff. (Kapitel 7 und Schluss). Im besten Falle ergibt sich so eine „dichtere“ Beschreibung des rechtswissenschaftlichen Diskurses in England und dem Commonwealth. Zu der ethnographischen Aufgabe, den Sinn sozialen Verhaltens durch eine Enthüllung seines Kontextes zu formulieren, vgl. Geertz, Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture, S. 13 ff. Ein meisterhaftes Beispiel dafür, wie verschiedene Zugänge zu einem historischen Phänomen sich gegenseitig erhellen können, findet sich bei E. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. 134 Siehe unten, S. 71 ff. (Kapitel 2). 132 133

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tige Selbst- und Fremdzuschreibungen im Laufe der Jahrhunderte erheblich verändern können. Eine solche Folgerung missachtet zudem, dass auch das englische Recht einen Grad an Autonomie gegenüber der Gesamtkultur erreicht hat, die das Rechtsdenken gegen intellektuelle Moden immunisiert. Stattdessen muss nach einer spezifischen Rechtsmentalität gefragt werden – verstanden als die Gesamtheit grundlegender Denkweisen, Denkinhalte und Wertungen, welche die Juristen eines Landes aufgrund ihrer gemeinsamen Ausbildung internalisiert haben, die nicht oder nur selten hinterfragt werden und die ihnen daher oft unbewusst sind. Zu solchen Selbstverständlichkeiten der englischen Rechtstradition mag man nun tatsächlich eine Vorliebe für die inkrementelle Weiterentwicklung des Rechts zählen, die Rechtssicherheit garantiert und älteren autoritativen Stellungnahmen Achtung verschafft. Eine grundlegende Abneigung gegenüber Kohärenz und Übersichtlichkeit ist jedoch keineswegs Bestandteil der englischen Rechtsmentalität. Trotzdem könnte es sein, dass manche Eigenheiten des englischen Rechts, welche die Erfassung begrifflich-normativer Zusammenhänge behindern, von englischen Juristen als so selbstverständlich wahrgenommen werden, dass sie unhinterfragt bleiben.135 Auf der Suche nach den Ursachen für die geringe Bedeutung dogmatischen Denkens in England ist es daher notwendig, auf eine institutionelle Ebene vorzustoßen. Die diesbezüglich oft bemühte These von der inneren Verwandtschaft zwischen dem englischen und dem klassischen römischen Recht ist allerdings zweifelhaft. Stattdessen scheint ein Mangel an Rechtsnormen, an materiellem Recht sowie an vorsystematisiertem Recht die Entstehung einer Rechtsdogmatik erschwert zu haben. Die Ausgestaltung des frühen common law-Prozesses bot nur selten die Möglichkeit, rechtliche Gesichtspunkte zu diskutieren und durch Entscheidungen von Rechtsfragen neue Normen zu generieren, an denen eine Systematisierung hätte ansetzen können. Stattdessen verfestigte sich das englische Recht zu einer Sammlung von Rechtsbehelfen, zu denen jeweils spezielle materiellrechtliche Kategorien gehörten. Diese Kompartimentierung des Rechts erschwerte dauerhaft die Wahrnehmung übergreifender begrifflicher oder normativer Zusammenhänge. Schließlich fehlten lange Zeit auch die juristischen Protagonisten, die eine solche Aufgabe hätten übernehmen können. Die Vorlesungen an den Inns of Court gelangten nicht über die Auslegung einzelner Gesetze hinaus. An den Universitäten wurde englisches Recht erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gelehrt. Der Aufstieg des legal scholarship beginnt sogar erst in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts: Seitdem ist die Zahl der Rechtslehrer kontinuierlich gewachsen und das Forschungsniveau hat sich deutlich erhöht.136

135 136

Siehe unten, S. 101 ff. (Kapitel 3) und S. 236 ff. Siehe unten, S. 119 ff. (Kapitel 4).

3. Das zeitgenössische englische Privatrechtsdenken

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Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb zeitgenössische Rechtswissenschaftler, die das englische Recht dogmatisch bearbeiten wollen, nur selten auf Vorbilder und erst recht nicht auf ein bereits bestehendes System von Begriffen und Prinzipien zurückgreifen können. Sie müssen eine völlige Neukonzeption des Privatrechts wagen und die Voraussetzungen für spätere dogmatische Einordnungen erst schaffen. Somit lässt sich auch erklären, weshalb verschiedene Neuansätze gerade bei älteren Privatrechtslehrern auf so leidenschaftlichen Widerstand stoßen. An den Versuchen der sogenannten „taxonomists“ beispielsweise, das Privatrecht in immer feinere, einander ausschließende Kategorien zu unterteilen, mit dem Ziel, parallele Fragestellungen aufzudecken und diese durch eine Zusammenfassung in übergreifenden Kategorien als einheitliche Probleme behandeln zu können, entzündete sich eine hitzige Debatte darüber, ob eine Systematisierung des common law überhaupt möglich beziehungsweise sinnvoll ist. Eingewendet wurde insbesondere, das organische Wachstum und die Flexibilität des Fallrechts erlaube keine eindeutige Klassifizierung. Auch andere Strömungen sehen sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Theorien spiegelten nicht das geltende Recht wider: Die „rights-based analysis“, die untersucht, welche Rechte den Individuen in bestimmten Konstellationen zustehen, und dieauf diesem Wege die Struktur privatrechtlicher Institute aufdecken will, um bessere Begründungen für etablierte Regeln geben zu können; ebenso wie der „interpretive approach“, der Kohärenz im Recht herstellen will, indem er dem Fallrecht entscheidungsleitende Prinzipien unterlegt und Anomalien aussondert, die dadurch offenbar werden.137 Dieses Ringen um eine Neuinterpretation des englischen Privatrechts nahm seinen Ausgang in der Kampagne einiger Rechtswissenschaftler, das law of restitution, das bis dahin ein Schattendasein als Anhängsel des Vertragsrechts gefristet hatte, zu einem eigenständigen Rechtsgebiet aufzuwerten und seine normativen Grundlagen zu erhellen. Inzwischen hat sich die daraus resultierende Bewegung jedoch nicht nur ausdifferenziert, sondern ihren Forschungsbereich auch auf verschiedene angrenzende Rechtsgebiete wie das Deliktsrecht oder das Trustrecht ausgedehnt. In jüngster Zeit verlagerte sich das Interesse zunehmend darauf, Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Teilen des Rechts herauszuarbeiten und dadurch zu „general parts“ zu gelangen.138 An der Methodendiskussion und den dogmatischen Projekten fällt nicht nur die außerordentliche Bandbreite an rechtsphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Einflüssen auf, die von der rechtswissenschaftlichen Avantgarde und ihren Gegnern rezipiert werden. Noch bemerkenswerter ist der enorme Einfallsreichtum, der bei der Rekonzeptualisierung des Fallrechts zu Tage tritt. Unter den jüngeren Universitätsjuristen des Commonwealth ist derzeit eine 137 138

Siehe unten, S. 203 ff. und 239 ff. (Kapitel 6 und 7). Siehe unten, S. 157 ff. und 239 ff. (Kapitel 5 und 7).

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regelrechte Aufbruchstimmung spürbar. Die shooting stars der Privatrechtswissenschaft überbieten sich gegenseitig darin, die Existenz bisher völlig anerkannter Rechtsinstitute in Zweifel zu ziehen oder bislang unhinterfragte Doktrinen zu dekonstruieren und diesen ihre eigenen Großtheorien entgegenzustellen. Freilich ist den verschiedenen Forschungsansätzen zu attestieren, dass sie zwar in ihrer Programmatik ambitioniert sind, in ihren Ergebnissen jedoch bisher bescheiden. Es darf beispielsweise nicht übersehen werden, dass die gewonnenen begrifflichen Unterscheidungen und Strukturprinzipien nur erste Fragmente sind, die ein vollständiges dogmatisches Lehrgebäude allenfalls erhoffen lassen und dass die – für die deutsche Rechtsdogmatik typischen – konstruktiven Deutungen neuer Phänomene mit Hilfe wohlbekannter Systembestandteile bislang erst in Einzelfällen möglich sind.

4. Wie vergleichen? 4. Wie vergleichen?

Wenn dogmatisches Denken in England unter anderen Voraussetzungen und mit anderen Zielen begonnen wird, wirft dies die Frage auf, ob die Verwendung des Begriffs „Rechtsdogmatik“ dem englischen Rechtsdenken adäquat ist. Wenn dieser Ausdruck im Folgenden dennoch zur Beschreibung verschiedener historischer und gegenwärtiger Entwicklungen in England und dem Commonwealth herangezogen wird, handelt es sich dabei weder um eine unmodifizierte Übertragung des deutschen Begriffs auf das englische Recht, noch ist damit die Ausweitung eines parochialen, auf eine bestimmte Rechtsordnung bezogenen Begriffs zu einer universalen, rechtsordnungsübergreifenden Kategorie beabsichtigt. Die Gefahren einer solchen ethnozentrischen Vorgehensweise139 liegen in vorschnellen Gleichsetzungen, die irreführende Konnotationen begünstigen oder gar – in einer „orientalisierenden“ Variante140 – Überlegenheitsurteilen den Weg ebnen. Auch wird es kaum möglich sein, durch eine funktionale Beschreibung juristischer Dogmatik einen neutralen Referenzmaßstab für die rechtsvergleichende Untersuchung herzustellen. Denn das Bedürfnis, dem unübersichtlichen Recht eine Ordnung zu geben, um es damit beherrschbarer und lernbarer zu machen,141 könnte in anderen Rechtstraditionen als viel weniger dringend 139 Eine klassisch gewordene Kritik des Verfahrens, die Begriffe seiner eigenen Rechtsordnung zu verallgemeinern und für die Analyse fremder Rechtssysteme zu verwenden, findet sich bei Bohannan, Justice and Judgement among the Tiv, S. 5. 140 Nach Ruskola, Legal Orientalism, S. 181 ff., ermöglichte eine Verallgemeinerung des westlichen Rechtsbegriffs bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die Konstruktion eines Bildes von China als eines unzivilisierten Landes ohne Recht, das kolonialer Herrschaft bedürftig sei. 141 Darin sieht beispielsweise Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, S. 78 f., die Aufgabe der Rechtsdogmatik.

4. Wie vergleichen?

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empfunden werden.142 Der Funktionalismus kann daher ebenfalls nur Begriffe schaffen, die wiederum von einer Heimatkultur abhängig sind und die allenfalls das Vergnügen gewähren, im fremden Recht ein Wunder anzustaunen, das der Vergleichende selbst geschaffen hat. Diese Gefahr könnte möglicherweise durch den Versuch umgangen werden, das englische Recht ausschließlich aus der Binnenperspektive zu betrachten und bei der Analyse der methodischen Überzeugungen englischer Juristen ausschließlich ihre autochthonen Begrifflichkeiten zu verwenden. Auch wenn es selbstverständlich nicht möglich ist, sich vollständig in eine andere Kultur hineinzuversetzen und so zu denken wie die Juristen, die in dieser ausgebildet wurden, 143 ist Authentizität ein wichtiges Ziel rechtsvergleichenden Strebens. Deshalb sollten die Äußerungen englischer Juristen in ihren methodischen Debatten ernst genommen werden, so selbstverständlich oder gar naiv sie einem deutschen Juristen auch erscheinen mögen. Dennoch bliebe eine unverfälschte Binnenperspektive, der ein Rechtsvergleicher sich jedenfalls annähern könnte, unbefriedigend, weil sie ausschließlich lokales Wissen hervorbringen würde.144 Die Wahrnehmung eines common law-Juristen bezüglich seines eigenen Tuns unterliegt ähnlichen Beschränkungen wie die Äußerung eines Zeitzeugen, der einen geschichtlichen Vorgang in den Gesamtzusammenhang einordnen soll. Von einer Untersuchung dogmatischen Denkens in England vom Standpunkt eines deutschen Juristen aus darf vielmehr erwartet werden, dass sie Fragen aufwirft, welche die englischen Rechtslehrer selbst nicht thematisieren und die deshalb nicht Bestandteil ihrer Selbstbeschreibung sind. Das Unterfangen, die andere Kultur unkommentiert so darzustellen, wie sie von ihren Schöpfern wahrgenommen wird, führt paradoxerweise dazu, dass diese dem Außenstehenden dauerhaft fremd bleibt. Die Perpetuierung von Differenz macht ein Vergleichen unmöglich. Ein Ausweg besteht möglicherweise darin, sich das deutsche Vorverständnis von Rechtsdogmatik zu erhellen und von diesem Standpunkt aus die englischen Methodenentwicklungen zu kommentieren.145 Ein solchermaßen angelegtes Verstehen der englischen Rechtswelt kann aber nur gelingen, indem der deutsche Jurist die dort auftretenden Phänomene in diejenigen Begriffe 142 Zu dieser Schwäche der funktionalen Methode siehe Ruskola, Legal Orientalism, S. 189; vgl. auch Frankenberg, Critical Comparisons: Re-Thinking Comparative Law, S. 434 ff. 143 Vgl. Büchner, Danton’s Tod, S. 10 („Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren“). 144 Geertz, Local Knowledge: Fact and Law in Comparative Perspective, S. 233, gelangt zu dem Schluss: „We need, in the end, something rather more than local knowledge.“ Vgl. auch Whitman, The Neo-Romantic Turn, S. 334 ff. 145 Als methodische Grundlegungen einer solchen interpretativen Kulturvergleichung bieten sich Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, S. 270 ff., und Geertz, The Interpretation of Cultures, an.

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übersetzt, mit denen er selbst die eigene rechtliche Wirklichkeit erfasst.146 Es ist unvermeidlich, dass es dabei zunächst zu einer Gleichsetzung zentraler Begriffe – wie etwa „coherence“ mit „Kohärenz“, „principle“ mit „Prinzip“ – kommt, deren Verständnis im Detail höchst unterschiedlich ist; sie werden aus ihrem Kontext gerissen und simplifiziert. Soll der Erkenntniswert einer Gleichsetzung nicht durch einen noch schwereren Verlust an Differenzbewusstsein erkauft werden, muss der Übersetzer notwendige Relativierungen dieses spontanen Gleichheitsurteils vornehmen. Damit wird zugleich die Möglichkeit gewonnen, das nunmehr übersetzte englische Rechtsdenken zur Kommentierung des deutschen Dogmatikverständnisses heranzuziehen. So kann die Erkenntnis, dass bestimmte methodische Vorgehensweisen von englischen Juristen als äußerst problematisch empfunden werden, erhellen, was deutschen Rechtswissenschaftlern selbstverständlich erscheint und deshalb von ihnen gar nicht thematisiert wird.147 Vielleicht bietet die jüngere englische Methodendebatte sogar die Chance, das deutsche Bewusstsein für die eigene dogmatische Tradition zu schärfen und neue Wege zu ihrer kritischen Fortentwicklung zu eröffnen. Am Ende gelangt man im besten Falle zu wechselseitigen Kommentierungen148 verschiedener Ausprägungen von Rechtsdogmatik, welche die jeweils fremde Denkungsart mit sich selbst akkommodieren und gleichzeitig als fremd bewahren.

Geertz, Local Knowledge: Fact and Law in Comparative Perspective, S. 218, verlangt von der Rechtsvergleichung eine „cultural translation“, „an attempt to formulate the presuppositions, the preoccupations, and the frames of action characteristic of one sort of legal sensibility in terms of those characteristic of another“, neigt jedoch dazu, insbesondere zentrale Begriffe der fremden Kultur unübersetzt zu lassen. F. von BendaBeckmann, Übersetzung, Vergleich, Transformation, S. 28 ff., hält es dagegen für unabdingbar, das fremde Recht in die Begriffe der eigenen Sprache zu übersetzen, um es verstehen zu können. Ähnlich Legrand, Comparing in Circles, S. 5 („[…] the other’s story is told, and can only be told, in that discourse which the self employs to express its self, otherness’s being is subjected to this particular manifestation of selfness“). 147 Vgl. Daube, Über das Selbstverständliche in der Rechtsgeschichte, S. 1. 148 Geertz, Local Knowledge: Fact and Law in Comparative Perspective, S. 233 („[…] commentaries one upon another, the one lighting what the other darkens“). 146

Kapitel 1

Rechtsdogmatik in Deutschland Kapitel 1: Rechtsdogmatik in Deutschland

1. Ein produktives System des Rechts

1. Ein produktives System des Rechts

Die Idee deutscher Rechtsdogmatik ist seit Puchtas und Jherings Tagen1 im Grunde dieselbe geblieben: die Idee eines produktiven Systems. Es geht darum, aus den Begriffen und Normen des geltenden Rechts ein System zu erschaffen, das später zur Schöpfung neuen Rechts verwendet werden kann.2 Insofern zerfällt dogmatisches Rechtsdenken in eine Phase der Entdeckung 1 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band III, S. 228, bezeichnet Jhering als den „Begründer des modernen Dogmatikbegriffs“. Vgl. auch Ballerstedt, Über Zivilrechtsdogmatik, S. 262, demzufolge Gerber und Jhering als erste den Ausdruck „Dogmatik“ in dem noch heute üblichen Sinne verwendet haben. Gerber und Jhering selbst beriefen sich jedoch auf den von ihnen verehrten Puchta, der versucht hatte, das Recht aus seiner inneren Vernünftigkeit heraus zu erklären, und auf Savigny, dessen freien, aktualisierenden Umgang mit den Quellen sie für vorbildlich erachteten; vgl. Jhering, Unsere Aufgabe, S. 31 und 39. Puchta war insofern ein Pionier moderner Rechtsdogmatik, als er über die verbreitete zeitgenössische Auffassung, eine wissenschaftliche Darstellung solle die organische Struktur der Rechts abbilden, hinausging und forderte, die Wissenschaft müsse die leitenden Strukturen für das teilweise sehr unübersichtliche gemeine Recht erst schaffen und die Quellen einheitsstiftend und korrigierend interpretieren; siehe Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, S. 280 und 307. 2 Dieses Programm formulierte Jhering am deutlichsten in seinem Eröffnungsaufsatz für die von ihm und Gerber seit 1857 herausgegebenen „Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts“. Als Dogmatik bezeichnete Jhering, Unsere Aufgabe, S. 7, die „juristische Gestaltung des Rechtsstoffs“, die „ein im äußersten Grade practisches“ Interesse verfolge, nämlich „dem vorhandenen Stoff“ eine Gestalt zu verleihen, „die die subjektive Beherrschung desselben im hohen Grade erleichtert“. Nur auf dem Gebiet der Dogmatik könne, so Jhering, a. a. O., S. 7 f., „von wirklichen juristischen Produktionen die Rede sein“, insofern als diese mit dem Stoff in einer Weise operiert, „der sich das Prädikat einer neugestaltenden und mithin productiven Thätigkeit nicht absprechen lässt“, sowie teilweise über diesen Stoff hinausgeht und „einen absolut neuen Stoff hervorbringt“. Mehr als anderthalb Jahrhunderte später formuliert Stürner, Das Zivilrecht der Moderne und die Bedeutung der Rechtsdogmatik, S. 10, verblüffend ähnlich, wenngleich deutlich weniger enthusiastisch („Die Rechtsdogmatik fasst das geltende Recht, also die Summe aus Rechtssätzen des Gesetzgebers und der Gerichte, in Prinzipien, Grundregeln und Lehrsätzen zusammen, versucht aber auch, solche Rechtssätze fortzubilden und zu ergänzen. Dogmatik hat so besehen eine konfirmative und eine innovative Funktion zugleich“).

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Kapitel 1: Rechtsdogmatik in Deutschland

und eine Phase der Anwendung.3 Zunächst werden aus der noch weitgehend ungeordneten Masse der Rechtssätze abstrakte Begriffe und Prinzipien isoliert, die dann jeweils in einem Begriffs- und in einem Prinzipiensystem geordnet werden können. Durch diese Abstraktionsleistung offenbaren sich Zusammenhänge zwischen verschiedenen Regelungen. Das ermöglicht es, neue Gesetzesbegriffe, Institute, die von der Rechtsprechung entwickelt wurden, oder kautelarjuristische Gestaltungen in das Begriffssystem einzuordnen und damit zusätzliches Wissen über die für sie einschlägigen Regelungen zu gewinnen. Erweist sich eine neue Regelung als unvollständig, so wird durch ihre Klassifizierung die Zuordnung ergänzender Regeln ermöglicht. Bekannte oder neu auftretende Konflikte zwischen unterschiedlichen Regelungsregimes innerhalb der Rechtsordnung können befriedet werden, indem man die Prinzipien ermittelt, die in der problematischen Konstellation miteinander konkurrieren, und sich bemüht, diese zu einem Ausgleich zu führen – was häufig durch die Anwendung verschiedener bereits bekannter, das eine oder das andere Prinzip konkretisierender Regeln geschehen kann. Dogmatik bedeutet also, ähnliche Regelungen zu einer gedanklichen Einheit zusammenzufassen sowie ähnliche Fragen der Rechtsanwendung als einheitliches Problem zu begreifen und einer einheitlichen Lösung zuzuführen – und dieses Vorgehen möglichst für die gesamte Rechtsordnung durchzuhalten.4 Die dogmatische Denkanstrengung dient im Wesentlichen zwei Zielen: Effizienz und Gerechtigkeit. Dogmatik erleichtert zum einen die geistige Aneignung des geltenden Rechts. Wenn nämlich im Wege der Abstraktion verschiedene juristische Phänomene zu einer Einheit zusammengefasst werden können, so wird damit eine Reduktion des Rechtsstoffs insgesamt erreicht.5

Vgl. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 327 („Die gesammte Thätigkeit der juristischen Technik läßt sich auf zwei Hauptzwecke zurückführen“: „Aneignung [des Rechts] […] [und] die Erleichterung dieser Arbeit mittelst der möglichsten quantitativen und qualitativen Vereinfachung des Rechts“ sowie die „Anwendung des Rechts auf den concreten Fall […] [und] durch eine entsprechende Gestaltung der Rechtssätze die Aufgabe außerordentlich erleichtern“). In ähnlicher Weise unterscheidet Jansen, Dogmatik, Erkenntnis und Theorie im Europäischen Privatrecht, S. 764 ff., zwischen konstruktiven und applikativen juristischen Theorien. 4 Vgl. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 1 („Die Dogmatik ist die Einheit der Rechtsordnung“). Ähnlich Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 45 f. („Aufgabe des teleologischen Denkens ist […] [es,] eine einmal gesetzte (primäre) Wertung in allen ihren Konsequenzen zu Ende zu denken, sie auf vergleichbare Fälle zu übertragen, Widersprüche mit anderen, schon gesetzten Wertungen zu beseitigen und Widersprüche bei der Setzung neuer Wertungen zu verhüten“). 5 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 329 f., bezeichnete diese „Verringerung der Masse des Stoffs“ als „quantitative Vereinfachung“ und postulierte ein „Gesetz der Spar3

1. Ein produktives System des Rechts

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Auf der Grundlage dogmatischer Verallgemeinerungen und Einteilungen ist es außerdem möglich, die normativen Massen neu zu arrangieren, wodurch ein höherer Grad an Übersichtlichkeit erzielt werden kann.6 Dogmatisches Denken führt aber auch zu einer effizienteren Anwendung des Rechts. Eine Interessenbewertung zu universalisieren, die ursprünglich nur einen begrenzten Geltungsbereich hatte, bedeutet, ihre Wiederholung in anderen Kontexten zu erlauben; bei der Entscheidung des nächsten Falles kann rasch auf sie rekurriert werden, wodurch sich der Begründungsaufwand verringert.7 Darüber hinaus wird von deutschen Juristen die Stimmigkeit mit dem System selbst zum Argument im juristischen Streit erhoben. Häufig wird die Systemgerechtigkeit zu einem Grund stilisiert, der die Diskussion anderer Gründe diskreditiert, das heißt, potenziell unendliche Diskurse, die durch die Vagheit oder evaluative Offenheit rechtlicher Begriffe8 entstehen könnten, werden mit dem Hinweis auf die systematische Falschheit bestimmter Auslegungen abgekürzt. Insofern unterstützt die Dogmatik die allgemeine Effizienzwirkung des Rechts, die darin besteht, dass moralische Konflikte nicht bis in alle Ewigkeit erörtert werden müssen, sondern einer verbindlichen Entscheidung zugeführt werden können. Dogmatisches Denken leistet zum anderen einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung der formalen Gerechtigkeit. Denn die Konsolidierung der juristischen Diskussion durch allgemeine und allgemein verbindliche Begriffe oder Grundsätze – insofern ist auch heute das Wort „Dogma“ nicht völlig unangebracht9 – beugt der Gefahr vor, dass alte Meinungsverschiedenheiten erneut aufflammen und sich in einer uneinheitlichen, und damit ungleich

samkeit“: „mit möglichst wenig möglichst viel auszurichten; je geringer das Material, um so leichter und sicherer ist es zu handhaben.“ Vgl. auch a. a. O., S. 352. 6 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 333, nannte dies „qualitative Vereinfachung“ („Qualitativ einfach ist das Recht, wenn es wie aus Einem Gusse ist, wenn die Theile unter sich scharf begränzt und geschieden sind und dennoch sich harmonisch zu Einer Einheit zusammenfügen, wenn also das Auge den Theil ebenso leicht wie das Ganze erfassen kann“). 7 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 329, zufolge besteht die „Entlastungsfunktion“ juristischer Dogmatik darin, dass bereits akzeptierte dogmatische Erkenntnisse ohne erneute Überprüfung, d. h. ohne eine neuerliche Diskussion der Wertungsfrage, in vielen Entscheidungsbegründungen verwendet werden können. 8 Zur Unterscheidung zwischen vagen und wertausfüllungsbedürftigen Begriffen siehe Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 194 ff. 9 So spricht man etwa vom „Dogma der Subsidiarität der Nichtleistungskondiktion“, wonach derjenige, der etwas durch Leistung erlangt hat, grundsätzlich nur der Kondiktion des Leistenden ausgesetzt sein soll und nicht der Nichtleistungskondiktion eines Dritten. Siehe beispielsweise Larenz / Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts. Zweiter Band, 2. Halbband, S. 144 f. und 202 f. Canaris lehnt dieses Dogma freilich ab.

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Kapitel 1: Rechtsdogmatik in Deutschland

behandelnden Rechtsprechung niederschlagen.10 Gleichzeitig immunisiert ein dogmatisches Vorgehen bei der Entscheidungsfindung gegen den Verdacht der Willkür. Wenn sich plausibel machen lässt, dass die Lösung einer Rechtsfrage im Zusammenhang steht mit anderen, bereits anerkannten Lösungen, dann lässt sich die dermaßen abgesicherte Entscheidung als zwingend darstellen.11 Kann für die Entscheidung ein Prinzip herangezogen werden, welches in einer ähnlichen Konstellation unbestrittenermaßen zum Tragen kommt, dann ist im Gegenteil eine Abweichung von der insofern kohärenten Begründung selbst begründungsbedürftig.12

2. Beständigkeit und Wandel der dogmatischen Tradition 2. Beständigkeit und Wandel der dogmatischen Tradition

Selten hat in der Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft eine methodische Vorstellung sich als derart langlebig und widerstandsfähig erwiesen wie die von der Notwendigkeit einer dogmatischen Behandlung des geltenden Rechts. Dies ist umso erstaunlicher, als die traditionelle Rechtsdogmatik in regelmäßigen Abständen schwersten Anfeindungen ausgesetzt war und das dogmatische Verfahren in den Anleitungen zur juristischen Methode auch heute noch eine randständige Existenz führt.13 Die Gründungsdokumente, Puchtas Ausführungen über „wissenschaftliches Recht“14 sowie Jherings Entwurf der „naturhistorischen Methode“15, gehören sogar zu den meistge10 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 37: „Die dogmatische Konstruktion des Falles sichert die Wiederholung der Entscheidungsmöglichkeit in gleichen und ähnlichen Fällen – und in diesem Sinne Gerechtigkeit“; zu dieser stabilisierenden Funktion der Rechtsdogmatik siehe auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 328 ff. 11 Die Bedeutung der Rechtsdogmatik als nachtägliche Rationalitätskontrolle juristischer Entscheidungen betonte insbesondere Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, S. 104: „Dogmatik stellt ferner im Rahmen eines Systems jene Kontrollinstanz dar, welche die Verträglichkeit von Lösungen mit anderweit vorgegebenen Regelungen sichert […]. Durch den Zwang, die Lösungsversuche in eine bestimmte Vorstellungswelt einzugliedern, wird eine Rationalitätsprobe durchgeführt […]“. Vgl. auch dens., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 98, sowie Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 331 f. 12 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 327, behauptet, derjenige, der eine neue Lösung vorschlägt, trage eine höhere Argumentationslast als derjenige, der dafür plädiert, an der überlieferten Lösung festzuhalten. 13 Vgl. Bumke, Rechtsdogmatik, S. 642 (insbesondere Fn. 8 mit Nachweisen aus der jüngeren methodologischen Literatur), der feststellt, die rechtsdogmatische Denkweise sei zwar unter deutschen Juristen als „implizite[s] Wissen“ weit verbreitet, werde aber nur gelegentlich expliziert. 14 Puchta, Cursus der Institutionen, S. 45; ders., Pandekten, S. 28 ff. 15 Jhering, Unsere Aufgabe; ders., Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 322 ff.

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schmähten methodologischen Schriften überhaupt und taugten lange Zeit bestenfalls als Beispiel für eine fehlgeleitete Rechtswissenschaft.16 Mit der Polemik der Interessenjurisprudenz17 und der Freirechtsschule18 gegen die sogenannte „Begriffsjurisprudenz“ setzte ein ausgesprochen dogmatikkritisches 20. Jahrhundert ein,19 an dessen Ende, nach den Angriffen der Vertreter der Reinen Rechtslehre,20 der Topik,21 der ideologiekritischen Hermeneutik22 sowie der ökonomischen Analyse des Rechts,23 es größte Schwierigkeiten bereitete, sich darauf zu einigen, was Dogmatik eigentlich ist. Die Verteidigung des dogmatischen Verfahrens, das in der jüngeren Methodenliteratur im Gewand einer prinzipien- und systemgeleiteten Rechtsfindung daherkam,24 und die Rehabilitation der konstruktiven Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts durch die Wissenschaftsgeschichte25 haben jedenfalls dazu beigetragen, dass der Ausdruck „Rechtsdogmatik“ unter deutschen Rechtsgelehrten heute wieder einen ausgesprochen guten Klang hat.26 Seit einigen Jahren wird sogar noch einmal – im Wesentlichen affirmativ27 – über die 16 Heck, Grundriß des Schuldrechts, S. 474 Fn. 3, empfiehlt jedem Juristen, der es mit seinem Studium ernst meint, Jherings Entwurf einer höheren Jurisprudenz, „diese glänzende Darstellung der älteren Methode“, zu lesen – freilich nur, um sich von seiner Mangelhaftigkeit zu überzeugen. 17 Heck, Welches ist diejenige Begriffsjurisprudenz, die wir bekämpfen? 18 Gnaeus Flavius (= H. Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft; Fuchs, Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz. 19 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band III, S. 356 ff. Siehe auch den entwicklungsgeschichtlichen Abriss rechtsdogmatischen Denkens bei Bumke, Rechtsdogmatik, S. 642 ff. 20 Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, S. 251. 21 Viehweg, Topik und Jurisprudenz. 22 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung; ders., Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht. Siehe auch MeyerCording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein? 23 Kötz / Schäfer, Iudex oeconomicus. 24 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation; Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts. 25 Siehe beispielsweise Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, sowie Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“. Vorbereitend bereits Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band III, S. 356 ff., demzufolge es keinen Bruch in Jherings intellektueller Biographie im Sinne eines Wandels vom Begriffs- zum Zweckdenken gegeben habe. 26 Stürner, Das Zivilrecht der Moderne und die Bedeutung der Rechtsdogmatik, bewertet die deutsche Rechtsdogmatik – insbesondere im internationalen Vergleich – äußerst positiv. Die Erfolge dogmatischen Denkens insbesondere im Gesellschaftsrecht rühmt Fleischer, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht als wissenschaftliche Disziplin, S. 55 ff. Honsell, Editorial: Zivilrechtsdogmatik heute, S. 1, begrüßt die Neugründung einer Archivzeitschrift, die der grundlegenden Durchdringung dogmatischer Fragen gewidmet ist. 27 Wagner / Zimmermann, Vorwort: Perspektiven des Privatrechts, S. 3.

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Kapitel 1: Rechtsdogmatik in Deutschland

wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Rechtsdogmatik debattiert.28 Dies lässt ein starkes Bedürfnis nach Selbstvergewisserung erkennen, das sich durchaus als Krisensymptom verstehen lässt.29 Schon beklagen einige die abnehmende Bedeutung traditioneller dogmatischer Monographien30 und den Ansehensverlust deutschen Systemdenkens im Ausland 31. Als besonders frustrierend empfinden dogmatisch tätige Juristen die vom Recht der Europäischen Union ausgehenden Übergriffe auf das deutsche Privatrecht, die an dessen bewährter Systematik irreparable Schäden hinterlassen.32 Angesichts der fortschreitenden Rechtsvereinheitlichung in Europa wird zudem die nationale Beschränktheit der deutschen Rechtswissenschaft und ihre Unfähigkeit, im internationalen Diskurs Akzente zu setzen, immer deutlicher.33 Schließlich mehren sich die Zweifel, ob die Rechtsdogmatik überhaupt mit wissenschaftlichem Anspruch auftreten kann: Zum einen wird ihre Anbiederung an die Rechtspraxis, die zu einer Vermischung von Rechtserkenntnis und Rechtserzeugung geführt habe, zunehmend kritischer gesehen;34 zum anderen ist weiterhin ungewiss, wie sich die Erkenntnisse der Rechtsgeschichte, der Philosophie und der Ökonomie in die Rechtsdogmatik integrieren lassen, ohne dass deren disziplinäre Eigenständigkeit verlorengeht.35 Der Schwerpunkt der Diskussion verlagert sich deshalb zusehends auf die Frage, woher die normativen Anregungen für eine dogmatische Weiterentwicklung des deutschen beziehungsweise des europäischen Privatrechts bezogen werden sollen. Folgerichtig thematisieren jüngere Wissenschaftler wieder das grundlegende 28 Siehe beispielsweise Engel / Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft; Bumke, Rechtsdogmatik; Jestaedt, Wissenschaft im Recht; Stürner, Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik – zu rechtsanwendungsbezogen und zu wenig grundlagenorientiert? 29 So jedenfalls Hilgendorf / Schulze-Fielitz, Rechtswissenschaft im Prozess der Selbstreflexion, S. 1 f.; ähnlich Hartmann, Die Krise der universitären Juristenausbildung als Krise der Rechtswissenschaft. 30 Zimmermann, Juristische Bücher des Jahres – Eine Leseempfehlung, S. 3558 f. 31 H. Koziol, Glanz und Elend der deutschen Zivilrechtsdogmatik, S. 3 f. 32 Stürner, Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik – zu rechtsanwendungsbezogen und zu wenig grundlagenorientiert?, S. 22 f.; Lobinger, Perspektiven der Privatrechtsdogmatik am Beispiel des allgemeinen Gleichbehandlungsrechts, S. 67 f. 33 Jestaedt, Wissenschaft im Recht, S. 1 f. 34 Jestaedt, Wissenschaft im Recht, S. 3 f. Vgl. auch Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, S. 20 f., der moniert, heute lasse sich kein Kriterium mehr finden, mit dem sich dogmatische Beiträge der Rechtswissenschaft von denen der Praxis unterscheiden ließen. 35 So warnt etwa Stürner, Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik – zu rechtsanwendungsbezogen und zu wenig grundlagenorientiert?, S. 37 ff., deutsche Rechtswissenschaftler vor der Versuchung, sich einer fremden Disziplin vorbehaltlos in die Arme zu werfen. Demgegenüber empfiehlt Stolleis, Stärkung der Grundlagenfächer, historisches Wissen und Kenntnisse des positiven Rechts häufiger miteinander zu verknüpfen, um die Attraktivität der deutschen Rechtswissenschaft im Ausland zu erhöhen.

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Verständnis des Privatrechts: Soll es anspruchsvolle Ideen wie Handlungsfreiheit und ausgleichende Gerechtigkeit verwirklichen oder ist es ein besonderes Instrument staatlicher Verhaltenssteuerung, das die Rechtsdurchsetzung weitgehend den Bürgern überlässt?36 Die Auseinandersetzungen um die Bedeutung begrifflich-systematischen Denkens zeitigten freilich nur geringe Auswirkungen auf die Methoden, die in der Privatrechtswissenschaft tatsächlich angewendet werden. Bereits ein flüchtiger Blick in Monographien oder große Lehrbücher offenbart, wie selbstverständlich es nach wie vor ist, die Darstellung eines Rechtsgebiets mit den „Grundgedanken der gesetzlichen Regelung“ und ihren jeweiligen „Einschränkungen“ zu eröffnen, sodann die „Grundbegriffe“ zu definieren und „Einteilungen“ in verschiedene „Arten“ vorzunehmen. Darauf folgt gewöhnlich eine Bestimmung der „Rechtsnatur“ oder des „Wesens“ des maßgeblichen Instituts, bis schließlich die „Abgrenzung“ verschiedener Rechtsbegriffe voneinander thematisiert wird.37 Die Langlebigkeit der traditionellen Rechtsdogmatik erklärt sich nicht nur daraus, dass deutsche Juristen es nach wie vor für erforderlich halten, die ständig weiter wachsende Masse des Rechtsstoffs durch Zusammenfassung und Anordnung zu bändigen und neue Antworten auf juristische Fragen möglichst in das Gefüge des bereits Bekannten einzupassen. Die Kontinuität dogmatischer Arbeit ist auch für das Selbstverständnis der deutschen Rechtswissenschaft als Institution zentral: Sie erscheint geeignet, der Jurisprudenz den Charakter einer Wissenschaft zu verleihen38 und ermöglicht es ihren Vertretern, dem Gesetzgeber und der Richterschaft auf Augenhöhe zu begegnen sowie der Praxis Anweisungen für die Lösung problematischer Fälle zu geben.39 Umgekehrt erwarten deutsche Richter geradezu, von der Aufgabe einer systematischen Überformung der Einzelfallentscheidungen entlastet zu werden und nehmen wissenschaftliche Korrekturen ihrer Unbedachtheiten in der Regel dankbar an.40 36 Exemplarisch Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen; Hellgardt, Regulierung und Privatrecht. 37 So verfahren etwa Baur / Stürner, Lehrbuch des Sachenrechts, Fikentscher, Schuldrecht, oder Larenz / Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts. Zweiter Band, 2. Halbband. 38 Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 24. 39 Schon Jhering, Unsere Aufgabe, S. 18, behauptete, dass seine „naturhistorische Behandlungsweise des Rechts der Wissenschaft es möglich macht, mit ihren Antworten den Fragen der Praxis voranzueilen“. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 129, fiel ihm bei: „Die Rechtswissenschaft hat die Entscheidungen vorzuschlagen, die der Richter fällen soll.“ Vogenauer, Vorsprung durch Technik S. 501 ff., sieht in solchen Versuchen, den Prozess der richterlichen Rechtsfortbildung beeinflussen zu wollen, ein besonderes Merkmal der deutschen Rechtswissenschaft. 40 So äußerte sich beispielsweise der damalige Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Goette, Dialog zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung in Deutschland am Beispiel des Gesellschaftsrechts, S. 309.

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Dass die Rechtsdogmatik nach wie vor im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Recht steht, lässt sich auch am alltäglichen Sprachgebrauch deutscher Juristen ablesen, demzufolge der Ausdruck „Rechtsdogmatik“ häufig als Synonym für die rechtswissenschaftliche Tätigkeit insgesamt verwendet wird. Gemeint ist dann sowohl die Beschreibung des geltenden Rechts, also des Inhalts des Gesetzesrechts und der richterlichen Spruchpraxis, als auch die logisch-systematische Durchdringung im Wege der Analyse von Rechtsbegriffen, Rechtsprinzipien und der zwischen diesen bestehenden Zusammenhänge sowie schließlich die daraus sich ergebenden Vorschläge zur Lösung problematischer Fälle, welche die Gestalt einer Gesetzesinterpretation oder einer Rechtsfortbildung annehmen können.41 Dieser weite Dogmatikbegriff verdeutlicht aber auch, wie sehr dogmatische Denkformen heute eingebettet sind in einen eklektischen Kanon verschiedener Methoden, dessen hermeneutische Teile die logischen deutlich dominieren:42 Rechtsdogmatik geht nunmehr in der systematischen oder objektiv-teleologischen Gesetzesinterpretation auf.43 Das begrifflich-systematische Denken ist jedenfalls nicht durch eine an den Zwecken der jeweiligen Rechtssetzung orientierte Auslegung abgelöst worden. Dies wäre schon deshalb nicht plausibel, weil auch die konstruktivproduktive Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts nicht blind gegenüber politischen Gestaltungsabsichten sowie wirtschaftlichen oder sozialen Bedürfnissen war.44 Zwar richtete sich seit dem Siegeszug der Interessenjurisprudenz in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts das Augenmerk verstärkt auf die Vgl. zu diesem Begriff der Rechtsdogmatik im weiteren Sinne Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 307 f. (mit weiteren Nachweisen). 42 Die thematischen Überschneidungen zwischen denjenigen Teilen der Methodenlehre, die sich um den logisch richtigen Umgang mit Rechtssätzen kümmern, und denen, die das Verstehen ihres Sinns ermöglichen wollen, haben ihren Ursprung in der Aufteilung des mittelalterlichen Elementarunterrichts in die trivialen Fächer; vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 29; Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 3. 43 In der bis heute vorherrschenden „Wertungsjurisprudenz“ wird die objektiv-teleologische Auslegung zu einem Unterfall der systematischen Interpretation. Siehe etwa Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 15, der zwischen einer logisch-systematischen (Berücksichtigung der für die Auslegung einer Norm aufschlussreicher anderer Regelungen) und einer teleologisch-systematischen (Berücksichtigung der in der Vorschrift enthaltenen Grundwertungen) Interpretation unterscheidet. Ähnlich Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 88, demzufolge „das Systemargument […] nur eine besondere Form der teleologischen Begründung“ ist. 44 Entgegen der landläufigen Meinung war schon der „frühe“ Jhering dazu bereit, die rein logische Begriffsentwicklung zu unterbrechen, wenn dies erforderlich war, um die praktische Brauchbarkeit des Rechts zu sichern. Siehe dazu Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtheilung, Halbband 2, S. 799. Gegen das Zerrbild vom lebensfremden Begriffsjuristen Windscheid wendet sich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid. 41

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gesetzgeberischen Entscheidungen von Interessenkonflikten, die sogenannten Wertungen;45 diese sollten aber nunmehr ebenfalls in einem „System der Konfliktsentscheidungen“46 oder einem „System von Prinzipien“47 geordnet werden, um bei der Rechtsfortbildung Wertungswidersprüche vermeiden zu können.48 Später gab es Versuche, das „äußere“ System der Begriffe mit dem „inneren“ System der Prinzipien zu verbinden.49 Heute ist die Forderung, das Streben nach begrifflicher Kohärenz müsse durch eine Analyse des teleologischen Programms, in dem die Begriffe eine Rolle spielen, ergänzt werden, Gemeingut geworden.50 Wenn das Systemdenken nicht Selbstzweck sein darf, sondern sich der Aufgabe der Streitentscheidung unterzuordnen hat, dann müssen grundlegende Annahmen im Konkreten unhinterfragt bleiben und gelegentliche Unstimmigkeiten hingenommen werden. Der offene Bruch mit dem System, der ausschließlich dazu dient, einem praktischen Bedürfnis Geltung zu verschaffen, gilt innerhalb der deutschen Zivilrechtswissenschaft allerdings nach wie vor als argumentative Kapitulation. Erheblich verändert haben sich jedoch die erkenntnistheoretische Deutung des dogmatischen Verfahrens und die Bewertung des normativen Status’ seiner Resultate. Beides ist aufs Engste mit dem Wandel der Vorstellungen über die Entstehung von Recht verflochten.51 Die Pandektisten, jedenfalls soweit sie noch der historischen Schule angehörten oder von ihr geprägt worden waren, begriffen das Recht nicht als eine bloße Ansammlung von Vorschriften, die ihren Ursprung in gesetzgeberischer Willkür gehabt hätten.52 Vielmehr fassten sie das Recht als einen Organismus auf, der allmählich gewachsen war und der sich durch seine Vernünftigkeit und innere Anordnung zu einem vollständigen Ganzen auszeichnete.53 In diesem Rechtsbegriff verschmolz der von Kant gesteigerte Systemgedanke des Rationalismus, demzufolge nur eine Ordnung von Erkenntnissen unter einem Prinzip als System bezeichnet werden konnte,54 mit Schellings romantischer Idee eines organischen Zusammenhanges aller Dinge. Dies eröffnete die Möglichkeit, bereits vorhandene Verknüpfungen oder Verwandtschaften zwischen den Siehe nur Ballerstedt, Über Zivilrechtsdogmatik, S. 257 f. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 151. 47 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 52. 48 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 97 ff. 49 Programmatisch Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 35 f.; siehe auch die Durchführung bei dems., System und Prinzipien des Privatrechts. 50 So beispielsweise Thomale, Leistung als Freiheit, S. 165. 51 Die folgende Darstellung stützt sich ganz wesentlich auf Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 249 ff. und 393 ff. 52 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 194 f. 53 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 393. 54 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 832 ff. / B 860 ff. 45 46

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Rechtssätzen aufzudecken, genauso wie die Existenz weiterer Rechtssätze, die bislang verborgen geblieben waren.55 In einer stärkeren Variante, die insbesondere von Puchta vertreten wurde, durfte sich die Wissenschaft nicht darauf beschränken, dieses System abzubilden, sondern sie musste das gesamte Recht nach einem obersten Prinzip ordnen und damit seine unvollkommene Eigenstruktur transzendieren.56 An die Stelle der Entdeckung trat eine Schöpfung; Rechtssätze, die nur im Keim angelegt waren, konnten von der Wissenschaft hervorgetrieben werden.57 Nach dem Absterben der historischen Schule und ihrer strengeren Bindung an die Quellen des römischen Rechts konnte Jhering dieses konstruktiv-produktive Verfahren mit einer „künstlerischen Gestaltung“ vergleichen und es als „Erhebung und Vergeistigung des Stoffs, welche Menschenhand geschaffen, zu idealen Formen“58 überhöhen. Die durch Ordnung und Verdichtung geschaffenen Rechtsinstitute beziehungsweise die durch Induktion und Deduktion gewonnenen Rechtssätze sollten neben das Gewohnheitsrecht und das Gesetzesrecht als ergänzende Rechtsquelle treten59 – als eine „unversiegbare Quelle“60 gar, denn das wissenschaftlich geschaffene System dachte man sich als ein vollständiges oder doch zumindest als ein sich selbst ergänzendes, in das alle neu auftretenden Phänomene der Lebenswelt eingeordnet werden können.61 Die Erhebung dogmatischer Erkenntnisse zu einem „Recht der Wissenschaft“62 war also an die beiden Voraussetzungen geknüpft, dass im positiven Recht bereits eine innere Ordnung verborgen ist, und dass es ein Verfahren 55 Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. XXXVI: „Ich setze das Wesen der systematischen Methode in die Erkenntniß und Darstellung des inneren Zusammenhangs oder der Verwandtschaft, wodurch die einzelnen Rechtsbegriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verbunden werden. Solche Verwandtschaften sind nun erstlich oft verborgen, und ihre Entdeckung wird dann unsre Einsicht bereichern.“ Vgl. auch Puchta, Cursus der Institutionen. Erster Band, S. 100: „Die systematische Erkenntniß ist die Erkenntniß des innern Zuammenhangs, welcher die Theile des Rechts verbindet; sie faßt das Einzelne als Glied des Ganzen auf, das Ganze als einen in besondere Organe sich entfaltenden Körper“. 56 Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, S. 274, 285 und 305. 57 Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 80. 58 Jhering, Unsere Aufgabe, S. 13. 59 Puchta, Pandekten, S. 29. 60 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 386. 61 Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. 290 („[Nach richtiger Ansicht] wird unser positives Recht aus sich selbst ergänzt, indem wir in demselben eine organisch bildende Kraft annehmen“). Vgl. auch Puchta, Pandekten, S. 29 („[…] diese Lücken zeigt zugleich das System auf, und füllt sie aus“). 62 Puchta, ebd.; vgl. auch Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. 45 ff.

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gibt, mit dem diese Ordnung aufgedeckt und aus ihr neue Rechtssätze gewonnen werden können. Diese Vorstellungen wurden spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts obsolet. Damals rückten die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Rechtsentstehung in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Das geltende Recht erschien vielen nur noch als Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen oder wurde zum bloßen Gestaltungsinstrument der Herrschenden degradiert. Das Medium staatlicher Herrschaft indes ist das Gesetz; nur dieses war im Stande, rechtliche Befehle zu erteilen, denen Richter und Universitätsjuristen bestenfalls „denkenden Gehorsam“63 leisten konnten. Paradoxerweise offenbarte aber gerade die Arbeit an der Kodifikation des bürgerlichen Rechts, dass sich mit Gesetzgebung allein weder die gedankliche Vollständigkeit, die man bisher für das Rechtssystem in Anspruch genommen hatte, noch die Einheit des Privatrechts verwirklichen ließen. Stattdessen musste die Rechtsprechung ergänzend und verändernd in das Regelwerk eingreifen, als sich nach dem Ersten Weltkrieg die wirtschaftlichen Verhältnisse gravierend gewandelt hatten. Wenn das Recht also nur ein mehr oder weniger zufälliges Produkt des gesetzgeberischen oder richterlichen Willens war, dann konnten logische Schlüsse aus dem gegebenen Normenbestand für sich genommen keine neuen Regeln hervorbringen – zumal das induktive Vorgehen bei der Gewinnung allgemeiner Grundsätze mangels Vollständigkeit und Geschlossenheit des Systems keinerlei Gewissheit mehr bot.64 Zwar konnte ein Rechtswissenschaftler einen problematischen Rechtssatz weiterhin einem Prinzip zuordnen, das er zuvor durch Abstraktion aus anderen Einzelnormen gewonnenen hatte. Aber einem solchen Prinzip wurde im Methodenschrifttum nur noch der Rang einer Hypothese zuerkannt; es war nicht mehr erlaubt, die Rechtsfolgen der untergeordneten Einzelnormen mit dem Tatbestand der problematischen Norm zu verknüpfen und dadurch einen neuen Rechtssatz zu schaffen.65 Rechtswissenschaftler konnten der Rechtsprechung allenfalls einen Vorschlag unterbreiten, welche Parallelvorschriften analog angewendet werden könnten.66 Allerdings lässt sich auch in dieser Hinsicht ein AuseinanderHeck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 107. Die methodologischen Konsequenzen dieses voluntaristischen Rechtsbegriffs beschreibt eingehend Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 393 f.; siehe auch Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, S. 25 f. 65 Insbesondere Heck, Was ist diejenige Begriffsjurisprudenz, die wir bekämpfen?, S. 1458, geißelte das Vorgehen, zunächst aus der Zusammenfassung von Rechtssätzen „Gebotsbegriffe“ zu gewinnen, nur um später aus diesen Begriffen positive Rechtssätze abzuleiten, als „Inversionsverfahren“. Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, S. 251, war der Auffassung, „daß die Deduktion von Rechtsnormen aus Rechtsbegriffen nacktes Naturrecht sei, daß aus einer in ihren Schranken bleibenden Erkenntnis des positiven Rechts nicht ein I-Tüpfelchen neues Recht gewonnen werden könne“. Zum Bedeutungsverlust der juristischen Konstruktion siehe auch Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 406 ff. 63 64

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fallen von Methodenlehre und wissenschaftlicher Praxis feststellen: Folgerungen aus der dogmatischen Einordnung eines Phänomens wurden nach wie vor als zwingend und keineswegs nur als Hypothesen dargestellt. Nachdem spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Befugnis der Gerichte zur „Rechtsgewinnung“67 oder „Rechtsfortbildung“68 allgemein anerkannt war, etablierte sich eine außergewöhnlich enge Kooperation, bei der die Rechtswissenschaft die Aufgabe der systematischen Vorarbeit oder der nachträglichen konstruktiven Deutung übernahm, auf welche die Rechtsprechung bei der Entscheidung von Fällen rege zurückgriff69 und sich dafür eigenständiger dogmatischer Spekulationen weitgehend enthielt. Diese Aufgabenteilung wurde in der Methodenliteratur nicht nur durch eine Rehabilitierung des „produktive[…n] Element[s]“70 systematischen Denkens verarbeitet, sondern teilweise wurde auch eine vollständige Ausrichtung der Dogmatik auf die Rechtsanwendung gefordert:71 Ihre wichtigste Aufgabe sollte nunmehr „die Entscheidung individueller Interessenkonflikte“72 sein, sie sollte eine „Kontrollinstanz“ bilden, „welche die Verträglichkeit von Lösungen mit anderweit vorgegebenen Regelungen sichert“.73 66 Zum Wandel der juristischen Konstruktion von einer logischen Operation zum Auffinden neuer Rechtssätze zur bloßen Analogiehypothese siehe wiederum Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 407 ff. 67 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation. 68 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 366 ff.; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 35. 69 Kötz, Scholarship and the Courts, S. 193, fand in der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1985 durchschnittlich 13 Zitate juristischer Literatur in einer einzigen Entscheidungsbegründung. Das Kooperationsverhältnis thematisieren Vogenauer, Vorsprung durch Technik, S. 506 f., sowie Goette, Dialog zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung in Deutschland am Beispiel des Gesellschaftsrechts. 70 Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, S. 378, erkennt der systematischen Einordnung wieder ausdrücklich ein „produktives Element“ zu: „Eine Norm in ihren allgemeineren Zusammenhang einzuordnen, kann […] ihre Interpretation beeinflussen. In der Tat verwendet der Jurist Theorien zur Gewinnung neuer, d. h. bisher so nicht formulierter Rechtssätze – sei es durch die theoriegeleitete Auslegung geschriebener Normen oder sei es gar bei der Entwicklung ungeschriebener Normen.“ Auch Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 7, bescheinigt der Rechtsdogmatik einen „produktiven Charakter“. 71 Am deutlichsten bei Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, S. 316, 319 und 322. Ebenso mahnt Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 15, „die spezifische Systematisierungsarbeit der Jurisprudenz [müsse] […] auf ihre ganz zentrale Aufgabe der Rechtsgewinnung ausgerichtet sein“, um an späterer Stelle, a. a. O., S. 25, die „Bestrebungen der Begriffsjurisprudenz“ pflichtschuldig für „gründlich gescheitert“ zu erklären. 72 Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, S. 316. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 329, spricht von der „Entlastungsfunktion“ juristischer Dogmatik, die „für die unter Zeitdruck stattfindende Arbeit der Gerichte unentbehrlich“ sei.

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Gleichwohl haben diese Beschränkungen der dogmatischen Methode das Selbstbewusstsein und die Kreativität deutscher Universitätsjuristen kaum schmälern können. So wurden auch noch im 20. Jahrhundert zahlreiche Parallelwertungen in unterschiedlichen Rechtsgebieten entdeckt und zu neuen Rechtsinstituten synthetisiert, wie beispielsweise das Gestaltungsrecht, die Treuhand, das Dauerschuldverhältnis, die Vertrauenshaftung oder die Verkehrspflichten.74 Ebenso belegt beispielsweise die Fülle dogmatischer Kontroversen zum Bereicherungsrecht – über das funktionale Verhältnis der Leistungs- zur Nichtleistungskondiktion, über den Begriff des Rechtsgrundes, über die Anwendungsbereiche der speziellen Kondiktionstatbestände, aber auch über das Verhältnis des Leistungsbegriffs des Bereicherungsrechts zu dem des Erfüllungsrechts – wie unabgeschlossen die Systembildung selbst in Kernbereichen des Privatrechts weiterhin ist.75 Insofern überrascht es nicht, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzelne Rechtswissenschaftler sich nicht gescheut haben, gegen die Positivität einer als unzureichend oder unzeitgemäß empfundenen gesetzlichen Regelung anzukämpfen und radikale Uminterpretationen einzelner Rechtsgebiete auf einen allgemeinen Gedanken zu stützen – erinnert sei nur an Werner Flumes Darstellung des allgemeinen Teils des bürgerlichen Rechts, die den Grundsatz der Privatautonomie zum zentralen Gedanken des Privatrechts stilisierte,76 oder an Karsten Schmidts Fortentwicklung des Handelsrechts vom Recht des Kaufmanns zum „Außenprivatrecht der Unternehmen“.77

3. Dogmatische Denkformen 3. Dogmatische Denkformen

Die einzelnen gedanklichen Operationen, die in ihrer Gesamtheit die Rechtsdogmatik als Verfahren ausmachen, wird man in der wissenschaftlichen Pra73 Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, S. 104. Zur dieser Kontrollfunktion juristischer Dogmatik siehe auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 331 f. 74 Diese und weitere Beispiele für dogmatische Neubildungen liefern Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, S. 319, und Jansen, Dogmatik, Erkenntnis und Theorie im Europäischen Privatrecht, S. 765 f. 75 Vgl. Thomale, Leistung als Freiheit, S. 1. 76 W. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Zweiter Band. 77 K. Schmidt, Handelsrecht. Für Bumke, Rechtsdogmatik, S. 649, ist Karsten Schmidts Werk Ausdruck einer – vor allem in der Privatrechtswissenschaft verbreiteten – Vorstellung, die Rechtsdogmatik sei gegenüber der Gesetzgebung zu einem gewissen Grade autonom. Nach diesem Verständnis sind dogmatische Begriffe das Ergebnis wissenschaftlicher Tätigkeit und stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers; zudem kann die Jurisprudenz eigenständig neue Regeln vorschlagen, wenn der Gesetzgeber auf Veränderungen der Lebenswelt nicht angemessen reagiert.

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Kapitel 1: Rechtsdogmatik in Deutschland

xis nur selten isoliert antreffen. Die Definition eines Rechtsbegriffs erfolgt üblicherweise durch Konstruktion, also seine Einordnung in das bereits vorhandene Begriffssystem, welches dadurch freilich modifiziert wird. Die Behandlung eines besonders abstrakten Begriffs wird häufig mit seiner Einteilung in verschiedene Unterarten verbunden und ist damit selbst schon Teil der Systembildung. Ebenso ist die Abgrenzung zweier Rechtsgebiete voneinander im konkreten Einzelfall oftmals identisch mit der Abwägung gegenläufiger Prinzipien, die unterschiedlichen Regelungsregimes entstammen. Solche Ausgleichsbemühungen wirken sich allerdings auf das Prinzipiensystem als Ganzes aus. Schließlich lassen sich Begriffs- und Prinzipienbildung schon deshalb nicht voneinander trennen, weil Rechtsbegriffe Bestandteile von Rechtsprinzipien sind. Die nachfolgende, sezierende Darstellung der in der deutschen Rechtswissenschaft verwendeten dogmatischen Denkweisen hat deshalb etwas Künstliches. Sie soll jedoch größere Klarheit über das Instrumentarium der Rechtsdogmatik schaffen und eine genaue Beschreibung vergleichbarer Methoden englischer Juristen ermöglichen. a) Arrangement von Normen zu Rechtsgebieten Der einfachste Weg, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Regelungen herzustellen, besteht darin, sie zu Rechtsgebieten zusammenzufassen. Dieser Prozess kann sich aufsteigend vollziehen: ausgehend von der Umgrenzung eines einzelnen Rechtsgebiets über die Abgrenzung verschiedener Regelungsbereiche voneinander bis hin zur umfassenden Einteilung sämtlicher Rechtsnormen in Rechtsgebiete und deren Anordnung in einem „äußeren System“. 78 Gleichermaßen anzutreffen ist auch das umgekehrte Verfahren, bei der mit der Einteilung des gesamten Normenbestandes in Teilgebiete begonnen wird, um sodann auf schwierige Abgrenzungsfragen einzugehen. Während das absteigende Verfahren zur planmäßigen Darstellung des Rechtsstoffs verwendet wird,79 soll die Isolation eines kleinen Stückes aus der Normenmasse dazu dienen, die ihm eigentümlichen Grundsätze klarer zu erfassen und damit den Blick für diejenigen Wertungsgesichtspunkte zu öffnen, die für die Auslegung dieser Rechtssätze von Bedeutung sind.80 Die Unterscheidung zwischem einem „äußeren“ und einem „inneren“ System geht auf Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 142 ff., zurück. Siehe auch die Gegenüberstellung bei Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 20 und 35 ff. 79 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 163. 80 Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 36 („[…] man kann der Prinzipien etwa des Schadensersatzrechts, des Sachenrechts, des Immaterialgüterrechts etc. wegen des wesentlichen induktiven Elements der Prinzipienermittlung nicht habhaft werden, ohne das Schadensersatzrecht, Sachenrecht, Immaterialgüterrecht vorweg einigermaßen abgegrenzt zu haben“). 78

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Eine Möglichkeit, ein Rechtsgebiet zu formen, besteht darin, einen einigermaßen abgrenzbaren Realitätsausschnitt zu wählen und sämtliche Normen, die bei seiner rechtlichen Beurteilung berücksichtigt werden müssen, zu einem Normenkomplex zusammenzufassen. Dies führt zu kontextuellen Kategorien wie „Bankrecht“, „Medizinrecht“ oder „Sportrecht“. Dem stehen verschiedene Möglichkeiten gegenüber, bei der Umgrenzung einzelner Gebiete an rechtlich vorgegebene Kriterien anzuknüpfen. So kann ein juristisch definierter Tatbestand zum Ausgangspunkt genommen werden – wie etwa die Kaufmannseigenschaft, welche die Anwendung handelsrechtlicher Vorschriften nach sich zieht – oder eine bestimmte Rechtsfolge – wie die absolute Wirkung mancher subjektiver Rechte, die hauptsächlich durch die Normen des Sachenrechts vermittelt wird. Schließlich lassen sich die reale und die ideale Dimension eines Normenkomplexes auch miteinander kombinieren, indem herausgearbeitet wird, auf welche Weise das Recht einen bestimmten Lebensausschnitt regelt. Dadurch können gerade solche Rechtssätze zu einer Menge zusammengefasst werden, die ein gemeinsames Regelungsziel verfolgen oder ein bestimmtes Leitbild verankern. So lässt sich beispielsweise das Arbeitsrecht als dasjenige Rechtsgebiet definieren, das sich der weisungsabhängigen Beschäftigten annimmt, die üblicherweise unbefristet und in Vollzeit an einem Arbeitsplatz tätig sind und, weil sie auf das resultierende Einkommen existenziell angewiesen sind, ihrem Vertragspartner gegenüber unterlegen sind – die Vorschriften des Arbeitsrechts sollen ebendiese strukturelle Ungleichheit ausgleichen.81 Deutsche Rechtswissenschaftler sehen die laienhaften kontextuellen Kategorien als unbefriedigend an, weil sie zu Überschneidungen der Rechtsgebiete führen und damit nicht die beabsichtigte Reduktion, sondern eine Multiplikation des Rechtsstoffs bewirken.82 Die typische wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung eines einzelnen Faches verläuft deshalb so, dass zur Abgrenzung zunächst nur die reale Dimension herangezogen wird und sich erst später die ideale Dimension des Rechtsgebiets, seine „normative[…] Spezifität“83 abzeichnet. So fasste man zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch sämtliche Dienstleistungen, auch diejenigen von Selbständigen oder Beamten, unter den Begriff des „Arbeitsvertrages“ und konturierte erst später die rechtliche Eigenschaft als „Arbeitnehmer“, die nunmehr die Anwendbarkeit des Regelungsregimes erst eröffnete.84

Vgl. Richardi, Gegenstand und Leitprinzipien des Arbeitsrechts, S. 39. Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 31 ff. 83 Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 31. 84 Zur älteren Auffassung siehe Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches. Band 1, S. 32 ff., zur neueren Hueck / Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts. Erster Band, S. 34 ff. 81 82

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Umgekehrt kann die verspätete Entdeckung der normativen Heterogenität eines landläufig als Einheit verstandenen Rechtsgebiets zu seiner Aufspaltung durch die Wissenschaft führen. So wurde beispielsweise behauptet, den Vorschriften des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses liege, obgleich geeint durch das Erfordernis einer Vindikationslage, kein gemeinsamer Zweck zugrunde. Tatsächlich handele es sich um ein Konglomerat bereicherungsrechtlicher und deliktsrechtlicher Regelungen, ein kurioses Überbleibsel aktionenrechtlichen Denkens. Die einzelnen Normen seien deshalb anderen Rechtsgebieten zuzuschlagen.85 Vergleichbare Akte der Zertrümmerung muss auch das Recht der Geschäftsführung ohne Auftrag erdulden, in dem mit der Fremdgeschäftsführung ohne Auftrag vertrags- und bereicherungsrechtliche Spezialtatbestände sowie mit der angemaßten Eigengeschäftsführung ein Delikt amalgamiert sind.86 Es ist deswegen zweifelhaft, ob diese Institute von gemeinsamen Wertungen getragen werden.87 Das gesamte Recht so anzuordnen, dass es möglichst leicht erlernt werden kann, zählt zu den ältesten Elementen dogmatischen Denkens. Insofern ist die deutsche Rechtswissenschaft seit ihren Ursprüngen systematisch. Schon im 16. Jahrhundert unternahmen die humanistischen Juristen verschiedene Versuche, sich von der Legalordnung der Quellen, also der Bücher- und Titelfolge der Digesten sowie der Institutionenordnung, zu emanzipieren und an ihre Stelle eine übersichtlichere Einteilung des Rechts nach dem dihairetischen Verfahren zu setzen.88 Dabei ging es jedoch noch nicht um einen gedanklichen Neuaufbau des Rechts, der auch inhaltliche Konsequenzen gehabt hätte, sondern nur darum, sich auf dem „weiten Ozean des Rechts“89 überhaupt zurechtzufinden.90 Jedenfalls zeigt sich bereits im 17. Jahrhundert die Tendenz, wieder zur Quellenordnung zurückzukehren. 91 Die naturrechtliche Jurisprudenz, die nicht an die autoritativen Vorgaben des ius civile gebunden war, entwickel85 Vgl. Pinger, Funktion und dogmatische Einordnung des Eigentümer-BesitzerVerhältnisses, S. 137. 86 Vgl. Jansen, Geschäftsführung ohne Auftrag, S. 707 f.; Wenckstern, Die Geschäftsanmaßung als Delikt. 87 Jansen, Gesetzliche Schuldverhältnisse, S. 172. 88 Zur wissenschaftlichen Ordnung im 16. Jahrhundert siehe Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 82 ff., sowie Stein, The Quest for a Systematic Civil Law, S. 153 ff. Die auf Galen zurückgehende dihairetische Methode der Einteilung eines Gegenstandes in Gattungen und Arten fand weite Verbreitung durch die Dialecticae Institutiones des Petrus Ramus von 1543. Ihre Anwendung auf die Jurisprudenz kulminierte bei Althusius, Dicaeologicae libri tres. 89 Freigius, Partitionis iuris utriusque („[…] ut in latissimo legum Oceano nihil ad intelligentiam memoriamque aptius esse videatur […]“), zitiert nach: Schröder, Die ersten juristischen „Systematiker“, S. 32). 90 Schröder, ebd., gegen Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Erste Abtheilung, S. 140. 91 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 90.

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te eine neue Stoffanordnung, die vom Recht des Einzelnen über das Familienrecht zum Standesrecht, dem Staatsrecht und schließlich zum Völkerrecht aufsteigt und denen in einem „Pars generalis“ noch die allgemeinsten Lehren vorangestellt werden.92 Unter ihrem Einfluss gab auch die Wissenschaft vom gemeinen Recht an der Wende vom 18. Jahrhundert zum 19. Jahrhundert das ältere Institutionensystem preis und ersetzte es durch das Pandektensystem. 93 Für dieses ist eine „Kreuzeinteilung“94 kennzeichnend, bei der das rechtliche Unterscheidungskriterium der absoluten oder relativen Wirkung subjektiver Rechte (Sachenrecht und Obligationenrecht) mit einer Zusammenfassung der für bestimmte Lebensausschnitte wichtigen Vorschriften (Familienrecht und Erbrecht) kombiniert wird; der vorangehende „Allgemeine Teil“ kam nun als neuer Bestandteil zu dem überlieferten Stoff hinzu. 95 Das Pandektensystem war nicht nur im gesamten 19. Jahrhundert herrschend, sondern liegt auch dem BGB zugrunde. In ihm finden sich sogar allgemeine Teile des Schuldrechts und des Liegenschaftsrechts; seine strenge Systematik wird freilich des Öfteren durch assoziative Anordnungsmuster durchbrochen.96 Mag dies als Beleg dafür gelten, dass der Einfluss der Dogmatik auf die Gesetzgebung im Bereich der Stoffgliederung am höchsten war,97 so verhielt es sich im 20. Jahrhundert doch umgekehrt so, dass die Kodifikation nunmehr der Privatrechtswissenschaft ein geradezu unabänderliches „äußeres System“ vorgegeben hatte. Lehrbücher und Vorlesungen folgten fast ausschließlich der Einteilung des Gesetzes in Bücher und Abschnitte,98 während übergreifende Darstellungen die Ausnahme bildeten.99 Die unveränderte Herrschaft des Pandektensystems lässt sich am Scheitern eines Lieblingsprojekts der Rechtsdogmatik ablesen, nämlich der Integration der außerhalb des BGB gewachsenen Sonderprivatrechte (also des Handelsrechts, des Immaterialgüterrechts, des Versicherungsrechts und des Arbeitsrechts) in das Bürgerliche Recht. Dagegen zeigt die österreichische Entwicklung, dass es selbst in einem Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 187 ff. A. B. Schwarz, Zur Entstehung des modernen Pandektensystems. 94 Zitelmann, Der Wert eines „allgemeinen Teils“ des bürgerlichen Rechts, S. 11. 95 A. B. Schwarz, Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, S. 7. 96 So werden beispielsweise die Forderungsabtretung und der Verzicht im Schuldrecht behandelt, obwohl beide Verfügungen sind; dagegen wird der Fund dem Sachenrecht zugeordnet, obwohl die meisten Vorschriften nicht das Aneignungsrecht des Finders, sondern das gesetzliche Schuldverhältnis zwischen Verlierer und Finder betreffen. Auch die einzelnen Schuldverhältnisse werden assoziativ aneinandergereiht, so dass zum Beispiel auf den Auftrag die Geschäftsführung ohne Auftrag folgt. 97 Schröder, Das Verhältnis von Rechtsdogmatik und Gesetzgebung, S. 502 f. 98 Fikentscher, Schuldrecht, übernimmt beispielsweise nicht nur die Aufteilung in Allgemeinen und Besonderen Teil, sondern folgt auch weitgehend der Reihenfolge der Titel des Besonderen Teils. 99 Beispiele für solche übergreifenden, aber dennoch an rechtlichen Kategorien orientierte Darstellungen sind Kötz, Vertragsrecht, sowie Bülow, Recht der Kreditsicherheiten. 92 93

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rechtspositivistischen Umfeld durchaus möglich ist, das Ordnungsschema der Kodifikation zu überwinden: Obwohl das ABGB eine Variante des Institutionensystems zeigt, wurden doch die meisten wissenschaftlichen Darstellungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem Pandektensystem aufgebaut.100 b) Gewinnung von Prinzipien Die Vorstellung, dass es neben konkreten Rechtsregeln noch wesentlich abstraktere Rechtsprinzipien gibt, ist unter deutschen Rechtswissenschaftlern allgemein verbreitet.101 Häufig wird die Unterscheidung zwischen diesen beiden Normtypen anhand ihres Abstraktionsgrades vorgenommen; demzufolge ist jede relativ abstrakte Regel gegenüber einer noch konkreteren Regel schon ein Prinzip. Insofern ist es möglich, Prinzipien induktiv aus mehreren Normen zu gewinnen und von manchen Prinzipien zu noch abstrakteren aufzusteigen102 – eine Methode, die auch als „Gesamtanalogie“ bezeichnet wird.103 Ebenfalls verbreitet und mit der vorgenannten häufig verbunden ist die Auffassung, dass Prinzipien in inhaltlicher Hinsicht moralische Gründe oder politische Ziele einzelner Regelungen formulieren beziehungsweise den Leitgedanken eines größeren Regelungskomplexes ausdrücken.104 Die hinter einer einzelnen Vorschrift stehende Rechtfertigung wird deshalb oft „Wertung“, „Einzelwertung“ oder „Regelungsgedanke“ genannt, während in Bezug auf die gesamte Rechtsordnung von „Grundwertungen“ und „allgemeinen Prinzipien“ die Rede ist.105 Seit geraumer Zeit werden Prinzipien auch als Optimierungsgebote verstanden; sie verlangen demnach eine möglichst weitgehende Realisierung. Der Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien ist nach dieser Auffassung qualitativer Natur und zeigt sich insbesondere im Einflussreich waren insbesondere die Lehrbücher von Joseph Unger. Zur Rezeption des Pandektensystems in Österreich siehe Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 23 und S. 21 Fn. 36 (mit weiteren Nachweisen). 101 Zum Meinungsspektrum hinsichtlich einer Theorie des Rechtsprinzips siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 72 ff., sowie Metzger, Extra legem, intra ius, S. 13 ff. 102 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 97 ff.; Metzger, Extra legem, intra ius, S. 161 ff. 103 Siehe beispielsweise Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 383. 104 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 51 f. 105 Diese Unterscheidung findet sich beispielsweise bei Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 97: „Das positive Recht erschöpft sich nicht in seinen Anordnungen und Einzelwertungen; diese stehen vielmehr vor dem Hintergrunde tiefgreifender Ordnungsgesichtspunkte und Grundwertungen: hinter lex und ratio legis liegt die ratio iuris.“ Vgl. auch dens., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 46 f. Ein ähnlicher Sprachgebrauch findet sich bei Ballerstedt, Über Zivilrechtsdogmatik, S. 257 f., der in der Bestimmung der im Gesetz positivierten Wertentscheidungen die eigentliche Aufgabe der Dogmatik sieht und darüber das systematische Element vernachlässigt. 100

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Kollisionsverhalten: Während beim Aufeinandertreffen zweier einander widersprechender Regelungen stets eine in ihrer Geltung verdrängt oder durch eine Ausnahme eingeschränkt wird, können Prinzipien in verschiedenen tatsächlichen Situationen ein unterschiedliches Gewicht haben und müssen deshalb in jedem neuen Fall gegeneinander abgewogen werden.106 Eine ältere, auch heute noch gebräuchliche Variante des Prinzipiendenkens ist die Erklärung und Ergänzung einzelner Normen aus Rechtsinstituten. Bei einem Rechtsinstitut handelt es sich um ein Konglomerat tatsächlicher Gegebenheiten, das als sinnstiftendes Leitbild ausgegeben wird; der naturalistische Fehlschluss wird hier gewissermaßen zum Programm erhoben.107 Obwohl die Deduktion von Regeln aus Prinzipien ein Vermächtnis des vernunftrechtlichen Rationalismus darstellt,108 so ist doch das induktive Verfahren der Prinzipiengewinnung eine Erbschaft der Pandektistik.109 Zwar war es bereits im 17. und 18. Jahrhundert verbreitet, Prinzipien erst dem Naturrecht zu entnehmen und diese sodann in das römische Recht einzugliedern beziehungsweise zu unterstellen, der Gesetzgeber habe ihnen Geltung verschaffen wollen.110 Die Erzeugung neuen Rechts aus dem Inbegriff mehrerer Rechtsnormen galt jedoch als unsicheres Verfahren. Denn ebenso wie die Induktion als methodisches Instrument in den Erfahrungswissenschaften der damaligen Zeit allgemein wenig geschätzt wurde, schien sich auch der von historischen Zufälligkeiten bestimmte, fragmentarische Stoff des positiven Rechts vernunftgeleiteten Verallgemeinerungen zu widersetzen.111 Erst die Vorstellung eines zwischen den Rechtsregeln bestehenden inneren Zusammenhangs112 erlaubte es Savigny, aus den einzelnen Entscheidungen der römischen Juristen die tatsächlichen Voraussetzungen des Besitzes zu abstrahieren113 oder aus mannigfachen Stellen den Grundsatz herauszulesen, dass die condictio immer dann zu geben ist, wenn aufgrund einer Obligation der Schuldner aus dem Vermögen des Gläubigers bereichert und die Vindikation 106 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. Ihm folgte beispielsweise Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S. 115 ff. 107 Zum Denken in Instituten findet sich heute wenig Methodenliteratur; vgl. aber Staudinger-Coing, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Rn. 166 f. 108 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 373 f. 109 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 175 und 252 ff. 110 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 175 ff. 111 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 178 f., 182 und 185. Bekanntheit erlangte, auch in Deutschland, die Induktionskritik David Humes, die induktivem Schließen den Rang eines rationalen Verfahrens abspricht. Vgl. Metzger, Extra legem, intra ius, S. 38. 112 Siehe oben, S. 35 ff. 113 Savigny, Das Recht des Besitzes, S. 180; Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 256, sieht diese, später für vorbildlich befundene, Monographie als einen Beleg dafür an, mit welcher Selbstverständlichkeit die unvollständige Induktion im 19. Jahrhundert zur Bildung neuer Rechtssätze verwendet wurde.

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ausgeschlossen ist.114 Erst der Gedanke der Vollständigkeit des Rechtssystems ermöglichte Jhering die „Entdeckung“ der culpa in contrahendo in den Quellen des römischen Rechts.115 Prinzipien waren für Jhering jedoch nicht nur das Ergebnis der „logischen Concentration“, also einer Zusammendrängung des Volumens der Rechtsmassen durch Abstraktion aus gegebenen Einzelheiten.116 Prinzipien entwickeln sich seiner Auffassung zufolge aus den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs: Ihren historischen Durchbruch haben sie zunächst als Ausnahmen, die erst im weiteren Verlauf der Rechtsevolution zur Regel erstarken; sie fristen zunächst ein unbeachtetes Dasein an der Peripherie des Rechts, bevor sie vom Zentrum aus die ganze Masse des Stoffs in einem Gedanken ergreifen können.117 Nach dem Verständnis zeitgenössischer Rechtswissenschaftler werden viele Rechtsgebiete bereits von jeweils einem altehrwürdigen Grundsatz beherrscht, der nicht mehr eigens bewiesen werden muss. So wäre es beispielsweise müßig, den bereits im republikanischen römischen Recht anerkannten118 Gedanken der Testierfreiheit heute noch aus verschiedenen Regelungen über die Verfügung von Todes wegen herleiten zu wollen, wie aus dem Erfordernis der Höchstpersönlichkeit (§§ 2064 und 2274 BGB sowie §§ 2065 und 2279 BGB), den vor Übereilung schützenden Formervorschriften (§§ 2231 und 2276 BGB), der Anfechtbarkeit wegen Irrtums oder Drohung (§§ 2078 BGB) sowie der jederzeitigen Widerruflichkeit des Testaments (§ 2253 BGB). Vielmehr belegen diese Regelungen gerade die überragende Bedeutung des Grundsatzes der Testierfreiheit. Bisweilen spricht das Gesetz ein Prinzip sogar offen aus, und die Wissenschaft bemüht sich, einzelne Emanationen desselben zu finden und diese in einen Zusammenhang zu stellen. Zum Beispiel ist das Kindeswohlprinzip, das als Leitstern über dem Recht der elterlichen Sorge steht, in § 1627 BGB ausdrücklich festgehalten worden, so dass sich die einschlägigen Lehrdarstellungen damit begnügen müssen, einzelne Ausprägungen desselben aufzuzählen: Das wachsende Bedürfnis des Kindes nach selbständigem Handeln soll respektiert werden (§ 1626 Abs. 2 BGB), entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind verboten (§ 1631 Abs. 2 BGB), während in Angelegenheiten der Ausbildung Rücksicht auf die Eignung und Neigung des Kindes geboten ist (1631a BGB).119

Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Fünfter Band, S. 507 ff. Jhering, Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfektion gelangten Verträgen. Dazu Dölle, Juristische Entdeckungen, S. B 7 ff. 116 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 352. 117 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 338 ff. und 354. 118 Schulz, Classical Roman Law, S. 239. 119 Schwab, Familienrecht, S. 259 ff. 114 115

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Für einige Rechtsgebiete ist sogar die Existenz ganzer Bündel von Prinzipien anerkannt, und es stellt sich weniger die Frage ihrer induktiven Herleitung als vielmehr die nach ihrer sinnvollen Abgrenzung, Kombination oder Einschränkung. Berühmte Beispiele sind die Grundsätze des Sachenrechts (Typenfixierung und Absolutheit dinglicher Rechte, Publizität, Spezialität und Abstraktheit in Bezug auf das Verfügungsgeschäft) 120 oder die Maximen des Zivilprozesses (Dispositions-, Verhandlungs- und Konzentrationsmaxime sowie die Grundsätze des rechtlichen Gehörs, der Mündlichkeit, der Unmittelbarkeit und der Öffentlichkeit).121 In manchen neueren Rechtsgebieten zeichneten sich solche Leitlinien dagegen erst allmählich in der kasuistischen Judikatur ab oder mussten von der Wissenschaft in mühevoller Kleinarbeit herausdestilliert werden. Die gesetzliche Regelung des allgemeinen Kündigungsschutzrechts bei Arbeitsverhältnissen beispielsweise erschöpft sich weitgehend in generalklauselartigen Wendungen, die in jahrzehntelanger Anwendung durch eine Fülle von Einzelentscheidungen konkretisiert worden sind. Hier brachte die Konturierung von Grundsätzen eines mittleren Abstraktionsniveaus – des Prognoseprinzips, des ultima-ratio-Prinzips oder des Gebots einer Interessenabwägung zwischen dem Bestandsinteresse des Arbeitnehmers und dem Auflösungsinteresse des Arbeitgebers – einen erheblichen Zugewinn an Übersicht.122 Einen Beispiel für eine rechtsgebietsübergreifende Induktion liefert das Recht zur außerordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund. Die Rechtsprechung hatte auf eine Reihe ähnlich lautender Tatbestände aus dem Dienstvertragsrecht (§ 626 BGB), dem Auftragsrecht (§ 671 Abs. 2 und 3 BGB), dem Gesellschaftsrecht (§ 723 Abs. 1 S. 2 BGB) sowie dem Recht der Handelsvertreter (§ 89a HGB) den allgemeinen Rechtsgedanken gestützt, ein wichtiger Grund berechtige zur fristlosen Kündigung aller Rechtsverhältnisse von längerer Dauer, die ein persönliches Zusammenarbeiten der Beteiligten und daher ein gutes Einvernehmen erfordern.123 Diese Rechtsfortbildung wurde nicht nur in der Literatur mit Zustimmung aufgenommen,124 sondern bei Gelegenheit einer grundlegenden Reform des Schuldrechts auch im Gesetz selbst verankert (§ 314 BGB).

Die Prinzipien werden unterschiedlich bezeichnet und voneinander abgegrenzt. Siehe Prütting, Sachenrecht, S. 9 ff.; Baur / Stürner, Lehrbuch des Sachenrechts, S. 27 ff.; Wieling, Sachenrecht, S. 8 f. 121 Auch hier gibt es terminologische Abweichungen. Vgl. Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 83 ff.; Paulus, Zivilprozessrecht, S. 107 ff. 122 Umfassend hierzu Preis, Prinzipien des Kündigungsschutzes bei Arbeitsverhältnissen. 123 RGZ 78, 389; 128, 16; 150; 199; BGHZ 15, 215. 124 Esser, Schuldrecht. Band I, S. 196; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts. Erster Band, S. 32 f.; Fikentscher, Schuldrecht, S. 39. 120

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Ebenso lässt sich aus verschiedenen Tatbeständen des Schenkungsrechts, des Bereicherungsrechts sowie des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses das Prinzip der geringeren Schutzwürdigkeit des unentgeltlichen Erwerbs herleiten.125 Der Rückforderungsanspruch wegen Verarmung des Schenkers (§ 528 BGB), die Möglichkeit eines Widerrufs der Schenkung wegen groben Undanks (§ 530 BGB), der Durchgriff auf das aufgrund der Verfügung eines Nichtberechtigten unentgeltlich Erlangte (§ 816 Abs. 1 Satz 2 BGB) sowie die Pflicht des unberechtigten, unentgeltlich erwerbenden Besitzers zum Nutzungsersatz gegenüber dem Eigentümer (§ 988 BGB) lassen sich nämlich allesamt damit begründen, dass hier lediglich ein Vermögenszuwachs rückgängig gemacht wird, der nicht auf einem eigenen Verdienst des Beschenkten beruht und damit nicht dem universalen Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit entspricht. Das Paradestück einer Prinzipienbildung, die den Normenbestand des gesamten Privatrechts mit einbezieht, ist die Theorie der Vertrauenshaftung. In seiner grundlegenden Monographie126 ging Claus-Wilhelm Canaris ausdrücklich induktiv vor. Aus dem Sammelsurium gesetzlich oder gewohnheitsrechtlich anerkannter Fälle127 setzte er wie in einem Mosaik das „Institut der allgemeinen Rechtsscheinhaftung“128 zusammen, indem er ähnliche Haftungskriterien herausarbeitete und diese zu allgemeinen Voraussetzungen und Rechtsfolgen abstrahierte. Beispiele für die Rechtsscheinhaftung sah Canaris unter anderem in den Rechtsscheintatbeständen des Vollmachtsrechts, der Lehre vom Scheinkaufmann beziehungsweise vom Scheingesellschafter, dem Erklärungswert des Schweigens auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben und der betrieblichen Übung. Diesen Instantiierungen der Rechtsscheinhaftung wurden sodann verschiedene Erscheinungsformen der „Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit“ zur Seite gestellt, wie beispielsweise die Erwirkung oder der Gedanke des venire contra factum proprium (der ebenfalls in so unterschiedlichen Konstellationen wie dem Vertrauen auf die Wirksamkeit eines eigentlich formnichtigen Rechtsgeschäfts oder dem Vertrauen auf die Kontinuität freiwilliger Leistungserbringungen nachgewiesen wird). Das Ergebnis der dogmatischen Arbeit des Gelehrten ist ein „Allgemeiner Teil“, in dem aus den Tatbestandsvoraussetzungen der einzelnen Institute die „allgemeinen Merkmale der Vertrauenshaftung“ abstrahiert worden sind: ein Vertrauenstatbestand; gewisse subjektive Anforderungen auf Seiten des Vertrauenden (wie die Kenntnis des Vertrauenstatbestandes), Gutgläubigkeit und eine darauf beruhende VertrauensinvesVgl. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 308. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht. 127 Vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. VII („systemloser Wildwuchs vertrauensrechtlicher Haftungstatbestände“). 128 Canaris, Handelsrecht, S. 85. 125 126

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tition; schließlich die Zurechenbarkeit des Vertrauenstatbestandes zum Anspruchsgegner. Damit gelang es Canaris, das in der damaligen Literatur nur schemenhaft umrissene Prinzip129 zu einer subsumtionsfähigen Norm zu konkretisieren. Gleichzeitig erhob er es in den Rang eines der allgemeinen Prinzipien des Privatrechts, das mit dem ebenfalls hochrangigen Grundsatz der Privatautonomie konkurrieren konnte.130 Gleichwohl wäre es möglich, noch einen Schritt weiter zu gehen und das Prinzip der Vertrauenshaftung unter Berücksichtigung der Vorschriften über den gutgläubigen Erwerb von Rechten (§§ 892, 932 ff. BGB), über den Schutz des Vertrauens auf eine Empfangslegitimation (§§ 407 f., 808 Abs. 1 S. 1 BGB) sowie des Instituts der Verwirkung zu einem noch abstrakteren Prinzip des Vertrauensschutzes im Rechtsverkehr zu erweitern.131 Dieser Grundsatz könnte dann auf einer Stufe mit den höchsten Prinzipien des Privatrechts wie der ausgleichenden Gerechtigkeit oder dem Schutz subjektiver Rechte stehen. c) Bildung von Grundbegriffen Eine der wichtigsten Errungenschaften dogmatischen Denkens sind solche Grundbegriffe, die nicht nur im gesamten Privatrecht, sondern auch im öffentlichen Recht von Bedeutung sind. Es handelt sich dabei um grundlegende Konstruktionselemente, die bei der Erklärung juristischer Einzelphänomene universell zum Einsatz gebracht werden können.132 Sie waren ursprünglich eigenständige Schöpfungen der Rechtswissenschaft. Später wurden sie vom Gesetzgeber aufgegriffen und sind deshalb heute Gegenstand der Gesetzesinterpretation.133 Die Bemühungen der Rechtswissenschaft um das richtige Verständnis dieser zentralen Begriffe gelangten indes weit über bloße Definitionsvorschläge zum Zwecke der richtigen Gesetzesanwendung hinaus. Die zur Konturierung solcher Begriffe vorgetragenen Theorien versuchen, die Struktur rechtlicher Beziehungen modellhaft zu erfassen und streben insofern gedankliche Klarheit über rechtliche Zustände im Allgemeinen an.134 In der Verschie-

129 Vgl. die Kritik älterer Auffassungen bei Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 9 ff. 130 Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 424 ff. 131 Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 3, deutet diese Möglichkeit selbst an. 132 Vgl. R. Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, S. 110. 133 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 402; R. Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, S. 110. 134 So spricht beispielsweise Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, S. 194, im Rahmen seiner Behandlung der „Struktur des Rechtsverhältnisses“ von einer „Modellvorstellung“ und betont, a. a. O., S. 196 Fn. 4a, es gehe nicht „nur um eine Frage der Formulierung, sondern um das richtige Verständnis derjenigen Grundbegriffe,

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denheit der Begriffsbildungen spiegelt sich zudem der Wandel sozialphilosophischer und politischer Überzeugungen über die Rolle des Privatrechts in der menschlichen Gemeinschaft wider. Die Abstraktheit sowie die politische Aufgeladenheit dieser Begriffe führen jedoch dazu, dass diejenigen Juristen, deren tägliches Brot die Lösung speziellerer dogmatischer Fragen ist, derartige Auseinandersetzungen regelmäßig als fruchtlos abtun und über sie hinweggehen. Die Definition der juristischen Grundbegriffe ist deshalb zur Domäne großer Lehrbücher und anspruchsvoller Monographien geworden. Das „Rechtsverhältnis“ gilt erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts als einer der Zentralbegriffe des Privatrechts, als ihr antiker Vorläufer, die obligatio (Verbindlichkeit oder Schuldverhältnis), zu dessen wichtigstem Unterfall herabgestuft wurde. Bei der Beschreibung der Struktur der obligatio war ursprünglich die – in der Etymologie bereits angelegte – Gebundenheit des Unterworfenen betont worden; später hatten Pufendorf und Wolff diese als Gewissenspflicht des Individuums gedeutet. 135 Savigny erhob nun, Kants Rechtslehre folgend, die rechtmäßig erlangte Freiheit des Berechtigten, den anderen zu einzelnen Handlungen zwingen zu können, sowie dessen fortschreitende, „organische“ Entwicklung inmitten der äußeren Welt zu bestimmenden Merkmalen des Rechtsverhältnisses.136 Insofern kann man sich das Rechtsverhältnis heute als Rechtsbeziehung zwischen zwei oder mehreren Personen vorstellen und damit die Gebundenheit allein der normativen Sphäre zuordnen,137 es aber auch als rechtlich geregeltes Lebensverhältnis beschreiben138 und damit den Ausschnitt aus der Wirklichkeit als das Primäre deuten, das erst sekundär seine Überformung durch das Recht erfährt. Deutsche Rechtswissenschaftler haben lange diskutiert, ob ein Rechtsverhältnis nur zwischen zwei Personen oder auch zwischen einer Person und einer Sache bestehen kann;139 ob ganze Rechtsverhältnisse oder im Regelfall nur einzelne Rechte übertragen werden können;140 schließlich, welchen Inhalt solche Gebilde neben Berechtigungen und den ihnen korrespondierenden deren wir uns immer dann bedienen, wenn es um die rechtliche Bedeutung eines (im weiteren Sinne) sozialen Sachverhalts geht“. 135 H. Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, S. 90 f. 136 Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. 6 ff. und 331 ff. Hierzu H. Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, S. 92 ff., der freilich die Unterschiede zwischen Kants und Savignys Definition hervorhebt. 137 Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, S. 196 f. 138 Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Erster Halbband, S. 427; ähnlich Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, S. 27 ff. 139 Siehe Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, S. 195 f., einerseits, und von Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts. Erster Band, S. 123, andererseits. 140 Siehe wiederum Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, S. 207, sowie von Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts. Erster Band, S. 220 f.

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Pflichten noch aufweisen können – also beispielsweise Gebundenheiten, Obliegenheiten oder Empfangszuständigkeiten.141 Die andere Grundkategorie deutscher Rechtsdogmatik ist das „subjektive Recht“. Savignys noch heute geläufige Definition des Rechts als Freiheitssphäre, als „die der einzelnen Person zustehende Macht: ein Gebiet worin ihr Wille herrscht“,142 offenbart, dass der Gedanke der rechtlichen Befugnis auf dem Boden einer Sozialphilosophie gewachsen ist, die im Schutz der Autonomie des Einzelnen das wesentliche Ziel einer Gesellschaftsordnung sah.143 Jherings Entgegnung, das subjektive Recht sei „das rechtlich geschützte Interesse“, verlagerte nicht nur den Schwerpunkt der Betrachtung vom Individuum auf die Gemeinschaft, sondern hatte auch Konsequenzen für die Struktur des subjektiven Rechts: Die Befugnis konnte von da an nicht nur überschritten werden, sondern war auch innerlich durch ihren Zweck begrenzt, so dass eine seiner sozialen Zweckbestimmung widersprechende Ausübung missbräuchlich wurde.144 Im Hinblick auf seine Struktur haben deutsche Juristen eine Ontologie des subjektiven Rechts erdacht: Nach seiner Entstehung kann es seinen Inhalt ändern; es kann mit weiteren Rechten belastet oder einem anderen Rechtssubjekt übertragen werden; schließlich kann es durch Aufhebung, Ausübung oder Zeitablauf erlöschen. Jeder einzelne Abschnitt im Leben einer Befugnis145 bietet wiederum mannigfaltige Möglichkeiten der Variation. So kann beispielsweise ein Recht nur für sich, zusammen mit sogenannten Nebenrechten oder im Verbund mit dem gesamten Vermögen eines Rechtssubjekts übergehen; außerdem kann das Recht entweder in seinem vollen Bestand übertragen werden, oder so, dass aus ihm ein Recht geringeren Umfangs entsteht.146 Davon ist jedoch die Konstellation zu unterscheiden, in der das Recht geteilt wird und nur eine Quote desselben als eigenständiges Recht sukzediert.147 Damit stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen ein Recht so zerlegt werden kann, dass zwar alle neu entstehenden Rechte nach wie vor den gleichen Ursprung haben, in ihren weiteren

Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, S. 200 ff.; Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, S. 29 f. 142 Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. 7. 143 Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, S. 51; Staudinger-Coing, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Rn. 163. 144 Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, S. 33; Esser, Schuldrecht. Band I, S. 34. 145 Solche evolutionistischen Metaphern verwenden noch Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Erster Halbband, S. 471 ff., in ihrem Kapitel über die „Entwicklungsstufen der Privatrechte“. 146 von Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts. Zweiter Band, Erste Hälfte, S. 59 f. und 62 ff. 147 von Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts. Zweiter Band, Erste Hälfte, S. 60 f. 141

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rechtlichen Schicksalen aber voneinander unabhängig sind.148 Am weitesten hat diese Gedankenwelt Andreas von Tuhr in seinem mehrbändigen Handbuch zum „Allgemeinen Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts“ ausgebreitet, wenngleich viele der von ihm aufgeworfenen, dem heutigen Leser bizarr anmutenden Fragestellungen – wie zum Beispiel derjenigen nach der mittelbaren Rechtszuständigkeit149 oder dem subjektivem Recht ohne Subjekt150 – schon in der Spätpandektistik virulent waren. Festzuhalten bleibt, dass diese plastischen Beschreibungen normativer Gegebenheiten das höchstmögliche Abstraktionsniveau aufsuchen. Sie erheben den Anspruch, Aussagen zu formulieren, die für das gesamte Privatrecht gelten und damit die lex lata in allen Rechtsgebieten getreu abbilden. Ein noch wichtigerer Bestandteil der Rechtsdogmatik im Sinne eines produktiven Systems sind Begriffe eines etwas geringeren, aber dennoch beachtlich hohen Abstraktionsgrades, die weit über einzelne Regelungskomplexe hinausgreifen. So bezieht sich zum Beispiel der Begriff der „Verfügung“ auf die privatautonome, unmittelbare Bestandsänderung sämtlicher Rechte – ganz gleich, ob es sich dabei um Forderungen, dingliche Rechte, Immaterialgüterrechte oder Geschäftsanteile handelt. Das „Rechtsgeschäft“ umfasst neben mehrseitigen Tatbeständen wie dem Vertrag oder dem Beschluss auch einseitige Erklärungen wie die Kündigung oder das Testament. Derartige Willensäußerungen können jeweils an „Willensmängeln“ leiden, wie zum Beispiel der „Geschäftsunfähigkeit“ oder dem „Irrtum“ und deshalb „nichtig“ oder „anfechtbar“ sein. Diese terminologischen Erfindungen der Rechtswissenschaft können in allen erdenklichen, insbesondere auch neuen Rechtsgebieten zum Einsatz kommen, indem sie auf die dort maßgeblichen, spezielleren Begriffe bezogen werden. Solche Elementarbegriffe verglich Jhering deshalb mit den Konsonanten eines „Alphabet[s] des Rechts“, die vielfältige Verbindungen mit seinen Vokalen, also den spezielleren Begriffen aus den jeweiligen Regelungsmaterien, eingehen können. 151 Ihre präzise Definition ist daher Voraussetzung für die Konstruktion, das heißt der Einordnung neuer rechtlicher Phänomene in das System. Die Bildung allgemeiner Begriffe ist aber auch für die Gewinnung von Rechtsprinzipien wichtig, weil diese Normsätze ihren weiten Anwendungsbereich erst durch die Abstraktheit ihrer Begriffe erlangen. Während sich die induktive Schöpfung von Rechtsprinzipien gerade dadurch vollzieht, dass die in den einzelnen Rechtsnormen vorhandenen Bevon Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts. Erster Band, S. 238 ff. 149 von Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts. Erster Band, S. 68. 150 von Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts. Erster Band, S. 76 f. 151 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 344 f. 148

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griffe durch das Weglassen einzelner Merkmale auf ein höheres Abstraktionsniveau gehoben werden, muss die Rechtswissenschaft ihre Elementarbegriffe heute nicht mehr in mühevoller Induktionsarbeit ermitteln. Selbst die Juristen des 19. Jahrhunderts fanden solche Begriffe schon im rationalistischen Naturrecht („Willenserklärung“,152 „Naturalobligation“153) oder im Usus modernus („Veräußerung“154, „Verjährung“155) vor und wandelten dann ihre Bedeutung teilweise erheblich ab, indem sie diese auf die Quellen des justinianischen Rechts bezogen. Immerhin schöpfte Savigny in seiner Monographie „Das Recht des Besitzes“, die der historischen Schule als methodisches Vorbild galt, seine Definition des Besitzes als Tatsache unmittelbar aus einer Zusammenschau der Quellen.156 Bisweilen glückte auch noch im 20. Jahrhundert die Entdeckung einer neuen Grundkategorie. Unter dem Namen „Gestaltungsrecht“ fasste Emil Seckel eine Fülle von Tatbeständen zusammen, in denen einer Person die Befugnis verliehen wird, eine konkrete Rechtsbeziehung ganz allein durch einseitiges Rechtsgeschäft zu gestalten.157 Anhand der Gemeinsamkeiten von Anfechtung, Widerruf, Rücktritt, Kündigung, Aufrechnung und Ausschlagung stellte er allgemeine Regeln für diese neue Klasse von Rechten auf, wie zum Beispiel, dass die Ausübungserklärung bedingungsfeindlich ist oder dass Gestaltungsrechte nur dann isoliert durch Abtretung übertragen werden können, wenn dies angesichts des Inhalts der Berechtigung sachgerecht erscheint. 158 Solche Neuschöpfungen juristischer Grundbegriffe sind heute jedoch schon deshalb selten geworden, weil die Vorschriften des Gesetzesrechts keine raue, ungeordnete Masse mehr bilden, sondern sich die Legislative seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend eines abstrahierenden Denkstils159 bediente und sich die Kunstausdrücke der Jurisprudenz zu Eigen machte. Statt autonomer Begriffsbildungen wurden nun von der Rechtswissenschaft subsumtionsfähige Definitionen für die in den Gesetzen verwendeten Begriffe verlangt; dogmatische Fragen verwandelten sich in Auslegungsfragen. Da man aber seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts überwiegend Zur Begriffsgeschichte der declaratio voluntatis siehe H. Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, S. 72 ff. 153 Der Ausdruck obligatio naturalis hat einen besonders weitreichenden Bedeutungswandel erfahren, vgl. Zimmermann, The Law of Obligations, S. 7 ff. (mit weiteren Nachweisen). 154 Zum Begriff der alienatio oder Veräußerung siehe Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts. Erster Band, S. 146 f. 155 Zur praescriptio vgl. Coing, Europäisches Privatrecht. Band I, S. 183 ff. 156 Dazu Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 271 und 273. 157 Seckel, Die Gestaltungsrechte des bürgerlichen Rechts, S. 210. Näheres zu dieser Entdeckung bei Chr. Hattenhauer, Einseitige private Rechtsgestaltung, S. 192 ff. 158 Dölle, Juristische Entdeckungen, S. B 11. 159 Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, S. 23 ff. 152

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davon ausging, dass die Begriffsbildung des Gesetzgebers auf dessen Zweckvorstellungen und den daraus folgenden willensmäßigen Festsetzungen beruhte,160 musste die klassische Definition, bei der ein Begriff durch die Zuordnung zu seiner Gattung und die Angabe eines besonderen Merkmals festgelegt wird, diskreditiert werden und einer teleologischen Auslegung weichen. Zumindest Heck und Stoll haben während der Blütezeit der Interessenjurisprudenz diese Konsequenz gezogen und für eine klare Trennung zwischen der Begriffsbildung zum Zwecke der wissenschaftlichen Darstellung (sogenannte Ordnungsbegriffe) und der Begriffsbildung im Rahmen der Rechtsfindung (sogenannte Gebotsbegriffe oder Sollbegriffe) plädiert.161 Mit der zunehmenden Anwendungsorientierung der Rechtsdogmatik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verringerte sich das Interesse an klassifikatorischer Begriffsbildung weiter. Larenz unterschied nur noch zwischen „abstrakt-allgemeinen Tatbestandsbegriffe[n]“, die Formeln für die Gesetzesanwendung im Einzelfall liefern, und „funktionsbestimmten Begriffen“.162 In der wissenschaftlichen Praxis stehen die beiden letztgenannten Formen der Begriffsbildung häufig unverbunden nebeneinander und werden erst vom Rechtsanwender miteinander verknüpft. So wird der gesetzliche Begriff der „Willenserklärung“ (§§ 105, 107, 116 ff., 130 ff. BGB) üblicherweise in einen objektiven Tatbestand (Kundgabe eines Rechtsbindungswillens) und einen subjektiven Tatbestand (Handlungswille und Erklärungsbewusstsein, fakultativ auch ein bestimmter Geschäftswille) gegliedert.163 Letztlich sind dies nur Minimalanforderungen, damit eine Willensäußerung überhaupt rechtliche Relevanz hat; eine solche Begriffsbestimmung orientiert sich am pathologischen Fall der nichtigen Willenserklärung und verfehlt den Zweck dieses Rechtsinstituts.164 Unter Flumes funktionaler Definition der Willenserklärung als „Rechtsgestaltung in Selbstbestimmung“165 lässt sich wiederum nur schwerlich subsumieren; sie kann allenfalls zur teleologischen Auslegung des Gesetzesbegriffs herangezogen werden, wenn die Tatbestandsmerkmale selbst Zweifelsfragen aufwerfen. Statt vieler Stoll, Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz, S. 172 und 195; zur Ausbreitung des voluntaristischen Rechtsbegriffs siehe Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 282 ff. 161 Stoll, Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz, S. 172 ff.; Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 129 und 163. 162 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 485. 163 Vgl. Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Zweiter Halbband, S. 898 ff. 164 So jedenfalls W. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Zweiter Band, S. 48. 165 W. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Zweiter Band, S. 60. Flume will damit das „Wesen der Willenserklärung“ bestimmen und wendet sich ausdrücklich gegen eine interessenjuristische Begriffsbildung. 160

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d) Systematisierung Die Errichtung eines Gedankengebäudes, in dem die gewonnenen Erkenntnisse ihren genauen Platz einnehmen können, ist die zentrale Aufgabe der Rechtsdogmatik. Systematisierung bedeutet in der Jurisprudenz, die begrifflichen und prinzipiellen Entdeckungen oder Schöpfungen166 mit den Begriffen und Normen des Gesetzes zu einem Ganzen zusammenzufassen und diese dabei so anzuordnen, dass die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge korrekt wiedergegeben werden.167 Diese Beziehungen sind deduktiver Art: Aus allgemeinen Begriffen lassen sich spezielle logisch folgern, und mit Prinzipien können Regeln begründet werden.168 Die angestrebte Kohärenz erreicht einen umso höheren Grad, je mehr Begriffe oder Normsätze sich aus anderen Begriffen oder Normsätzen herleiten lassen.169 Während also die Bildung von Elementarbegriffen und die Gewinnung von Prinzipien durch Aufleitung erfolgt, vollzieht sich die Systematisierung umgekehrt durch Ableitung. Weil die Rechtsdogmatik sowohl bei den Normen als auch bei den Begriffen, die in diesen Normen Verwendung finden, ansetzen kann, können aus beiden Elementen Systeme gebildet werden, die jedoch nicht voneinander unabhängig sein müssen. aa) Begriffssystem Begriffliche Einteilungen sind geistige Landkarten, die der Jurist anfertigt, um sich Orientierung über die Welt rechtlicher Phänomene zu verschaffen. Elementare Begriffe werden in Gattungen, Arten und Unterarten zerlegt, wobei darauf geachtet wird, möglichst sämtliche Formen zu erfassen. Solche 166 Unter deutschen Juristen lassen sich zwei unterschiedliche Auffassungen über den ontologischen Status dogmatischer Ergebnisse feststellen: Die Allgemeinbegriffe und Prinzipien sowie die das System bildenden Begründungszusammenhänge werden entweder als bereits bestehend gedacht, so dass es Aufgabe der Dogmatik ist, diese aufzufinden und darzustellen. Oder die dogmatische Arbeit stellt diese Zusammenhänge erst her und macht dadurch das Recht kohärenter. Die Situation ist derjenigen eines Beobachters des Fixsternhimmels vergleichbar: Er kann entweder glauben, die Sternbilder seien bereits in der Anordnung der Sterne angelegt oder sich bewusst sein, dass er die verbindenden Linien selbst zieht. Im 19. und 20. Jahrhundert sind beide Vorstellungen verbreitet gewesen. Eine wissenschaftstheoretische Stellungnahme zu dieser „ontological obscurity“ dogmatischer Aussagen liefert Peczenik, A Theory of Legal Doctrine, S. 89 ff. 167 Das Systemverständnis Savignys als eines „inneren Zusammenhang[s], welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft“ (Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. 214), ist im Grunde genommen noch heute maßgebend. Allen späteren Variationen sind, wie Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 11 ff., feststellt, die Merkmale der Ordnung und der Einheit gemeinsam. 168 Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, S. 96 f. 169 Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, S. 98.

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Dihairesen hatte schon die mittelalterliche Kanonistik aus der hellenistischen Wissenschaftslehre übernommen,170 bevor die Distinktionstechnik von den humanistischen Gelehrten auf die Spitze getrieben wurde. Nicht zuletzt wegen ihrer teilweise absurden dichotomischen Unterscheidungen171 und grotesk weitverzweigten Begriffsbäume,172 welche das Gegenteil der mit ihnen beabsichtigten Übersichtlichkeit erreichten, verlor die begriffsspalterische Darstellungsmethode schon bald wieder an Bedeutung.173 Die Einteilung des Rechtsstoffs nach dem Institutionensystem, wie sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts üblich war, lieferte mit den „Personen“ (personae), „Sachen“ (res) und „Klagen“ (actiones) die bis heute maßgeblichen Oberbegriffe für die Systembildung, wenngleich diese als „Rechtssubjekte“, „Rechtsobjekte“ und „Tatsachen“ terminologisch noch abstrakter gefasst werden. Der deutsche Jurist teilt die Rechtssubjekte in natürliche und juristische Personen ein. Die juristischen Personen gliedert er wiederum in solche des Privatrechts und solche des öffentlichen Rechts; ferner unterscheidet er Personen- und Kapitalgesellschaften einerseits sowie Körperschaften, Anstalten und Stiftungen andererseits.174 Gegenstände können körperlich (Sachen) und unkörperlich (Geistesprodukte) sein; Sachen können noch einmal nach verschiedenen rechtlich relevanten Kriterien gegliedert werden: beweglich oder unbeweglich, vertretbar oder unvertretbar, verbrauchbar oder nicht verbrauchbar.175 Tatsachen sind neben tatsächlichen Handlungen auch Rechtsgeschäfte, und diese lassen sich abermals in einseitige und mehrseitige, entgeltliche und unentgeltliche, kausale und abstrakte sowie Verfügungen und Verpflichtungen zerlegen.176 Das individualistische Privatrechtsdenkens des 19. Jahrhunderts stellte den Begriff des subjektiven Rechts an die Spitze seines Systems. Anhand der Gegenstände, auf die sich ein Recht beziehen kann, entwickelte Puchta eine „Genealogie“, mit der er „die Abstammung eines jeden Begriffs durch alle Mittelglieder, die an seiner Bildung Antheil haben, auf und abwärts“177 ver170 Umfassend Chr. Meyer, Die Distinktionstechnik in der Kanonistik des 12. Jahrhunderts. 171 Nach E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, S. 192, beruhen viele Unterteilungen in Johannes Althusius’ „Dicaeologicae libri tres“ „mehr auf einer formalen Schematisierungstendenz als auf einem eigentlichen Sachgegensatz“. 172 Siehe zu diesen allgemein Baumgartner, Arbor porphyriana, porhyrischer Baum. Ein Beispiel für einen juristischen Einteilungsexzess gibt Dedek, Die Schönheit der Vernunft – (Ir-)Rationalität von Rechtswissenschaft in Mittelalter und Moderne, S. 77 ff. 173 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 84 ff. 174 Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, S. 426 ff., und Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Erster Halbband, S. 622 f. 175 Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, S. 281 und 284 ff. 176 Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, S. 318 ff. 177 Puchta, Cursus der Institutionen. Erster Band, S. 101.

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folgen wollte. Er verdeutlichte dies am Beispiel der Wegservitut, zu der er vom Recht über das Recht an einer Sache, das Recht an einer fremden Sache, den Rechten an Sachen auf Benutzung sowie der Servitut und der Präsidialservitut hinabstieg. Erst die systematische Stellung des Wegerechts konnte dessen „Natur“ vollständig enthüllen, insofern, als die Eigenschaften, die für seine Oberbegriffe galten, auch auf dieses besondere Recht zutrafen.178 Spätere Juristen gelangten zu noch wesentlich feingliedrigeren Einteilungen. Die bekannteste Dihairese kombiniert den Gesichtspunkt der Wirkung mit dem des Gegenstandes.179 Sie unterscheidet zunächst absolute und relative Rechte. Erstere lassen sich in Herrschaftsrechte, Persönlichkeitsrechte, Familienrechte und Erbrechte gliedern. Die Herrschaftsrechte werden in Rechte an Sachen und Immaterialgüterrechte aufgeteilt. Bei den Sachenrechten wird zwischen dem Eigentum und den beschränkten dinglichen Rechten unterschieden; letztere zerfallen weiter in Erwerbsrechte, Nutzungsrechte und Sicherungsrechte. All diese Kategorien kann man noch mehrfach weiter unterteilen, wie zum Beispiel die Sicherungsrechte in solche an beweglichen Sachen und solche an Grundstücken, wobei als mögliche Unterarten der Grundpfandrechte Hypothek, Grundschuld und Rentenschuld in Betracht kommen. Schließlich kann selbst ein Begriff wie der der Hypothek noch anhand verschiedener Kriterien aufgespalten werden: hinsichtlich der Zirkulationsfähigkeit in Briefhypothek und Buchhypothek sowie hinsichtlich der Person des Gläubigers in Eigentümerhypothek und Fremdhypothek.180 Es bedürfte kaum eigener Erwähnung, dass die Einführung einer jeden weiteren Unterscheidung neue Definitionsfragen aufwirft, wenn nicht in der Abgrenzung solcher Artbegriffe untereinander und gegenüber den Artbegriffen rivalisierender Einteilungen eine der Hauptbeschäftigungen deutscher Rechtswissenschaftler bestünde. Eine kleine Handbibliothek ließe sich allein aus denjenigen Dissertationen zusammenstellen, in denen eine Abgrenzung der Wahlschuld von der elektiven Konkurrenz, von der Ersetzungsbefugnis des Gläubigers beziehungsweise des Schuldners, von der Gattungsschuld oder vom allgemeinen Leistungsbestimmungsrecht versucht worden ist.181 Puchta, ebd. Andere Klassifikationen unterscheiden nach dem Zweck des Rechts (siehe Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Erster Halbband, S. 452 ff.) oder nach dem Inhalt der Rechtsmacht (siehe Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, S. 141). 180 Vgl. die Gliederung der subjektiven Rechte bei Rüthers / Stadler, BGB AT, S. 50 ff., sowie der dinglichen Rechte bei Baur / Stürner, Lehrbuch des Sachenrechts, S. 14 ff. und 365 ff. 181 Offenbar hat ein ganzes Jahrhundert nicht ausgereicht, um auf diesem Gebiet zu einer befriedigenden Systematik zu gelangen: Chamizer, Natur, Gebiet und Grenzen der Wahlschuld nach deutschem bürgerlichen Recht; Müller, Wahlschuld und alternative Ermächtigung des Schuldners nach gemeinem Rechte und Bürgerlichem Gesetzbuche; 178 179

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Solche Distinktionen – sowie die auf sie gestützten Konstruktionen – gerieten zwar schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Verruf: Die Begründer der Interessenjurisprudenz griffen die Zirkularität des nun als „Inversionsmethode“182 geächteten Verfahrens an, bei dem zunächst aus dem Rechtsmaterial Oberbegriffe aufgeleitet wurden, um sodann aus diesen dieselben und weitere Artbegriffe abzuleiten – zumal sich ihnen der Verdacht aufdrängte, dass die Gattungsbegriffe zuvor bewusst mit Rücksicht auf gewisse Deduktionsmöglichkeiten definiert worden waren.183 Trotzdem hielt Philipp Heck das Begriffssystem nach wie vor für erforderlich, um sich über die richtige Gedankenfolge bei der Darstellung des Rechtsstoffs Klarheit zu verschaffen.184 Einige Verfechter der Wertungsjurisprudenz wie Claus-Wilhelm Canaris behaupteten indes, Begriffe seien völlig ungeeignet, die innere Folgerichtigkeit des Rechtssystems zu verwirklichen, weil die Einheit der Rechtsordnung nicht begriffslogischer, sondern „wertungsmäßiger […] Art“ sei; Wertungen aber lägen „unzweifelhaft außerhalb des Bereichs der formalen Logik“.185 Als das Mittel der Wahl galt ihnen ein Prinzipiensystem, das bezeichnenderweise nicht als deduktive, sondern als teleologische Ordnung verstanden wurde.186 bb) Prinzipiensystem Ein System aus Rechtsprinzipien lässt sich herstellen, indem Zusammenhänge aufgedeckt werden, die zwischen den Prinzipien und den Regeln einer Rechtsordnung bestehen, und indem näher bestimmt wird, auf welche Weise sich die Prinzipien gegenseitig ergänzen oder beschränken. Sofern Prinzipien als Normen verstanden werden, die sich gegenüber Regeln durch ihren höheren Abstraktionsgrad auszeichnen, handelt es sich bei den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen um Ableitungszusammenhänge, also um semantiBlümich, Wahlschuld und facultas alternativa; Erler, Wahlschuld mit Wahlrecht des Gläubigers und Schuld mit Ersetzungsbefugnis des Gläubigers; Bachmann, Die elektive Konkurrenz; Wagner, Die Wahlschuld im System der unbestimmten Leistungen; Hahn, Die zivilrechtliche Ersetzungsbefugnis; Samhat, Die Abgrenzung der Wahlschuld von der elektiven Konkurrenz nach dem BGB. Hier zeigt sich das ganze Elend gleichrangiger Einteilungen desselben Begriffs unter verschiedenen Gesichtspunkten beziehungsweise verschiedener Begriffe nach ähnlichen Kriterien. Weil sich die Inhalte der entstehenden Artbegriffe überschneiden, sind unlösbare Abgrenzungsprobleme die Folge. 182 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, S. 13. 183 Staudinger-Coing, Einleitung zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Rn. 181. 184 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, S. 13. Vgl. auch dens., Was ist diejenige Begriffsjurisprudenz, die wir bekämpfen?, S. 1458, sowie dens., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 163. 185 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 21 f.; ähnlich Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht, S. 25 f. 186 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 41 ff., sowie Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 475.

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sche Folgerungsrelationen.187 Verbreitet ist auch die Vorstellung, dass Prinzipien durch Regeln konkretisiert werden, wobei auf jeder Stufe der Konkretisierung neue Wertungsgesichtspunkte hinzutreten und die Prinzipien dadurch selbst deutlichere Konturen gewinnen.188 Jedenfalls ist es nach beiden Auffassungen möglich, verschiedene Regelungen als Ausprägungen eines einzigen Prinzips zu erklären. Wird eine neue Emanation für ein Prinzip gefunden, das bereits aus anderen Kontexten bekannt ist, lassen sich also mehrere konkrete Normen aus verschiedenen Rechtsgebieten mit Hilfe derselben abstrakten Norm begründen, erhöht dies die Kohärenz des gesamten Rechts.189 So lässt sich die in § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 2 BGB normierte, jedoch nur vage als Bereicherung „in sonstiger Weise“ beschriebene Eingriffskondiktion als Manifestation des Rechtsfortwirkungsgedankens begreifen, den man aus anderen Vorschriften, die anstelle eines verlorenen Rechts einen schuldrechtlichen Ausgleichsanspruch gewähren, nämlich § 285 BGB, § 816 Abs. 1 S. 1 BGB und § 951 BGB, induktiv gewinnen kann. 190 Es wäre nun zu fragen, ob nicht § 816 Abs. 1 BGB und § 951 BGB bloß Unterfälle der Eingriffskondiktion nach § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 2 BGB sind, und inwieweit diese wiederum mit dem deliktischen Schutz absoluter Rechte nach § 823 BGB verwandt ist.191 Die Feststellung einer solchen Verwandtschaft würde es ermöglichen, die von der Eingriffskondiktion geschützten Rechtsgüter den deliktsrechtlichen Vorgaben entsprechend zu bestimmen. Schließlich könnte man auch die Eingriffskondiktion und den Anspruch auf das stellvertretende Commodum wegen der Verletzung einer Forderung gemäß § 285 BGB direkt dem Rechtsfortwirkungsgedanken unterstellen. Wenn ein innerer Zusammenhang zwischen diesen Ansprüchen bestehen sollte, müssten deren Inhalte aufeinander abgestimmt werden; beispielsweise sollte dann das Problem, ob auch rechtsgeschäftlich erlangte Surrogate herauszugeben sind, für beide auf die gleiche Weise gelöst werden. Denn nur so lassen sich Wertungswidersprüche vermeiden. Diese treten auf, wenn ein Rechtsprinzip nicht konsequent durchgehalten wird, weswegen Tatbestände, die eigentlich gleich zu bewerten sind, mit unterschiedlichen Rechtsfolgen versehen werden. 192 Weil im deutschen Recht der Grundsatz der freien Anspruchs-

Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, S. 97. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 57; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 475 f. 189 Vgl. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, S. 99. 190 Zum Rechtsforwirkungsgedanken allgemein siehe Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 242; zu seiner Ausgestaltung in § 951 BGB siehe Baur / Stürner, Lehrbuch des Sachenrechts, S. 552 ff. 191 Vgl. Baur / Stürner, Lehrbuch des Sachenrechts, S. 554. 192 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 117; Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 56 ff. 187 188

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konkurrenz gilt, sind viele Wertungswidersprüche nicht nur theoretisch unbefriedigend, sondern auch in praktischer Hinsicht problematisch. Umgekehrt können auch mehrere Prinzipien in einer Regelung oder einem Regelungskomplex miteinander verknüpft sein.193 Zur Begründung des Anfechtungsrechts bei Willensmängeln etwa wird üblicherweise eine Kombination der Privatautonomie und des Verkehrsschutzes herangezogen: Während mit der Gewährung einer Anfechtungsmöglichkeit bei einer arglistigen Täuschung oder Drohung durch den Vertragsgegner (§ 123 Abs. 1 BGB) das Prinzip der Selbstbestimmung absolut gesetzt wird, findet bei einer Täuschung durch Dritte (§ 123 Abs. 2 BGB) das Vertrauen des Vertragspartners insofern Berücksichtigung, als diesem nur dann ein Anfechtungsrecht gegeben wird, wenn er von der Willensbeeinträchtigung Kenntnis hatte oder sie fahrlässig nicht kannte. Im Rahmen der Anfechtung wegen Irrtums wird dem Verkehrsschutz dadurch Rechnung getragen, dass der Vertragspartner einen Anspruch auf das negative Interesse erhält (§ 122 Abs. 1 BGB).194 Ein solches Zusammenspiel mehrerer Prinzipien kann auch als Ergebnis einer Kollision beschrieben werden; diesem Verständnis zufolge schränken sich mehrere einander widersprechende Grundsätze gegenseitig ein.195 Beispielsweise lassen sich die Vorschriften über das Pflichtteilsrecht naher Angehöriger als Ausgleich zwischen der römischen Testierfreiheit und dem germanischen Verwandtenerbrecht deuten. Im arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz treffen sogar eine ganze Reihe gegenläufiger Prinzipien aufeinander: Zunächst verbürgt die Privatautonomie des Arbeitgebers die Freiheit, überhaupt kündigen zu können. Diese erfährt jedoch eine Einschränkung insofern, als willkürliche Kündigungen verboten sind und es eines gesetzlich anerkannten Kündigungsgrundes bedarf (§ 1 Abs. 1 KSchG) sowie soziale Gesichtspunkte bei der Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers berücksichtigt werden müssen (§ 1 Abs. 3 KSchG). Beides ist Ausdruck des Arbeitnehmerschutzes in persönlicher und sozialer Hinsicht. Der besondere Kündigungsschutz zugunsten von Mitgliedern des Betriebsrates (§ 102 BetrVG) soll hingegen den Erhalt der Funktionsträger der Betriebsverfassung sicherstellen und damit die Interessen der Arbeitnehmerschaft als Kollektiv schützen. All diese Begründungen lassen sich mit noch höherrangigen Prinzipien zu Begründungsketten196 verknüpfen, wodurch das System wiederum ein Mehr an Kohärenz erreicht: Der Arbeitgeber kann das Kündigungsrecht auf seine Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) stützen; der allgemeine arbeitsrechtVgl. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, S. 100; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 55. 194 Beispiel nach Canaris, ebd. 195 Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 53. 196 Vgl. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, S. 99. 193

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liche Kündigungsschutz findet seine Grundlage im Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) und im Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG); und auch wenn es kein Grundrecht auf Mitbestimmung gibt, so kann der besondere betriebsverfassungsrechtliche Kündigungsschutz doch als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips und des Grundsatzes gelten, wonach diejenigen Angelegenheiten, die alle angehen, auch von allen mitgetragen werden müssen. Das systematische Arrangement kann allerdings auch so vorgenommen werden, dass ein tragender Gedanke zum Prinzip erhoben wird, während vereinzelte Regeln, die diesem Prinzip nicht entsprechen, als Ausnahmen gedeutet werden. Bekanntlich gilt im Schuldrecht der Grundsatz der Formfreiheit der Rechtsgeschäfte; in Ausnahme hiervon sind für Grundstückskaufverträge und Bürgschaften gewisse Formerfordernisse zu beachten (§ 311b Abs. 1 S. 1 BGB und § 766 S. 1 BGB). Hier wäre es unangemessen, die gesetzgeberischen Zwecke, die diesen Einschränkungen des Prinzips der Formfreiheit zugrunde liegen, nämlich Übereilungsschutz, Beweiserleichterung, Belehrung und Kontrolle, ebenfalls zu Prinzipien zu stilisieren.197 Schließlich lässt sich die Ausgestaltung einer Regelung im Detail auch als Resultat des Zusammenspiels von Normen verschiedener Abstraktionsgrade beschreiben. Eine Vorschrift, die dem Täter gegenüber dem Opfer eine Ersatzpflicht für fahrlässige Schädigungen auferlegt (wie § 823 Abs. 1 BGB), kann zwar allgemein mit dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit und dem Prinzip der Selbstverantwortung begründet werden. Die Zurechenbarkeit der Handlung wird sich aber an dem konkreteren Verschuldensprinzip, der Inhalt des Ersatzanspruchs am Prinzip der Totalreparation orientieren. Schließlich können auf einer noch niedrigeren Konkretisierungsstufe unterschiedliche Verschuldensformen und der Gedanke des Mitverschuldens eine Rolle spielen.198 e) Konstruktion Durch Konstruktion werden einzelne tatsächliche oder rechtliche Phänomene auf einen oder mehrere bereits bekannte Grundbegriffe zurückgeführt und damit in das Begriffssystem eingeordnet.199 Diese Zuordnung erklärt das PhäCanaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 53. Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 57. 199 Repräsentativ M. von Rümelin, Zur Lehre von der juristischen Konstruktion, S. 76, der die Konstruktion als „Einordnung einer Einzelerscheinung in das System unter Analysierung und Synthese ihrer Begriffselemente“ definiert; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts. Erster Band, S. 57, spricht von der „Zurückführung eines Rechtsverhältnisses auf die ihm zu Grunde liegenden Begriffe“. Manche Autoren beschränken den Begriff auch auf die komplexe Konstruktion, wie zum Beispiel Kretschmar, Über die Methode der Privatrechtswissenschaft, zitiert nach: M. von Rümelin, Zur Lehre von der juristischen Konstruktion, S. 74 („das synthetische Verfahren, welches die Rechtsverhältnisse juristisch erfaßt als Kombination einfacher Begriffe, die zuvor auf dem Wege der Analyse gewonnen und sys197 198

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nomen in juristischer Hinsicht und begründet, weshalb diejenigen Regeln, die für andere Erscheinungen gelten, die ebenfalls unter den Oberbegriff fallen, auch auf das untersuchte Phänomen anzuwenden sind. Eine Vorschrift in einen allgemeineren Zusammenhang zu stellen, bezeichnet man üblicherweise nicht als Konstruktion, obwohl es sich der Sache nach ebenfalls um eine Variante der systematischen Einordnung handelt. Die Zuordnung einer Regel zu einem bestimmten Rechtsgebiet oder ihre Qualifikation als Ausprägung eines Rechtsprinzips erleichtert die Erkenntnis des Normzwecks und bestimmt, durch welche Vorschriften eine unvollständige Regel ergänzt werden muss. Rechtsbegriffe werden gebildet und Rechtssysteme werden arrangiert, um sie auf die Außenwelt zu beziehen und dadurch den bloßen Tatsachen einen juristischen Sinn zu verleihen. Wenn Recht eine Weltdeutung ist, dann muss sich alles, was der Fall ist, in „Rechtslagen“ transponieren lassen. Die dadurch erzeugte gedankliche Parallelwelt ist jedoch nicht ausschließlich Repräsentation, sondern ihre Deutungen wirken auf die Welt der Tatsachen zurück, formen sie. 200 Denn die juristische Klassifikation eines Objekts führt dazu, dass auf dieses bestimmte rechtliche Regeln anwendbar werden und seine Stellung festgelegt wird. Freilich ist die Welt de facto in ständiger Änderung begriffen, und so muss auch ihre Deutung de jure fortgeschrieben werden. Die deutsche Rechtswissenschaft hat nicht nur „die entschiedene Tendenz, in der Zerlegung der Begriffe möglichst weit zu gehen“.201 Deutsche Juristen nehmen auch wie selbstverständlich an, dass sich jede neue Lebensäußerung mit ihrem Begriffsapparat planmäßig erfassen lässt. Es gilt ihnen als Tugend, darauf zu verzichten, für die juristische Deutung einer neuen Erscheinung der Lebenswelt einen eigenen Kunstausdruck zu erfinden, und stattdessen mit der – im Vergleich zur Vielgestaltigkeit des Lebens – geringen Anzahl an juristischen Elementarbegriffen auszukommen.202 Die Subsumtion einer faktischen tematisch geordnet worden sind“). Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 370 f., bezeichnet abweichend davon als „Construction“ die „kunstgerechte Gestaltung des juristischen Körpers“, also die Schöpfung von Rechtsinstituten, während er die Konstruktion der Sache nach unter der Rubrik „Rechtsalphabet“ (a. a. O., S. 334 ff.) abhandelt. Auch die Beispiele, die Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, S. 3 ff., anführt, um die Konstruktion ins Lächerliche zu ziehen, betreffen überwiegend Definitionen rechtlicher Grundbegriffe oder metaphorische Vorstellungen über die Struktur einzelner Rechtsinstitute. 200 Vgl. dazu die rechtsanthropologischen Erkenntnisse von Geertz, Local Knowledge. Fact and Law in Comparative Perspective, S. 173. 201 So bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts. Erster Band, S. 56. 202 Jhering, Unsere Aufgabe, S. 16: „Denn in wie ungewöhnlichen, abweichenden Bildungen sich auch der fortschreitende Verkehr ergehen möge, die Besorgniß, daß er uns etwas absolut Neues bringen könnte, d. h. etwas, was nicht unter irgend einen unserer bisherigen Begriffe fiele, und wäre derselbe auch noch so allgemein – diese Besorgniß […] ist […] unbegründet […]“. Die begriffliche Sparsamkeit führt freilich bisweilen zu kontra-

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Situation unter einen verhältnismäßig konkreten, in einer Rechtsnorm enthaltenen Begriff ist zwar ebenso eine Sinn erzeugende juristische Deutung, hat aber keinen unmittelbaren Bezug auf das System und ist deshalb keine dogmatische Denkform. Anders verhält es sich mit der juristischen Konstruktion: Diese dominiert geradezu die anwendende Phase der Rechtsdogmatik und bildet das Leitmotiv vieler dogmatischer Untersuchungen. Konstruktive Arbeiten wählen meist einen Gesetzesbegriff aus und versuchen diesen zu definieren, indem sie ihn als Artbegriff einer Gattung zuordnen und ihn damit in das System einfügen. Das Begriffssystem wird dadurch inhaltlich bereichert und stärker detailliert; Systembildung im eigentlichen Sinne liegt aber nicht vor, solange sich die Einordnung vollständig auf bereits etablierte Begriffe stützt. Während bei der einfachen Konstruktion das zu analysierende Phänomen nur einem Oberbegriff zugeordnet wird, bringt die komplexe Konstruktion die Einzelerscheinung mit mehreren Oberbegriffen gleichzeitig in Verbindung. So kann man die Erfüllung als Realakt konstruieren, zusätzlich zu diesem ein einseitiges Rechtsgeschäft zur Bestimmung des Leistungszwecks annehmen oder in ihr einen Vertrag über die Aufhebung des Schuldverhältnisses sehen. In Abhängigkeit von der gewählten Konstruktion können die Regeln über Willensmängel, die für Rechtsgeschäfte gelten, auf die Erfüllung angewendet werden oder nicht. Dagegen lässt sich das Testament gleichzeitig den Oberbegriffen „Willenserklärung“ und „Verfügung von Todes wegen“ zuordnen; aufgrund dieser systematischen Doppelstellung sind die Rechtsfolgen, die das Gesetz an jeden einzelnen der beiden Begriffe knüpft, auch für den konstruierten Begriff maßgeblich.203 Dogmatische Untersuchungen können aber auch von einem sozialen Phänomen ausgehen, also einer massenhaft auftretenden Verhaltensweise oder einer häufig anzutreffenden kautelarjuristischen Gestaltung, und dieses juristisch analysieren. Zunächst ist dies nicht viel mehr als eine abstrakte Form der Falllösung, bei der die einschlägigen Vorschriften benannt und die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten geprüft werden. Dogmatisch wird eine solche juristische Aufarbeitung jedoch schon dann, wenn die Anordnungen verschiedener dabei zu beachtender Einzelregelungen aufeinander abgestimmt oder unterschiedliche Möglichkeiten der Einfügung des gattungsmäßig beschriebenen Phänomens in das System der Rechtsbegriffe erwogen werden. Beispielsweise wird ein Arzt einen Heileingriff nur dann vornehmen, wenn der Patient in die Behandlung einwilligt, denn nur so entfällt die deliktische Haftung, die sonst mit dem Eingriff in dessen körperliche Unversehrtheit verintuitiven juristischen Deutungen: Bereits wenige Jahre später mokiert sich Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, S. 12 f., darüber, dass manche Juristen seiner Zeit Inhaberpapiere und alte Dächer als juristische Personen einordnen. 203 Beispiele nach Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 273.

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bunden wäre. Diese Einwilligung kann man sich juristisch als antizipierten Verzicht auf Schadensersatzansprüche, das heißt als Vertrag, oder als Zustimmung zu der Rechtsverletzung, das heißt als einseitiges Rechtsgeschäft oder doch zumindest als geschäftsähnliche Handlung, vorstellen. Dieser Einordnung entsprechend richten sich die Fähigkeit zur Einwilligung und die Zulässigkeit einer Vertretung nach dem Recht der Willenserklärungen (§§ 104 ff., 164 ff. BGB); ebenso darf der Inhalt der Einwilligung die Grenze zur Sittenwidrigkeit nicht überschreiten (§ 138 Abs. 1 BGB). Qualifiziert man die Einwilligung jedoch als rein tatsächliche Handlung, zum Beispiel als bloßen Verzicht auf späteren Rechtsschutz, gelten diese Vorschriften nicht.204 In Versicherungsverträgen werden häufig Anforderungen an das Verhalten des Versicherten geregelt. Zur Sprache kommt insbesondere, welche Tatsachen dieser bei Anbahnung des Vertrages offenbaren muss, welche Handlungen er während der Laufzeit des Vertrages zu unterlassen hat und innerhalb welcher Frist er einen Schaden anzeigen muss. Hält der Versicherte diese Vorgaben nicht ein, verliert er in der Regel seinen Anspruch auf die Versicherungsleistung. Wie soll man diese sogenannten Obliegenheiten am besten auf den Begriff bringen? Handelt es sich um Tatbestandsvoraussetzungen für den Anspruch des Versicherungsnehmers beziehungsweise Bedingungen für ein Leistungsverweigerungsrecht des Versicherungsnehmers? Geht es um Gebote, deren Befolgung im Interesse des Belasteten liegt oder um echte Pflichten, die ihm im Interesse des Versicherers auferlegt werden? Von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, ob die an die Verletzung einer Obliegenheit geknüpften Rechtsfolgen auch dann eintreten, wenn der Versicherungsnehmer sie nicht zu verschulden hat beziehungsweise diese von einem Dritten verursacht worden sind oder der Zweck der Obliegenheit anderweitig erreicht wurde. Außerdem wird mit der systematischen Einordnung auch darüber entschieden, ob eine Obliegenheitsverletzung definitionsgemäß andere Rechtsfolgen haben kann als den Verlust des Anspruchs auf die Versicherungsleistung, etwa die Pflicht zur Zahlung einer höheren Prämie oder von Schadensersatz.205 Viele Konstruktionen dienen zunächst einmal dazu, das überlieferte System auch angesichts veränderter tatsächlicher Umstände beizubehalten und den Verstand zu befriedigen. Oftmals wird das Neue durch seine Einordnung in anerkannte dogmatische Zusammenhänge erst juristisch vorstellbar.206 Ist Vgl. Ohly, „Volenti non fit iniuria.“, S. 35 ff. Vgl. Hähnchen, Obliegenheiten und Nebenpflichten, S. 20 ff. und 203 ff., sowie Hellwege, Obliegenheiten im Versicherungsvertragsrecht aus historisch-vergleichender Perspektive. 206 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 109. Vgl. auch Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 331, der die richtige systematische Stellung eines Instituts für eine Frage der richtigen Erkenntnis hält, oder Canaris, Funktion, Struktur und 204 205

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es für eine Vertragsübernahme ausreichend, dass der neue Vertragspartner sämtliche Pflichten aus dem Schuldverhältnis übernimmt und sich von dem alten Vertragspartner alle Forderungen abtreten lässt? Oder ist ein darüber hinausgehendes Rechtsgeschäft erforderlich, durch das die Stellung als Vertragspartner im Ganzen übertragen wird? Beide Konstruktionsvarianten betreffen jedenfalls nur die „rechtstechnische“ Ausgestaltung und führen nicht dazu, dass unterschiedliche Vorschriften, zum Beispiel in Bezug auf den Schutz des anderen Vertragspartners, anwendbar werden.207 Die eigentliche Aufgabe der juristischen Konstruktion besteht jedoch gerade darin, diejenigen Rechtssätze zu bestimmen, die für die neue Erscheinung maßgeblich sind. Die Klassifikation eines Rechtsbegriffs oder eines Vertragsmusters als neue Art einer bereits bekannten Gattung ermöglicht es nämlich, den Normkomplex, der für die Gattung gilt, auch für die Art zu erschließen.208 So qualifiziert man den Finanzierungsleasingvertrag, der gesetzlich nicht geregelt ist, als „atypischen Mietvertrag“ und kann damit Lücken der vertraglichen Regelung mit Vorschriften des Mietrechts füllen. Dahinter steht die Annahme, dass es nur sehr wenige Verträge gibt, die sich keinem der im Gesetz ausgestalteten Vertragstypen zuordnen lassen.209 Deutsche Juristen gehen vielmehr davon aus, dass die Mehrzahl der gesetzlich nicht geregelten Schuldverträge nichts anderes als eine Kombination oder eine Verschmelzung mehrerer Typen darstellen, und dass deren gesetzliche Ausgestaltung auch für jene eigentlich atypischen Verträge maßgeblich sein muss. Unabhängig davon, ob mit der „Absorptionstheorie“ das Recht des dominierenden Elements gewählt oder mit Hilfe der „Kombinationstheorie“ aus unterschiedlichen Normkomplexen ein neues Regime zusammengestellt wird,210 ist das Ziel eine möglichst weitgehende Anwendung des gesetzlichen Vertragsrechts.211 Im Laufe der Wissenschaftsgeschichte ist diese Funktion der Konstruktion mal als produktive,212 mal als bloß reproduktive213 oder heuristische214 verstanden worden. Während des Methodenstreits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dessen Zentrum die Lücken ausfüllende Gesetzesinterpretation stand, Falsifikation juristischer Theorien, S. 378 f., der der juristischen Theoriebildung eine explikative Funktion zuweist. 207 Vgl. Klimke, Die Vertragsübernahme, S. 4 und 20 ff. 208 R. Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, S. 108; Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 406. 209 Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge, S. 45. 210 Dazu Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge, S. 153 ff. 211 Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge, S. 160. 212 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, S. 360 f. 213 M. von Rümelin, Zur Lehre von der juristischen Konstruktion, S. 79 f. 214 Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, S. 378.

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verwarfen die Protagonisten der Interessenjurisprudenz die schöpferische Funktion der Konstruktion vollständig und degradierten Konstruktionskontroversen zu „Formulierungsfragen“;215 eine nicht unbeachtliche Zahl der Autoren verteidigte jedoch die Konstruktion als Instrument der Rechtsfindung. Durchgesetzt hat sich damals eine vermittelnde Position: Die Einordnung in das System ermöglicht Vergleiche mit verwandten Systembestandteilen, durch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der um rechtliche Anerkennung ringenden Interessen der Beteiligten offenbar werden.216 Diese Vergleiche legen Hypothesen nahe, welche Konfliktsentscheidungen, das heißt Normen, auf das untersuchte Phänomen analog angewendet werden können. Die Konstruktion sollte also „Analogiehypothese[n]“217 liefern, die anhand der konkreten Interessenlage des jeweils zu entscheidenden Falles und der Wertungen, die der Gesetzgeber für das neue Phänomen bereits getroffen hat, überprüft werden mussten. In der zeitgenössischen Methodenlehre findet die Konstruktion nur noch wenig Beachtung. Claus-Wilhem Canaris, der dem Prinzipiensystem eine größere Bedeutung beilegt als dem Begriffssystem,218 versteht sie als Einordnung einer Vorschrift in ihren systematischen Zusammenhang, die dazu dienen soll, den teleologischen Gehalt der Norm zu präzisieren.219 Im Rahmen einer hermeneutischen Methode der Rechtsfindung wird die Konstruktion zur Suche nach der besten Begründung für ein Ergebnis, das zuvor anhand von Gerechtigkeitskriterien gefunden worden ist. Sie ist dann eine notwendige Kontrolle, die sicherstellen soll, dass sich die für den konkreten Fall gefundene Entscheidung mit Hilfe anerkannter dogmatischer Kategorien reproduzieren und mit systematisch nahe stehenden Problemlösungen vereinbaren lässt.220 Wie stark Konstruktionen von Wertungen und Praktikabilitätserwägungen bestimmt sind, zeigt sich bei der Auswahl zwischen mehreren Konstruktionsmöglichkeiten. In der häufig auftretenden Konstellation, bei der ein rechtliches Phänomen mit guten Gründen in verschiedene Kategorien eingeordnet werden kann,221 bilden sich in der wissenschaftlichen Diskussion miteinander

Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 189 f. M. von Rümelin, Zur Lehre von der juristischen Konstruktion, S. 85. 217 M. von Rümelin, ebd.; ihm folgend Stoll, Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz, S. 207. 218 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 46 ff. 219 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 88 f.; ders., Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, S. 378. 220 Esser, Wertung, Konstruktion und Argument im Zivilurteil, S. 15 f.; ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 110 f. 221 Vgl. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 188 ff., der zwischen „divergierenden Konstruktionen“, die eine unterschiedliche Interessenwertung oder eine systematische Doppelstellung ausdrücken, und „äquivalenten Konstruktionen“, die wer215 216

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konkurrierende Konstruktionstheorien heraus, die jede für sich den Anspruch auf ausschließliche Richtigkeit erheben. Nur selten lässt sich eine dieser Theorien falsifizieren, also schon deshalb für obsolet erklären, weil durch sie Rechtsfolgen anwendbar werden, die vom Gesetz klar ausgeschlossen sind.222 Die Entscheidung für oder gegen eine Konstruktionsmöglichkeit erfolgt häufiger danach, inwieweit sie die Ziele der Rechtsdogmatik, also Effizienz und Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung, verwirklichen hilft.223 So kann eine Einordnung als unzweckmäßig verworfen werden, weil sie dazu nötigt, zusätzliche Unterscheidungen einzuführen oder weil durch sie bereits anerkannte Abgrenzungen verwischt werden – wodurch gerade verhindert wird, dass ähnliche Rechtsfragen einheitlich behandelt werden.224 Eine Konstruktionstheorie wird außerdem daran gemessen, welche Möglichkeiten zur Lösung von Einzelfällen sie bietet, also wie leicht sich unter den zugeordneten Oberbegriff subsumieren lässt oder welche gesetzgeberischen Lücken mit Hilfe der Qualifikation und der dadurch erwachsenden Deduktionsmöglichkeit geschlossen werden können.225 Nicht selten sind bei der Auswahl zwischen verschiedenen Konstruktionsoptionen jedoch rechtspolitische Ziele ausschlaggebend. Eine Theorie wird präferiert, weil sie einen für richtig befundenen Interessenausgleich gewährleistet oder eine wichtige Fallgruppe wie gewünscht entscheidet. Umgekehrt kann eine Theorie zurückgewiesen werden, weil sie zu unhaltbaren praktischen Ergebnissen führt, sie beispielsweise den Rechtsschutz in einer wichtigen Konstellation gegenüber dem bisher anerkannten Umfang einschränkt.226 Um die Lizenz an einem Immaterialgüterrecht ranken sich gleich mehrere Konstruktionskontroversen: So ist umstritten, ob Gegenstand des Lizenzvertrages ein Verzicht des Rechtsinhabers auf die Nutzung oder die Einräumung einer Nutzungsbefugnis ist und ob es sich um eine besondere Form des Mietbeziehungsweise Rechtspachtvertrages oder um einen atypischen Vertrag handelt. Im Zentrum der nun schon mehr als ein Jahrhundert andauernden tungsmäßig gleich sind, jedoch unterschiedliche Aspekte des einzuordnenden Gegenstandes hervorheben, unterscheidet. 222 Vgl. Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, S. 386. Zum Begriff des Wertungswiderspruches siehe Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 112 ff.; zu seinen Erscheinungsformen Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 52 ff. 223 Vgl. M. von Rümelin, Zur Lehre von der juristischen Konstruktion, S. 84, demzufolge Konstruktionskontroversen bloß Fragen „größere[r] oder geringere[r] Zweckmäßigkeit“ sind, und Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, S. 384, der juristische Theorien anhand ihrer „Leistungsfähigkeit“ beurteilen will. 224 Vgl. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 336 und 339. 225 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 341; Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, S. 378 f. und 384. 226 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 339.

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Debatte steht jedoch die Frage, ob es sich bei der vertraglich begründeten Lizenz um ein relatives oder um ein absolutes Recht handelt.227 Eine einfache Antwort wird dadurch erschwert, dass neben ausschließlichen Lizenzen, die nur dem Lizenznehmer ein Recht auf Nutzung des Immaterialgüterrechts einräumen, auch solche Lizenzen verbreitet sind, die es dem Lizenzgeber erlauben, das Schutzrecht selbst zu nutzen oder weitere Lizenzen zu vergeben. Einer einheitlichen Beurteilung steht möglicherweise auch die unterschiedliche gesetzliche Ausgestaltung der verschiedenen Arten von Immaterialgüterrechten, also Urheberrecht, Patentrecht und Markenrecht entgegen, wonach manche typischen Wirkungen absoluter Rechte festgelegt sind, während andere von der Konstruktion der Lizenz als absolutes Recht abhängig bleiben.228 Angesichts dieser Offenheit des Normtextes plädieren viele Autoren für eine freie Wahl zwischen den beiden Konstruktionsalternativen und orientieren sich dafür hauptsächlich an den wirtschaftlichen Bedürfnissen des Lizenznehmers.229 Dieser tätigt typischerweise hohe Investitionen zur wirtschaftlichen Verwertung der Lizenz, die sich nur dann rentieren, wenn sichergestellt ist, dass das Nutzungsrecht langfristig Bestand hat und unbefugte Nutzungen oder sonstige Störungen des geistigen Eigentums durch Dritte ausbleiben.230 Deshalb wird befürwortet, dass die Lizenz bei einer Veräußerung des Stammrechts auch gegenüber dem Erwerber gültig ist und in der Insolvenz des Lizenzgebers nach § 47 InsO ausgesondert werden kann, sowie dass dem Lizenznehmer eigene Abwehransprüche aus § 823 Abs. 1 BGB und § 1004 Abs. 1 BGB gegen Verletzer des Immaterialgüterrechts zustehen – was freilich eine Qualifikation der Lizenz als absolutes Recht beziehungsweise Parallelisierungen zum Nießbrauch an Rechten oder zur Dienstbarkeit nahelegt.231 Diese Vergleiche erweisen sich bei näherer Betrachtung zwar als problematisch, unter anderem, weil Prinzipien des Sachenrechts wie der Publizitätsgrundsatz oder der numerus clausus in Bezug auf Lizenzen einzuschränken wären; außerdem müsste bei Wegfall der obligatorischen Nutzungsberechtigung ein gesetzliches Schuldverhältnis entstehen, das die Rechte und Pflichten bezüglich des Gegenstandes des Schutzrechts regelt.232 Trotz dieser systematischen Ungereimtheiten halten viele Juristen an der Klassifi-

McGuire, Die Lizenz, S. 23 f. McGuire, Die Lizenz, S. 151 f. 229 McGuire, Die Lizenz, S. 147, die anführt, dass bereits Josef Kohler von der freien Konstruierbarkeit der Lizenz ausging und forderte, die Einordnung den Bedürfnissen des Lebens entsprechend vorzunehmen. 230 G. Koziol, Lizenzen als Kreditsicherheiten, S. 81 f. und 85 f. 231 Vgl. McGuire, Die Lizenz, S. 267 ff. 232 McGuire, Die Lizenz, S. 476 f. Dass diese Prinzipien auch im Sachenrecht Einschränkungen erfahren und sie deshalb der Verdinglichung der Lizenz nicht zwingend entgegenstehen, hebt G. Koziol, Lizenzen als Kreditsicherheiten, S. 72 ff., hervor. 227 228

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kation der Lizenz als absolutes Recht fest, um die Lizenz insolvenzbeständig zu halten und dem Lizenznehmer Abwehransprüche zu verschaffen.233 Da systematische Einordnungen Werturteile in sich bergen, kann die Entscheidung für eine bestimmte Konstruktion von den Werturteilen abweichen, die in anderen Konstruktionen oder in Gesetzesvorschriften enthalten sind. Dies führt zu unerwünschten Wertungswidersprüchen, aber auch zu erwünschten Wertungsdifferenzierungen. Bei der Auswahl zwischen verschiedenen Konstruktionsmöglichkeiten sind deshalb stets Fernwirkungen über die in Bezug genommenen Regelungen und das betroffene Rechtsgebiet hinaus zu beachten. Denn was nützt eine elegante Theorie, die ein Problem auf eine befriedigende Weise löst, wenn sie anderswo zu Friktionen führt? Um die „innere Consequenz des Rechts“234 zu wahren, kommt es in einem fortgeschrittenen Stadium dogmatischen Denkens darauf an, Problemkomplexe vollständig zu erfassen und die verschiedenen Regelungsregimes des Privatrechts aufeinander abzustimmen.

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Vgl. Haedicke, Rezension zu: McGuire, Die Lizenz, S. 170. Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. 292.

Kapitel 2

Elemente dogmatischen Denkens in England – eine brüchige Tradition Kapitel 2: Elemente dogmatischen Denkens in England

Die Wertschätzung für Ordnung und präzise Unterscheidungen sowie das gedankliche Fortschreiten von allgemeinen Grundsätzen zu spezielleren Erkenntnissen verraten, dass die Rechtsdogmatik in ihrem Ursprung nur ein Teil eines wesentlich umfassenderen Projekts war, nämlich des neuzeitlichen Rationalismus. René Descartes hatte sein Wissensgebäude auf den Fundamenten vernunftevidenter Prinzipien errichten und von einfachen zu komplizierteren Wahrheiten gelangen wollen. Nach dem Vorbild der euklidischen Geometrie sollten allein solche Einsichten als wahr anerkannt werden, die sich deduktiv aus Axiomen beweisen ließen.1 Das Wissenschaftsideal der Mathematik wurde als demonstrative Methode nicht nur für die naturrechtliche Ethik bestimmend, sondern verhalf dem Systemgedanken auch in der gemeinrechtlichen Wissenschaft zum Durchbruch.2 Jener juristische Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts begründete wichtige methodische Standards in der Jurisprudenz,3 die sich später in der pandektistischen Dogmatiktheorie wiederfanden. Der Cartesianismus war besonders in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden verbreitet, und in diesen Ländern beeinflusste er auch die Rechtswissenschaft wesentlich. Die erkenntnistheoretische Gegenströmung des Empirismus hatte ihre Heimat hingegen auf den britischen Inseln, die mit Francis Bacon, John Locke, James Berkeley, David Hume, Jeremy Bentham und John Stuart Mill eine Reihe von Philosophen hervorbrachten, welche in der Erfahrung die eigentliche Wissensquelle sahen. Dies hat so unterschiedliche Rechtsvergleicher wie Hein Kötz und Pierre Legrand vermuten lassen, dass in England mangels nennenswerten rationalistischen Einflusses der geistige Nährboden fehlte, auf dem ein Verständnis des Rechts als System hätte gedeihen oder in dem kontinentale Methodenvorstellungen hätten Wurzeln

Descartes, Discours de la méthode, S. 18 ff. Herberger, Mos geometricus, mos mathematicus. Zur Diskussion über die Demonstrierbarkeit des positiven Rechts im 18. Jahrhundert eingehend Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 174 ff. 3 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 186 f. 1 2

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schlagen können.4 Diese Hypothese berührt ein wesentliches Moment der englischen Rechtsgeschichte, das mit Frühreife, Eigenständigkeit und Isolation umschrieben worden ist:5 Das common law habe sich nicht nur schon vor der Wiederentdeckung des römischen Rechts herausgebildet, sondern sei auch von der späteren Rezeption weitgehend unberührt geblieben.6 Spinnt man diesen Gedanken fort, so könnte sich das common law gleichfalls gegenüber denjenigen methodischen Neuerungen als resistent erwiesen haben, die seit der Spätrenaissance zu einer immer stärkeren Systemorientierung der gemeineuropäischen Rechtswissenschaft führten. Um diese Hypothese zu überprüfen, werden im Folgenden einige Werke englischer Juristen vorgestellt, in denen Elemente dogmatischen Denkens sichtbar werden. Diese Retrospektive richtet ihr Augenmerk auf den Einfluss kontinentaleuropäischer Methodenüberzeugungen und fragt nach den Gründen für den geringen Erfolg dogmatischer Versuche in England.

1. Francis Bacon 1. Francis Bacon

Descartes’ Neubau des Wissensgebäudes ging ein radikaler Zweifel voraus, der nicht nur Sinneseindrücke, sondern auch die reine Vernunfterkenntnis in Frage stellte.7 Damit war ein Nullpunkt des Skeptizismus erreicht, einer Geisteshaltung also, auf deren Widerlegung es Descartes eigentlich abgesehen hatte, und die seit der lateinischen Übersetzung der Schriften des Sextus Empiricus Mitte des 16. Jahrhunderts besonders in Frankreich wieder aufgelebt war, nicht zuletzt befördert durch die desaströsen Auswirkungen der im Zuge der Reformation ausgelösten konfessionellen Konflikte.8 Die Verschiedenheit menschlicher Meinungen und Sitten war es auch, die Michel de Montaigne in 4 Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, S. 81. In ähnlicher Weise führt Legrand, Brèves épistémologiques sur le droit anglais tel qu’en lui-même, S. 18, die Wissenschaftlichkeitsobsession des französischen Rechtsdenkens auf die Omnipräsenz des Ramismus und des Cartesianismus im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts zurück – Strömungen, die in England gerade nicht hätten Fuß fassen können. 5 van Caenegem, The Birth of the English Common Law, S. 91 („This precocity, the premature character of the rise of the Common Law is all-important“); Brand, The Making of the Common Law, Umschlagtext („England was unique among the medieval kingdoms of Western Europe. In addition to developing a system of national courts with an extensive original jurisdiction and run on quasi-bureaucratic lines by royal justices, it also gave birth to a single national customary law which was applicable throughout the country“); Baker, An Introduction to English Legal History (3. Aufl.), S. 35 („And so English law flourished in noble isolation from Europe“). 6 Siehe beispielsweise van Caenegem, The Birth of the English Common Law, S. 85 ff., sowie Maitland, English Law and the Renaissance. 7 Descartes, Discours de la méthode, S. 50 ff.; ders., Meditationes de prima philosophia. 8 Maia Neto, Skeptizismus. Einzelheiten bei Popkin, The History of Scepticism.

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seinen epochemachenden „Essais“ dazu bewogen, keinen festen Standpunkt zu beziehen, zu zweifeln und nachzuforschen.9 Der Essay war die dem Skeptizismus am ehesten angemessene Ausdrucksform, erlaubte er doch, verschiedene Ansichten abzuwägen und sich eines endgültigen Urteils zu enthalten. In seiner assoziativen Sprunghaftigkeit wurde der Essay zum Inbegriff des Rhapsodischen; er verzichtete bewusst auf Vollständigkeit und Systematik, blieb jedoch offen dafür, dass sich im Laufe des gedanklichen Experimentierens manche Einsichten wiederholten und sich so allmählich durchgehende Überzeugungen des Autors abzeichneten.10 Die neue Gattung wurde in England von Francis Bacon aufgegriffen, der als Jugendlicher Frankreich bereist hatte und bereits 1597, noch vor der Übersetzung Montaignes durch John Florio, eine erste Sammlung von Essays herausbrachte.11 Der philosophiebeflissene Staatsdiener und Anwalt unternahm darin indes nicht wie sein literarisches Vorbild eine schonungslose Analyse des Selbst, sondern fertigte erste Bauteile eines bereits geplanten Gedankengebäudes.12 Schon wenige Jahre später bekannte sich Bacon zu einem ambitionierten Reformprogramm für die Wissenschaften, die er von den unfruchtbaren Begriffsspielereien der aristotelisch-scholastischen Dialektik befreien und zum Instrument der Beherrschung der Natur durch den Menschen machen wollte. Im Gegensatz zu den Skeptikern forderte er eine Hinwendung zu den Tatsachen, warnte jedoch gleichzeitig vor der in der menschlichen Natur angelegten Neigung, Sinneswahrnehmungen voreilig zu verallgemeinern. Er empfahl stattdessen, nur ganz allmählich und mit größter Vorsicht von der Anschauung zu den Allgemeinbegriffen aufzusteigen. Praktisch verwirklichen könne man die Induktion nur durch planmäßiges Forschen und das Anlegen von Listen oder Tabellen, in denen die beobachteten Eigenschaften der Dinge gesammelt werden sollten.13 Die Skepsis war für Bacon also eine Geisteshaltung, die nur vorübergehend angezeigt war, um neues und begrifflich geordnetes Wissen zu erlangen. Für das Recht ersann der spätere Lordkanzler ein Reformvorhaben, das seiner empiristischen Neubegründung der Naturwissenschaften an Kühnheit nicht nachstand: Ohne es so zu bezeichnen, sollte nichts Geringeres als ein Corpus Iuris des englischen Rechts geschaffen werden. Neben Kompilationen des Fall- und des Gesetzesrechts hätten ergänzend ein Institutionenlehrbuch, ein rechtshistorisches Werk, eine Definitionensammlung sowie eine Zusammenstellung von regulae iuris treten sollen. Bacons ausdrückliches Ziel war Montaigne, Essais, S. 249. Den experimentellen Charakter des Essays betont Schärf, Essay. 11 Bacon, The Essayes or Counsels, Civill and Morall (spätere, erweiterte Ausgabe von 1625). 12 Schärf, Essay, Sp. 557 f. 13 Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 328 ff. 9

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es, das Recht zu vereinfachen und nach Kategorien zu ordnen.14 Ausgeführt hat er davon freilich nur den zuletzt genannten Teil. In demselben Jahr, in dem seine ersten Essays erschienen, widmete er Königin Elizabeth I. (15581603) 25 „Principall Rules and Maximes of the Common Lawes of England“;15 im Vorwort rühmte er sich sogar, 300 solcher maxims zusammengetragen zu haben.16 Die Vorstellung, dass dem englischen Recht eine Reihe von „grounds“, „pryncyples“ oder „maxims“ zu Grunde liegen, war seit dem ausgehenden Mittelalter unter englischen Juristen verbreitet und ist wohl bereits von den im kanonischen Recht geschulten geistlichen Richtern eingeführt worden. Abweichend vom heutigen Sprachgebrauch verstanden diese unter Prinzipien detaillierte Regeln, deren Besonderheit darin lag, dass ihre Geltung nicht argumentativ bestritten werden konnte und sie bei der Entscheidung von Fällen stets zu berücksichtigen waren.17 Bei manchen maxims Bacons handelt es sich zunächst um Auslegungsregeln wie die contra proferentem-Regel oder den Grundsatz, dass die Beauftragung zu rechtmäßigem Handeln restriktiv, die Anstiftung zu unrechtmäßigen Handeln dagegen weit auszulegen ist.18 Überwiegend stellte Bacon jedoch allgemeine Grundsätze auf, die in ganz unterschiedlichen Rechtsgebieten wirksam werden konnten. Um dies zu verdeutlichen, fügte er der lateinischen Formulierung der Maxime jeweils eine englische Erläuterung hinzu, in der ihre konkreten Anwendungen aufgeführt sind. So kann beispielsweise die mehraktige Entstehung eines Rechts dann von den Parteien, die sich ursprünglich auf diese geeinigt hatten, gemeinschaftlich verhindert werden, wenn sie die Vollendung selbst in der Hand haben; anders dagegen, wenn die Vollendung von der Mitwirkung eines Dritten oder vom Zufall abhängt. Dieses Prinzip kommt zur Anwendung, wenn ein Vertrag aufgehoben oder ein Landtausch rückgängig gemacht werden soll, aber Bacon sah es auch am Werke, wenn anstatt des ursprünglich für einen use vorgesehenen Begünstigten ein anderer eingesetzt wird, oder ein Patron, der dem Bischof einen Kandidaten für eine Pfarrstelle vorgeschlagen hat, es sich doch noch anders über-

14 Dazu Kocher, Francis Bacon on the Science of Jurisprudence; Holdsworth, A History of English Law. Band V, S. 486 ff. 15 Bacon, A Collection of Some Principall Rules and Maximes of the Common Lawes of England with their Latitude and Extent (veröffentlicht 1636, aber bereits seit 1597 als Manuskript im Umlauf). 16 Bacon, Maxims of the Law, S. 185. 17 Stein, Regulae Iuris, S. 159 ff. Vgl. ferner Pound, The Maxims of Equity; Simpson, The Rise and Fall of the Legal Treatise, S. 642 ff. 18 Bacon, Maxims of the Law, S. 198 ff. („Regula III. Verba fortius accipiuntur contra proferentem“) und 245 ff. („Regula XVI. Mandata licita recipiunt strictam interpretationem, sed illicita latam et extensam“).

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legt.19 Charakteristisch für seine maxims ist also, dass sie einerseits abstrakt formuliert sind und oftmals die Grenzen einzelner Rechtsgebiete überschreiten, andererseits aber durch eine breite und konkret fassbare Induktionsbasis gestützt werden. Es ist offenkundig, wie sehr der damalige Queen’s Counsel Learned Extraordinary, der seit seinem dreijährigen Aufenthalt in Frankreich mit dem römischen Recht vertraut war, sich beim Entwurf seiner maxims sprachlich und inhaltlich an den 211 regulae iuris orientiert hat, die den krönenden Abschluss von Justinians Digesten bilden.20 Bemerkenswert ist allerdings, wie genau seine Konzeption das neuartige Verständnis dieses Digestentitels nachvollzieht, das zu jener Zeit bei den Juristen auf dem Kontinent verbreitet war. Dort hatten die regulae nämlich ursprünglich lediglich als Vorrat an Argumenten gegolten, aus dem sich ein rhetorisch geschickter Advokat immer wieder aufs Neue bedienen konnte; sie galten also als juristische Topoi.21 Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts interpretierten einige Humanisten die Rechtssprichwörter im Lichte der Dialektik als generalia iuris principia et elementa oder als axiomata. Sie behaupteten, die Kompilatoren hätten diejenigen Stellen aus dem Gesamtzusammenhang der leges herausgelöst, die in irgendeiner Hinsicht als gleich erfasst werden konnten, um diese zu möglichst prägnanten Lehrsätzen zu verdichten. Die regulae waren damit besonders abstrakte Vorschriften, die zum Ausgangspunkt deduktiver Beweise gemacht werden konnten. Metaphorisch sprach man von Fundamenten, auf denen das Recht ruht oder von Samen, aus denen das Recht sprießt.22 Ganz ähnlich bezeichnet Bacon seine maxims als „common principles and generalities“23 oder als „foundation“24 und stellt sie dem oberflächlichen „handling of questions by common-place“25 gegenüber. Auch der Hinweis auf die Fruchtbarkeit einer Prinzipiensammlung fehlt bei ihm nicht: Sie vermittele einen tieferen Einblick in die Gründe, auf denen die bereits entschiedenen Fälle beruhen und erleichtere die Beurteilung von Fallgestaltungen, für die es widersprüchliche Präjudizien gibt oder für die es an Vorentscheidungen fehlt. Außerdem würden durch die Reduktion der Rechtsmassen unnütze Subtilitäten beseitigt.26 Schließlich scheint Bacon sogar seine induktive Methode der eleganten Jurisprudenz abgeschaut zu haben: Wenn er schreibt, die von ihm Bacon, Maxims of the Law, S. 256 ff. („Regula XX. Actus inceptus cujus perfectio pendet ex voluntate partium revocari potest; si autem pendet ex voluntate tertiæ personæ, vel ex contingenti, revocari non potest“). 20 Zu Entstehung des Titels D. 50.17 ausführlich Stein, Regulae Iuris, S. 114 ff. 21 Stein, Regulae Iuris, S. 123 und 162 ff. 22 Stein, Regulae Iuris, S. 165 ff.; Herberger, Dogmatik, S. 235 und 250. 23 Bacon, Maxims of the Law, S. 181. 24 Bacon, Maxims of the Law, S. 180. 25 Bacon, Maxims of the Law, S. 181. 26 Bacon, Maxims of the Law, S. 179 f. 19

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gesammelten Prinzipien seien über das gesamte Recht verstreut gewesen („collecting the rules and grounds dispersed throughout the body of the […] laws“27) und er habe sie aus den Übereinstimmungen der Fälle gewonnen („gathered and extracted out of the harmony and congruity of cases“28), so folgt er damit bis in die Wortwahl und das stilistische Mittel hinein einem kontinentaleuropäischen Vorbild.29 Der Vater des Empirismus ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, wie wichtig es ihm war, seine allgemeinen Grundsätze an die Einzelheiten des englischen Rechts zurückzubinden. Zwar legte er den Induktionsprozess selbst nicht offen und hielt es, ganz der mittelalterlichen englischen Tradition folgend, nicht für angemessen, maxims durch Präjudizien zu belegen, sondern beließ es bei dem Hinweis, viele seiner Beispiele beruhten auf entschiedenen Fällen.30 Gleichzeitig warnte er, sehr allgemeine Regeln seien schwer zu fassen, wenn nicht deutlich gemacht werde, in welchen Situationen sie tatsächlich zur Anwendung kommen.31 Seine detaillierten Kommentierungen müssen deshalb als Auflistung aller ihm zu diesem Zeitpunkt bekannten Emanationen der Prinzipien angesehen werden; sie sollten die maxims nicht bloß illustrieren, sondern modellieren und begrenzen.32 In einer Hinsicht folgte Bacon den Bahnen der kontinentalen Rechtswissenschaft nicht: Er verzichtete bewusst auf jegliches Arrangement seiner maxims. Dies ist umso erstaunlicher, als im 16. Jahrhundert die methodus, das heißt die wissenschaftliche Anordnung des juristischen Stoffs, zu einem Modethema avanciert war und mehrere Darstellungsoptionen miteinander konkurrierten. So war es bereits vor Descartes’ Neuaufbau des Wissens verbreitet, dem Beispiel der Geometrie folgend mit einfachen Prinzipien zu beginnen und allmählich zu immer komplexeren Elementen einer Disziplin fortzuschreiten.33 Auch der Digestentitel „De regulis juris“, in dem die Zitate der klassischen Juristen ohne erkennbaren Zusammenhang aufeinander folgen, war Gegenstand verschiedener Einteilungsversuche.34 Dem Autor der ersten englischen Essays schien dagegen eine offene, experimentelle Form geeigneter, das freie Spiel der Gedanken zu fördern und dadurch womöglich neue Bacon, Maxims of the Law, S. 179. Bacon, Maxims of the Law, S. 181. 29 Die Formulierung „regulam esse tamquam armoniam et concentum“ wurde offenbar durch François Hotman geprägt; siehe dazu Stein, Regulae Iuris, S. 171 f. 30 Bacon, Maxims of the Law, S. 184. 31 Bacon, Maxims of the Law, S. 181 und 185. 32 Bacon, Maxims of the Law, S. 181. Zur Gewinnung der maxims durch Induktion vgl. auch Kocher, Francis Bacon on the Science of Jurisprudence, S. 8 f. 33 Zu den verschiedenen Ordnungsvorstellungen siehe Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 82 f. und 88 f., sowie Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Erste Abtheilung, S. 140 ff. 34 Stein, Regulae Iuris, S. 166. 27 28

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Entdeckungen zu begünstigen, denn „this delivering of knowledge in distinct and disjoined aphorisms doth leave the wit of man more free to turn and toss, and to make use of that which is so delivered to more several purposes and applications“.35 Es wäre indes verfehlt, den Umstand, dass der spätere Lord Chancellor keinerlei Neigung verspürte, den letzten Schritt zu gehen und seine Prinzipien zu axiomatisieren, als Beleg für die angebliche Systemfeindlichkeit englischer Juristen zu werten.36 Bacon wollte das Recht sehr wohl nach Überschriften und Titeln ordnen und nur seine Digesten des Fallrechts chronologisch gliedern.37 Es darf ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden, dass Bacons maxims sich einer sinnvollen Einteilung in Kategorien weitgehend entziehen. Vielleicht wäre noch eine Unterscheidung nach materiellen Grundsätzen, Auslegungsregeln sowie prozessualen Beweisregeln und Vermutungen durchführbar gewesen. Gerade der abstrakte, rechtsgebietsübergreifende Charakter der Prinzipien musste jedoch den Wert einer einzigen, starren Klassifizierung fragwürdig erscheinen lassen. Moderne Philosophen haben Bacon vorgeworfen, sein Programm einer induktiven Vermehrung des Wissens sei nicht wesentlich über die aristotelische Wissenschaftslehre hinausgegangen, und seine Vision einer planmäßigen Gewinnung von Erkenntnissen durch unablässiges Sammeln und Experimentieren hätte die fundamentaleren Einwände des Skeptizimus gerade verfehlt.38 Aus disziplingeschichtlicher Sicht lässt sich jedenfalls feststellen, dass der junge Bacon mit seinen kurz und bündig gehaltenen Richtlinien der mittelalterlichen maxim-Tradition eine entscheidende Wendung gegeben hat, die letztlich zu der – für das Rechtsdenken des common law so typischen – Auffassung führte, dass Prinzipien als allgemeine Rechtsgedanken eine große Gruppe von Einzelfallentscheidungen erklären und Lösungswege für künftige Fälle aufzeigen können. Die Idee, solche Prinzipien aus mehreren Gesetzen und Fällen zu synthetisieren, ist in diesem Rechtskreis bis zum heutigen Tag als bottom-up approach lebendig geblieben. Sie stellt keineswegs ein Gegenmodell zu einer angeblich bloß deduktiv verfahrenden Rechtswissenschaft auf dem Kontinent dar, sondern liefert auch dort ein wichtiges Element dogmatischen Denkens. Bacons groß angelegtem Projekt eines Corpus Iuris des englischen Rechts waren die politischen Verhältnisse der Zeit allerdings denkbar ungünstig. Das common law galt den parlamentarischen Kräften, allen voran Bacons beruflichem und persönlichem Gegenspieler Edward Coke, als Garant bürgerlicher Bacon, Maxims of the Law, S. 182. So aber Weir, The Common Law System, 2-86 (S. 80): „typically English“. 37 Vgl. Bacon, De Dignitate et Augmentis Scientiarum, S. 162 und 166. 38 Russell, Philosophie des Abendlandes, S. 554 f.; Popkin, The History of Scepticism, S. 110 f. 35 36

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Freiheiten, dessen Umformung, insbesondere durch einen willfährigen Königsdiener wie Bacon, tiefem Misstrauen begegnete.39 Coke verfasste nach seiner Entlassung als Chief Justice of the King’s Bench mit den „Institutes of the Laws of England“40 schließlich auch jenes Werk, das den Rechtspraktikern eine auf Vollständigkeit bedachte Darstellung der wichtigsten Rechtsgebiete lieferte und Bacons Plan zumindest teilweise obsolet machte.41 Besonders der erste Teil der „Institutes“, ein Kommentar zu Littletons „Tenures“,42 hatte einen überwältigenden Erfolg und galt bis ins 19. Jahrhundert hinein als das Referenzwerk zum Liegenschaftsrecht. Die Glossierung wurde berüchtigt für ihre ausufernden, mit Einzelheiten vollgestopften Exkurse, die wenig bis gar keinen Bezug zu Littletons Text hatten und immer neuen Assoziationen des Autors entsprangen.43 In seiner Unübersichtlichkeit und Geschwätzigkeit sprach das Werk, das später den Status einer Rechtsquelle (book of authority) erlangen sollte, Bacons Bemühen um größere Klarheit und Einfachheit Hohn.

2. Henry Finch 2. Henry Finch

Es sollte einem Freund und Protegé Francis Bacons vorbehalten bleiben, die von der methodus-Debatte der Humanisten ausgehenden Impulse aufzunehmen und den großen Wurf einer systematischen Darstellung des gesamten englischen Rechts zu wagen. In seiner 1613 veröffentlichten „Nomotechnia“44 griff Henry Finch gleich zu einem ganzen Bündel dogmatischer Maßnahmen, als er die Absicht bekundete, „to form into one body, in harmonious order, the damaged and fragmented parts of the law of our country […], clarifying the subject by precise definition, dividing it into categories (partes), distinguishing the function of these, placing each individual item correctly in its proper place.“45

Zu diesem Zeitpunkt hatte es der Autor als Anwalt bereits zum King’s Serjeant gebracht, konnte sich jedoch wegen seines calvinistischen Bekenntnisses und einer Neigung zu apokalyptischen Visionen kaum Hoffnung auf ein richterliches Amt machen.46 Seine religiösen Überzeugungen hatten ihm indes einen Zugang zur Gedankenwelt der protestantischen Neo-Scholastik um Vgl. Kocher, Francis Bacon on the Science of Jurisprudence, S. 13. Coke, The First Part of the Institutes of the Lawes of England. 41 Holdsworth, A History of English Law. Band V, S. 489. 42 Wambaugh (Hrsg.), Littelton’s Tenures in English. 43 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 189 f. 44 Finch, Nomotexnia. 45 Finch, Nomotexnia, sig. [¶ iv], zitiert nach: Prest, The Dialectical Origins of Finch’s Law, S. 344. 46 Prest, Finch, Sir Henry (c. 1558–1625). 39 40

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den Pariser Humanisten Petrus Ramus eröffnet, mit dessen Schriften Finch bereits als Student in Cambridge in Berührung gekommen war.47 Ramus hatte bereits zu seinen Lebzeiten eine große Zahl von Anhängern in ganz Westeuropa und galt nach seiner Ermordung in der Bartholomäusnacht unter Calvinisten als Märtyrer.48 Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts hatte er aus Unzufriedenheit mit dem scholastischen Unterrichtsbetrieb mehrere Auflagen eines Dialektik-Lehrbuches49 veröffentlicht, in denen er den Aufbau des Wissens und die Vermittlung von Kenntnissen strengen Regeln unterwarf. Nach seiner Auffassung musste jede Disziplin auf Theoreme gestützt werden, die als allgemeine Gesetze ausnahmslos gelten; beginnend mit dem Allgemeinen müsse die Darstellung zum Besonderen fortschreiten; außerdem müsse jede Erkenntnis einem einzigen Fach zugeordnet sein und dürfe sich nicht an anderen Stellen des Wissensgebäudes wiederholen.50 Diese Forderungen ließen sich am besten befolgen, indem man von einem Grundbegriff ausging und diesen in gegensätzliche Gattungsbegriffe zerlegte, die im Laufe der Darstellung immer weiter in Artbegriffe gespalten wurden. Im Ergebnis lief die methodus des Ramus auf genaue, aber weitschweifige Definitionen sowie scharfsinnige, meist dichotomische Einteilungen hinaus; sie generierte umfangreiche, sich in immer feinere Verästelungen verzweigende Gliederungen, die die eigentliche Undurchsichtigkeit des so geschaffenen Gebildes freilich gerade enthüllten.51 Es ist auffällig, dass sich unter denjenigen Juristen, die an der Schwelle zum 17. Jahrhundert die Systematisierung des Rechts vorantrieben, viele Protestanten finden.52 Der bedeutendste Parteigänger des Ramismus in Deutschland war der streng calvinistisch gesinnte Althusius, der mit Hilfe der dihairetischen Methode das gesamte römische Recht seinen neu gebildeten Kategorien unterwarf.53 Die Einteilung des Rechtsstoffs in einen allgemeinen und einen besonderen Teil sowie die Schöpfung von Oberbegriffen wie „dicaeodotica acquirens“ (Rechtserwerb) und „dicaeodotica amittens“ (RechtsPrest, The Dialectical Origins of Finch’s Law, S. 329 f. Zum Lebensweg des Petrus Ramus und der Verbreitung seiner Methode siehe Ong, Ramus. Method, and the Decay of Dialogue, S. 17 ff. und 277 ff. Ramus’ Schriften waren in England und dort insbesondere in Cambridge äußerst populär; siehe hierzu Feingold, English Ramism: A Reinterpretation. 49 Ramus, Dialecticae libri duo. 50 Vgl. Ong, Ramus. Method, and the Decay of Dialogue, S. 258 ff. 51 Vgl. Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Erste Abtheilung, S. 145 ff.; Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 84 f. 52 Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Erste Abtheilung, S. 372; Berman, Law and Revolution, II, S. 129; Strohm, Calvinismus und Recht, S. 452. 53 Althusius, Juris Romani libri duo; ders., Dicaeologicae libri tres. Zu Althusius und seiner Methode siehe Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Erste Abtheilung, S. 468 ff., sowie Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 87. 47 48

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verlust) wurden richtungweisend für die Jurisprudenz späterer Jahrhunderte. Als Ganzes hatte sein künstlich anmutendes und äußerst verwickeltes System jedoch keinen Erfolg.54 Finchs Lehrbuch erschien posthum 1627 in einer englischen Version, „Law, or, a Discourse thereof“. Diese erinnert insofern an Bacons „Maxims“, als sie mehrere hundert Lehrsätze präsentiert, die der Autor selbst „the maxims and positive grounds of the law“55 nennt, und die, in gotischer Schrift und fett gesetzt, deutlich gegen die ihnen jeweils nachfolgenden Beispiele abgehoben sind.56 Anders als Bacon erhebt Finch den Anspruch, das englische Recht in seiner gesamten Breite abzubilden und das Fach nach ramistischer Manier bis in die letzten Einzelheiten zu untergliedern. Dies führt durchgängig zu einem niedrigeren Abstraktionsgrad seiner Lehrsätze, die nun zu einem nicht unerheblichen Teil aus Definitionen oder Distinktionen bestehen. Bemerkenswert ist, mit welcher Leichtigkeit Finch dasjenige Terrain durchquert, das bei seinem Zeitgenossen Coke wie ein undurchdringliches Dickicht anmutet. Im ersten Buch von Finchs „Law“ werden die verschiedenen Rechtsquellen aufgeführt. Unter diesen nehmen die Regeln der Logik eine prominente Stellung ein, insbesondere solche, die die begriffliche Beherrschung des Rechtskorpus erleichtern, wie „The greater doth contain the less“, 57 „A matter of higher nature determineth a matter of lower nature“58 oder „Things accessary are of the nature of the principal“.59 Hierher gehören auch Argumente, die in allen Rechtsgebieten zum Einsatz gebracht werden können, wie beispielsweise „[…] a derived power cannot be greater than that from which it is derived“60 oder „Things grounded upon an ill and void beginning, cannot have a good perfection“.61 Die folgenden beiden Bücher spiegeln Finchs grundlegende Zweiteilung des common law in „possessions“ und „the punishment of offences“62 wider und behandeln einerseits das Recht der Liegenschaften und beweglichen Sachen einschließlich der bailments und Verträge, andererseits das Deliktsund Strafrecht. Hier wird der Leser immer wieder in Erstaunen darüber verO. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, S. 41 und 44 f. 55 Finch, Law, or, a Discourse thereof, The Author’s Epistle to the Reader. 56 Diese typographische Inszenierung soll den Lehrsätzen offenbar den Anschein rechtlicher Autorität verleihen. Derartige Versuche hat es seit den Glossatoren immer wieder gegeben, und zwar sowohl im civil law als auch im common law. Siehe hierzu Jansen, The Making of Legal Authority, S. 111 ff. 57 Finch, Law, or, a Discourse thereof, S. 21. 58 Finch, Law, or, a Discourse thereof, S. 22. 59 Finch, Law, or, a Discourse thereof, S. 23. 60 Finch, Law, or, a Discourse thereof, S. 11. 61 Finch, Law, or, a Discourse thereof, S. 12. 62 Finch, Law, or, a Discourse thereof, S. 95. 54

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setzt, mit welcher Unbeschwertheit der humanistische Gelehrte exakte, aufeinander aufbauende Definitionen der vielfältigen Eigentumsrechte vorträgt63 und mit welcher Selbstverständlichkeit er das verschlungene Gewächs der deliktischen actions in ein einfaches Schema dichotomischer Unterteilungen verwandelt.64 Denn im Gegensatz zu Althusius kommt Finch völlig ohne Kunstbegriffe aus, wenngleich auch er nicht immer der Versuchung widerstehen kann, die Begrifflichkeiten des common law in einer Weise zu erklären, die seinem Einteilungsvorhaben günstig ist. Bemängeln kann man an Finchs Dihairese jedenfalls, dass deren Unterscheidungskriterien nicht nur mit jeder neuen Unterteilungsstufe wechseln, sondern für die Spaltung verschiedener Oberbegriffe, die auf gleicher Stufe stehen, variieren. So sollen bei der Klassifikation der Delikte einmal physische Aspekte der Tathandlung, ein anderes Mal der rechtliche Status des Opfers und dann wiederum die Rechtsfolge entscheidend sein, ohne dass begründet wird, weshalb die Unterscheidungskriterien gerade in dieser Folge angewendet werden.65 Das Bestreben, alle Deliktsformen in ein Schema zu pressen, führt letztlich dazu, dass unwichtige Aspekte zum Zwecke der Einteilung überbetont und Verbindungslinien konstruiert werden, die dem natürlichen Empfinden widersprechen. Außerdem erhalten wichtige Institute dadurch eine Randplatzierung, die ihrer praktischen Bedeutung nicht gerecht wird.66 Das abschließende vierte Buch umfasst mehr als die Hälfte des Werks und bringt nach einer kurzen Abhandlung über die Gerichtsverfassung eine noch feinsinnigere Aufgliederung der für die Prozessführung nötigen writs und pleadings. Es stellt sich die Frage, was mit dieser elaborierten Systematisierung – eine spätere Darstellung als Begriffsbaum füllt ein fünfzigseitiges Büchlein67 – eigentlich gewonnen ist. Finch hat als erster den Beweis angetreten, dass sich 63 So beispielsweise Finch, Law, or, a Discourse thereof, S. 138 f. („Seigniories are services whereby lands are holden. Services are common to all certain estates, or proper to inheritances. Common, as fealty and rent-service, whereof fealty is incident to every such estate […] Fealty is an oath to be faithful to his lord for the tenements. Rent-service is a rent to be paid to the lord at certain set times […] Of which kind, two among the rest are specially to be considered; that is to say frank almoign and divine service. Frank almoign is, when a man of the church holdeth freely in alms […] Devine service is a spiritual kind of service limited in certain“). 64 So teilt Finch, Law, or, a Discourse thereof, S. 195 f., ouster in intrusion und abatement einerseits sowie disseisin und usurpation andererseits ein; disseisin zerfällt wiederum in incloser und forstaller, rescous und replevin sowie denier. 65 Die offences werden zunächst unterteilt nach coupled with force / without force, darauf folgt die Unterscheidung punishable by death / not punishable by death, dann against the publique / trespasses. 66 Vergleichbare Einwände gegen Althusius’ System finden sich bei Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Erste Abtheilung, S. 474. 67 Finch, A Summary of the Common Law of England.

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die disparaten Bestandteile des common law logisch miteinander verknüpfen und zu einer Einheit zusammenfassen lassen. Gleichzeitig eröffnete er mit seinen neuartigen Einteilungen die Debatte darüber, wie sich das englische Recht unabhängig von den in der Praktikerliteratur dominierenden prozessualen Kategorien sinnvoll strukturieren lässt. Er schuf damit ein englisches Äquivalent zu den Ordnungsentwürfen, die kontinentaleuropäische Juristen seiner Zeit als Alternative zur Legalordnung der Digesten anboten. Nicht zuletzt ist ihm das Kunststück gelungen, das gesamte englische Recht seiner Zeit in ein handliches Format zu pressen. Dennoch ereilte Finchs Lehrbuch das gleiche Schicksal wie Bacons Prinzipiensammlung: Es wurde von dem Erfolg der „Institutes“ Cokes überrollt. Möglicherweise lag einer der Gründe gerade in Finchs Prägnanz, die im Vergleich zu der überbordenden Gelehrsamkeit Cokes anfängerhaft erschien. Tatsächlich wurde die englische Version der „Nomotexnia“ zu einem beliebten Einführungslehrbuch.68 Entscheidend dürfte jedoch gewesen sein, dass Chief Justice Coke sich mit seinen berühmten „Reports“ und seiner Haltung in der Auseinandersetzung mit der Krone um die Autonomie des common law ein enormes Ansehen erworben hatte und als bedeutendster Jurist seines Zeitalters galt.69 Offen bleiben muss an dieser Stelle, ob die Verworrenheit der Glossierungen Cokes dem damals vorherrschenden Bild des englischen Rechts besser entsprach oder ob der Richter mit seinem literarischen Vermächtnis die Vorstellung von einer amorphen Rechtsmasse erst zementierte.

3. Matthew Hale 3. Matthew Hale

Ein halbes Jahrhundert später erschuf Matthew Hale, ein Nachfolger auf dem Richterstuhl Cokes, die bis dahin subtilste Systematik des common law. Hale war bereits kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges als brillanter Verteidiger royalistischer Angeklagter in Erscheinung getreten und noch von Oliver Cromwell zum Richter am Court of Common Pleas ernannt worden. Nach der Restauration stieg er zunächst zum Chief Baron of the Exchequer, schließlich zum Chief Justice of the King’s Bench auf. Hale war puritanisch erzogen worden und konvertierte später zum Calvinismus. Zeitgenössische Berichte beschreiben ihn als frommen und mildtätigen sowie toleranten und vielseitig gebildeten Mann. Während seiner Ausbildung zum barrister vertiefte er sich in das Studium des römischen Rechts, Zeit seines Lebens widmete er sich auch naturwissenschaftlichen Experimenten. 70 Prest, The Dialectical Origins of Finch’s Law, S. 347. Vgl. Prest, ebd. 70 Cromartie, Hale, Sir Matthew (1609–1676); Holdsworth, A History of English Law. Band VI, S. 574 ff. Zu Hales nicht unbedeutenden naturwissenschaftlichen Forschungen 68 69

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Deshalb überrascht es nicht, dass Hale auch zum englischen Recht einen historisch-empirischen Zugang suchte. Er sammelte alte juristische Manuskripte, verfasste eine Geschichte des common law und hinterließ eine groß angelegte, jedoch unvollendete Geschichte des Strafrechts.71 In einer Streitschrift gegen Thomas Hobbes’ „Dialogue Between a Philosopher and a Student of the Common Laws of England“72 sprach er sich dagegen aus, Rechtsfälle anhand abstrakter Prinzipien zu entscheiden. Das im Laufe der Jahrhunderte zu immer größerer Kompliziertheit gelangte englische Recht hielt Hale philosophischer Spekulation für überlegen, weil es die gesammelte Erfahrung vieler Generationen in sich trage. Es sichere die Vorhersehbarkeit und Konsistenz von Einzelfallentscheidungen und passe sich trotzdem an verändernde Bedürfnisse an.73 Eine Einteilung des Rechtsstoffs musste daher seine Vielgestaltigkeit, die das Resultat eines organischen Wachstums war, Ernst nehmen. Die Gliederung konnte nicht streng logisch erfolgen und Kategorien erfinden, die zwar glatt und sauber waren, aber viele Einzelheiten ausließen. Auch würde ein einziger Klassifikationsversuch kaum genügen, sondern ein erster Entwurf bedurfte der Korrektur durch weitere.74 Wenn Hale schreibt, er strebe ein „more methodical system“ an, eine „reduction of the several titles of the law into distributions and heads“,75 so zeigt dies zwar, dass auch er noch der ramistischen Methode verpflichtet ist.76 Anders als Finchs Dihairese sollte seine Einteilung jedoch nicht der Eigendynamik folgen, die eine rigorose Dialektik bisweilen entfaltet, sondern musste dem Gegenstand selbst entnommen sein. Sie musste das natürliche System des common law abbilden. Das Werk, das Hale bescheiden einen ersten Versuch nennt, seine „Analysis of the Civil Part of the Law“,77 breitet auf über 100 Druckseiten eine annähernd vollständige Taxonomie des englischen Privatrechts aus. Außer Einteilungen enthält es nur ganz gelegentlich eingestreute Definitionen und Aufbauerläuterungen. Die Darstellung wird eröffnet mit einer grundlegenden partitio in membra, nach der das Privatrecht in drei große Bestandteile zer-

und dem Einfluss seiner wissenschaftstheoretischen Vorstellungen auf seine juristischen Schriften siehe Shapiro, Law and Science in Seventeenth-Century England, S. 741 ff. 71 Cromartie, Hale, Sir Matthew (1609–1676). 72 Hobbes, A dialogue between a philosopher and a student, of the common laws of england. 73 Hale, Reflections by the Lrd Chief Justice Hale on Mr. Hobbes his Dialogue of the Lawe. Zu dieser Schrift siehe Holdsworth, A History of English Law. Band V, S. 482 ff. 74 Hale, An Analysis of the Civil Part of the Law, The Authors Preface. 75 Hale, ebd. 76 Vgl. auch Prest, The Dialectical Origins of Finch’s Law, S. 348 Fn. 52. 77 Hale, An Analysis of the Civil Part of the Law.

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fällt: „Civil rights“, „Wrongs […] relative to those rights“ und „remedies applicable to those wrongs“.78 Dementsprechend beginnt Hale mit den subjektiven Rechten und unterzieht diese einer umfassenden divisio in species. Die Hauptunterscheidung trifft er zwischen „rights of persons“ und „rights of things“.79 Unter den Rechten, die sich auf Personen beziehen, werden die Rechte und Prärogativen des Königs sowie das gesamte Staatsrecht aufgeschlüsselt und die Beziehungen zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern sowie zwischen lord und tenant abgehandelt.80 Bevor Hale auf die Rechte an Sachen zu sprechen kommt, teilt er die „things“ in zahlreiche Arten und Unterarten ein; hier kommt es vor allem auf die Unterscheidung zwischen „things personal“ und „things real“ an. Erstere lassen sich in „things in possession“ und „things in action“ aufspalten; letztere gliedern sich in „things corporeal“ und „things incorporeal“.81 Auf Grundlage dieser Dihairese beginnt nun eine entsprechende Klassifikation der Rechte an Sachen; es schließen sich jedoch noch zahlreiche weitere Einteilungen an, unter anderem nach der zeitlichen Ausdehnung und den verschieden Erwerbsgründen der Rechte. Daher ist in diesem Abschnitt auch von den „conveyances“ und der „hereditary transmission“ die Rede.82 Danach wendet Hale sich den „wrongs“ zu. Hier überschneiden sich zwei Klassifikationskriterien. Zunächst wird die grobe Einteilung der subjektiven Rechte zugrunde gelegt und zwischen „wrongs that relate to the rights of persons“ und „wrongs in relation to the rights of things“ unterschieden; diese Kategorien werden noch, wie eben beschrieben, zwei weitere Male gespalten. Auf der nächsten Ebene knüpft Hale an die Art der Verletzung an, um danach wieder in der Unterscheidung nach dem verletzten Recht fortzufahren: So fallen beispielsweise „nusances“ unter „wrongs […] done to things real […] without a removing the owner or proprietor out of possession“; solche Beeinträchtigungen können jedoch entweder „things corporeal“, also Gebäude, oder „things incorporeal“ wie Wege, Märkte und Fähren betreffen. Weil auch „personal things in action“ verletzt werden können, müssen in dem Abschnitt über „wrongs“ auch „non-payment according to the deed“ und „breach of covenant“, behandelt werden.83 Obwohl nach der grundlegenden partitio des Privatrechts erst der folgende Teil des Werkes den „remedies“ vorbehalten ist, gibt Hale in dem Abschnitt über die „wrongs“ immer schon die zu dem jeweiligen Delikt passenden Rechtsbehelfe, also die actions, mit an – wohl weil er sich bewusst ist, dass er 78 79 80 81 82 83

Hale, An Analysis of the Civil Part of the Law, S. 1. Hale, ebd. Hale, An Analysis of the Civil Part of the Law, S. 3 ff. Hale, An Analysis of the Civil Part of the Law, S. 41 f. Hale, An Analysis of the Civil Part of the Law, S. 48 ff. Hale, An Analysis of the Civil Part of the Law, S. 70 ff.

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andernfalls gezwungen wäre, im letzten Teil die Aufzählung der Delikte zu wiederholen. Während es noch möglich ist, einem „civil right“ das der Tathandlung entsprechende „wrong“ eindeutig zuzuordnen, können bei einem „wrong“ verschiedene „remedies“ einschlägig sein. Dies liegt zum einen daran, dass sich mit diesen Rechtsbehelfen unterschiedliche Klageziele verwirklichen lassen. Zum anderen akzeptiert Hale hier die Planlosigkeit, mit der sich die Genese der forms of action vollzogen hat. Diese überschneiden sich in ihrem Anwendungsbereich oder differieren in Voraussetzungen, die er mit seinen Klassifikationskriterien nicht abbildet.84 Im letzten Teil behandelt Hale diejenigen Regeln, die für alle „remedies“ gelten. Hierher gehören beispielsweise Einteilungen der Einreden des Beklagten oder der Vollstreckungsarten. Damit schafft der Autor einen am Prozessgeschehen ausgerichteten allgemeinen Teil. Anstatt den gesamten Stoff einer einzelnen Dihairese zu unterwerfen, und unter bewusster Vernachlässigung der Unterschiede zwischen den einzelnen actions, gliedert Hale chronologisch anhand der Etappen des Prozesses.85 Dies bedeutet einen wesentlichen Fortschritt gegenüber Finch, der noch die writs eingeteilt hatte. Ersichtlich hat Hale für seine „Analysis“ mehrere Gliederungsmittel der Institutionenordnung entnommen.86 Er beginnt mit den „rights of persons“, geht danach zu den „rights of things“ und den „wrongs“ über und schließt seine Darstellung mit den „remedies“ ab; diese Partien entsprechen inhaltlich weitgehend dem justinianischen Schema von den „personae“, „res“, „actiones“.87 Auf das römische Einführungslehrbuch geht auch die Technik zurück, den „rights of things“ eine umfassende Einteilung der Sachen voranzustellen.88 Ganz typisch für die ältere Institutionenordnung ist es schließlich, das Erbrecht und das Vertragsrecht unter dem Aspekt des Rechtserwerbs im Abschnitt über die „rights of things“ beziehungsweise als Pflichtverletzung bei den „wrongs“ mitzubehandeln.89 84 Zum Beispiel gibt es zwei Arten von Delikten, die sich gegen den Körper einer Person richten: das „imprisonment without lawful or just cause“ und die „assaults“. Will das Opfer eines „imprisonment“ die Freiheit wiedererlangen, muss es mit dem writ of habeas corpus vorgehen, begehrt es dagegen Schadensersatz, ist die action of false imprisonment zu wählen. Beim „assault“ kommen gleich eine ganze Reihe von Rechtsbehelfen in Betracht: „trespass, assault, battery, wounding, appeal of mayhem“. 85 Hale, An Analysis of the Civil Part of the Law, S. 87 ff. 86 Hale, An Analysis of the Civil Part of the Law, S. 40, räumt sogar ausdrücklich ein, er folge bei seiner grundlegenden Zweiteilung in „rights of persons“ und „rights of things“ der „usual method of the civilians“. Eine sklavische Anwendung des Institutionenschemas auf das englische Recht lehnte er hingegen ab; vgl. a. a. O., The Author’s Preface. 87 Vgl. Cairns, Blackstone, an English Institutist, S. 341 f.; Watson, The Structure of Blackstone’s Commentaries, S. 799 ff. 88 Inst. 2.1 (De rerum divisione). 89 Inst. 2.10–3.11; Inst. 3.13–3.26.

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Gleichermaßen auffällig sind die Modifikationen des Institutionensystems, die Hale mit Bezug auf die Besonderheiten des englischen Rechts vorgenommen hat: Die Trennung von „things personal“ und „things real“ erfährt eine wesentlich größere (und andere) Bedeutung; sie ist der für das römische Recht wichtigen Unterscheidung in „res corporales“ und „res incorporales“ vorgeordnet. Damit wird der besonderen Stellung von Grundstücken als Teil des Lehnswesens Rechnung getragen, die sich insbesondere in einer von den Mobilien abweichenden Erbfolge äußert. Ein weiterer Unterschied, auch gegenüber seinem Vorläufer Finch, ist die bewusste Vernachlässigung der Grenze zwischen „actiones in personam“ und „actiones in rem“. Dadurch erreicht der Autor in seinem Abschnitt über „remedies“ einen höheren Abstraktionsgrad. Die entscheidende Neuerung Hales besteht jedoch in der Erhebung der rights zum Zentralbegriff des Privatrechts und der inneren Strukturierung des Rechtsstoffs zu einem System der subjektiven Rechte.90 Bemerkenswert ist nicht nur, wie rigoros die verschiedenen Arten der Rechte in immer weitere Gegensatzpaare aufgespalten werden, sondern auch, wie deutlich der Unterschied zwischen primären Rechten („rights“) und sekundären Rechten (die zu den „wrongs“ gehörenden „remedies“) betont wird. Hales „Analysis“ beschränkt sich auf das Arrangement des Rechtsstoffs. Darin liegt zugleich ihre Stärke wie ihre Schwäche. Sie offenbart die systematische Stellung eines jeden einzelnen Instituts des englischen Rechts. Außerdem legt der Richter seine Gründe für die Entscheidung wichtiger Aufbaufragen offen. Damit vollzieht sich von Finch zu Hale eine Bewegung von skrupelloser Dialektik hin zu einer exakten Erfassung der Wirklichkeit des Rechts. Erlernen kann man das Recht aus seinem Werk freilich nicht, und deshalb ist es auch nicht mit den Institutionenlehrbüchern des nationalen Rechts vergleichbar. Es bleibt ein bloßer Lehrplan, der noch an jeder einzelnen Stelle mit Inhalt gefüllt werden muss. Dieser Aufgabe musste sich ein anderer Rechtsgelehrter annehmen, und er konnte dies nur mit der Verzögerung eines Menschenalters tun. Die Bescheidenheit Matthew Hales ging nämlich so weit, dass er seine juristischen Schriften nicht gedruckt sehen wollte, und so erschien die „Analysis of the Civil Part of the Law“ erst lange nach seinem Tod im Jahre 1713.91

90 Vermutlich macht sich hier der Einfluss Donellus’ geltend, der als erster eine Klassifikation der Rechte („quod nostrum est“) geschaffen hat. Dies behauptet jedenfalls Descheemaeker, The Division of Wrongs, S. 219 ff. 91 Cromartie, Hale, Sir Matthew (1609–1676).

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4. William Blackstone 4. William Blackstone

William Blackstones „Commentaries on the Laws of England“ gelten als die erste systematische Gesamtdarstellung des englischen Rechts seit dem Hochmittelalter,92 als ein Wendepunkt in der Geschichte des common law.93 Dazu steht in einem gewissen Widerspruch, dass der Autor selbst versuchte, sich in eine längere, wenn auch brüchige Traditionslinie mit denen zu stellen, „who have laboured in reducing our Laws to a System“. 94 Ihm zufolge habe sich Francis Bacon zwar bewusst gegen eine Anordnung seiner maxims entschieden, diese aber so exzellent herausgearbeitet, dass man den geringen Umfang seines Werkes bedauern müsse.95 Henry Finchs Lehrbuch lobte er für ihren „happy Progress in reducing the Elements of Law from their former Chaos to a regular methodical Science“.96 Zu seinem eigentlichen Vorbild erklärte er jedoch Matthew Hale, dessen Einteilung er für die vollständigste und natürlichste hielt.97 Blackstones Ausnahmestellung gründet somit darauf, dass er verschiedene, bereits existierende dogmatische Ansätze zusammenführte, indem er als Erster das gesamte englische Recht in Rechtsgebiete unterteilte, sämtliche darin enthaltenen Begriffe definierte und sich gelegentlich bemühte, Regeln mit Prinzipien zu erklären. Zudem war Blackstone in weit stärkerem Maße als seine Vorläufer befähigt, kontinentaleuropäische Methoden auf das common law zu übertragen. Denn wie kaum ein anderer seiner Zeit vereinigte er in seiner Person gemein- und naturrechtliche Gelehrsamkeit mit einer intimen Kenntnis der Gerichtspraxis seines Heimatlandes. Da er in Oxford römisches Recht studiert hatte, war er im Grunde ein civilian. Nach einer mehrjährigen, wenig erfolgreichen Tätigkeit als barrister in Westminster hegte er Ambitionen, den vakant gewordenen Lehrstuhl für römisches Recht in Oxford zu übernehmen. 98 Um sich für diese Position ins Gespräch zu bringen, wollte er seine Vorlesungen ursprünglich im civil law anbieten. Erst als dieser Plan wegen seiner Haltung in universitätspolitischen Fragen aussichtslos geworden war und sich abzeichnete, dass ein neuer Lehrstuhl für einen Vinerian Professor of the Laws of England eingerichtet werden würde, begann er 1753, die ersten Vorlesungen über englisches Recht an der Universität Oxford zu halten.99 Mit der „Analysis of the Laws of England“ erschien 1756 der zugehöriBaker, An Introduction of English Legal History, S. 191. Milsom, The Nature of Blackstone’s Achievement, S. 4. 94 Blackstone, An Analysis of the Laws of England, S. v. 95 Blackstone, An Analysis of the Laws of England, S. v f. 96 Blackstone, An Analysis of the Laws of England, S. vii. 97 Blackstone, ebd. 98 Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts, S. 17. Zur Rolle der im römischen Recht geschulten Juristen in England siehe a. a. O., S. 37. 99 Prest, William Blackstone, S. 109 ff. 92 93

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ge Lehrplan samt Definitionen; unter dem Titel „Commentaries on the Laws of England“ kam schließlich von 1765 bis 1769 das 2000 Seiten starke Manuskript der Vorlesung heraus. Blackstones Kursus richtete sich einerseits an junge Adlige, die später als Grundbesitzer und Parlamentarier zumindest in groben Zügen mit dem Recht ihres Landes vertraut gemacht werden sollten. 100 Andererseits hatte er künftige Anwälte im Blick. Sie sollten zunächst eine akademische Ausbildung durchlaufen, in der Rhetorik und mathematische Beweisführung im Vordergrund zu stehen hatten und die mit einem Überblick zu den wichtigsten Instituten und Prinzipien des Rechts abschließen sollte. Blackstone war davon überzeugt, nur durch das Erlernen juristischer Grundzüge und einer wissenschaftlichen Methode könne der Gefahr vorgebeugt werden, dass die jungen Praktiker sich in den Subtilitäten des rechtlichen Wissens verlören. 101 Daher kam es ihm bei seiner Darstellung primär auf Übersichtlichkeit und Einfachheit des Rechtsstoffs an. In seiner Antrittsvorlesung als erster Professor of the Laws of England, die den Commentaries vorangestellt ist, versinnbildlichte er dies in der später berühmt gewordenen Metapher von der Kartierung des Rechts: „[A]n academical expounder of the laws […] should consider his course as a general map of the law, marking out the shape of the country, it’s connections and boundaries, it’s greater divisions and principal cities: it is not his business to describe minutely the subordinate limits, or to fix the longitude and latitude of every inconsiderable hamlet.“102

Bei der Aufteilung des Rechts in verschiedene Gebiete, ihrer weiteren Gliederung in Rechtsinstitute und der Aufzählung sämtlicher Arten subjektiver Rechte folgt Blackstone Hales modifiziertem Institutionenschema mit einer Genauigkeit, die man geradezu als unoriginell bezeichnen könnte.103 Allerdings vermeidet Blackstone Hales problematische Doppelbehandlung der actions in den Kategorien „wrongs“ und „remedies“, indem er seine summa divisio rein materiellrechtlich formuliert und nur zwischen „rights that are commanded“ und „wrongs that are forbidden“104 unterscheidet. Da „wrongs“ nichts anderes sind als bestimmte „infringements“ oder „violations“105 der verschiedenen „rights“, besteht zwischen den beiden obersten Abteilungen des Rechts ein konsekutiver Zusammenhang, der sich darin äußert, dass – nicht anders als bei Hale – die Feingliederung der „wrongs“ der Einteilung der „rights“ folgt. Diese wiederum zerfallen in „rights of persons“ (Staatsrecht und Personenrecht) und „rights of things“ (Liegenschaften, Mobilien Blackstone, Commentaries on the Laws of England. Volume I, S. 7 ff. Blackstone, Commentaries on the Laws of England. Volume I, S. 33 ff. 102 Blackstone, Commentaries on the Laws of England. Volume I, S. 35. 103 Cairns, Blackstone, an English Institutist, S. 340 ff.; Watson, The Structure of Blackstone’s Commentaries, S. 802. 104 Blackstone, Commentaries on the Laws of England. Volume I, S. 122. 105 Blackstone, Commentaries on the Laws of England. Volume III, S. 2. 100 101

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und Forderungen einschließlich ihrer Erwerbsarten); die wrongs gliedert Blackstone dagegen grob in „private wrongs“ (Delikte, zu ihnen gehörige Rechtsbehelfe und Prozessablauf) sowie „public wrongs“ (Straftaten und Strafverfahren) und schafft damit eine an die Institutionenordnung angelehnte Gliederung seines Werks in vier Bücher.106 Ein wesentlicher Fortschritt gegenüber Hales Taxonomie besteht darin, dass in den „Commentaries“ sämtliche Begriffe definiert und erläutert werden. Üblicherweise leitet Blackstone mit der divisio eines Oberbegriffs ein und bestimmt sodann die beiden Unterbegriffe anhand ihrer rechtlichen Eigenarten. Einer Definition folgen häufig illustrative Beispiele; die Angabe des Inhalts eines Begriffs wird also durch eine Skizze seiner Reichweite ergänzt. Gelegentlich finden sich auch juristische Konstruktionen, die ein tatsächliches Phänomen dem gerade behandelten Begriff unterordnen. Zuweilen hierarchisiert der Autor ähnliche Begriffe nach ihrem Abstraktionsgrad und begründet seine Systematisierung.107 Die Verwendung von Hales Schema zwingt Blackstone dazu, auch besonders abstrakte Oberbegriffe wie zum Beispiel „hereditament“, „chattels“ oder „contract“ zu bestimmen. Diese Notwendigkeit führt nicht selten zu Verlegenheitsdefinitionen, die mindestens dem Verdacht der Zirkularität unterliegen.108 Es ist frappierend, wie ein Autor des 18. Jahrhunderts, der vor dem Leser naturrechtliche Theorien der Entstehung des Rechts und des Eigentums ausbreitete, beinahe vollständig ohne Demonstration von Rechtssätzen aus Prinzipien auskommen konnte. Ebenso darf sein positives Urteil über Bacons „Maxims of the Law“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass er an keiner Stelle die wenigen Prinzipien, die er überhaupt zur Begründung einzelner Regelungen des englischen Rechts heranzog,109 auf induktive Weise zu gewinnen versuchte. Seine Vernachlässigung der Rechtsprinzipien ist möglicherweise

Watson, The Structure of Blackstone’s Commentaries, S. 802 ff. und 808. Diese Technik lässt sich an der Behandlung der „incorporeal hereditaments“ studieren. Der Begriff wird nicht nur definiert, sondern auch gegen ähnliche Begriffe niedrigeren Abstraktionsgrades wie zum Beispiel „land“ abgegrenzt. Im weiteren Verlauf wird „water […] as a species of land“ konstruiert. Siehe Blackstone, Commentaries on the Laws of England. Volume II, S. 16 ff. 108 Siehe beispielsweise die Definition von „hereditament“ als „whatsoever can be inherited“ (Blackstone, Commentaries on the Laws of England. Volume II, S. 17) oder die der „qualified, or base, fees“ als „such a one as has a qualification subjoined thereto, and which must be determined whenever the qualification annexed to it is at an end“ (ders., Commentaries on the Laws of England. Volume II, S. 109). 109 Mit Hilfe der Maxime „cujus est solum, ejus est usque ad cœlum“ erklärte Blackstone etwa, dass dem Inhaber eines Grundstücks auch die unter diesem liegenden Bodenschätze gehören und dass Überhänge auch eine Form des trespass darstellen (Blackstone, Commentaries on the Laws of England. Volume II, S. 18; ders., Commentaries on the Laws of England. Volume III, S. 217). 106 107

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darauf zurückzuführen, dass Blackstone kein System objektiver Rechtssätze, sondern subjektiver Rechte entworfen hat. Der Gedanke der Einheit des Rechts durchzieht hingegen das gesamte Werk. Dabei fungiert die Dichotomie von „rights“ und „wrongs“ als strukturierendes wie auch als verbindendes Mittel.110 Die von Hale ebenfalls bekannte Unterscheidung zwischen „wrongs“ und „remedies“ tritt indessen weitgehend zurück, so dass die forms of action – in Umkehrung des Diktums Henry Maines111 – nicht mehr die Bausteine des Systems bilden, sondern allenfalls seine Fugen. Dem Lehrbuchcharakter der „Commentaries“ entspricht das Bemühen, den Aufbau des Ganzen und den Zusammenhang seiner Teile durch beständiges Rekapitulieren und Verweisen transparent zu machen. Blackstones Anliegen, zu didaktischen Zwecken einen systematischen Überblick über das in England geltende Recht zu geben, erlaubt es, ihn als „Institutionalisten“ zu bezeichnen und ihn damit als Vertreter einer Bewegung zu verstehen, die im 17. und 18. Jahrhundert weite Teile Europas erfasste und zur Etablierung abgeschlossener nationaler Rechtswissenschaften führte.112 Diese „auseinanderstrebende ‚Parallelentwicklung‘“ hatte ihre Ursache in dem Ringen der Territorialstaaten um nationale Einheit und Unabhängigkeit; ihre äußeren Anzeichen waren die Gründung von Lehrstühlen für die landeseigenen Rechte und das Erscheinen von Institutionenlehrbüchern des nationalen Rechts, in denen die oftmals verstreuten Rechtsquellen zu einem System zusammengefügt wurden.113 Natürlich vollzog sich diese Entwicklung in einem Land, das den Prozess der nationalen Einigung bereits im Mittelalter abgeschlossen und 1688 zur konstitutionellen Monarchie gefunden hatte, und in dem das eigene Recht niemals mit einem fremden Recht konkurrieren musste, unter anderen Vorzeichen als im übrigen Europa. Jedenfalls zeigt der Vergleich der „Commentaries“ mit weiteren Institutionenlehrbüchern seiner Zeit, dass Blackstone typische methodische Neuerungen wie den Übergang vom älteren Institutionensystem zu naturrechtlichen Systementwürfen oder die Gewinnung von Axiomen aus den Quellen und die dadurch möglich werdende Ableitung von Folgesätzen114 nicht aufgegriffen hat. Blackstones Vorlesungen in Oxford waren außergewöhnlich erfolgreich und das Erscheinen der „Commentaries“ wurde in der Öffentlichkeit beinahe Vgl. Dedek, Of Rights Superstructural, Inchoate and Triangular, S. 187. Maine, Dissertations on Early Law and Custom, S. 389 („So great is the ascendancy of the Law of Actions in the infancy of Courts of Justice, that substantive law has at first the look of being gradually secreted in the interstices of procedure“). 112 Cairns, Blackstone, an English Institutist, S. 318; Zimmermann, Der europäische Charakter des englischen Rechts, S. 18 f. 113 Luig, Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts im 17. und 18. Jahrhundert, S. 64 f. 114 Zu den methodischen Innovationen der deutschen Institutionalisten siehe Luig, Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts im 17. und 18. Jahrhundert, S. 81. 110 111

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enthusiastisch aufgenommen.115 Als richtungweisend wurde insbesondere die dezidiert wissenschaftliche Behandlung des Rechts empfunden. Sie inspirierte gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine nicht unerhebliche Zahl von Praktikern zu neuartigen Abhandlungen, die sie als Ergänzung und Konkretisierung des Einführungslehrbuches verstanden. Diese Werke gehen von Prinzipien aus, die dem Naturrecht oder dem Fallmaterial entnommen sind und definieren Begriffe, die bisher nur unreflektiert, den Bedürfnissen der Praxis entsprechend, verwendet wurden.116 Die Popularität der „Commentaries“ nahm jedoch deutlich ab, als Jeremy Bentham das Werk einer vernichtenden Kritik unterzog. Bentham, der die Vorlesungen bereits als Sechzehnjähriger mit den Ohren eines Rebellen gehört hatte,117 klagte Blackstone an, er habe die schockierende Konfusion des common law offen gelegt und gleichzeitig durch seine affirmativen Erläuterungen den Eindruck erweckt, dieser Zustand sei keiner Verbesserung bedürftig.118 Dem reformfreudigen 19. Jahrhundert galt der erste Professor des englischen Rechts fortan als rückwärtsgewandter Apologet.

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Obwohl Jeremy Bentham und seine utilitaristische Schule einen erheblichen Einfluss auf die Sozialgesetzgebung im frühen 19. Jahrhundert hatten, stieß eines ihrer wichtigsten Vorhaben, die vollständige Kodifikation des Zivilund Strafrechts, auf wenig Gegenliebe.119 Seit seiner Jugend war Bentham ein fanatischer Anhänger der empirischen Naturwissenschaft gewesen,120 und auch in der von ihm begründeten Gesetzgebungslehre vertrat er einen strikten positivistischen Standpunkt. Dessen praktische Konsequenzen für die Gestaltung und Auslegung von Gesetzen lagen jedoch nicht weit entfernt von den methodischen Überzeugungen, auf denen die vernunftrechtlichen Kodifikationen Österreichs oder Frankreichs beruhten. Richterliche Rechtsschöpfung Prest, William Blackstone, S. 215 ff. Milsom, The Nature of Blackstone’s Achievement, S. 9 f.; Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 155 ff. Stellvertretend für ungefähr ein Dutzend Werke seien hier nur genannt Jones, An Essay on the Law of Bailments; Cruise, Digest of the Laws of England Respecting Real Property. 117 Prest, William Blackstone, S. 216. 118 Bentham, A Fragment on Government, S. 394; siehe auch Burns, Bentham and Blackstone. 119 W. Teubner, Kodifikation und Rechtsreform in England, S. 141 f. Über die politischen Forderungen der „Philosophical Radicals“ um Jeremy Bentham, James Mill und John Stuart Mill informiert Schwanitz, Englische Kulturgeschichte von 1500 bis 1914, S. 326 ff. 120 Lepenies, Die drei Kulturen, S. 112. 115 116

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lehnte Bentham rigoros ab, weil sie dazu führe, dass der Bürger Entscheidungen nicht vorhersehen könne und staatlicher Willkür ausgesetzt werde. Stattdessen forderte er Gesetzbücher, die sämtliche potenziellen Fälle lückenlos erfassen. Eine solche Vollständigkeit sei allerdings nur zu erreichen, wenn man die Tatbestände gattungsmäßig formuliere, also allgemeine Rechtsbegriffe verwende, und diese in einen logischen Zusammenhang stelle. Aus Gründen der Übersichtlichkeit sollte auf jegliche Kasuistik verzichtet werden, stattdessen war das Gebotene in Prinzipien niederzulegen.121 Für eine positivistische Rechtswissenschaft ergab sich daraus paradoxerweise die Forderung, diese müsse sich besonders mit der Analyse universaler, also allen Rechtsordnungen gemeinsamer, Rechtsbegriffe befassen. Die von Benthams Schüler John Austin ausgearbeitete „general jurisprudence“, verstanden als „science concerned with the exposition of the principles, notions, and distinctions which are common to systems of law“,122 war dann tatsächlich in erheblichem Maße von der späten Naturrechtslehre beeinflusst. Austin hatte sich nämlich auf seine Tätigkeit als Professor am neu gegründeten University College London durch ein intensives Studium in Heidelberg und Bonn vorbereitet.123 Seine Hinwendung zur deutschen Rechtswissenschaft empfand er als „escape from the empire of chaos and darkness, to a world which seems by comparison, the region of order and light“.124 Trotz seiner Begeisterung für Savignys „Recht des Besitzes“ hatte er im Grunde wenig Verständnis für die Quellenforschung der historischen Schule.125 Sein Interesse galt in erster Linie den spekulativen Begriffsbildungen und Systematisierungen, die er in den letzten naturrechtlichen Enzyklopädien und den ersten Pandektenlehrbüchern vorfand.126 Ihnen entnahm er eine Vielzahl abstrakter Begriffe wie „persons“, „things“, „rights“, „duties“ oder „acts“ und postulierte, diese durchzögen auch das gesamte englische Recht.127 Eine Schlüsselstellung in seiner Systematik nahm die Unterscheidung zwischen „iura in rem“ und „iura in personam“ ein, bei deren Analyse 121 Zum Kodifikationsideal Benthams, das hauptsächlich in den Rechtsordnungen des civil law zu Einfluss gelangte, siehe Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 140 f., sowie W. Teubner, Kodifikation und Rechtsreform in England, S. 136 f. 122 Austin, The Province of Jurisprudence Determined and The Uses of the Study of Jurisprudence, S. 367. 123 A. B. Schwarz, John Austin und die deutsche Rechtswissenschaft seiner Zeit, S. 75 ff. 124 Austin, Lectures on Jurisprudence or The Philosophy of Positive Law. Volume I., S. 60. 125 A. B. Schwarz, John Austin und die deutsche Rechtswissenschaft seiner Zeit, S. 81 f. 126 A. B. Schwarz, John Austin und die deutsche Rechtswissenschaft seiner Zeit, S. 83 ff. 127 Vgl. nur das Inhaltsverzeichnis bei Austin, Lectures on Jurisprudence or The Philosophy of Positive Law. Volume I., S. xx ff.

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er sich dezidiert auf Vorarbeiten Thibauts stützte.128 Den Gegensatz von Primärrechten und Sekundärrechten, die dem auf Rechtsbehelfe bezogenen Denken englischer Juristen unbekannt war, entnahm er Pothiers „Traité des Obligations“.129 Die unverhohlene Übertragung kontinentaler Terminologie auf das common law und die damit einhergehende Vergewaltigung seiner historisch gewachsenen Doktrinen mussten bei englischen Juristen auf eisige Ablehnung stoßen. Austins schwer verständliche, auch rhetorisch ungeschickte Vorlesungen zogen nach anfänglichem Erfolg immer weniger Zuhörer an, so dass er sich schon bald gezwungen sah, seinen Lehrstuhl aufzugeben.130 Das Schicksal John Austins verdeutlicht nicht nur, wie eine vollständige Übernahme kontinentaleuropäischen Systemdenkens selbst im Zeitalter der Reformen scheitern musste. Es belegt zugleich, welche Anziehungskraft die damals aufblühende deutsche Rechtswissenschaft auch und gerade auf englische Juristen ausübte.131 Später, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war es für Anwälte und Richter nicht mehr ungewöhnlich, sich Kenntnisse im römischen Recht autodidaktisch anzueignen. Vermittelt wurden diese durch die Werke der historischen Schule und der Pandektistik, von denen sie auch Übersetzungen anfertigten. Vereinzelt verbrachten angehende Praktiker sogar einen Teil ihrer Studienzeit in Deutschland und kehrten als begeisterte Anhänger deutscher Rechtsgelehrsamkeit zurück. 132 Vor allem aber verstanden sich die Professoren auf den neu geschaffenen juristischen Lehrstühlen in London, Oxford und Cambridge als Schüler berühmter deutscher Universitätsjuristen: Henry Maine empfing seine Anregungen augenscheinlich von Friedrich Carl von Savigny und Rudolf von Jhering, Frederic William Maitland stand in regem Gedankenaustausch mit Otto von Gierke und Heinrich Brunner, James Bryce hatte bei Karl Adolf von Vangerow studiert und William Markby, Frederick Pollock und William Anson sahen ebenfalls in Savigny ihr Vorbild.133 Savignys Reputation in Großbritannien gründete sich zur damaligen Zeit zum einen auf seine romantisch-evolutionäre Rechtstheorie, die die verbreitete Auffassung zu bestätigen schien, dass das besonders geartete englische Recht ein Bestandteil der nationalen Identität sei. Zum anderen schätzte man seine historischen Forschungen zum römischen Recht, mit denen er das Interesse an den Ursprüngen der teilweise als bizarr und rückständig empfundenen Doktrinen des common law beflügelte.134 Die ersten hauptamtlichen A. B. Schwarz, John Austin und die deutsche Rechtswissenschaft seiner Zeit, S. 89 f. Rudden, [ohne Titel]. 130 A. B. Schwarz, Einflüsse deutscher Zivilistik im Auslande, S. 52 f. 131 Reimann, Historische Schule und Common Law, S. 39 ff. 132 Dass sich damals gerade auch Praktiker Anregungen bei der deutschen Rechtswissenschaft suchten, belegt im Einzelnen Radley-Gardner, Learning to Remember, S. 1007 ff. 133 Lawson, The Oxford Law School. 1850–1965, S. 83 f.; insbesondere zu Maitland siehe dens., Doctrinal Writing: A Foreign Element in English Law?, S. 199 f. 134 Vgl. Hoeflich, Savigny and his Anglo-American Disciples, S. 34 ff. 128 129

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Rechtsgelehrten bemühten sich deshalb darum, den gegenwärtigen Zustand des Rechts zunächst anhand seiner Genese zu erklären.135 Dies erforderte ein tieferes Verständnis des mittelalterlichen Lehnswesens und der forms of action, derjenigen Klageformeln also, die bis dahin zur Einleitung eines Prozesses verwendet worden waren und von denen ausgehend sich das materielle Recht entwickelt hatte.136 Andererseits machte es gerade die unlängst vorausgegangene Abschaffung der forms of action notwendig, zeitgemäße Erklärungen für die alten Doktrinen zu finden; dafür lag es nahe, sich derjenigen Grundsätze zu bedienen, welche die historische Schule den römischen Quellen entnommen hatte. Gleichzeitig ermöglichten die Reformen des Prozessrechts den Professoren, einen systematischen Neuanfang zu wagen und die alten Rechtsinstitute nach selbst gewählten Kriterien zu ordnen.137 Die Anfänge der universitären Rechtslehre in England waren also durch die Verbindung von historischer Forschung und systematischer Analyse geprägt. Frederick Pollock repräsentiert diese Verwissenschaftlichung des englischen Rechtsdenkens wie kein Zweiter. Er war ein Humanist des viktorianischen Zeitalters, dessen Aufmerksamkeit auch den Sprachen, der Geschichte und der Architektur galt und den ein Kollege einmal als den klügsten Engländer seit Francis Bacon bezeichnet hat.138 In eine bedeutende Juristendynastie geboren, studierte er zunächst Klassische Philologie und Mathematik, bevor er sich zum barrister ausbilden ließ.139 Seine Mentoren, die aufs Genaueste mit der deutschen Rechtswissenschaft vertraut waren, regten ihn zu einer Lektüre der Schriften Savignys an.140 Dessen Fähigkeit, eine Fülle an Details durch geordnete Ideen zu bändigen,141 beeindruckte den jungen Anwalt so 135 Holdsworth, Some Makers of English Law, S. 265 ff. Holdsworth bezeichnet die ersten akademischen Rechtslehrer sogar als „new historical school“ (a. a. O., S. 269). 136 Den Höhepunkt dieser rechtsgeschichtlichen Forschung am Ende des 19. Jahrhunderts bildet die von Pollock und Maitland zu ungleichen Teilen gemeinsam verfasste „History of English Law before the Time of Edward I“ aus dem Jahr 1895. 137 Vgl. Lawson, The Oxford Law School. 1850–1965, S. 198. 138 Cosgrove, Pollock, Sir Frederick, third baronet (1845–1937); vgl. auch Holdsworth, Some Makers of English Law, S. 281 f. 139 Sein Großvater, Sir Jonathan Frederick Pollock, war Chief Baron of the Exchequer gewesen, sein Vater, Sir William Frederick Pollock, Queen’s Rememberancer. Pollocks Herkunft und Studienzeit beschreibt anschaulich A. B. Schwarz, Sir Frederick Pollock und die englische Rechtswissenschaft, S. 133 ff. 140 Holdsworth, Some Makers of English Law, S. 282. Die Affinität von Frederick Pollocks Ausbildern Nathaniel Lindley und James Shaw Willes zur historischen Schule und zur Pandektistik thematisiert auch Radley-Gardner, Learning to Remember, S. 1108 f. und 1112 f. 141 Vgl. die bei A. B. Schwarz, Sir Frederick Pollock und die englische Rechtswissenschaft, S. 138, wiedergegebene Äußerung Pollocks über Savigny. Auch Cosgrove, Our Lady the Common Law, S. 142, betont, dass Savignys Methode Pollock ein Vorbild dafür lieferte, wie sich die chaotische Masse des Fallrechts in ein rationale Ordnung bringen ließ.

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sehr, dass er bald darauf als Fellow an sein altes College in Cambridge zurückkehrte, um die Grundlagen des englischen Rechts zu erforschen.142 In den folgenden Dekaden veröffentlichte er umfangreiche systematische Lehrbücher zum Vertragsrecht143, Gesellschaftsrecht144 und Deliktsrecht145; daneben erschienen unzählige rechtsphilosophische und rechtshistorische Werke.146 Zum Corpus Professor of Jurisprudence in Oxford ernannt, gründete er zudem die erste wissenschaftliche Zeitschrift für englisches Recht und gab vier Jahrzehnte lang die „Law Reports“ heraus.147 Wie sein deutsches Vorbild war er, wenngleich einer der Pioniere seiner Disziplin, schon ganz und gar Wissenschaftler, aber aufgrund seiner Herkunft und seines beständigen Umgangs mit Richtern und Anwälten blieb er der juristischen Praxis eng verbunden.148 Pollock war der Überzeugung, das common law sei nicht nur eine bloße Ansammlung von Fällen; es war für ihn vielmehr ein einheitliches Ganzes.149 Ebenso wie die Natur Gesetze kenne, die man durch Hypothesen und deren Überprüfung anhand von Einzelbeobachtungen entdecken könne, um sie schließlich zur Vorhersage künftiger Naturereignisse zu nutzen, so seien auch richterliche Entscheidungen vorhersagbar. Denn durch die strenge Bindung an Präjudizien sei sichergestellt, dass jedes Gericht bei gleicher Tatsachenlage die gleiche Entscheidung fälle. Der einzige wesentliche Unterschied zur Natur bestehe darin, dass diese Uniformität durch die Gerichte selbst hergestellt werde. Das Ziel einer wissenschaftlichen Behandlung des Rechts müsse daher sein, diese Konsistenz zu fördern, indem sie die Gesetzmäßigkeiten, das heißt die den Entscheidungen zugrunde liegenden Regeln und Prinzipien, freilegt. Gerade die wichtigsten Prinzipien werde man nämlich im Fallrecht nicht offen ausgesprochen finden. Es sei jedoch möglich, diese mit äußerster Vorsicht aus den Einzelentscheidungen zu induzieren. Bei ihrer späteren Anwendung wüssten Richter und Anwälte jedoch, die abstrakten Normsätze seien nur Symbole für die allein maßgeblichen Präjudizien. Pollock selbst entnahm solche Prinzipien gelegentlich auch dem römischen Recht oder den moralischen Anschauungen seiner Zeit.

Cosgrove, Pollock, Sir Frederick, third baronet (1845–1937). Pollock, Principles of Contract at Law and in Equity. 144 Pollock, A Digest of the Law of Partnership. 145 Pollock, The Law of Torts. 146 Neben Pollock / Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I, zu der Pollock nur den Abschnitt über das Anglo-Saxon Law beisteuerte, sei hier gennannt Pollock, A First Book of Jurisprudence for Students of the Common Law. 147 Cosgrove, Pollock, Sir Frederick, third baronet (1845–1937). 148 Dass Pollock persönliche Kontakte mit Richtern pflegte und versuchte, Einfluss auf die Rechtsprechung zu nehmen, belegt Duxbury, Jurists and Judges, S. 87. 149 Die im Folgenden referierten Auffassungen finden sich bei Pollock, The Science of Case-Law. 142 143

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Hatte ein Gelehrter diese allgemeinen Grundsätze einmal aufgefunden, vermochte er ihnen weitere Regeln und Institute des englischen Rechts zuzuordnen und gelangte so zu einer neuen Klassifikation, die von den prozessualen Gegebenheiten unabhängig war. Diese Einordnung gestattete eine dialektische Darstellung, bei der die Einzelheiten des Fallrechts aus dem Prinzip erklärt werden konnten und sich die Prinzipien anhand der sie konstituierenden Entscheidungen illustrieren ließen. Allerdings traten immer wieder vereinzelte Fälle auf, die entsprechend einer bestimmten Leitlinie hätten entschieden werden müssen, in denen die Richter aber tatsächlich zu einem anderen Ergebnis gelangt waren. Diese konnten nun als „stray cases“,150 als Abweichungen vom rechten Weg, identifiziert werden; sie waren „wrongly decided“151 und deshalb kein geltendes Recht. Ein Rechtswissenschaftler würde sich in dieser Beziehung nicht anders verhalten als ein Naturforscher, der in einem Protokoll eine Beobachtung vermerkt findet, die einer völlig anerkannten Gesetzmäßigkeit widerspricht, und diese Nichtübereinstimmung deshalb als fehlerhaft ausscheidet. Ebenso bedürfe auch das technische Vokabular des englischen Rechts von Zeit zu Zeit einer Überprüfung. Obskure Begriffe müssten ausgesondert oder völlig unbefangen neu definiert werden, damit wenigstens die Experten verstünden, wovon sie redeten. Eine besonders weitgehende Umsetzung dieses methodologischen Programms gelang dem Professor of Jurisprudence mit seinem 1887 erschienenen „The Law of Torts“, übrigens dem ersten Lehrbuch, das ausschließlich dem englischen Deliktsrecht gewidmet ist. Der Autor unterteilt sein Werk in einen allgemeinen und einen besonderen Teil. Der „General Part“152 umfasst mehr als 200 Seiten, bringt eine Charakteristik des Rechtsgebiets insgesamt und behandelt Prinzipien und Regeln, die für sämtliche torts gelten. In dem nicht einmal doppelt so großen Abschnitt über „Specific Wrongs“153 werden sodann die einzelnen Delikte systematisch durchgegangen. Nach Auffassung Pollocks ist es nur deshalb möglich, von einem „Law of Torts“ zu sprechen, weil die Haftungsregeln Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Tatbestände und der für sie geltenden Ausnahmen aufweisen. Namentlich beruhten alle „civil wrongs“ auf einem einzigen Prinzip: „All members of a civilized commonwealth are under a general duty towards their neighbours to do them no hurt without lawful cause or excuse.“154 Weil es jedoch kein Präjudiz gab, das sich diesen Grundsatz ausdrücklich zu Eigen machte, war Pollock gezwungen, auf das römischrechtliche Prinzip des „Alterum non laedere“ und das christliche Gebot der Nächstenliebe zu verweisen.155 150 151 152 153 154

Pollock, The Science of Case-Law, S. 177. Pollock, ebd. Pollock, The Law of Torts, S. 1 ff. Pollock, The Law of Torts, S. 212. Pollock, The Law of Torts, S. 1.

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Ausgehend von einer näheren Bestimmung dieser allgemeinen Sorgfaltspflicht grenzte Pollock das Deliktsrecht vorweg von anderen Gebieten ab, die ähnliche Pflichten enthalten, also dem Strafrecht, dem Vertragsrecht und dem Familienrecht.156 Danach klassifizierte er die Delikte anhand des verletzten Interesses. Unterscheiden ließen sich demzufolge „Personal Wrongs“ (wie assault, battery, false imprisonment, deceit, slander oder libel ), „Wrongs to Possession and Property“ (trespass und interference with rights analogous to property) sowie „Wrongs to Person, Estate, and Property generally“ (eine gemischte Kategorie, die unter anderem nuisance, negligence und die Regel aus Rylands v Fletcher umfasste).157 Diese drei Kategorien differierten auch im Hinblick auf die subjektiven Anforderungen, die an den Schadensverursacher zu stellen waren: Während die Delikte der ersten Gruppe Vorsatz erforderten und die Tatbestände der dritten Gruppe überwiegend an Vorsatz oder Fahrlässigkeit anknüpften, war in der zweiten Gruppe das subjektive Element völlig gleichgültig.158 Diese Merkwürdigkeit erklärte Pollock zunächst historisch damit, dass sich die prozesstaktisch günstigere action of trespass on the case im Spätmittelalter immer mehr auf Kosten des ursprünglich einschlägigen writ of right ausgedehnt habe, wodurch allmählich der Unterschied zwischen (verschuldensunabhängiger) Vindikation und (verschuldensabhängiger) Kompensation eingeebnet worden sei.159 Er bemühte sich im Folgenden zwar halbherzig um eine zeitgemäße moralische Rechtfertigung dieser Ausnahmegruppe, plädierte aber letztlich dafür, diese Kategorie aus dem Deliktsrecht auszusondern und wieder dem Liegenschaftsrecht beziehungsweise dem Recht der beweglichen Sachen zuzuorden.160 Jedenfalls ließ sich dank der gewonnenen Einteilung auch das oberste Prinzip der deliktischen Haftung in drei Unterprinzipien konkretisieren; demzufolge war jedermann verpflichtet „to abstain from wilful injury, to respect the property of others, and to use due diligence to avoid causing harm to others“.161 Im Weiteren werden mehr als ein Dutzend „Principles of Liability“162 und „General Exceptions“163 erörtert, die dem tort law seinen inneren Zusammenhang geben. Dazu zählt unter anderem der Grundsatz, dass Verstöße gegen gesetzliche Pflichten zum Schutz der Allgemeinheit keine Haftung gegenüber dem Einzelnen begründen164 oder die Wertung, dass es für die Beurteilung 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164

Pollock, The Law of Torts, S. 1 ff. und 20. Pollock, The Law of Torts, S. 2 ff. Pollock, The Law of Torts, S. 6 ff. Pollock, The Law of Torts, S. 8 ff. Pollock, The Law of Torts, S. 12 ff. Pollock, The Law of Torts, S. 14 f. Pollock, The Law of Torts, S. 21. Pollock, The Law of Torts, S. 20. Pollock, The Law of Torts, S. 110. Pollock, The Law of Torts, S. 25 ff.

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der Haftung nicht auf das Motiv des Täters ankommt.165 Behandelt wird zudem, wie der für den Täter maßgebliche konkrete Sorgfaltsmaßstab zu bestimmen ist166 und wann Handlungen, die nur indirekt für den Schaden kausal wurden, zugerechnet werden können.167 Zu den Ausnahmen, die auf alle Delikte anzuwenden sind, gehören beispielsweise Notstand, Notwehr und Einwilligung, aber auch die Privilegierung richterlicher Entscheidungen.168 Der Allgemeine Teil endigt mit übergreifenden Regeln zum Umfang des Schadensersatzes und zur Verjährung.169 Auch im Besonderen Teil bedient sich der Autor häufig dogmatischer Denkformen. Die Betrachtung eines einzelnen Delikts beginnt er regelmäßig mit einer knappen Definition desselben.170 Gelegentlich geht Pollock auch von einem allgemeinen Prinzip aus und erörtert danach einzelne Fallgruppen. Dazu zählt beispielsweise die Regel, nach der grundsätzlich niemand für eine Unterlassung (omission) haftbar gemacht werden kann.171 Bedeutsam ist zudem die Behauptung, es gebe im englischen Recht einen allgemeinen Grundsatz, demzufolge jedermann für fahrlässiges Verhalten (negligence) einzustehen habe.172 Großen Wert legt Pollock auf die systematische Einordnung des Delikts oder das Verhältnis mehrerer Tatbestände zueinander. Beispielsweise bestehen zwischen trespass und nuisance strukturelle Ähnlichkeiten;173 in einer battery ist stets ein assault enthalten;174 slander of title bezeichnet eine spezielle Form des deceit, kann aber auch Bestandteil einer defamation sein.175 Breiten Raum nimmt schließlich die Konkurrenz zwischen vertraglicher und deliktischer Haftung ein.

Pollock, The Law of Torts, S. 23 ff. Pollock, The Law of Torts, S. 27 f. 167 Pollock, The Law of Torts, S. 29 ff. 168 Pollock, The Law of Torts, S. 110 ff. 169 Pollock, The Law of Torts, S. 180 ff. 170 So beispielsweise Pollock, The Law of Torts, S. 406 („Nuisance is the wrong done to a man by unlawfully disturbing him in the enjoyment of his property or, in some cases, in the exercise of a common right“). Häufig werden die Definitionen wichtigen Entscheidungen entnommen, wie zum Beispiel a. a. O., S. 360 („Conversion may be described as the wrong done by ‚an unauthorized act which deprives another of his property permanently or for an indefinite time‘“). 171 Pollock, The Law of Torts, S. 439 („For mere omission a man is not, generally speaking, held answerable“). 172 Pollock, The Law of Torts, S. 440 („Thus we arrive at the general rule that every one is bound to exercise due care towards his neighbours in his acts and conduct, or rather omits or falls short of it at his peril; the peril, namely, of being liable to make good whatever harm may be a proved consequence of default“). 173 Pollock, The Law of Torts, S. 406. 174 Pollock, The Law of Torts, S. 213 f. 175 Pollock, The Law of Torts, S. 309 ff. 165 166

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Am Ende seines Durchganges durch das Fallmaterial hatte der viktorianische Rechtsgelehrte – in völliger Übereinstimmung mit den methodischen Absichten des späten Savigny – „die ganze Masse des Überlieferten neu geprüft, in Zweifel gezogen, um seine Herkunft befragt“.176 Wie seinem deutschen Lehrmeister war es ihm gelungen, bislang verborgene Verwandtschaften zwischen den Instituten des englischen Haftungsrechts aufzudecken und aus einer Vielzahl von Fallgruppen Leitlinien herauszudestillieren, anhand derer sich nunmehr einzelne Regeln kritisieren oder als „abgestorben“177 ausscheiden ließen. Sein geschichtliches Erkenntnisinteresse konzentrierte sich dabei, ebenso wie dasjenige der historischen Schule,178 auf das zum Verständnis des modernen Rechts Notwendige. Seine Prinzipientheorie war hingegen nicht vom deutschen Idealismus inspiriert, sondern lehnte sich an den im ausgehenden 19. Jahrhundert verbreiteten Szientismus an. Mit Pollock beginnt eine kurze Blüte deutscher Rechtsdogmatik in England. Im Zeitraum zwischen 1876 und 1914 entstehen zu beinahe allen Rechtsgebieten große Lehrbücher, die entweder einer rigiden systematischen Einteilung folgen und in den einzelnen Abschnitten den Rechtsstoff mit Hilfe von Prinzipien erfassen (treatise), oder die nur Prinzipien aufstellen und diese anschließend kommentieren (digest).179 Für diese Werke ist das Ideal der deutschen Rechtswissenschaft derart bestimmend, dass es nicht unangebracht ist, jene Periode als englische Pandektistik zu bezeichnen. Mit der zunehmenden Verbreitung nationalistischer Ressentiments, spätestens mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, büßt die deutsche Rechtstradition ihre Vorbildwirkung jedoch wieder ein;180 schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts kommt auch die Produktion neuer systematischer Lehrbücher zum Erliegen.181 In der Vorrede zu seinem „System“ konnte Savigny auf eine „ununterbrochene Anstrengung vieler Zeitalter“ zurückblicken, die seine Juristengeneration in den „Genuß einer reichen Erbschaft“182 an Lehrmeinungen gebracht habe. Zwar seien den in großer Zahl überlieferten Einsichten auch viele Irrtümer beigemischt. Gerade deshalb aber falle seiner Zeit die einträgliche Aufgabe zu, „die wahrgenommenen Gegensätze in höherer Einheit aufzulöSavigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. XI. Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. 94. 178 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 416, zufolge verstand die historische Schule „rechtsgeschichtliche Forschungen als Mittel für das organische Verständnis des geschichtlich gewordenen Rechts“. 179 Den Aufstieg des treatise zur dominanten literarischen Gattung beschreibt Lawson, Doctrinal Writing: A Foreign Element in English Law?, S. 198 ff. Zum digest siehe Simpson, The Rise and Fall of the Legal Treatise, S. 666. 180 Radley-Gardner, Learning to Remember, S. 1119 ff. 181 Vgl. Lawson, Doctrinal Writing: A Foreign Element in English Law?, S. 199. 182 Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. IX. 176 177

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Kapitel 2: Elemente dogmatischen Denkens in England

sen“.183 Unzweifelhaft sah Pollock im englischen common law eine ebenso wertvolle Kollektivleistung. Generationen couragierter Richter hätten das Fallrecht unablässig weiterentwickelt, wenngleich die Findigkeit der plädierenden Anwälte bald zu einer schädlichen Überkomplexität geführt habe.184 Im Gegensatz zu Savigny standen ihm bei seiner Vereinfachungsleistung jedoch nur wenige Vorarbeiten zur Verfügung, nicht vergleichbar mit dem reichen Fundus an Strukturierungsvorschlägen, den die Wissenschaft vom gemeinen Recht hinterlassen hatte. Man wird wohl sagen dürfen, es habe seit der Frühen Neuzeit auch in England eine dogmatische oder rationalistische Tradition gegeben – jedenfalls dann, wenn man dafür ausreichen lässt, dass sich auch dort wissenschaftliche Bearbeitungen des Rechts nachweisen lassen, die auf das jeweilige methodische Arsenal der kontinentalen Rechtswissenschaft ihrer Zeit zugriffen, und dass die jüngeren Autoren bewusst auf denjenigen Fundamenten aufbauten, die ihnen ihre Vorläufer geschaffen hatten. Gleichwohl finden sich hauptsächlich nur erste Versuche, einzelne Elemente dogmatischen Denkens auf das anders geartete englische Recht anzuwenden: Bacon und Pollock erprobten die verdichtende Kraft der Rechtsprinzipien, Finch, Hale und Blackstone die Orientierungsleistung von Einteilungen. Hinzu kommt, dass die vorgestellten Dogmatiker in ihrer Zeit nicht immer Nachahmer fanden und niemals eigene Schüler heranziehen konnten; deshalb lässt sich allenfalls eine brüchige Traditionslinie zeichnen. Besonders muss bei der Gewichtung der wenigen dogmatischen Werke berücksichtigt werden, dass diese in ihrer Popularität deutlich hinter der undogmatischen Praktikerliteratur zurückblieben und nur einen geringen Einfluss auf die Juristenausbildung, die Rechtsprechung oder die Reformgesetzgebung hatten. Demgegenüber ließe sich mühelos eine starke und bis auf den heutigen Tag lebendig gebliebene Tradition der Notizbücher (commonplace books), der Mustersammlungen für prozessuale Anträge (pleadings), der alphabetisch geordneten Entscheidungskompilationen (abridgements) sowie der Rechtswörterbücher (dictionaries) nachweisen. 185 „[T]he old fashioned English lawyer’s idea of a satisfactory body of law“, urteilte Frederick Pollocks Professorenkollege Thomas Erskine Holland, „was a chaos with a full index.“186 Es fragt sich deshalb, ob die Marginalisierung systematischer Literaturgattungen auf eine lang andauernde, tief verwurzelte Tradition juristischer Überzeugungen verweist.

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Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. XI. Pollock, The Genius of the Common Law, S. 59 ff. Zu den abridgements siehe unten, S. 148. Holland, Essays upon the Form of the Law, S. 171.

Kapitel 3

Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität Kapitel 3: Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität

Die untergeordnete Stellung wissenschaftlicher Systembildung, die kennzeichnend für die englische Rechtstradition geworden ist, lässt sich möglicherweise damit erklären, dass die Heterogenität und Kompliziertheit des Rechtskorpus von der Mehrheit der Juristen viele Jahrhunderte lang nicht als problematisch empfunden wurde. Wie die programmatischen Ausführungen der wenigen dogmatischen Autoren belegen, war Unzufriedenheit über ein Rechtsdenken, das sich vornehmlich an den praktischen Erfordernissen der Prozessführung ausrichtete, zwar vorhanden, über lange Zeiträume hinweg jedoch nicht sehr verbreitet. Folglich ließe sich der Wunsch nach Einheit und Übersichtlichkeit des Rechts, der deutschen Juristen geradewegs eingeimpft zu sein scheint, nicht universalisieren in dem Sinne, dass eine jede Rechtsordnung vor die Aufgabe der Verringerung und Vereinfachung des Rechtsstoffs gestellt ist. Gerade ein in der deutschen juristischen Tradition sozialisierter Rechtsvergleicher müsste demnach besondere Vorsicht walten lassen, methodische Überzeugungen, die in seiner heimatlichen Kultur selbstverständlich sind, nicht einfach auf die Akteure der englischen Rechtsordnung zu projizieren. Unzutreffend wäre daher insbesondere die Annahme, gerade weil die Masse des Fallrechts so amorph sei und die planende Voraussicht eines Kodifikationsgesetzgebers fehle, müssten die Engländer doch ein besonders starkes Bedürfnis nach Strukturierung verspüren. In der Tat stimmen ganz unterschiedliche komparatistische Ansätze darin überein, eine Erklärung für die Marginalisierung dogmatischer Bestrebungen in der Vorstellungswelt des englischen Juristen oder gar im „Geist des englischen Rechts“1 zu vermuten. Anstatt Rechtsfragen theoretisch erörtern und durch die Einordnung in ein System beantworten zu wollen, zögen englische Richter es vor, nach pragmatischen Lösungen für diejenigen Probleme zu suchen, mit denen das Leben an sie herantrete. Daraus resultiere einerseits eine Privilegierung der tatsächlichen Besonderheiten des Einzelfalles, andererseits ein tiefes Misstrauen gegenüber jeglicher Verallgemeinerung und der mit ihr einhergehenden Vorwegnahme künftiger Entscheidungen. Typisch für dieses Erklärungsmuster ist es, derlei methodische Präferenzen auf den Nationalcharakter oder, moderner gesprochen, die Mentalität des englischen Volkes zurückzuführen. Der Engländer im Allgemeinen sei nämlich nüchtern1

Radbruch, Der Geist des englischen Rechts.

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Kapitel 3: Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität

pragmatisch, ja geradezu anti-intellektuell veranlagt und scheue sich davor, bewährte Traditionen leichtfertig hochgezüchteten Ideen zu opfern. Infolge seiner abwartenden Grundhaltung treffe er erst dann eine Entscheidung, wenn das Leben von ihm eine Tat fordere. Damit unterscheide er sich ganz erheblich von dem Franzosen oder dem Deutschen, die beide auf Ordnung und Planung bedacht seien und sich für ihre hehren Ideale mitunter die Köpfe einschlügen.2 In einer Epoche weltweiter kultureller Standardisierung, in der nationale Eigenheiten zunehmend als amüsante folkloristische Überreste verniedlicht werden, mag eine solche Argumentation unstatthaft erscheinen und bestenfalls zur Kolorierung der sonst eher eintönigen methodenvergleichenden Aussagen dienlich sein. Gleichwohl lässt sich die Einzigartigkeit des englischen Rechtsdenkens nur erfassen, wenn der weitere kulturelle Rahmen, innerhalb dessen sich dieses entfaltet hat, mit in die Betrachtung einbezogen wird. Im Folgenden sollen deshalb Theorien, die einen Kausalzusammenhang zwischen Volkscharakter und juristischer Denkweise herstellen, auf ihre Tragweite hin überprüft werden. Danach wird eine Konzeption der juristischen Mentalität vorgestellt. Abschließend soll eine Antwort auf die Frage gesucht werden, wodurch sich gerade die englische Rechtsmentalität auszeichnet.

1. Wandlungen des englischen Nationalcharakters 1. Wandlungen des englischen Nationalcharakters

Wer längere Zeit in Oxford lebt, kann in der Abgeschiedenheit dieser engen Stadt leicht schwermütig werden. Das Weltgeschehen ist nur als weit entferntes Kriegsgeschrei vernehmbar, vergängliches und vergebliches Kanonendonnern, das die Bewohner nicht aus ihren gebildeten Träumereien zu reißen vermag. Spätestens in den Ferien, wenn die Studenten nach Hause gefahren sind und sich die Fellows in ihre Cottages oder Londoner Apartments zurückgezogen haben, bleibt den wenigen Verbliebenen nichts anders übrig, als spät aufzustehen, lange Spaziergänge zu unternehmen und die hohen Bibliotheksregale nach immer neuen Fundstücken zu durchstöbern. Robert Burton lebte fast ein halbes Jahrhundert lang in Oxford, und er war zutiefst trübsinnig.3 Um seine Schwermut mit Geschäftigkeit zu vertreiben, verschlang der akademisch erfolglose Bibliothekar von Christ Church eine Schrift nach der anderen, exzerpierte, übersetzte und kompilierte. Unter seiExemplarisch für diese Auffassung seien an dieser Stelle zunächst nur Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 69, 177, 252 f. und 263, sowie Legrand / Samuel, Brèves épistémologiques sur le droit anglais tel qu’en lui même, genannt. 3 Eine biographische Skizze findet sich bei Gowland, The Worlds of Renaissance Melancholy, S. 5 ff. 2

1. Wandlungen des englischen Nationalcharakters

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ner Hand wuchs ein mehr als tausendseitiges Dickicht von einem englischlateinisch-griechischen Text heran, in dem all das sich wiederfand, was Mediziner und Astronomen, Dichter und Philosophen jemals über seine seelische Verstimmung geäußert hatten.4 Auch die Veröffentlichung der „Anatomy of Melancholy“ im Jahre 1621 konnte Burton nicht von seiner Vollständigkeitsobsession befreien, und immer neue Zitate und Anekdoten verlangten danach, in das Riesenwerk eingefügt zu werden. Die pedantische ramistische Gliederung, die vorgab, durch Einteilungen, zum Beispiel der Ursachen und Symptome der Schwermut, Übersichtlichkeit herzustellen, wendete sich in ihrer Monstrosität gegen sich selbst und konnte sogar den fröhlichsten Leser in eine Depression stürzen.5 Die „Anatomy“ war jedoch nur vordergründig ein medizinischer Traktat, denn infolge einer kühnen Ausweitung der antiken Humoralpathologie6 konnten nicht nur Menschen, sondern auch gesellschaftliche Institutionen – Familien, Städte und ganze Staaten – melancholisch werden.7 Nimmt es dann noch Wunder, dass auch das englische Rechtswesen in Burtons Wahrnehmung schwerfällig, labyrinthisch und ungerecht ist? Eine Vielzahl von Urteilen, überlange Prozesse und die Zerstrittenheit der Juristen in fachlichen Fragen gelten ihm nicht nur als charakteristisch für das Recht seines Landes und seiner Epoche, sondern auch als Symptome eines seelenkranken Staates.8 Man ist geneigt, Burton zuzustimmen, denkt man an die damalige Konkurrenz zwischen den Gerichten des common law, den zahlreichen Spruchkörpern der königlichen Prärogative sowie der kirchlichen Gerichtsbarkeit.9 Die fortwährende Ausweitung von Zuständigkeiten ermöglichte es unterlegenen Parteien, ihren Prozess in einer anderen Jurisdiktion vollständig neu aufzurollen; ein Vorgehen, gegen das sich manche der übrigen Gerichte mit Untersagungsverfügungen wehrten.10 Der Antagonismus zwischen common law und equity hatte sich erst kürzlich in einem für beide Protagonisten demütigenden Machtgerangel zwischen dem starrköpfigen Chief 4 Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, S. 20 ff.; ders., Lesefreuden: Robert Burtons „Anatomie der Schwermut“. 5 Vgl. Olejniczak Lobsien, Skeptische Phantasie, S. 138 ff. 6 Zur antiken Viersäftelehre ausführlich Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie, S. 1 ff. Burtons Übertragung der sich ursprünglich auf den menschlichen Körper beschränkenden Lehre auf die Gesellschaft wird eingehend kommentiert von Gowland, The Worlds of Renaissance Melancholy, S. 223 ff. 7 Burton, The Anatomy of Melancholy. Volume I, S. 74 ff. 8 Burton, The Anatomy of Melancholy. Volume I, S. 71 ff. 9 Einen Eindruck von der verwirrenden Vielfalt an Zuständigkeiten vermittelt Baker, An Introduction to English Legal History, S. 37 ff., 117 ff. und 126 ff. 10 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 143 ff., verdeutlicht, wie stark der Anwendungsbereich des writ of prohibition sowie anderer prerogative writs gerade in der frühen Stuartzeit ausgedehnt wurde.

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Kapitel 3: Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität

Justice Coke und dem greisen Lord Chancellor Ellesmere entladen – ein Zusammenprall, der selbst wiederum Ausdruck des schwelenden Konflikts zwischen Krone und parlamentarischer Opposition war.11 Am Vorabend des Bürgerkrieges diagnostiziert man bei den Engländern allgemein ein melancholisches Gemüt. Introspektive, selbstquälerische und zerrissene Individuen geben den Ton an12, besonders in der Dichtung – erinnert sei nur an Shakespeares Sonette und Tragödien oder die Elegien und Meditationen eines John Donne –, ebenso in der Musik – man denke etwa an John Dowlands sieben Variationen über das Thema der Pavane „Lachrimæ“. Die „maladie anglaise“ wird schon bald zum geflügelten Wort, und ganz nach der Mode der Zeit machen Reiseschriftsteller das neblig-feuchte Klima und die bei der Kohleverfeuerung entstehenden Abgase für den Spleen der Inselbewohner verantwortlich.13 Diese wiederum wollen in der ständigen Grübelei und dem unstillbaren Wissensdurst die Auslöser für ihre Trübsal erkannt haben.14 Allmählich beginnen die Engländer, ihre wehmütig-süßen Empfindungen wie auch ihre Gelehrsamkeit zu kultivieren. In der Restaurationszeit wird das Ideal des virtuoso oder gentleman-scholar verbindlich, der sich Distinktionsvorteile durch Sammlungen schöner, seltener und wundersamer Dinge verschafft sowie mit ausgedehnten Kenntnissen in den Wissenschaften und Künsten glänzen kann.15 Als ganz Europa die genialen Theorien eines Newton, Halley oder Boyle bewundert, versammelt sich die Spitze der englischen Gesellschaft in der Royal Society.16 Diese zählt nicht nur viele Juristen zu ihren Mitgliedern, sondern es kommt auch in Mode, neben der Ausbildung in den Inns of Court naturwissenschaftliche Vorlesungen zu besuchen oder mathematische Studien zu treiben.17 Matthew Hale veröffentlichte noch als Chief Justice komplizierteste physikalische Abhandlungen, und seine Taxonomie des Privatrechts steht gleichbedeutend neben seinen übrigen Versuchen, Wissen zu klassifizieren.18 Einzelheiten bei Baker, The Common Lawyers and the Chancery: 1616. Maurer, Kleine Geschichte Englands, S. 166. 13 Langford, Englishness Identified, S. 53. 14 So jedenfalls Burton, The Anatomy of Melancholy. Volume I, S. 302 ff. Freilich hatte es schon damals Tradition, die Nachdenklichkeit nicht nur zum Symptom, sondern auch zur Ursache der Melancholie zu erklären; siehe dazu die Nachweise bei Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, S. 188 f. Einer Aristoteles zugeschriebenen Auffassung zufolge sollten sogar alle geistig hervorragenden Menschen Melancholiker gewesen sein. Dementsprechend wird der melancholische Typus seit der Frührenaissance durchweg mit einem auf die Hand gestützten Kopf dargestellt – eine Haltung, die sowohl Trauer als auch schöpferisches Denken symbolisieren kann. Näheres bei Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie, S. 55 ff. und 409 ff. 15 Houghton, The English Virtuoso in the Seventeenth Century. 16 Schwanitz, Englische Kulturgeschichte von 1500 bis 1914, S. 160 ff. 17 Shapiro, Law and Science in Seventeenth-Century England, S. 737 ff. 18 Shapiro, Law and Science in Seventeenth-Century England, S. 741 ff. 11 12

1. Wandlungen des englischen Nationalcharakters

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Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat sich das Stereotyp vom nachdenklichen, melancholischen Insulaner endgültig hin zum geistreichen, scharfsinnigen Engländer verschoben.19 Noch Montesquieu (der schließlich auch einen Zusammenhang zwischen Klima und Rechtsordnung herstellt) schreibt den Engländern besondere mentale Fähigkeiten zu: „In Deutschland sollte man umherreisen, in Italien verweilen und in England denken.“20 Auch Blackstones Leistung wird auf seine außergewöhnlichen geistigen Qualitäten zurückgeführt.21 Ein Rezensent der „Commentaries“ meint sogar, Blackstone als englischen Cujas zu titulieren, käme einer Beleidigung gleich, denn die Werke des französischen Juristen hätten niemals ein solches Maß an Ordnung und Klarheit erreicht.22 Die Selbstzuschreibungen und Fremdwahrnehmungen bezüglich des englischen Volkscharakters schlagen allerdings bald darauf in ihr genaues Gegenteil um. Nachdenklichkeit und Melancholie waren vornehmlich eine Haltung der adligen Oberschicht gewesen; seit dem Interregnum gewannen dagegen die mittleren Klassen stetig an Einfluss, die als hauptsächliche Träger des Puritanismus göttliche Erwähltheit mit irdischem Vorwärtskommen gleichstellten.23 Mit dem Einsetzen der industriellen Revolution erscheinen die Engländer als profitgetriebene Tatmenschen, die sich nicht mehr mit tiefschürfenden Gedanken aufhalten.24 Auch der Verwaltung des britischen Empire, zunächst ein auf Privatinitiative gegründeter Amateurkolonialismus, erfordert praktisch veranlagte, improvisationsfreudige Charaktere. Die public schools legen daher besonderen Wert auf die Herausbildung eines gefestigten Selbstbewusstseins und die körperliche Ertüchtigung im sportlichen Wettkampf.25 Im viktorianischen Zeitalter wird schließlich eine vulgäre Abart des Utilitarismus, die den egoistischen Nutzen zum Ziel menschlichen Strebens erklärt, zum Glaubensbekenntnis der Engländer.26 Entsprechend beklagten Moralisten wie John Stuart Mill und Matthew Arnold, ihre Landsleute seien arm an ethischen Grundsätzen und schätzten Kunst und Wissenschaft gering.27 Langford, Englishness Identified, S. 73 f. Langford, Englishness Identified, S. 74 (Übersetzung von mir). 21 Noch Holdsworth, Some Aspects of Blackstone and his Commentaries, S. 264 ff., hielt Ordnungsliebe und Systematisierungswille für Blackstones hervorstechendste Charakterzüge. Auch Prest, William Blackstone, S. 83, beschreibt ihn als Perfektionisten und Ordnungsfanatiker. 22 Siehe Prest, William Blackstone, S. 221. 23 Dibelius, England. Zweiter Band, S. 71 ff. 24 Dies belegen die zahlreichen Äußerungen ausländischer Beobachter, die Langford, Englishness Identified, S. 75 ff., anführt. 25 Paxman, The English, S. 190. 26 Dibelius, England. Erster Band, S. 167. 27 Siehe etwa J. S. Mill, On Liberty, S. 57 f. und 130 f.; Arnold, Literature and Dogma, S. xxiii ff. und 52 ff. 19 20

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Kapitel 3: Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität

Als der französische Kunsthistoriker Hippolyte Taine in den 1860er und 1870er Jahren Albion bereiste, fand er in den Köpfen seiner Bewohner „viele Tatsachen und wenige Gedanken, eine Menge nützlicher und genauer Angaben, [… aber] keinen Gesamtüberblick“28 vor. Seine Gastgeber „empfanden nicht einmal das Bedürfnis, ihre Kenntnisse in einer Art System zu ordnen; sie hatten nur vereinzelte, gesonderte Begriffe, und hatten weder den Wunsch noch die Macht, sie unter irgend einem philosophischen Gesichtspunkte miteinander zu verknüpfen“.29

Weil ihrem Verstand die reduktiven Fähigkeiten des französischen Geistes fehlten, musste auch ihr Recht konfus und prinzipienlos sein: Statt eines Gesetzbuches existierte nur ein Berg von Präzedenzfällen und die Weiterentwicklung des Rechts vollzog sich ausschließlich durch behutsames Vorantasten.30

2. Besteht ein Zusammenhang zwischen Volkscharakter und Rechtsdenken? 2. Besteht ein Zusammenhang zwischen Volkscharakter und Rechtsdenken?

Es ist dieses Klischee vom anti-intellektuellen, nur der Empirie und dem common sense verpflichteten Engländer, das Eingang in die moderne Rechtsvergleichung gefunden hat und nunmehr seit Jahrzehnten bemüht wird, um eine tiefere Begründung für das Desinteresse englischer Juristen gegenüber wissenschaftlicher Systembildung zu geben. „The absence of discussion of what the divisions of law should be“, stellte Tony Weir in einem klassisch gewordenen Beitrag fest, „is no doubt attributable to the character of the English mind. The Englishman is naturally pragmatic, more concerned with result than method, function than shape, effectiveness than style; he has little talent for producing intellectual order and little interest in the finer points of taxonomy.“31

Die offenkundige Tatsache, dass englische Juristen gegenüber Prinzipien misstrauisch waren und deshalb nur selten über die Erörterung von Einzelfällen hinausgelangten, hatte der schottische Richter am House of Lords, Hugh Macmillan, bereits in den 1930er Jahren mit einem Hinweis auf die englische Mentalität erklärt: Abstrakte Theorien seien dem Engländer von vornherein verdächtig; anstatt zu spekulieren, bleibe er lieber dem Althergebrachten treu.32 Wenig später bemerkte Gustav Radbruch, der während eines Forschungsaufenthaltes in Oxford mit dem englischen Recht in Berührung ge-

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Taine, Aufzeichnungen über England, S. 270. Taine, Aufzeichnungen über England, S. 278. Taine, Aufzeichnungen über England, S. 279. Weir, The Common Law System, 2-83 (S. 77). Lord Macmillan, Two Ways of Thinking, S. 13 ff. und 30 ff.

2. Besteht ein Zusammenhang zwischen Volkscharakter und Rechtsdenken?

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kommen war,33 englischem Denken liege es nicht, „die Tatsachen mittels der Vernunft zu vergewaltigen“; außerdem lasse man kritische Situationen lieber erst an sich herankommen und entscheide dann von Fall zu Fall.34 Von diesen Äußerungen inspiriert, zeichneten Hein Kötz und Konrad Zweigert das einfühlsame Porträt eines unverbildeten, lebenszugewandten und spontanen Problemlösers, um ihren Lesern „den juristischen Denkstil des Common Law“35 näherzubringen.36 Auch in dem von Pierre Legrand entworfenen „epistemischen Panorama“ des englischen Rechts nahm die angelsächsische Vorliebe für Tatsachen eine Schlüsselstellung ein: Sie erkläre, weshalb das common law dem individuellen Sachverhalt so große Aufmerksamkeit schenke, während es an Abstraktion und Systematisierung nicht glaube.37 Die zuletzt genannten Autoren schlossen nicht nur vom Volkscharakter auf das Recht, sondern zogen auch Parallelen zu anderen Kulturerscheinungen. Legrand führte den Gegensatz zwischen dem naturbelassenen englischen Landschaftsgarten und dem gewaltsam in geometrische Formen gezwungenen Garten des französischen Absolutismus an, um die Toleranz englischer Juristen gegenüber der Ungeordnetheit des Rechtsstoffs zu erklären.38 Zweigert und Kötz vermuteten dagegen, die Systemrenitenz habe ihren Ursprung in einer seemännischen Weisheit, wonach alle Planung angesichts der wechselnden Winde des Lebens letztlich vergeblich sei.39 Damit ist Ernst Rabels oft belächelter Wunsch, die Rechtsvergleichung möge auch den „Zusammenhang des Rechts mit Boden, Klima und Rasse“ ergründen,40 offenbar nicht völlig unerfüllt geblieben. Rechtshistoriker seiner Generation empfanden es jedenfalls noch nicht als anrüchig, der Einfachheit und Sparsamkeit des römischen Rechts die Verwickeltheit und Formenvielfalt des germanischen Rechts gegenüberzustellen und diese Qualitäten der „Individualität der Völker“ anzulasten.41 Schon die historische Schule hatte bekanntlich einen „organischen Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und 33 Radbruch weilte von 1935 bis 1936 in Oxford. Näheres bei Vulpius, Gustav Radbruch in Oxford, S. 33 ff. 34 Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, S. 12. 35 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 262. 36 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 69, 177, 252 f. und 263. 37 Legrand, Le droit comparé, S. 108 f. Siehe ferner Legrand / Samuel, Brèves épistémologiques sur le droit anglais tel qu’en lui même, S. 32 ff., sowie Legrand / Samuel, Introduction au common law, S. 67 f. und 74 f. 38 Legrand, Le droit comparé, S. 7 f. 39 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 69. 40 Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung, S. 5. 41 So beispielsweise Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, S. 46. Noch Wieacker, Römertum und römisches Recht, führte die Vorsicht vor Prinzipien und Systemen auf den nüchternen Tatsachensinn der römischen Bauern, Händler und Soldaten zurück. Siehe ferner dens., Der römische Jurist.

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Kapitel 3: Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität

Character des Volkes“42 behauptet. Sie knüpfte dabei an die frühromantische Ästhetik Johann Gottfried Herders an, derzufolge in jedem kulturellen Artefakt die Lebenswelt seines Schöpfers zum Ausdruck kommt und sich insbesondere in kollektiven Werken ein unverwechselbarer Volksgeist spiegelt.43 Herder betonte die Mannigfaltigkeit und Einmaligkeit der Kulturen und wendete sich damit gegen die Geschichtsphilosophie der Aufklärung, die noch von einer überall gleichartigen, unveränderlichen menschlichen Natur ausgegangen war.44 Postmoderne Theoretiker der Rechtsvergleichung haben seine Gedanken wieder aufgegriffen45 und besonders solche Differenzen hervorgehoben, die von kulturspezifischen Überzeugungen oder Denkgewohnheiten herrühren.46 Bezogen auf eine Untersuchung der juristischen Methode hieße dies abermals, danach zu fragen, ob sich diese radikale Pluralität der Kulturen auch in unterschiedlichen rechtlichen Rationalitäten manifestiert.47 Dennoch bleibt es ein gewagtes Unterfangen, eine kausale Verknüpfung zwischen dem Nationalcharakter und dem Rechtsdenken herzustellen.48 Eine solche Argumentation unterliegt in erster Linie der Gefahr des kulturellen Essentialismus. Dies bedeutet, den Angehörigen eines Volkes oder den Bewohnern einer Landschaft notwendige, unveränderliche Eigenschaften nachzusagen, die sie angeblich von anderen Menschen unterscheiden.49 Bezogen auf den europäischen Kontext geht es dabei namentlich um die im Zeitalter des Nationalismus geschmiedeten Stereotype. So sind keineswegs alle Teutonen ernst, tiefsinnig und gründlich; der vermeintliche „Erbfehler der Deutschen, Systeme zu zimmern“50 hat jedenfalls nicht verhindert, dass dieses Volk auch geschäftstüchtige Erfinder hervorbrachte. Ebenso wenig sollte man Rechtsgelehrten eine allzu ausgeprägte Uniformität unterstellen – den heute Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 66. Eine originelle Zusammenfassung von Herders ästhetischen und geschichtsphilosophischen Ansichten findet sich bei Berlin, The Roots of Romanticism, S. 57 ff. Herders Lehre vom Volksgeist behandelt Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 426 ff. Zur weiteren Geschichte dieses Begriffs siehe Rotenstreich, Volksgeist. 44 Vgl. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 3 ff. 45 Vgl. Whitman, The Neo-Romantic Turn, S. 315 ff. Insbesondere Legrand, The Same and the Different, S. 261 ff., setzt sich ausführlich mit Herder auseinander. 46 Neben den bereits erwähnten Arbeiten von Legrand und Samuel sind hier zu nennen: Kasirer, Agapè; Whitman, The Neo-Romantic Turn, S. 329 ff.; Ruskola, Legal Orientalism. In diesen Zusammenhang gehört auch die rechtshistorisch angelegte Studie von Ewald, Comparative Jurisprudence (I): What Was it Like to Try a Rat? 47 Für ein solches Verständnis der Postmoderne als Pluralität der Rationalitätsformen plädiert Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 4 und 7. 48 Vgl. auch die Kritik bei van Caenegem, Judges, Legislators and Professors, S. 72 f. 49 Legrand, Comparative Legal Studies and the Matter of Authenticity, S. 390, weist zwar kulturellen Essentialismus emphatisch zurück, bedient sich allerdings fortwährend klischeehafter Verallgemeinerungen. 50 Herder, Brief an Johann George Schaffner vom 31. Oktober 1767. 42 43

2. Besteht ein Zusammenhang zwischen Volkscharakter und Rechtsdenken?

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an englischen Universitäten forschenden Juristen schon deshalb nicht, weil viele von ihnen aus dem Ausland stammen und dort im Regelfall auch ihre juristische Ausbildung absolviert haben. Wie bereits deutlich geworden ist, haben sich die mutmaßlichen oder tatsächlichen Eigenarten der Engländer im Laufe der Jahrhunderte erheblich gewandelt. Selbst solche kulturellen Neuerungen, die zuerst auf englischem Boden in Erscheinung traten und die später als landestypisch galten, erweisen sich nicht selten als Ausprägungen einer bestimmten Epoche. Deshalb sei davor gewarnt, die in einzelnen Kunstgattungen durchaus anzutreffenden Nationalstile als charakteristisch für die gesamte Kulturgeschichte des Landes zu erachten. So ist Legrands reizvolle Analogie zwischen dem englischen Landschaftsgarten und dem englischen Recht bei näherem Hinsehen problematisch, weil auf der Insel noch im 17. Jahrhundert zahlreiche Gärten in dem formaleren französischen Stil entstanden.51 Im Übrigen wendeten sich die Architekten der weiträumigen Landschaftsparks zwar von strengen geometrischen Formen ab; sie verzichteten aber keineswegs darauf, Rundwege vorzuschreiben, die immer neue Sichtachsen auf die mit Hilfe vorhangbildender Baumgruppen theatralisch inszenierten Gebäude freigaben.52 Die offenen, großflächigen Anlagen wurden in England vor allem deshalb so populär, weil sie ihren Eigentümern die Gelegenheit boten, die durch Einhegungen von Gemeindeland erlangten Besitzungen als Weidefläche zu nutzen und auf diese Weise rentabel zu machen53 – bevor diese Varietät des Gartenbaus von französischen und deutschen Adligen adaptiert wurde. Überdies hatte das common law längst viele seiner charakteristischen Züge angenommen, als sich die pragmatische Mentalität der Engländer herauszubilden begann. Von Beginn war es im Wesentlichen ein Arsenal von Rechtsbehelfen; diese wurden seit dem ausgehenden Mittelalter im Wege der Analogie fortgebildet und ergänzt.54 Eine schwache Form der Präjudizienlehre, Man denke nur an St James’s Park und den Garten von Hampton Court. Siehe hierzu Quest-Ritson, The English Garden, S. 79 ff. 52 Wie Phibbs, Projective Geometry, S. 3 f., nachweist, sind sowohl französische als auch englische Gärten bis ins letzte Detail konstruiert. Beide folgen aber unterschiedlichen Geometrien: Während die „metrische“ Gestaltung von kleinen Einheiten ausgeht und diese zu regelmäßigen Mustern vervielfältigt, erschließt sich dem Betrachter der „projektiven“ Landschaftsarchitektur die Harmonie der Natur nur aus bestimmten Blickwinkeln. Die Wanderung durch einen Garten des 18. Jahrhunderts, so ders., The View-Point, S. 216 und 221 ff., sollte – wie ein Rundgang durch eine Gemäldesammlung – eine Abfolge von Bildern erzeugen und nacheinander verschiedene Emotionen auslösen. 53 Quest-Ritson, The English Garden, S. 136 ff. 54 Den Ursprung der original writs schildert Baker, An Introduction to English Legal History, S. 53 ff. Zum Statute of Westminster II (1285), das dem Chancellor die Gewährung neuer writs nach dem Grunsatz „in consimili casu cadente sub eodem jure et simili indigente remedio“ erlaubte, siehe Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 51 f. 51

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Kapitel 3: Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität

die in einer Reihe ähnlicher, gleich entschiedener Fälle ein gewichtiges Argument für eine entsprechende Folgeentscheidung sah, entwickelte sich ebenfalls schon im 17. Jahrhundert.55 Die starre Bindung an einzelne Urteile setzte sich dagegen erst im 19. Jahrhundert durch,56 in dem die Engländer doch eigentlich so improvisationsfreudig gewesen sein sollen. Letztlich werfen derartige Inkongruenzen zwischen der Mentalität und dem Rechtsdenken eines Volkes die allgemeinere Frage auf, inwieweit sich das Recht gegenüber anderen Kulturerscheinungen autonom verhält. Unverkennbar ist Recht selbst ein kulturelles Phänomen, das in Austauschbeziehungen mit anderen Elementen einer Kultur steht. Es übernimmt nicht nur Annahmen und Sinndeutungen aus der übrigen Kultur, sondern konstruiert auch eigenständig Kategorien und Bewertungen, die in außerrechtlichen Zusammenhängen bedeutsam werden können.57 Dennoch geht es – zumindest im Hinblick auf die beiden okzidentalen Rechtstraditionen – zu weit, diese Verbindung als „untrennbar miteinander verflochten“58 oder „tief eingebettet“59 zu beschreiben. Um seine besonderen gesellschaftlichen Funktionen zu erfüllen, generiert das Recht nämlich eigene Verfahren und Maßstäbe.60 Ein wichtiger Motor dieser intrakulturellen Differenzierung ist die Herausbildung eines Standes von Fachjuristen mit eigener Ausbildung und Sprache, eigenen Denk- und Verhaltenskonventionen.61 Ebenso trägt die institutionelle Verfestigung der Rechtsadministration dazu bei, dass der Austausch mit anderen Wissensgebieten abbricht: Normen, die festlegen, welche Aufgaben ein Gericht zu erfüllen hat, oder die vorschreiben, wie ein Prozess zu führen ist, schränken die Argumentationsspielräume, ja die Denkmöglichkeiten der Beteiligten erheblich ein. Sowohl im common law als auch im civil law hat sich diese Spezialisierung und teilweise Abschottung bereits im Hochmittelalter vollzogen.62 In Berman, Law and Revolution, II, S. 274 f. Vogenauer, Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, S. 64 ff. 57 Die Auffassung vom Recht als einer auf lokalem Wissen basierenden Weltdeutung stammt von Geertz, Local Knowledge: Fact and Law in Comparative Perspective, S. 215 ff., sowie Rosen, Law as Culture, S. 11 f. Vgl. auch dens., The Anthropology of Justice, S. 5. 58 Rosen, Law as Culture, S. 7 („inextricably entwined“). 59 Rosen, Law as Culture, S. xxi („deeply embedded“). Ähnlich Legrand, Comparative Legal Studies and the Matter of Authenticity, S. 379 („law as a culturally-embedded discourse“). 60 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 61 f., spricht von einer „funktionale[n] Spezifikation“, die zur „Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Rechtssystems“ führt. 61 Dieser Gedanke findet sich bereits bei Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, S. 67, der seine Volksgeistlehre dahingehend abschwächte, dass auf einer höheren Kulturstufe die Pflege des Rechts dem sich allmählich herausbildenden Juristenstand zufalle. 62 Berman, Recht und Revolution, S. 24 f. und 195. 55 56

3. Die Mentalität der Juristen

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England weitete zuerst die königliche Verwaltung ihre Kontrolltätigkeit gegenüber örtlichen Gerichten erheblich aus;63 wenig später begannen Richter und Anwälte, in den Inns of Court ihre Nachfolger selbständig auszubilden.64 Auf dem Kontinent wurden kirchliche und weltliche Gerichtshöfe eingerichtet; die beiden Rechte studierte man nach einem strengen Plan an den neu gegründeten Universitäten.65 Fortan variierte der Einfluss weiterer kultureller Sphären von einem Rechtsgebiet zum anderen, und Abschnitte eigenständiger Entwicklung wechselten mit Phasen intensiver Rezeption ab.66 Was die juristische Methode anbelangt, so lässt sich für das ältere gemeine Recht eine starke Affinität zur scholastischen Philosophie, zur Medizin67 und zur Mathematik nachweisen. Umgekehrt bildete sich die außerordentliche Wertschätzung der Engländer für Tatsachen und Tatsachenbeweise offenbar zuerst im Recht heraus und fand von dort aus Eingang in andere Wissensbereiche wie die Geschichtsschreibung oder die Naturwissenschaften.68 Deshalb erscheint es angezeigt, der These von der Präformierung des juristischen Denkstils in der Nationalkultur mit Skepsis zu begegnen und stattdessen von einer relativen Autonomie auch des englischen Rechts auszugehen.

3. Die Mentalität der Juristen 3. Die Mentalität der Juristen

Damit ist jedoch keineswegs der Verdacht ausgeräumt, die offensichtliche Geringschätzung dogmatischen Denkens könnte einer grundsätzlichen Abneigung englischer Juristen gegenüber Verallgemeinerungen und Einteilungen entspringen – im Gegenteil. Solche Idiosynkrasien können selbstverständlich nicht nur einem ganzen Volk eigentümlich sein, sondern gleichermaßen den Angehörigen einer bestimmten Generation, sozialen Schicht oder Religionsgemeinschaft. Ebenso kann eine Berufsgruppe eine spezifische Mentalität ausprägen, die von den Einstellungen und Leitbildern anderer Professionen erheblich abweicht.69 Wenn Menschen die gleiche berufliche Tätigkeit ausüben, dadurch in beständigem gesellschaftlichen Kontakt miteinander stehen und womöglich von anderen sozialen Gruppen isoliert sind, Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 20 f. Baker, An Introduction to English Legal History, S. 159 ff. 65 Anschaulich dazu Berman, Recht und Revolution, S. 199 ff. Gerade das römischkanonische Recht wuchs dabei zu einem europäischen, von den Eigenheiten einer bestimmten Landeskultur unabhängigen Phänomen heran. 66 Vgl. dazu G. Teubner, Legal Irritants, demzufolge das moderne Recht nicht mehr vollständig in die Gesellschaft als Ganze eingebettet ist, sondern nur noch selektiv Verbindungen zu einzelnen Fragmenten der Gesellschaft ausbildet. 67 Eingehend dazu Herberger, Dogmatik. 68 Shapiro, The Concept “Fact”: Legal Origins and Cultural Diffusion. 69 Dinzelbacher, Zur Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXIV. 63 64

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entwickeln diese auf Dauer ähnliche Perspektiven und Überzeugungen.70 Wiederkehrende Arbeitsabläufe verdichten sich zu Handlungsmustern, übereinstimmende moralische Überzeugungen verfestigen sich zu einem Ethos und gemeinsame Erlebnisse wachsen sich zu identitätsstiftenden Traditionen aus.71 Die jüngeren Mitglieder erlernen die Fähigkeiten und Sinnzuschreibungen ihrer Profession von den Älteren durch Nachahmung; allmählich tut sich auch ihnen der kollektive Verständigungshorizont auf.72 Diese Sozialisation verleitet dazu, eingeschliffene Tätigkeiten oder gängige Bewertungen nicht mehr in Frage zu stellen; man tut die Dinge eben in einer bestimmten Weise, ohne darauf noch Gedanken zu verwenden.73 Mentalitäten lassen sich daher beschreiben als „kulturelle[…] Selbstverständlichkeiten“,74 die im kollektiven Unterbewusstsein gespeichert sind. Sie setzen aber auch der Durchführbarkeit von Handlungen Grenzen und vermitteln nicht zuletzt Erwartungen, von denen ein erheblicher Konformitätsdruck ausgehen kann.75 Die deutsche Rechtsmentalität beispielsweise ist hauptsächlich das Resultat einer déformation professionelle. Während seiner Ausbildung gehen dem künftigen „Einheitsjuristen“ nicht nur (für einen Außenstehenden ganz und gar nicht selbstverständliche) Verfahrensweisen wie der Gutachtenstil oder die Relationstechnik in Fleisch und Blut über. Er hält es bald ebenso für ausgeschlossen, dass ein Urteil anders abgefasst sein könne als in einer unpersönlichen, apodiktischen Amtssprache, die den Anschein strikten Gesetzesgehorsams vermittelt,76 oder andere Ausführungen enthalten dürfe als jene Gründe, auf denen die Entscheidung beruht. Auch wird er bei der Verfertigung eines Gutachtens nichts Anstößiges daran finden, für eine juristische Kontroverse, in der beide Seiten gleich gute Argumente für sich beanspruchen können, eine „Lösung“ zu präsentieren, die dank eines geschickten rheLegrand, Antivonbar, S. 17; ders., Comparative Legal Studies and the Matter of Authenticity, S. 386. 71 Vgl. die genetische Definition der Mentalität bei Legrand, Comparative Legal Studies and the Matter of Authenticity, S. 376 („[…] a mentalité – which suggests an array of predispositions, predilections, propensities, or inclinations – is the outcome of a process of transformation of often unconscious aspirations or expectations according to the concrete indices of what is probable, possible, or impossible for an identifiable community into relatively durable tendencies that are internalised intergenerationally through socialisation and that crystallise into patterns of action“). 72 Vgl. Legrand, Comparative Legal Studies and the Matter of Authenticity, S. 375 ff. 73 Dedek, Die Schönheit der Vernunft – (Ir-)Rationalität von Rechtswissenschaft in Mittelalter und Moderne, S. 68. Helge Dedek bedient sich hier der von Erwin Panofsky erdachten und von Pierre Bourdieu weiterentwickelten Theorie des mentalen Habitus’, um die andersartige Rationalität der scholastischen Jurisprudenz besser verstehen zu können. 74 Lepenies, Von der Geschichte zur Politik der Mentalitäten, S. 677. 75 Vgl. Lepenies, ebd., der Mentalitäten als „Handlungsspielräume“ bezeichnet. Vgl. auch Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 561. 76 Kötz, Über den Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, S. 257 und 262. 70

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torischen Arrangements zwingend erscheint. Und genauso wie er Rechtssätze, die er anzuwenden hat, in umfangreiche Prüfungsschemata zerlegt, so empfindet er auch das Bedürfnis, seine Bücher und Aufsätze durch strenge Kleinteilung zu gliedern. Für sein Rechtsverständnis konstitutiv ist die Vorstellung, die unzähligen Gesetzesnormen bildeten ein sinnvoll geordnetes Ganzes.77 Vom Gesetzgeber wird erwartet, dass er gleichartige Vorkommnisse gleich behandelt und sich bei Neuregelungen sooft wie möglich bereits eingeführter Rechtsbegriffe bedient. Während des mehrjährigen Studiums verinnerlicht der junge deutsche Jurist auch grundlegende normative Vorstellungen, die alsbald nicht mehr in Frage gestellt werden: Dazu gehören beispielsweise der Grundsatz der Privatautonomie, das Abstraktionsprinzip oder das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Ohnehin lässt sich unter seinen Kollegen eine gewisse Tendenz feststellen, die bestehende Rechtslage kritiklos als gegeben hinzunehmen. Des Öfteren ist sogar behauptet worden, die gruppenspezifischen Einstellungen deutscher Juristen umfassten auch Charaktereigenschaften wie Konservativität, Genauigkeit oder Bedenkenträgerei.78 „Rechtsmentalität“ bezeichnet die Gesamtheit grundlegender Denkweisen und Denkinhalte, welche die Juristen eines Landes aufgrund ihrer gemeinsamen Ausbildung internalisiert haben, die nicht oder nur selten hinterfragt werden und die ihnen daher oft unbewusst sind.79 Es handelt sich um einen Komplex aus selbstverständlichem Wissen, unausgesprochenen Werten und unreflektierten Methoden, der in sich widersprüchlich sein kann, weil stets nur einzelne seiner Elemente wirksam und dadurch überhaupt wahrnehmbar werden.80 Mentalitäten lassen sich oft nur indirekt erschließen, etwa durch Gesinnungen oder Vorurteile, die situationsbedingt zu Tage treten. So kann die juristische Mentalität dafür verantwortlich sein, dass ein Rechtszustand als völlig natürlich und alternativlos hingenommen wird, Reformvorhaben kein Gehör finden oder auf schärfsten Widerstand stoßen, ja dass selbst schlagkräftige Argumente an einer Mauer des irrationalen Nichteinsehenwollens zerschellen. Nicht von ungefähr sprach einer der Begründer der Mentalitätsgeschichte, Fernand Braudel, von einer langen Gefängnishaft in einem kollektiven Bewusstsein, aus der sich der individuelle Geist nur schwer beVgl. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, S. 2 und 23. Siehe beispielsweise Wassermann, Erziehung zum Establishment?, S. 38 f. 79 Diese Begriffsbestimmung orientiert sich an der Definition der Mentalität bei Dinzelbacher, Zur Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXI („[…] das Ensemble von Weisen und Inhalten des Denkens und Empfindens, das für ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist“). 80 So hebt auch Legrand, Comparative Legal Studies and the Matter of Authenticity, S. 379, den impliziten oder stillen Charakter der Kultur beziehungsweise der Mentalität hervor. Dass Mentalitäten keine konsistenten Systeme sind, beziehungsweise ältere und jüngere Komponenten in sich vereinen können, wird bei Dinzelbacher, Zur Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXII und XXXI, deutlich. 77 78

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Kapitel 3: Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität

freien könne.81 Dieser Zweig der Geschichtswissenschaft, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankreich herausgebildet hat, unterlegt die rasch aufeinanderfolgenden Ereignisse der politischen Historie mit einer tiefer liegenden Schicht geistiger Strukturen, die in der Gesellschaft präsent sind und sich nur langsam verändern.82 Gleichwohl können bedeutende Ereignisse auch Mentalitätsbrüche auslösen:83 So führt eine neue Kodifikation oder der Wechsel des politischen Regimes manchmal zu einem plötzlichen Wandel der juristischen Mentalität. Die andere Mentalität der ausländischen Juristen könnte dem Rechtsvergleicher daher einen wichtigen Schlüssel liefern zu einem tieferen Verständnis des fremden Rechts:84 Das Festhalten an einer merkwürdigen Rechtsauffassung mag plausibel werden, wenn sich belegen lässt, dass darin eine unter den Rechtshonoratioren weit verbreitete Haltung zum Ausdruck kommt; ein zunächst unbegreifliches methodisches Vorgehen wird möglicherweise nachvollziehbar, wenn sich die dahinterstehenden, dem einheimischen Juristen völlig selbstverständlichen Überzeugungen ermitteln lassen. Wer ein Verhalten mit Hilfe kollektiver Einstellungen deuten möchte, gerät indes rasch in folgende Aporie: Eine Mentalität ist zwar eine Disposition, die sich aus einem konkreten Anlass erneuert und sich dabei möglicherweise in Handlungen manifestiert.85 Umgekehrt lässt sich der Inhalt dieser Disposition aber oftmals nur aus ebendiesem Handeln ermitteln, weil die Akteure ihre Annahmen im Regelfall nicht kundtun. Da ein Verhalten jedoch auf verschiedene Motive zurückgehen kann, hat es oft etwas Spekulatives an sich, dieses mit einer ganz bestimmten mentalen Haltung zu korrelieren.86 Sofern ausnahmsweise Selbstzeugnisse wie zum Beispiel methodologische Schriften vorliegen, ist zu beachten, dass die darin geäußerten Richtigkeitsüberzeugun-

Braudel, Histoire et sciences sociales, S. 731 („prisons de longue durée“). Vgl. Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 587. 83 Lepenies, Von der Geschichte zur Politik der Mentalitäten, S. 685; Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 589. 84 Im Hinblick auf das Ziel, die Fähigkeit zu transkulturellem und transhistorischem Verstehen zu stärken, stimmen Rechtsvergleichung, Kulturanthropologie und Mentalitätsgeschichte überein. Zu den Absichten der beiden letztgenannten Disziplinen siehe Geertz, Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight, S. 448 ff., sowie Lepenies, Von der Geschichte zur Politik der Mentalitäten, S. 688. 85 Nach Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 588 ff., sind Mentalitäten nicht die alleinigen Handlungsursachen, sondern liefern als kollektive Deutungsmuster nur eine von mehreren Bedingungen dafür, dass unter den gegebenen Umständen ein bestimmtes Verhalten zu Tage tritt. Vgl. auch Dinzelbacher, Zur Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXI, demzufolge Mentalitäten eine Hilfestellung geben, wie man sich in einer konkreten Situation verhalten soll. 86 Dieses Hindernis auf der Suche nach einer Mentalität veranschaulicht Dinzelbacher, Zur Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XIX ff. 81 82

4. Die englische Rechtsmentalität – eine Skizze

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gen nicht unbedingt die gängige Praxis widerspiegeln müssen,87 weil diese Texte möglicherweise die wahren Beweggründe gerade verschleiern oder weil die darin vermittelten Auffassungen schlichtweg nicht Allgemeingut sind. Die Geschichte der Mentalitäten hat an dieser Stelle zwei einander völlig entgegengesetzte Auswege gefunden. Einerseits wertete sie eine ungeheure Zahl an Quellen aus, um ihre Deutungen statistisch abzusichern, andererseits zog sie den Kreis der Individuen, deren Geisteshaltung sie auf eine seriöse Weise in Erfahrung bringen wollte, möglichst eng.88 Übertragen auf die Rechtsvergleichung hieße dies, entweder juristische Äußerungen in ihrer gesamten Breite planmäßig zu studieren und sich auf diese Weise der für die Rechtsordnung charakteristischen Mentalität anzunähern, oder sich von vornherein auf eine kleine Gruppe von Juristen zu beschränken und diese akribisch zu beobachten. Die letztgenannte Vorgehensweise bietet sich an, wenn es an einer einheitsstiftenden Juristenausbildung fehlt und deshalb spezifische Einstellungen einzelner Professionen zu erwarten sind. Den einzelnen, in seiner Aufnahmefähigkeit beschränkten Rechtsvergleicher wird der davon abweichende, aber am wenigsten beschwerliche Weg, aus einer Vielzahl eher gelegentlicher Beobachtungen eine Synthese zu wagen, nicht zu einem sicheren quantitativen Urteil führen. Wohl aber wird er zu brauchbaren Hypothesen über die juristische Mentalität gelangen, mit denen er – unter sorgfältiger Beachtung gegenläufiger Tendenzen und gradueller Änderungen – die Eigenheiten des fremden Rechtsdenkens besser verstehen kann.

4. Die englische Rechtsmentalität – eine Skizze 4. Die englische Rechtsmentalität – eine Skizze

Welche rechtstheoretischen und methodischen Überzeugungen könnten englische Juristen so sehr verinnerlicht haben, dass sie nicht mehr hinterfragt werden? Es scheint, als würden sich im englischen Rechtsdenken zwei Mentalitätsschichten überlagern: Eine ältere juristische Mentalität, die seit dem 16. Jahrhundert feststellbar ist, und eine jüngere Rechtsmentalität, die sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat. Die jüngere Schicht überlagert die andere nicht vollständig, weshalb manche der älteren Einstellungen auch heute noch gelegentlich anzutreffen sind, wenngleich in abgeschwächter Form.89 Herberger, Zum Methodenproblem der Methodengeschichte, S. 211. Lepenies, Von der Geschichte zur Politik der Mentalitäten, S. 679; Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 590 ff. 89 Das hier vorgestellte Schichtenmodell stimmt in gewisser Weise mit den Forschungen Stefan Vogenauers zur Entwicklung der Gesetzesinterpretation und der Präjudizienbindung überein; siehe insbesondere Vogenauer, Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, S. 51 f. und 69. Vgl. zum Folgenden auch Baker, The Oxford History of the Laws of England. Volume VI, S. 18 ff.; dens., An Introduction to English Legal History, 87 88

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Kapitel 3: Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität

In der Frühen Neuzeit gingen englische Juristen wie selbstverständlich davon aus, dass ihr Recht schon sehr lange existiert und seit seiner Entstehung im Wesentlichen unverändert geblieben ist. Das common law galt als ungeschriebenes Gewohnheitsrecht, das im Laufe vieler Generationen immer weiter perfektioniert oder, um genau zu sein, immer besser verstanden wurde. Es setzte sich aus einer Vielzahl von Einzelfallentscheidungen und Gesetzen zusammen – ein intellektueller Fundus, der von den Juristen immer wieder aufs Neue gesichtet werden musste. Die Auffassungen der Richter waren nicht bindend, lieferten aber Anhaltspunkte dafür, was geltendes Recht ist. Die Juristen selbst glaubten nicht, neues Recht zu schaffen. Sie waren davon überzeugt, lediglich Einsichten vergangener Zeitalter auf neue Umstände zu übertragen. Doch juristische Erkenntnisse ließen sich nicht einfach als Regeln und Prinzipien formulieren. Der Urteilsfindung musste eine Schau des Rechts in seiner Gesamtheit vorausgehen. Dementsprechend konnte Richter nur werden, wer sich in langjähriger praktischer Tätigkeit ein detailliertes rechtliches Wissen angeeignet hatte. Ein Jurist hatte in der Prozessführung beschlagen zu sein: Er musste sich darauf verstehen, ein passendes Klageformular auszuwählen und Erfolg versprechende Anträge zu stellen; dieses Wissen wurde durch die Kenntnis fallbezogener Interpretationen wichtiger Gesetze ergänzt. Die Fixierung auf gerichtliche Rechtsbehelfe hatte zur Folge, dass nur schwerlich subjektive Rechte vorstellbar waren, die außerhalb eines Gerichtsverfahrens existieren. Von einem Prozess unabhängige Berechtigungen gab es hauptsächlich an Grund und Boden – wobei für die englischen Juristen ebenso selbstverständlich war, dass diese in vielfältiger Weise aufgespalten und gesondert übertragen werden konnten. Seit dem 19. Jahrhundert wird das englische Rechtsdenken von positivistischen Vorstellungen dominiert.90 Neues Recht darf nur vom Parlament geschaffen werden; der Judikative fehlt zur Rechtssetzung die Kompetenz. Zudem sollen gerichtliche Entscheidungen für die Rechtssuchenden vorhersehbar sein. Deshalb hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Richter an frühere Urteile gebunden sind, und zwar sogar dann, wenn diese in Nachhinein als ungerecht erscheinen. Präjudizien gewissenhaft befolgen kann jedoch nur, wer die den Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte genauestens studiert hat. Die schon früher fühlbare Skepsis gegenüber weitreichenden Formulierungen von Regeln und Prinzipien wird durch die nun einsetzende Sachverhaltsobsession noch verstärkt. Entsprechend kasuistisch S. 195 f.; Kötz, Über den Stil höchstrichterlicher Entscheidungen, S. 252 ff.; Lobban, Legal Theory and Judge-Made Law in England. 1850–1920, S. 564 ff.; Legrand, Brèves épistémologiques sur le droit anglais tel qu’en lui-même, S. 24 ff. 90 Die jüngere englische Rechtsmentalität trat zuletzt in der sogenannten „taxonomy debate“ besonders deutlich hervor. Näheres hierzu unten, S. 236 ff.

4. Die englische Rechtsmentalität – eine Skizze

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ist der Stil der Gesetzgebung. Kaum in Zweifel gezogen wird zudem, dass die Gerichte sich nicht über den Buchstaben des Gesetzes hinwegsetzen dürfen. Universitätsjuristen ist es erst recht nicht gestattet, den gegenwärtigen Zustand des Rechts zu verbessern. Sie müssen sich jeglicher normativer Äußerungen enthalten. Groß angelegte Systementwürfe, die das Verständnis der vielfältigen richterlichen Stellungnahmen erleichtern könnten, bleiben ihnen verwehrt. Davon einmal abgesehen scheint es vielen Rechtslehrern kein sonderlich aussichtsreiches Unterfangen zu sein, das vorgefundene Präjudiziengeflecht zu entwirren. Diese Haltung schlägt sich auch in der akademischen Darstellung des Rechts nieder: Es herrscht ein essayistischer Duktus vor; kleinteilige Untergliederungen finden sich selten. Begriffliche Unterscheidungen sind offenbar nicht so wichtig, dass sie in der Struktur des Textes sichtbar werden müssten. Abstrakte Rechtsfragen zu beantworten ist nach allgemeiner Auffassung nicht Aufgabe der Gerichte. Richter sollen vielmehr Konfliktlösungen erarbeiten, die der konkreten Lage der Parteien angemessen sind. Diese Fixierung auf Einzelfallgerechtigkeit – die nicht als Widerspruch zu dem Streben nach Rechtssicherheit empfunden wird – hat zur Folge, dass jedes Detail des zu beurteilenden Sachverhalts relevant ist. Auch wenn die Präjudizienbindung unhinterfragt bleibt, so wird doch nicht übersehen, dass kein Fall dem anderen gleicht. Richter sind deshalb der Meinung, dass sie sich bei ihren Entscheidungen zusätzlich auf Prinzipien stützen dürfen. Diese Prinzipien können dem Fallrecht entnommen werden und dienen zugleich dessen Interpretation. Ein Bündel von Präjudizien birgt zwar eine Regel in sich; die Einzelfälle liefern aber nicht nur beispielhafte Anwendungen für die Regel, sondern sie begrenzen zugleich deren Anwendungsbereich. Deshalb fällt es so schwer, eine Rechtsnorm kurz und bündig zu fassen. Auch aus diesem Grund stehen englische Juristen der Idee einer Kodifikation des Privatrechts ablehnend gegenüber. Richter geben sogar unumwunden zu, dass sie ein Rechtsgebiet unübersichtlich finden und sie sich in einer Rechtsfrage unsicher sind. Wenn sie unter solchen Umständen auf ihre eigenen ethischen oder politischen Wertmaßstäbe zurückgreifen, geben sie sich nur wenig Mühe, dies zu verschleiern. Im Gegenteil wird von einem Richter ein gewisses Maß an Originalität in der Begründung erwartet. Zur englischen Rechtsmentalität gehören schließlich auch einige grundlegende Überzeugungen in Bezug auf das geltende Recht: Das common law soll nach Auffassung seiner Protagonisten die freie Entfaltung des Einzelnen fördern und diese keinesfalls behindern. Deshalb ist es selbstverständlich, dass derjenige, der sich ungefragt in die Angelegenheiten eines anderen einmischt, keinen Ersatz für seine Aufwendungen erwarten darf. Umgekehrt soll niemand für das bloße Unterlassen einer Handlung zur Rechenschaft gezogen werden. Eine weitere Folge der individualistischen Haltung englischer Juristen besteht darin, dass ein Einzelner, der sein Recht zum Nachteil der Allge-

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Kapitel 3: Auf der Suche nach der englischen Rechtsmentalität

meinheit ausübt, keinen Missbrauchsbeschränkungen unterworfen ist. Eine gewillkürte Vermögensbindung über den Tod hinaus, ja sogar über viele Generationen hinweg, wird ebenso fraglos hingenommen. Der englische Jurist kann sich allerdings nur schwerlich einen Erbgang vorstellen, bei dem der Nachlass nicht zunächst auf einen privaten Verwalter übergeht, der für die Begleichung der Schulden des Erblassers sorgt, bevor er die verbleibenden Vermögensgegenstände an die Erben überträgt.

Kapitel 4

Institutionelle Hindernisse für die Verbreitung dogmatischen Denkens Kapitel 4: Institutionelle Hindernisse

Wenn der Spielraum an Denkmöglichkeiten, den eine Gemeinschaft ihren Mitgliedern eröffnet, durch Mentalitäten ausgefüllt wird, so markieren die Institutionen und Verfahrensweisen dieser Gemeinschaft dessen Begrenzungen: Die vorgeschriebene juristische Ausbildung und die sich beständig wiederholenden Abläufe des Rechtsbetriebs erzeugen kollektive Vorstellungen und sanktionieren individuelle Überzeugungen; die Akteure, die das Rechtsgeschehen beherrschen, legen verbindlich fest, was geltendes Recht ist und welche Operationen mit Rechtssätzen zulässig sind. Wenn dogmatisches Denken in England nur eine geringe Relevanz erlangen konnte, so sind die Ursachen hierfür auch in den Gegebenheiten des Rechtssystems zu suchen. Anders gewendet muss nach den Betrachtungen der Ideengeschichte und des Wandels der juristischen Mentalitäten eine noch tiefere Schicht freigelegt werden, die von den Protagonisten der Rechtsordnung, der Eigenstruktur des Rechtsstoffs und der Organisation der Rechtsfindung zeugt. Gewöhnlich hat man sich mit der naheliegenden und keineswegs unplausiblen Erklärung begnügt, derzufolge das englische Recht nicht das Werk gelehrter Juristen, sondern eines praktisch geschulten Richterstandes ist.1 Das common law gründe sich nicht auf einen autoritativen Text wie das Corpus Iuris oder die modernen kontinentaleuropäischen Kodifikationen, sondern bestehe aus zahlreichen Entscheidungen einzelner Fälle.2 Der daraus resultierenden Uneinheitlichkeit des Rechts versuche man aber nicht durch Systematisierung, sondern mit einer strengen Präjudizienbindung zu begegnen.3 Als Gründe für die Widerständigkeit des englischen Rechts gegenüber Ordnungsbestrebungen werden gelegentlich auch sein planloses Wachstum und die Ausrichtung an prozessualen Kategorien genannt.4 So schon M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 476 ff. Vgl. auch van Caenegem, Judges, Legislators and Professors, S. 67. 2 Lawson, A Common Lawyer looks at the Civil Law, S. 63 ff. 3 Vgl. zu dieser These Jansen, Rechtsdogmatik im Zivilrecht. 4 Siehe etwa Weir, The Common Law System, 2-83 (S. 77); Zajtay, Begriff, System und Präjudiz in den kontinentalen Rechten und im Common Law, S. 109; Schmitthoff, Der Zivilprozess als Schlüssel zum englischen Rechtsdenken; Samuel, System und Systemdenken, S. 383 ff. 1

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Kapitel 4: Institutionelle Hindernisse

Erwägungen wie diese sind erstmals zu Beginn der Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts von Fritz Pringsheim in einem vielschichtigen Vergleich zwischen römischem und englischen Recht miteinander verknüpft worden. Römer und Engländer waren, so schien seine Gegenüberstellung zu belegen, zu den gleichen methodischen Überzeugungen gelangt, weil die äußeren Bedingungen der Rechtsentwicklung in beiden Nationen einander ähnelten. In der Komparatistik der Gegenwart werden die angeblichen strukturellen Gemeinsamkeiten beider Rechte und die sich daraus ergebenden Übereinstimmungen im Rechtsdenken kaum mehr in Zweifel gezogen. Angesichts der begrifflich-systematischen Schwächen des englischen Rechts findet sich entsprechend häufig die Bemerkung, ebenso wie ihre römischen Vorläufer vermieden englische Juristen derartige Festlegungen. Wenn die nachfolgende Analyse institutioneller Faktoren als ihren Ausgangspunkt diesen tradierten Vergleich wählt, so geschieht dies keineswegs allein in der Absicht, dessen Unzulänglichkeiten herauszustreichen. Ebenso sollen – neben der schon von Pringsheim angeführten schwachen Stellung der Rechtswissenschaft und dem Aktionensystem – weitere Faktoren wie der Mangel an Rechtsnormen und der hypertrophe Gebrauch von Fiktionen angeführt werden, die der Ausbreitung dogmatischen Denkens in England entgegengewirkt haben.

1. Die angebliche Verwandtschaft zwischen englischem und römischem Recht 1. Die angebliche Verwandtschaft zwischen englischem und römischem Recht

Im Oktober 1933 hielt Fritz Pringsheim in Cambridge einen Vortrag über die „innere Verwandtschaft zwischen englischem und römischem Recht“.5 Zu diesem Zeitpunkt hatte der stets würdevoll auftretende Gelehrte seinen Lehrstuhl für antike Rechtsgeschichte in Freiburg noch nicht räumen müssen; obwohl er der jüdischen Geistesaristokratie entstammte – sein Vater war ein wohlhabender Rittergutsbesitzer in Schlesien und seine Nichte Katia hatte Thomas Mann geheiratet – wurde Pringsheim erst im Jahre 1935 seines Amtes enthoben, weil er im Ersten Weltkrieg an der Westfront gekämpft hatte und ihm dafür das Eiserne Kreuz verliehen worden war. Mit seiner Emigration nach Oxford kurz vor Ausbruch des Krieges entzog er sich weiterem Unheil. 6 Sowohl die Wahl seines Themas als auch die späteren Bemühungen um eine Anstellung in England hingen mit Pringsheims tiefer Bewunderung für den Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law. Auskunft über Pringsheims Erscheinung, Leben und Werk geben seine Schüler Honoré, Fritz Pringsheim (1882–1967), und Wieacker, Fritz Pringsheim zum Gedächtnis. Zu Pringsheims Biographie siehe auch Breunung / Walther, Die Emigration deutschsprachiger Rechtswissenschaftler ab 1933. Band 1, S. 406 ff. 5 6

1. Die angebliche Verwandtschaft zwischen englischem und römischem Recht

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englischen Lebensstil zusammen.7 Trotz oder gerade wegen seiner nationalkonservativen Gesinnung fühlte er sich von den englischen Tugenden der Sachlichkeit und der Selbstbeherrschung angezogen, die nach seiner Auffassung für den Aufstieg des britischen Empire unerlässlich gewesen waren. Ebendieser „harte Wirklichkeitssinn“8 hatte schon die Römer zum Aufbau eines mächtigen Staates befähigt und ihnen zur Weltherrschaft verholfen. Auch bei der Gestaltung ihrer Rechtsordnung hatten beide Völker Besonnenheit unter Beweis gestellt, und so ergaben sich aus der Ähnlichkeit des römischen und des englischen Nationalcharakters verblüffende, weil bis ins Detail gehende, Übereinstimmungen beider Rechte.9 Zunächst nahm der Romanist den Vortrag jedoch zum Anlass, auf sein Lieblingsthema zurückzukommen: die Überlegenheit des klassischen römischen Rechts gegenüber dem spätantiken, „byzantinischen“ Recht und die Verfremdung des römischen Geistes durch die hellenistisch-orientalische Gedankenwelt.10 Unverfälscht zeigte sich die am tatsächlich Möglichen orientierte und aller theoretischen Spekulation abgeneigte Ethik der Römer nämlich nur im klassischen Recht, also etwa zur Zeit des Prinzipats (27 v. Chr.– 284 n. Chr.). Damals nahm die Jurisprudenz noch eine Mittelstellung zwischen Praxis und Wissenschaft ein. Insbesondere vor allgemeinen Begriffen und Regeln hütete sie sich, um den einzelnen Fall weiterhin sachgemäß entscheiden zu können.11 Das justinianische Recht (6. Jh. n. Chr.) wies dagegen bereits scholastische Züge auf, die sich in pedantischen Begriffsbestimmungen, hochfliegenden Abstraktionen und auf Symmetrie bedachten Einteilungen offenbarten.12 Zu Beginn seiner Laufbahn hatte Pringsheim bereits in allen Einzelheiten nachgewiesen, wie die Arbeitsweise der oströmischen Rechtsschulen in den Digesten konserviert und Jahrhunderte später von den Honoré, Fritz Pringsheim (1882–1967), S. 217 f. Pringsheim, Jus aequum und jus strictum, S. 153. 9 Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 348 f. 10 Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 350. Wenngleich Pringsheim der Schule von Ludwig Mitteis entstammte, der mit der Aufarbeitung neu entdeckter Papyri die Romanistik um das Studium der hellenistisch-orientalischen Volksrechte bereichert hatte, und obschon er selbst später eine Monographie über das griechische Kaufrecht veröffentlichte (Pringsheim, The Greek Law of Sale), hielt er das Recht der außerrömischen Welt für minderwertig. Die nachklassischen Entwicklungen, und hier besonders die Aufnahme der griechischen Philosophie, deutete er ausnahmslos als Verfallserscheinungen. Pringsheims Schaffen fällt in die Blütezeit der Textkritik, die in den Digesten mannigfache Interpolationen der klassischen Juristenschriften aufzuspüren glaubte. Eine prägnante Charakteristik dieser Wissenschaftsepoche findet sich bei Wieacker, Fritz Pringsheim zum Gedächtnis, S. 610; insbesondere zu Mitteis siehe auch Zimmermann, In der Schule von Ludwig Mitteis. Ernst Rabels rechtshistorische Ursprünge, S. 13 ff. 11 Pringsheim, Höhe und Ende der römischen Jurisprudenz, S. 54. 12 Pringsheim, Beryt und Bologna, S. 393, 402 ff., 419 ff. und 430 ff. 7 8

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Kapitel 4: Institutionelle Hindernisse

Glossatoren zu neuem Leben erweckt worden war; demnach lagen die wahren Ursprünge der modernen Rechtswissenschaft in der justinianischen Kompilation.13 Die Vorstellung von einer „inneren Verwandtschaft“, einer Affinität also, die auf gleichartigen Mentalitäten beruht, führte ihn nunmehr zu einem doppelten Antagonismus: Klassisches römisches und englisches Recht standen „byzantinischem“ und kontinentaleuropäischem Recht gegenüber.14 Die paradoxe Ähnlichkeit des common law mit der Urform aller civil lawSysteme belegte Pringsheim durch Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die soziale Stellung und Ausbildung der tonangebenden juristischen Akteure, anhand von Parallelen in der Struktur der Rechtsquellen und der Ausgestaltung des Prozesses sowie mithilfe von Übereinstimmungen in der juristischen Methode.15 Seine Argumentation geht ersichtlich von der Prämisse aus, unter gleichen institutionellen Rahmenbedingungen entfalte sich auch ein ähnliches Rechtsdenken: Die Dominanz praktisch tätiger, also mit der Entscheidung von Fällen beschäftigter Juristen habe in beiden Kulturen eine gewisse Liebe zum Detail geweckt und wirklichkeitsfremdes Dogmatisieren verhindert. Diese Kausalverknüpfung entnahm Fritz Pringsheim der Soziologie Max Webers.16 Für seine später berühmt gewordene Rechtshonoratioren-These hatte dieser nämlich zwei Idealtypen der juristischen Ausbildung entworfen, mit denen unterschiedliche Denkweisen korrespondierten: zum einen die „empirische Lehre des Rechts durch Praktiker“17, die eine „an Präjudizien und Analogien gebundene Behandlung des Rechts“18 hervorbrachte, und zum anderen die „theoretische Lehre des Rechts in besonderen Rechtsschulen und in Gestalt rational systematischer Bearbeitung“.19 In der englischen Tradition der Anwaltsausbildung sah Weber seinen ersten Typus nahezu in Reinform verwirklicht.20 Demgegenüber hätten die römischen Rechtsgelehrten in größerer Distanz zum Prozessgeschehen gestanden, was diesen zunehmend ermöglicht habe, aus den einzelnen Klageformeln abstrakte Begriffe und Prinzipien zu synthetisieren.21

Pringsheim, ebd. Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 350. 15 Daneben führte er auch einige materiellrechtliche Berührungspunkte an; siehe dazu Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 359 ff. 16 Nach eigener Auskunft hat Pringsheim die entscheidenden Passagen aus Webers Spätwerk bereits 1921 oder 1922 gelesen (Pringsheim, Beryt und Bologna, S. 393 Fn. 4). Weitere Belege einer intensiven Auseinandersetzung mit Weber finden sich bei Dilcher, Franz Wieacker als „Germanist“, S. 249 Fn. 88. 17 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 476. 18 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 480. 19 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 476. 20 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 476 ff. 21 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 503 f. 13 14

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Die entscheidende Anregung zu einem diachronen Vergleich zweier Rechte könnte Pringsheim dagegen von James Bryce erhalten haben.22 Der Rechtswissenschaftler und spätere Diplomat hatte, um den Niedergang des britischen Imperiums zu verhindern, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Effizienzverluste der römischen Verwaltung, die durch die Ausdehnung des Reiches bedingt waren, erforscht und dabei auch die Rechtsentwicklung beider Nationen gegenübergestellt.23 Zwar betonte Bryce noch stärker die zwischen den beiden Rechten bestehenden Unterschiede; seine Feststellung, die Vernachlässigung der philosophischen Seite des Rechts habe den römischen Juristen nicht geschadet, bedeutete aber auch einen Dignitätsgewinn für die pragmatische Methodik der Engländer.24 Nachdem die These von der Gleichartigkeit römischen und englischen Rechts durch Pringsheims Vortrag ihre klassische Form erhalten hatte,25 avancierte sie bald darauf zu einem Allgemeinplatz der Rechtsvergleichung.26 Verfeinert und variiert haben die Analogie dagegen Rechtshistoriker, die ihren Spekulationen über die Entwicklung des römischen Rechts mit Tatsachen aus der wesentlich besser überlieferten englischen Rechtsgeschichte Plausibilität verleihen wollten.27 Bezieht man diese Ergänzungen mit ein, lässt sich die „Pringsheim-These“ folgendermaßen zusammenfassen: Zwischen dem römischen Recht der klassischen Zeit und dem englischen Recht vor den Reformen des 19. Jahrhunderts bestanden strukturelle Parallelen, die auch zur Herausbildung ähnlicher juristischer Denkweisen geführt haben. Sowohl in Rom als auch in England lag die Rechtspflege in der Hand eines kleinen, weitgehend geschlossenen Standes von Fachjuristen.28 Dieser rekrutierte sich jahrhundertelang aus den obersten Schichten der Gesellschaft (Nobilität und Ritterstand; Klerus und Adel), und gründete seine Autorität auf Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 350, erwähnt Bryce ausdrücklich als Vorläufer. 23 Bryce, Studies in History and Jurisprudence. Hervorzuheben sind „Essay II: The Extension of Roman and English Law throughout the world“, Band 1, S. 85; „Essay XII: The Methods of Legal Science“, Band 2, S. 172; „Essay XIV: Methods of Law-Making in Rome and in England“, Band 2, S. 247; „Essay XV: The History of Legal Development at Rome and in England“, Band 2, S. 339. 24 Siehe Bryce, Studies in History and Jurisprudence. Band 2, S. 172 ff. 25 Ähnliche Vergleiche finden sich darüber hinaus schon bei Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, S. 29 und 69 Fn. 74. 26 Statt vieler Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 183 f.; Glenn, Legal Traditions of the World, S. 227 f.; Zimmermann, The Law of Obligations, S. 913 f. 27 Buckland / McNair / Lawson, Roman Law and Common Law; Peter, Actio und writ; ders., Römisches Recht und englisches Recht; Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung; Stein, Logic and Experience in Roman and Common Law; ders., Roman Law, Common Law, and Civil Law. 28 Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 354; Stein, Logic and Experience in Roman and Common Law, S. 439. 22

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die lange Erfahrung im Umgang mit Rechtsfällen.29 Demgemäß vollzog sich auch der Aufstieg in ein Richteramt beziehungsweise die Verleihung des Rechts, ex auctoritate principis zu respondieren, nach dem Prinzip der Bestenauslese.30 Angehende Juristen eigneten sich ihr Wissen nicht durch systematisches Lernen an, sondern indem sie einen praktizierenden Juristen zu den Gerichtsverhandlungen begleiteten und diesen bei der Ausarbeitung von Prozesshandlungen (formulae; pleadings) oder der Anfertigung von Gutachten (responsa; counsel’s opinions) unterstützten.31 Eine solche „Alltagserfahrung“, konnte Max Weber zufolge nicht über anschauliche Begriffe hinausgelangen; die Vorlesungen an den Inns of Court hielt er lediglich für eine Maßnahme des Juristenstandes, das Ausbildungsmonopol gegenüber den Universitäten zu behaupten.32 Pringsheim wiederum bestand darauf, römische Rechtsschulen, und mit ihnen der Hang zur Abstraktion, seien erst in nachklassischer Zeit aufgekommen; der planmäßige Unterricht sei nur deshalb nötig geworden, weil sich die mediokren Praktiker in der Menge der überlieferten Literatur nicht mehr zurechtfanden.33 Anders als englische Anwälte und Richter waren die iuris consulti bis in die frühe Kaiserzeit hinein nicht unmittelbar am Prozess beteiligt, sondern erteilten den Rechtssuchenden und dem Jurisdiktionsmagistrat lediglich Ratschläge. Dennoch standen für englische wie römische Juristen gleichermaßen konkrete Streitfälle im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Das Recht entwickelte sich dementsprechend aus den tatsächlich von den Gerichten entschiedenen Einzelfällen beziehungsweise aus den realen oder hypothetischen Fallgestaltungen, welche die Rechtsgelehrten in ihren Schriften diskutierten. 34 Gesetze dagegen waren von untergeordneter Bedeutung. So wuchs zwar im Laufe der Zeit eine weitverzweigte Kasuistik heran, es entstand jedoch kein Korpus abstrakter Regeln.35 Die Juristen tendierten dazu, einen ihnen vorgelegten Fall von dem als passend empfundenen Ergebnis her zu betrachten und zunächst verschiedene denkbare Lösungen auf ihre Sachgerechtigkeit hin zu überprüfen. Dabei zogen sie andere, ähnliche oder abweichende Einzelfälle heran, um Gründe und Gegengründe für ihren Standpunkt zu gewinnen.36 Zwar bildeten sich bereits in einem frühen Stadium der Geschichte des römischen wie des englischen Rechts regulae iuris beziehungsweise legal maxims heraus. Bei diesen handelVgl. Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 57. Vgl. Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 354. 31 Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 353 f.; ders., Höhe und Ende der römischen Jurisprudenz, S. 55. 32 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 480 f. 33 Pringsheim, Höhe und Ende der römischen Jurisprudenz, S. 60. 34 Stein, Roman Law, Common Law, and Civil Law, S. 1591 f. 35 Stein, Logic and Experience in Roman and Common Law, S. 441; ders., Roman Law, Common Law, and Civil Law, S. 1592. 36 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 53. 29 30

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te es sich indes um bloße Nebenfrüchte, die bei der zentralen Aufgabe der Fallentscheidung anfielen und deren weitere Verwendbarkeit für die Rechtserkenntnis fragwürdig erschien. Entweder waren solche Prinzipien nicht präzise genug formuliert, so dass sie auch Sachverhalte einschlossen, die gar nicht einbezogen werden sollten, oder sie waren so eng gefasst, dass sie sich für eine flexible Rechtsfindung als hinderlich erweisen mussten.37 Regulae und maxims erschienen daher nicht zur strengen Ableitung neuer Lösungen geeignet, sondern waren allein von heuristischem Wert.38 Ein bemerkenswerter Beleg für die These von der inneren Verwandtschaft ist ferner die Dominanz des Aktionendenkens im klassischen römischen wie im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen englischen Recht.39 Die Betrachtung konkreter Streitfälle stellte die Juristen stets aufs Neue vor die Frage, welchen Rechtsbehelf (actio; action) der Gerichtsmagistrat oder Richter gewähren würde.40 Im römischen Formularprozess wurde ein Verfahren vor dem Einzelrichter eingeleitet, indem sich die Parteien auf eine formula einigten, die den Streitgegenstand festlegte und der Prätor einen entsprechenden Judikationsbefehl erließ.41 Das englische Äquivalent hierzu war der original writ, eine schriftliche Aufforderung des Königs an den zuständigen Gerichtsherrn – beispielsweise den Beklagten zu der begehrten Handlung zu ermahnen oder ihn vor eines der königlichen Gerichte zu bringen oder aber zur weiteren Tatsachenfeststellung eine jury einzusetzen; die standardisierte Aufforderung wurde um eine kurze Mitteilung des vom Kläger vorgetragenen Sachverhalts ergänzt.42 Die Zahl verfügbarer formulae und writs war bereits in einem frühen Stadium der Rechtsentwicklung beschränkt worden. In beiden Rechtstraditionen folgte nämlich auf eine kurze, außerordentlich schöpferische Periode, während der sich die Klageformeln rasch vermehrten, eine lange Phase der Erstarrung und des Stillstandes.43 Seither bemühten sich Prätoren und Richter, den Anwendungsbereich bereits existierender Formulare auszudehnen, indem sie in ähnlich gelagerten und deshalb gleich zu beur37 Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 352; Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 60 ff. 38 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 185 und 308 f. (hierzu Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 61); Stein, Logic and Experience in Roman and Common Law, S. 438. 39 Diese Beobachtung findet sich nicht nur bei Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 357 f., Peter, Actio und writ, S. 51 ff., sowie Stein, Roman Law, Common Law, and Civil Law, S. 1592, sondern bereits bei Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, S. 28 f. 40 Zu den Wesenszügen aktionenrechtlichen Denkens siehe Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts vom Standpunkte des heutigen Rechts, S. 3, sowie H. Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, S. 483 f. 41 Kaser / Knütel, Römisches Privatrecht, S. 476 ff. 42 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 57 ff. 43 Peter, Actio und writ, S. 61 ff.

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teilenden Fällen Klagen zuließen, die auf die Besonderheiten des jeweiligen Sachverhalts zugeschnitten waren (actiones in factum beziehungsweise actions upon the special case).44 Bis schließlich der Formularprozess in dem wesentlich informelleren Kognitionsprozess aufging beziehungsweise der Gesetzgeber die forms of action abschaffte, entschied daher die Wahl des Rechtsbehelfs über Erfolg oder Misserfolg der Klage.45 Begreiflicherweise verlegten sich die römischen Juristen darauf, die Voraussetzungen der im Edikt niedergelegten Prozessformeln zu interpretieren und die verschiedenen Klagearten kasuistisch voneinander abzugrenzen. Ebenso musste sich der englische Advokat zuerst Wissen über die Prozessführung und nur in zweiter Linie über materielle Regeln verschaffen. Die Wahrnehmung des Rechts im Ganzen gestaltete sich deshalb abweichend von einer Rechtsgelehrsamkeit, die den Schwerpunkt auf das Verständnis einer Kodifikation von Verhaltensnormen legt.46 Der forensische Zugriff erfasste das Recht als Sammlung von Rechtsbehelfen47 und hinderte damit – um noch einmal Webers Terminologie zu verwenden – eine Systematisierung „durch logische Sinndeutung“.48 Eine weitere Übereinstimmung, auf die sich Pringsheim und seine Nachfolger beriefen, war der Dualismus von ius civile und ius honorarium einerseits sowie common law und equity andererseits.49 Bekanntlich modernisierten die Prätoren der späten Republik das überkommene ius civile, das den Bedürfnissen einer auf Arbeitsteilung und freier Geldzirkulation basierenden Wirtschaft nicht mehr genügte, indem sie neue Aktionen zuließen und anachronistische Klagearten für unanwendbar erklärten.50 Jeweils zu Beginn ihrer einjährigen Amtszeit gaben sie in ihrem Edikt diejenigen Rechtsbehelfe bekannt, die sie auf Antrag der Parteien bewilligen würden. Innovationen wurden vom Amtsnachfolger meist unverändert übernommen, wodurch das Edikt zu einer kodi-

Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 358. Vgl. H. Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, S. 484. 46 Vgl. Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 358. 47 H. Kaufmann, Zur Geschichte des aktionenrechtlichen Denkens, S. 483. 48 M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 304. Übrigens sehen manche Vertreter der Pringsheim-These eine weitere Entsprechung in der Aufspaltung des Verfahrens in einen ersten Teil (vor dem Gerichtsmagistrat oder königlichen Gericht), der das Streitthema festgelegt und eine entscheidungserhebliche Tatsachenfrage aufwirft, sowie einen zweiten Abschnitt (vor dem Laienrichter oder der Jury), welcher der Beweiserhebung dient und diese Frage entweder affirmativ oder negativ beantwortet. Siehe beispielsweise Stein, Roman Law, Common Law, and Civil Law, S. 1592 f. 49 Siehe Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 357; Stein, Roman Law, Common Law, and Civil Law, S. 1594. Die Analogie zwischen prätorischem Recht und equity hatte bereits Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, S. 227 ff., bemerkt. Auch M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 555 ff., hatte auf sie hingewiesen. 50 Dazu Kaser, Römische Rechtsgeschichte, S. 138 ff. 44 45

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fikationsgleichen Sammlung prätorischen Rechts heranwuchs, deren Bestandteile man schließlich in der Kaiserzeit unabänderlich festlegte.51 Die Eingriffe des Lord Chancellor in die Rechtsprechung der königlichen Gerichte dienten im 14. Jahrhundert noch dazu, im Einzelfall unmoralisches Verhalten einer Prozesspartei zu korrigieren.52 Aber schon bald darauf sollten sie auch Härten abmildern, die sich aus der Strenge des common law selbst ergaben. Dies geschah hauptsächlich durch die Untersagung weiterer Verfahrensschritte (common injunction) oder die Gewährung von Rechtsbehelfen, die dem Recht unbekannt waren (equitable remedies). Insbesondere die Anerkennung von Rechtsinstituten, die das formale Recht versagte, namentlich des trust, führte dazu, dass equity seit dem 16. Jahrhundert als verselbständigter, wenngleich das common law lediglich ergänzender Normenkomplex wahrgenommen wurde. Noch dazu wurde dieser von einem eigenen Gericht, dem Court of Chancery, fortgebildet – ein Umstand, der zu schweren Kompetenzkonflikten führen und erst im Zeitalter der viktorianischen Reformen beseitigt werden sollte.53 Vom Standpunkt einer evolutionistischen Geschichtsphilosophie aus, derzufolge Kulturen unter ähnlichen Bedingungen gleiche Entwicklungsstadien durchlaufen, konnten Pringsheim und seine Nachfolger der Zusammenschau römischer und englischer Rechtsgeschichte folgende Gesetzmäßigkeit entnehmen: Eine gefestigte, traditionsverhaftete Rechtsmasse wird allmählich überlagert von einer Schicht anpassungsfähigen, fortschrittlichen Rechts.54 Diese überwindet den schwerfälligen Formalismus der alten Ordnung und verhilft neuen Gestaltungsformen zu Anerkennung. Ursprünglich allein darauf gerichtet, Gerechtigkeit im Einzelfall herzustellen, verdichtet sich der Gehalt singulärer Interventionen alsbald zu gewohnheitsmäßig befolgten Regeln. Zugleich erhebt sich die Frage, welche der beiden Ordnungen bei einer Kollision der Vorrang gebühren soll. In jedem Falle vereitelt das Nebeneinander funktionsgleicher Institute verschiedener Herkunft, ja der Gegensatz zweier Denkweisen, die Uniformität des gesamten Rechts. Erst nach einer längeren Phase des wechselseitigen Ideenaustauschs verschmelzen die beiden Rechtsmassen zu einer Einheit.55 Zur Geschichte der Jurisdiktionsedikte siehe Kaser, S. 145 ff. Beschwerden wurden an den Lord Chancellor in seiner Eigenschaft als Vorsteher der königlichen Gerichtsbarkeit adressiert, damit dieser einem Funktionsdefizit derselben abhelfe. Er sollte ursprünglich nicht vom common law abweichende Regeln anwenden, sondern lediglich dem Recht zur Durchsetzung verhelfen. Siehe hierzu Milsom, Historical Foundations of the Common Law, S. 83 f. 53 Zum Ganzen Baker, An Introduction to English Legal History, S. 101 ff., sowie Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 184 ff. 54 Stein, Roman Law, Common Law, and Civil Law, S. 1594. Siehe auch Pringsheim, Aequitas und bona fides, S. 160. 55 Vgl. Pringsheim, The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 357. 51 52

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Die Rechtsentwicklung vollzog sich in beiden Traditionen organisch, das heißt unter fortlaufender Änderung einzelner Details.56 Wenn die Juristen zu Regeln gelangten, so blieben diese flexibel, ihre Tatbestandsmerkmale jederzeit modifizierbar.57 Besonders die Römer hüteten sich vor begrifflichen Festlegungen, denn diese waren nach einem berühmten Diktum „gefährlich“.58 Meist wurden Regeln jedoch gar nicht ausgesprochen. Sowohl in den römischen Fall- und Gutachtensammlungen als auch in den englischen commonplace books und abridgements, den häufigsten Literaturgattungen also, werden Fallentscheidungen aneinandergereiht, aber nur selten durch einen zusammenfassenden Leitsatz miteinander verbunden.59 Die kasuistische Erscheinungsform des Rechts schärfte vielmehr den „Sinn für das Einzelne und Bezeichnende“, den Pringsheim in beiden Völkern für besonders ausgeprägt hielt.60 Daher stellen englische Juristen noch heute der Erörterung einer Rechtsfrage stets eine akkurate Analyse des zugrunde liegenden Sachverhalts voran; eine rechtliches Problem ohne einen dazugehörigen Fall ist für sie ohne jeden Reiz.61 Dieses Gespür für Individualität kann freilich mitunter in Pedanterie ausarten: Statt Oberbegriffe für Gegenstände und Handlungen zu verwenden, listen englische wie römische Gesetze sämtliche in Betracht kommenden Möglichkeiten auf.62

2. Systematische Tendenzen im Rechtsdenken der Römer 2. Systematische Tendenzen im Rechtsdenken der Römer

Allein die Bandbreite der von Pringsheim zusammengetragenen Entsprechungen ist bemerkenswert. Seit dem denkwürdigen Vortrag ist die romanistische Forschung indes von manchen seiner Annahmen abgerückt, weswegen seine These heute weitgehend an Überzeugungskraft eingebüßt hat.63 Bereits sein ebenfalls nach Oxford emigrierter Fachgenosse Fritz Schulz hatte die Leistung der oströmischen Rechtswissenschaft für die Ordnung und VereinVgl. Stein, Logic and Experience in Roman and Common Law, S. 437 f. Stein, Logic and Experience in Roman and Common Law, S. 438. 58 Iavolenus, D. 50.17.202 („Omnis definitio in iure civili periculosa est: parum est enim ut non subverti posset“). Illustrativ zur Abneigung der Römer gegen Definitionen Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, S. 30 ff. 59 Vgl. Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, S. 34 f. 60 Pringsheim, Höhe und Ende der römischen Jurisprudenz, S. 58; ders., The Inner Relationship between English and Roman Law, S. 358 f. („the ability to portray, […] a sense of reality and of the significant“). Diese Begabung manifestierte sich nach Auffassung des Romanisten nicht nur im Recht, sondern auch in der bildenden Kunst. 61 Stein, Roman Law, Common Law, and Civil Law, S. 1600 f. 62 Vgl. Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, S. 33. 63 Ablehnend insbesondere Watson, Roman and English Law; zweifelnd auch Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 47 und S. 473 Fn. 15. 56 57

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heitlichung des Rechts deutlich wohlwollender beurteilt64 und damit auch einen unverstellten Blick auf die systematischen Bestrebungen der Klassiker gewonnen.65 Die anschließende, weit ausgreifende Debatte über den Einfluss der hellenistischen Philosophenschulen auf die römische Fachjurisprudenz und insbesondere die Kontroverse zur Rezeption der Dialektik in republikanischer Zeit führten – trotz einer oftmals unergiebigen Quellenlage – zu einem ungleich differenzierteren Bild von der Arbeitsweise der römischen Juristen.66 Demnach haben die Römer schon während der klassischen Periode häufiger in materiellrechtlichen Kategorien gedacht und diese auch entschiedener systematisch geordnet als die englischen Juristen jedenfalls vor den Justizreformen des viktorianischen Zeitalters. Augenfällig ist zunächst die Führungsrolle der beratenden Juristen, nicht der Anwälte und Richter. Die Winkelzüge eines ausschließlich auf die Erledigung des gegenwärtigen Falles und seinen eigenen finanziellen Vorteil bedachten Praktikers waren den römischen Rechtshonoratioren fremd.67 Sie verstanden ihre Schriften eher als Beiträge zu einem wissenschaftlichen Gespräch; ihre Erörterungen zeugen durchweg von einem theoretischen Erkenntnisinteresse, das unabhängig von der Notwendigkeit zur Entscheidung eines aktuellen Falles besteht.68 Wie aus dem Reichtum der von Ulpian referierten Kontroversen ersichtlich ist, sind viele Probleme über mehrere Jahrhunderte hinweg diskutiert worden. Zwar müssen gerade die Sammlungen von responsa oder quaestiones69 und ebenso die umfangreichen Kommentare70 hochgradig kasuistisch gewesen sein. Die Vorstellung von einem Rechtsfall war in Rom jedoch eine gänzlich andere als in England: Der mitzuteilende Sachverhalt wurde weitgehend von den Verwicklungen der Lebenswirklichkeit gereinigt und auf einen juristisch relevanten Gesichtspunkt zugespitzt. Gewöhnlich besprachen die Juristen nacheinander mehrere reale oder hypothetische Fallgestaltungen, die sich nur Siehe nur Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 338 f. So behandelt Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 186 ff. und 209 ff., die klassischen Lehrbücher und Regelsammlungen besonders ausführlich. 66 Einen Überblick bietet Winkel, Le droit romain et la philosophie grecque. Zum Streit über die Bedeutung der griechischen Wissenschaftsphilosophie für die spätrepublikanische Jurisprudenz zusammenfassend Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt, S. 618 ff. 67 Vgl. Watson, Roman and English Law, S. 268. 68 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 45 ff. 69 Über die sogenannten problematischen Schriften, zu denen beispielsweise Iulians Digesten oder Papinians Responsa zählen, gibt Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 281 ff., umfassende Auskunft. 70 Zu dieser in den Digesten besonders häufig anzutreffenden literarischen Gattung siehe Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 225 ff. Bei Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, S. 39 ff., findet sich auch eine Strukturanalyse eines ausgesprochen kasuistischen Fragments aus Ulpians Ediktskommentar. 64 65

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in einer Hinsicht voneinander unterschieden.71 „Der Gedanke bewegt[e] sich“, so Franz Wieacker, „durch das Fortspinnen jeweils eines einzelnen Problemaspekts weiter und kehrt[e] dann oft zyklisch zu dem Ausgangspunkt zurück, um von dort einen neuen Aspekt aufzunehmen.“72 In der Gesamtschau dieser Abwandlungen wurden die Grenzen eines Begriffes deutlich, zeichneten sich die Umrisse einer Regel ab; ganz im Stile einer enthymnematischen Argumentation erübrigte es sich jedoch, das Erkannte eigens hervorzuheben. Des Weiteren begünstigte gerade der römische Formularprozess die Herausbildung materiellrechtlicher Regeln und drängte zu einer systematischen Darstellung etlicher Rechtsgebiete. Die formula war als Konditionalprogramm ausgestaltet, das in seinem Vordersatz technische Begriffe enthielt, die den abstrakten Tatbestandsmerkmalen einer modernen Verhaltensnorm ähnelten. 73 Deshalb waren sachliche Abgrenzungen, beispielsweise zwischen verschiedenen Vertragstypen, der Auswahl einer bestimmten actio logisch vorgeordnet – ganz im Gegensatz zum englischen Aktionensystem, unter dessen Geltung die Klagbarkeit eines Sachverhalts oftmals nur durch dessen verfälschende Anpassung an einen völlig inadäquaten writ erzwungen werden konnte.74 Anders als nach englischem Recht75 begründete auch nicht jede actio eine besondere Verfahrensart. Die klassische Jurisprudenz konnte daher zahlreiche Materien ohne Rücksicht auf den Prozess behandeln, wie zum Beispiel Vertragsschluss, Stipulation, Eigentumserwerb, Testamentserrichtung oder Freilassung.76 So enthalten die ersten drei Bücher der Institutionen des Gaius vorwiegend materiellrechtliche Ausführungen, während im vierten Buch das Aktionensystem und die Prozessführung gesondert dargestellt werden. Überdies führte die Beteiligung der beratenden Juristen an der Auswahl der richtigen formula bisweilen schon in der Frühklassik zu einer Rationalisierung auch der Klagearten. Dies zeigt das Beispiel der actio iniuriarum, die Labeo zu einem schlagkräftigen Rechtsbehelf gegen jede Form der Ehrverletzung, gleich körperlicher oder unkörperlicher Art, ausgedehnt haben soll, indem er vier ziemlich spezielle Edikte unter das allgemeine edictum de iniuriis aestumandis subsumierte.77

Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 47 f. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 45. 73 Vgl. Milsom, Law and Fact in Legal Development; ders., The Nature of Blackstone’s Achievement, S. 6. 74 Watson, Roman and English Law, S. 253 ff. Dazu unten, S. 141 ff. 75 Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 4 ff. 76 Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, S. 29; Kaser / Knütel, Römisches Privatrecht, S. 30. 77 Dies legen jedenfalls mehrere Zitate Labeos bei Ulpian, D. 47.10.1.1, D. 47.10.15.3 und D. 47.10.15.26, nahe. Zu dieser Vermutung siehe Zimmermann, The Law of Obligations, S. 1052 f. 71 72

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Zudem änderte auch die Differenzierung zwischen ius civile und ius honorarium niemals etwas daran, dass die Römer ihr Recht als einheitliche normative Ordnung wahrnahmen.78 Equity konnte sich dagegen seit dem ausgehenden Mittelalter nicht nur institutionell wesentlich stärker verselbständigen (zuständig war ein eigenes Gericht mit besonderen Verfahrensregeln und spezialisierten Anwälten)79, sondern auch inhaltlich gegenüber dem common law weitgehend abschließen (die Entscheidungen wurden auf besondere maxims80, später zunehmend auf eigene Präjudizien gestützt81). Folglich verstanden die Engländer die beiden Normenkomplexe als getrennte, wenngleich zunehmend aufeinander angewiesene Rechtsordnungen82 – eine Auffassung, die noch lange nach der Zusammenlegung der Gerichtsbarkeiten im 19. Jahrhundert vertreten wurde und die sich bis auf den heutigen Tag in einer eigenständigen equity-Literatur widerspiegelt. Wie bereits die stehende Wendung „We do this at common law but that in equity“ nahelegt, arbeiten die beiden Rechte häufig gegeneinander.83 Viele Regelungsgegenstände doppeln sich: So bezeichnet „deceit“ sowohl ein common law wrong als auch ein equitable tort; das Verfolgen eines entzogenen Vermögensgegenstandes (tracing) ist in equity weitergehend möglich als at law. Die prätorischen Rechtsschöpfungen sollten demgegenüber das alte ius civile nur „verwirklichen helfen, ergänzen und verbessern“;84 sie sind damit eher mit der langsamen Anpassung der forms of action des common law, wenn nicht sogar mit der gegenwärtigen richterlichen Rechtsfortbildung in Deutschland vergleichbar.85 In klassischer Zeit kam es außerdem häufig zur Aufnahme prätorischer Rechtsbehelfe in das Zivilrecht, ja zu Vermischungen 78 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 470 ff.; Watson, Roman and English Law, S. 249. 79 Einen Eindruck von den Besonderheiten der Chancery practice vermittelt Lemmings, Professors of the Law, S. 32 f. 80 Die Schlüsselbegriffe dieser maxims („good conscience“, „honesty“ oder „clean hands“) verdeutlichen, dass der equity eine besondere Ethik zugrunde lag, deren höchster Wert die Gewissenhaftigkeit des Einzelnen war. Siehe hierzu A. B. Schwarz, Equity, S. 219 ff. 81 Siehe dazu Winder, Precedent in Equity. 82 Gewiss waren die equity-Regeln zunächst nur fragmentarische Ergänzungen des common law, die nicht für sich allein hätten bestehen können (dies betont A. B. Schwarz, Equity, S. 216 f.). Gleichwohl bildeten sich alsbald weitgehend selbständige Gebiete mit hoher Regelungsdichte (nämlich trusts und equitable wrongs) sowie einzelne Rechtsinstitute (wie zum Beispiel equitable interest, account oder specific performance) heraus, ohne die das englische Recht heute undenkbar wäre. 83 Einige Beispiele für Widersprüche zwischen den beiden Rechten gibt Burrows, We Do This At Common Law But That In Equity, S. 7. 84 Papinian, D. 1.1.7.1 („Ius praetorium est, quod praetores introduxerunt adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iurs civils gratia propter utilitatem publicam“). 85 Vgl. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 473 Fn. 15.

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von Elementen zivilen und prätorischen Ursprungs.86 Wenn in den Kommentaren zum ius civile das ius honorarium mitberücksichtigt wird und umgekehrt,87 zeigt dies, auch die Römer dürften beide Materien allenfalls als unselbständige Schichten einer einzigen Rechtsordnung angesehen haben.88 Was die Bedeutung begrifflich-systematischen Denkens anbelangt, so bietet die Hinterlassenschaft der römischen Rechtswissenschaft ein uneinheitliches Bild. Etwa die Hälfte der Digestenfragmente stammt aus den großen spätklassischen Kommentaren Ulpians und des Paulus zum Edikt beziehungsweise zu Massurius Sabinus’ „libri tres iuris civilis“.89 Die Gattung des lemmatischen Kommentars, der Wörter oder Wortgruppen eines Grundtextes erläutern sollte, brachte es mit sich, dass sein Autor immer auch den systematischen Aufbau der Vorlage übernehmen musste. Die Ordnung des Edikts folgte aber im Wesentlichen dem Gang eines Gerichtsverfahrens und reihte die Rechtsbehelfe assoziativ aneinander.90 In dem sogenannten „Sabinussystem“ fehlten wichtige Materien des Zivilrechts und auch eine konsequente Einteilung lässt die Überlieferung nicht erkennen.91 Die Kompilatoren haben diese Kommentare jedenfalls bevorzugt, weil sie von denjenigen Werken, die im 6. Jahrhundert noch vorhanden waren, die klassischen Schriften am ausführlichsten zitierten.92 Tatsächlich bildeten diese Texte einstmals nur einen Bruchteil der gesamten Rechtsliteratur, weswegen sich aus ihnen ein quantitatives Urteil über die von den römischen Juristen verwendeten Methoden schwerlich ableiten lässt. Dagegen sind sehr wohl Textsorten nachweisbar, in denen die Römer rechtsdogmatische Denkfiguren in ihrer Ursprungsgestalt erprobt haben. Diese Denkweisen, wie die Bestimmung und Zergliederung von Begriffen sowie das Auffinden von Prinzipien, hatte die römische Rechtswissenschaft der Dialektik entnommen.93 Denn wiewohl der Einfluss bestimmter philosophischer Strömungen auf die Jurisprudenz nur schwer zu beweisen ist, so war Kaser, ‚Ius honorarium‘ und ‚ius civile‘, S. 38 Fn. 171 und S. 83 ff. Watson, Roman and English Law, S. 251 f.; Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 99. 88 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 473 („[…] es empfiehlt sich, […] statt von einer (zweiten) honorarischen Rechtsordnung von einer ‚Rechtsschicht‘ zu sprechen […]“). 89 Eine Rekonstruktionen dieser Werke findet sich bei Lenel, Palingenesia iuris civilis. 90 Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 175 ff. 91 Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 186 ff.; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 57. 92 Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 265, bezeichnet Ulpians Kommentare treffend als „restatement“ der Interpretation des Edikts und der Literatur des ius civile. Zu Ulpians Bemühen um eine vollständige Wiedergabe der Tradition siehe auch Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 131. 93 Einzelheiten bei Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 73 ff., und Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt, S. 618 ff. 86 87

2. Systematische Tendenzen im Rechtsdenken der Römer

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doch die Dialektik oder Logik nicht nur zum Gemeingut der drei größten hellenistischen Philosophenschulen geworden,94 sondern gehörte seit spätrepublikanischer Zeit auch zum Bildungsprogramm des aristokratischen oder aufstrebenden Römers.95 Im „Organon“ hatte Aristoteles gelehrt, wie man eine Disziplin erobert, nämlich durch Klassifikation sämtlicher ihr zugehöriger Erscheinungen: Der Gesamtumfang des Wissensgebiets wird durch einen obersten Begriff umgrenzt; sodann wird dieser in immer weitere Begriffe aufgeteilt (διαίρεσις, divisio), wobei jede neue Klasse genau zu bestimmen ist – durch Angabe derjenigen Merkmale, aufgrund derer sie der nächsthöheren Gattung angehört, sowie derjenigen Besonderheiten, die sie von anderen Arten der gleichen Stufe unterscheiden (ὁρισμός, definitio).96 Danach werden die Prinzipien ermittelt, die für die einzelnen Gattungen gelten; zu diesem Zweck sucht man nach Eigenschaften, die auf alle Arten einer Gattung zutreffen, erschließt also aus Einzelbeobachtungen das Allgemeine (ἐπαγωγή).97 Mit klassifizierender Begriffsbildung begann die Rechtswissenschaft bereits in der ausgehenden Republik;98 offenbar haben als erste Quintus Mucius Scaevola pontifex und Servius Sulpicius Rufus Teile des ius civile dihairetisch durchgearbeitet99 und dabei eine Reihe von Definitionen und Einteilungen für Rechtsbegriffe mittleren Abstraktionsgrades gegeben.100 Zur Blüte gelangte das Definitionswesen dann im frühen Prinzipat;101 methodische Vorreiter könnten nun die grammatisch und dialektisch versierten Proculianer Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 73 f.; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt, S. 626 und S. 634 Fn. 87. Die platonisch-aristotelische Dialektik wurde von der mittleren Stoa aufgenommen und ist möglicherweise durch deren Vermittlung zu den republikanischen Juristen gelangt. Zur stoischen Logik siehe Long /  Sedley, Die hellenistischen Philosophen, S. 214 ff. 95 Vgl. Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 74, der betont, seit 150 v. Chr. dürfe man die Kenntnis der Dialektik bei den führenden römischen Juristen voraussetzen, weil sie diese, wenn nicht bei philosophischen, so doch bei rhetorischen oder grammatischen Studien kennengelernt hätten. 96 Aristoteles, Topik IV, 1 120b12 ff.; ders., Zweite Analytik II, 13 96a20 ff. Begriffsbildung und Systematisierung bilden bei Aristoteles ein einheitliches Verfahren. Siehe hierzu auch die Rekonstruktion des dihairetischen Verfahrens durch Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt, S. 622 ff. 97 Aristoteles, Topik I, 12, 105a10 ff.; ders., Zweite Analytik II, 19 100b3 ff. 98 Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 76 f. 99 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt, S. 596. Entgegen dem Bericht des Pomponius, D. 1.2.2.41, hat Q. Mucius aber wohl nicht das gesamte ius civile, sondern nur einige wenige Rechtsinstitute unterteilt; siehe hierzu Wieacker, a. a. O., S. 597 ff. und 633 ff. 100 Bezeugt sind beziehungsweise vermutet werden Dihairesen solcher Begriffe wie tutela, possessio, furtum, societas oder bona fidei actiones. Siehe hierzu Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt, S. 598 und 634. 101 Siehe nur die Fülle der bei Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Erster Abschnitt, S. 637 Fn. 99, angeführten Beispiele. 94

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gewesen sein.102 Bemerkenswert ist jedoch auch der Versuch des Sabinus, alle Deliktsobligationen in einer einzigen Kategorie zusammenzufassen.103 In der Spätphase der Republik haben möglicherweise auch schon einige Juristen Prinzipien induktiv hergeleitet.104 Sicher bezeugt sind jedenfalls Regelwerke aus klassischer Zeit wie die „Regulae“ des Neratius Priscus oder die „Sententiae“ des Paulus – Sammlungen prägnant formulierter Rechtsgrundsätze für den Unterricht oder die Entscheidungspraxis.105 Als im 2. Jahrhundert mit der Ausweitung des Bürgerrechts der Bedarf an juristisch gebildeten Beamten wächst und in den Provinzhauptstädten Rechtsschulen gegründet werden, kommt die Gattung des systematischen Lehrbuches auf.106 In seinen „Institutionen“ führt Gaius eine nahezu vollständige Dihairese des gesamten Rechts durch: Ausgehend von dem obersten Begriff des „ius“, aus dem mittels partitio die Elementarkategorien „personae, res, actiones“ gewonnen werden, bringen zahlreiche divisiones und subdivisiones erst Rechtsgebiete, dann Rechtsinstitute hervor, worauf diese noch einmal in genera zerlegt werden.107 Gaius wählt die klassifizierende Begriffsbildung ebenfalls häufig als Mittel der Darstellung eines einzelnen rechtlichen Phänomens, indem er dieses zunächst einteilt, sodann die erste Art definiert und beschreibt, um schließlich eine Definition und weitere Charakteristik der zweiten Art zu geben.108 Manchmal werden auch zwei gleichstufige Begriffe durch Gegenüberstellung mehrerer artbildender Differenzen voneinander abgegrenzt.109 Gelegentlich findet sich bei Gaius sogar schon die Konstrukti-

Der Gegensatz zwischen den beiden Rechtsschulen der Sabinianer und der Proculianer manifestiert sich zwar in den Quellen lediglich in einigen Kontroversen zu Detailfragen, wird aber heute überwiegend als methodische Divergenz gedeutet. Demnach waren die Sabinianer traditionalistisch eingestellt und noch der kasuistischen Betrachtungsweise verhaftet, während die Proculianer schöpferisch walteten und sich bereits der Systematisierung des Rechts zuwandten. Siehe insbesondere Stein, Roman Law in European History, S. 17 f., sowie Liebs, Rechtsschulen und Rechtsunterricht im Prinzipat, S. 277 ff. Auch die davon abweichenden Mutmaßungen bei Behrends, Institutionelles und prinzipielles Denken im römischen Privatrecht, laufen auf einen methodischen Antagonismus hinaus. 103 Stein, The Quest for a Systematic Civil Law, S. 150. 104 So Stein, Regluae Iuris, S. 36 ff. 105 Stein, Regluae Iuris, S. 74 ff. Vgl. auch Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 209 ff. 106 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 92 und 94. Neben Gaius’ „Institutionen“ sind sich auch Fragmente von Lehrschriften Pomponius’ und Ulpians erhalten geblieben; zu diesen Werken siehe a. a. O., S. 109 f. und 135, sowie Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, S. 203 ff. und 207 f. 107 Vgl. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte. Zweiter Abschnitt, S. 113 f. 108 Fuhrmann, Das systematische Lehrbuch, S. 119. 109 Fuhrmann, Das systematische Lehrbuch, S. 113 ff., der als Beispiel G. I, 98 ff. (Arten der adoptio) nennt. 102

3. Die Rechtsarmut des common law

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on einer kautelarjuristischen Gestaltung.110 Allgemeine Rechtsgrundsätze spricht er zwar nur selten aus,111 versteht es jedoch, durch die Auflistung verschiedener, durchaus abstrakt gehaltener Tatbestände, welche dieselbe Rechtsfolge auslösen, Zusammenhänge ans Licht zu bringen.112 Vor allem aber die Bildung besonders abstrakter Kategorien wie ius quod ad res pertinet, per universitatem res aquirere oder obligatio sowie seine nahezu überschneidungsfreie Einteilung in Rechtsgebiete machen ihn zu einem Wegbereiter der modernen Rechtsdogmatik. Pringsheims These von der inneren Verwandtschaft des römischen und des englischen Rechts ist daher – ungeachtet ihrer nach wie vor fühlbaren suggestiven Kraft – erheblichen Zweifeln ausgesetzt; sie kann heute, wenn überhaupt, nur noch mit beträchtlichen Einschränkungen aufrechterhalten werden. Gleichwohl bleibt für eine vergleichende Untersuchung dogmatischen Denkens die Beobachtung wichtig, dass die mittelalterlichen Legisten nicht nur auf eine in wesentlichen Bruchstücken erhaltene Rechtsordnung zurückgreifen konnten, sondern auch zahlreiche Elementarbegriffe, Definitionen und Einteilungen – gleichgültig ob nun klassischen oder oströmischen Ursprungs – vorfanden. Selbst der Gegner einer evolutionistischen Geschichtsauffassung muss daher den enormen Vorsprung in der Systembildung anerkennen, den das civil law dadurch gegenüber dem gerade erst entstehenden common law gewann. Bedeutsamer noch sind die Anregungen Pringsheims, wie die dürftige dogmatische Durchdringung des englischen Rechts durch eine Betrachtung der institutionellen Rahmenbedingungen der Rechtsentwicklung erhellt werden könnte. Sie sollen im Folgenden aufgenommen und weitergeführt werden.

3. Die Rechtsarmut des common law 3. Die Rechtsarmut des common law

Welche institutionellen Hindernisse waren es also, die der Verbreitung dogmatischen Denkens in England im Wege standen? a) Der Mangel an Rechtsnormen In den ersten Epochen der englischen Rechtsgeschichte mangelte es vor allem an dem für die Systembildung nötigen Substrat, das heißt, es gab nur wenige materielle Normen, die man zueinander in Beziehung hätte setzen können. Während auf dem europäischen Festland mit dem Corpus Iuris eine hochgra110 Siehe etwa G. III, 146 und 147 (Lieferung von Gladiatoren beziehungsweise Goldringen als emptio venditio oder als locatio conductio). 111 Siehe beispielsweise G. II, 66 ff. (Eigentumserwerb durch occupatio). 112 Vgl. Fuhrmann, Das systematische Lehrbuch, S. 120, mit einem Hinweis auf G. III, 97 ff. (Gründe für die Nichtigkeit von Stipulationen) und G. III, 168 ff. (Gründe für das Erlöschen von Obligationen).

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Kapitel 4: Institutionelle Hindernisse

dig ausdifferenzierte Rechtsordnung wiederentdeckt wurde, war das common law zunächst keineswegs als umfassende und erst recht nicht als vollständige normative Ordnung gedacht.113 Die Ursprünge des englischen Rechts liegen in wenigen Verwaltungsanordnungen des viel beschäftigten Herrschers Henry II. (1154-1189), der nach einem Zeitalter der Anarchie seine Disziplinargerichtsbarkeit über die Vasallen straffer organisierte und ausweitete.114 Der Gegenstandsbereich des common law beschränkte sich daher anfangs hauptsächlich auf die Kontrolle der Landvergabe durch die niederen Lehnsherren sowie die Verfolgung von Delinquenten, die mit Waffengewalt den Landfrieden gebrochen hatten.115 Auch als die chancery im frühen 13. Jahrhundert eine große Zahl neuartiger writs erfand und Edward I. (1272–1307) als Gesetzgeber weitere actions zuließ, weswegen nunmehr vielfältige Streitigkeiten vor die königlichen Gerichte gebracht werden konnten, blieb der Weg nach Westminster weiterhin die Ausnahme, ja ein Luxus gegenüber der Inanspruchnahme lokaler, feudaler oder kirchlicher Spruchkörper.116 Zwar lässt sich seit dem 14. Jahrhundert von einer Allzuständigkeit der königlichen Gerichtsbarkeit sprechen;117 da aber nunmehr keine neuen writs mehr geschaffen wurden, konnte sich das common law seitdem nur ganz allmählich ausdehnen, und zwar unter Zuhilfenahme teils abenteuerlicher Auslegungen und Fiktionen.118 Deswegen gab es in England beispielsweise noch zu Blackstones Zeiten kein detailliertes Vertrags- und Handelsrecht.119 Auch die als weniger wichtig empfundenen Streitigkeiten über bewegliche Sachen Vgl. Baker, An Introduction to English Legal History, S. 22. Unter den Historikern des englischen Rechts besteht Uneinigkeit, ob Henry II. mit seinen Reformen einen gezielten Angriff auf die feudale Gerichtsbarkeit beabsichtigte, oder ob der König mit den neu geschaffenen Interventionsmöglichkeiten seine Vasallen gerade zur Erfüllung ihrer Verwaltungspflichten anhalten wollte. Im letzteren Falle wäre die Entstehung des common law nur ein zufälliger Nebeneffekt gewesen. Eine anti-feudale Haltung Henry II. behaupteten insbesondere Pollock / Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I. Band 1, S. 136 ff.; dies., The History of English Law before the Time of Edward I. Band 2, S. 57 („a blow aimed at feudalism by a high-handed king“). Die Gegenthese stammt von Milsom, A Natural History of the Common Law, S. 51 ff. sowie S. xxi („aimed to protect tenants against arbitrary action by their lords“). Siehe auch die vermittelnde Deutung bei Biancalana, For Want of Justice: Legal Reforms of Henry II, S. 441. 115 Vgl. Milsom, A Natural History of the Common Law, S. 82. 116 Vgl. Pollock / Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I. Band 1, S. 195 ff., sowie van Caenegem, The Birth of the English Common Law, S. 29. 117 Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 52. 118 Dazu sogleich, S. 141 ff. 119 Vgl. Pollock / Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I. Band 2, S. 184. Zur restriktiven Haltung der mittelalterlichen common law-Gerichte bei der Zulassung vertragsrechtlicher Streitigkeiten siehe auch Baker, An Introduction to English Legal History, S. 326 f. 113 114

3. Die Rechtsarmut des common law

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wurden noch lange überwiegend vor lokalen Gerichten verhandelt; die dafür nötigen Regeln waren entsprechend weniger ausgefeilt,120 und vielleicht liegt hierin ein Grund, weshalb das law of personal property noch bis zum heutigen Tage ein Schattendasein fristet. Materielle Rechtsnormen bildeten sich auch deshalb nur sehr langsam heraus, weil der mittelalterliche Prozess gar nicht auf die Entscheidung von Rechtsfragen ausgerichtet war. Der Beklagte konnte auf das Begehren des Klägers meist nur reagieren, indem er die Richtigkeit sämtlicher vorgetragener Tatsachen bestritt (general traverse). Dies führte zwar dazu, dass die jury über das Vorliegen jedes einzelnen behaupteten Umstandes befinden musste (general issue), schloss den Beklagten aber von tatsächlichen oder rechtlichen Einwendungen aus.121 Entlastende Tatsachen wurden nur selten vorgebracht, nämlich wenn zu befürchten war, die jury könnte durch die Allgemeinheit des Streitgegenstandes in die Irre geführt werden.122 Sollte also ein tatsächlicher Gesichtspunkt als Einrede herausgegriffen und der Rechtsstreit damit auf eine konkrete Beweisfrage zugespitzt werden (special traverse), so konnte dies nur um den Preis des Geständnisses aller weiterer Behauptungen geschehen.123 Von dieser Möglichkeit wurde verhältnismäßig rege im Grundstücksrecht Gebrauch gemacht; entsprechend war die Materialisierung und Verfeinerung dieses Rechtsgebiets bereits im Spätmittelalter abgeschlossen.124 Dagegen war es bei einem Delikt (trespass oder battery) im Regelfall nur erlaubt, an das Schwurgericht die allgemeine Frage zu richten, ob der Beklagte schuldig war oder nicht; genuin rechtliche Themen, wie zum Beispiel Haftungsvoraussetzungen oder Rechtfertigungsgründe, blieben unter der Oberfläche des pauschalen Bestreitens verborgen – und dies teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein.125 Im Vertragsrecht (debt und detinue) stand die Rechtsentwicklung sogar völlig still, weil der Beklagte als Beweismittel den Reinigungseid (wager of law) Baker, An Introduction to English Legal History, S. 379. Die hemmende Wirkung, die von der Ausgestaltung des Prozesses auf die Entstehung materieller Rechtsnormen ausging, hat zuerst Milsom, Law and Fact in Legal Development, herausgearbeitet. Darüber, wie man sich den Ablauf eines Verfahrens vor den Gerichten in Westminster vorzustellen hat, informiert in aller Kürze Baker, An Introduction to English Legal History, S. 76 ff. 122 Milsom, Law and Fact in Legal Development, S. 15; ders., A Natural History of the Common Law, S. 11. 123 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 77 f. 124 Arnold, Law and Fact in the Medieval Jury Trial, S. 268 ff. (zur Häufigkeit von special verdicts in Fällen von novel disseisin). Dies war offenbar vor allem deshalb möglich, weil ein ausdifferenziertes Lehnsrecht bereits gewohnheitsmäßig verankert war; vgl. dazu Milsom, A Natural History of the Common Law, S. 70. 125 Arnold, Law and Fact in the Medieval Jury Trial, S. 271 ff. (trespass); Baker, An Introduction to English Legal History, S. 81 (trespass); Milsom, A Natural History of the Common Law, S. 11 ff. (battery). 120 121

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wählen durfte und es keinen Weg gab, die beweisbedürftige Behauptung des bloßen „Non debet“ oder „Non detinet“ zu konkretisieren.126 Desgleichen konnte sich der Beklagte zwar auf den Standpunkt stellen, der Sachverhalt sei in rechtlicher Hinsicht nicht ausreichend für eine Verurteilung (demurrer in law).127 Aber auch dies verlangte ihm ab, sich zu einem strategisch nachteiligen Geständnis aller Tatsachen durchzuringen.128 Deshalb pflegte man rechtliche Gesichtspunkte zunächst nur versuchsweise vorzutragen und wartete sodann die Reaktion der Richter ab.129 Somit gab es zwar bereits im Mittelalter die Gelegenheit, Rechtsfragen vor Gericht zu erörtern; die probeweisen Anträge wurden von den Berichterstattern auch in die Year Books aufgenommen.130 Förmlich in die Akten (plea rolls) eintragen ließ man einen demurrer in law jedoch nur, wenn sich für ihn hinreichende Erfolgsaussichten abzeichneten.131 Und auch dies führte nur selten zur Bildung neuer Rechtsnormen: Einerseits formulierte der Beklagte seinen Einwand meist als general demurrer, stellte also die action des Klägers in ihrer Gesamtheit in Frage.132 Andererseits bestand kein Entscheidungszwang, und die Richter fühlten sich auch nicht dazu berufen, eine rechtliche Unklarheit aufzulösen oder gar das Recht fortzubilden. Vielleicht befürchteten sie, sich falsch festzulegen; in jedem Falle galt es als unzulässig, bei Meinungsverschiedenheiten nach dem Mehrheitsprinzip vorzugehen.133 Infolge dieser Zurückhaltung wurden im Mittelalter mehr als zwei Drittel aller demurrer nicht entschieden. Noch zur Zeit der Renaissance vertagten sich die Gerichte nach mehr als der Hälfte derartiger Anträge und warteten ab, bis sich die Parteien geeinigt hatten oder verstorben waren.134 Im Laufe des 16. Jahrhunderts gelangten die Richter jedoch zu einem stärkeren Selbstbewusstsein und begannen, offene Fragen autoritativ zu beantworten. Vor allem wurde es nun zulässig, rechtliche Einwendungen zu erheben, nachdem die Juryentscheidung bereits ergangen war (motion in banc). Dies hing unter anderem mit dem Aufstieg der action on the case zusammen, bei der es erforderlich war, zunächst den genauen Sachverhalt festzustellen und danach

126 Milsom, Law and Fact in Legal Development, S. 4 f. (debt) und 6 ff. (detinue); Baker, An Introduction to English Legal History, S. 81 (debt) und 392 (detinue). 127 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 79. 128 Baker, The Oxford History of the Laws of England. Volume VI, S. 392 f. 129 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 78 f. 130 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 77. 131 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 78. 132 Baker, The Oxford History of the Laws of England, Volume VI, S. 391. 133 Baker, English Law and the Renaissance, S. 57 ff. Vgl. auch Milsom, A Natural History of the Common Law, S. 12. 134 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 79 Fn. 38; ders., The Oxford History of the Laws of England. Volume VI, S. 390 ff.

3. Die Rechtsarmut des common law

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die Rechtsfragen eingehend zu analysieren.135 Seit dem 17. Jahrhundert fanden die Richter dann immer mehr Möglichkeiten, sich über die Juryentscheidung hinwegzusetzen und die Tatsachen eigenständig zu würdigen.136 Erst die dadurch nötig werdende Auseinandersetzung mit den Besonderheiten des Einzelfalles führte zu einer größeren Detailtiefe des common law. Wenngleich seitdem immer mehr Verfahren mit einem Urteil endeten, hatte dies nicht notwendig die Entstehung verbindlicher Rechtsnormen zur Folge. Eine Abfolge ähnlicher Entscheidungen wurde zwar schon im 17. Jahrhundert als Beweis für die Existenz eines Prinzips gewertet, eine zwingende Bindungswirkung erkannte man ihr jedoch nicht zu.137 Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sind Gerichte an die Urteile höherer Instanzen und teilweise auch an eigene Vorentscheidungen gebunden.138 Dennoch lässt sich selbst heute noch vielen Entscheidungen keine ratio entnehmen, die in ihrer Klarheit und Generalität mit einer Rechtsregel vergleichbar wäre.139 Denn nach dem Selbstverständnis der Richter betrifft auch ein Präjudiz zunächst nur die Entscheidung eines Einzelfalles.140 Es beruht auf ganz individuellen Umständen, die im Urteil nicht nur eingehend gewürdigt werden, sondern die auch weiterhin aufs Engste mit dem Spruch des Gerichts zu einer Einheit verbunden bleiben.141 Nach englischem Verständnis ist ein precedent daher nichts anderes als eine bestimmte faktische Konstellation, der eine feststehende rechtliche Bedeutung zugemessen wird. Verallgemeinerungen aus einem solchen Konglomerat von Tatsachen und Rechtsansichten, das sich oft schon deshalb schwer fassen lässt, weil es von mehreren Richtern geschaffen wurde, sind deshalb stets problematisch. Ebenso muss zur Beurteilung eines weiteren Falles zunächst ausführlich dessen Sachverhalt analysiert werden; daraufhin führen die Parteien Präjudizien an, die aufgrund verschiedener tatsächlicher Elemente für den neuen Fall relevant sein können. Niemals aber geht es darum, eine Regel aus einem zuvor ergangenen Urteil einfach anzuwenden.142

Baker, An Introduction to English Legal History, S. 82 ff. Baker, An Introduction to English Legal History, S. 85. 137 Vogenauer, Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, S. 58 ff.; Berman, Law and Revolution, II, S. 274 f. 138 Vogenauer, Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, S. 64 ff. 139 Legrand, Alterity: About Rules, for Example, S. 30. Besonders im 19. Jahrhundert war unter Richtern die Ansicht verbreitet, das common law könne nicht kodifiziert werden, weil es keine Regeln enthalte. Eine ratio decidendi sei zu konkret, um sie mit einer Gesetzesnorm gleichzusetzen. Gleichwohl ließen sich dem Fallrecht flexible Prinzipen entnehmen. Siehe hierzu Lobban, Legal Theory and Judge-Made Law in England, 1850–1920, S. 564 ff. 140 Vgl. Legrand, Alterity: About Rules, for Example, S. 23 und 26. 141 Vgl. Legrand, Alterity: About Rules, for Example, S. 27 f. 142 Stein, Roman Law, Common Law, and Civil Law, S. 1600. 135 136

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Zwar finden sich auch Leitentscheidungen, in denen rules oder principles offen ausgesprochen werden. Auf solche greifen Richter jedoch nur ungern zurück; stattdessen ziehen sie es vor, sich eines konkreteren Präzedenzfalles zu bedienen und dessen Gehalt analog fortzubilden. Dadurch bleibt die entscheidungserhebliche Norm verborgen und wird gleichzeitig modifiziert.143 Im common law ist deshalb die Detailebene teilweise sehr ausgeprägt, außerdem ist die Elementarebene mit relativ grobmaschigen Prinzipien angefüllt, während die mittlere Ebene, die der Regeln, überraschend undeutlich konturiert ist.144 Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zum deutschen Recht, dessen Regelebene der Gesetzgeber weitgehend vorgegeben hat, wohingegen die Details von der Rechtsprechung geklärt werden müssen und es der Wissenschaft vorbehalten bleibt, die Prinzipienebene aufzudecken. Im englischen Recht fehlen dagegen mitunter ganz wesentliche normative Festlegungen.145 Selbst wenn zu einer bestimmten Rechtsfrage bereits mehrere Präjudizien vorliegen, sieht sich der Jurist häufig gezwungen, seine Antwort einzuschränken: „This is probably the law.“146 Die dem common law eigentümliche Vgl. Legrand, Alterity: About Rules, for Example, S. 24 f. Ähnlich G. Teubner, Legal Irritants, S. 21. Auch Stürner, Das Zivilrecht der Moderne und die Bedeutung der Rechtsdogmatik, S. 13, konstatiert, im englischen Liegenschaftsrecht fehle eine „konstruktive Zwischenschicht“, die zwischen Prinzipien und Fallgruppen vermittelt. 145 So fehlen beispielsweise noch immer eindeutige Regeln, mit der die Kausalität kumulativer oder sukzessiver Sorgfaltspflichtverletzungen für erlittene Schäden festgestellt werden könnte; siehe dazu Mullis / Oliphant, Torts, S. 123 ff. Lange geschwankt hat die Rechtsprechung auch in der praktisch bedeutsamen Frage, ob das Arbeitsverhältnis eines Leiharbeitnehmers (agency worker) mit dem Verleiher (temporary work agency) oder dem Entleiher (end-user) besteht; siehe hierzu Freedland, The Personal Employment Contract, S. 43 ff. 146 An dieser Stelle darf ein Hinweis auf Wolfgang Fikentschers eindrucksvolle Charakterisierung des common law als „eines Schritt für Schritt vordringenden Normenbestandes“ nicht fehlen. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Band II, S. 64 ff., – und seiner Auffassung nach ebenso der englische Jurist – stellt sich „die Rechtsentwicklung als ein langsames Vordringen von Fallrecht und Gesetzesrecht in einen bisher nicht für das Recht in Anspruch genommenen Raum“ vor. Das englische Recht „ist dabei vergleichbar einem Lavastrom, der sich unregelmäßig, fingerförmig und mit mehr oder weniger großen Zwischenräumen über eine Landschaft hin vorschiebt“. Somit verbleibt stets ein „[f]allrechts- und gesetzesrechtsfreier Lebensraum“, in dem ein Naturzustand allgemeiner Handlungsfreiheit herrscht. Mit seinen allegorischen Umschreibungen bringt Fikentscher bedeutsame Aspekte der englischen Rechtsgeschichte pointiert zum Ausdruck. Als Aussage über die Vorstellungswelt englischer Juristen sind sie indes problematisch: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dominierte in England die deklarative Theorie, derzufolge alles Recht bereits seit unvordenklicher Zeit vorhanden sei und von den Richtern erst allmählich entdeckt werde. Die Annahme eines fallrechtsfreien Naturzustandes ist zu sehr als Gegenstück zur Austinianischen Imperativentheorie gedacht oder verallgemeinert doch zumindest den Standpunkt des individualistischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts in unzutreffender Weise. 143 144

3. Die Rechtsarmut des common law

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Rechtsarmut erschwert Generalisierungen, denn wo besondere Tatbestände fehlen, lässt sich kein allgemeiner Begriff bilden. Akademische Juristen sind deshalb zunächst vor die Aufgabe gestellt, die geltenden Rechtsnormen korrekt zu beschreiben, bevor sie sich einer Systematisierung zuwenden können. b) Fiktionen als Mittel der Rechtsfortbildung Dogmatischem Denken besonders abträglich war indes die Weise, auf welche sich die Ausdehnung des common law vollzog: Unplanmäßig und in kleinen Schritten, dabei stets am Bestehenden festhaltend147. So entstand ein außergewöhnlich kompliziertes Gebilde, das sich, wenn überhaupt, nur mühevoll in eine ebenmäßige Form bringen ließ. Die wichtigsten Impulse für einen Wandel des Rechts gingen nämlich von Myriaden pragmatischer, meist prozesstaktisch motivierter und vorläufig auf den Einzelfall beschränkter Manipulationen findiger Anwälte aus.148 Mit ihren Winkelzügen gelang es ihnen, überkommene prozessuale Mittel zur Erreichung neuer Zwecke einzusetzen. In verhängnisvoller Weise kaschierten sie jedoch gerade die Neuerungen und ließen stets den Eindruck entstehen, alles bliebe beim Alten. Dadurch verhinderten sie, dass Regelungsprobleme offen ausgesprochen und einer grundsätzlichen Lösung zugeführt wurden. Etwa seit der Mitte des 13. Jahrhunderts wurden keine neuen writs mehr geschaffen, sondern nur noch schon einmal erteilte variiert. Unter den Angehörigen des anglo-normannischen Hochadels regte sich Unmut darüber, wie der König durch die Erteilung neuer Rechtsbehelfe mit Leichtigkeit geltendes Recht änderte und in bestehende Privilegien eingriff. Im Machtkampf mit der 147 Die Erklärung des allmählichen Bedeutungswandels rechtlicher Kategorien (und weniger der Kontinuität) ist seit jeher das Generalthema der englischen Rechtsgeschichte. Heute dominiert eine Richtung, die größten Wert auf „interne“ Faktoren wie die die Ausgestaltung des Prozesses oder die Kanonisierung rechtlichen Wissens in den Inns of Court legt. Grundlegend wurde das Entwicklungsschema Milsoms, wonach kleine, oftmals unbeabsichtigte Bedeutungsverschiebungen einzelner Worte oder Experimente mit leicht vom Üblichen abweichenden Plädoyers langfristig tief greifende Veränderungen bewirkt haben sollen (Milsom, Reason in the Development of the Common Law. Demgegenüber fallen „externe“ Faktoren, also soziale Umstände oder politische Einflussnahme, insgesamt deutlich weniger ins Gewicht (siehe beispielsweise Baker, English Law and the Renaissance, S. 47 ff.; Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 294 ff.). Dagegen regt sich in jüngerer Zeit Widerstand: Vor allem Palmer, English Law in the Age of the Black Death, 1348–1381, S. 296 ff., sowie Brand, The Making of the Common Law, wollen Entstehung und Wandel des common law mit gezielten Maßnahmen, insbesondere gouvernementalen Reaktionen auf drastische Veränderungen des Sozialgefüges, erklären. 148 Demgegenüber fiel den Richtern bei der Rechtsentwicklung lange die weitgehend passive Rolle zu, den einfallsreichen Vortrag eines Anwalts zu billigen und seinem Opponenten keine Einrede zuzugestehen. Von Richterrecht lässt sich deshalb schwerlich sprechen. Vgl. hierzu Milsom, A Natural History of the Common Law, S. 27, sowie Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 296.

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Zentralgewalt setzten die Magnaten deshalb durch, dass der Chancellor neue Klageformulare nur noch mit ihrer Zustimmung schaffen durfte.149 Damit war nicht nur die unkontrollierte Vermehrung der Rechtsbehelfe beendet. Auch die grundlegenden Kategorien des englischen Rechts standen nunmehr nahezu unveränderlich fest.150 Um ihren Mandanten auch in unvertypten Fallgestaltungen Zugang zu einem der königlichen Gerichte zu verschaffen oder um langwierige, risikobehaftete Verfahren zu umgehen, blieb den Anwälten nichts anderes übrig, als die Anwendbarkeit vorteilhafter actions mit Hilfe von Fiktionen zu erzwingen.151 Manchmal war es nur erforderlich, zu prätendieren, ein in Wirklichkeit nicht gegebenes Tatsachenerfordernis liege vor. So sind aus dem Spätmittelalter zahlreiche Fälle überliefert, in denen der writ of trespass, der damals noch die Anwendung von Waffengewalt (vi et armis) voraussetzte, für die Verletzung vertraglich geschuldeter Sorgfalt, zum Beispiel beim Beschlagen eines Pferdes, beantragt und auch zugelassen wurde. Infolgedessen mussten solche Streitigkeiten nicht mehr vor den lokalen Gerichten ausgefochten werden, die es dem Beklagten erlaubten, sich der Haftung durch einen Reinigungseid zu entziehen.152 Häufiger und für die doktrinelle Entwicklung folgenreicher waren solche Fiktionen, die über das Fehlen einer rechtlich definierten Voraussetzung hinweghalfen. Aus dem reichen Fundus advokatorischer Winkelzüge seien hier nur die wichtigsten herausgehoben: Seit dem Spätmittelalter wurde die – nach heutigen Begriffen deliktische – action of trespass on the case verwendet, um Die Provisions of Oxford (1258) bestimmten, dass neue Rechtsbehelfe nur mit Zustimmung des Königs und seines Kronrates gewährt werden durften; dies blieb auch nach ihrer Aufhebung im Jahre 1261 Konsens. Das Kapitel 24 des Statute of Westminster II (1285) führte bereits wieder zu einer gewissen Auflockerung, indem es der chancery die Befugnis verlieh, in Fällen, die eine gewisse Ähnlichkeit zu den bereits anerkannten Fallgruppen aufwiesen, einen neuen writ zu gewähren. Ob von dieser Bestimmung überhaupt Gebrauch gemacht wurde, ist allerdings zweifelhaft. Weshalb wären sonst all die Fiktionen nötig gewesen? Vgl. zum Ganzen Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 41 und 51 f., sowie Street, The Foundations of Legal Liability. Volume III, S. 33 ff.). 150 Vgl. Pollock / Maitland, The History of English Law before the Time of Edward I. Band 1, S. 174 („At the end of that period [d. h. der Regierungszeit Henry III., 1216–1272] most of the main outlines of our medieval law have been drawn for good and all; the subsequent centuries will be able to do little more than to fill in the details of a scheme which is set before them as unalterable“). 151 Die Zuständigkeitsfiktionen, mit denen der Court of King’s Bench und der Court of Exchequer Verfahren an sich zogen, die eigentlich vor den Court of Common Pleas gehörten, können im Folgenden außer Betracht bleiben, weil aus ihnen keine materiellen Doktrinen hervorgingen. Über sie unterrichtet Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 79 f. 152 Milsom, A Natural History of the Common Law, S. 31 ff.; Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 41 ff. 149

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wegen einer Schlechtleistung im Rahmen eines Vertrages Schadensersatz zu verlangen. Dies wurde erreicht, indem man dem Beklagten die Übernahme einer Sorgfaltspflicht (assumpsit) oder Betrug (deceit) vorwarf, und zwar auch dann, wenn es dafür keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte gab. In der Frühen Neuzeit ließen es die Richter des Court of King’s Bench ebenfalls zu, mit dieser action, die doch eigentlich ein Fehlverhalten voraussetzte, aufgrund eines fiktiven Leistungsversprechens (assumpsit) Schadensersatz wegen bloßer Nichtleistung, einschließlich der Nichtzahlung einer geschuldeten Geldsumme, zu fordern. Dadurch gelang es, die tatsächlich einschlägigen, aber mit Nachteilen behafteten Klagearten covenant (die eine gesiegelte Vertragsurkunde voraussetzte) und debt (bei der eine bestimmte Summe gefordert werden musste und dem Beklagten der Reinigungseid offenstand) zu umgehen.153 Am Ende des 18. Jahrhunderts konnte die assumpsit-Klage schließlich auch eingesetzt werden, wenn der Kläger an den Beklagten irrtümlich etwas geleistet hatte; in solchen Fällen unterstellte man zunächst ein Rückzahlungsversprechen (indebitatus assumpsit), später sogar einen Rückzahlungsvertrag. An dieser Fiktion wurde auch dann noch festgehalten, wenn der Beklagte rechtswidrig in das Vermögen des Klägers eingegriffen hatte.154 Bizarr mutet das Prozedere an, mit dem Parteien, die über Herrschaftsrechte an einem Grundstück stritten, seit der Tudorzeit von den schwerfälligen und kostspieligen real actions auf die neue action of ejectment auswichen. Diese Klage sollte eigentlich den Besitz des Pächters schützen, ermöglichte aber durch kollusives Zusammenwirken auch eine Inzidentprüfung der Eigentumsverhältnisse. Um diese in Anspruch zu nehmen, gab die eine Partei vor, sie habe ihr Grundstück verpachtet. Bald darauf habe ein Handlanger der anderen Partei das Grundstück betreten, den Pächter depossediert und sei von der anderen Partei zum Pächter eingesetzt worden. Nun gab die erste Partei vor, ihr fiktiver Pächter habe eine Klage gegen den Besitzstörer angestrengt. Dazu sendete ihr Anwalt der gegnerischen Partei eine fingierte Mitteilung des angeblichen neuen Pächters, in der dieser erklärte, er wolle sich nicht verteidigen, sondern überlasse es dem vermeintlichen Besitzer, sein besseres Recht geltend zu machen. Schließlich klagte die eine Partei anstelle ihres Pächters gegen die andere Partei. Die jury hatte nun über den Vortrag, die ursprünglich besitzende Partei sei Eigentümerin des Grundstücks, zu befinden.155

153 Ausführlich zu dieser Entwicklung Baker, An Introduction to English Legal History, S. 329 ff., sowie Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 48 ff. und 126 ff. 154 Zusammenfassend S. Meier, Irrtum und Zweckverfehlung, S. 3 f. Zu den Einzelheiten siehe Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 276 ff. 155 Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 57 ff.; Baker, An Introduction to English Legal History, S. 301 ff.; Berman, Law and Revolution, II, S. 278.

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Ebenfalls auf Fiktionen verlassen musste sich, wer sein Eigentum an beweglichen Sachen schützen wollte. Ein Herausgabeverlangen konnte ursprünglich nur mit dem writ of detinue geltend gemacht werden. Dies setzte jedoch voraus, dass der Kläger eine lückenlose Kette von Besitzbeziehungen (bailments) nachweisen konnte, aufgrund derer die Sache in die Hände des Klägers gelangt war (devenit ad manus). Da dies häufig nicht gelang, bedienten sich Anwälte seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert eines Kunstgriffs, um eine vergleichbare Nähebeziehung zu etablieren: Sie trugen vor, der Kläger habe die in Rede stehende Sache verloren, der Beklagte aber habe sie gefunden und halte sie nun ungerechtfertigt zurück (detinet sur trover). Eine wesentliche Schwäche von detinue zeigte sich allerdings, wenn der Beklagte die Sache verloren, verbraucht oder in verschlechtertem Zustand zurückgegeben hatte; in diesen Fällen konnte er ohne Besorgnis um sein Seelenheil beschwören, er besitze die Sache nicht mehr und sich damit einer Haftung entziehen. Seit dem 16. Jahrhundert wichen Kläger deshalb einmal mehr auf die action on the case aus, mit der zumindest Schadensersatz verlangt werden konnte, wenn der Beklagte die Sache angeblich gefunden und diese vorsätzlich beschädigt oder verarbeitet hatte (trover and conversion). Anfang des 17. Jahrhunderts wurde dann auch die letztgenannte Voraussetzung bis an die Grenze einer Fiktion ausgedehnt: Nun lag eine conversion bereits im bloßen Bestreiten des Eigentums des Klägers.156 Vermutlich entsprachen manche dieser standardisierten Behauptungen ursprünglich der Wahrheit und erhielten erst später ihren fiktiven Charakter.157 Sie offen als wahrheitswidrig anzugreifen blieb den Beklagten meist verwehrt, weil die Gerichte in Westminster sich nicht mit Tatsachenfragen befassten und darauf drängten, dass der gesamte klägerische Vortrag bestritten wurde.158 Im Laufe der Jahrhunderte wuchs das Arsenal der Manipulationen nicht nur beständig an, sondern ihr Gebrauch wurde auch zunehmend verbindlich, weswegen im Zeitalter Blackstones praktisch kein Verfahren mehr ohne den Einsatz einer oder mehrerer Fiktionen auskam.159 Wie solche Fiktionen die Entstehung einer Dogmatik des englischen Rechts verhinderten, lässt sich an ihrer Funktionsweise ablesen. Sie dienten dazu, Defizite der Rechtsordnung zu überbrücken, ohne dabei das Problem selbst anzugehen oder auch nur zu benennen. Die Anwälte des Klägers erzwangen die Anwendung eines eigentlich nicht einschlägigen writs auf einen Zum Ganzen Baker, An Introduction to English Legal History, S. 391 ff.; Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 33 ff. und 107 ff. 157 Vgl. Milsom, A Natural History of the Common Law, S. 34 und 41 ff. Gelegentlich dürfte eine Fiktion auch durch die extensive Auslegung eines Tatbestandsmerkmals vorbereitet worden sein; vgl. hierzu Baker, Legal Fictions, S. 42 f. 158 Vgl. Baker, Legal Fictions, S. 49 ff. Zur general traverse als dem üblichen Beklagtenvortrag siehe oben, S. 137. 159 Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 6 f. 156

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neuen Fall, indem sie den wahren Sachverhalt verschleierten und stattdessen einen anderen Tatbestand vortäuschten. Hierdurch wurde nicht selten gerade derjenige Aspekt unterdrückt, der für die rechtliche Einordnung eines Falles entscheidend hätte sein müssen: Wenn also mit trespass Schadensersatz wegen einer Sorgfaltspflichtverletzung eingeklagt werden sollte, blieb ausgerechnet die Vertragsbeziehung ohne Erwähnung.160 Stattdessen rückten andere Aspekte in den Vordergrund, die für eine Charakterisierung der Klageart unerheblich oder sogar sachfremd waren, wie beispielsweise der Gesichtspunkt des deceit bei der action on the case oder der fiktive Rückzahlungsvertrag als Grundlage der indebitatus-assumpsit-Klage. Überdies brachte die taktisch motivierte Einkleidung des Klagebegehrens Chimären hervor, die eine eindeutige Kategorisierung vieler actions erschwerte und erst recht eine Klassifizierung anhand römischrechtlicher Begriffe unmöglich machte. Der Form nach blieb die action of ejectment eine possesorische Klage, wenngleich sie ihrem Inhalt nach als petitorisch eingeordnet werden musste.161 Hingegen war die action on the case for trover and conversion äußerlich eine deliktische Klage, denn mit ihr konnte ausschließlich Schadensersatz verlangt werden und als action in personam war sie auch nicht übertragbar. Gleichzeitig diente sie jedoch dazu, die Eigentümerstellung des Klägers festzustellen und wandelte sich zunehmend zu einer verschuldensunabhängigen Haftung.162 Umgekehrt wirkte der fiktionsgestützte Gebrauch einer eigentlich sachfremden Klageart nicht selten wie eine fehlgeleitete Konstruktion: So führte beispielsweise der vordergründig deliktische Charakter der assumpsit-Klage dazu, dass bei Vertragsbruch vor den common law-Gerichten nur Schadensersatz, nicht aber Erfüllung geltend gemacht werden konnte.163 Im Extremfall konnte die Fiktion sogar zu einer materiellen Tatbestandsvoraussetzung mutieren und damit eine – zumindest nach kontinentaleuropäischen Verständnis – korrekte Kategorienbildung verhindern. So wurde der im Rahmen einer indebitatus assumpsit-Klage fingierte Rückzahlungsvertrag im 19. Jahrhundert wie ein echter Vertrag behandelt, weswegen auf ihn die für Verträge geltenden Regeln über Geschäftsfähigkeit, Formerfordernisse oder Verjährung anzuwenden waren.164 Eine besonders weitreichende Konsequenz dieser Fiktion bestand jedoch darin, dass sich das Bereicherungsrecht nicht zu einem eigenständigen Rechtsgebiet entwickeln konnte, sondern nur als Anhängsel zum Vertragsrecht verstanden wurde. Das seit dem 18. Jahrhundert Milsom, A Natural History of the Common Law, S. 34. Berman, Law and Revolution, II, S. 278. 162 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 399; Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 110 ff. 163 Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 297. 164 Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 278 ff. 160 161

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aus dem Naturrecht bekannte Prinzip der ungerechtfertigten Bereicherung, das neben indebitatus assumpsit noch eine Reihe weiterer Klagetypen in sich hätte aufnehmen können, fand deshalb erst am Ende des 20. Jahrhunderts Eingang in das englische Recht.165 Während manche Fiktionen die Abschaffung der forms of action durch den Common Law Procedure Act von 1852 überdauern konnten, hinterließen andere ein Vakuum, das nur schwer durch Prinzipien auszufüllen war:166 Denn wie sollte man die vorgetäuschten Verpachtungen und Entsetzungen, die doch unzweifelhaft zu einer action of ejectment gehörten, in Tatbestandsmerkmale einer materiellen Norm übersetzen? Und was sollte mit den alten actions geschehen, die dank der Fiktionen zwar außer Gebrauch gekommen, aber niemals abgeschafft worden waren, und deren Anwendungsbereich sich mit dem der neu dazugekommenen Unterarten der action on the case überschnitt? In vielen Konstellationen stand dem Kläger nämlich neben dem üblich gewordenen (äußerlich deliktischen) Rechtsbehelf formal weiterhin ein mittelalterlicher (vertraglicher oder dinglicher) Rechtsbehelf zur Verfügung.167 Nach den viktorianischen Reformen lebten deshalb viele Doppelungen als materiellrechtliche Konkurrenzen wieder auf, wie beispielsweise im Falle von detinue und conversion, die jetzt als Delikte unter ähnlichen Voraussetzungen das Eigentum an beweglichen Sachen schützen.168 Zwar wäre es einseitig, den Wandel des englischen Rechts ausschließlich als Abfolge kurzsichtiger Umgehungsmanöver zu beschreiben. Keineswegs unterschätzt werden darf insbesondere die Leistung einzelner Richter für die Ordnung und Vereinfachung des Rechts, wie beispielsweise Lord Nottingham (Lord Chancellor 1675–1682), Lord Mansfield (Chief Justice of the King’s Bench 1756–1788), Lord Atkin (Lord of Appeal in Ordinary 1928–1944) oder Lord Diplock (Lord of Appeal in Ordinary 1968–1985). Zweifellos hat es ebenso immer wieder Phasen gesetzgeberischer Konsolidierung und Neuordnung gegeben, angefangen mit der Verschriftlichung des Gewohnheitsrechts durch Edward I. (1272–1307), über die umfangreichen legislativen Eingriffe unter Henry VIII. (1509–1547), bis hin zu den kleinen Kodifikationen des commercial law am Ende der viktorianischen Ära oder dem Companies Act aus dem Jahre 2006. Gerade bei den zuletzt genannten Beispielen handelt es sich jedoch ausschließlich um gewissenhafte Sammlungen von Fallrechtsnormen. Dagegen hat es in England an einem Gesetzgeber, der in planender Voraussicht abstrakte Tatbestände und weitreichende Prinzipien schafft, stets

S. Meier, Irrtum und Zweckverfehlung, S. 4 ff. Baker, An Introduction to English Legal History, S. 68. 167 Vgl. Milsom, The Nature of Blackstone’s Achievement, S. 7. 168 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 399 f. Detinue wurde erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch den Gesetzgeber abgeschafft. 165 166

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gefehlt, und trotz ehrgeiziger Vorhaben ist der große Wurf einer Kodifikation des Privatrechts nie gelungen.169 Unverkennbar dominieren deshalb Veränderungen, die, wenn sie überhaupt als solche intendiert waren, zunächst nur eine geringe Tragweite hatten. Die Kehrseite einer derart kleinschrittigen Fortentwicklung des Rechts ist eine andauernde Unfähigkeit, althergebrachte Doktrinen vollständig abzustreifen und sich von den unbequemen Relikten vergangener Epochen zu befreien. Anders gewendet ist ihre Folge ein beständiges Nebeneinander von Altem und Neuen, und somit ein erhöhter Grad an Komplexität.170 Hierin liegt nicht nur ein praktisches Hindernis für die Genese übergreifender Prinzipien und die dazu mitunter erforderliche Überwindung der Orthodoxie. Auch die theoretische Annahme, das Recht selbst sei bereits systematisch und die zwischen seinen Teilen bestehenden Zusammenhänge müssten nur noch aufgedeckt werden – eine Annahme, die während der Blütezeit dogmatischen Denkens im Deutschland des 19. Jahrhunderts verbreitet war171 – kann mit der Erfahrungswelt englischer Juristen schwerlich in Einklag gebracht werden. c) Die Abwesenheit materiellen Rechts Auf die grundlegende Bedeutung des Aktionensystems für das englische Rechtsdenken haben bereits die Vertreter der Pringsheim-These aufmerksam gemacht.172 Für sich genommen steht eine prozessuale Sichtweise dogmatischem Denken nicht entgegen, denn auch ein Verfahrensrecht lässt sich mit Allgemeinbegriffen und Prinzipien gedanklich vereinfachen. Als Folge der fehlenden Trennung von formellem und materiellen Recht musste allerdings die Übernahme des wichtigsten Begriffssystems der römischen Tradition, der Einteilung der subjektiven Rechte, als wenig erstrebenswert erscheinen. Autoren wie Hale, Blackstone und Austin, die sich dazu entschlossen, das common law als ein System von Rechten darzustellen, begaben sich deshalb freiwillig in eine Außenseiterrolle.173 Ganz überwiegend wurde nämlich in England der Begriff des Rechts (right) mit dem des Rechtsbehelfs (remedy) gleichgesetzt; die entscheidende Frage war stets, welche Klagemöglichkeiten einer Partei zur Verfügung standen.174 Infolgedessen gaben die actions bis Zur Abwesenheit von Zäsuren in der englischen Rechtsgeschichte und zum Widerstand gegen Kodifikationsbestrebungen siehe van Caenegem, Judges, Legislators and Professors, S. 6 ff. und 45 ff. 170 Vgl. Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 301. 171 Dazu oben, S. 35 ff. 172 Siehe oben, S. 125 f. 173 Vgl. Lobban, The Common Law and English Jurisprudence. 1760–1850, S. 13. 174 Diese Haltung ist noch heute verbreitet und wird üblicherweise etwas abwertend mit dem Begriff remedialism bezeichnet. Siehe dazu Atiyah, Pragmatism and Theory in English Law, S. 21 ff., sowie Dedek, From Norms to Facts, S. 86 f. 169

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zum Ende des 19. Jahrhunderts, und in abgeschwächter Form auch noch darüber hinaus, dem Recht eine natürliche Einteilung vor.175 Eine Rationalisierung, die an dieser Eigenstruktur hätte ansetzen wollen, sah sich vor das Problem der zunehmenden Ausdifferenzierung und Abschließung der forms of actions gestellt. Im viktorianischen Zeitalter zählte man 72 verschiedene Klagearten, die jeweils besondere Plädierregeln, Einwendungen, Beweismittel und Vollstreckungsverfahren ausgebildet hatten.176 Zwar war es immer wieder zum Austausch materieller Doktrinen, insbesondere zwischen der älteren und der jüngeren Generation von actions gekommen.177 Dennoch folgte jeder Klagetyp im Wesentlichen seinen eigenen Gesetzen, weswegen sich Maitland die Gesamtheit der writs wie eine große Registratur mit vielen Kästchen dachte: „Each procedural pigeon-hole contains its own rules of substantive law, and it is with great caution that we may argue from what is found in one to what will probably be found in another“. 178 Auf das Genaueste spiegelt sich dieser Zustand im Aufbau der abridgements: Zusammengefasste Entscheidungen werden dort nach den zugehörigen forms of action sortiert; diese sind wiederum in alphabetischer Reihenfolge angeordnet. Insofern versetzte das Aktionendenken die Juristen durchaus in die Lage, das Fallrecht zu disziplinieren und zu strukturieren. Doch bereits das Arrangement des Stoffs zu noch größeren Einheiten, das doch nach kontinentaleuropäischem Verständnis Voraussetzung für die Induktion von Oberbegriffen und Prinzipien ist,179 erwies sich offenbar als schwierig. Manche Rechtsgebiete, wie etwa das Deliktsrecht, waren in so viele actions zersplittert, dass ihr Zusammenhalt zweifelhaft erschien;180 übergreifende Kategorien wie „Law of Obligations“, „Law of Property“ oder gar „Private Law“ blieben, wenngleich nicht völlig unbekannt, so doch unüblich. Der Übergang zum materiellrechtlichen Denken setzte spät ein und vollzog sich keineswegs in allen Bereichen des Rechts gleichzeitig. Das Liegenschafts- und Erbrecht fasste Littleton bereits im 15. Jahrhundert als Korpus materiellrechtlicher Regeln auf und ordnete es nach den verschiedenen Arten des Grundbesitzes.181 Im 17. Jahrhundert unternahm Hale dann den Versuch, das überlieferte Aktionensystem mit einem System subjektiver Rechte zu Vgl. Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 11. Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 4. Zur Eigentständigkeit der einzelnen forms of action vgl. auch van Caenegem, The Birth of the English Common Law, S. 29. 177 So ersetzte zwar die neue action upon the case for trover and conversion die alte action of detinue, nahm jedoch einen Großteil der für die alten Klage geltenden Regeln in sich auf; vgl. Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 107. 178 Maitland, The Forms of Action at Common Law, S. 4. 179 Siehe oben, S. 40 ff. 180 Vgl. unten, S. 281 f. 181 Milsom, The Nature of Blackstone’s Achievement, S. 5. 175 176

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verbinden.182 Erst Blackstone, der sich mit seinen Vorlesungen an juristische Laien richtete, war gezwungen, das Recht in seiner Gesamtheit von außen zu betrachten und es unbelastet von prozessualen Verwicklungen darzustellen. Um Übersichtlichkeit und Verständlichkeit bemüht, ordnete er den Stoff nach Realitätsausschnitten und schuf damit neue, kontextuelle Kategorien.183 Schließlich gelang es den viktorianischen Professoren, sich vollständig vom Aktionendenken zu lösen und Systeme materiellrechtlicher Regeln und Prinzipien zu bilden.184 d) Der späte Aufstieg der Rechtswissenschaft Zu den Entstehungsbedingungen der deutschen Rechtsdogmatik im 19. Jahrhundert zählte unzweifelhaft die starke Stellung der Wissenschaft im Rechtsleben. Das Selbstbewusstsein der Rechtswissenschaft zeigte sich nicht zuletzt in ihrem freien, schöpferischen Umgang mit den römischen Quellen. Ob es nun darum ging, Verwandtschaften zwischen den Rechtssätzen aufzudecken oder den Rechtsstoff zu vereinfachen – die Gelehrten nahmen sich eine „natürliche Freiheit der Auslegung“185 heraus, die es ihnen gestattete, sich gelegentlich über unwillkommene, weil mit ihren Entwürfen nicht vereinbare, Einzelheiten hinwegzusetzen. Viele Universitätsjuristen erhoben sogar den Anspruch, „wissenschaftliches Recht“ zu schaffen. Demgegenüber wiesen sie dem Richter die bescheidene Rolle eines mechanischen Gesetzesvollstreckers zu.186 Auch als die Protagonisten der Rechtsentwicklung im Zeitalter der Kodifikation zu einem Verhältnis arbeitsteiliger Kooperation gefunden hatten, nahm die deutsche Rechtswissenschaft gegenüber Gesetzgebung und Rechtsprechung überwiegend eine kritische Haltung ein und begriff sich weiterhin als Wegbereiter des rechtlichen Fortschritts.187 Wie selbstverständlich wirken Professoren heute im Gesetzgebungsprozess als Berater mit und debattieren über Auslegungsfragen, noch bevor die Gerichte die erste Gelegenheit erhalten, über diese zu entscheiden. In England bildete sich demgegenüber ein grundlegend anderes institutionelles Gefüge heraus. Rechtswissenschaftler fehlten viele Jahrhunderte lang vollständig. Die Richter erlangten dagegen bereits im Spätmittelalter nicht nur das höchste berufliche Prestige, sondern auch ein faktisches Monopol auf die Fortbildung des Rechts. Aufgrund dieser Konzentration rechtlicher AutoDazu oben, S. 82 ff. Milsom, The Nature of Blackstone’s Achievement, S. 2 ff. Zu Blackstone siehe oben, S. 87 ff. 184 Siehe oben, S. 93 f. 185 Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Erster Band, S. 315. 186 Differenzierter zum Richterbild der Pandektistik allerdings Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? 187 Siehe oben, S. 38 f. 182 183

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rität erreichten ihre Entscheidungen einen Grad an Verbindlichkeit, der beinahe an Unfehlbarkeit grenzte. Den Universitätsjuristen, die sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierten, war es deshalb weitgehend verwehrt, sich über richterliche Doktrinen hinwegzusetzen und das Richterrecht dogmatisch umzuformen. Die beherrschende Stellung der Richter im englischen Rechtssystem lässt sich bis in das 15. und 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Damals boten erfahrene Anwälte an den Inns of Court Vorlesungen und simulierte Gerichtsverhandlungen an, in denen sich künftige Praktiker ihr rechtliches Wissen aneignen sollten, und an denen regelmäßig auch Richter teilnahmen. In den readings kommentierten die Vortragenden den Wortlaut wichtiger Gesetze188 Satz für Satz, indem sie in kasuistischer Manier alle möglichen, tatsächlich aufgetretenen oder bloß erfundenen Konstellationen durchspielten. Dabei ging es weniger um Originalität als vielmehr um die Weitergabe kollektiven Wissens. Die reader übernahmen oftmals die Manuskripte ihrer Vorgänger; sie selbst stiegen durch die Vorlesungstätigkeit in der Anwaltshierarchie zu benchern auf. Der Unterricht war derart institutionell verfestigt, dass man die Inns of Court in der Tudorzeit als „the Third University of England“ bezeichnete. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als sich die Lehrenden zunehmend durch extravagante Fallexpositionen auszuzeichnen suchten und gelegentlich sogar Kontroversen zwischen den verschiedenen Inns auftraten, nahm die Autorität der readings spürbar ab.189 Der eigentliche Grund für den Bedeutungsverlust der Lehre an den Inns of Court liegt jedoch in der gewachsenen Bereitschaft der Richter, auf offene Rechtsfragen eine Antwort zu geben, und dem größeren Gewicht, das ihre Entscheidungen dadurch erlangten.190 Die Äußerungen der hochrangigsten Vertreter des Berufsstandes waren von nun an wichtiger als die in den Vorlesungen tradierte Rechtsüberzeugung. Der Grundsatz, dass neue Urteile möglichst auf vorangegangene Entscheidungen gestützt werden sollten, war dabei zunächst nur ein Gebot der Vernunft. Demzufolge blieb es im 17. und 18. Jahrhundert noch zulässig, einzelne Präjudizien als fehlerhaft zu deklarieren und zu übergehen.191 Erst als man im 19. Jahrhundert begann, größeren Wert auf Rechtssicherheit zu legen, kam die strenge Bindung an Vorentscheidungen auf. Damit die Bürger die rechtlichen Folgen ihres Handelns genau vorhersehen konnten, war jedes einzelne Präjudiz zu beachten, und zwar auch dann, wenn es nur schwerlich mit anderen Gerichtsentscheidungen

Beliebt waren beispielsweise das Kapitel De donis conditionalibus aus dem Statute of Westminster II, das Statue of Wills oder das Statute of Uses. 189 Zum Ganzen siehe Baker, The Inns of Court and Legal Doctrine. 190 Baker, The Inns of Court and Legal Doctrine, S. 50 f. 191 Berman, Law and Revolution, II, S. 274 f. 188

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in Einklang gebracht werden konnte.192 Die Bindungswirkung aller bereits ergangenen Entscheidungen führte deshalb dazu, dass Inkonsistenzen und Idiosynkrasien der Rechtsprechung perpetuiert wurden und sich diese in ein unüberwindbares Hindernis für eine dogmatische Vereinfachung des Rechts verwandelten. Diese Problematik verschärfte sich noch, nachdem nicht mehr nur die normativen Aussagen eines Urteils, sondern auch die sie tragenden Begründungen (rationes decidendi) verbindlich geworden waren. Wie aber sollte eine Entscheidungskette auf einen allgemeinen Rechtsgedanken zurückgeführt werden, wenn die Richter im Laufe der Zeit völlig unterschiedliche Begründungen, teilweise sogar in demselben Urteil, verwendet hatten? Die Unantastbarkeit jedes einzelnen Richterspruchs machte die Rationalisierung des englischen Rechts zu einem nahezu aussichtslosen Unterfangen. Impulse für die Verbreitung dogmatischen Denkens hätten daher nur von einer selbstbewussten Rechtswissenschaft ausgehen können, die bereit gewesen wäre, die fachliche Autorität der Richter ernsthaft in Frage zu stellen. Tatsächlich befanden sich die Universitätsjuristen zunächst in der Defensive und mussten sich ihr Ansehen mühevoll erarbeiten. Juristische Studiengänge wurden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingerichtet. Doch die Zahl der Studenten war anfangs verschwindend klein und stieg auch nach dem Ersten Weltkrieg nur geringfügig an.193 Wer den freien Beruf eines barrister ergreifen wollte, studierte vorzugsweise alte Sprachen oder Philosophie und erwarb seine Rechtskenntnisse während der praktischen Ausbildung in einer Anwaltssozietät.194 Das Studium der Jurisprudence blieb den mittelmäßigen Schulabsolventen vorbehalten, denen man gute Leistungen in den klassischen Fächern nicht zutraute.195 Viele Rechtslehrer hatten selbst niemals Recht an der Universität studiert und waren zu dieser Profession nur gelangt, weil sie in ihrem eigentlichen Fachgebiet keine Aussicht auf eine Anstellung hatten.196 Entsprechend gering war das Prestige der Rechtswissenschaft selbst an den Universitäten.197 Mit geradezu unverhohlener Verachtung begegneten den akademischen Juristen auch viele Richter und Anwälte: Die theoretische Vogenauer, Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, S. 70 f. Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 106 f. und 128 f. 194 van Caenegem, Judges, Legislators and Professors, S. 60. 195 Simpson, Reflections on The Concept of Law, S. 65, berichtet anschaulich über den geringen Stellenwert, den das Jurastudium in Oxford noch zu Beginn der 1950er Jahre hatte („The law school was at this time used by some colleges as the dumping ground for undergraduates whose abilities, or enthusiasms, were too low for them to have any chance of success in more serious schools“). 196 Simpson, ebd. 197 Vielen Hochschullehrern galt eine praktische Materie wie das Recht als einer wissenschaftliches Behandlung unwürdig. Siehe nur Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 109 ff. und 112 ff., sowie Simpson, Reflections on The Concept of Law, S. 63. 192 193

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Auseinandersetzung mit dem Recht schien ihnen von geringem Nutzen zu sein und bestenfalls als Notlösung für solche Juristen geeignet, die es in der Praxis zu nichts gebracht hatten.198 Zudem wurden die Rechtslehrer Opfer einer Konvention, nach der es verboten war, lebende Autoren bei Gericht als „authority“ zu zitieren.199 Damit war gemeint, dass ihren Schriften keine Bindungswirkung im Sinne einer echten Rechtsquelle zukommen konnte, so wie es für nur ganz wenige altehrwürdige Werke, wie beispielsweise Littletons „Tenures“ oder Cokes „Commentaries“, anerkannt war.200 Diese Festlegung ist wohl als Reaktion der Richterschaft auf die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts florierenden Praktikerlehrbücher zu verstehen, mit denen sich erfolglose barristers für höhere Weihen als bencher oder gar als Richter empfehlen wollten.201 Die ursprüngliche Begründung der Konvention lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren, aber vieles spricht für einen Zusammenhang mit der damals gerade entstehenden stare decisisDoktrin beziehungsweise dem wachsenden Bedürfnis nach Rechtssicherheit, die bei lebenden Autoren, welche ihre Meinung noch ändern konnten, gerade nicht garantiert werden konnte.202 Den Richtern war es zwar formell erlaubt, aus der Literatur zu zitieren und sich die dort vertretenen Auffassungen über den Stand des Rechts zu eigen machen.203 Trotzdem führte die Konvention zu einer gewissen Unsicherheit unter Praktikern, inwieweit die Verwendung juristischer Literatur im Prozessbetrieb gestattet war. Sicherheitshalber sprachen die Richter den Werken lebender Autoren nicht nur eine Bindungswirkung, sondern auch gleich jegliche Relevanz ab.204 Die Botschaft, die von dieser forensischen Etikette auf die gerade entstehende Rechtswissenschaft ausging, war jedenfalls entmutigend: Der Universitätsjurist besitzt – im Gegensatz zu den Lords – keine Autorität ex officio. Ansehen kann er sich allenfalls derivativ erwerben, indem er das von den Richtern geschaffene Recht besonders akkurat darstellt und auf dogmatische Umformungen oder gar Kritik verzichtet.205 Die Konvention wies dem legal Bridge, The Academic Lawyer, S. 489 f. Die Konvention wird eingehend erörtert bei Braun, Burying the Living?, sowie Duxbury, Jurists and Judges, S. 62 ff. 200 Zu den „Books of Authority“ siehe Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 235 ff. 201 Zu den äußeren Umständen der Entstehung der ersten legal treatises am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie zu den beschränkten inhaltlichen Ambitionen ihrer Autoren siehe Simpson, The Rise and Fall of the Legal Treatise, S. 662 ff., sowie Baker, An Introduction to English Legal History, S. 191 f. 202 Braun, Burying the Living?, S. 44. 203 Braun, Burying the Living?, S. 37. 204 Braun, Burying the Living?, S. 46 f. 205 Atiyah, Pragmatism and Theory in English Law, S. 37, stellte im Jahre 1987 resigniert fest: „[M]uch legal research is simply devoted to reading about, and restating the law in convenient and accessible form. The purpose of the English legal textbook, or the 198 199

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scholar also die Rolle eines bloßen Beobachters der Rechtsentwicklung zu. Lehrbücher beschränkten sich daher üblicherweise auf eine informatorische Darstellung des Fallrechts, indem sie unter Überschriften, die sich an wichtigen von der Rechtsprechung vorgegebenen Begriffen orientierten, entschiedene Fälle in chronologischer Reihenfolge wie an einer Perlenkette aufreihten. Deshalb blieb die englische Jurisprudenz bis zur Mitte der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts eine Disziplin von geringem Renommee und weitgehend ohne Einfluss auf die Fortbildung des Rechts.206 Erst durch die Bildungspolitik der Nachkriegszeit gewann auch die Rechtswissenschaft in England zunehmend an Bedeutung. Allein durch den Ausbau der Hochschulen hat sich in seit Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts die Zahl der Rechtslehrer mehr als verzehnfacht;207 die Zahl der Studenten erhöhte sich auf das Vierfache.208 Für solicitors, in geringerem Maße auch für barristers, wurde es üblich, vor Beginn der praktischen Ausbildung ein Jurastudium zu absolvieren; zur Jahrtausendwende lag die entsprechende Quote für beide Berufsgruppen zusammen bei etwa 75%.209 Im Zuge der institutionellen Expansion wandelte sich auch der Charakter der Forschung. Die wachsende Konkurrenz der legal scholars untereinander führte nicht nur zu einem enormen Anstieg der Veröffentlichungen, sondern auch zu einer stärkeren Spezialisierung: Bald gab es für jedes Rechtsgebiet nicht nur eine Vielzahl an Lehrbüchern, sondern auch eigene Zeitschriften. 210 Spätestens in den Neunzigerjahren setzte sich die Promotion als Einstellungsvoraussetzung für eine Dozentenstelle durch; nun kam es zu einer regelrechten Flut an Monographien. Die Universitätsjuristen richteten sich mit ihren Publikationen auch nicht mehr überwiegend an Studenten, sondern verstärkt an Kollegen und Praktiker. Während es anfangs noch als Sakrileg gegolten hatte, ein Urteil als falsch zu brandmarken, fanden juristische Schriftsteller immer häufiger den Mut, richterliche Begründungen mit teilweise drastischen Worten zu kritisieren.211 Erst diese Respektlosigkeit im Umgang mit dem Richterrecht eröffnete ihnen die Möglichkeit, eigenständig nach besseren theoretischen Rechtfertigungen für etablierte Regeln des common law zu suchen. standard practitioners’ book is thus not thought of as a significantly creative exercise.“ Eine „extreme Zurückhaltung der englischen Rechtslehrer bei der Kritik der Gerichte“ noch in der Gegenwart behauptet Vogenauer, Vorsprung durch Technik, S. 501. 206 Partington, Academic Lawyers and “Legal Practice” in Britain, S. 374 ff.; Braun, Burying the Living?, S. 48. 207 Nach Auskunft von Duxbury, Jurists and Judges, S. 72, hatte die Society of Public Teachers of Law 1953 kaum mehr als 200 Mitglieder, im Jahr 2000 waren es knapp 2500. 208 Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 128 ff. 209 Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 131 f. 210 Eine Auflistung der neu gegründeten law journals nach Jahrzehnten findet sich bei Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 187 ff. 211 Dazu Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 220 ff.

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Allmählich zeigte sich auch die Rechtsprechung aufgeschlossener für Anregungen aus der Forschung. Die Konvention, lebende Autoren nicht als Autorität zu zitieren, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg stillschweigend aufgehoben.212 Die Vorbehalte gegenüber wissenschaftlicher Literatur schwanden, weil nun immer mehr Richter über einen juristischen Studienabschluss verfügten; in den Achtziger- und Neunzigerjahren betraf dies bereits die Hälfte der Richter am Court of Appeal und am House of Lords.213 In vielen Urteilen dieser Zeit finden sich lange Zitate aus wissenschaftlichen Werken, die dann mitunter über mehrere Seiten diskutiert werden.214 Selbst wenn die Lords den in der Literatur vertretenen Ansichten nicht folgten, drückten sie doch stets ihre Dankbarkeit und ihren Respekt für die analytische Leistung der akademischen Juristen aus.215 Ein deutliches Signal dafür, dass von den Universitätsjuristen in erster Linie dogmatisches Denken erwartet wurde, ging von einem hohen Richter aus, der selbst eine akademische Vergangenheit hatte, nämlich Sir Robert Goff, dem späteren Lord Goff of Chieveley.216 Goff hielt 1983 vor der British Academy einen Vortrag mit dem Titel „The Search for Principle“.217 Darin sprach er sich für ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Richtern und Rechtslehrern aus. Nach seiner Auffassung streben beide Seiten nach einem

Braun, Burying the Living?, S. 49. Zur Verbreitung eines rechtswissenschaftlichen Studiums unter Richtern im Verlauf des 20. Jahrhunderts siehe Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 132 ff. 214 Die drei Leitentscheidungen zur Ersatzfähigkeit von Schockschäden Dritter vermitteln einen Eindruck davon, wie in den Neunzigerjahren die Verwendung juristischer Literatur in Urteilen in Mode kam. In der grundlegenden Entscheidung Alcock v Chief Constable of South Yorkshire Police [1992] 1 AC 310 (HL) werden noch gar keine juristischen Schriften berücksichtigt. In Page v Smith [1996] AC 155 (HL) führen die Richter bereits ein Praktikerhandbuch sowie einige ältere Aufsätze an. Schließlich findet sich in White v Chief Constable of South Yorkshire [1999] 2 AC 455 (HL) eine Auseinandersetzung mit der Kritik in der zeitgenössischen Literatur an der vorhergehenden Rechtsprechung. Zu diesen Urteilen, insbesondere zu der unterschiedlichen Zitierpraxis der einzelnen Richter siehe Stanton, Use of Scholarship by the House of Lords in Tort Cases. Weitere Urteile aus dieser Zeit, in denen ausführlich auf akademische Quellen eingegangen wurde, sind Spiliada Maritime Corp v Cansulex Ltd [1987] AC 460 (HL); Woolwich Equitable Building Society v Inland Revenue Commissioners [1993] AC 70 (HL); Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1996] AC 669 (HL) sowie Hunter v Canary Wharf Ltd [1997] AC 665 (HL). Zur Zitierpraxis englischer Gerichte siehe auch Flohr, Richter und Universitätsjuristen in England, S. 336 ff. 215 Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 319. 216 Robert Goff war von 1951 bis 1955 Tutorial Fellow am Lincoln College in Oxford und wurde nach einer erfolgreichen Tätigkeit als barrister 1975 zum Richter am High Court ernannt. 1982 bis 1986 war er Richter am Court of Appeal und von 1986 bis 1998 Richter am House of Lords. Siehe Jones, Lord Goff’s Contribution to the Law of Restitution. 217 Goff, The Search for Principle. 212 213

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gemeinsamen Ziel, nämlich der Erkenntnis von Rechtsprinzipien.218 Dabei wählten Richter und Universitätsjuristen aufgrund ihrer unterschiedlichen Rollen auch einen unterschiedlichen methodischen Zugang: Richter müssten einzelne Fälle entscheiden, suchten also nach einer juristisch korrekten und vor allem gerechten Lösung. Sie ließen sich dabei stark vom jeweiligen Sachverhalt und dem gewünschten Ergebnis beeinflussen. In ihren Händen könnten sich Rechtsprinzipien daher nur ganz allmählich bilden und würden erst an gewissen Kulminationspunkten der Rechtsentwicklung sichtbar.219 Von den Rechtswissenschaftlern verlangte Goff hingegen, sie sollten sich davon lösen, einzelne Entscheidungen zu kritisieren, weil ihnen dafür die praktische Erfahrung eines Richters fehle. Stattdessen könnten sie sich der fundamentaleren Frage zuwenden, wo im Rechtsganzen der einzelne Fall seinen Platz findet. Außerdem sollten sie Gemeinsamkeiten aufdecken, die zwischen einzelnen Rechtsinstituten bestehen, und damit den Ideenaustausch über Rechtsgebietsgrenzen hinweg befördern. Die Suche nach Rechtsprinzipien sollte deshalb zur Hauptaufgabe juristischer Forschung werden.220 Doch sah Goff gerade in einer übergreifenden Perspektive die Gefahr, akademische Juristen könnten ein Präjudiz allein deshalb ablehnen, weil sie nicht zu ihren eleganten Theorien passen. Theorien seien eben nicht immer flexibel genug, um auf alle unvorhersehbaren Ereignisse des Lebens Rücksicht nehmen zu können. Im Recht müsse aber weiterhin die angemessene Reaktion auf individuelle Sachverhalte im Vordergrund stehen.221 Deshalb könnten sich die Beiträge von Richtern und Hochschullehrern zwar gegenseitig ergänzen; die Führerschaft bei der gemeinsamen Aufgabe der Prinzipiensuche komme allerdings weiterhin den Richtern zu.222 Goffs Idealbild des akademischen Juristen als eines Ideenlieferanten ist repräsentativ für die Achtziger- und Neunzigerjahre, in denen es unter Universitätsjuristen als besondere Auszeichnung galt, wenn Richter ihre Schriften zur Kenntnis nahmen und ihre rechtlichen Analysen ihrem Urteil zugrunde legten. Tatsächlich kam es damals in einzelnen Rechtsgebieten wie dem Bereicherungsrecht oder dem Strafrecht zu einem regen Gedankenaustausch zwischen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft.223 An der Weiterentwicklung der Bereicherungshaftung war Goff sogar auf beiden Seiten entscheidend beteiligt: Im Jahre 1966 hatte er zusammen mit Gareth Jones das erste englische Lehrbuch zum „Law of Restitution“ veröffentlicht und darin eine Goff, The Search for Principle, S. 172 und 187. Goff, The Search for Principle, S. 170 f. und 182 ff. 220 Goff, The Search for Principle, S. 180 und 184 ff. 221 Goff, The Search for Principle, S. 174. 222 Goff, The Search for Principle, S. 185 f. 223 Ausführlich hierzu Braun, Giudici e Accademia nell’ esperienza inglese, S. 395 ff. und S. 426 ff. Zum Einfluss der Rechtswissenschaft auf die Rechtsprechung zum Bereicherungsrecht siehe auch unten, S. 183 ff. 218 219

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Vielzahl fallrechtlicher und gesetzlicher Haftungstabestände unter einem einzigen „principle of unjust enrichment“ zusammengefasst.224 Nachdem dieses einheitsstiftende, aber merkwürdig unbestimmt anmutende Prinzip, das Goff zudem mit dem weit reichenden „principle of negligence“ auf eine Ebene gestellt wissen wollte, in der Rechtsprechung anfänglich auf Ablehnung gestoßen war,225 ergriff er später als Richter am House of Lords die Gelegenheit, seine Vorstellungen in geltendes englisches Recht umzusetzen, indem er im Jahre 1991 als einer der ersten einen Herausgabeanspruch unmittelbar auf die unrechtmäßige Bereicherung des Beklagten stütze.226 Mit seinen Leistungen als Autor und Richter lieferte Goff wichtige Impulse für die breite wissenschaftliche Diskussion über die Grundlagen des law of restitiution, die nunmehr seit drei Jahrzehnten andauert. Ohne es zu ahnen, trug er dadurch jedoch ebenfalls zu den Umständen bei, unter denen akademische Juristen ein neues Selbstverständnis ausbilden konnten, das mit der ihnen zugedachten Assistentenrolle nur noch bedingt vereinbar war. Bereits zwei Jahre nach Goffs Vortrag legte ein Universitätsjurist ein Werk zum Bereicherungsrecht vor, das die Forderungen des Richters nicht nur in kongenialer Weise in die Tat umsetzte, sondern das in seinem Anliegen und mit seinem methodischen Instrumentarium auch erheblich über dessen Vorstellungen von wissenschaftlicher Tätigkeit hinausging. Zudem beanspruchte der Autor dieser Monographie in kaum verhüllter Form die Führerschaft in der Rechtsentwicklung für die Wissenschaft. Dieses Werk, dessen Lektüre zu einem Schlüsselerlebnis für eine ganze Generation von Rechtswissenschaftlern werden sollte, war die „Introduction to the Law of Restitution“ von Peter Birks.

224 Goff / Jones, The Law of Restitution. Die beiden Autoren konnten sich auf umfangreiche Vorarbeiten von Austin Scott und Warren Seavey stützen, die 1937 vom American Law Institute als „Restatement of Restitution“ veröffentlicht worden waren. Siehe dazu Birks, Misnomer, S. 3. 225 Siehe etwa Lord Diplock in Orakpo v Manson Investments Ltd [1978] AC 95 (HL) 104. Dagegen erkannte Lord Denning in Greenwood v Bennett [1973] 1 QB 195 (CA) 202 die Existenz eines „principle of unjust enrichment“ ausdrücklich an. 226 Lipkin Gorman v Karpnale Ltd [1991] 2 AC 548 (HL). Weitere richtungweisende Entscheidungen, an denen Lord Goff beteiligt war und mit denen er dem Bereicherungsprinzip zur Anerkennung verhelfen konnte, waren Woolwich Equitable Building Society v Inland Revenue Commissioners [1993] AC 70 (HL), Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1996] AC 669 (HL) sowie Kleinwort Benson Ltd v Lincoln CC [1999] 2 AC 349 (HL). Bereits als Richter am High Court hatte Robert Goff sein Urteil in der Rechtssache BP Exploration Co (Libya) Ltd v Hunt (No 2) [1979] 1 WLR 783 (QB) auf das „principle of unjust enrichment“ und die „change of position defence“ gestützt.

Kapitel 5

Dem Fallrecht eine Ordnung geben Kapitel 5: Dem Fallrecht eine Ordnung geben

1. Peter Birks und die englische Rechtswissenschaft der Gegenwart

1. Peter Birks und die englische Rechtswissenschaft der Gegenwart

Als Peter Birks, der amtierende Regius Professor of Civil Law in Oxford, am 4. Juli 2004 im Alter von nur 63 Jahren verstarb, bestand schnell Einigkeit darüber, dass England den brillantesten, charismatischsten und einflussreichsten Rechtswissenschaftler seiner Zeit verloren hatte. „The death from cancer of Peter Birks“, schrieb der Richter und ehemalige Universitätsjurist Sir Jack Beatson in einem Nachruf, „[…] has deprived British law schools of probably their brightest star, and English private law of one of its most fertile and creative minds.“1 Übereinstimmend hoben die Gedenkreden und Würdigungen dieser Tage seine äußerst anregenden Beiträge zum Verständnis des law of restitution hervor.2 Peter Birks’ Erklärung dieses Rechtsgebiets war nach Meinung des Hochschullehrers Andrew Burrows „masterly, decisive, crisp“ gewesen und – mit einem Wort Lord Rodgers – „revolutionary“.3 Der Richter am House of Lords ging besonders auf Birks’ Obsession für klassifikatorische Fragestellungen ein und rühmte seinen unerschrockenen Umgang mit höchstrichterlichen Entscheidungen, die nicht in das von ihm entworfene System passten.4 Ganz im Gegenteil orientierten sich mittlerweile die Gerichte an seinen Schriften, „because they find in his work insights into the law which they could never hope to achieve themselves“.5 Auch Beatson pries die analytische Kraft des kürzlich verstorbenen Professors: „He saw beyond the untidy mass that is the common law, and sought to identify with penetrating 1 Beatson, Peter Birks. Beatson war bis zu seiner Ernennung zum Richter am High Court im Jahre 2003 einer der bedeutendsten englischen Rechtswissenschaftler und im Kampf um die Selbständigkeit des Bereicherungsrechts ein wichtiger Mitstreiter von Birks gewesen. 2 Burrows / Rodger, Adresses given at the Memorial Service for Peter Birks, S. viii und xiii ff.; Burrows, Professor Peter Birks; Beatson, Peter Birks; L. Smith, In Memoriam: Peter Birks; Descheemaeker, In Memorian Peter Brian Herrenden Birks; Grantham /  Rickett, In Memoriam Professor Peter Birks, S. 2. 3 Burrows / Rodger, Adresses given at the Memorial Service for Peter Birks, S. viii und xiii. 4 Burrows / Rodger, Adresses given at the Memorial Service for Peter Birks, S. xiii ff. 5 Burrows / Rodger, Adresses given at the Memorial Service for Peter Birks, S. xiv f.

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clarity and a memorable turn of phrase the way the component parts fit into the bigger picture.“6 Höchstes Lob erhielt Birks nicht zuletzt für sein engagiertes Wirken als akademischer Lehrer. Wie kein anderer habe er es verstanden, Studenten aus aller Welt anzuziehen und für die rechtswissenschaftliche Forschung zu begeistern.7 Sein eigentliches Vermächtnis sei daher, so noch einmal Jack Beatson, „the unusually large group of productive legal scholars who can accurately be described as Birksian in their approach“.8 Die Tatsache, dass die überwiegende Zahl der Nachrufe von seinen Schülern verfasst wurde, unterstreicht die außergewöhnliche Stellung noch, die Peter Birks innerhalb der englischen Rechtswissenschaft einnahm: Er war der erste akademische Jurist in England, der eine Schule begründet hat.9 Universitätsjuristen hatten sich bis dahin hauptsächlich als Lehrer des Rechts und weniger als Forscher beziehungsweise als Förderer des wissenschaftlichen Nachwuchses verstanden. Noch in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts galt eine umfangreiche Qualifikationsarbeit wie die Dissertation vielen Fellows in Oxford und Cambridge als Zeitverschwendung. Daraus erhellt, weshalb gerade Professoren wie Andrew Burrows, Ewan McKendrick oder Robert Stevens zwar von Peter Birks intensiv geprägt, aber nicht von ihm promoviert worden sind. Sein Einfluss auf diese Schüler reicht stattdessen oft bis in die ersten Studienjahre am Brasenose College in Oxford oder die Teilnahme an seinem Seminar als postgraduierter Student zurück.10 Das Seminar zum law of restitution, das Birks über einen Zeitraum von mehr als 22 Jahren abhielt, nämlich von 1973 bis 1981 sowie von 1989 bis 2004,11 war legendär.12 Wer in den Neunzigerjahren den prestigiösen BCLStudiengang in Oxford absolvierte und etwas auf sich hielt, musste diese VerBeatson, Peter Birks. Beatson, ebd.; L. Smith, In Memoriam: Peter Birks, S. 162 ff. 8 Beatson, Peter Birks. 9 In seiner Wirkung auf die ihm nachfolgende Generation von Wissenschaftlern ist Peter Birks allenfalls mit Herbert Hart vergleichbar, der in der Nachkriegszeit die Rechtsphilosophie in Oxford wiederbelebte und mehrere Schüler hervorbrachte. Allerdings verstand sich Hart als Philosoph und unterrichtete selbst niemals englisches Recht. 10 So ist beispielsweise Andrew Burrows schon als Studienanfänger von Peter Birks geprägt worden; vgl. Burrows, The Law of Restitution, S. x („My overwhelming intellectual debt is to Peter Birks […] As a tutor he first taught me the excitement and importance of rigorous legal analysis“); siehe auch Burrows / Rodger, Adresses given at the Memorial Service for Peter Birks, S. vii f. Robert Stevens hat ebenfalls bereits als postgraduierter Student an Birks’ Restitution-Seminaren teilgenommen; siehe Stevens, Three Enrichment Issues, S. 49. Beide haben später gemeinsam mit Peter Birks dieses Seminar geleitet. Vgl. auch Zimmermann, Peter Birks und die Privatrechtswissenschaft in England, S. 1066. 11 L. Smith, In Memoriam: Peter Birks, S. 162. 12 Grantham / Rickett, In Memoriam Professor Peter Birks, S. 3; Zimmermann, Peter Birks und die Privatrechtswissenschaft in England, S. 1066. In den Achtziger- und Neunzigerjahen hielt Birks zeitweilig auch am University College London ein restitution-Seminar ab. 6 7

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anstaltung belegen.13 Für das enorme Lesepensum, das ihnen Birks abverlangte, wurden seine Studenten mit dem Feuerwerk von Ideen entschädigt, das der Gelehrte zweimal wöchentlich abbrennen ließ. Der Regius Professor nutzte die Lehrveranstaltung, um seine kühnen Thesen einem Belastungstest auszusetzen und forderte die Studenten zu offenem Widerspruch heraus – nur um ihre Gegenargumente augenblicklich einer schonungslosen, aber gerade deshalb zu neuerlicher Opposition ermutigenden Kritik zu unterziehen.14 Diese leidenschaftlichen Debatten wurden für viele zu einem Erweckungserlebnis; mancher, der bis dahin von einer Karriere als barrister geträumt hatte, fasste nun den Entschluss, eine akademische Laufbahn einzuschlagen und eine Dissertation anzufertigen. Trotz der für englische Verhältnisse großen Zahl an Doktoranden erwies sich Peter Birks als äußerst engagierter Betreuer, der kontinuierlich Hilfestellungen gab und nicht müde wurde, seine Schüler immer wieder aufs Neue von der Wichtigkeit ihrer Arbeit zu überzeugen.15 Bemerkenswert, weil in England bis heute nicht selbstverständlich, ist zudem, wie viele dieser Doktorschriften als Monographien veröffentlicht wurden.16 Diejenigen Jünger, die Birks nicht in Oxford rekrutierte, fanden zu ihm durch die Lektüre seiner „Introduction to the Law of Restitution“. 17 Dieses Werk hat vielen angehenden Akademikern die Augen dafür geöffnet, welches Erklärungspotenzial eine konsequente Systematisierung des Fallrechts generieren kann. Über den engeren Kreis seiner Schüler hinaus müssen deshalb auch andere namhafte Universitätsjuristen zu den „Birksians“ gerechnet werden, wie beispielsweise William Swadling, Sarah Worthington und Graham Virgo.18 Burrows / Lord Rodger or Earlsferry, Peter Birks, S. 56. Siehe die lebendigen Schilderungen von Dannemann, In Memoriam Peter Birks, sowie Burrows / Rodger, Adresses given at the Memorial Service for Peter Birks, S. viii und xi. Vgl. ebenso Zimmermann, Peter Birks und die Privatrechtswissenschaft in England, S. 1066. 15 Vgl. L. Smith, In Memoriam: Peter Birks, S. 163 f. 16 Als Beispiele für Dissertationen, die Birks in seinem letztem Lebensjahrzehnt betreute, seien hier genannt: Mitchell, The Law of Subrogation; Chambers, Resulting Trusts; L. Smith, The Law of Tracing; Krebs, Restitution at the Crossroads; Edelman, Gain-Based Damages; Zakrzewski, Remedies Reclassified; Pretto-Sakmann, Boundaries of Personal Property; Descheemaeker, The Division of Wrongs. 17 Vgl. L. Smith, In Memoriam: Peter Birks, S. 163. 18 Worthington, Proprietary Interests in Commercial Transactions, S. vi, gibt an, zahlreiche Anregungen aus Peter Birks’ Schriften erhalten zu haben. In ihrer Dissertation erstellt sie eine Übersicht über die im Handelsverkehr auftretenden dinglichen Rechte, um „patterns and linkages“ (a. a. O., S. v), „fundamental concepts“ (a. a. O., S. 3) und „general principles“ (a. a. O., S. 1) aufzufinden sowie die Kohärenz des Handelsrechts zu belegen (a. a. O., S. 244 f.). Typisch für die Birks-Schule ist auch das Bekenntnis zu einer vollständigen Verschmelzung von law und equity; siehe hierzu Worthington, Equity, S. 3 ff. Zu Birks’ Einfluss auf Virgo siehe dens., The Principles of the Law of Restitution (2. Aufl.), S. viii („I continue to have the utmost respect for his learning, his approach, and his example“). 13 14

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Nach dem Studium in Oxford und London hatte Birks zunächst mit romanistischen Forschungen begonnen.19 Bis zu seinem Lebensende unterrichtete er – zunächst als Dozent in London und Oxford, später als Regius Professor of Civil Law in Edinburgh und Oxford – kontinuierlich römisches Recht. Kaum eines seiner Gedankenexperimente zum englischen Recht führte er durch, ohne den Ausgang mit dem jeweiligen kontinentaleuropäischen Ergebnis zu vergleichen. Leichtfertige Übernahmen einzelner Doktrinen des civil law in das common law waren seine Sache freilich nicht; stattdessen wollte er das englische Recht aus sich selbst heraus verstehen und dessen Eigenständigkeit gegenüber der römischen Tradition bewahren.20 Allerdings hielt er das Institutionensystem in seiner ordnenden und einheitsstiftenden Wirkung für unübertroffen. Er war fest davon überzeugt, das Schema sei mit dem englischen Recht kompatibel;21 beständig erinnerte er daran, wie Blackstone, der „englische Gaius“,22 dieses erfolgreich genutzt hatte, um seine „Landkarte“ des englischen Rechts anzufertigen.23 Birks kämpfte deshalb dafür, dass englische Studenten im ersten Studienjahr weiterhin einen römischrechtlichen Einführungskurs auf der Grundlage des Institutionentextes erhielten: Nur auf diese Weise könnten sie den unverzichtbaren Überblick über das gesamte Recht gewinnen und würden in die Lage versetzt, das Puzzle aus den einzelnen Teilgebieten zusammenzusetzen.24 Nicht zuletzt aus diesem Grund veröffentlichte er im Jahre 1987 eine englische Übersetzung der justinianischen Institutionen;25 die wissenschaftliche Beschäftigung mit 19 Einen Schwerpunkt bildete das republikanische Deliktsrecht. Siehe etwa die durchaus eigenwilligen Studien von Birks, The Early History of Iniuria, und dems., Other Men’s Meat: Aquilian Liability for Proper Use. 20 Siehe nur Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. viii („I decided from the beginning that the attempt to state the underlying structure of the English law of restitution would have to be conducted through its own materials and its own history“), sowie dens., Comparative Unjust Enrichment, S. 137 („It cannot be too much emphasized that the goal of comparison is not transplantation. Its utility is merely that it deepens analysis and accelerates understanding. Practical development of the law occurs, not through borrowing, but through the clearer vision that comes with better understanding“). Vgl. auch Swadling, Birks, Peter Brian Herrenden (1941–2004). 21 Birks, Introduction, S. xlv ff. 22 Birks, Introduction, S. xlix. 23 Birks, Introduction, S. xlvii; ders., Rights, Wrongs, and Remedies, S. 1 f. 24 Birks, Roman Law in Twentieth-century Britain, S. 262 („Many students nowadays, in both England and America, have no idea how contract and tort might fit together. […] Nor do they know why they study property, except only that they have to pass an examination in it. How contract, tort, and property relate together, and how they are differentiated, and what else might need to be taken into account in the same exercise – all these are unvisited mysteries. It used to fall to the Roman law course to put the pieces of the jigsaw together“). 25 Birks / McLeod (Hrsg.), Justinian’s Institutes.

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dem Institutionensystem erstreckt sich jedoch über seine gesamte akademische Karriere.26 Peter Birks’ Ruhm begründet haben indes seine Arbeiten zum law of restitution, einer bis dahin wenig beachteten Materie, mit der er sich seit den Siebzigerjahren eingehend auseinandersetze.27 Zwar hatten Goff und Jones dieses Rechtsgebiet erst kurz zuvor mühevoll zusammengefügt,28 doch war es mit Fiktionen durchsetzt und aufgrund seiner altertümlichen Terminologie weitgehend unverständlich geblieben.29 Birks hat diesen Normenkomplex fast im Alleingang von seinen historischen Zufälligkeiten befreit und in eine rationale, zeitgemäße Form gebracht. Um das überlieferte Fallmaterial besser erfassen zu können, führte er neue Begriffe ein, die heute jedem englischen Juristen geläufig sind, wie beispielsweise „unjust factors“, „unjust enrichment by subtraction“ oder „alternative analysis“.30 Seine beiden textbooks, „Introduction“ von 1985 und „Unjust Enrichment“ von 2003, machten aufgrund ihrer kühnen Thesen und der teilweise drastischen Formulierungen schnell Furore und wurden gelegentlich scherzhaft „The Old and the New Testament“ genannt.31 Tatsächlich beeindruckten diese essayhaften Lehrbücher ihre Leser durch eine enge, äußerst stringente Gedankenführung. In beiden Werken spielte der Gelehrte verschiedene Varianten durch, wie sich das unbekannte Rechtsgebiet abgrenzen und strukturieren ließ, und bemühte sich um prinzipielle Erklärungen für die besonderen, durch das Fallrecht vorgegebenen Merkmale der Bereicherungshaftung. Daneben hat sich Birks in zahlreichen Aufsätzen zu nahezu allen Fragen des Bereicherungsrechts geäußert – Fragestellungen, die er häufig selbst erstmals aufgeworfen hatte. Die von ihm vertretenen Lehrmeinungen begriff Birks als überzeugendste Interpretationen oder bestmögliche Erklärungen des case law.32 Dennoch war er keineswegs bereit, sich sklavisch an Präjudizien zu halten. Im Gegenteil brachte er den Mut auf, einzelne Fälle, die seiner Meinung nach fehlerhaft entschieden worden waren, auszusondern und Richter, deren Ansichten er für anachronistisch hielt, offen anzugreifen.33 Zwar stellte Birks seine Einteilungen des Bereicherungsrechts und des gesamten Privatrechts in einer Weise 26 Siehe nur Birks, The Problem of Quasi-Delict; dens., Obligations: One Tier or Two?, S. 18; dens., Definition and Division. 27 Siehe etwa Birks, Negotiorum Gestio and the Common Law; ders., The Recovery of Carelessly Mistaken Payments. 28 Siehe oben, S. 155. 29 Swadling, Birks, Peter Brian Herrenden (1941–2004). Näheres dazu unten, S. 164 ff. 30 Vgl. Burrows / Rodger, Adresses given at the Memorial Service for Peter Birks, S. viii; Krebs, The Fallacy of ‘Restitution for Wrongs’, S. 379 Fn. 2. 31 Vgl. Burrows / Rodger, Adresses given at the Memorial Service for Peter Birks, S. xiv. 32 Siehe etwa Birks, Unjust Enrichment, S. 163 („the best interpretation of the English cases“).

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dar, als handele es sich dabei um bereits vorhandene Strukturen, die er lediglich aufgedeckt habe. In Wahrheit aber verwischte er wie kein anderer englischer Rechtslehrer vor ihm die Grenze zwischen einer übersichtlichen Darstellung des Rechts und seiner umgestaltenden Rationalisierung. 34 Umso deutlicher unterschied er zwischen richtigen und falschen Auffassungen. Mit ungeheurer Leidenschaft vertrat er seine eigenen Positionen gegen alle Widerstände.35 Gegner wie Getreue verblüffte Birks freilich immer wieder, wenn er – auch dies Ausdruck seines unbedingten Strebens nach wissenschaftlicher Wahrheit – seine bisherige Auffassung revidierte und den jeweils völlig entgegengesetzten Standpunkt einnahm.36 Insbesondere seine älteren Schüler, die ihrem ehemaligen Mentor bislang auf seinem beschwerlichen Weg ergeben gefolgt waren, konnten sich nun nicht mehr zu einer Umkehr bequemen.37 Die Radikalität seiner Vorschläge zu einem rationaleren Aufbau des Privatrechts und das Unbehagen an ihrer offenkundigen Unvereinbarkeit mit dem geltenden Recht sind dafür verantwortlich, dass sich Peter Birks mit seinen wichtigsten Thesen38 gerade nicht durchsetzen konnte – und dies nicht allein in der Rechtsprechung, sondern auch in der akademischen Welt. Peter Birks’ Verdienst liegt vielmehr darin, einen neuen Stil rechtswissenschaftlicher Forschung begründet zu haben, der gegenwärtig immer mehr Anhänger in England und dem Commonwealth findet. Infolge seines Wirkens ist das Interesse an Strukturfragen, begrifflichen Unterscheidungen sowie prinzipiellen Begründungen für Rechtsregeln und Einzelfallentscheidungen 33 So hielt Birks im Jahre 1996 in Australien eine Reihe von Vorlesungen, in der er sich für eine Integration von common law und equity stark machte und umfangreiche Erwägungen zur Einteilung des Privatrechts anstellte (Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy) – wohl wissend, dass vier der führenden australischen Richter – Roderick Meagher, William Gummow, John Lehane und Paul Finn – strikte Gegner einer Fusion der beiden Rechtsmassen waren und die Klassifikation von Rechtsinstituten für sinnlos hielten (vgl. a. a. O., S. 3). An anderer Stelle erklärte er, eine der wichtigsten Leitentscheidungen des Bereicherungsrechts, Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1996] AC 669 (HL), enthalte einen „fatal flaw“ (Birks, Unjust Enrichment, S. 171). 34 Vgl. Burrows / Rodger, Adresses given at the Memorial Service for Peter Birks, S. xv. 35 Zimmermann, Peter Birks und die Privatrechtswissenschaft in England, S. 1066. 36 Zimmermann, ebd.; Swadling, Birks, Peter Brian Herrenden (1941–2004). 37 Beatson, Peter Birks. So erklärt sich möglicherweise die Skepsis eines Andrew Burrows gegenüber der Neukonzeption des Bereicherungsrechts in Birks’ letztem Buch „Unjust Enrichment“; siehe hierzu Burrows, Absence of Basis: The New Birksian Scheme. 38 Gemeint sind die Forderung nach einer Aufspaltung des „law of restitution“ in zwei weitgehend eigenständige Rechtsgebiete „unjust enrichment“ und „restitution for wrongs“, die Aufgabe des „unjust factor approach“ zugunsten eines „absence-of-basis“-Modells sowie die Verstärkung bereicherungsrechtlicher Ansprüche durch die automatische Entstehung eines resulting trust. Siehe dazu unten, S. 169 ff. und 188 ff.

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deutlich gestiegen. Birks hat zudem einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass viele englische Rechtswissenschaftler den Prozess der richterlichen Entscheidungsfindung heute für ein deduktives Verfahren halten, das bei korrekter Anwendung zu eindeutigen Ergebnissen führen muss. Ebenso wie ihr Vorbild wollen sie die Richter mit einer systematischen Darstellung versorgen, damit diese neu auftretende Konstellationen richtig erfassen können. Vorläufig hat Birks seinen akademischen Nachfolgern eine nicht unerhebliche Zahl ungelöster rechtlicher Probleme hinterlassen. Seine gründlichen Analysen geben dabei nicht selten bereits die Pole des Meinungsspektrums vor. Gleichzeitig hat er ein machtvolles begriffliches Instrumentarium geschaffen, das es ermöglicht, neue Urteile einzuordnen und zu kritisieren. In seinen programmatischen Schriften trat Birks darüber hinaus für ein rationaleres Verständnis sowie eine grundlegende Reorganisation des Privatrechts ein. Dort fanden sich zahlreiche Anregungen, die einige seiner Schüler in dem Jahrzehnt nach seinem Tod aufnehmen sollten, um daraus eigenständige Forschungsansätze zu entwickeln. Dazu zählen insbesondere die „rightsbased analysis“ und der „interpretivism“, beides Forschungsrichtungen, die auch über den ursprünglichen Kreis hinaus lebhafte Diskussionen ausgelöst haben.39 Ferner ist es Birks gelungen, neue methodische Standards zu etablieren: Gerade für jüngere Universitätsjuristen ist es heute eine Selbstverständlichkeit, sich um begriffliche Klarheit zu bemühen, Kategorienfehler zu vermeiden und eine Argumentation auf ihre logische Richtigkeit hin zu überprüfen. Viele neuere Monographien und Lehrbücher sind streng systematisch aufgebaut, während man dem locker gegliederten und essayistisch gehaltenen Darstellungen alten Stils zunehmend mit Verachtung begegnet. Schließlich darf auch nicht die Vorbildwirkung unterschätzt werden, die von Birks’ persönlichem Auftreten und seinem wissenschaftlichen Ethos ausging.40 Jedenfalls haben sich viele der jüngeren „Birksians“ einen Gestus des radikalen Zweifels und der beständigen Provokation zugelegt. Kein Bestandteil der Überlieferung wird mehr als gegeben hingenommen: Regeln, die vormals zum unantastbaren Kernbestand des englischen Privatrechts gehörten, müssen neuerdings auf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüft werden; manches Rechtsgebiet bedarf nun einer besseren Rechtfertigung für seine Existenz. Mit den Erklärungen der Richter jedenfalls gibt sich niemand mehr zufrieden. „Challenging Orthodoxy“41 lautet der neue Schlachtruf. Alles in allem hat Peter Birks somit nicht nur eine Debatte über die Grundlagen des Privatrechts Näheres zu diesen methodologischen Strömungen unten, S. 257 ff. und 272 ff. In dem unaufhörlichen, rücksichtslosen Streben nach Wahrheit sah Birks die Essenz wissenschaftlichen Arbeitens. Vgl. dens., The academic and the practitioner, S. 406 („The word ‘academic’ stands for taking things seriously, getting to the bottom of them and finding out the truth“). 41 Dies war das Generalthema der „Obligations Conference“ des Jahres 2012. Zu dieser Tagungsreihe siehe unten, S. 238 ff. 39 40

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ausgelöst, sondern auch den tiefgreifenden Einstellungswandel mit angestoßen, der sich gegenwärtig bei englischen Universitätsjuristen feststellen lässt.

2. Die Systematisierung des Bereicherungsrechts 2. Die Systematisierung des Bereicherungsrechts

a) Der Zustand des Bereicherungsrechts zu Beginn der Achtzigerjahre Das Revolutionäre an Birks’ dogmatischen Umformungen erschließt sich bereits durch einen flüchtigen Blick auf den Zustand des law of restitution zu Beginn der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Als wären die forms of action niemals abgeschafft worden, fanden sich über das gesamte common law verstreut eine Reihe von Herausgabeklagen, die auf die Abschöpfung eines ungerechtfertigten Vermögensvorteils gerichtet waren. Dazu zählten die verschiedenen Unterformen der action of indebitatus assumpsit, die sich vordergründig nach der Art des Bereicherungsobjekts unterschieden: Wer Geld aufgrund eines Irrtums oder unter Anwendung von Zwang empfangen hatte, konnte mit der action for money had and received to the use of the plaintiff belangt werden. War keine Gegenleistung vereinbart worden, musste der Anspruchsteller im Rahmen einer assumpsit-Klage quantum valebat vortragen, um den Erwerber einer Sache auf Wertersatz in Anspruch zu nehmen; wenn es sich um Dienstleistungen handelte, kam quantum meruit in Frage. Dagegen war die action for money paid to the use of the defendant einschlägig, wenn der Kläger an einen Dritten gezahlt und damit den Beklagten von einer Schuld befreit hatte.42 Daneben existierten – sowohl im common law als auch in equity – weitere Rechtsinstitute, die allesamt einen Regress betrafen, sich aber historisch unabhängig voneinander herausgebildet hatten und deshalb keinen Zusammenhang aufwiesen: Dabei handelte es sich um recoupment (mit dem unter anderem der Bürge beim Schuldner Rückgriff nehmen konnte), contribution 43 (die vorwiegend den Ausgleich zwischen Gesamtschuldnern betraf, aber auch andere Fälle rechtlich erzwungener Aufopferung umfasste), sowie subrogation44 (die es beispielsweise Versicherern erlaubte, den durch Zahlung einer Versicherungssumme erlittenen Schaden im Namen des Geschädigten bei dem Schädiger zu liquidieren). Hinzu kamen noch Ausgleichsansprüche bei großer Havarei (general average); sie stammten aus dem maritime law und gingen letztlich auf die lex Rhodia de iactu zurück.45 In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist auch der Aufwendungsersatz für die freiwillige Seenotrettung (salvage).46 42 43 44 45

S. Meier, Irrtum und Zweckverfehlung, S. 6 f. und 14. Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 173 ff. Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 375 ff. Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 198 ff.

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Goff und Jones hatten in ihr Lehrbuch, „The Law of Restitution“, auch einige Institute aufgenommen, die eigentlich zum Kernbestand des equityRechts gehörten. Dies betraf beispielsweise die Gewinnhaftung für die Verletzung von Treuepflichten.47 Ein trustee oder sonstiger fiduciary war gehalten, jegliche Interessenkonflikte zu vermeiden; insbesondere war es ihm verboten, mit dem Trustvermögen eigene Gewinne zu erwirtschaften oder seine Stellung zu seinem persönlichen Vorteil auszunutzen. Verstieß er gegen diese fiduciary duty, konnte der beneficiary von ihm equitable restitution verlangen, und zwar unabhängig davon, ob er wegen der Pflichtverletzung einen Schaden erlitten hatte.48 Unzulässige Gewinne (unauthorised profits) oder Bestechungsgelder (bribes) gingen deshalb zwar nach common law in das Eigentum des fiduciary über, jedoch entstand in equity ein constructive trust an diesen Vermögensgegenständen.49 Ebenso zum constructive trustee wurde, wer ungerechtfertigt Gegenstände aus dem trust-Vermögen erlangt und dabei Kenntnis vom Bruch der Vertrauensstellung hatte (knowing receipt).50 Gelegentlich hatte die Rechtsprechung sogar bei einem Delikt oder einem Vertragsbruch Ansprüche auf Gewinnabschöpfung zuerkannt.51 Deshalb waren Goff und Jones davon ausgegangen, dass neben den equitable wrongs auch bestimmte common law wrongs, durch die der Deliktstäter bereichert wurde, restitution auslösen können. Hierzu zählten etwa conversion, detinue, deceit oder trespass to land.52

Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 248 ff. Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 445 ff. 48 Keech v Sandford (1726) Sel Cas Temp King 61, 25 ER 223 (Court of Chancery); Pearce v Foster [1886] 17 QBD 536 (CA); Boardman v Phipps [1967] 2 AC 46 (HL). Ausführlich hierzu Rusch, Gewinnhaftung bei Verletzung von Treuepflichten, S. 70 ff. 49 Ein constructive trust verpflichtete meist nur dazu, das Trustvermögen herauszugeben. Er wurde zunächst eingesetzt als Instrument zur Abschöpfung von Gewinnen, die ein trustee mit dem Trustvermögen in gewissenloser Weise (unconscionable) für sich selbst erwirtschaftet hatte, siehe Boardman v Phipps [1967] 2 AC 46 (HL); vgl. hierzu auch die australische Entscheidung Hospital Products Ltd v United States Surgical Corporation (1984) 156 CLR 41 (HCA). Wer sich bestechen lassen hatte, war seinem Dienstherrn dagegen nur obligatorisch zur Herausgabe der Bestechungssumme verpflichtet, siehe etwa Lister & Co v Stubbs (1890) 45 ChD 1 (CA) sowie Reading v Attorney General [1951] AC 507 (HL). Erst in dem spektakulären Fall Attorney General for Hong Kong v Reid [1994] 1 AC 324 (PC) sprach der Privy Council dem Prinzipal einen constructive trust auch an den Bestechungsgeldern und den mit ihnen erworbenen Vermögensgegenständen zu. 50 Re Montagu’s Settlement Trusts [1987] Ch 264 (Ch). 51 Solche Entscheidungen waren jedoch die Ausnahme geblieben. Siehe etwa United Australia Ltd v Barclays Bank Ltd [1941] AC 1 (HL), Reid-Newfoundland Co v AngloAmerican Telegraph Co [1912] AC 555 (PC) und Wrotham Park Estate Co Ltd v Parkside Homes Ltd [1974] WLR 798 (Ch). 52 Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 427 ff. 46 47

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In einem weiteren Sinne ließen sich auch die komplizierten Regeln über following und tracing dem Bereicherungsrecht zuordnen, die jedoch im equity-Recht großzügiger ausgestaltet waren als im common law: Hatte ein treubrüchiger trustee einen Gegenstand aus dem Trustvermögen entnommen und an einen Dritten weitergereicht, so konnte der beneficiary diesen herausverlangen, weil er ein equitable interest an der Sache behielt (following). Wenn der Empfänger des Vermögensgegenstandes die Sache mit seinem Eigentum vermischte, für diese ein Surrogat erwarb oder aus ihr Früchte zog, setzte sich das equitable interest an dem Gemisch, dem Surrogat oder den Früchten fort (tracing).53 Tracing in law war dagegen nur möglich, wenn das Surrogat vom übrigen Vermögen des Empfängers getrennt war und damit als selbständiger Vermögensgegenstand erhalten blieb.54 Ein tracing in equity in das Vermögen eines Dritten setzte andererseits ein fiduciary relationship zwischen diesem und dem beneficiary voraus, welches jedoch regelmäßig nur entstand, wenn der Empfänger wusste, dass es sich bei dem Empfangenen um Trustvermögen handelte.55 Zur Unübersichtlichkeit des Rechtsgebiets trugen weiterhin die zahlreichen Restitutionsgründe bei. Wer eine action of indebitatus assumpsit anstrengte, musste einen Umstand nachweisen, der den Vermögenszuwachs als ungerecht erscheinen ließ. Zu den anerkannten Gründen zählten: Irrtum (mistake), Drohung (duress), ungehörige Beeinflussung (undue influence), Ausbeutung (exploitation), Rechtszwang (legal compulsion), Notstand (necessity), Geschäftsunfähigkeit (incapacity), Rechtswidrigkeit (illegality), Ausbleiben der erwarteten Gegenleistung (failure of consideration) und noch einige andere. Manche dieser Begriffe spielten auch im Vertragsrecht eine wichtige Rolle als Unwirksamkeitsgründe. Im bereicherungsrechtlichen Zusammenhang umschrieben sie indes eigenständige haftungsauslösende Tatbestände und hatten daher teilweise eine andere Bedeutung. 56 Zusätzliche Verwirrung stifteten mehrere Fiktionen: Die indebitatus assumpsit-Klage erwies sich im Vergleich mit älteren, funktionsverwandten Klagearten wie account, debt und trover sowohl in verfahrensmäßiger als auch in sachlicher Hinsicht als vorteilhaft. Sie konnte vor dem Court of King’s Bench erhoben werden, ersparte den Parteien die Mühen des special pleading und ermöglichte es dem Kläger, statt eines Schadens die Bereiche-

Re Hallett’s Estate [1880] 13 ChD 696 (CA); Re Oatway [1903] 2 Ch 356 (Ch); Re Diplock [1948] Ch 465 (CA); Re Tilley’s Will Trusts [1967] Ch 1179 (Ch). 54 Taylor v Plumer (1815) 3 M & S 562, 105 ER 721 (Court of King’s Bench); Banque Belge pour l’Etranger v Hambrouck [1921] 1 KB 321 (CA). 55 Re Hallett’s Estate [1880] 13 ChD 696 (CA); Sinclair v Brougham [1914] AC 398 (HL). 56 Siehe Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 61 ff. Vgl. auch Zimmermann, Bereicherungsrecht in Europa, S. 31. 53

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rung des Beklagten herauszuverlangen.57 Um sich den Anwendungsbereich einer action for money had and received zu erschleichen, musste der Kläger allerdings vorgeben, dass er vom Beklagten ein bedingtes Rückzahlungsversprechen erhalten hatte (implied contract).58 Die Klageformen quantum valebat, quantum meruit und die action for money paid setzten dagegen den Vortrag voraus, der Beklagte habe den erhaltenen Vermögensvorteil selbst angefordert (implied request).59 War die Bereicherung auf Grundlage eines Delikts erlangt worden, musste der Kläger auf Rechtsbehelfe hinsichtlich eines erlittenen Schadens verzichten (waiver of tort), um ein Rückzahlungsversprechen des Beklagten glaubhaft machen zu können.60 Schließlich enthielt auch die gelegentlich eintretende Folge des constructive trust ein fiktionales Element, weil ein trust entstand, ohne dass zuvor ein Errichtungsakt stattgefunden hatte.61 Hatten das Aktionendenken und die Trennung von common law und equity zu einer Zersplitterung der restitutionary remedies geführt, so sorgten die Fiktionen dafür, dass diese Rechtsbehelfe üblicherweise dem Vertrags-, Delikts- oder trust-Recht zugeordnet wurden, anstatt sie zu einem einzigen Rechtsgebiet zu verbinden. Entsprechend bestritten noch bis zum Ende der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts viele akademische Juristen die Existenz eines eigenständigen Bereicherungsrechts.62 Das „principle of unjust enrichment“, mit dem Goff und Jones die Einheit des Rechtsgebiets hatten herstellen wollen, war damals noch nicht von der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt worden, ebenso wenig wie der von ihnen vorgeschlagene allgemeine Entreicherungseinwand „change of position“.63 Selbst in der mehr als 500 Seiten starken Pionierarbeit von Goff und Jones waren die einzelnen

Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 7 f.; Beatson, The Nature of Waiver of Tort, S. 210 f. 58 Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 91. Zum fingierten Rückzahlungsvertrag siehe oben, S. 167. 59 Birks, Fictions Ancient and Modern, S. 89; S. Meier, Irrtum und Zweckverfehlung, S. 14. 60 Virgo, The Principles of the Law of Restitution (2. Aufl.), S. 454 f. 61 Birks, Unjust Enrichment, S. 262 ff. 62 So stellte etwa Atiyah, The Rise and Fall of Freedom of Contract, S. 768, am Ende der Siebzigerjahre fest: „[…] there is little sign yet of any wholehearted acceptance by English lawyers of a new branch of law entitled the Law of Restitution, and based on unjust enrichment ideas. […] the developments have been occurring interstitially in all branches of the law. […] The various cases show little signs of coming together to cohere into one new body of law […]“. Ähnlich Hedley, Unjust enrichment as the basis of Restitution – an overworked concept. 63 Vgl. Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 13 f. und 486 f. Beide Prinzipien konnte Lord Goff erst im Jahre 1991 als Richter am House of Lords in der Entscheidung Lipkin Gorman v Karpnale Ltd [1991] 2 AC 548 (HL) in geltendes Recht umsetzen. 57

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„restitutionary claims“64 noch nach Art eines Praktikerlehrbuches aufgelistet; es fehlte eine Analyse, die zeigte, in welchem Verhältnis die einzelnen Elemente dieses Rechtsgebiets zueinander standen. Peter Birks’ erstes Anliegen war es, die Sprachverwirrung zu beenden, die während der „diaspora“65 des law of restitution entstanden war. Die Uneinheitlichkeit und Unklarheit der verwendeten Sprache mache nicht nur eine Verständigung über dieses Rechtsgebiet nahezu unmöglich und führe zu großer Rechtsunsicherheit. Die unterschiedlichen Begrifflichkeiten stünden auch der Erkenntnis struktureller Zusammenhänge im Wege. Weil verschiedene Ausdrücke für nahezu dieselbe Sache verwendet würden, gäbe es noch kein allgemeines Schema zur Lösung von Bereicherungsfällen, an dessen Verfeinerung man arbeiten könne.66 Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem law of restitution, die ein solches „analytical scheme“67 hervorbringen wolle, müsse daher zunächst auf eine sprachliche Vereinheitlichung gerichtet sein; erst diese ermögliche die eigentlich angestrebte inhaltliche Vereinfachung. „Its desparate need“, schrieb Birks am Anfang seiner „Introduction to the Law of Restitution“ von 1985, „is for a simple, even an oversimplified, account of how its pieces fit together.“68 Aus dem „battle towards simplification“69 könne aber nur derjenige siegreich hervorgehen, der die vielfältigen Einzelheiten vernachlässige und zu der „elementary structure of principle“70 vordringe. Für andere Rechtsgebiete wie contract und tort hätten diese Strukturierungsleistung die textbooks der viktorianischen Professoren erbracht, nachdem das Aktionensystem aufgegeben worden war – doch das Bereicherungsrecht sei damals übersehen worden.71 „A nineteenth-century condition requires a nineteenth-century remedy“, bemerkte Peter Birks und nahm sich damit ausdrücklich John Austins Bemühungen um ein rationales und effizientes System des englischen Rechts zum Vorbild: Der Begründer der analytischen Rechtstheorie habe es meisterhaft verstanden, sprachliche Ungereimtheiten und strukturelle Fehler zu auszumerzen.72

Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 26. Immerhin hatten die beiden Autoren bereits drei situative Kategorien gebildet, in die sie die vielfältigen bereicherungsrechtlichen Institute einzuordnen vermochten: „the plaintiff has himself conferred the benefit on the defendant“ – „the defendant has received the benefit from a third party“ – „the defendant has acquired the benefit through his own wrongful act“ (a. a. O., S. 27 f.). 65 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 5. 66 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 19 f. und 78. 67 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 4. 68 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 1. 69 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 4. 70 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 1. 71 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. vii und 2 f. 72 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. vii. 64

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Da die Zersplitterung des law of restitution jedoch eine schwer zu leugnende Tatsache des Richterrechts war, musste Birks’ Verhältnis zu den Präjudizien ambivalent ausfallen. Einerseits lieferten die Fälle das Substrat seines analytischen Werkes, denn vor allem sie sollten sich in die neu geschaffene Ordnung mühelos einfügen lassen: „The main business now is to find the scheme on which the law in those cases can be most elegantly and efficiently arranged.“73 Andererseits hatten die richterlichen Begründungen genau diejenigen Hindernisse zu einem besseren Verständnis des Rechts geschaffen, die durch die begriffliche und organisatorische Vereinfachung gerade aus dem Weg geräumt werden sollten. Die Suche nach der Struktur des Bereicherungsrechts durfte ihren Ausgang daher unter keinen Umständen bei den richterlichen Entscheidungen nehmen. Stattdessen musste zunächst a priori eine sinnvolle, fehlerfreie Ordnung gefunden werden; später konnte es sogar nötig werden, diese Ordnung den Fällen aufzuzwingen: „[T]he successful evolution of an ultimately acceptable framework cannot begin, and certainly cannot be found in the cases […].“ „[T]he scheme has sometimes to be forced on to cases which themselves perceived it, if at all, intuitively.“74 b) Birks’ erstes System des Bereicherungsrechts Peter Birks hat zwei Systeme des Bereicherungsrechts entworfen, die in ihren dogmatischen Grundentscheidungen erheblich voneinander abweichen. In seiner ersten Konzeption aus dem Jahre 1985 bemühte sich Birks, die Einheit des Rechtsgebiets anhand der gemeinsamen Rechtsfolge „restitution“ herzustellen. Dies ermöglichte zunächst eine vorläufige Abgrenzung zu denjenigen Rechtsgebieten, die im Wesentlichen Schadensersatz oder die Herausgabe fremden Eigentums gewähren. Danach fasste er die vielen verschiedenen Bereicherungsklagen zu einem einheitlichen Tatbestand namens „unjust enrichment at the expense of another“ zusammen. Daran anknüpfend formulierte er in einem Fragenkatalog die Anspruchsvoraussetzungen eines „principle of unjust enrichment“: „Was the defendant enriched? if so, Was he enriched at the plaintiff’s expense? if so, Was there any factor calling for restitution? if so, Was there any reason why restitution should none the less be withheld?“75

Die einzelnen Anspruchsvoraussetzungen boten Gelegenheit zur deutlicheren Umgrenzung des „law of restitution“ und führten zu mehreren Unterteilungen innerhalb des Rechtsgebiets. Das Tatbestandsmerkmal „at the expense of another“ war doppeldeutig und nötigte zu der folgenreichen Aufspaltung in „unjust enrichment by subtraction“ und „restitution for wrongs“. Für die viel73 74 75

Birks, ebd. Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 4. Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 7.

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fältigen Faktoren, die ein „enrichment“ als „unjust“ erscheinen ließen, schlug Birks eine vereinfachende Systematik vor. Ferner setzte er sich für die „change of position defence“ als allgemeine Einrede gegen den Bereicherungsanspruch ein und bemühte sich, weitere Einwendungen abstrakt zu formulieren. Schließlich nötigte ihn die Frage, unter welchen Umständen nicht nur der Beklagte verpflichtet ist, den Wert der Bereicherung herauszugeben („personal restitution“), sondern auch der Kläger durch einen trust an den Bereicherungsgegenständen gesichert ist („proprietary restitution“), das Verhältnis des „law of restitution“ zum „law of property“ eingehend zu erörtern. Birks’ Vorhaben hätte ambitionierter kaum sein können: Es ging um nicht weniger als die Erschaffung einer neuen rechtliche Kategorie namens „restitution“, die mit den anerkannten Gattungen „contract“ und „tort“ gleichberechtigt auf einer Stufe stehen sollte.76 „The first business“, so Birks, „is to establish that we know what is meant by restitution and how exactly the area of law which is given that name relates to other legal categories.“77 Im Gegensatz zu „contract“ oder „tort“, die jeweils in abstrakter Weise den Tatbestand („event“) eines Anspruchs umschrieben, handele es sich bei „restitution“ um eine Rechtsfolge („response“). Deren Anordnungsgehalt bestehe darin, dass jemand eine Bereicherung, die er auf Kosten eines anderen erlangt habe, aufgeben und diesem rückübertragen müsse: „Restitution is the response which consists in causing one person to give up to another an enrichment received at his expense or its value in money.“78 Diese Definition der – die Identität des neuen Rechtsgebiets stiftenden – Rechtsfolge ist erkennbar weit gefasst, um sämtliche von Goff und Jones zusammengestellten Fallgruppen einbeziehen zu können. Die Formulierung „give up“ (anstatt des naheliegenden „give back“) etwa soll dafür sorgen, dass nicht nur direkte Vermögensverschiebungen vom Kläger zum Beklagten eine Rückerstattungspflicht auslösen können. Herauszugeben ist ebenfalls, was jemand durch ein „acquisitive wrong“79 erlangt hat, also etwa ein mit dem Trustvermögen erzielter Eigengewinn oder der treuwidrige Erwerb von einem Dritten.80 Die Erweiterung „or its value in money“ soll dagegen sicherstellen, dass nicht nur körperliche Bereicherungsgegenstände restitutionsfähig sind, sondern auch Wertersatz gefordert werden kann, wenn es sich um Geld oder Dienstleistungen handelt.81 Birks’ Definition von „restitution“ lieferte zugleich Kriterien für die Unterscheidung von anderen Rechtsfolgen. Im Gegensatz zur compensation, also dem Ausgleich eines Schadens, den der Beklagte erlitten hat, gehe es bei Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 10. Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 7. 78 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 13. 79 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 316. Siehe auch dens., Major Developments in the Law of Restitution, S. 258. 80 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 12. 81 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 12 f. 76 77

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restitution um das Aufgeben und die Herausgabe eines Zugewinns, den der Kläger verzeichnen konnte.82 Als problematisch erwies sich indes die Abgrenzung der Herausgabe einer Bereicherung von der Wiedereinräumung des Besitzes und damit des „law of restitution“ vom „law of property“. Der Anspruch auf Wiedererlangung eines im Eigentum des Klägers stehenden Grundstücks (action for recovery of land) schütze ein bereits bestehendes Recht und verhindere gerade eine Bereicherung des Beklagten. Bei der Restitution entstünden dagegen im Moment der Bereicherung neue Rechte, mit deren Hilfe der Vermögenszuwachs abgeschöpft werden könne.83 In der überwiegenden Zahl der Fälle werde dem Beklagten nur eine schuldrechtliche Verpflichtung auferlegt, dem Kläger das Eigentum an dem erlangten Gegenstand zu übertragen oder den Wert des Erlangten zu ersetzen. In der Terminologie Austins handele es sich bei den „restitutionary rights“ im Regelfall um „personal rights“ beziehungsweise „rights in personam“; insofern bilde das „law of restitution“ ein Teilgebiet des „law of obligations“.84 Es seien aber auch einige Fälle zu berücksichtigen, in denen der Kläger durch die Auferlegung eines constructive trust selbst ein beneficial interest an dem Bereicherungsobjekt erwerbe, also ein „restitutionary right in rem“. War damit das „law of restitution“ zugleich ein Bestandteil des „law of property“? Birks verneinte diese Frage mit der pragmatischen Begründung, ein Rechtsgebiet, das sowohl das Bereicherungsrecht als auch das Sachenrecht umfasse, sei nicht mehr handhabbar und würde deshalb erneut unterteilt werden müssen. Letztlich könne das „law of restitution“ weder eindeutig dem „law of obligations“ noch dem „law of property“ zugeordnet werden, weil die dinglichen Ansprüche das Erstere, die obligatorischen Ansprüche dagegen das Letztere verunreinigen würden: „This simpler, crisper and more Roman state of affairs is unattainably out of reach.“85 Wenn nun – nach Birks’ ursprünglicher Konzeption des Bereicherungsrechts – das Rechtsgebiet durch die einheitliche, abstrakt umschriebene Rechtsfolge „restitution“ zusammengehalten werden sollte, so blieb dennoch die Frage, ob nicht eine ebenso abstrakte Umschreibung des Tatbestandes der Bereicherungshaftung möglich war. Denn die Zersplitterung des „law of restitution“ hatte ihre Ursache nicht zuletzt in der Heterogenität der Situationen, in denen „restitutionary rights“ entstanden. Für ein solches „event“, das stets die „response“ der Rückgabeverpflichtung auslöst, schlug Birks die Bezeichnung „unjust enrichment at the expense of another“ vor. 86 Diese Wendung war bei 82 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 11 („gains to be given up, not […] losses to be made good“). 83 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 15. 84 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 16. 85 Birks, ebd. 86 Birks, ebd.

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Richtern bislang auf Ablehnung gestoßen, weil sie in ihrer Offenheit angeblich dazu einlud, beliebige moralische Wertungen in die Argumentation mit einzubeziehen.87 Birks betonte daher, es handele sich bei seiner Auffassung von „unjust enrichment“ um eine „generic conception“,88 also einen Gattungsbegriff, der alle vom Recht anerkannten Restitutionstatbestände in sich aufnehme – so wie die Rubrik „contract“ sämtliche Vertragstypen umfasse oder die Kategorie „tort“ alle Deliktsarten einschließe.89 Gleichwohl könne dieser Begriff nicht induktiv aus einzelnen Tatbeständen oder „unjust factors“ gewonnen werden; denn dann bestünde die – für Induktionen typische – Gefahr, von einer begrenzten Auswahl in unzulässiger Weise auf das Ganze zu schließen. Vielmehr lasse sich die Gattung „unjust enrichment“ deduktiv aus der Definition von „restitution“ ableiten, denn die besondere Natur der Rechtsfolge führe dazu, dass diese nur durch ganz bestimmte Ereignisse hervorgerufen werden könne. 90 Tatsächlich war in Birks’ Umschreibung „to give up to another an enrichment received at his expense“ ein wesentlicher Teil des Tatbestandes bereits enthalten. Denn aus ihr ergab sich: „When there is unjust enrichment then there is restitution, and vice versa. That means in turn that unjust enrichment cannot trigger any other response. And it would seem to mean that restitution cannot be triggered by any other event.“91

Was auf den ersten Blick wie eine Tautologie aussieht, war für Birks nicht mehr als ein glücklicher Zufall, der sich in anderen Rechtsgebieten nicht wiederholte: Die Rechtsfolge compensation werde beispielsweise durch völlig unterschiedliche Tatbestände wie breach of contract oder tort ausgelöst; andererseits könne ein tort nicht nur zu compensation, sondern auch zu penal damages verpflichten.92 Nach der Bestimmung von „event“ und „response“ konnte Peter Birks zum „principle against unjust enrichment“ übergehen. Dieses Prinzip war bereits von Lord Wright in einer Entscheidung aus den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts93 in das englische Recht eingeführt und von Goff und Jones in ihr Lehrbuch aufgenommen worden,94 sonst jedoch weitgehend unbeachtet geVgl. Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 18 f. Unter einer „generic conception“ verstand Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 17, „words which manage to capture at a high level of generality the common quality of a number of apparently different events“. 89 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 17 f. 90 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 17. 91 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 40. 92 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 17 f. 93 Fibrosa Spolka Akcyjna v Fairbairn Lawson Combe Barbour Ltd [1943] AC 32 (HL). Siehe auch Lord Wrights Begründung in Brook’s Wharf & Bull Wharf Ltd v Goodman Bros (1937) 1 KB 534 (CA). 94 Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 11 ff. 87 88

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blieben.95 Birks verlieh diesem Prinzip stärkere Konturen, indem er dessen Tatbestandsvoraussetzungen in subsumtionsfähiger Weise umschrieb, freilich ohne ihm denjenigen Grad an Abstraktheit zu nehmen, der erforderlich war, um sämtliche Restitutions-Phänomene erfassen zu können.96 Das Prüfungsschema lautete: 1. „Enrichment“, 2. „At the expense of the plaintiff“, 3. „Unjust“, 4. „Other considerations [why restitution should none the less be withheld]“.97 Erhebliche Schwierigkeiten bereitete die Unterordnung der „acquisitive wrongs“ (also derjenigen equitable wrongs und common law torts, durch die es dem Deliktstäter gelingt, sich zu bereichern) unter das Merkmal „at the expense of the plaintiff“. Während etwa derjenige, der irrtümlich eine Zahlung leistet, unzweifelhaft sein eigenes Vermögen schmälert, kann ein trustee aufgrund seiner Stellung Gewinne für sich erwirtschaften, ohne das trustEigentum anzugreifen. Bei der Gewinnabschöpfung kommt es daher gerade nicht auf einen korrespondierenden Schaden der anderen Partei an. Birks behauptete, die Formulierung „at the expense of “ sei ambivalent: Sie könne sowohl bedeuten „value passed to the defendant from the plantiff“ als auch „by doing wrong to“.98 Im ersten Falle diene das Tatbestandsmerkmal dazu, den richtigen Kläger zu identifizieren; dies sei derjenige, dessen Vermögensminderung zu einer Bereicherung des Beklagten geführt hat. Auch im zweiten Falle gehe es um den richtigen Anspruchsinhaber; nur habe der Kläger hier eine dem Beklagten gegenüber bestehende Pflicht verletzt.99 95 Ein weiterer prominenter Verfechter des principle against unjust enrichment war Lord Denning. Vgl. etwa Nelson v Larholt (1948) 1 KB 339 (Ch); Strand Electric and Engineering Co Ltd v Brisford Entertainments Ltd [1952] 2 QB 246 (CA); Kiriri Cotton Co v Dewani (1960) AC 192 (PC); Greenwood v Bennett [1973] 1 QB 195 (CA). 96 Birks ging dabei ersichtlich von den Tatbestandsmerkmalen des Prinzips aus, die Goff und Jones zu Beginn ihres Werkes (Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 14 ff.) umrissen hatten, auf die sie aber später nicht mehr zurückgekommen waren. Die Autoren hatten sogar davor gewarnt, die Suche nach einem Prinzip mit der Definition von Begriffen zu verwechseln: „[…] in a search for a unifying principle at this level we should not expect to find any precise ‘common formula,’ [Sic!] but rather an abstract proposition of justice“ (a. a. O., S. 12). 97 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 21. Beispielsweise waren im Falle einer irrtümlichen Zahlung die ersten drei Anforderungen erfüllt durch 1. den Empfang des Geldes, 2. unmittelbar aus den Händen des Beklagten und 3. dessen Irrtum (mistake). Bei der rechtlich erzwungenen Tilgung einer fremden Schuld etwa war 1. der Beklagte von seiner Zahlungspflicht frei geworden, 2. hatte der Gläubiger die Zahlung direkt vom Kläger erhalten und 3. war dieser zu der Zahlung rechtlich verpflichtet gewesen (legal compulsion). Bei einer negotiorum gestio wäre zu fragen, ob 1. die Hilfeleistung oder Rettungshandlung eine Bereicherung des Beklagten darstellt, 2. diese auf Kosten des klagenden Retters erfolgt war und 3. die Gefahr auf diesen einen moralischen Zwang ausgeübt hat. 98 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 23 f. 99 Birks, Restitution – The Future, S. 1 f.

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Diese Doppeldeutigkeit ließ sich auf zweierlei Weise bewältigen: Eine Möglichkeit bestand darin, „unjust enrichment at the expense of the plaintiff“ weit zu verstehen, womit diese Voraussetzung gleichermaßen durch „unjust enrichment by subtraction“ wie durch „unjust enrichment by wrongs“ erfüllt werden konnte.100 Damit zerfiel das „principle against unjust enrichment“ nunmehr in zwei Unterprinzipien, nämlich „the law does not permit one person to be unjustly enriched by subtraction from another“ sowie „the law does not permit one person to be unjustly enriched by doing wrong to another“.101 Dies hatte den Vorteil, dass die Rechtsfolge restitution weiterhin nur durch eine einzige Gattung von Ereignissen, nämlich unjust enrichment, ausgelöst werden konnte; die zufällige Deckungsgleichheit des „law of restitution“ mit dem „law of unjust enrichment“ blieb erhalten. Ein wesentlicher Nachteil dieser Lösung war allerdings die Überschneidung der neu gebildeten Kategorie „unjust enrichment by wrongs“ mit der bekannten Rubrik „wrongs“, die sämtliche Delikte des common law und Pflichtverletzungen nach equity umfasste. Bei den „acquisitive wrongs“ musste nach diesem Verständnis innerhalb der Voraussetzungen des „principle against unjust enrichment“ auch eine eigenständige Pflichtverletzung geprüft werden; deshalb ließen sich diese sowohl dem Bereicherungsrecht als auch dem Deliktsrecht zuordnen.102 Die Alternative bestand in einer restriktiven Interpretation des Tatbestandsmerkmals – die Worte „at the expense of“ waren dann ausschließlich im Sinne von „by subtraction“ zu verstehen.103 Das „principle against unjust enrichment“ war damit nur anwendbar, wenn das Bereicherungsobjekt aus dem Vermögen des Klägers stammte und von dort in das Vermögen des Beklagten übergegangen war.104 Das Verhalten des Klägers, insbesondere eine Pflichtverletzung seinerseits, konnte in diesen Fällen außer Betracht bleiben. Die ungerechte Bereicherung war hier der alleinige Anspruchsgrund (cause of action); deshalb wählte Birks gelegentlich auch die Bezeichnung „autonomous unjust enrichment“.105 Die „restitutionary rights“, die aufgrund eines „subtractive unjust enrichment“ entstanden, waren – nach Austins Nomenklatur – Primärrechte („primary rights“).106 Die Abschöpfung unerlaubter Gewinne fiel dagegen nach der engen Auslegung nicht mehr in den Anwendungsbereich des „principle against unjust enrichment“. Birks sprach daher nicht mehr von „unjust enrichment by wrongs“, sondern nur noch von „restitution for wrongs“.107 Bei einem „acquisitive wrong“ lag der eigentliche 100 101 102 103 104 105 106 107

Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 41. Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 24. Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 41 f. Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 42. Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 132. Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 67. Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 43. Birks, ebd.

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Grund des Anspruchs nämlich in der Pflichtverletzung, nicht in der Bereicherung. Das „law of restitution“ wurde hier nur noch zur Bestimmung der Rechtsfolge herangezogen, seine Funktion war also „purely remedial“.108 Bei den Rechten, die aufgrund der Pflichtverletzung entstanden, handelte es sich um Sekundärrechte („secondary rights“). 109 Diese Differenzierung zwang Birks zur Aufspaltung des „law of restitution“ in die beiden Teilgebiete „restitution for subtractive unjust enrichment“ und „restitution for wrongs“.110 Die beiden Kategorien waren zwar weiterhin durch eine gemeinsame Rechtsfolge miteinander verbunden. Die ursprüngliche Behauptung, „restitution“ und „unjust enrichment“ seien äquivalent, musste allerdings aufgegeben werden: Denn nach der neuen Systematisierung konnten auch bestimmte wrongs, nämlich die „acquisitive wrongs“ restitution auslösen.111 Damit war zwar eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen unjust enrichment (im engeren Sinne) und wrongs möglich geworden. Gleichwohl ließen sich Fälle denken, die dem „principle against unjust enrichment“ unterfielen, aber ebenso als Delikt qualifiziert werden konnten. So verhielt es sich beispielsweise, wenn jemand aufgrund eines Irrtums (mistake) gezahlt hatte, der Irrtum aber durch eine vorsätzliche Irreführung (fraudulent misrepresentation) des Zahlungsempfängers hervorgerufen worden war. Beide Tatbestände, „unjust enrichment“ und „wrong“, konnten unabhängig voneinander geprüft werden. Birks bezeichnete die beiden Perspektiven als „alternative analyses“.112 Berief sich der Kläger auf das „principle against unjust enrichment“, musste er einen Umstand darlegen, der die Bereicherung des Beklagten als ungerecht (unjust) erscheinen ließ. In den Präjudizien fanden sich mehr als ein Dutzend derartiger unjust-Gründe.113 Robert Goff und Gareth Jones hatten diese Umstände zwar grob vorsortiert, sie in ihrem Lehrbuch aber lediglich einzeln nacheinander abgehandelt, ohne auf verbindende Elemente einzugehen.114 Als Romanist war Peter Birks selbstverständlich das stark abstrahie108 Birks, Restitution – The Future, S. 1 f.; ders., Restitution and Resulting Trusts, S. 364. 109 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 43. 110 Birks, ebd. 111 Birks, ebd. 112 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 44. Der Begriff lässt sich sowohl mit „Konstruktionsalternativen“ als auch mit „echter Anspruchskonkurrenz“ übersetzen. Siehe dazu die Beispiele a. a. O., S. 314 f. 113 Siehe oben, S. 166 f. 114 Vgl. Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 61 ff. Hatte der Beklagte den Bereicherungsgegenstand von dem Kläger erhalten, gab es Goff und Jones zufolge hauptsächlich vier Gründe für einen Bereicherungsanspruch: „mistake“, „compulsion“, „necessity“, „ineffective transactions“. Eine Erklärung, weshalb gerade diese Einteilung gewählt wurde, findet sich nicht. Innerhalb dieser Kategorien wird sodann ein Mal nach der Art des Berei-

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rende kontinentaleuropäische Modell der condictio indebiti geläufig, demzufolge eine Bereicherung als ungerechtfertigt angesehen wird, wenn sie sine causa („ohne rechtlichen Grund“, „sans cause légitime“) eingetreten ist. Gleichwohl bekannte er sich zur Vielfalt der Restitutionsgründe im englischen Recht, weil nur diese eine differenzierte, fallgruppengerechte Beurteilung gewährleiste: „[…] one of the strengths of our law is that it is careful to explain restitution by reference to a concrete ‘unjust factor.’ [sic!] Abstract formulae like ‘no consideration’ lead back into a world of dogma.“115 Birks’ Klassifikation der „unjust factors“ – eine Wortschöpfung des Rechtsgelehrten, mit der er die vielfältigen Restitutionsgründe bezeichnete – knüpfte an subjektive Kriterien an. Es ließen sich drei Hauptgruppen unterscheiden: 1. der Kläger wollte die Bereicherung des Beklagten nicht („nonvoluntary transfer“), 2. der Beklagte hatte sich gewissenlos verhalten, weil er eine Leistung des Klägers, für die dieser eine Gegenleistung erwartete, unentgeltlich empfangen hatte („free acceptance“) oder 3. der Wille des Klägers beziehungsweise das Verhalten des Beklagten waren wegen vorrangiger rechtspolitischer Erwägungen unbeachtlich („policy-motivated restitution“). 116 Die erste Hauptgruppe, „non-voluntary transfer“, zerfiel in zwei Untergruppen: Entweder war der Beklagte in seiner Willensbildung beeinträchtigt gewesen („vitiated intention“) – hierzu zählten etwa die unjust-Gründe ignorance, mistake, undue influence, duress oder legal compulsion – oder der Wille zur Bereicherung hatte unter einer Bedingung gestanden, die später nicht eingetreten war („qualified intention“) – hier ging es um Fälle, in denen die versprochene Gegenleistung ausblieb (total failure of consideration) oder ein Vertrag nicht zustandekam, aber bereits eine Anzahlung geleistet worden war.117 Mit der zweiten Hauptgruppe, „free acceptance“, sollten Dienstleistungen erfasst werden, die der Beklagte erbracht hatte, ohne dass eine Vergütung vereinbart worden war. Hatte der Kläger die Dienstleistung empfangen, obwohl er wusste, dass der Beklagte diese nicht unentgeltlich erbringen wollte, handelte er gewissenlos.118 Die dritte Hauptgruppe, „policy“, war als Auffangkategorie gedacht, die höchst unterschiedliche Restitutionsgründe in sich aufnehmen konnte: keine Steuererhebung ohne gesetzliche Ermächtigung („no taxation without parliament“); Abschreckung von ungesetzlichem Verhalten („discouragement of unlawful conduct“); Förderung der Seenotrettung cherungsobjekts, ein anderes Mal nach dem Grund für die Unwirksamkeit des Vertrages, wieder ein anderes Mal nach der Rechtsquelle für den Anspruch unterschieden. 115 Birks, Major Developments in the Law of Restitution, S. 265. 116 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 140 ff. Vgl. auch dens., Major Developments in the Law of Restitution, S. 260 f. Gelegentlich bezeichnete Birks diese Auffangkategorie auch schlicht als „others“; siehe dens., An Introduction to the Law of Restitution, S. 105. 117 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 140 ff. und 219 ff. 118 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 265 ff.

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(„encouragement of rescue at sea“); Gläubigerschutz („protection of creditors and investors“).119 Mut zur dogmatischen Fortbildung des Richterrechts bewies Birks auch hinsichtlich der Einwendungen (defences) gegen den Bereicherungsanspruch. Nach damaliger Rechtsprechung war eine Bereicherungsklage abzuweisen, wenn dem Kläger die Herausgabe der empfangenen Gegenleistung unmöglich war (counter-restitution impossible)120 oder wenn er mit seiner Zuwendung rechtswidrig gehandelt hatte (illegality).121 Die Rückforderung war ebenfalls ausgeschlossen, wenn der Beklagte wegen einer ausdrücklichen Erklärung oder aufgrund des Verhaltens des Klägers anlässlich der Zahlung berechtigterweise darauf vertraut hatte, er dürfe das Erlangte behalten, und es deshalb ausgegeben hatte (estoppel).122 Nach Birks’ Auffassung war indes auch dann eine Ausnahme von der Herausgabepflicht angezeigt, wenn der Kläger selbst keinen Vertrauenstatbestand geschaffen hatte, der Beklagte aber gleichwohl davon ausgegangen war, er dürfe den erlangten Geldbetrag behalten, und diesen in der Folge für etwas ausgegeben hatte, das er sich ohne den Vermögenszuwachs nicht geleistet hätte. Eine entsprechende Einrede war schon in verschiedenen common law-Rechtsordnungen anerkannt;123 englische Richter hatten sie jedoch bisher wegen ihrer angeblichen Unbestimmtheit zurückgewiesen.124 Birks argumentierte, die Gewährung einer solchen „change of position defence“ sei logisch zwingend, wenn man dem Beklagten schon bei der Prüfung der Bereicherung erlaube, die subjektiv empfundene Wertlosigkeit des Erlangten („subjective devaluation“) geltend zu machen. Das englische Recht bestimmt nämlich das Vorliegen einer Bereicherung ausschließlich subjektiv, fragt also danach, ob das Erlangte von dem Empfänger persönlich als vorteilhaft empfunden wird. Grundsätzlich ist dies nur anzunehmen, wenn der Beklagte das Erlangte selbst gewählt hat. Dies soll verhindern, dass

Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 294 ff. Fibrosa Spolka Akcyjna v Fairbairn Lawson Combe Barbour Ltd [1943] AC 32 (HL). 121 Morgan v Ashcroft [1983] 1 KB 49 (CA); Parkinson v College of Ambulance Ltd [1925] 2 KB 1 (KB). 122 Holt v Markham [1923] 1 KB 504 (CA). Die estoppel-Einrede war wegen des Erfordernisses einer representation auf Seiten des Klägers nicht nur vergleichsweise restriktiv ausgestaltet, sondern auch zu unflexibel, weil sie unabhängig von der Höhe der Entreicherung zum vollständigen Wegfall des Bereicherungsanspruchs führte; siehe Avon County Council v Howlett [1983] 1 WLR 605 (CA). 123 Mayer v New York (1875) 63 N.Y. 455; s 94B Judicature Act 1908 (New Zealand) (eingefügt im Jahr 1958, inzwischen aufgehoben); Rural Municipality of Storthoaks v Mobil Oil Canada Ltd (1975) 55 DLR (3d) 1 (SCC); Commonwealth Bank of Australia v Younis [1979] 1 NSWLR 444 (NSWCA); Bank of New South Wales v Murphett [1983] 1 VR 489 (VSC). 124 Durrant v Ecclesiastical Commissioners for England and Wales (1880) 6 QBD 234 (Ex Div); Baylis v Bishop of London [1913] 1 Ch 127 (CA). 119 120

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für aufgedrängte Bereicherungen Wertersatz geleistet werden muss.125 Deshalb sei es wertungsmäßig konsequent, einem Bereicherten, der erlangtes Geld nur deshalb für einen neuen Vermögensgegenstand ausgibt, weil er darauf vertraut, es behalten zu dürfen und folglich einen größeren finanziellen Spielraum zu haben, den Einwand der Entreicherung zuzugestehen. Denn eine Pflicht zur Rückerstattung würde in diesen Fällen dazu führen, dass der Bereicherte sein Stammvermögen angreifen müsste. Dies käme jedoch einem Zwang gleich, eine Leistung zu entlohnen, die gar nicht gewollt war. Es könne nämlich keinen Unterschied machen, ob der Beklagte bezahlen muss für etwas, wonach er niemals verlangt hat, oder für etwas, das er bei Kenntnis der Rückzahlungspflicht nicht in Anspruch genommen hätte. Deshalb müsse ein Rechtssystem, das eine „subjective devaluation“ zulasse, auch immer die Berufung auf eine „change of position“ erlauben. Führte man diesen Einwand in das englische Recht ein, so würde dies die Strenge der Bereicherungshaftung deutlich abmildern, was wiederum eine Weiterentwicklung der bislang eher eng gefassten Restitutionsgründe erlauben würde.126 Schließlich wandte sich Birks noch einmal der Rechtsfolge restitution zu. Im Fallrecht wurde dem Kläger ganz überwiegend nur ein schuldrechtlicher Anspruch (personal claim) zugesprochen, der entweder auf die Herausgabe des Erlangten oder auf Wertersatz gerichtet war. Nur in Ausnahmefällen entstand zudem ein constructive trust oder ein resulting trust an dem Bereicherungsobjekt, wodurch der Gläubiger zusätzlich ein beneficial interest, also eine dingliche Rechtsposition, erhielt (proprietary claim). Der Kläger genoss damit im Falle der Insolvenz des Beklagten eine Vorrangstellung gegenüber ungesicherten Gläubigern, war berechtigt, den Gewinn einzufordern, den der Beklagte mit dem Bereicherungsgegenstand erzielt hatte, konnte Zinseszins verlangen und kam in den Genuss einer längeren Verjährungsfrist.127 Zu der Frage, wann die Gerichte einen dinglichen Rechtsbehelf gewährten, war bei Goff und Jones allerdings nur zu lesen, dies hänge stark von den Umständen des Einzelfalles ab.128 Ließ sich hier nicht Birks’ Unterscheidung zwischen „unjust enrichment by subtraction“ und „restitution for wrongs“ oder sogar seine Einteilung der „unjust factors“ fruchtbar machen? Umstritten war zudem, welche Art des trust im Falle eines dinglichen Restitutionsanspruchs entstand. Die dogmatische Aufgabe bestand also darin, die Tatbe125 Falcke v Sottish Imperial Insurance (1886) 34 Ch 234 (CA). Siehe hierzu Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 109 ff., und S. Meier, Irrtum und Zweckverfehlung, S. 13 ff. Eine Bereicherung liegt jedoch stets vor, wenn der Anspruchsgegner Geld erhalten hat. Unwiderlegbar bereichert ist der Beklagte auch, wenn er den Vermögenszuwachs durch Veräußerung des Gegenstandes realisiert hat oder sich durch das Erlangte Ausgaben erspart hat, die er sonst hätte tätigen müssen. 126 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 413 ff. 127 Vgl. Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 38 ff. 128 Siehe Goff / Jones, The Law of Restitution, S. 43.

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stände der Bereicherungshaftung auf die Entstehungsbedingungen der verschiedenen trust-Arten zu beziehen, um das „law of restitution“ und das „law of trusts“ aufeinander abzustimmen. Dabei sah Birks sich genötigt, auch die überkommene, methodisch unbefriedigende Klassifikation der trusts129 zu verbessern. Er kehrte dazu zunächst die Perspektive um und analysierte, welche trusts funktionell auf die Herausgabe einer Bereicherung gerichtet waren („restitutionary in effect“). Anschließend suchte er nach Entsprechungen zwischen den traditionellen Voraussetzungen, unter denen diese trusts entstanden, und seinen neuen bereicherungsrechtlichen Kategorien. Ein express trust allein, so stellte Birks zunächst klar, könnte niemals ein „restitutionary beneficial interest“ erzeugen. Zwar liege in der Gestaltungsvariante, bei der sich der settlor selbst zum beneficiary ernennt (wodurch die in law eingetretene Bereicherung des trustee sofort in equity rückgängig gemacht wird), funktionell gesehen eine Rückübertragung. Diese beruhe jedoch ausschließlich auf dem Willen des trust-Begründers, nicht auf einer Bereicherung. 130 Eine Verbindung ließ sich dagegen zwischen der Rubrik „restitution for subtractive unjust enrichment“ und den resulting trusts herstellen. Diese verpflichteten den trustee von Rechts wegen zur Rückübertragung eines Vermö-

129 Zur traditionellen Einteilung der trusts siehe Swadling, Property, General Principles, S. 279; Birks, Events and Responses: The Case of Trusts, S. 166 ff. Üblicherweise stellte man dem express trust, der durch eine ausdrückliche Willensäußerung des Begründers zustandekam, den implied trust gegenüber, der von Rechts wegen entstand (implied by law). Schon hier ergaben sich terminologische Schwierigkeiten. Denn vom implied trust wurde auch gesprochen, wenn der Wille des ursprünglichen Rechtsinhabers, einen trust zu errichten, nur den Umständen entnommen werden konnte. Die Begriffe „express trust“ und „implied trust“ schließen sich daher nicht in jedem Falle gegenseitig aus. Von Rechts wegen entstandene trusts teilte man in constructive trusts und resulting trusts ein. Der constructive trust sollte zum einen verhindern, dass der rechtliche Eigentümer, zum Beispiel ein treubrüchiger trustee oder ein Dieb, von seinem gewissenlosen Umgang mit dem Gegenstand profitierte (remedial constructive trust). Die Gerichte hatten aber auch einen constructive trust angenommen, wenn Ehegatten beiderseits zum Erwerb eines Eigenheimes beigetragen hatten, aber nur einer von ihnen Eigentümer geworden war (institutional constructive trust). Ein resulting trust konnte entstehen, wenn die Errichtung eines express trust fehlgeschlagen (automatic resulting trust) war oder die Parteien einer unentgeltlichen Rechtsübertragung sich so verhalten hatten, dass vermutet werden musste, ein Geschenk sei nicht beabsichtigt gewesen (presumed resulting trust). Die Bezeichnung „resulting“ rührt daher, dass in beiden Fällen ein beneficial interest an den Begründer des fehlgeschlagenen trust oder an den benachteiligten Ehegatten zurückfiel. Daran ist problematisch, dass der übergeordnete Ausdruck „implied“ und der untergeordnete Ausdruck „constructive“ dieselbe Bedeutung haben, während die gleichgeordneten Bezeichnungen „constructive“ und „resulting“ sich auf verschiedene Klassifikationskriterien beziehen. 130 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 54.

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gensgegenstandes; sie waren also stets „restitutionary“.131 Von resulting trusts sprach man traditionell im Hinblick auf drei Fallgruppen: 1. Die Errichtung eines express trust schlägt fehl, weil kein beneficiary benannt worden ist; das beneficial interest fällt deshalb an den settlor zurück. 2. Jemand überträgt einem anderen freiwillig Eigentum, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten; deshalb wird in equity vermutet, der Empfänger solle das Eigentum nur als trustee innehaben. 3. Jemand zahlt einem anderen eine Summe Geldes, damit dieser einem Dritten unentgeltlich Eigentum übertrage; hier wird in equity vermutet, der Dritte sei trustee des Zahlenden geworden.132 Üblicherweise nannte man die resulting trusts der ersten Fallgruppe „automatic“, die der zweiten und dritten Gruppe „presumed“.133 Birks stellte sich dagegen auf den Standpunkt, die Bezeichnung „resulting trusts“ könne zwei verschiedene Bedeutungen haben. Zum einen spiele der Name, der vom lateinischen resalire herkomme, auf das Zurückspringen des beneficial interest zum Übertragenden an. Der trust sei in diesem Sinne „resulting in pattern“ – eine Eigenschaft die unabhängig von der Intention der Parteien auftreten und deshalb gleichermaßen auf express, implied wie constructive trusts zutreffen könne. Zum anderen beziehe sich der Ausdruck auf den Entstehungsgrund; mit dem Ausdruck sei also gemeint „resulting in origin“ oder „presumed“. Zumindest in den beiden zuletzt genannten Fallgruppen beruhe die Existenz des trust nämlich auf der unwiderleglichen Vermutung, die Vermögensverschiebung könne nicht als Geschenk gedacht gewesen sein.134 Einem Betrachter, der sein Augenmerk nur auf die zweite Bedeutungsvariante richtete, erschloss sich daher zwanglos der abstrakte Entstehungsgrund, der allen resulting trusts gemeinsam war: Der Wille (intention) zur Rechtsübertragung sei entweder fehlerhaft oder fragwürdig. In der ersten Fallgruppe drücke der settlor seinen Willen, einen express trust zu begründen, mangelhaft aus. Birks bildete deshalb eine Analogie zu einem Vertrag, der wegen einer Willensstörung nicht zustande kommt: So wie Leistungen, die aufgrund des unwirksamen Vertrages erbracht worden waren, unter Berufung auf einen unjust-Grund zurückgefordert werden könnten, eröffne sich auch in Bezug auf den gescheiterten express trust die Möglichkeit einer „alternative analysis in unjust enrichment“.135 Für diese Konstruktionsalternative kamen beispielsweise die unjust-Gründe der Kategorie „vitiated intention“ in Betracht. Die Vermutung, die zur Entstehung der resulting trusts der zweiten und dritten Fallgruppe führe, bestehe darin, dass der Übertragende seinen Willen Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 63 f. Vgl. Vandervell v Inland Revenue Commissioners [1967] 2 AC 291 (HL) sowie Re Vandervell’s Trusts (No 2) [1974] Ch 269 (CA). 133 Ausführlich zu dieser traditionellen Einteilung Hudson, Equity and Trusts, S. 501 ff. 134 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 60 f. 135 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 65. 131 132

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nicht dahingehend gebildetet habe, der Empfänger solle den Vermögensgegenstand zu seinem eigenen Vorteil erlangen: „It is as though equity cynically supposes that a transferor who receives no value for his transfer must necessarily be labouring under a mistake or some other defect of judgement.“136 Auch wenn Birks dies in seiner „Introduction“ aus dem Jahre 1985 lediglich andeutete,137 so lag doch auf der Hand, dass diese Vermutungen eine Entsprechung in den unjust factors der Gruppen „qualified intention“, also namentlich failure of consideration, oder der Gruppe „vitiated intention“, hier vor allem mistake, fanden. Insofern beruhte auch die Existenz dieser resulting trusts auf einem „unjust enrichment by subtraction“. Die Tatbestände einer ungerechten Bereicherung und die Entstehungsgründe für einen resulting trust waren also zumindest teilweise deckungsgleich. Im Jahre 1992 veröffentlichte Birks einen Aufsatz, in dem er eine noch weitergehende Rationalisierung vorschlug.138 In nahezu allen Fällen des „unjust enrichment by subtraction“ solle, sofern der Kläger einen konkreten Bereicherungsgegenstand fordern könne und nicht auf Wertersatz verwiesen sei, neben einem obligatorischen Recht auf restitution auch ein resulting trust entstehen. Umgekehrt sei die Entstehung eines resulting trust stets an das Vorliegen eines „unjust enrichment by subtraction“ gebunden. Die Vermutungen, die bisher eine entscheidende Rolle bei der Begründung eines resulting trust gespielt hatten, sollten aufgegeben werden; stattdessen müsse von nun an das Vorliegen eines unjust factor bewiesen werden. Wäre Birks’ Empfehlung umgesetzt worden, so hätte dies zu einer deutlichen Aufwertung dieser Spielart des trust und zu einer massiven Vermehrung dinglicher Restitutionsansprüche geführt. Dagegen fand der constructive trust sein strukturelles Äquivalent in der Fallgruppe „restitution for wrongs“. Er diente – anders als der resulting trust – nicht dazu, ein bereits bestehendes Recht zum Kläger, aus dessen Händen der Beklagte es erhalten hatte, zurückzutransportieren. Stattdessen entstand mit ihm ein neues Recht an dem Gewinn, den der Beklagte unter Ausnutzung seiner Vertrauensstellung erzielen konnte.139 Allerdings erkannte die Rechtsprechung dem Entreicherten bislang nur bei wenigen Delikten wie zum Beispiel der conversion ein dingliches Recht an dem Vermögenszuwachs an. Nach Auffassung von Peter Birks sollte „proprietary restitution“ bei Pflichtverletzungen weiterhin die Ausnahme bleiben, damit in der Insolvenz des Beklagten nicht einzelne Gläubiger eine ungerechtfertigte Vorrangstellung erhalten. 140 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 64. Siehe Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 62. 138 Birks, Restitution and Resulting Trusts, S. 335. 139 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 68 f. 140 Birks, Restitution and Resulting Trusts, S. 364; ders., Major Developments in the Law of Restitution, S. 254 ff. 136 137

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c) Die Entwicklung des Bereicherungsrechts in den Neunzigerjahren Seit dem Erscheinen von Birks’ „Introduction to the Law of Restitution“ herrschte in der englischen Fachwelt eine regelrechte Goldgräberstimmung. In den folgenden zwei Jahrzehnten entstanden unzählige Publikationen zu einem Rechtsgebiet, das man ganz überwiegend als neu und unbekannt wahrnahm.141 Am einflussreichsten waren – neben Birks’ eigenen Veröffentlichungen – die beiden Aufsatzsammlungen von Jack Beatson und Andrew Burrows.142 Letzterer erzielte ebenfalls eine große Breitenwirkung mit seinem 1991 erstmals erschienenen Lehrbuch „The Law of Restitution“, mit dem er sich in erster Linie an Studenten richtete. Burrows übernahm nicht nur wesentliche inhaltliche Positionen Birks’, sondern er bekannte sich auch klar zu dessen analytischer Methodik.143 Im Vergleich dazu stellten Graham Virgos „Principles of the Law of Restitution“ von 1999 einen Gegenentwurf zu Birks’ Konzeption dar; in dem Versuch, die verschiedenen bereicherungsrechtlichen Institute unter drei Globalprinzipien zusammenzufassen und trennscharfe Definitionen für die traditionellen Begriffe dieses Rechtsgebiets zu finden, war Birks’ Einfluss gleichwohl unverkennbar.144 Mit der Gründung der ersten Zeitschrift für das Bereicherungsrecht, dem Restitution Law Review, wurde im Jahre 1993 eine Diskussionsplattform für die vielen neuen Fragestellungen geschaffen. Antworten suchte man zunehmend in anderen Rechtsordnungen, vorzugsweise im deutschen Recht. Seit dem Ende der Neunzigerjahre konnten englische Rechtswissenschaftler auf eine stattliche Anzahl an rechtsvergleichenden Untersuchungen zurückgreifen, die zumeist von kontinentaleuropäischen Autoren verfasst worden waren.145 Die akademische Begeisterung für das neue Rechtsgebiet griff zudem rasch auf andere Siehe etwa die Sammelbände von Burrows (Hrsg.), Essays on the Law of Restitution, sowie Cornish u. a. (Hrsg.), Restitution. Past, Present and Future. 142 Beatson, The Use and Abuse of Unjust Enrichment; Burrows, Understanding the Law of Obligations. 143 Burrows, The Law of Restitution. Vgl. insbesondere die programmatischen Ausführungen a. a. O., S. 14. 144 Virgo, The Principles of the Law of Restitution (1. Aufl.). 145 Du Plessis / Zimmermann, Basic Features of the German Law of Unjustified Enrichment; Zimmermann, Unjustified Enrichment. The Modern Civilian Approach; S. Meier, Irrtum und Zweckverfehlung; Meier / Zimmermann, Judicial Development of the Law, Error Iuris, and the Law of Unjustified Enrichment: A View From Germany; Schlechtriem, Restitution und Bereicherungsausgleich in Europa; Krebs, Restitution at the Crossroads; Johnston / Zimmermann (Hrsg.), Unjustified Enrichment. Key Issues in Comparative Perspective; Giglio, A Systematic Approach to ‘Unjust’ and ‘Unjustified’ Enrichment; Zimmermann (Hrsg.), Grundstrukturen eines Europäischen Bereicherungsrechts. Das Werk von Dannemann, The German Law of Unjustified Enrichment and Restitution, erschien zwar erst 2009, geht aber auf eine Vorlesung zurück, die der Verfasser schon zu Lebzeiten Peter Birks’ in Oxford gehalten hatte. 141

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Länder des Commonwealth über. Einige seiner treuesten Anhänger fand Birks in Kanada und Neuseeland.146 Australische Richter und Universitätsjuristen reagierten dagegen überwiegend zurückhaltend, wenn nicht gar ablehnend auf seine Analysen.147 Ebenso empfanden viele englische, auf equity and trusts spezialisierte Juristen den Bedeutungsgewinn des „law of restitution“ und insbesondere die Vereinnahmung einiger Formen des trust für das Bereicherungsrecht als feindliche Invasion in ihr Terrain.148 Im gleichen Zeitraum erkannte auch die englische Rechtsprechung die Eigenständigkeit des Bereicherungsrechts an und fasste mehrere Unterarten der assumpsit-Klage zu einem einheitlichen „principle of unjust enrichment“ zusammen. Von 1991 bis 1999 erließ das House of Lords in rascher Folge mehrere Leitentscheidungen, in denen es den Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen dieses Prinzips Konturen verlieh und über die wichtigsten akademischen Streitfragen entschied.149 Begünstigend wirkte sich aus, dass einige Richter – Lord Goff, Lord Nicholls, Lord Hoffmann und Lord Millett – Spezialisten im Trustrecht beziehungsweise im Bereicherungsrecht waren und sich an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung entweder selbst beteiligten oder diese aufmerksam verfolgten. Als Glücksfall für die Fortbildung des Rechts erwies sich eine Prozesslawine, in der es um die Rückabwicklung unwirksamer Wetten auf die Veränderung des Zinssatzes (interest rate swaps) ging. 150 In den Achtzigerjahren hatten etwa 200 englische Gemeinden solche Verträge abgeschlossen, um sich gegen das Risiko von Zinsänderungen abzusichern oder um durch eine Vorauszahlung der Bank zusätzliche finanzielle Mittel zu erhalten. Anfang der Neunzigerjahre erklärten die Gerichte diese Verträge für nichtig, weil den Gemeinden die Kompetenz zur Eingehung solcher Geschäfte gefehlt habe.151 Nun verlangten diejenigen Beteiligten, die bei diesen Geschäften Verluste erlitten hatten, die geleisteten Zahlungen zurück. In der Entscheidung Lipkin Gorman v Karpnale aus dem Jahre 1991 stützte sich das House of Lords im Rahmen einer action for money had and received Exemplarisch genannt seien Charles Rickett, Lionel Smith und Steven Smith. Siehe etwa Finn (Hrsg.), Essays on Restitution; Dietrich, Restitution: A New Perspective; Kremer, Unjust Enrichment and Unconscientiousness: Another View. 148 Siehe beispielsweise Hudson, Equity and Trusts, S. 1300 f. 149 Lipkin Gorman v Karpnale Ltd [1991] 2 AC 548 (HL), Woolwich Equitable Building Society v Inland Revenue Commissioners [1993] AC 70 (HL), Barclays Bank plc v O’Brien [1993] All ER 417 (HL), Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1996] AC 669 (HL), Kleinwort Benson Ltd v Birmingham CC [1997] QB 380 (CA); Kleinwort Benson Ltd v Lincoln CC [1999] 2 AC 349 (HL). 150 Zum Folgenden Krebs, Restitution at the Crossroads, S. 5 f.; S. Meier, Irrtum und Zweckverfehlung, S. 251 ff. 151 Hazell v Hammersmith and Fulham LBC [1990] 2 QB 697 (CA); Hazell v Hammersmith and Fulham LBC [1992] 2 AC 1 (HL). 146 147

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erstmals auf das „principle of unjust enrichment“.152 Wenngleich dieses Prinzip die alten forms of action nicht ersetzte,153 sondern Prozesse weiterhin unter Bezugnahme auf eine der Unterformen der action of indebitatus assumpsit eingeleitet werden mussten,154 so ging von dieser Entscheidung doch das Signal aus, dass eine deutliche Aufwertung der Bereicherungshaftung zu erwarten war. Der Weg für eine völlige Neuordnung des law of restitution wurde aber erst frei, als das Gericht 1996 in der Rechtssache Westdeutsche Landesbank v Islington LBC die implied contract theory aufgab, derzufolge eine action for money had and received einen fiktiven Vertrag zwischen dem Zahlenden und dem Empfänger auf Rückzahlung des Wertes der Bereicherung voraussetzte.155 Das Bereicherungsrecht konnte nun von seinen vertragsrechtlichen Fesseln befreit und als selbständiges Rechtsgebiet behandelt werden. Die Lords sprachen jetzt von einem Teilbereich des „law of obligations“, das den gleichen Rang einnehme wie das Vertragsrecht oder das Deliktsrecht.156 Einige Richter übernahmen sogar Peter Birks’ grundlegende Unterscheidung zwischen „unjust enrichment by subtraction“ und „restitution for wrongs“.157 In der letztgenannten Kategorie erfuhr die Gewinnhaftung bei Vertragsbruch (restitution for breach of contract) eine deutliche Stärkung. In dem aufsehenerregenden Fall Attorney General v Blake aus dem Jahre 2000 wurden dem Kläger – in Analogie zum Nutzungsersatz für die unerlaubte Verwendung des Eigentums sowie zur Gewinnabschöpfung bei Treuepflichtverletzungen durch einen trustee – sogenannte „restitutionary damages“ zugesprochen. Die Abschöpfung vertragswidrig erzielter Gewinne (account of profits as a remedy for breach of contract) sollte jedoch nur ausnahmsweise möglich sein, nämlich wenn bei einem schweren Vertrauensbruch Schadensersatzansprüche keine ausreichende Sanktion bieten.158 Zuvor hatte der Privy Council noch einmal bekräftigt, dass ein fiduciary, der sich hatte bestechen lassen, die Bestechungsgelder an den Prinzipal herauszugeben hat. Dieser Anspruch war dinglicher Natur, denn zugunsten desjenigen, demgegenüber 152 Lipkin Gorman v Karpnale Ltd [1991] 2 AC 548 (HL). Vgl. auch die vorsichtige Bestätigung des Prinzips in Woolwich Equitable Building Society v Inland Revenue Commissioners [1993] AC 70 (HL) 196–197, per Lord Browne-Wilkinson. 153 South Tyneside MBC v Svenska International plc [1995] 1 All ER 545 (QB) 557, per Clarke J. 154 Virgo, The Principles of the Law of Restitution (1. Aufl.), S. 55 f. 155 Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1996] AC 669 (HL) 710, per Lord Browne-Wilkinson. Siehe auch die Entscheidung des Court of Appeal Guinness Mahon & Co v Kensington and Chelsea Royal LBC [1999] QB 215 (CA). 156 Vgl. Banque Financière de la Cité v Parc (Battersea) Ltd [1999] 1 AC 221 (HL) 227, per Lord Steyn. 157 Macmillan Inc v Bishopsgate Investment Trust plc (No 3) [1995] 3 All ER 747 (Ch) 757, per Millett J; Halifax Building Society v Thomas [1995] 4 All ER 673 (CA) 677, per Gibson LJ. 158 Attorney General v Blake [2001] 1 AC 268 (HL).

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die Treuepflicht bestanden hatte, entstand an dem Erlangten ein constructive trust, der sich gegebenenfalls an den Surrogaten fortsetzte.159 Seit Mitte der Neunzigerjahre tauchte in der Rechtsprechung zudem ein neuer unjust factor auf, der die englische Bereicherungshaftung ungewöhnlich nahe an das kontinentaleuropäische Modell der condictio indebiti rückte. Die Formulierungen changierten zwischen „absence of consideration“,160 „no legal justification“161 oder „no legal ground“.162 Gemeint war stets, dass Zahlungen, die auf der Grundlage eines Vertrages erbracht worden waren, der sich nachträglich als nichtig herausstellte, zurückgefordert werden können. Die Einführung dieses neuen unjust factors wurde nötig, weil in den swapFällen im Ergebnis eine Rückabwicklung angezeigt war, die bislang anerkannten Restitutionsgründe sich jedoch als unzulänglich erwiesen. Zwar lag es für die Kläger nahe, sich auf einen mistake zu berufen, denn immerhin waren diese bei ihren Zahlungen irrtümlich von der Rechtswirksamkeit der swap agreements ausgegangen. Nach damaliger Rechtslage konnte eine action for money had and received allerdings nur auf einen Irrtum über Tatsachen, nicht aber auf einen Irrtum über Rechtsfragen gestützt werden.163 Auch eine Rückforderung wegen failure of consideration schied aus. Zum einen war dieser unjust-Grund nur einschlägig, wenn tatsächlich noch ein Vertrag bestand, was wegen der Nichtigerklärung durch das House of Lords nicht der Fall war. Zum anderen musste die Gegenleistung vollständig ausgeblieben sein; schon wenn der andere Teil seine vertraglichen Pflichten nur teilweise erfüllt hatte, war ein Bereicherungsanspruch ausgeschlossen.164 Viele Swapverträge waren sogar vollständig durchgeführt worden – die Beteiligten hatten also genau das erhalten, was ihnen (dem unwirksamen Vertrag gemäß) zustand. Das Bedürfnis für eine Rückabwicklung ergab sich daher ausschließlich aus der Nichtigkeit des Vertrages. Dieser Aspekt war jedoch – nach dem damaligen Stand des englischen Bereicherungsrechts – irrelevant.165 Attorney General for Hong Kong v Reid [1994] 1 AC 324 (PC). Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1994] 4 All ER 890 (Ch) 930, per Hobhouse J. Vgl. Kleinwort Benson Ltd v Sandwell BC [1994] 4 All ER 890 (QB) sowie Kleinwort Benson Ltd v South Tyneside Metropolitan BC [1994] 4 All ER 972 (Ch). 161 Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1994] 4 All ER 890 (CA) 969, per Leggatt LJ. 162 Kleinwort Benson Ltd v Lincoln CC [1999] 2 AC 349 (HL) 409, per Lord Hope. 163 Bilbie v Lumley 2 East 469, 102 ER 448 (Court of King’s Bench). Zudem war unklar, ob überhaupt ein Irrtum vorgelegen hatte. Denn bevor das House of Lords sämtliche von den Gemeinden abgeschlossenen swap-Verträge für nichtig erklärt hatte, war man zwar allgemein von der Wirksamkeit dieser Geschäfte ausgegangen. Möglicherweise waren solche Verträge aber erst seit der Entscheidung Hazell v Hammersmith and Fulham (1992) 2 AC 1 (HL) unwirksam – zu dieser Auffassung hätte jedenfalls ein Gegner der deklarativen Theorie des Rechts gelangen müssen. 164 Fibrosa Spolka Akcyjna v Fairbairn Lawson Combe Barbour Ltd [1943] AC 32 (HL). 165 Vgl. Evans-Jones / Kruse, Failure of Consideration, S. 151 f. 159 160

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In der 1993 ergangenen, erstinstanzlichen Entscheidung Westdeutsche Landesbank v Islington LBC leitete der Richter Hobhouse deshalb aus dem „principle of unjust enrichment“ einen neuen unjust factor namens „absence of consideration“ ab. Im bereicherungsrechtlichen Zusammenhang bedeute „consideration“ das Bestehen eines vertraglichen Versprechens als Grundlage des Leistungsaustauschs. Fehle es an dieser Grundlage, weil der Vertrag nichtig war, so könnten alle geleisteten Zahlungen zurückgefordert werden.166 Während der Court of Appeal dieser Begründung weitgehend folgte,167 äußerte sich das House of Lords in zwei obiter dicta zurückhaltend.168 Im Jahre 1998 gab das damalige oberste Gericht Großbritanniens stattdessen die Regel auf, derzufolge ein Rechtsirrtum nicht zur Rückzahlung berechtigt, und konnte sich nunmehr bei der Rückabwicklung eines nichtigen Swapvertrages auf den traditionellen unjust-Grund mistake stützen.169 Damit blieb offen, ob der langen Liste der unjust factors nun ein weiterer hinzugefügt worden war und wenn ja, in welchem Verhältnis dieser zu den übrigen stand.170 Nicht zweifelhaft war hingegen, dass die Ausweitung der bereicherungsrechtlichen Tatbestände eines Ausgleichs durch schlagkräftige Einwendungen bedurfte. Daher führte das House of Lords bereits in der ersten Leitentscheidung, Lipkin Gorman v Karpnale, die „change of position defence“ ein. Lord Goff konzipierte die Einrede als Prinzip des equity-Rechts und wählte dementsprechend eine offene Formulierung: „[…] the defence is available to a person whose position has so changed that it would be inequitable in all the circumstances to require him to make restitution, or alternatively to make restitution in full.“171 Dennoch betonte er, es stehe nicht im freien Ermessen des Gerichts, den Bereicherungsanspruch ganz oder teilweise zu versagen; die Zulässigkeit der Einrede richte sich im Gegenteil ausschließlich nach dem Verhalten und dem Vermögen des Bereicherten. Dieser musste beim Empfang des Gegenstandes gutgläubig gewesen sein, durfte also die Umstände, die die Rückzahlungspflicht begründeten, nicht gekannt haben.172 Weiterhin war erforderlich, dass der Empfang für die Vermögensminderung kausal 166

924.

Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1994] 4 All ER 890 (Ch)

167 Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1994] 4 All ER 890 (CA) 969, per Leggatt LJ. 168 Siehe die speeches von Lord Goff und Lord Browne-Wilkinson in Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1996] AC 669 (HL). 169 Kleinwort Benson v Lincoln CC [1999] 2 AC 349 (HL). 170 Vgl. S. Meier, Nach 196 Jahren: Bereicherungsanspruch wegen Rechtsirrtums in England, S. 564. 171 Lipkin Gorman v Karpnale [1991] 2 AC 548 (HL) 580. 172 Lipkin Gorman v Karpnale [1991] 2 AC 548 (HL) 578. Fahrlässige Unkenntnis genügte wohl nicht; siehe Dextra Bank & Trust Co Ltd v Bank of Jamaica [2002] 1 All ER (Comm) 193 (PC).

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geworden war und es sich um eine nicht alltägliche Ausgabe handelte.173 Damit waren die Anforderungen an eine Entreicherung etwas geringer als bei Birks, der es zur Bedingung gemacht hatte, dass der Empfänger auf das Behaltendürfen des Bereicherungsobjekts vertraut hatte.174 Aus Lord Goffs Ausführungen ging nicht hervor, an welchem Tatbestandsmerkmal des „principle of unjust enrichment“ die „change of position defence“ eigentlich ansetzte: Entfiel die Haftung, weil die Bereicherung weggefallen war, oder konnte die Bereicherung angesichts der Umstände nicht mehr als ungerecht angesehen werden?175 Offen blieb zudem das Verhältnis der neuen Einrede zu den traditionellen, enger gefassten Einwendungen, insbesondere zu estoppel.176 Schließlich stellte sich die Frage, ob der Entreicherungseinwand auch für die Kategorie der „restitution for wrongs“ gelten sollte, beziehungsweise ob nach der Art des Delikts zu differenzieren war.177 Unmissverständlich zurückgewiesen hat das House of Lords hingegen Birks’ Vorschlag, den aufgrund eines „subtractive unjust enrichment“ entstehenden Anspruch dinglich auszugestalten. Wenn auf der Grundlage eines nichtigen Vertrages Eigentum übertragen werde, so urteilten die Richter, erwachse an dem Gegenstand kein resulting trust zugunsten des Übertragenden. In seiner Begründung der Entscheidung Westdeutsche Landesbank stellte Lord Browne-Wilkinson restriktive Voraussetzungen auf: Ein resulting trust entstehe nur dann, wenn der Veräußerer ausdrücklich oder konkludent den Willen zum Ausdruck gebracht habe, der Gegenstand solle unter gewissen Umständen mit einem trust zu seinen Gunsten belastet werden.178 Bei der näheren Bestimmung dieser Umstände orientierte sich der Richter an den traditionellen Fallgruppen.179 Zwar setzte sich Lord Browne-Wilkinson oberflächlich mit Birks’ bereicherungsrechtlich ausgerichteter Systematisierung der trust-Arten auseinander.180 In seiner Argumentation stützte er sich aber vorwiegend auf überkommene Prinzipien des equity-Rechts: Aus Gründen des Verkehrsschutzes könnten trusts nur an konkreten Eigentumsgegenständen, nicht aber an nur Lipkin Gorman v Karpnale [1991] 2 AC 548 (HL) 580. Siehe oben, S. 177 f. 175 Vgl. Virgo, The Principles of the Law of Restitution (2. Aufl.), S. 691 f. 176 Einige Richter erklärten später, die defence of estoppel habe nun ihren Anwendungsbereich verloren; siehe Scottish Equitable plc v Derby [2001] 3 All ER 818 (CA) 847, per Lord Walker, sowie Philip Collins Ltd v Davis [2002] 3 All ER 808 (Ch) 826, per Parker J. Diese Ansicht vertrat auch Burrows, Change of Position, S. 825 ff. 177 Virgo, The Principles of the Law of Restitution (2. Aufl.), S. 705 f.; Burrows, Change of Position, S. 819 ff. 178 Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1996] AC 669 (HL) 707– 708. 179 Siehe oben, S. 180 f. 180 Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1996] AC 669 (HL) 708– 709. 173 174

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wertmäßig herauszugebenden Bereicherungen entstehen. Voraussetzung für die Entstehung eines trust sei ferner, dass der Empfänger aus Gewissensgründen verpflichtet ist, das Empfangene für den Übertragenden zu besitzen. Birks zufolge solle der Bereicherungsgegenstand indes schon bei dessen Erhalt mit einem resulting trust belastet werden, obwohl der Empfangende zu diesem Zeitpunkt noch keine Kenntnis von dem Irrtum oder dem Ausbleiben der Gegenleistung habe, so dass sein Gewissen (conscience) noch gar nicht beansprucht sein könne.181 Schließlich würde Birks’ Lösung zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung von Bereicherungsgläubigern in der Insolvenz führen.182 d) Birks’ zweites System des Bereicherungsrechts Auch wenn sich die Richter nicht in jeder Rechtsfrage Birks’ Auffassungen anschlossen – unübersehbar hatte erstmals ein Rechtswissenschaftler die Führung bei der Umgestaltung eines ganzen Rechtsgebiets übernommen. In den Jahren, in denen die Rechtsprechung die entscheidenden Weichen für die weitere Entwicklung des law of restitution stellte, trat Birks mit zahlreichen Publikationen hervor. In diesen suchte er nicht nur sein eigenes System mit den neuen Judikaten in Einklang zu bringen;183 manche Aufsätze zielten unverhohlen darauf ab, demnächst anstehende Entscheidungen zu beeinflussen.184 Folgte die Rechtsprechung Birks’ Empfehlungen nicht, musste sie sich auf vehemente Kritik gefasst machen.185 Der amtierende Regius Professor of Civil Law gab sich jedoch keineswegs damit zufrieden, nur einzelne Urteile zu kommentieren. Die systematischen Fragen, die Birks in seiner „Introduction“ erstmals gestellt hatte, ließen ihn nicht mehr los. Insbesondere die eingehende Beschäftigung mit dem deutschen Recht der ungerechtfertigten Bereicherung nährte Zweifel, ob er sich wirklich für die richtigen Antworten entschieden hatte. Rückblickend hat Birks diese Zeit als zähes Ringen mit sich selbst beschrieben: Nur sehr zögerlich sei er zu der schrecklichen Gewissheit gelangt, einem fundamentalen Irrtum erlegen zu sein; nur mit großem Widerwillen habe er eingesehen, dass er sich ab sofort mit denjenigen verbünden müsse, die er bislang bekämpft hatte, während seine einstigen Freunde nun der Verfolgung anheim fallen würden.186 Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1996] AC 669 (HL) 705, 708–709. 182 Westdeutsche Landesbank Girozentrale v Islington LBC [1996] AC 669 (HL) 716. 183 Siehe etwa Birks, The English recognition of unjust enrichment. 184 Siehe beispielsweise Birks, Restitution from the Executive; ders., Restitution and Resulting Trusts. 185 Siehe zum Beispiel Birks, No Consideration: Restitution after Void Contracts; ders., Major Developments in the Law of Restitution; ders., Trusts raised to avoid unjust enrichment: the Westdeutsche case. 186 Birks, Unjust Enrichment, S. xiv. 181

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Etwa seit dem Jahr 1997 zeichneten sich allmählich die Umrisse einer neuen Konzeption des Bereicherungsrechts ab. Zunächst trat Birks mit einigen kleineren Beiträgen an die Öffentlichkeit, darunter auch der inzwischen berühmte Aufsatz „Misnomer“, in dem er das Verhältnis des Bereicherungsrechts zum Deliktsrecht völlig neu bestimmte: Das Rechtsgebiet sollte jetzt einen wesentlich geringeren Umfang haben und fortan nicht mehr „restitution“, sondern „unjust enrichment“ genannt werden.187 Schließlich legte er 2003 – ein Jahr vor seinem frühzeitigen Tod – eine lehrbuchhafte Schrift mit dem Titel „Unjust Enrichment“ vor, in der er ein kompliziertes Begriffssystem entwarf, mit dem er beanspruchte, Antworten auf alle grundlegenden Probleme dieses Rechtsgebiets zu geben. Drei grundlegende dogmatische Änderungen waren es, die Peter Birks an seiner ursprünglichen Konzeption des Bereicherungsrechts vornahm:188 Erstens zog er aus der normativen Differenz zwischen „unjust enrichment“ und „restitution for wrongs“ nunmehr die Konsequenz, das „law of restitution“ müsse in zwei voneinander unabhängige Rechtsgebiete zerschlagen werden. Zwar sei beiden Rechtsbereichen nach wie vor die gleiche Rechtsfolge eigen; in ihren charakteristischen Tatbeständen unterschieden sich diese jedoch kategorisch: Das „principle of unjust enrichment“ gelte nämlich nur in dem ersten Teilgebiet, während „restitution for wrongs“ dem größeren Komplex der „wrongs“, also dem Recht der Pflichtverletzungen, zugeordnet werden müsse.189 Die unablässige Suche nach der normativen Spezifität des Bereicherungsrechts hatte den Gelehrten am Ende seines Lebens zu der Einsicht geführt, dass die von ihm zunächst als homogen wahrgenommene Rechtsmasse in Wirklichkeit heterogen war und deshalb zerteilt werden musste. Zweitens definierte er das Tatbestandsmerkmal „at the expense of“ nun ausschließlich im Sinne von „by subtraction from“; gemeint war damit, dass der Beklagte den Vermögensgegenstand vom Kläger erhalten hatte. In anderer Hinsicht gelangte er zu einer großzügigeren Interpretation dieser Voraussetzung: Für eine Klage wegen „unjust enrichment“ war es nicht Bedingung, dass die Bereicherung des Beklagten zu einem entsprechenden Schaden des Klägers geführt hatte – ganz im Gegensatz zu einem „wrong“, der im Regelfall weiterhin einen Schaden voraussetzte. Aufgrund ihrer kategorisch verschiedenen Anspruchsgrundlagen standen das Bereicherungsrecht und das Recht der Pflichtverletzungen nun in einem Konkurrenzverhältnis, und ein Sachverhalt konnte häufig gleichermaßen unter den Gesichtspunkten „unjust enrichment“ und „wrong“ analysiert werden.190 Birks, Misnomer. Siehe auch dens., Property and Unjust Enrichment: Categorical Truths, sowie dens., Unjust Enrichment and Wrongful Enrichment. 188 Vgl. Birks, Unjust Enrichment, S. xiv. 189 Birks, Unjust Enrichment, S. 11 ff. und 22 ff. 190 Birks, Unjust Enrichment, S. 62 ff. 187

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Drittens führte Birks einen neuen, allgemeinen Restitutionsgrund mit dem Namen „absence of basis“ ein, der sich stark am deutschen Modell des „fehlenden rechtlichen Grundes“ orientierte. Nunmehr sollte eine Bereicherung schon allein deshalb herauszugeben sein, weil der Vertrag, auf dessen Grundlage die Vermögensverschiebung erfolgte, nichtig gewesen war – Vertragsrecht und Bereicherungsrecht wurden dadurch präzise aufeinander abgestimmt. Bei dem neuen Konzept der „absence of basis“ konnte es sich allerdings nicht um einen weiteren „unjust factor“ handeln. Vielmehr musste dieser Begriff alle anderen Restitutionsgründe ersetzen oder doch wenigstens teilweise in sich aufnehmen. Birks stellte sich „absence of basis“ deshalb als eine mittlere Abstraktionsstufe zwischen den „unjust factors“ und dem Tatbestandsmerkmal „unjust“ des Prinzips der ungerechten Bereicherung vor. Zusätzlich unterschied der Autor noch einmal mehrere Arten und Unterarten von „rechtlichen Gründen“ und zog damit weitere Ebenen in sein Begriffsgebäude ein.191 Wie kam es zu diesen Umwälzungen in der Dogmatik des Bereicherungsrechts? Birks’ Plädoyer für die Umbenennung des „law of restitution“ in „unjust enrichment“ begann mit der Beobachtung, dass die anderen Rechtsgebiete des Schuldrechts, nämlich contract und tort, nicht nach einer charakteristischen Rechtsfolge („response“) benannt werden, sondern nach dem abstrakt umschriebenen Ereignis, das diese Rechtsfolge jeweils auslöst („causative event“). In der üblichen Aufzählung „contract, tort, restitution“ würden deshalb zwei unterschiedliche Klassifikationskriterien miteinander vermengt. Solange man davon ausgehe, dass „unjust enrichment“ und „restitution“ deckungsgleich seien, handele es sich dabei nur um eine harmlose terminologische Ungenauigkeit. Beanstanden ließe sich allenfalls, dass die Bezeichnung „restitution“ einen falschen Akzent setze – denn auch in diesem Rechtsgebiet drehe sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung fast ausschließlich um den Tatbestand, während die Rechtsfolge weitgehend als uninteressant angesehen werde.192 Der Rechtsgelehrte war jedoch zu der beunruhigenden Einsicht gelangt, dass die Rechtsfolge „restitution“ – verstanden als Pflicht zur Herausgabe eines Vermögensgegenstandes („give up“)193 – in Wahrheit völlig unspezifisch ist. Diese werde keineswegs nur von Tatbeständen ausgelöst, die bisher dem „law of restitution“ zugerechnet worden waren; vielmehr trete sie in nahezu allen Rechtsgebieten auf. Zahlreiche Herausgabeansprüche fänden sich zum Beispiel im Vertragsrecht – zu denken sei etwa an die Rückzahlungsverpflichtung des Darlehnsnehmers, die Räumungspflicht des Mieters oder die Rückgabepflicht des Entleihers.194 Einen Anspruch auf Gewinnab191 192 193 194

Birks, Unjust Enrichment, S. 87 ff. und 114 ff. Birks, Misnomer, S. 5. Birks / Mitchell, Unjust Enrichment, S. 591. Birks, Misnomer, S. 19; ders., Unjust Enrichment, S. 11 und 23.

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schöpfung habe auch der Autor, der mit seinem Verleger vertraglich eine Beteiligung an den Einnahmen aus der Veröffentlichung vereinbart.195 Ebenso könne es außerhalb des Vertragsrechts „restitution“ geben, die auf der Einigung („consent“) der Parteien beruht, zum Beispiel, wenn jemandem etwas geschenkt wird (gift), was diesem zuvor gehörte.196 Größer als bislang angenommen sei auch der Bereich der wrongs, die eine Gewinnhaftung nach sich ziehen: Neben den anerkannten Fallgruppen – breach of a fiduciary duty, breach of contract und conversion – müssten hierzu noch die Verletzung eines Patents oder eines Markenrechts gezählt werden (infringement of patent und passing off ),197 ebenso wie der Betrug oder die Erpressung eines Lösegeldes.198 Darüber hinaus gebe es weitere Ereignisse, die Herausgabeansprüche begründen, sich aber keiner der bekannten Kategorien zuordnen ließen, wie etwa das Erzielen eines Einkommens, das die Pflicht auslöst, Steuern in einer bestimmten Höhe abzuführen.199 Und während sich Birks im Jahre 1985 noch dafür ausgesprochen hatte, zwischen der Restitution und dem Anspruch auf Wiedereinräumung des Besitzes möglichst zu unterscheiden, hatte er nun keinerlei Skrupel, auch die Pflicht zur Herausgabe eines erlangten Gegenstandes, der nach equity-Recht einem anderen gehört („receipt of a thing owned by another“), als „restitutionary obligation“ zu qualifizieren.200 In der Zusammenschau zeigte sich, dass die besagte Rechtsfolge, die bisher nur einem Teilgebiet des „law of obligations“ seinen Namen gegeben hatte, gleichermaßen durch alle juristischen Ereignisse – „manifestations of consent“, „wrongs“, „unjust enrichments“ und „miscellaneous other events“ – hervorgerufen werden konnte.201 Nach diesem Verständnis begründete eine ungerechte Bereicherung zwar weiterhin einen Anspruch auf Herausgabe des Vermögenszuwachses. Die – wie Birks es nannte – „multi-causality of restitution“202 hatte jedoch zur Folge, dass es nun nicht mehr möglich war, umgekehrt von der Rechtsfolge „restitution“ auf den Tatbestand „unjust enrichment“ zu schließen.203 Die beiden Begriffe waren nicht logisch äquivalent. Wegen der Diversität der haftungsauslösenden Ereignisse hielt es der Rechtswissenschaftler nicht mehr für sinnvoll, von einem „law of restitution“ zu sprechen.204

195 196 197 198 199 200 201 202 203 204

Birks, Unjust Enrichment, S. 23. Birks, Misnomer, S. 19. Birks, Misnomer, S. 14. Birks, Misnomer, S. 13. Birks, Unjust Enrichment, S. 24. Birks, Misnomer, S. 22 ff.; ders., Unjust Enrichment, S. 25. Birks, Misnomer, S. 10; ders., Unjust Enrichment, S. 23. Birks, ebd. Birks, Misnomer, S. 7; ders., Unjust Enrichment, S. 24. Birks, Misnomer, S. 29.

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In der Verschiedenheit der Tatbestände lag auch der Grund für die deutlichere Unterscheidung zwischen „unjust enrichment“ und „wrongful enrichment“. Den paradigmatischen Fall eines „unjust enrichment“ bildete nach Ansicht von Peter Birks der Empfang einer irrtümlichen Zahlung auf eine nicht bestehende Schuld („receipt of a mistaken payment of a non-existing debt“). An diesem ließen sich die normativen Grundentscheidungen des Rechtsgebiets ablesen:205 Die Haftung des Empfängers könne bedenkenlos verschuldensunabhängig ausgestaltet werden, weil von diesem nur verlangt werde, etwas herauszugeben, das ihm ohnehin nicht zusteht. Es gehe lediglich darum, abzuschöpfen, was der Empfänger aufgrund der Vermögensübertragung zusätzlich zur Verfügung hat.206 Dementsprechend könne es auch nicht darauf ankommen, ob dem Vermögenszuwachs des Empfängers ein Schaden auf Seiten des Anspruchsstellers entspricht. Der Empfänger müsse auch Erträge herausgeben, die er mit dem erhaltenen Gegenstand erwirtschaftet hat, weil auch die Befugnis, mit diesem Gegenstand Gewinne zu erzielen, weiterhin dem Bereicherungsgläubiger zugeordnet werde.207 Andererseits dürfe nur abgeschöpft werden, was von dem Erlangten noch vorhanden ist, um nicht in das ursprüngliche Vermögen des Bereicherten einzugreifen. Die strikte Haftung müsse daher durch den Entreicherungseinwand („change of position“) abgemildert werden.208 Die für den Bereicherungsanspruch charakteristischen Voraussetzungen sind nach Birks’ Auffassung das Merkmal „at the expense of“, verstanden als Vermögensverschiebung vom Kläger zum Beklagten, sowie das Fehlen eines rechtlichen Grundes für das Behaltendürfen („absence of basis“). Demgegenüber gehe es bei den „acquisitive wrongs“ um die Sanktionierung einer Pflichtverletzung (breach of duty).209 Die subjektiven Anforderungen können variieren; vorsätzlich, fahrlässig oder ohne Verschulden.210 Typisch, wenngleich nicht notwendig, sei ebenfalls, dass der Anspruchsteller einen Schaden nachweisen müsse.211 Die für den Bereicherungsanspruch typische Einrede „change of position“, die dafür sorge, dass nur eine tatsächlich beim Empfänger verbliebene Bereicherung herausgegeben werden muss, passe dagegen auf die vertragliche Gewinnhaftung nicht. 212 Anders als das Ereignis „unjust enrichment“ könne ein „wrong“ außerdem vielfältige Rechtsfolgen auslösen: zum einen Schadensersatz („compensation“) – einschließlich besonderer Formen wie Ersatz des Erfüllungsschadens (expectation damages) oder Birks, Unjust Enrichment, S. 15. Birks, Unjust Enrichment, S. 6 ff. 207 Birks, Unjust Enrichment, S. 64 und 68 ff. 208 Birks, Unjust Enrichment and Wrongful Enrichment, S. 1786 f.; ders., Unjust Enrichment, S. 7. 209 Birks, Unjust Enrichment, S. 20. 210 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 42 ff. 211 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 40. 212 Birks, Unjust Enrichment, S. 191. 205 206

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Vertrauensschades („reliance damages“) sowie Strafschadensersatz (punitive damages) – zum anderen Gewinnabschöpfung („restitution“).213 Hinzu kämen noch Unterschiede in Bezug auf die Verjährung und die prozessuale Durchsetzung der Ansprüche.214 All dies belegte die grundsätzliche Andersartigkeit der beiden Ereignisse „unjust enrichment“ und „wrong“: Eine ungerechte Bereicherung als solche sei niemals eine Pflichtverletzung,215 und umgekehrt liege noch lange keine ungerechte Bereicherung vor, nur weil sich jemand aufgrund eines Delikts oder eines Vertragsbruchs bereichern konnte.216 In einer Klassifikation der Ansprüche nach dem Haftungsgrund bildeten „unjust enrichment“ und „wrong“ daher zwei eigenständige Gattungen. Zwar war es weiterhin möglich, denselben Sachverhalt einmal unter dem Aspekt der ungerechten Bereicherung und ein anderes Mal unter dem Gesichtspunkt der Pflichtverletzung zu analysieren217 – dies war, weil ein „unjust enrichment at the claimant’s expense“ keinen Schaden voraussetzte, sogar recht häufig der Fall.218 Der Kläger konnte dann zwischen zwei causes of action wählen;219 insbesondere wegen der Aussicht, neben „restitution“ auch „compensation“ verlangen zu können, erwies sich eine Würdigung als Pflichtverletzung meist als vorteilhaft.220 Dessen ungeachtet blieben die Kategorien „unjust enrichment“ und „wrong“ begrifflich getrennt.221 Denn es ließ sich längst nicht jede Vertragspflichtverletzung, die in einer Bereicherung resultierte und die einen entsprechenden Herausgabeanspruch begründete, als ungerechte Bereicherung qualifizieren – etwa wenn der Vermögensgegenstand nicht vom Kläger, sondern von einem Dritten stammte und zwischen diesem und dem Empfänger ein wirksamer Vertrag bestand.222 Geradezu radikal mutete demgegenüber Birks’ Vorschlag an, die Liste der „unjust factors“ durch einen einzigen „master unjust factor“223 mit dem Na213 Der Normsetzer könne frei entscheiden, mit welcher Rechtsfolge er ein Delikt sanktioniere. Siehe Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 12 ff.; ders., Misnomer, S. 10 ff. 214 Birks, Unjust Enrichment and Wrongful Enrichment, S. 1783 ff. 215 Birks, Unjust Enrichment and Wrongful Enrichment, S. 1783; ders., Unjust Enrichment, S. 12 und 20. 216 Birks, Misnomer, S. 14; ders., Unjust Enrichment, S. 66. 217 Birks, Misnomer, S. 17; ders., Unjust Enrichment, S. 12. 218 Birks, Unjust Enrichment, S. 65 f. und 70 f. 219 Birks, Unjust Enrichment, S. 69. 220 Birks, Misnomer, S. 18. 221 Birks, Unjust Enrichment, S. 66. Machte der Kläger sowohl Schadensersatz als auch Gewinnherausgabe geltend, sollte sich der Beklagte mit der neuen Einrede „election“ gegen die doppelte Inanspruchnahme zur Wehr setzen können; siehe hierzu a. a. O., S. 205 f. 222 Birks, Unjust Enrichment, S. 12 und 66. 223 Birks, Unjust Enrichment, S. 127.

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men „absence of basis“ zu ersetzen. Tatsächlich hatte sich der Gelehrte nur schwer von seiner bisherigen Konzeption lösen können. In der Vielfalt der Restitutionsgründe hatte Birks lange eine Stärke des englischen Rechts gesehen, weil diese den Kläger dazu zwinge, für sein Rückzahlungsverlangen einen konkreten Grund zu benennen. Die neuere Rechtsprechung, die in der Unwirksamkeit des Vertrages, auf dessen Grundlage Leistungen ausgetauscht worden waren, eine „absence of consideration“ sehen und allein darauf die Herausgabepflicht stützen wollte, lehnte er deshalb zunächst ab: Wenn beide Parteien ihre Leistungen vollständig ausgetauscht hätten, ohne dass der Leistungswille des Klägers beeinträchtigt gewesen war, der Beklagte sich gewissenlos verhalten hatte oder vorrangige rechtspolitische Erwägungen den Willen des Klägers als unbeachtlich erscheinen ließen, stelle die Nichtigkeit des Vertrages für sich genommen keinen hinreichenden Grund für eine Rückabwicklung dar.224 Als das House of Lords wenig später den Restitutionsgrund mistake auf Irrtümer über die Rechtslage ausweitete, befürchtete er ebenfalls, dies könne der condictio indebiti den Weg ebnen.225 Deshalb bestritt er, dass sich die Rückabwicklung bereits durchgeführter, aber für nichtig erklärter Verträge mit einem „mistake of law“ begründen lasse. Denn die Beteiligten hätten nicht im Zeitpunkt der Leistungserbringung über ihre Pflichten geirrt, sondern erst im Nachhinein von der Unwirksamkeit des Vertrages erfahren.226 Dennoch schien Birks allmählich zu begreifen, dass der traditionelle englische Ansatz in mehreren Fallkonstellationen zu unbefriedigenden Ergebnissen führte und das kontinentaleuropäische Modell wesentlich einfacher zu handhaben war.227 Den Ausschlag für Peter Birks’ Konversion zur Rechtsgrundlehre gaben schließlich die Arbeiten seiner ehemaligen Studentin Sonja Meier.228 Die deutsche Rechtsvergleicherin hatte argumentiert, die Engländer verwendeten schon seit langem die Figur des „legal ground“, freilich ohne sich dessen bewusst zu sein. Der Bereicherungsanspruch wegen eines Irrtums sei ursprünglich eine englische Form der gemeinrechtlichen condictio indebiti gewesen, die neben der Leistung auf eine nicht bestehende Verbindlichkeit auch einen Irrtum des Leistenden vorausgesetzt hatte. Da klagbare Verbindlichkeiten wegen der consideration-Doktrin im englischen Recht nur in begrenztem Umfang anerkannt waren, habe man später auf die Voraussetzung der Rechtsgrundlosigkeit verzichtet und den Anspruch allein auf den mistake gestützt. 229 Ein Irrtum, der für eine Zuwendung ursächlich geworden sei, 224 Birks, Major Developments in the Law of Restitution, S. 259 ff. Zu dieser Rechtsprechung siehe oben, S. 185 ff. 225 Birks, Mistakes of Law, S. 233. 226 Birks, Mistakes of Law, S. 224 ff. 227 Siehe nur Birks, Mistakes of Law, S. 230 ff. 228 Birks, Unjust Enrichment, S. xv und 98 f. 229 S. Meier, Irrtum und Zweckverfehlung, S. 403.

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führe allerdings auch heute nicht zu einem Bereicherungsanspruch, wenn der Zuwendung ein wirksamer Vertrag oder eine andere klagbare Verbindlichkeit zugrunde liege.230 Zudem stelle sich die Frage, wie die Rückforderung irrtümlicher Leistungen sinnvoll eingegrenzt werden kann – etwa bei bloßen Motivirrtümern oder bei Zahlungen auf eine fremde Schuld, die irrtümlich für eine eigene gehalten wird.231 Welche Irrtümer relevant seien, ließe sich jedoch nur durch eine genaue Analyse des Austauschgeschäfts klären.232 Da die unjust factors nach Sonja Meiers Auffassung ohnehin nur die Unwirksamkeitsgründe des Vertragsrechts widerspiegelten, sprach sie sich dafür aus, das komplizierte Nebeneinander verschiedener Restitutionstatbestände durch den Grundsatz zu ersetzen, dass die Nichtigkeit des Vertrages einen Bereicherungsanspruch begründet.233 In seinem Spätwerk „Unjust Enrichment“ schloss sich Peter Birks dieser Forderung an und verkündete, eine Bereicherung könne nur dann zurückgefordert werden, wenn es dieser an einer „explanatory basis“ fehle.234 Der Nachweis eines konkreten unjust factor werde damit entbehrlich. Birks zufolge liegt eine „basis“ etwa dann nicht vor, wenn derjenige, auf dessen Kosten die Bereicherung stattgefunden hat, nicht an der Vermögensverschiebung mitgewirkt hat („non-participatory enrichments“), beispielsweise bei einem Diebstahl.235 Hatte der Kläger hingegen selbst das Vermögen des Beklagten gemehrt („participatory enrichments“), muss weiter unterschieden werden, ob dies auf vertraglicher Grundlage geschehen war oder nicht: Bei den sogenannten „obligatory enrichments“ solle mit der Übertragung des Bereicherungsgegenstandes eine vertragliche Verpflichtung erfüllt werden, die den Grund dafür liefert, weshalb der Empfänger den Gegenstand behalten darf.236 An einem solchen Grund fehle es jedoch, wenn von Anfang an kein Vertrag bestand („initial failure of basis“) oder wenn dieser nach Erbringung der Leistung nichtig beziehungsweise anfechtbar wird („subsequent failure of basis“); in diesen Fällen entstehe ein Bereicherungsanspruch.237 Wenn schon vor der Vermögensübertragung kein wirksamer Vertrag bestanden hatte, etwa weil dieser mangels Bedingungseintritts nicht zustande kam oder wegen Rechtsverstoßes nichtig war, ist es nach Birks’ neuerer Ansicht überflüssig, noch einmal 230 S. Meier, Nach 196 Jahren: Bereicherungsanspruch wegen Rechtsirrtums in England, S. 563; dies., Unjust Factors and Legal Grounds, S. 53. 231 S. Meier, Nach 196 Jahren: Bereicherungsanspruch wegen Rechtsirrtums in England, S. 562. 232 S. Meier, Unjust Factors and Legal Grounds, S. 53. 233 S. Meier, Nach 196 Jahren: Bereicherungsanspruch wegen Rechtsirrtums in England, S. 564. 234 Birks, Unjust Enrichment, S. 125. 235 Birks, Unjust Enrichment, S. 137 f. 236 Birks, Unjust Enrichment, S. 115. 237 Birks, Unjust Enrichment, S. 114.

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darzulegen, dass der Leistende einem Irrtum (mistake) erlegen war.238 Gleiches gelte, wenn der Leistende durch Irreführung (misrepresentation) oder ungebührliche Einflussnahme (undue influence) zu der Vermögensverschiebung bewegt worden ist – in diesen Fällen sei er berechtigt, den Vertrag anzufechten und allein dies genüge, um von einer „absence of basis“ zu sprechen.239 Darüber hinaus könne der rechtliche Grund auch erst nach dem Empfang des Bereicherungsgegenstandes wegfallen, etwa wenn einer Partei wegen einer Vertragsverletzung ein Rücktrittsrecht erwächst (rescission) oder die Leistungspflichten wegen einer wesentlicher Änderung der Vertragsumstände automatisch entfallen (frustration).240 Auch dann müsse sich der Kläger nicht mehr auf das Ausbleiben der Gegenleistung (failure of consideration) berufen, sondern könne sich bei der Begründung seines Herausgabeverlangens ohne Weiteres auf die Beendigung des Vertrages stützen.241 Das Gegenstück zu den „participatory enrichments“ sollten die „voluntary enrichments“ bilden. Dabei handele es sich um Zuwendungen, zu denen der Leistende nicht verpflichtet ist, mit denen er jedoch einen bestimmten Zweck verfolgt. Werde dieser Zweck nicht erreicht, liege keine „explanatory basis“ vor und die Leistung könne zurückgefordert werden.242 Die wichtigste von Birks angeführte Fallgruppe ist dabei die Übereignung vom settlor an den trustee; die Übertragung des Vermögensgegenstandes erfolge hier mit der Zwecksetzung, dass der Empfänger diesen fremdnützig innehaben solle. Schlägt die Errichtung des trust fehl oder stellt sich im Rückblick dessen Nichtigkeit heraus, beispielsweise, weil die beneficiaries nicht hinreichend bestimmt sind oder ein Verstoß gegen die rule against perpetuities vorliegt, entsteht an dem Vermögensgegenstand ein resulting trust, der den trustee zur Herausgabe verpflichtet.243 Häufig bestehe der mit der Leistung verfolgte Zweck auch in dem späteren Zustandekommen eines Vertrages – so etwa bei einer Anzahlung vor Vertragsschluss – oder im Aufleben einer vertraglichen Verpflichtung – zum Beispiel beim Entrichten einer Versicherungsprämie. 244 Schließlich könne der rechtliche Grund auch in einem Schenkungsversprechen (gift) liegen; dieses könne entweder schon bei der Entgegennahme des Geschenks unwirksam sein – beispielsweise wegen Störungen der Willensbildung des Schenkers („impaired intent“) – oder erst nachträglich wegfallen – etwa wenn sich die Umstände ändern, die Grundlage des Schenkungsversprechens waren („qualified intent“).245 238 239 240 241 242 243 244 245

Birks, Unjust Enrichment, S. 117 f. Birks, Unjust Enrichment, S. 111 und 121. Birks, Unjust Enrichment, S. 125. Birks, Unjust Enrichment, S. 127. Birks, ebd. Birks, Unjust Enrichment, S. 132 f. und 168 f. Birks, Unjust Enrichment, S. 128 f. Birks, Unjust Enrichment, S. 134 f.

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Es ist nicht zu übersehen, dass sich Peter Birks bei der Ausarbeitung seiner Theorie an der deutschen Rechtsgrundlehre orientiert hat, derzufolge der Behaltensgrund in einem Schuldverhältnis oder in dem einseitig bestimmten Zweck der Leistung besteht.246 Auch die Einteilung der rechtlichen Gründe folgt der aus dem deutschen Recht bekannten Typologie der Leistungszwecke (solvendi, credendi oder donandi causa).247 Unter dem Gesichtspunkt der Einheit des Privatrechts verdient Hervorhebung, dass mit dem „absence-ofbasis“-Modell auch der für das deutsche Recht charakteristische Automatismus der Rechtsfolgen in das englische Recht übernommen wird; dies bedeutet, dass die Nichtigkeit des Grundgeschäfts ohne Weiteres zur Rückabwicklung der ausgetauschten Leistungen führt. 248 Hat man einmal eingesehen, dass die alten „intent-based unjust factors“ lediglich Unwirksamkeitsgründe des Vertragsrechts widerspiegeln,249 lassen sich diese problemlos durch einen Verweis auf dieses Rechtsgebiet ersetzen. Ob es an einem vertraglichen Grundverhältnis fehlt und deshalb die Bereicherung ungerecht ist, bestimmt sich dann ausschließlich nach den Regeln des Vertragsrechts. Nicht anders verhält es sich bei einer unwirksamen Schenkung oder einem fehlgeschlagenen trust: Für die Frage, ob eine Herausgabepflicht besteht, kommt es nach Birks’ neuerer Ansicht auf die schon bestehenden, detaillierten Regelungen des Schenkungsrechts und des Trustrechts an.250 Das Bereicherungsrecht verhält sich zu diesen Rechtsgebieten nunmehr akzessorisch und vollzieht lediglich die andernorts getroffenen Wertungen nach. Dieser wertungsmäßige Gleichlauf führt dazu, dass sich die Kohärenz des gesamten Privatrechts erhöht. Als Hauptargument für die neue Interpretation des Tatbestandsmerkmals „unjust“ führte Birks die Vereinfachung an, die dadurch erreicht werde, dass an die Stelle der unübersichtlichen Liste der „unjust factors“ nunmehr ein einziger Restitutionsgrund tritt:251 „The ‘no basis’ approach makes unjust enrichment a tighter and more coherent unity than it was.“252 Die „intent-based unjust factors“ würden weitgehend irrelevant werden; man könne sie allenfalls noch als Grund dafür heranziehen, dass im konkreten Falle eine vertragliche Verpflichtung nicht bestand, die als Behaltensgrund in Frage gekommen wä246 Vgl. Larenz / Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts. Zweiter Band, 2. Halbband, S. 136 f. 247 Vgl. Wieling, Bereicherungsrecht, S. 13 ff. 248 Hierzu Zimmermann, Bereicherungsrecht in Europa, S. 36. 249 Birks, Unjust Enrichment, S. 99. 250 Vgl. Burrows, Absence of Basis: The New Birksian Scheme, S. 35 f. Peter Birks hat diese Konsequenz selbst nicht gezogen, sah sich aber vor das Problem gestellt, ob er in seine Darstellung des Bereicherungsrechts sämtliche Unwirksamkeitsgründe des Vertragsrechts aufnehmen oder es bei einer abstrakten Darstellung der „absence of basis“ belassen sollte; siehe Birks, Unjust Enrichment, S. 112 f. 251 Birks, Unjust Enrichment, S. 114. 252 Birks, Unjust Enrichment, S. 166.

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re.253 Die traditionellen Restitutionsgründe seien insofern nur Ausprägungen der „absence of basis“; sie könnten daher nicht neben, sondern nur unter dieser stehen. 254 Peter Birks fasste also die alten „unjust factors“ als Teil der Induktionsbasis der neuen „absence of basis“ auf, wie auch das mehrfach von ihm bemühte Bild einer Pyramide zeigt.255 Völlig überzeugend ist dies freilich nicht, denn genau genommen sind die „unjust factors“ nur Umstände, die den Behaltensgrund beseitigen oder dessen Entstehung verhindern, während „absence of basis“ das Fehlen des rechtlichen Grundes selbst bezeichnet und insofern ein Synonym für das Tatbestandsmerkmal „unjust“ ist. Wenngleich sich Peter Birks in seinem Alterswerk bevorzugt einer Rhetorik der radikalen Umkehr bediente – „Almost everything of mine now needs calling back for burning“256 –, so entwickelte er doch auch manche seiner bisherigen dogmatischen Auffassungen weiter. Beispielsweise verteidigte er seinen Standpunkt, wonach bei einem „unjust enrichment by subtraction“ stets ein resulting trust zugunsten des Bereicherungsgläubigers entstehe: Die verbreitete und insbesondere vom House of Lords vertretene Ansicht, eine ungerechte Bereicherung könne keine dinglichen Ansprüche auslösen, weil der Schutz des Eigentums Aufgabe des „law of property“, nicht aber des „law of unjust enrichment“ sei, beruhe auf einem Kategorienfehler. Während „unjust enrichment“ einen Tatbestand bezeichne, beziehe sich „property“ auf eine Rechtsfolge; die beiden Begriffe würden sich daher nicht gegenseitig ausschließen. So wie obligatorische Rechte auch könnten dingliche Rechte von jedem der Ereignisse „consent“, „tort“, „unjust enrichment“ oder „some other event“ erzeugt werden. Ob das Recht eine ungerechte Bereicherung tatsächlich mit einem right in rem beantworten solle, sei Gegenstand einer freien rechtspolitischen Entscheidung.257 Bei dieser sei jedoch auf Einheitlichkeit zu achten; sämtliche Fälle von „unjust enrichment“ sollten möglichst gleich behandelt werden. Der höhere Grad an Kohärenz, der durch die neue Theorie von der „absence of basis“ erreicht werde, müsse sich auch auf der Rechtsfolgenseite bemerkbar machen.258 Da es im englischen Recht bereits einige Beispiele für dingliche Bereicherungsansprüche gab – hierzu zählte Birks etwa die irrtümliche Zahlung oder die fehlgeschlagene Vermögensübertragung auf einen trustee 259 – sei die Richtung bereits vorgegeben, und eine Änderung sei nur bei erheblichen Unterschieden im Tatbestand gerechtfer-

Birks, Unjust Enrichment, S. 116 und 127. Birks, Unjust Enrichment, S. 99 f. 255 Siehe nur Birks, Unjust Enrichment, S. 101, 120 f. und 127. 256 Birks, S. xiv. 257 Birks, Property and Unjust Enrichment: Categorical Truths, S. 627 f.; ders., Unjust Enrichment, S. 30 ff. 258 Birks, Unjust Enrichment, S. 170 und 182 f. 259 Birks, Unjust Enrichment, S. 166 ff. 253 254

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tigt.260 Infolge seiner Konversion zur Rechtsgrundlehre hielt der Gelehrte es allerdings für angebracht, danach zu unterscheiden, ob die „explanatory basis“ von Anfang an nicht bestand oder erst nach dem Empfang des Vermögensgegenstandes weggefallen war: Hatte schon ursprünglich kein Rechtsgrund vorgelegen, so habe die Bereicherung dem Beklagten zu keinem Zeitpunkt zugestanden; deshalb müsse diese durch ein dingliches Recht des Klägers vor dem Zugriff anderer Gläubiger geschützt werden. Sei der Behaltensgrund dagegen erst später entfallen, so habe der Beklagte zumindest zeitweilig die volle Verfügungsmacht über den Bereicherungsgegenstand erlangt, so dass nur ein obligatorischer Herausgabeanspruch in Frage käme.261 Birks’ zweite Systematisierung des Bereicherungsrechts führte insgesamt zu einer Absenkung der Haftungsvoraussetzungen. Nach der Ausgliederung der „acquisitive wrongs“ verblieben nur noch verschuldensunabhängige Bereicherungsansprüche; wegen des Wechsels zur „absence-of-basis“-Doktrin folgte die Herausgabepflicht nun automatisch aus der Unwirksamkeit eines Vertrages oder dem Fehlschlagen eines trusts. Sollte die Bereicherungshaftung nicht uferlos werden, mussten auch die Einwendungen („defences“) durch generalisierende Umformungen gestärkt werden. Peter Birks überprüfte daher eine große Zahl von Einwendungen, die von den Obergerichten verschiedener Commonwealth-Jurisdiktionen anerkannt worden waren, auf ihre Vereinbarkeit mit dem englischen Recht und ordnete sie derjenigen Tatbestandsvoraussetzung des Bereicherungsprinzips zu, an die diese jeweils anknüpften: „Defences either adduce reasons which trump the injustice of retaining the enrichment, in which case they are unjust-related, or deny the enrichment at the expense of the claimant, in which case they are enrichment-related or at-the-expense-related.“262

Die „change of position defence“ bezog sich auf die noch vorhandene Bereicherung des Beklagten und ging deshalb – zusammen mit weiteren Einwendungen263 – in der neu geschaffenen Einrede der gutgläubigen Entreicherung („disenrichment“) auf. Diese dürfe die Haftung jedoch nur insoweit entfallen lassen, als sich das Vermögen des Empfängers aufgrund eines Ereignisses reduziert hatte, das nicht ohne die Bereicherung eingetreten wäre. Andererseits musste sie gleichermaßen auf dingliche wie persönliche Bereicherungsansprüche anwendbar sein, weil die Frage, ob eine bestimmte Einrede bestehe, von dem rechtserzeugenden Ereignis abhänge, nicht jedoch von der Art

Birks, Unjust Enrichment, S. 170. Birks, Unjust Enrichment, S. 163 und 183. 262 Birks, Unjust Enrichment, S. 207. 263 Dabei handelte es sich um die von Birks so genannten „nominate defences“, nämlich bona fide purchase from a third party, ministerial receipt und counter-restitution impossible. Zu diesen siehe Birks, Unjust Enrichment, S. 198 ff. 260 261

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des gewährten Rechts.264 Hingegen könne es keine Einwendung geben, die an das Merkmal „at the expense of“ anknüpfe. Die Behauptung, der Kläger habe den aufgrund der Vermögensverschiebung erlittenen Verlust wieder ausgleichen können, sei für einen bereicherungsrechtlichen Anspruch unerheblich, weil dieser einen Schaden nicht voraussetze.265 Gegenüber dem bisher gebräuchlichen unjust factor approach erwies sich Birks’ Rechtsgrundanalyse insofern als Vergröberung, als die rechtliche Missbilligung des Transfers, die in der Benennung eines konkreten unjust-Grundes zum Ausdruck gekommen war, nun bei der Prüfung des Bereicherungsanspruchs nicht mehr in Erscheinung trat. Zwar spiegelten sich diese Wertungen in den Nichtigkeitsgründen des Vertragsrechts; die durch das „absence-ofbasis“-Modell vermittelte Akzessorietät des Bereicherungsrechts erstreckte sich jedoch nur auf die Nichtigkeitsfolge, nicht auf deren Ursache. Immer dann, wenn wegen der Art des Nichtigkeitsgrundes eine bereicherungsrechtliche Rückabwicklung des Vertrages unerwünscht war, sollten daher nach Ansicht von Peter Birks die sogenannten „unjust-related defences“ eingreifen:266 Ist der Vertrag etwa wegen Rechts- oder Sittenwidrigkeit nichtig, so würde ein Herausgabeanspruch dem Leistenden ein Druckmittel in die Hand geben, mit dem er den Empfänger dazu zwingen könnte, die Gegenleistung zu erbringen; dadurch würde der Vertrag faktisch wirksam werden. Gleichzeitig würde das Bereicherungsrecht die Parteien für den Fall, dass sich eine Seite auf die Unwirksamkeit beruft, mit einem Sicherheitsnetz ausstatten. Wenn sich das Recht nicht blamieren wolle, müsse es einen Bereicherungsanspruch wegen Rechtsverstoßes (illegality) verweigern.267 Gleiches gelte für die Unwirksamkeit wegen der Nichtbeachtung eines Formerfordernisses: Sofern dieses eine Schutzfunktion erfülle, dürfe die vertragsrechtliche Sanktion der Nichtklagbarkeit nicht mit einem außervertraglichen Anspruch konterkariert werden (informality).268 Schließlich müsse der Anspruch gelegentlich auch entfallen, damit Minderjährige vor unvorteilhaften Geschäften geschützt werden. Diesen Schutz gewährleistet das englische Recht ebenfalls, indem es den Vertrag für nichtig erklärt oder dem anderen Teil die Durchsetzung seiner vertraglichen Ansprüche verweigert. Wäre der Geschäftsunfähige aber zur Herausgabe des bereits Erlangten verpflichtet, liefe diese Vorschrift leer (incapacity).269 Diese drei Einwendungen vereinigte Peter Birks unter der neu geschaffenen Rubrik „stultification“: Wäre es dem Kläger in diesen Fallgruppen erlaubt, wegen der Unwirksamkeit des Vertrages die Herausgabe des Geleiste264 265 266 267 268 269

Birks, Unjust Enrichment, S. 188 ff. Birks, Unjust Enrichment, S. 196 ff. Birks, Unjust Enrichment, S. 208 ff. Birks, Unjust Enrichment, S. 215. Birks, Unjust Enrichment, S. 220. Birks, Unjust Enrichment, S. 218 ff.

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ten zu verlangen, so könnte er das Recht zum Narren zu halten, indem er dieselbe Entscheidung, mit der das Vertragsrecht sein Fehlverhalten sanktioniert, im Bereicherungsrecht als Rechtfertigung für eine ihm günstige Rechtsfolge einsetzt; deshalb müsse ihm der Bereicherungsanspruch versagt werden.270 Birks setzte die defences also gezielt dazu ein, um das Auftreten von Wertungswidersprüchen zu unterbinden und die beiden Rechtsgebiete aufeinander abzustimmen. Auf dem Höhepunkt der wissenschaftlichen Debatte über das law of restitution erschienen, fand das Buch sogleich ein außerordentliches Echo: Der führende englische Privatrechtslehrer hatte nicht nur in spektakulärer Weise seine bisherige Lehre widerrufen, sondern auch einen revolutionären Neuentwurf vorgelegt. Doch während Birks’ erste Konzeption überwiegend enthusiastisch aufgenommen worden war, löste sein neues Werk allgemein Verwunderung aus und ließ gar manchen seiner getreuen Anhänger ratlos zurück: Führte ihr Fackelträger sie diesmal in die Irre?271 Die Darstellung war – verglichen mit der „Introduction“ – freier, pointierter, ja in ihrem stupenden Reichtum an Wissen und Einfällen schier überwältigend: Unkonventionelle Interpretationen von Präjudizien aus verschiedenen Jahrhunderten wechselten ab mit erfundenen, oft humorvollen Fallbeispielen und wurden immer wieder durch Vergleiche mit dem nun als vorbildlich empfundenen deutschen Recht ergänzt. Damit nicht genug, mutete Birks seinen Lesern fortwährend strapaziöse begriffliche Analysen zu. Während der Gelehrte jedoch in seiner ersten Monographie die Genese seines Systems offengelegt und alle Entscheidungsoptionen sorgfältig ausgebreitet hatte, stand in „Unjust Enrichment“ das juristische Bauwerk von Anfang völlig fertig da: als nicht mehr zu hinterfragendes Ergebnis eines langen Nachdenkens. Zu allem Überfluss verfiel Birks des Öfteren in eine apodiktische, ja geradezu auftrumpfende Diktion. Sein Beharren auf einer in sich stimmigen Nomenklatur und auf der logischen Folgerichtigkeit einer jeden Argumentation war für die englische Rechtswissenschaft seiner Zeit zumindest ungewöhnlich; als ausgesprochen problematisch wurde es jedoch empfunden, wenn sich der Professor über eine von den Richtern unmissverständlich geäußerte Rechtsauffassung hinwegsetzte, weil diese angeblich auf einem Kategorienfehler beruhte. Für die Kritiker seines Ansatzes lag ohnehin der Verdacht nahe, Birks strebe Ordnung im Recht um ihrer selbst willen an und wolle alles andere diesem Ziel unterordnen.272

Birks, Unjust Enrichment, S. 214 und 225. Vgl. nur die Beiträge des Rezensionssymposiums, zu dem sich kurz nach dem Erscheinen des Buches die erste Garde der englischen Bereicherungsrechtler in Oxford zusammenfand: Burrows u. a., The New Birksian Approach to Unjust Enrichment. 272 Siehe etwa Hedley, The Empire Strikes Back?, S. 781. 270 271

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Eine Taxonomie des Privatrechts Kapitel 6: Eine Taxonomie des Privatrechts

1. Birks’ Versuch einer Systematisierung des englischen Rechts

1. Birks’ Versuch einer Systematisierung des englischen Rechts

„Unjust Enrichment“ bildet den Höhepunkt der taxonomischen Spätphase Peter Birks’.1 Seit der Mitte der Neunzigerjahre werden die Arbeiten des Gelehrten zunehmend von umfangreichen klassifikatorischen Ausführungen dominiert. Das bevorzugte Instrument der rechtswissenschaftlichen Analyse ist nun die Dihairese der Rechtsgebiete und der Rechtsbegriffe. Zwar nehmen schon in der „Introduction to the Law of Restitution“ die Lokalisierung des Bereicherungsrechts ebenso wie die Untersuchung der Binnenstruktur dieses Rechtsgebiets breiten Raum ein. Die begrifflichen Einteilungen dienen hier aber noch der Organisation des unübersichtlichen Fallmaterials und sollen dabei helfen, eine veraltete, unverständlich gewordene Terminologie zu ersetzen; weil sie das Studium der Einzelheiten erleichtern, kommt ihnen eine propädeutische Funktion zu.2 In seinem späteren Schaffen setzt Birks die Klassifikation dagegen als Waffe in der juristischen Auseinandersetzung ein. Die sachgemäße Aufteilung des Privatrechts liefert ihm nun „categorical truths“3. Sie erhellt nicht nur, welche Möglichkeiten der Rechtssetzer bei der Ausgestaltung des Rechts hat.4 Sie ist auch ein probates Mittel, um die Fehlerhaftigkeit richterlicher Begründungen zu entlarven. Denn ganz gleich, um welches Wissensgebiet es sich handelt – wer sich nicht genauestens an die zugehörige „taxonomy“ hält, der stiftet Verwirrung und dem unterlaufen schwerwiegende Fehler.5 1 McMeel, What Kind of Jurist was Peter Birks?, S. 23, unterscheidet drei Schaffensphasen im Werk von Peter Birks: Nach einer frühen, rechtshistorisch orientierten Phase soll mit dem 1985 erschienenen Hauptwerk „An Introduction to the Law of Restitution“ die klassische Phase eingesetzt haben, an die sich ab 1997, markiert durch den Aufsatz „Misnomer“, die Spätphase anschließt. Diese Einteilung verdient Zustimmung, wenngleich die letzte Zäsur bereits in dem programmatischen Vortrag „Equity in the Modern Law: An Excercise in Taxonomy“ von 1996 zu sehen sein dürfte. Die Idee einer Klassifikation des Privatrechts beherrscht auch schon den ein Jahr zuvor veröffentlichten Aufsatz „The Concept of a Civil Wrong“. 2 Vgl. Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. vii, 2 und 99. 3 Birks, Property and Unjust Enrichment: Categorical Truths. 4 Vgl. Birks, Unjust Enrichment, S. 30 ff. 5 Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 4; ders., Events and Responses: The Case of Trusts, S. 159.

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Nicht nur die ungewöhnliche Wortwahl deutete darauf hin, dass sich der Rechtsgelehrte die aus der Biologie bekannte Einteilung der Lebewesen in Familien, Gattungen und Arten zum Vorbild nahm. Zoologische Beispiele waren es auch, anhand derer Birks die methodischen Anforderungen veranschaulichte, die an eine „legal taxonomy“6 zu stellen seien: In einer hierarchischen Klassifikation dürften sich gleichrangige Kategorien niemals überschneiden, sondern müssten sich gegenseitig ausschließen;7 dies könne dadurch sichergestellt werden, dass auf jeder Einteilungsebene nur ein einziges Klassifikationskriterium verwendet werde.8 Ebenso wie Tiere entweder nach ihrem Lebensraum oder ihrer Ernährungsweise eingeteilt werden, so ließen sich Rechte entweder nach ihren Entstehungsvoraussetzungen oder ihrem Inhalt unterscheiden – in beiden Fällen dürfe man diese Aspekte jedoch nicht miteinander vermischen. Bei einer Aufteilung nach „causative events“ wie „consent“ oder „wrongs“ sei daher eine weitere Gattung namens „unjust enrichment“ erlaubt, eine auf die „response“ bezogene Rubrik wie „restitution“ dagegen unzulässig. Verwende man nämlich eine Einteilung in „consent“, „wrongs“, „restitution“ und „other events“, müssten „acquisitive wrongs“ gleichermaßen den Genera „wrongs“ und „restitution“ zugeordnet werden.9 Der biologische Vergleich erwies sich als nicht minder hilfreich, um zu verdeutlichen, dass Kategorien, die auf unterschiedlichen Ebenen stehen, sich nicht gegenseitig ausschließen. Auf jeder Einteilungsebene werde eine andere Frage beantwortet: Ebenso wenig wie sich aus der Tatsache, dass ein bestimmtes Tier ein Landlebewesen sei, keineswegs folgern lasse, es handele sich nicht um einen Fleischfresser, sei es unzulässig, „unjust enrichment“ und „property“ einander gegenüberzustellen und zu behaupten, es könne keine dinglichen Bereicherungsansprüche geben.10 Wenn es Linné gelungen war, den Artenreichtum mit Hilfe einer ausgefeilten Nomenklatur zu erschließen, wenn es Darwin geglückt war, die zwischen den Arten bestehenden Verwandtschaften mit ihrer gemeinsamen Abstammung zu erklären, ließe sich dann nicht auf die gleiche Weise auch das vielgestaltige Recht geistig beherrschen?11 Die Überfülle an rechtlichen Daten, so Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 22. Birks, Unjust Enrichment and Wrongful Enrichment, S. 1781. 8 Birks, Unjust Enrichment, S. 19. 9 Birks, This Heap of Good Learning, S. 128 f. 10 Birks, Unjust Enrichment, S. 29 ff. 11 Trotz häufiger Bezugnahmen auf die beiden Heroen der Biologie (siehe Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 3; dens., Introduction, S. xliv ff.; dens., Rights, Wrongs, and Remedies, S. 3) erwähnt Birks mit keinem Wort den wesentlichen, auch für die Rechtswissenschaft bedeutsamen Unterschied zwischen den beiden Taxonomien: Linnés Nomenklatur ist künstlich, weil die Klassifikation auf ganz wenigen, vom Menschen ausgewählten Merkmalen beruht (vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 175 ff.); Darwins Taxonomie liegt dagegen die Annahme zugrunde, sämtliche Organis6 7

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Birks, versetzt den Juristen in eine ähnliche Lage wie den Naturwissenschaftler:12 Je größer die Menge der Einzelheiten, desto weniger verständlich wird das Ganze.13 In einer ungeordneten Masse an rechtlichen Details lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen Elementen schwer ausmachen. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass einzelne Bestandteile doppelt gezählt werden und mehrere Namen erhalten.14 Die allgegenwärtige Kompliziertheit des Rechts lässt sich daher nicht selten auf die Verworrenheit der Rechtssprache zurückführen.15 Gegen diese Unübersichtlichkeit rebelliert die Taxonomie: Erst ihre Einteilungen verwandeln rohe Informationen in Wissen; erst ihre Definitionen erlauben es, Begriffe geistig zu erfassen.16 Wem es gelingt, ähnliche rechtliche Phänomene zusammenzustellen und die so entstehenden Klassen hierarchisch zu ordnen, dem steht alsbald ein fein gegliedertes Gesamtbild des Rechts vor Augen. Dieser Klassifikation lässt sich laut Birks entnehmen, in welchem Verhältnis die einzelnen Teile des Wissensgebiets zueinander stehen.17 Die Kenntnis der Zusammenhänge verschafft dem praktisch tätigen Juristen ein hohes Maß an geistiger Beweglichkeit; es fällt ihm nun leichter, zwischen den Begriffsfeldern hin- und herzuwechseln und sich über Fachgrenzen zu erheben.18 Und da es unmöglich ist, gleich gelagerte Fälle gleich zu beurteilen, ohne zuvor rechtlich relevante Ähnlichkeiten wahrgenommen zu haben, sichert klassifizierendes Denken auch eine konsistente Entscheidungspraxis.19 Peter Birks behauptete gelegentlich, die Taxonomie verändere das geltende Recht nicht, sondern fördere nur dessen Verständnis.20 Bei einer Klassifikation handele es sich um ein deskriptives Unterfangen. Ob ein Rechtsgebiet men seien nah oder entfernt miteinander verwandt, weshalb es darauf ankomme, diese natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse aufzudecken (vgl. Winsor, Taxonomy was the Foundation of Darwin’s Evolution, S. 43 f.). Diese Differenz entspricht dem aus der Theorie der Rechtsdogmatik bekannten Gegensatz zwischen juristischen Erfindungen und Entdeckungen (siehe dazu oben, S. 35 ff.). Äußerungen, wonach unterschiedliche Fragestellungen zu verschiedenen Einteilungen führen und die Abfolge der Klassifikationskriterien willkürlich sei (Birks, Introduction, S. xxxviii und xliii), belegen jedoch, dass Birks ein von der Rechtslehre geschaffenes System vorschwebte. 12 Vgl. Birks, Definition and Division, S. 35. 13 Birks, S. xlvi ff. 14 Birks, Definition and Division, S. 7. 15 Vgl. Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 16; ders., Rights, Wrongs, and Remedies, S. 19. 16 Vgl. Birks, Definition and Division, S. 7; ders., Introduction, S. xxxv und li. 17 Vgl. Birks, Introduction, S. xlviii. 18 Vgl. Birks, Introduction, S. xxxv; dens., Events and Responses: The Case of Trusts, S. 162. 19 Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 17; ders., Rights, Wrongs, and Remedies, S. 37; ders., Events and Responses: The Case of Trusts, S. 162. 20 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 3.

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etwa „unjust enrichment“ statt „law of restitution“ genannt werde, wirke sich in den meisten zur Entscheidung anstehenden Fällen nicht auf das Ergebnis aus.21 Offenbar wollte der Gelehrte damit lediglich das Ideal einer rationalen Rechtswissenschaft beschreiben, die zur Vermeidung von Unklarheiten ihr Vokabular präzisiert und das Recht nach Homologien durchsucht, um sich doppelte Arbeit zu ersparen.22 Andere Äußerungen hingegen lassen sich durchaus als Forderung nach einer Rationalisierung des Rechts verstehen: Widersprüche müssten beseitigt, Spannungen aufgelöst werden23 und die Taxonomie solle das Recht zu einem kohärenten Ganzen formen.24 „The rationality of our law“, resümierte Birks, „will not improve unless its taxonomy improves.“25 Mustergültig erschien Peter Birks, der von 1981 bis 1987 an der Universität Edinburgh gelehrt hatte, die schottische Tradition der Institutionenschriftsteller.26 Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert hatten Autoren wie James Dalrymple of Stair, George Mackenzie oder John Erskine verschiedene Versuche unternommen, das gesamte schottische Recht auf der Grundlage des Institutionensystems abzubilden; dabei hatten sie an dem überlieferten Schema teilweise erhebliche Abwandlungen vorgenommen. Obwohl Birks diese Modifikationen für unbrauchbar hielt, bewunderte er die institutional writers doch in ihrem Ringen um gedankliche Klarheit. Ihre Leistung habe dem schottischen Recht einen Rationalitätsvorsprung verschafft.27 Englische Juristen dagegen hätten die Aufgabe der Systematisierung seit langem sträflich vernachlässigt, weswegen ihr Recht noch immer den Eindruck einer chaotischen Aufhäufung von Einzelheiten erwecke.28 In der Folge habe sich eine Mikro-Rationalität herausgebildet, die es nicht erlaube, diejenige gedankliche Nische zu verlassen, in die ein bestimmtes Problem einmal eingeordnet worden sei.29 Diesem Denken entspreche eine törichte Vorliebe für alphabetische Anordnungen des Stoffs, die blind sei gegenüber den Gemeinsamkeiten, die zwischen den Stichwörtern bestünden.30 Im besten Falle Birks, Misnomer, S. 29. Vgl. Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 7. 23 Birks, Obligations: One Tier or Two?, S. 22. 24 Birks, Introduction, S. xlviii. 25 Birks, Introduction, S. l. 26 Vgl. Burrows / Lord Rodger or Earlsferry, Peter Birks, S. 57. 27 Birks, More Logic and Less Experience: The Difference Between Scots Law and English Law, S. 171 ff.; ders., Obligations: One Tier or Two?, S. 28 f. 28 Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 3 ff.; ders., Events and Responses: The Case of Trusts, S. 159 ff.; ders., Introduction, S. xxxv („practitioners […] know their law only in the way that many people know London, as pools of unconnected light into which to emerge from a limited number of friendly tube stations“). 29 Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 7; ders., Introduction, S. xlviii. 30 Birks, ebd. 21 22

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fasse man Teilbereiche in kontextbezogenen Rechtsgebieten zusammen.31 Dabei habe es auch im common law einmal eine große Tradition der Übersichtsliteratur gegeben: Blackstones kartographische Darstellung zähle zu den bedeutendsten Leistungen der englischen Rechtsgeschichte; ihm sei es gelungen, der Tyrannei des Alphabets zu entrinnen und das Recht als geordnetes Ganzes zu darzustellen.32 Auch die viktorianischen Universitätsjuristen, allen voran Pollock, seien noch um eine sorgfältige Einteilung des „law of obligations“ nach haftungsauslösenden Ereignissen bemüht gewesen.33 Um an diese Tradition anzuknüpfen und das Genre der Überblicksliteratur wiederzubeleben, gab Peter Birks im Jahr 2000 eine zweibändige Gesamtdarstellung des englischen Privatrechts heraus.34 Das Werk gliederte sich in die Abschnitte „Sources of Law“, „The Law of Persons“, „The Law of Property“, „The Law of Obligations“ und „Litigation“. Die offenkundige Übernahme des Institutionenschemas begründete der Romanist damit, dass auch englische Juristen noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mit dem justinianischen Einführungslehrbuch vertraut gewesen seien und dieses ihren eigenen Einteilungen zugrunde gelegt hätten. Außerdem habe Gaius – der „Linné des Rechts“35 – mit seiner Klassifikation Fragen von überzeitlicher Bedeutung aufgeworfen, wie etwa die nach den Entstehungsgründen oder dem Inhalt der Rechte.36 In seiner Einleitung zu „English Private Law“ zog Peter Birks die Summe aus seinen klassifikatorischen Studien der letzten beiden Jahrzehnte und präsentierte eine vollständige Taxonomie des englischen Privatrechts. Genau genommen handelt es sich um eine Dihairese der subjektiven Rechte („rights“), bei der mehrere Einteilungsmuster so geschickt miteinander kombiniert werden, dass zumindest auf den oberen Ebenen jede neue Verästelung einem Rechtsgebiet entspricht: In enger Anlehnung an das Institutionenschema werden zunächst verschiedene Aspekte von Rechten unterschieden, nämlich ihr Inhaber, ihr Inhalt und ihre Durchsetzung; dadurch lassen sich bereits das „law of persons“ und der Bereich „litigation“ absondern. Bezogen auf die Wirkung („exigibility“) der Rechte ergibt die Unterscheidung zwischen „rights in rem“ und „rights in personam“ die dem englischen Juristen bisher kaum geläufigen Rechtsgebiete „law of property“ und „law of obligations“. Ebenfalls der Institutionenordnung entnommen und von Birks bereits in seinen bereicherungsrechtlichen Arbeiten vielfach erprobt ist die Einteilung Birks, Before We Begin: Five Keys to Land Law, S. 458. Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 1 f.; ders., Introduction, S. xlvii f. 33 Birks, Definition and Division, S. 3 f. 34 Birks (Hrsg.), English Private Law. Als unmittelbares Vorbild diente ihm offenbar Gloag /  Henderson, The Law of Scotland, ein 1927 erstmals erschienenes Überblickswerk zum schottischen Recht. Vgl. Birks, Introduction, S. xlv. 35 Birks, S. xliv („the brilliant Gaius, the Darwin of the law or, perhaps more accurately, the Linneaus“). 36 Birks, S. xlv f. 31 32

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nach dem Entstehungsgrund des Rechts („causative event“); sie bringt ebenfalls bislang unbekannte Rechtsgebiete wie „manifestations of consent“, „wrongs“ oder „unjust enrichment“ hervor. Schließlich werden die Rechte noch ein weiteres Mal nach ihrem Inhalt unterschieden, und zwar diesmal hinsichtlich ihrer Rechtsfolge („response“) wie „compensation“, „restitution“ oder „punishment“; dadurch werden Teilgebiete geschaffen, die so artifiziell sind, dass sie nur noch mit Zahlen bezeichnet und als Felder in einem Tabellendiagramm37 dargestellt werden können. Die Systematisierung beschränkt sich auf klagbare Rechte, also Ansprüche, die der Einzelne vor Gericht geltend machen kann („realizable rights“).38 Außen vor bleiben damit fundamentale Rechte wie etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Gleichwohl ist das Ziel eine Klassifikation der „rights“, nicht der „remedies“. Denn der Begriff des Rechtsbehelfs, verstanden als Schutz- oder Abwehranspruch, impliziert nach Ansicht Birks’ die vorangegangene Verletzung eines Primärrechts.39 Wollte man lediglich „remedies“ klassifizieren, also nur Sekundärrechte in die Klassifikation aufnehmen, so kämen als „causative events“ ausschließlich „wrongs“ in Betracht.40 Viele selbständig einklagbare subjektive Rechte wie vertragliche Leistungsansprüche oder dingliche Ansprüche ließen sich dagegen nur schwerlich als Rechtsbehelfe beschreiben und in eine solche Taxonomie einfügen.41 Zudem vermittelt auch die Anordnung, die ein Gericht als Sanktion für eine Rechtsverletzung erlässt, dem Kläger ein Recht.42 Für Birks sind remedies deshalb zugleich rights.43 Daher sei es ratsam – einerseits, um die Vollständigkeit der Klassifikation nicht zu gefährden, andererseits, um begriffliche Überschneidungen zu vermeiden – überhaupt nicht mehr von „remedies“, sondern nur noch von „rights“ zu sprechen.44 Insofern distanziert sich Birks mit seinem taxonomischen Projekt einmal mehr von dem traditionellen, aktionenrechtlich geprägten Denken in Rechtsbehelfen. In der dezidierten Wortwahl wird jedoch auch seine Abneigung gegen den von equityJuristen propagierten „discretionary remedialism“ spürbar. Diese methodologische Strömung versteht unbestimmte Begriffe wie „unconscionability“, „fairness“ oder „equitable fraud“ als Aufforderung an den Richter, aus meh37 Siehe Birks, The Law of Unjust Enrichment: A Millenial Resolution, S. 322 (20 unbenannte Rechtsgebiete); dens., Unjust Enrichment, S. 23 (16 unbenannte Rechtsgebiete). 38 Birks, Introduction, S. xxxvi. 39 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 12. 40 Birks, Introduction, S. xxxvi. 41 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 21; ders., Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 40. 42 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 15 f. 43 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 13. 44 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 3 („the word ‘remedy’ […] should be eliminated from our analytical vocabulary“).

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reren in Betracht kommenden Rechtsbehelfen denjenigen nach freiem Ermessen auszuwählen, der im Einzelfall angemessenen (appropriate) erscheint.45 Birks will diese Geisteshaltung bekämpfen, weil sie – im wahrsten Sinne des Wortes – zur Rechtlosigkeit des Klägers führe.46 In seiner Konzeption werden deshalb jeder Ereigniskategorie ganz bestimmte Rechte zugeordnet. Einen bewussten Bruch mit der Tradition vollzieht Birks mit dem Versuch, equitable rights in die Klassifikation zu integrieren. Damit will er die vollständige Verschmelzung von common law und equity begrifflich vorbereiten. Bisher sei diese Fusion nur im Vertragsrecht gelungen. Doch schon die Rede von den „fiduciary obligations“ zeige, dass es weitere obligatorische Rechte gebe, die auf dem Konsens der Parteien beruhen. Besonders nachteilig sei jedoch, dass common law torts und equitable wrongs getrennt behandelt würden, weswegen es immer wieder zu Divergenzen komme. Deshalb müssten neue Meta-Kategorien wie „wrongs“ oder „manifestations of consent“ geschaffen werden, die es ermöglichen, ähnliche Phänomene gedanklich zusammenzufassen und gleich zu behandeln – ohne Rücksicht darauf, welchem der beiden früheren Rechtsordnungen sie entstammen.47 Das vertraute Rechtsgebiet „Equity and Trusts“ wird man deshalb bei Birks vergeblich suchen. Schließlich betrifft die Klassifikation das Privatrecht. Am Anfang der Einteilung steht daher die Unterscheidung zwischen „public law“ und „private law“.48 Zwar verzichtet Birks auf eine genaue Abgrenzung und hebt sogar die grundlegende Einheit des gesamten Rechts („the unity of the whole law“49) hervor. Jedoch ist angesichts des liberalen englischen Verfassungsdenkens, das die Gleichbehandlung aller durch das Recht betont und eine Privilegierung der Krone ablehnt, die Vorstellung eines besonderen, die Beziehungen des Staates ordnenden Regelwerkes keine Selbstverständlichkeit.50 Noch weniger gebräuchlich ist der Begriff des Privatrechts. Der Herausgeber des Überblickswerkes wählt ihn, um zu verdeutlichen, dass es innerhalb des Der wichtigste Vertreter dieser methodologischen Richtung ist der australische Professor und Richter Paul Finn; siehe nur Finn, Equitable Doctrine and Discretion in Remedies. Als weiterer Repräsentant gilt der neuseeländische Richter Grant Hammond; siehe Hammond, Rethinking Remedies. Näheres dazu unten, S. 234 ff. 46 Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 16 ff.; ders., Rights, Wrongs, and Remedies, S. 22 ff. Vgl. auch dens., Three Kinds of Objection to Discretionary Remedialism. 47 Birks, Definition and Division, S. 14 ff. 48 Birks, Introduction, S. xxxvi; vgl. auch dens., Definition and Division, S. 9. 49 Birks, Introduction, S. xxxvi. 50 Grundlegend Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution; symptomatisch noch Harlow, „Public“ and „Private“ Law: Definition without Distinction. Freilich war der Begriff des öffentlichen Rechts zu Birks’ Zeiten längst eingeführt; siehe beispielsweise das 1994 erstmals veröffentlichte, wenngleich nicht sehr erfolgreiche Lehrbuch von McEldowney, Public Law. Auf Birks’ Anregung hin erschien 2004 ein Überblickswerk zum öffentlichen Recht: Feldman, English Public Law. 45

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Rechts eine „sub-unity“51 gibt – ein eigenständiges normatives Gebilde, das als ein Ganzes betrachtet werden muss. Wie gelangt Birks nun zu seinen Einteilungen? Anhand des Institutionenschemas (personae – res – actiones) werden vorab verschiedene Aspekte privater Rechte herausgestellt: ihre Inhaber („the persons who can bear rights“), die Rechte selbst beziehungsweise ihre Inhalte („the rights themselves“) sowie die zu ihrer Durchsetzung nötigen Mittel („the means by which the rights are realized in court“).52 Dies ermöglicht die Abspaltung eines „law of persons“, das wiederum in das Familienrecht und das Gesellschaftsrecht zerfällt, sowie eines mit „litigation“ bezeichneten Teilgebiets, welches das Zivilprozessrecht, das Insolvenzrecht und das internationale Privatrecht umfasst.53 Nunmehr können die Rechte selbst anhand verschiedener Eigenschaften klassifiziert werden, wobei vor allem ihre Wirkung, ihr Entstehungsgrund und ihr Zweck in Betracht kommen. Birks zufolge ist die Reihenfolge der verwendeten Klassifikationskriterien nicht vorgeschrieben, will aber wohl bedacht sein.54 Beginnt man etwa mit der Frage, wem gegenüber Rechte Wirkung entfalten („exigibility“), so gelangt man zunächst zu der Unterscheidung zwischen „rights in personam“ und „rights in rem“: Erstere richten sich nur gegen einzelne Personen; letztere sind auf Sachen bezogen und können gegenüber jedem, in dessen Händen sich die Sache befindet, geltend gemacht werden.55 Damit schneidet der Professor aus Oxford diese Kategorien anders zu als sein Vorläufer John Austin. Dieser hatte seine bekannte Unterscheidung, die der modernen kontinentaleuropäischen zwischen absoluten und relativen Rechten entspricht, ausschließlich auf die Reichweite („compass“) der Rechte bezogen und klargestellt, dass „rights in rem“ nicht mit Rechten an Sachen gleichzusetzen seien.56 Birks greift stattdessen den römischen Gegensatz zwischen actio in rem und actio in personam57 wieder auf und verbindet die Gesichtspunkte des Wirkungsbereichs und des Gegenstands miteinander. „Personal rights“58 richten sich gegen Personen und vermitteln dem Inhaber eine „obligation“ – einen unkörperlichen Vermögensgegenstand, der sich in der Befugnis erschöpft, von dem Verpflichteten eine bestimmte Leistung verlangen zu können. 59 Demgegenüber eröffnen „proprietary rights“60 den unmittelbaren ZuBirks, Introduction, S. xxxvi. Birks, ebd. 53 Birks, Introduction, S. xxxvii. 54 Birks, Introduction, S. xxxviii. 55 Birks, ebd.; ders., Definition and Division, S. 9. 56 Austin, Lectures on Jurisprudence or The Philosophy of Positive Law. Volume I., S. 48. Zu Austins Klassifikation der Rechte siehe oben, S. 92 f. 57 Siehe etwa Ulpian, D. 44.7.25 pr. oder G. IV, 1. 58 Birks, Introduction, S. xxxix. 59 Birks, Definition and Division, S. 8. 60 Birks, Introduction, S. xxxix. 51 52

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griff auf Sachen61 – also auf körperliche Vermögensgegenstände, die man im Englischen mit dem kollektiven Singular „property“ bezeichnet. Entsprechend dieser ersten Klassifizierung der klagbaren Rechte – nicht selbständig einklagbare Persönlichkeitsrechte, aber auch Immaterialgüterrechte kommen nicht vor – verteilt Birks den Stoff des Privatrechts auf zwei große Rechtsgebiete: „The law of property is the law of proprietary rights and the law of obligations is the law of personal rights. These are the two great pillars of private law.“62 Diese Namensgebung ist keineswegs selbstverständlich, sondern geradezu provokant: Zwar ist die Bezeichnung „law of obligations“ englischen Juristen durchaus geläufig;63 weil sie jedoch eindeutig als zivilistischer Import erkennbar ist, haftet ihr seit jeher etwas Anrüchiges an. Auch hat es nicht an Versuchen gefehlt, das land law mit dem law of personal property zu einer Disziplin zu verbinden;64 dennoch muss der Engländer schon viel Phantasie aufbringen, um sich ein einheitliches Sachenrecht vorstellen zu können. Tatsächlich ist auch Birks bereit, dem land law eine gewisse Autonomie zuzugestehen: Dieses Teilrechtsgebiet zeichne sich nämlich durch besondere Prinzipien aus, wie beispielsweise die Förmlichkeit der Rechtsübertragung oder die Möglichkeit, Rechte in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht aufzuspalten.65 Den althergebrachten Dualismus zwischen legal und equitable ownership würde Birks dagegen am liebsten aufgeben und nur noch zwischen starren und flexiblen Eigentumsrechten unterscheiden.66 Daran schließt sich die Einteilung der Rechte nach ihrem Entstehungsgrund („causative event“) an. Für die weitere Untergliederung der „rights in personam“ nimmt sich der Romanist die gajanische summa divisio obligationum als Richtschnur, und zwar in der Version der „Res cottidianae“, die neben vertraglichen und deliktischen Obligationen noch eine Auffangkategorie für solche „ex variis causarum figuris“67 enthielt.68 Das antike Vorbild

Birks, Definition and Division, S. 7 f. Birks, Introduction, S. xxxix. 63 Der Ausdruck hat durch die Übersetzung der Werke Pothiers Eingang in den englischen Wortschatz gefunden; siehe nur Pothier, A Treatise on the Law of Obligations, or Contracts. Als Peter Birks in den Neunzigerjahren seine Taxonomie des Privatrechts vorstellte, war es noch unüblich, contract law und tort law zu einem übergeordneten Rechtsgebiet zusammenzufassen. Allerdings erschien bereits 1984 das Lehrbuch von Tettenborn, An Introduction to the Law of Obligations. Das etwas jüngere Lehrbuch von Samuel /  Rinkes, Law of Obligations and Legal Remedies, ist das Werk zweier Rechtsvergleicher mit Außenseiterstatus. 64 Siehe etwa Lawson / Rudden, The Law of Property. Auch bei diesem Werk handelt es sich um ein Experiment zweier dem Civil Law zuneigender Rechtsvergleicher. Der Law of Property Act von 1925 betrifft ausschließlich das Liegenschaftsrecht. 65 Birks, Before We Begin: Five Keys to Land Law, S. 462 ff. und 482 ff. 66 Siehe Birks, Before We Begin: Five Keys to Land Law, S. 479 und 485. 67 Gaius, D. 44.7.1 pr. 61 62

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lässt sich allerdings noch verfeinern, indem die ungerechte Bereicherung aus der Restmenge herausgelöst und zu einem eigenständigen haftungsbegründenden Ereignis erhoben wird. Dementsprechend heißt es bei Birks: „Every obligation arises from a contract, from a wrong, from an unjust enrichment, or from some other kind of event.“69 Was die „rights in rem“ anbetrifft, so werden diese herkömmlich nach ihrem Gegenstand in real property und personal property geschieden und sodann nach dem Inhalt der Berechtigung ( fee simple, lease, charge, mortgage und so weiter) geordnet. Weil es einen numerus clausus der Sachenrechte gebe, sei dies ein lohnenswertes Vorhaben.70 Dessen ungeachtet hält Birks auch eine Klassifikation nach Erwerbstatbeständen („modes of acquisition“) für denkbar.71 Hierfür bieten sich wiederum die vier aus dem Obligationenrecht geläufigen Ursachen der Rechtsentstehung an. Nur in einer Hinsicht muss das Schema abgewandelt werden: Da förmliche Eigentumsübertragungen (conveyances) schwerlich der Rubrik „contracts“ zugeordnet werden können, empfehle es sich, stattdessen den abstrakteren Begriff „manifestations of consent“ zu verwenden.72 Sogar die trusts will Birks nun mit Hilfe seiner vier Ereigniskategorien neu ordnen und dadurch die verwirrende Aufteilung in express, implied, constructive und resulting trusts überwinden.73 Letztlich lassen sich sämtliche Rechte, gleich welche Wirkung sie entfalten mögen, auf einen der Tatbestände „consent, wrongs, unjust enrichment, or other events“ zurückführen.74 Manche Ereignisse bringen neben „rights in personam“ gleichzeitig „rights in rem“ hervor: So vermittelt ein Kaufvertrag („sale“) dem Käufer nicht nur einen Anspruch auf die Verschaffung des Eigentums, sondern er bewirkt auch den Übergang des Eigentums an der Kaufsache; ebenso löst eine ungerechte Bereicherung nach Ansicht Birks’ in bestimmten Fallkonstellationen neben obligatorischen auch dingliche Herausgabeansprüche aus.75 Alternativ kann die Systematisierung der Rechte daher auch mit den „causative events“ beginnen, und die Frage, welche Wirkung die entstehenden Rechte haben, erst auf der zweiten oder dritten Stufe beantwortet werden.76 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 21. Der Gelehrte entscheidet sich damit bewusst gegen die – seiner Ansicht nach irreführenden – Quasi-Kategorien der justinianischen Institutionen; vgl. Birks, Definition and Division, S. 18 f. 69 Birks, Definition and Division, S. 19. Vgl. auch dens., Introduction, S. xlii. 70 Birks, Introduction, S. xl f. Siehe schon dens., An Introduction to the Law of Restitution, S. 52. 71 Birks, Introduction, S. xlii. 72 Birks, ebd. Vgl. auch dens., An Introduction to the Law of Restitution, S. 53. 73 Birks, Events and Responses: The Case of Trusts, S. 187. 74 Birks, Misnomer, S. 8. 75 Vgl. Birks, Introduction, S. l. 76 Bei manchen seiner Systematisierungsversuche hat der Autor völlig auf eine Unterscheidung hinsichtlich der Wirkung verzichtet und nur nach dem Tatbestand und der 68

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Die neu geschaffene Gattung der Einigung („manifestations of consent“) soll neben Verträgen und förmlichen Eigentumsübertragungen auch Testamente (wills) und Trust-Errichtungen (declarations of trust)77 umfassen. Sie enthält damit auch einseitige Willensakte – eine geringfügige semantische Überdehnung, die in Ermangelung eines positivrechtlichen Begriffs, der dem deutschen „Rechtsgeschäft“ vergleichbar wäre, nicht verwundern sollte. Unrechtmäßige Handlungen („wrongs“) zeichnen sich dagegen durch ein pflichtwidriges Verhalten aus: Erforderlich ist ein Handeln oder Unterlassen des Beklagten, durch das dieser eine Pflicht verletzt, die ihm dem Beklagten gegenüber obliegt.78 Ob sich das Verhalten als vorsätzlich oder fahrlässig darstellt, ist für die Zuordnung zur Klasse der wrongs unerheblich.79 Einen Schaden setzt der Begriff ebenfalls nicht voraus; so gibt es „wrongs which are actionable in themselves“, wie etwa trespass und libel.80 Die verletzte Pflicht kann sich aus dem Gesetzesrecht, aus common law und equity sowie aus Verträgen ergeben.81 Um torts und equitable wrongs in einem Rechtsgebiet vereinigen zu können, ist die Gattungsbezeichnung mit „wrongs“ bewusst neutral gewählt. Birks’ Definition der unrechtmäßigen Handlung als Pflichtverletzung geht auf John Austin zurück. Dieser hatte seine Systematisierung mit der Unterscheidung von „[r]ights and duties which are consequences of delicts“ und „rights and duties not arising from delicts“ begonnen und dabei „delicts“ als „any violation of any right or duty“ beschrieben.82 Ebenfalls im Einklang mit Austin,83 aber auch mit Hale,84 wird der Vertragsbruch (breach of contract) als „wrong“ eingeordnet. Zwar empfindet Birks dies als problematisch, weil dadurch die Unterscheidung zwischen Vertrag und Delikt, die doch den Nukleus von Gaius’ Systematisierung bildet, in Frage gestellt wird.85 Für die Zusammenfassung vertraglicher und deliktischer Pflichtverletzungen spricht jedoch deren strukturelle Ähnlichkeit: Beide Tatbestände knüpfen an eine anfänglich bestehende Pflicht des Beklagten an, aus welcher der Kläger sein ursprüngliches Recht ableitet; aufgrund der Verletzung erhält der Kläger Rechtsfolge eingeteilt; siehe etwa Birks, The Law of Unjust Enrichment: A Millenial Resolution, S. 322. 77 Birks, Misnomer, S. 8; ders., Unjust Enrichment, S. 20. 78 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 33. 79 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 42 ff. 80 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 40 f. 81 Birks, Unjust Enrichment, S. 20. 82 Austin, Lectures on Jurisprudence or The Philosophy of Positive Law. Volume I., S. 44 f. und 64. 83 Austin, Lectures on Jurisprudence or The Philosophy of Positive Law. Volume I., S. 65 f. 84 Siehe oben, S. 84. 85 Siehe Birks, Obligations: One Tier or Two?, S. 22.

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sodann ein weiteres Recht. „Wrongs“ setzen also Primärrechte voraus und führen zu Sekundäransprüchen.86 Erweitert wird die gajanische Einteilung der Entstehungsgründe um die neue Kategorie der ungerechten Bereicherung („unjust enrichment“).87 Nach Birks’ Konversion zur Lehre von der „absence of basis“ ist diese beschränkt auf den Empfang eines Vermögensvorteils ohne rechtlichen Grund und hat damit einen erheblich geringeren Umfang als noch von Goff und Jones vorgesehen.88 Selbstverständlich lässt sich nicht jedes rechtlich relevante Geschehen als Willensakt, Pflichtverletzung oder ungerechte Bereicherung denken. Um Vollständigkeit zu gewährleisten, sollen deshalb in der Rubrik „other events“ diverse Tatbestände Aufnahme finden, die außerhalb der drei benannten Kategorien stehen. 89 Dazu zählen beispielsweise die Geschäftsführung ohne Auftrag (negotiorum gestio) und die Seenotrettung (salvage)90 – beide werden mit „personal rights“ belohnt. Ordnet man die property rights ebenfalls nach dem Grund des Rechtserwerbs, so gehören auch die Verbindung (merger), die Vermischung (mixture) sowie die Aneignung einer herrenlosen Sache (seizure of ownerless things) in die Auffangkategorie.91 Zu den „sonstigen Ereignissen“ rechnet Peter Birks außerdem Gerichtsurteile,92 weil diese eigenständige, vollstreckbare Rechte hervorbringen.93 Zwar wird eine gerichtliche Anordnung („order or judgement of a court“) häufig mit dem durch „consent“, „wrongs“ oder „unjust enrichment“ geschaffenen Recht inhaltlich übereinstimmen; insofern erneuert das Urteil nur ein bereits bestehendes Recht.94 Dennoch liegt der Entstehungsgrund für den neuen Anspruch nicht in der Missachtung des ursprünglichen Rechts, sondern allein in dem Spruch des Gerichts.95 Die Andersartigkeit des Ereignisses (es handelt sich um einen nachgelagerten Vorgang und einen staatlichen Akt) wie des Rechts (dieses kann nicht selbständig vor Gericht eingeklagt werden) blendet Birks aus – wichtig ist ihm allein, das Wort „remedy“ vollständig aus dem juristischen Vokabular zu tilgen.96 Birks, Definition and Division, S. 23 f. Birks, Definition and Division, S. 19 ff. 88 Ausführlich dazu oben, S. 193 ff. 89 Birks, Equity, Conscience, and Unjust Enrichment, S. 8 f. 90 Birks, Introduction, S. xlii; ders., Unjust Enrichment, S. 21. 91 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 29. 92 Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 40; ders., Introduction, S. xlii. 93 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 49 f. 94 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 15. Vgl. auch Birks, Unjust Enrichment, S. 24 f., wonach durch das Urteil ein klagbares Recht erlischt und durch ein neues, vollstreckbares Recht ersetzt wird. 95 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 50. 96 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 3. 86 87

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Die Systematisierung subjektiver Rechte nach „causative events“ ist Birks zufolge besonders wertvoll für das Verständnis des Privatrechts, weil sie danach fragt, wie sich die von den Gerichten gewährten Rechtsbehelfe möglichst allgemein legitimieren lassen.97 Jedes der abstrakt umschriebenen Ereignisse liefert einen eigenen Ansatz zu einer Theorie privatrechtliche Haftung.98 Der Entstehungsgrund eines Rechts soll deshalb das dominante Klassifikationskriterium sein. 99 Allerdings befürchtet Birks, ausgerechnet an dieser zentralen Stelle seiner Taxonomie könnte sich ein schwerwiegender Kategorienfehler eingeschlichen haben. Das Schema kombiniert nämlich Ereignisse, die Primäransprüche begründen („consent“, „unjust enrichment“ und „other events“), mit Vorgängen, die zu Sekundäransprüchen führen („wrongs“).100 Sekundärrechte weisen besondere Eigenschaften auf, die den Primärrechten fehlen: Sie setzen die Verletzung eines ursprünglichen Rechts voraus und sind ausschließlich dazu bestimmt, ebendiese Rechtsverletzung zu sanktionieren.101 Primärrechte hingegen werden um ihrer selbst willen gewährt.102 Unrechtmäßige Handlungen können definitionsgemäß nur „secondary rights“ auslösen; alle übrigen Ereignisse bringen „primary rights“ hervor, die auch ohne weiteres gerichtlich durchgesetzt werden können.103 Obwohl also Birks’ Einteilung den Anspruch erhebt, Unterschiede in der Entstehungsweise der Rechte abzubilden, ebnet sie gerade die kategoriale Differenz zwischen primären und sekundären Rechten ein. John Austin hingegen hatte die „distinction of rights […] into primary and sanctioning“ zum obersten Einteilungsprinzip seines Systems erhoben104 – und damit zugleich die justinianische Organisation des Rechtsstoffs verworfen, welche Ansprüche aus Vertrag und solche wegen Vertragsverletzung gemeinsam behandelt. In einem romanistischen Aufsatz aus dem Jahre 1983 hatte Birks die antike divisio obligationum gegen Austins Angriff verteidigt: Für das römische Recht sei die Unterscheidung unerheblich gewesen, weil es ohne den Begriff der Pflichtverletzung ausgekommen sei. Die lex Aquilia habe beispielsweise nur einen Verletzungserfolg (occidere, rumpere) gefordert, nicht jedoch eine bestimmte Art der Verletzungshandlung.105 Die moBirks, Events and Responses: The Case of Trusts, S. 163. Vgl. Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 34 („an independent theory of liability“). 99 Vgl. Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 19; ders., Misnomer, S. 6. 100 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 46. 101 Birks, Definition and Division, S. 23. 102 Birks, Obligations: One Tier or Two?, S. 21. 103 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 48 ff.; ders., Definition and Divsion, S. 25. 104 Austin, Lectures on Jurisprudence or The Philosophy of Positive Law. Volume I., S. 45. 105 Birks, Obligations: One Tier or Two?, S. 34 und 37. 97 98

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derne negligence-Haftung verlange stattdessen den breach of a duty of care,106 und der Siegeszug der action of assumpsit habe dazu geführt, dass im Vertragsrecht der Bruch des Leistungsversprechens zur zentralen Anspruchsvoraussetzung wurde. Deshalb sei die Erkenntnis der Verschiedenartigkeit primärer und sekundärer Rechte unerlässlich für das Verständnis des englischen Rechts.107 Umso erstaunlicher ist es, dass Birks’ späte Taxonomie diesen Unterschied nicht einmal ansatzweise abbildet. Vielmehr werden die „wrongs“ nun den anderen Ereignissen gleichgestellt. Zur Begründung führt Birks an, dass die durch eine Verletzungshandlung ins Leben gerufenen Rechte nicht selten gerade solchen Primärrechten zur Durchsetzung verhelfen, die sonst nicht selbständig in Erscheinung treten würden.108 Ohne die Verletzung wäre ein Rechtsstreit über diese ursprünglichen Rechte gar nicht möglich – sie blieben „blind, like a daffodil that does not flower“.109 Zudem ließen sich auch die übrigen drei Ereignisse als Verletzung einer Primärpflicht beschreiben und damit zu einem „wrong“ umformen. So könne bei einer ungerechten Bereicherung das haftungsauslösende Moment auch in der Missachtung der Pflicht zur Herausgabe des Bereicherungsgegenstandes gesehen werden.110 So lange man sich des Unterschiedes zwischen beiden Betrachtungsweisen bewusst sei, spreche deshalb nichts dagegen, primäre und sekundäre Ereignisse auf eine Ebene zu stellen.111 Zu guter Letzt werden die Rechte noch nach der Rechtsfolge („response“) unterteilt oder, anders gesagt, nach dem Ziel, welches der Rechtsinhaber mit ihrer Ausübung zu erreichen im Stande ist („goal“).112 Zu diesen Anspruchszielen gehören: Erfüllung („perfection“), Schadensersatz („compensation“), Gewinnherausgabe („restitution“), Bestrafung („punishment“) und Sonstige („other goals“).113 Theoretisch kann jede der fünf Rechtsfolgen von allen vier Ereignissen ausgelöst werden, womit sich insgesamt 20 mögliche Kombinationen ergeben.114 Allerdings sind nicht wenige der auf diese Weise erschaffeBirks, Obligations: One Tier or Two?, S. 33 f. Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 50. 108 Birks, Definition and Division, S. 23 ff. 109 Birks, Definition and Division, S. 24. 110 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 34. 111 Birks, Definition and Division, S. 27. 112 Zur Analyse rechtlich relevanter Ereignisse im Hinblick auf die von ihnen ausgelösten „responses“ siehe schon Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 39 ff. In seinem Spätwerk bevorzugt Birks die Bezeichnung „goals“; siehe etwa dens., Unjust Enrichment, S. 22. 113 Birks, The Law of Unjust Enrichment: A Millenial Resolution, S. 322; vgl. auch dens., Unjust Enrichment, S. 23 (ohne die Kategorie „perfection“). 114 Vgl. das Diagramm bei Birks, The Law of Unjust Enrichment: A Millenial Resolution, S. 322. 106 107

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nen Teilrechtsgebiete Kopfgeburten, die im geltenden englischen Recht keine Entsprechung finden. Dies erklärt sich daraus, dass das Ereignis „unjust enrichment“ zwingend auf die Rechtsfolge „restitution“ festgelegt ist,115 während ein „consent“ zunächst einmal nur zur „perfection“ verpflichtet.116 Demgegenüber weisen die „wrongs“ hinsichtlich ihrer rechtlichen Folgen ein deutlich größeres Potenzial auf.117 Der Rechtssetzer kann frei wählen, ob er eine Pflichtverletzung lediglich mit Schadensersatz beantworten will, oder ob er zusätzlich die Herausgabe unrechtmäßiger Gewinne oder gar Strafschadensersatz anordnet. In Form der Unterlassungsverfügung ist sogar eine Verpflichtung zur Erfüllung der Primärpflicht denkbar. Letztlich kann ein „wrong“ – einmal abgesehen von besonders barbarischen Talionsstrafen – jede Form der Sanktion rechtfertigen.118 Die höheren Gattungen seiner Taxonomie hat Birks den systematischen Lehrbüchern der klassischen römischen Jurisprudenz entnommen und diese den modernen englischen Verhältnissen angepasst. Die fünf Arten rechtlicher Antworten haben dagegen kein römisches Vorbild, sondern sind ganz offensichtlich Abstraktionen aus den remedies des englischen Rechts: Der Archetyp der „perfection“ ist die specific performance des Vertragsrechts; gleichzeitig lassen sich unter diesen Begriff auch mandatory injunctions und prohibitory injunctions subsumieren, mit denen ein pflichtgemäßes Verhalten erzwungen werden soll. In der Kategorie „compensation“ sollen offenbar die compensatory damages des Deliktsrechts mit der aus dem Trustrecht bekannten equitable compensation zusammengefasst werden. Auch das Anspruchsziel „punishment“ ist nur in einer Rechtsordnung sinnvoll, die punitive damages gewährt, etwa für eine Verleitung zum Vertragsbruch oder eine vorsätzliche Rufschädigung. Seine ablehnende Haltung gegenüber dem Aktionendenken und dem „discretionary remedialism“ verbietet es dem Gelehrten freilich, diese rechtlichen Antworten unumwunden als „remedies“ zu bezeichnen; sie zwingt ihn sogar dazu, seine vielleicht originellste Einteilung zu marginalisieren: Maßgeblich für die Stellung eines „right“ im Gesamtsystem soll dessen „causative event“ sein; an diesem „event“ hängen die – von Birks verniedlichend „remedial strings“ genannten – „responses“ so wie Tentakeln am Schirm einer Qualle.119 Birks, Misnomer, S. 7 und 12. Vgl. Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 51. Gelegentlich soll ein „consent“ auch ein Recht auf „restitution“ vermitteln; hierzu siehe Birks, Misnomer, S. 19 ff. Vgl. auch oben, S. 191. 117 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 34. 118 Vgl. Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 12 und 14; dens., Misnomer, S. 12. 119 Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 7 („As a jellyfish trails its tentacles in the warm sea, so from many civil wrongs dangle a plurality of remedial strings. What are they? Are they rights or remedies? The answer is that they can be either or both. Neverthe115 116

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Kapitel 6: Eine Taxonomie des Privatrechts

Nach deutschem Verständnis werden in der juristischen Taxonomie mehrere dogmatische Denkformen geschickt miteinander verbunden: Oberflächlich betrachtet handelt es sich lediglich um eine Aufteilung des Rechtsstoffs auf verschiedene Gebiete. Doch ist Birks daran gelegen, die gebräuchlichen, aber wegen ihres geringen Erkenntniswertes unbefriedigenden „contextual categories“120 zu überwinden und durch möglichst homogene Rechtsbereiche zu ersetzen. Nach seiner Konzeption weist ein Rechtsgebiet stets eine Reihe normativer Besonderheiten auf, die dieses von anderen Teilen des Rechts unterscheiden. So kann beispielsweise jedes der drei „causative events“ – Einigung, unrechtmäßige Handlung und ungerechte Bereicherung – zugleich als ein sehr allgemeines Haftungsprinzip gedacht werden, dem jeweils eine Reihe typischer Voraussetzungen und Folgen zugeordnet werden können. Die speziellen Normen, die in einem Teilgebiet zusammengefasst sind, lassen sich wiederum als Ausprägungen dieses übergeordneten Prinzips deuten. Bemerkenswert ist zudem, dass Birks zu seinem Arrangement des Rechts – anders als Gaius, aber durchaus in der Nachfolge Hales und Blackstones – auf dem Wege einer Dihairese der subjektiven Rechte gelangt. Damit entwirft er zugleich ein Begriffssystem, das in seiner Anlage durchaus mit Puchtas „Genealogie der Begriffe“ 121 vergleichbar ist, auch wenn es nicht denselben Grad an Detailliertheit erreicht. Schließlich finden sich in Birks’ Spätwerk zahlreiche Versuche, problematische Rechtsfiguren in seine Taxonomie einzuordnen, um so Erkenntnisse über deren Tatbestände und Rechtsfolgen zu gewinnen. Zwar führen viele dieser Konstruktionen – wie Birks selbst betont – nicht zu einer Änderung des geltenden Rechts; sie dienen lediglich einem besseren Verständnis. Wenn beispielsweise die Verpflichtung, vertragswidrig erzielte Gewinne herauszugeben, nicht als „unjust enrichment“, sondern als „wrong“ eingeordnet wird, so steht dies völlig im Einklang mit den in der Entscheidung Attorney General v Blake angeführten Gründen, lässt jedoch eine Reihe älterer Entscheidungen in einem neuen Licht erscheinen. 122 Anders verhält es sich mit der Klassifikation von knowing receipt, also der Pflicht zur Herausgabe von trust-Gegenständen, die ein Dritter entgegennimmt, obwohl er weiß, dass der trustee mit der Übertragung gegen seine Treuepflichten verstößt: Nach Birks’ Auffassung liegt die Rechtfertigung für dieses – von der konventionellen Lehre als equitable wrong verstandene – Rechtsinstitut gerade nicht in dem gewissenlosen Verhalten (unconscionable conduct) des Empfängers, sondern in dessen ungerechter Bereicherung. Anlässlich der Abgrenzung less, if we call them remedies we are likely to run into all sorts of trouble. Such is the power of words“). 120 Birks, Misnomer, S. 15. Die durchaus abwertend gemeinte Bezeichnung findet sich auch schon bei dems., An Introduction to the Law of Restitution, S. 73 f. Siehe oben, S. 56 f. 121 Puchta, Cursus der Institutionen. Erster Band, S. 101. 122 Vgl. Birks, Unjust Enrichment, S. 11 ff.

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zwischen „wrongs“ und „unjust enrichment“ war Birks jedoch zu der Feststellung gelangt, die Pflicht zur Herausgabe einer ungerechten Bereicherung sei verschuldensunabhängig.123 Daraus folgert er, auch knowing receipt müsse als strikte Haftung ausgestaltet werden. Er erhebt damit eine systematisch begründete rechtspolitische Forderung, die nicht nur dem Namen des Rechtsinstituts Hohn spricht, sondern die auch impliziert, dass sämtliche bisher ergangenen Entscheidungen, die ganz selbstverständlich Kenntnis oder zumindest einen gewissen Verdacht auf Seiten des Empfängers verlangen,124 falsch entschieden worden sind. Zudem falle „receipt“ nunmehr in den Anwendungsbereich der „change of position defence“, während mittelbare Schäden (consequential losses) nicht mehr ersatzfähig sein sollen. Allerdings stellt Birks diese Einsichten nicht ausschließlich als Ergebnis einer Deduktion aus dem Begriff des „unjust enrichment“ dar, sondern führt zur Bekräftigung weitere rechtliche und moralische Argumente an.125 Insofern ist zweifelhaft, ob dem Regius Professor of Civil Law bei der Ausarbeitung seiner Taxonomie tatsächlich ein rein deduktives Modell der Entscheidungsfindung vorschwebte, wie manche seiner Schüler126 und Kritiker127 später behaupten sollten. Freilich deuten Birks’ Absicht, mit der Klassifikation Kohärenz und Rechtssicherheit zu fördern, ebenso wie seine Ablehnung der unbestimmten Begriffe des equity-Rechts darauf hin, dass das Schema auch in der richterlichen Praxis herangezogen werden sollte. Nirgends in seinem Werk leitet Birks jedoch allein aus einer begrifflichen Einordnung Lösungen für den konkreten Einzelfall ab. Die Verortung im System liefert ihm zwar „kategorische Wahrheiten“;128 bei diesen handelt es sich aber um nichts anderes als Hypothesen, die mit Präjudizienrecht, rechtsvergleichender Evidenz und moralischer Überzeugung in Einklang gebracht und gegebenenfalls modifiziert werden müssen. Darüber hinaus gestand Birks freimütig ein, dass seine taxonomische Arbeit nicht die Frage beantworten könne, welche klagbaren Rechte dem Einzelnen durch die Rechtsordnung verliehen werden oder ihm vorrechtlich zustehen; die eigentliche Erklärungsleistung müsse daher von der Moralphilosophie oder der politischen Theorie erbracht werden.129 Peter Birks setzte seine hierarchische Anordnung von Kategorien allerdings vielfach ein, um richterliche Begründungen wegen ihrer logischen Fehlerhaftigkeit zu kritisieren. Damit steht die juristische Taxonomie der deutDazu oben, S. 192 ff. Re Montagu’s Settlement Trusts [1987] Ch 264 (Ch); Polly Peck International plc v Nadir (No 2) [1992] 4 All ER 769 (CA). 125 Zu dieser Konstruktion vgl. Birks, Receipt, S. 213. 126 Gespräch mit Andrew Burrows am 21. Mai 2009. 127 So beispielsweise Postema, Law’s System. Siehe auch unten, S. 231 ff. 128 Siehe oben, S. 203. 129 Birks, The Concept of a Civil Wrong, S. 51. 123 124

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schen Rechtsdogmatik auch in funktionaler Hinsicht nahe: Zum einen soll sie einen Überblick über die stetig wachsende Masse des Fall- und Gesetzesrechts bieten und dabei helfen, diese gedanklich zu durchdringen.130 Zum anderen dient sie der Überprüfung richterlichen Handelns: In einer pluralen Gesellschaft könne die dritte Gewalt Legitimität nur dann beanspruchen, wenn sie sich auf ihre juristische Sachkompetenz zurückziehe und jegliche Form intuitiver Rechtsfindung oder politischer Aktivität vermeide.131 Ein wesentliches Element rechtlicher Expertise liege darin, gleichartige Fälle gleich zu beurteilen; dies garantiere die Regelhaftigkeit und Voraussehbarkeit judikativer Tätigkeit, die für die gesellschaftliche Akzeptanz von Entscheidungen wichtiger sei als deren Übereinstimmung mit dem subjektiven moralischen Empfinden der Richter.132 Gleichbehandlung setze allerdings voraus, dass die verwendeten Kategorien auf rechtlich relevanten Gemeinsamkeiten ihrer Bestandteile beruhen.133 Die Entdeckung derartiger Verwandtschaften ist – ganz im Sinne der von Lord Goff propagierten Arbeitsteilung134 – Aufgabe der Rechtswissenschaft. Darüber hinausgehend wies Birks der Wissenschaft auch die Rolle eines „Wächters der Rechtsrationalität“135 zu: Die akademischen Juristen müssten verhindern, dass sich die Rechtsprechung aus dem Gefängnis der Vernunft befreien könne.136 Die Taxonomie ist insofern ein Mittel, der richterlichen Tätigkeit Grenzen zu setzen; sie soll den Verlust früherer Stabilisierungsmechanismen, nämlich der forms of action und der strengen Präjudizienbindung, ausgleichen.137 Peter Birks verstand seine Systematisierungsleistung als Beitrag zu einem langfristigen Projekt der Rationalisierung des common law, das seinen Ausgang bereits bei William Blackstone genommen habe und von den viktorianischen Reformern und Universitätsjuristen fortgeführt worden sei.138 Tatsächlich wird mit der Klassifikation nicht nur – um ein weiteres Mal Webers Idealtypen zu bemühen – eine Rationalisierung im Sinne einer „begrifflichen Birks, Introduction, S. xlviii. Birks, Equity in the Modern Law: An Excercise in Taxonomy, S. 98 f.; ders., Three Kinds of Objection to Discretionary Remedialism, S. 16; ders., The academic and the practitioner, S. 401 f. 132 Birks, Equity in the Modern Law: An Excercise in Taxonomy, S. 97 ff. Birks verband mit der Regelhaftigkeit von Entscheidungen auch einen Zuwachs an Effizienz; vgl. dens., Unjust Enrichment, S. 163 („The rationality of ‘woman and children first’ may require re-examination, but shipwreck by shipwreck it cannot be done“). 133 Vgl. Birks, Introduction, S. xlviii. 134 Birks, Adjudication and interpretation in the common law, S. 166. 135 Birks, Adjudication and interpretation in the common law, S. 156 („university law schools […] are the guardians of the law’s rationality“). 136 Birks, Equity in the Modern Law: An Excercise in Taxonomy, S. 22 und 98. 137 Birks, Equity in the Modern Law: An Excercise in Taxonomy, S. 5; ders., The academic and the practitioner, S. 401. 138 Siehe Birks, ebd.; dens., Adjudication and interpretation in the common law, S. 178. 130 131

2. Einwände gegen die taxonomische Methode

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Vereinfachung und Gliederung des Rechtsstoffes“139 erreicht. Die Taxonomie erfüllt auch die engeren Kriterien einer formellen Rationalisierung „durch logische Sinndeutung“140, weil sie die subjektiven Rechte in einem widerspruchsfreien, prinzipiell lückenlosen System zusammenfasst und so die Einordnung tatsächlicher Gegebenheiten nach rechtlich relevanten Gesichtspunkten ermöglicht.141 Birks’ taxonomische Methode lässt sich mit Webers universalhistorischem Begriffsapparat nicht zuletzt deshalb beschreiben, weil sie ganz unspezifisch als juristische Denkweise konzipiert ist: Einerseits spiegelt sich in ihr das Ideal einer exakten, unpolitischen, lediglich auf die Herstellung formaler Gerechtigkeit bedachten Wissenschaft. Eine umfassende Methodenlehre der Rechtswissenschaft hat Birks indes nicht ausgearbeitet; selbst seine Vergleiche mit der Biologie bleiben oberflächlich und sollen keineswegs der Einführung naturwissenschaftlicher Maßstäbe in die Jurisprudenz das Wort reden. Andererseits will Birks mit seinem Schema den Richtern zwar ein Hilfsmittel an die Hand geben, das es ihnen ermöglicht, neue tatsächliche oder rechtliche Phänomene im bisherigen Fallrecht zu verorten; damit sollen sie sicherer erkennen, welche Regeln und Prinzipien aus Gründen der Gleichbehandlung auf neue Konstellationen anzuwenden sind. Eine Theorie der Entscheidungsfindung – des legal reasoning – hat der Universitätsjurist aber nicht einmal skizziert. Seine Schriften bieten lediglich Vorbilder, wie Akte der Rechtsprechung auf Kohärenz überprüft werden können. Diese Ergänzungsbedürftigkeit oder, anders gesagt, Entwicklungsoffenheit seiner Methode erlaubte es der nachfolgenden Wissenschaftlergeneration nicht nur, die Taxonomie methodologisch zu verfeinern und inhaltlich zu erweitern; sie gestattete es auch, Birks’ Denkweise in wesentlich elaboriertere Forschungsansätze wie den „interpretivism“ oder die „rights-based analysis“ zu überführen.142

2. Einwände gegen die taxonomische Methode 2. Einwände gegen die taxonomische Methode

Wie sehr seine unablässige Suche nach einer im Recht verborgenen Ordnung – mehr noch als seine Entdeckung des „law of unjust enrichment“ – die Erinnerung an den akademischen Lehrer beherrschte, lässt sich an den Titeln der beiden Gedenkschriften für Peter Birks ablesen: Während seine englischen Weggefährten und Schüler mit „Mapping the Law“143 die von Blackstone wie M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 62. M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 304. 141 Vgl. M. Weber, [Die Entwicklungsbedingungen des Rechts], S. 305. 142 Siehe dazu unten, S. 257 ff. und 272 ff. 143 Burrows / Lord Rodger of Earlsferry (Hrsg.), Mapping the Law. Essays in Memory of Peter Birks. 139 140

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Birks gleichermaßen verwendete Kartierungsmetapher aufgriffen, betonten seine Gefolgsleute im übrigen Commonwealth mit „Structure and Justification in Private Law“144 das Potenzial der Kategorienbildung für die Erklärung und Begründung rechtlicher Regeln. Bei aller Dankbarkeit für das Empfangene war die akademische Jugend jedoch wenig geneigt, ihren Lehrer zu monumentalisieren; viele der jüngeren Autoren beurteilten insbesondere Birks’ späte Thesen äußerst kritisch. Auf tiefe Skepsis, ja bisweilen schroffe Ablehnung stieß die taxonomische Methode in Birks’ eigener Generation. Der Gelehrte hatte seine ersten Versuche der begrifflichen Zähmung des widerspenstigen common law in einem Moment durchgeführt, da man auch in England überwiegend von einem instrumentalistischen Rechtsverständnis ausging und sich von einer soziologischen oder politikwissenschaftlichen Betrachtungsweise die größten Fortschritte erhoffte.145 Diejenigen Universitätsjuristen, die an einer konventionellen Darstellung des Fallrechts festhielten, bekannten sich weiterhin zu einem pragmatischen Vorgehen oder bezogen in der Systemfrage einen nihilistischen Standpunkt.146 In diesem Umfeld musste eine Rückbesinnung auf die Gründungsväter der englischen Rechtswissenschaft anachronistisch wirken, der ungehemmte Gebrauch römischrechtlicher Termini als Affront empfunden werden. Seit dem Ende der Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts formierte sich deshalb gegen Birks’ Einteilungsvorschläge eine breite Front des Widerstandes. In der sogenannten „taxonomy debate“147 brachten Birks’ Gegner vor, eine Systematisierung des englischen Privatrechts, noch dazu nach dem Vorbild einer biologischen Klassifikation, sei nicht möglich, weil viele der geschichtlich gewordenen Rechtsinstitute sich nicht ausschließlich einer einzigen Kategorie zuordnen ließen. Zudem stellten sie die Sinnhaftigkeit eines solchen Vorhabens in Frage: Richter würden ihre Entscheidungen ohnehin nicht aus einem System deduzieren, sondern verbänden häufig normative Gesichtspunkte aus unterschiedlichen Kategorien miteinander und ließen sich – in den Grenzen des von ihnen beanspruchten ErmessensspielGrantham / Rickett (Hrsg.), Structure and Justification in Private Law: Essays for Peter Birks. 145 Zu den Proponenten einer stärker sozialwissenschaftlichen Ausrichtung der Rechtswissenschaft zählten unter anderem Hugh Collins, Denis Galligan, Bob Hepple und Mark Freedland. Siehe auch Bradney, Law as a Parasitic Discipline, der in völliger Verkennung des Wandels der Rechtswissenschaft noch 1998, also auf dem Höhepunkt der akademischen Diskussion über das Bereicherungsrecht, ein rapides Absterben der „doctrinal analysis“ und deren allmähliche Ersetzung durch „socio-legal studies“ diagnostiziert. 146 Hauptvertreter eines pragmatischen Forschungsansatzes, und zudem stark von der US-amerikanischen ökonomischen Analyse des Rechts beeinflusst, war Patrick Atiyah. Als prominentestes Exemplar eines Rechtsnihilisten galt Tony Weir; diese durchaus zutreffende Bezeichnung gebrauchen jedenfalls McBride / Bagshaw, Tort Law, S. xiii. 147 Samuel, English Private Law: Old and New Thinking in the Taxonomy Debate. 144

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raums – von rechtspolitischen und moralischen Erwägungen leiten. Die Kritiker der Taxonomie entstammten ganz unterschiedlichen Sphären – historisch und philosophisch orientierte Professoren fanden sich neben hartgesottenen, nur am geltenden Recht orientierten Praktikern wieder – und verfolgten dementsprechend ganz unterschiedliche Interessen. Dennoch stimmten sie in ihren Vorbehalten weitgehend überein, weshalb die Vermutung naheliegt, dass in der Debatte besonders tiefe Schichten der englischen Rechtsmentalität zum Vorschein kamen. Wenig Phantasie bedurfte es, den Einwand vorauszusehen, der chaotische Zustand des englischen Rechts mache jeden Versuch einer Systematisierung zu einem hoffnungslosen Unterfangen: Dem common law liege kein Plan zugrunde, weil es durch die Entscheidung von Einzelfällen entstanden sei und die Richter in ihren systematischen Auffassungen erheblich voneinander abwichen; noch dazu werde das Fallrecht heute durch eine große Zahl bruchstückhafter, sich teilweise widersprechender Gesetze überlagert.148 Wer Birks die tatsächliche oder nur angemaßte Führerschaft innerhalb der englischen Rechtslehre missgönnte, konnte nun den ad hominem gerichteten Vorwurf des übertriebenen Ehrgeizes oder gar des Größenwahns erheben: Es sei vollkommen lachhaft, höhnte der in Wales lehrende Professor David Campbell, dass ein Einzelner in seinem Studierzimmer eine Revision des gesamten Obligationenrechts vornehmen wolle.149 Steve Hedley, ein in Irland ansässiger Universitätsjurist, der Birks bereits in den Achtzigerjahren wegen seiner bereicherungsrechtlichen Analysen befehdet hatte,150 beschuldigte den Gelehrten, er halte sich für auserwählt, das englische Recht von seiner Verworrenheit zu befreien und die Juristen von ihrer Unwissenheit zu erlösen.151 Birks habe eine völlig absurde Vorstellung davon, welcher Grad an Präzision im Recht überhaupt möglich sei; tatsächlich gebe es derzeit kein einziges Rechtsgebiet, das seine hohen Standards erfülle.152 Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zeige sich auch in der vorgeschlagenen Taxonomie – diese sei im Grunde banal und nicht mehr als ein rhetorisches Manöver, mit dem seine Gegner eingeschüchtert werden sollten.153 Paradoxerweise hielten viele akademische Juristen die radikale Neueinteilung des Privatrechts für konservativ, wenn nicht gar reaktionär.154 BefremdMatthews, Book Review: English Private Law, S. 118; Waddams, Dimensions of Private Law, S. 13; Dietrich, What is “Lawyering”? The Challenge of Taxonomy, S. 572 f. 149 Campbell, Classification and the Crisis of the Common Law, S. 370. 150 Hedley, Unjust enrichment as the basis of Restitution – an overworked concept. 151 Hedley, The taxonomic approach to restitution, S. 154 f. 152 Hedley, The taxonomic approach to restitution, S. 161. 153 Hedley, The taxonomic approach to restitution, S. 162; ders., Is Private Law Meaningless?, S. 104 f. 154 Hedley, The taxonomic approach to restitution, S. 159; Samuel, English Private Law: Old and New Thinking in the Taxonomy Debate, S. 361. 148

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lich erschien ihnen nicht allein, dass Birks unverständliche mittelalterliche Ausdrücke ausgerechnet durch noch ältere römische Begrifflichkeiten ersetzte.155 Sie warfen ihm auch vor, seine starre Klassifikation verschleiere den ständigen Wandel des Rechts. Eine Landkarte könne man nur anfertigen, wenn die Landschaft eine gewisse Stabilität aufweise.156 Dem common law aber fehle diese Beständigkeit; seine Regeln wiesen keine überzeitliche, gleichbleibende Existenz auf, sondern veränderten sich in Abhängigkeit von äußeren Umständen.157 Im Laufe der Entwicklung entstünden neue Kategorien, während alte an Bedeutung einbüßten. So sei die Haftung für schädliche Produkte vor der Erfindung der negligence vertragsrechtlich gedacht worden; erst das Urteil Donaghue v Stevenson habe die privity of contract-Doktrin eingeschränkt und auf diese Weise einem neuen Rechtsgebiet den Boden bereitet. Auch die Ausweitung der Fahrlässigkeitshaftung in Hedley Byrne v Heller beruhe auf der Einschränkung eines vertragsrechtlichen Prinzips, nämlich der absence of consideration-Doktrin.158 Wie rasch sich der Wandel vollziehe, zeige nicht zuletzt das „law of restitution“, das von nur einer Juristengeneration erfunden und zu einem komplizierten Rechtsgebiet ausgebaut worden sei.159 Birks selbst habe seine Taxonomie im Laufe der Jahre mehrfach anpassen müssen.160 Mancher vom amerikanischen legal realism beeinflusste Gelehrte, wie etwa der Israeli Hanoch Dagan, käute gar Felix Cohens Ansicht wieder, abstrakte Rechtsbegriffe seien „transcendental nonsense“:161 Kategorien, die eigentlich kontingent seien, würden als zwingende, unveränderliche Bestandteile des Rechts dargestellt und dadurch gegen Kritik immunisiert.162 Zwar könne auch ein Rechtsrealist nicht auf Kategorien verzichten; er nehme diese jedoch nicht als gegeben hin, sondern versuche, die hinter ihnen stehenden Werte zu erkennen.163 Nicht Wenige zogen die Sinnhaftigkeit von Abstraktionen grundsätzlich in Zweifel. Die von Birks geschaffenen Begriffe, wendeten die australischen Universitätslehrer Michael Tilbury und Joachim Dietrich ein, enthielten viel zu heterogene Elemente: „Consent“ beispielsweise umfasse nicht nur sämtliche Arten von contracts, sondern zu allem Überfluss auch noch trusts, gifts und wills. In einem Rechtssystem, dessen Wachstum sich in kleinen Schritten – nämlich vermittels unzähliger Analogien – vollziehe, seien Begriffe eines

155 156 157 158 159 160 161 162 163

Hedley, The taxonomic approach to restitution, S. 154. Dagan, Legal Realism and the Taxonomy of Private Law, S. 154 f. Waddams, Dimensions of Private Law, S. 15. Samuel, Can the Common Law be Mapped?, S. 274 und 287. Matthews, Book Review: English Private Law, S. 130 f. Hedley, The taxonomic approach to restitution, S. 152. Cohen, Transcendental Nonsense and the Functional Approach. Dagan, Legal Realism and the Taxonomy of Private Law, S. 155. Dagan, Legal Realism and the Taxonomy of Private Law, S. 157 und 161.

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derart hohen Abstraktionsgrades nutzlos.164 Nicht ohne Grund, sekundierte Dagan, verwendeten common law-Juristen enge Kategorien, die nur relativ kleine Realitätsausschnitte umfassen.165 Hedley gab zu bedenken, eine grobmaschige Einteilung der Rechte nach „events“ und „responses“ genüge nicht, um den genauen Rechtsbereich aufzufinden, der die Lösung für ein konkretes Problem der Lebenswelt enthalte. Welche Regeln des „law of wrongs“ Anwendung fänden, das heißt, welches Delikt einschlägig sei, könne man beispielsweise nur herausfinden, wenn man wisse, welches Interesse verletzt ist: der Körper (dann battery), die Ehre (dann defamation) oder die Berechtigung zur Nutzung eines Grundstücks (dann nuisance). Auch das Recht, das auf einen bestimmten Vertrag anzuwenden ist, unterscheide sich bisweilen ganz erheblich – je nachdem, welcher Vertragstyp vorliege und über welchen Gegenstand man sich geeinigt habe: Bereits ein Grundstückskauf (sale of land) sei schwerlich mit dem Kauf eines Wertpapiers (sale of securities) vergleichbar; Darlehnsverträge (loans of money) aber hätten kaum noch etwas mit Schiffshypotheken (loans of ship) gemein.166 Gelegentlich wurde auch der Vorwurf des Szientismus laut. Hedley hielt Birks vor, er setze Jurisprudenz und Naturwissenschaft gleich. Offenbar gehe der Gelehrte davon aus, alle Wissensgebiete mit einer einheitlichen Methode beherrschen zu können. In Wahrheit seien gerechtes Urteilen und exakte Forschung nicht dasselbe, weshalb für beide Tätigkeiten auch unterschiedliche Rationalitätsideale gälten.167 Der englische Professor Geoffrey Samuel unterzog Peter Birks’ programmatische Aussagen einer eingehenden wissenschaftstheoretischen Kritik: Rechtswissenschaft und Naturwissenschaft behandelten völlig unterschiedliche Gegenstände. In einer zoologischen Taxonomie ordne man Dinge, die unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existierten und der Sinneswahrnehmung zugänglich seien. 168 Die Jurisprudenz hingegen befasse sich nicht mit Objekten der Außenwelt, sondern operiere ausschließlich mit gedanklichen Konstrukten.169 Ein Jurist sei in der Lage, seine Begriffe selbst zu erschaffen – ähnlich wie ein Mathematiker, der einen Satz als gegeben annehmen könne, solange er sich damit nicht in Widersprüche verstricke.170 Subjektive Rechte seien daher nicht, wie von Birks behauptet, das Produkt externer Ereignisse, sondern das Ergebnis einer strategischen Definition.171 RechtsbeTilbury, Remedies and the Classification of Obligations, S. 30; Dietrich, What is “Lawyering”? The Challenge of Taxonomy, S. 560. 165 Dagan, Legal Realism and the Taxonomy of Private Law, S. 162. 166 Hedley, The taxonomic approach to restitution, S. 159 f. 167 Hedley, The taxonomic approach to restitution, S. 152 ff. 168 Samuel, Can Gaius Really be Compared to Darwin?, S. 311 f. 169 Samuel, Can the Common Law be Mapped?, S. 295. 170 Samuel, Can Gaius Really be Compared to Darwin?, S. 314. 171 Samuel, English Private Law: Old and New Thinking in the Taxonomy Debate, S. 362. 164

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griffe würden meist so zugeschnitten, dass mit ihnen ein bestimmtes normatives Ziel verwirklicht werden könne; so habe man beispielsweise in der Antike Sklaven als Sachen und Tempel als Personen klassifiziert.172 Eine juristische Klassifikation erzeuge daher nicht nur eine realitätsunabhängige Begriffswelt, sondern konstruiere zugleich ein Modell der sozialen Organisation.173 Aufgrund ihres stipulativen Charakters könne eine rechtswissenschaftliche Definition – anders als eine zoologische Einordnung – nicht an der Außenwelt überprüft werden.174 Auch Birks teste seine Klassifikationshypothesen nicht, ja er vergleiche sie nicht einmal mit den bereits bestehenden Alternativen, weil es eben kein verbindliches Referenzobjekt gebe, dem eine richtige Klassifikation korrespondieren müsste. Juristische Wahrheit sei daher eher eine Frage des Konsenses: Eine Behauptung sei wahr, wenn ihr die Mehrheit der Juristen zustimme. 175 Der in Hong Kong lehrende Kelvin Low hielt Peter Birks’ Vergleiche mit der Biologie ebenfalls für fragwürdig. Werde ein Lebewesen falsch in die Taxonomie eingeordnet, so bleibe dies ohne Folgen und könne später problemlos korrigiert werden – man denke nur an Linnés Klassifikation der Wale als Fische, die der Forscher in einer nachfolgenden Auflage der „Systema Naturae“ berichtigt habe. Verändere man dagegen den Standort eines Instituts im Rechtssystem, so wandele sich auch dessen Charakter. Dieser Wandel schlage bei Birks unmittelbar auf die Regelebene durch – ein Effekt, den der Professor dazu nutze, die von ihm gewünschten Reformen als logisch zwingend hinzustellen.176 Dabei sei häufig nicht einmal sicher, ob eine Einordnung nicht vielmehr durch die Bildung einer neuen Unterkategorie ergänzt werden müsse, also zu einer weiteren Differenzierung nötige. Zum Beispiel folge aus der an und für sich richtigen Einordnung der resulting trusts in die Ereigniskategorie „unjust enrichment“ noch lange nicht, dass sämtliche ungerechte Bereicherungen gleich behandelt und mit dinglichen Rechten sanktioniert werden müssten.177 Ungleich emotionaler gefärbt war die Kritik, die Birks sich von equitySpezialisten gefallen lassen musste. Hinter dem altbekannten Einwand, equitable rights ließen sich weder als „rights in personam“ noch als „rights in rem“ klassifizieren,178 verbarg sich der Unwillen, die vertrauten, wenn nicht Samuel, Can Gaius Really be Compared to Darwin?, S. 312. Samuel, Can Gaius Really be Compared to Darwin?, S. 325 ff. 174 Samuel, Can Gaius Really be Compared to Darwin?, S. 312 f. und 323. 175 Samuel, English Private Law: Old and New Thinking in the Taxonomy Debate, S. 342. 176 Low, The use and abuse of taxonomy, S. 359. 177 Low, The use and abuse of taxonomy, S. 362. 178 Nolan, Equitable Property. Die Diskussion über die Rechtsnatur des beneficial interest lässt sich bis in Maitlands Zeiten zurückverfolgen; siehe nur Maitland, Equity, S. 106 ff. 172 173

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gar geliebten Kategorien aufzugeben. Australische Juristen waren einer vereinheitlichenden Taxonomie besonders feindlich gesinnt, weil in ihrer Heimat die Idee einer selbständigen Billigkeitsrechtsordnung in viel stärkerem Maße lebendig geblieben war als im übrigen Commonwealth.179 Insbesondere Paul Finn, einst Professor in Canberra und nunmehr Richter am Federal Court of Australia, setzte sich – in bewusster Abgrenzung zu Peter Birks’ Verschmelzungsbestrebungen – für eine „Revitalisierung“ von equity ein, die durch eine Rückkehr zu dem ursprünglichen Verständnis als Korrektiv ungerechter Ergebnisse erreicht werden sollte.180 Dem diffusen Unbehagen, das viele Juristen angesichts der schematischen Einteilung empfanden, verlieh der in Toronto lehrende Stephen Waddams eine kraftvolle Stimme. Mit seiner im Jahr 2003 erschienenen Studie „Dimensions of Private Law. Categories and Concepts in Anglo-American Legal Reasoning“ unternahm er einen publizistischen Großversuch, die taxonomischen Thesen Peter Birks’ historisch und justiztheoretisch zu widerlegen, und schwang sich damit zu dessen wichtigstem Gegenspieler auf. Waddams griff verschiedene Gesichtspunkte der bis dahin mehr gefühlsmäßigen Kritik auf, untermauerte diese mit zahlreichen Beispielen aus der Rechtsgeschichte sowie der jüngeren Rechtsprechung und verknüpfte sie zu einem engmaschigen argumentativen Geflecht: Das Projekt einer kartographischen Darstellung des Privatrechts müsse scheitern, weil niemand imstande sei, eine Übersicht herzustellen, die das Recht in seiner ganzen Kompliziertheit abbildet. Das englische Recht, ohnehin ein Produkt historischer Zufälle, erneuere sich fortwährend, weswegen sich eine statische Klassifikation, etwa in der Form eines Tabellendiagramms, verbiete. Zudem handele es sich bei vielen Rechtsinstituten um Mischformen, die Anteil an mehreren Kategorien hätten. Die große Mehrheit juristischer Fragestellungen lasse sich deshalb nur beantworten, indem man Normen aus verschiedenen Rechtsgebieten miteinander kombiniere. Eine monistische Erklärung könne nur um den Preis einer Marginalisie179 Einer der Gründe hierfür liegt sicherlich darin, dass New South Wales, der für die Rechtsentwicklung bedeutsamste Bundestaat Australiens, noch bis 1972 eigenständige equity-Gerichte unterhielt. 180 Finn, Equitable Doctrine and Discretion in Remedies, S. 256 f. Finn forderte etwa, equitable property auch im Immaterialgüterrecht einzuführen oder bei common law wrongs typische equity-Rechtsbehelfe wie injunction und specific performance zu gewähren (a. a. O., S. 259 und 267). Meagher / Gummow / Lehane, Equity, lehnten sogar jegliche Übertragung von Begriffen oder Prinzipien aus einer der beiden Rechtsordnungen in die jeweils andere ab. Sie gingen davon aus, dass die Judicature Acts von 1873 law und equity nicht fusionieren sollten, sondern nur gemeinsame Spruchkörper geschaffen hatten. Ohne eine gesetzgeberische Legitimation sei es der Rechtsprechung deshalb verwehrt, eine Fusion herbeizuführen. Andere hochrangige australische Richter wie etwa Mason, The Place of Equity and Equitable Remedies in the Contemporary Common Law World, oder Kirby, Equity’s Australian Isolationism, sprachen sich dagegen für eine allmähliche Konvergenz von common law und equity aus.

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rung abweichender Entscheidungen, also einer Manipulation des geltenden Rechts, erreicht werden. Schließlich weise ein nicht unerheblicher Teil höchstrichterlicher Entscheidungen eine rechtspolitische Dimension auf, die ein neutrales Begriffssystem nicht erfassen könne.181 Auch Waddams identifizierte das historisch gewachsene Nebeneinander mehrerer Teilrechtsordnungen als erste Ursache für die von Birks beanstandeten Überschneidungen zwischen den traditionellen Kategorien. So ließen sich beispielsweise Erscheinungen wie maritime salvage oder matrimonial obligations nur schwerlich einem der Rechtsgebiete des common law zuweisen, weil sie vom Court of Admirality beziehungsweise von den Ecclesiastical Courts als eigenständige Rechtsfiguren geschaffen worden seien. Schwierige Abgrenzungsfragen gebe den heutigen Juristen auch die frühere institutionelle Spaltung zwischen law und equity auf: Das Billigkeitsrecht sei nämlich einzig zu dem Zweck geschaffen worden, das Recht zu ergänzen und zu korrigieren, ohne es unmittelbar aufzuheben. Deshalb bleibe häufig unklar, wie sich die Begriffe aus den beiden Rechtsordnungen zueinander verhalten; für eine Klassifikation stelle dies ein ernstzunehmendes Hindernis dar.182 Stephen Waddams’ Haupteinwand lautete jedoch, die Rechtsinstitute des common law seien so facettenreich, dass sie sich einer Systematisierung entzögen. Peter Birks hatte stets betont, die „causative events“ ließen sich klar voneinander unterscheiden; vor allem mit der Darstellung seiner Taxonomie in Form eines Tabellendiagramms hatte er suggeriert, zwischen den Haftungstatbeständen bestünden scharfe Grenzen. Dies würde aber bedeuten, dass sich jedes rechtliche Phänomen eindeutig einer der vier Ereignisklassen zuordnen lassen müsste. In Wahrheit, so Waddams, könne eine Haftung meist nicht aus einem einzigen Begriff oder einem einzigen Prinzip hergeleitet werden. In der Vergangenheit hätten die Richter ihre Doktrinen deshalb stets auf eine Kombination verschiedener Rechtsgedanken gestützt.183 Als Beleg führte der kanadische Universitätsjurist unter anderem die Gewinnhaftung (profits derived from wrongs) an, die Birks ursprünglich als eine Spielart von „unjust enrichment“ angesehen hatte und später ausschließlich als eine Varietät der „wrongs“ verstanden wissen wollte.184 Waddams argumentierte, im Laufe eines Jahrhunderts sei die Herausgabepflicht einmal als account of profits, ein anderes Mal als waiver of tort gedacht worden, wieder ein anderes Mal habe man die Zahlungsverpflichtung als exemplary damages, zuletzt sogar als damages in substitution for an injunction gedeutet. Deshalb weise die Abschöpfung unrechtmäßig erzielter Gewinne heute gleichermaßen Vgl. Waddams, Dimensions of Private Law, S. 12 ff. Waddams, Dimensions of Private Law, S. 13 f. 183 Waddams, Dimensions of Private Law, S. 2. Vgl. auch Dietrich, What is “Lawyering”? The Challenge of Taxonomy, S. 556 ff. 184 Siehe oben, S. 173 ff. und 192 ff. 181 182

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Aspekte vertraglicher wie deliktischer Haftung auf, ebenso Elemente des Eigentumsschutzes; sie sei zugleich Schadensersatz und Herausgabe einer ungerechten Bereicherung. Selbstverständlich stehe es einem akademischen Juristen frei, diese Fallgruppe allein in die Rubrik „wrongs“ einzuordnen und die Doktrin ausschließlich mit den Begriffen des Rechts der Pflichtverletzungen zu erklären. Damit wäre allerdings wenig gewonnen, denn zur Bestimmung der näheren Voraussetzungen sowie des Umfangs der Haftung müsste weiterhin auf Kriterien zurückgegriffen werden, die den Rechtsgebieten „property“ oder „unjust enrichment“ entstammen.185 Ebenso wenig ließen sich diejenigen Fälle einem einzigen haftungsbegründenden Ereignis zuweisen, in denen dem Kläger Schadensersatz zugesprochen wird, weil der Beklagte bei der Errichtung eines Gebäudes fehlerhaft gearbeitet hat: Falls zwischen den Parteien ein Vertrag bestehe, könne sich der Kläger zwar auf den Standpunkt stellen, er habe ein mangelhaftes Bauwerk erworben und sei deshalb berechtigt, einen Teil des Preises zurückzuverlangen; dies werfe jedoch die schwierige Frage auf, ob überhaupt ein Mangel vorliege oder ob der Kläger lediglich ein weniger wertvolles Produkt gewählt habe und nur in seinen Erwartungen getäuscht worden sei. Ein Vertragsbruch sei erst dann anzunehmen, wenn nachgewiesen werden könne, dass der Unternehmer den Bauherrn fahrlässig irregeführt hat. Eine deliktische Verantwortlichkeit werde regelmäßig ausscheiden, weil der Kläger lediglich einen reinen Vermögensschaden erlitten habe. Wenn der Eigentümer das Gebäude allerdings auf eigene Kosten reparieren lasse, dann erspare er dem Beklagten damit weitere Schadensersatzpflichten, etwa wegen körperlicher Beeinträchtigungen, die sonst aus dem Baumangel resultieren würden.186 Die Begriffe „contract“, „wrongdoing“ und „unjust enrichment“ für sich genommen können hier nach Waddams’ Überzeugung keinen Anspruch begründen. Sie heben nur unterschiedliche Aspekte eines verwickelten rechtlichen Zustandes hervor und stehen für eigenständige Begründungsansätze, die einander nicht ausschließen, sondern die sich gegenseitig verstärken oder abschwächen. Daher dürfe ein Wissenschaftler, der eine anerkannte Doktrin des Privatrechts erklären wolle, sich nicht auf ein einziges Haftungsprinzip beschränken.187 Das Recht werde nicht verständlicher allein dadurch, dass man seine Komplexität in Abrede stelle.188 Bisweilen liege das Charakteristische eines Rechtsinstituts gerade darin, dass es die Grenzlinien zwischen den Rechtsgebieten verwische: Das tracing Waddams, Dimensions of Private Law, S. 108 ff. Waddams, Dimensions of Private Law, S. 157 ff. 187 Waddams, Dimensions of Private Law, S. 142, 161 und 170 f. Vgl. auch Dietrich, What is “Lawyering”? The Challenge of Taxonomy, S. 559 f. 188 Waddams, The Relation of Unjust Enrichment to Other Legal Concepts, S. 408; vgl. auch dens., Dimensions of Private Law, S. 2. 185 186

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beispielsweise diene dazu, bestimmte Bereicherungsansprüche mit dinglicher Wirkung auszustatten, um einem Anspruchsinhaber, der ursprünglich gar kein vollwertiges Eigentum an dem Bereicherungsobjekt hatte, ein Vorgehen gegen den derzeitigen Eigentümer zu ermöglichen. Deshalb sei es müßig, darüber zu streiten, ob das tracing nun zum „law of unjust enrichment“ oder zum „law of property“ gehöre – beide Ansichten seien richtig.189 Wenn manche rechtliche Phänomene aber mehreren Kategorien zugerechnet werden könnten, dann sei Birks’ Taxonomie-Metapher verfehlt, weil kein Lebewesen zugleich mehreren Klassen angehören, beispielsweise sowohl Insekt als auch Säugetier sein könne. Juristische Systembildung sei eher mit der Verschlagwortung in einem Bibliothekskatalog vergleichbar, denn diese erlaube es, ein Buch mehreren Sachgebieten zuzuordnen.190 Birks’ Strategie, dem Institutionenschema eine weitere Gattung für „miscellaneous other events“191 hinzuzufügen, um mit dieser schwer zu klassifizierende Rechtsinstitute aufzufangen, hielt Waddams für untauglich. Zum einen entstehe damit eine Restgruppe, die weit größer sei als jede der benannten Ereigniskategorien; deren Bedeutung als Basis für allgemeine Haftungsprinzipien des Privatrechts werde damit in Frage gestellt. Zum anderen sei zweifelhaft, ob die neue Gattung, die immerhin Elemente der drei übrigen Kategorien enthalte, von diesen deutlich abgegrenzt werden könne. 192 Einem Universitätsjuristen, der sich größtmöglicher Klarheit verschrieben habe, bleibe deshalb nichts anderes übrig, als das Fallmaterial zu manipulieren. Abstrahierende Darstellungen des geltenden Rechts („accounts […] of law“)193 könne er dem Recht teils entnehmen, teils müsse er sie diesem aufzwingen: Zentrale Aussagen leite der Wissenschaftler zwar noch aus einigen Präjudizien her. Danach beginne er jedoch sofort damit, weitere Urteile an diesen Erkenntnissen zu messen. Wenn ein Fall mit der Theorie übereinstimme, führe er ihn triumphierend als weiteren Beleg für deren Richtigkeit an. Wenn ein Fall hingegen mit einer der Aussagen unvereinbar sei, interpretiere er ihn entweder so, dass er gerade noch der Theorie entspreche, oder er stelle Waddams, Dimensions of Private Law, S. 184 ff.; ders., The Relation of Unjust Enrichment to Other Legal Concepts, S. 406 f. 190 Waddams, Dimensions of Private Law, S. 230 f.; ders., The Relation of Unjust Enrichment to Other Legal Concepts, S. 407 f. Der seit Blackstone geläufige Vergleich mit der Erstellung einer Landkarte helfe ebenfalls nicht weiter, weil es keinen geographischen Ort gebe, der auf zwei Kontinenten zugleich liege. 191 Birks, Equity, Conscience, and Unjust Enrichment, S. 10. 192 Waddams, Dimensions of Private Law, S. 11 f. Dietrich, What is “Lawyering”? The Challenge of Taxonomy, S. 557 f., ergänzte, die unspezifische Klasse der „other events“ verschleiere gerade die Verwandtschaften, die zwischen den in ihr enthaltenen Elementen und den Bestandteilen der anderen Kategorien bestünden. Zudem lade sie dazu ein, problematische Fälle in ihr zu verstecken. 193 Waddams, Dimensions of Private Law, S. 21. 189

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ihn als unbedeutende Anomalie hin. In Wahrheit seien solche unliebsamen Gerichtsentscheidungen weder selten noch nebensächlich – zumindest gebe es kein Kriterium, das geeignet wäre, eine solche Behauptung zu überprüfen. Wer rein deskriptiv arbeiten wolle, müsse das geltende Recht ohne jede Ausnahme respektieren. Die selektive Betrachtungsweise gehe von einer Prämisse aus, die gerade zu beweisen wäre, nämlich, dass das Recht ein widerspruchsfreies, zusammenhängendes Gebilde sei. Dadurch würden wirklichkeitsgetreue Beschreibungen des historisch gewachsenen Fallrechts mit Wunschvorstellungen über die zukünftige Rechtsentwicklung vermengt.194 Zwar erkannte Waddams durchaus an, dass ein Rechtsprinzip niemals sämtliche Fälle abbilden könne und es insofern einer Auswahlentscheidung bedürfe.195 Außerdem stünde es einem akademischen Juristen frei, wie er seine Begriffe definiere. Derartige Festlegungen spiegelten allerdings nur die subjektiven Auffassungen des Autors wider und vermittelten kein Wissen über das Recht.196 Doch nicht nur bei der Beschreibung des gegenwärtigen Rechtszustandes schien systematische Strenge fehl am Platz zu sein. Waddams hielt die taxonomische Methode auch für wenig geeignet, um neue rechtliche Probleme („legal issues“)197 zu lösen. Wiederum orientierte sich seine Kritik ausschließlich an der gängigen Praxis der richterlichen Streitentscheidung: So gut wie niemals würden Richter ihr Urteil aus nur einem Rechtsbegriff herleiten. Stattdessen stützten sie ihre Begründung oft auf eine Kombination mehrerer grundlegender Begriffe. Deshalb sei es unmöglich, ein Rechtsproblem allein einer juristischen Kategorie zuzuordnen.198 Der kanadische Professor verdeutlichte dies am Beispiel der Vertragsverletzung (breach of contract): Aus Gründen der Einfachheit und der Folgerichtigkeit wäre es eigentlich angebracht, dass die Gerichte allen Pflichtverletzungen (wrongs) dieselben rechtlichen Konsequenzen zuweisen; sollte es sich bei dem Vertragsbruch – Waddams, Dimensions of Private Law, S. 21 f. Hedley, The taxonomic approach to restitution, S. 160 f., warf Birks ebenfalls vor, seine bereicherungsrechtlichen Theorien stimmten nicht mit dem geltenden Recht überein. Der Professor aus Oxford wolle zahlreiche Fallgruppen als unjust enrichment deuten und deshalb auch allesamt gleich entschieden wissen. Doch das Recht behandle all diese Fallgruppen nun einmal nicht gleich, sondern unterschiedlich: „So either the theory has to go, or the law has to go. I think it is the theory that should go.“ Birks hätte wohl mit Hegel „Umso schlimmer für die Tatsachen!“ erwidert. Dieses apokryphe Zitat Hegels findet sich bei Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band, S. 409. 195 Waddams, Dimensions of Private Law, S. 14. 196 Waddams, Dimensions of Private Law, S. 16. 197 Waddams, Dimensions of Private Law, S. 232. 198 Waddams, Dimensions of Private Law, S. 1 f. („concepts have […] operated not in isolation from each other, but cumulatively and in combination, and […] their relation to each other is fully captured neither by the image of a map nor by that of a diagram“) und 20 f. („the fluidity and interrelatedness of legal concepts“). 194

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wie von Birks behauptet – um eine Form der Pflichtverletzung handeln, dann wäre zu erwarten, dass dieser die gleichen Rechtsfolgen zeitigt wie ein Delikt.199 Ein Blick in die Judikatur lehre jedoch, dass sich die Arten der wrongs in ihren Folgen erheblich voneinander unterscheiden. Anders als für manche Delikte sähen die meisten anglo-amerikanischen Rechte für Vertragsverletzungen nämlich keinen Strafschadensersatz (punitive damages) vor, und die Herausgabe unrechtmäßig erlangter Gewinne (profits derived from wrongs) sei nur unter engen Voraussetzungen, wie etwa der Verletzung eines eigentumsgleichen Rechts, geschuldet.200 Auch die Erzwingbarkeit der vertragsgemäßen Leistung – der beim Delikt die Selbsthilfe (self-help) entspreche – sei bei der Vertragsverletzung eher die Ausnahme, weil viele Leistungspflichten nicht vollstreckbar seien und die vertragstreue Partei im allgemeinen nicht darauf bestehen könne, die eigene Leistung zu erbringen, um sich auf diese Weise den Anspruch auf die Gegenleistung zu verschaffen.201 Zudem könne man gegen einen Vertragsbruch im Regelfall keine Unterlassungsverfügung erwirken, während dies bei einem Delikt meist möglich sei.202 Eine große Variationsbreite bestehe auch im Hinblick auf die jeweilige Fallgruppe und den konkreten Einzelfall. Anstatt die Rechtsfolgen einer Vertragsverletzung aus dem Oberbegriff der Pflichtverletzung abzuleiten, würden die Richter eine Vielzahl von Gesichtspunkten in die Betrachtung einstellen: die berechtigten Erwartungen der Vertragsparteien, den Verschuldensgrad sowie etwaige Beeinträchtigungen sonstiger Rechtspositionen; manchmal werde einer Partei sogar eine gewisse Freiheit eingeräumt, den Vertrag nicht zu erfüllen, jedenfalls wenn sie zum Ausgleich Schadensersatz leiste. Das Zusammenspiel völlig unterschiedlicher Faktoren, die sich zudem gegenseitig beeinflussen, führe aber notwendig zu einem Verlust an begrifflicher Genauigkeit.203 Bei diesem komplexen Vorgang gäben nicht selten rechtspolitische Argumente den Ausschlag. Eine genaue Analyse richterlicher Begründungen zeige, dass die Rechtsentwicklung in nahezu allen Teilgebieten des Privatrechts von Nützlichkeits- beziehungsweise Allgemeinwohlerwägungen („considerations of public policy“) beeinflusst worden sei. Der Hinweis auf die vorteilhaften Auswirkungen eines bestimmten Verhaltens diene nicht selten dazu, Haftungseinschränkungen zu rechtfertigen. Es bereite große Schwierigkeiten, so Waddams, derartige Gründe in eine Karte des Rechts aufzunehmen: Die Vorstellungen davon, was nützlich oder gesellschaftlich erwünscht sei, hätten sich im Laufe der letzten Jahrhunderte erheblich verändert. Politische Überlegungen würden zudem häufig dazu eingesetzt, systematische Argumente auszuschal199 200 201 202 203

Waddams, Dimensions of Private Law, S. 143. Waddams, Dimensions of Private Law, S. 149 f. und 153 f. Waddams, Dimensions of Private Law, S. 145 und 147 ff. Waddams, Dimensions of Private Law, S. 146. Waddams, Dimensions of Private Law, S. 155 f.

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ten.204 Allerdings gingen die beiden Dimensionen des Privatrechts, „principle“ und „policy“, ineinander über; Gerechtigkeitserwägungen seien auch dem Prinzipiendenken immanent, und politische Wertungen könnten nur anwendbar gemacht werden, indem man sie prinzipienhaft formuliere.205 In jedem Stadium der Urteilsfindung – bei der Feststellung des Sachverhalts, der Identifikation der maßgeblichen Rechtsfrage sowie der Formulierung und Anwendung einer Rechtsnorm – müsse der Richter Wertungen treffen (use of judgement). Dabei würden sich ihm Freiräume eröffnen, die durch begriffliche Festlegungen kaum eingeschränkt werden könnten. Vielmehr lasse sich nachweisen, dass die Richter Folgerungen aus einem Begriff stets auf ihre moralische Richtigkeit hin überprüfen und logisch zwingende Ergebnisse verwerfen, wenn diese nicht ihrer eigenen moralischen Überzeugung oder ihrem Gerechtigkeitsgefühl entsprechen.206 Waddams versteht Rechtsfindung als offenen Deliberationsprozess, in dem systematische, rechtspolitische und moralische Argumente aufeinander bezogen und gegeneinander abgewogen werden. Seine Rekonstruktion soll belegen, dass eine begriffliche Herleitung für sich allein weder ein Urteil zu tragen vermag, noch imstande ist, die Gerichte zu binden. Der kanadische Professor gewinnt seine methodologischen Überzeugungen, indem er das Vorgehen der Rechtsprechung analysiert und dieses ohne Weiteres als verbindlich anerkennt. Mit dem Vorwurf, Birks wolle dem common law ein deduktives Modell der Entscheidungsfindung aufoktroyieren, hatte Stephen Waddams offenbar einen Nerv getroffen. Andere Autoren wie etwa der Londoner Professor Paul Matthews beharrten ebenfalls darauf, der englische Jurist denke nicht in Syllogismen, sondern gehe vom Sachverhalt des Falles aus und leite sich aus Vorentscheidungen induktiv eine passende Regel her. Während man einen kontinentaleuropäischen Juristen ohne Weiteres nach seiner Auffassung zu einem abstrakten Rechtsproblem befragen könne, provoziere dies beim common lawyer unweigerlich die Gegenfrage nach den konkreten Umständen.207 Auch Geoffrey Samuel pflichtete Waddams bei: Selbst wenn ein Rechtsprinzip existiere, heiße dies noch lange nicht, dass unmittelbar aus ihm die Lösung abgeleitet werde. So verhalte es sich beispielsweise mit dem Prinzip der Nächstenliebe (neighbour principle), auf das die allgemeine Haftung für fahrlässiges Verhalten (negligence) ursprünglich gestützt worden war. Die Frage, ob der Geschädigte einen Schadensersatzanspruch geltend machen kann, werde ausschließlich danach beantwortet, ob sich sein Fall zu einem derjenigen Fälle in Analogie setzen lässt, in denen bereits eine Haftung anerkannt worden war. 208 204 205 206 207 208

Waddams, Dimensions of Private Law, S. 19 f. Waddams, Principle and Policy in Contract Law, S. xv. Waddams, Dimensions of Private Law, S. 18 f. Matthews, Book Review: English Private Law, S. 128 f. Samuel, Can the Common Law Be Mapped?, S. 295.

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Joachim Dietrich wies darauf hin, dass es Anspruchsgrundlagen gebe, die einem Bereich zwischen Vertragsrecht und Deliktsrecht entstammen. Um zu einer angemessenen Entscheidung im Einzelfall zu gelangen, würden die Gerichte Entscheidungsmaßstäbe aus beiden Rechtsgebieten heranziehen und diese in eine umfassende Gesamtabwägung einstellen. Beispielsweise habe man im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Lösungsansätzen für den Schadensersatz wegen einseitig abgebrochener Vertragsverhandlungen entwickelt – vom ancillary contract über estoppel, restitution und den constructive trust bis hin zum tort. Bei näherer Betrachtung zeige sich jedoch, dass bei all diesen causes of action im Wesentlichen die gleichen Zurechnungskriterien verwendet würden: Vertragliche wie die Übernahme einer Ausgleichspflicht für erbrachte Leistungen oder die unausgesprochenen Erwartungen der Parteien; deliktische wie die Ursächlichkeit für das Scheitern der Vertragsverhandlungen oder die Möglichkeit, den Schaden abzuwenden. Erst aus dem Zusammenspiel dieser und weiterer Elemente ergebe sich eine tragfähige Rechtfertigung für die Schadensersatzpflicht. Wie unschwer zu erkennen ist, knüpfte Dietrich mit seiner Methode der Abwägung an das österreichische Modell des „beweglichen Systems“ an.209 Die Befürworter eines „discretionary remedialism“ attackierten Birks’ Annahme, ein „causative event“ könne immer nur ganz bestimmte „responses“ auslösen. Unter australischen und neuseeländischen, zum Teil aber auch kanadischen Richtern ist die Vorstellung verbreitet, die Gerichte seien zu einzelfallbezogenen Ermessensentscheidungen berufen. Anstatt in Abhängigkeit vom jeweiligen Tatbestand nur auf eine begrenzte Zahl von Rechtsbehelfen zugreifen zu dürfen, seien sie unabhängig vom Antrag des Klägers befugt, aus einem Korb von remedies denjenigen Rechtsbehelf auszuwählen, der ihnen angesichts der Umstände des Einzelfalles angemessen erscheine.210 Dabei soll ihnen eine weitaus größere Zahl von remedies zur Verfügung stehen als die fünf abstrakten responses, die Birks in seine Klassifikation aufgenommen hatte. 211 Doch damit nicht genug: Die Richter haben nach dieser Auffassung auch bei der Entscheidung, ob sie überhaupt eingreifen, einen gewissen Ermessensspielraum. Die dazu nötige Kompetenz vermitteln generalklauselartige Begriffe des equity-Rechts wie „appropriateness“ oder „unconscionablity“.212 In der australischen Rechtsprechung sind drei jeweils nur Dietrich, The ‘Other’ Category in the Classification of Obligations, S. 177 ff. Evans, Defending Discretionary Remedialism, S. 463; Dietrich, What is “Lawyering”? The Challenge of Taxonomy, S. 569 f. Vgl. auch Bryan, Unjust Enrichment and Unconscionability in Australia, S. 49. 211 Dietrich, What is “Lawyering”? The Challenge of Taxonomy, S. 572, unterscheidet etwa zwischen „reward, remuneration for time and effort, compensation of expenses deliberately incurred, and restitution of benefits received“. 212 Solche Begriffe haben inzwischen Eingang in wichtige australische Gesetze gefunden, und zwar in Form von Generalklauseln (general concepts), die gelegentlich auch mit 209 210

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grob umrissene Fallgruppen von „unconscionable conduct“ anerkannt: Der Missbrauch einer Vertrauensstellung, das Ausnutzen einer Nähebeziehung und das Enttäuschen berechtigten Vertrauens in einem Vertragsverhältnis.213 Einer der Hauptvertreter dieser Strömung, der Richter Paul Finn, war der Ansicht, die „causative events“ seien in diesen Konstellationen lediglich die Folge eines gewissenlosen Verhaltens. Wenn eine Partei einen Irrtum aufrechterhalte und die andere Seite deswegen leiste, dann sei die ungerechte Bereicherung bloß sekundär.214 Die Bereicherung dennoch ins Zentrum der juristischen Betrachtung zu rücken, berge die Gefahr, das eigentlich haftungsauslösende Moment zu verfehlen und eine realitätsverzerrende Feststellung des Sachverhalts zu begünstigen.215 Nur eine billigkeitsorientierte Einzelfallrechtsprechung erlaube es, auf den jeweiligen Kontext bezogene Verhaltensanforderungen durchzusetzen und damit eine wichtige Aufgabe des equity-Rechts zu erfüllen.216 Ein anderer hochrangiger australischer Richter, William Gummow, äußerte die Befürchtung, Prinzipien wie „unjust enrichment“ könnten schnell zu Dogmen erstarren, die wiederum neue Fiktionen heraufbeschwören würden.217 Im Einklang hiermit forderte der neuseeländische Richter Robin Cooke eine genaue Betrachtung des einzelnen Falles, verbunden mit der Anwendung evaluativer Rechtsbegriffe wie „conscience, fairness and reason“.218 Auf Birks’ Kritik des „discretionary remedialism“219 entgegnete Joachim Dietrich, ein „unconscionable conduct“ sei niemals alleinige Anspruchsvoraussetzung. Die Frage, ob es gewissenlos sei, eine bereits erlassene Forderung geltend zu machen, stelle sich zum Beispiel erst dann, wenn feststehe, dass der Gläubiger durch sein Verhalten Erwartungen geweckt hat, auf die der Schuldner vertrauen durfte (promissory estoppel). Insofern verbleibe den Gerichten nur ein Restermessen („residuary discretion“), das es ihnen gestat-

Ermessensvorschriften gekoppelt sind: s 51AB (1) und 51AC (1) und (2) Trade Practices Act 1974 (NSW) („unconscionable“); s 7 (1) Contracts Review Act 1980 (NSW) („unjust“); s 106 (1) Industrial Relations Act 1996 (NSW) („unfair“). Siehe hierzu Dietrich, Giving Content to General Concepts, S. 233 ff. 213 Finn, Equitable Doctrine and Discretion in Remedies, S. 259 f. 214 Finn, Equitable Doctrine and Discretion in Remedies, S. 252. 215 Gespräch mit Paul Finn am 11. Januar 2011. 216 Finn, Equitable Doctrine and Discretion in Remedies, S. 259 f.; Dietrich, What is “Lawyering”? The Challenge of Taxonomy, S. 571; ders., Giving Content to General Concepts, S. 223. 217 Roxborough v Rothmans of Pall Mall Australia Ltd [2002] 185 ALR 335 (HCA) 355. 218 Cooke, The Place of Equity and Equitable Doctrines in the Contemporary Common Law World, zitiert nach: Finn, Equitable Doctrine and Discretion in Remedies, S. 260. 219 Siehe oben, S. 208.

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te, weitere wesentliche Umstände zu berücksichtigen.220 Auf diese Weise werde eine altbekannte Regel behutsam auf neue Situationen ausgedehnt; im Laufe der Zeit kristallisierten sich sodann Fallgruppen heraus („incremental development“).221 Birks hingegen überzeichne die Entscheidungsfreiheit, die Richter angeblich für sich reklamieren würden, und male das Schreckensbild einer bindungslosen Willkürjustiz an die Wand.222 Wenn Birks wirklich für eine mechanische Rechtsanwendung eintreten wolle, dann dürfe er sich nicht auf den verhassten Begriff der „unconscionability“ beschränken, sondern müsse gleich sämtliche unbestimmten Begriffe wie etwa die deliktsrechtliche „reasonableness“ eliminieren.223 Manifestierten sich in dem Protest gegen die Taxonomie Überzeugungen, die der englischen Rechtsmentalität zugerechnet werden können? Die Vehemenz, mit der Birks’ Kritiker ihre Ablehnung vortrugen, lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass hier Essentielles verhandelt wurde: Die „taxonomy debate“ war eine Debatte über die zulässigen Formen des juristischen Denkens, aber auch über die Kompetenzen der Rechtswissenschaft. Peter Birks hatte es gewagt, das traditionelle englische Modell einer zurückhaltend kommentierenden Rechtslehre durch einen kontinentaleuropäisch inspirierten Entwurf einer systematischen Rechtswissenschaft zu ersetzen, und stieß damit bei seinen Kollegen auf erbitterten Widerstand. Einem deutschen Beobachter drängen sich zudem zwei Umstände auf, die nahelegen, dass Birks eine Diskussion über bislang Selbstverständliches ausgelöst hatte: Zum einen scheinen viele Einwände gegen die taxonomische Methode leicht zu entkräften zu sein – so ließe sich beispielsweise entgegnen, dass vielleicht keine zweifelsfreie Zuordnung eines Rechtsinstituts zu einer Kategorie möglich sei, der Rechtsanwender jedoch mit guten Gründen (zum Beispiel wegen der überwiegenden Ähnlichkeit mit einem bekannten Rechtsinstitut oder wegen erwünschter normativer Folgen) unter den verschiedenen Konstruktionsmöglichkeiten eine auswählen könne – und es erscheint merkwürdig, dass die Kritiker sich der Schwäche ihrer Argumente offenbar nicht bewusst waren. Zum anderen erstaunt das fehlende Verständnis für die Aufgaben juristischer Systembildung. Peter Birks hatte sich bemüht, von der Detailfülle des Rechts zu abstrahieren, um einen Überblick über das Ganze zu gewinnen, 220 Dietrich, Giving Content to General Concepts, S. 224. Vgl. auch Cobbe v Yeoman’s Row Management Ltd [2008] 1 WLR 1752 (HL) 1788, per Lord Walker („[uncoscionability] plays a very important part in the doctrine of equitable estoppel, in unifying and confirming, as it were, the other elements“). 221 Dietrich, Giving Content to General Concepts, S. 224 f. 222 Dietrich, What is “Lawyering”? The Challenge of Taxonomy, S. 567 ff. Vgl. auch Evans, Defending Discretionary Remedialism, S. 464; Tilbury, Remedies and the Classification of Obligations, S. 23 f. 223 Dietrich, Giving Content to General Concepts, S. 240 f.

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aber seine Gegner warfen ihm vor, die Landkarte bilde das Recht nicht in seiner ganzen Komplexität ab. Und obwohl Birks mit seinen begrifflichen Konstruktionen politisch oder moralisch motivierte Entscheidungen gerade zurückdrängen wollte, hielten ihm seine Kontrahenten entgegen, er berücksichtige nicht, dass Richter ihre Urteile häufig auf rechtspolitische Erwägungen stützen. Es ist ebendiese Verständnislosigkeit, die Birks’ Kritiker dazu veranlasste, rechtstheoretische und methodologische Haltungen zu artikulieren, die für sie eigentlich selbstverständlich waren. Welche Elemente der jüngeren englischen Rechtsmentalität lassen sich in der Taxonomie-Debatte identifizieren? Nach offenbar weit verbreiteter Vorstellung ist das common law ein höchst sonderbares und flüchtiges Gebilde. Es entzieht sich dem festen Zugriff seiner Interpreten und lässt sich keinesfalls in ein Schema zwängen. Schon die unschuldige Suche nach einer verborgenen Ordnung ist zwecklos, weil das Recht keinem Plan folgt. Der Versuch, es durch begriffliche Einteilungen nachträglich zu begradigen, erscheint angesichts der in ihm verkörperten jahrhundertelangen Erfahrung sogar wie eine Freveltat. Vor allzu strengen konzeptuellen Festlegungen sollte man sich ebenfalls hüten. Reine Formen mögen als gedankliche Spielereien passieren, aber die in der Wirklichkeit des common law existierenden Wesenheiten sind Chimären. Wer ein Rechtsinstitut ausschließlich einer einzigen Gattung zurechnet, schenkt seinen übrigen Facetten nicht genügend Beachtung. Selbst die Abgrenzung verschiedener Anspruchsgrundlagen voneinander ist häufig nicht möglich. Der Gedanke, dass ein Ereignis mehrere, voneinander unterscheidbare Ansprüche auslösen kann und dass vertragliche, deliktische und bereicherungsrechtliche Rechtsbehelfe selbständig nebeneinander bestehen beziehungsweise miteinander konkurrieren können, erscheint vielen Juristen auch mehr als 150 Jahre nach der Abschaffung der forms of action befremdlich.224 Wenn solche Abgrenzungen überhaupt möglich sein sollten, so stünde doch der Aufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag, weil die Gerichte bei Bedarf ohnehin auf Wertungen und Argumente aus mehreren Rechtsgebieten zurückgreifen. Als markantester Zug der englischen Rechtsmentalität tritt eine dezidiert positivistische Grundhaltung hervor. Jede einzelne Fallentscheidung ist verbindlich und kann so für die Systematisierung zum unüberwindbaren Hindernis werden. Auch wenn ein Urteil weder in der Begründung noch im Ergebnis zu überzeugen vermag – dem legal scholar ist es verwehrt, im Interesse einer übergreifenden Konzeption Korrekturen am geltenden Recht vorzunehmen. Nicht einmal die simple Entscheidung zwischen mehreren Konstruktionsmög224 Tatsächlich gehen die höchsten Gerichte Englands und Australiens schon seit geraumer Zeit davon aus, dass es zu einer Anspruchskonkurrenz zwischen Vertrag und Delikt kommen kann. Siehe nur Henderson v Merrett Syndicates Ltd [1995] 2 AC 145 (HL) und Astley v Austrust Ltd (2000) 197 CLR 1 (HCA).

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lichkeiten soll ihm gestattet sein. Sobald der Rechtswissenschaftler in irgendeiner Weise schöpferisch tätig wird, verfälscht er das geschichtlich Gewordene. Diese Einstellung ist untrennbar verbunden mit der weiterhin vorherrschenden Ansicht, die Autorität zur Fortentwicklung des Rechts komme allein den Richtern zu. Universitätsjuristen haben Neuerungen demnach weitgehend kritiklos nachzuvollziehen – sie sind dazu berufen zu kommentieren, nicht zu kontrollieren. Die unangefochtene Stellung der Gerichte soll die akademische Jurisprudenz sogar darauf verpflichten, die hergebrachten Methoden der juristischen Praxis als unumstößlich anzuerkennen. Nach verbreiteter Auffassung kann ein gerechtes Urteil nicht im Wege strenger Deduktion aus Begriffen oder Prinzipien gewonnen werden. Vielmehr sei es erforderlich, eine Lösung zu finden, die der besonderen Problematik des jeweiligen Einzelfalls angemessen ist. Hieraus folgt die Bereitschaft, den Richtern bei der Auswahl des zu gewährenden Rechtsbehelfs weitreichende Freiheiten zuzugestehen. Dies wird keinesfalls als Widerspruch zur Präjudizienbindung empfunden; Fallrechtspositivismus und Einzelfallermessen sind gleichermaßen Ausdruck des ungebrochenen Vertrauens in die Versiertheit der Richterschaft. Beide methodischen Positionen folgen zudem einer mikroskopischen Vorstellung von Gleichbehandlung, die nicht mit der Herstellung rechtsgebietsübergreifender Wertungskonsistenz verwechselt werden darf. Gleichbehandlung von Gleichem und Ungleichbehandlung von Ungleichem verlangt vielmehr eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten einzelner Fälle. Überblickt man die zahlreichen Stellungnahmen zu Birks’ Taxonomie, so wird deutlich, dass unter Rechtslehrern in England und dem Commonwealth noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts Einzelfallgerechtigkeit und Flexibilität als die wesentlichen Stärken des common law galten, während systematisches Denken mit Erstarrung assoziiert und geradezu als Schwäche angesehen wurde. Die Ehrfurcht vor jeder einzelnen Entscheidung machte es den Universitätsjuristen darüber hinaus unmöglich, aus dem Gewirr richterlicher Stimmen allgemeine Grundsätze herauszufiltern, und verbot ihnen allzu deutliche Kritik sowohl am geltenden Recht als auch an der Methode der Rechtsfindung. Aus heutiger Sicht nehmen sich viele Äußerungen der Taxonomie-Gegner jedoch wie Rückzugsgefechte aus. Denn schon bald sollte die nachfolgende Juristengeneration gegen alles aufbegehren, was bisher für selbstverständlich gehalten worden war und damit einen bewussten Bruch mit der common lawMentalität vollziehen.

Kapitel 7

Angriffe auf die Orthodoxie

Kapitel 7: Angriffe auf die Orthodoxie Kapitel 7: Angriffe auf die Orthodoxie

„Revolutions in Private Law“ – so lautete das Thema einer Tagung, die im Sommer 2016 in Cambridge stattfand. Arrivierte wie junge Gelehrte waren gleichermaßen dazu eingeladen, über Paradigmenwechsel im Privatrecht zu diskutieren: Was sind die Ursachen für grundlegende Veränderungen im Recht? Welche Auswirkungen haben juristische Entdeckungen? Wie lassen sich akademische Auseinandersetzungen über das Recht führen? Solche Fragen wurden auf der achten „Obligations Conference“ erörtert. Bereits seit 2002 versammelt sich die Avantgarde der anglo-amerikanischen Privatrechtswissenschaft im Zweijahresrhythmus an einer Universität im englischsprachigen Raum, um überkommene Auffassungen zu hinterfragen und neue Konzeptionen des Privatrechts vorzustellen. Diese Zusammenkünfte haben durchaus etwas Konspiratives an sich; hier verbünden sich Gleichgesinnte im Kampf gegen das Establishment. Während die erste Tagung mit dem Titel „The Law of Obligations: Connections and Boundaries“1 noch ganz im Zeichen der Taxonomie-Debatte stand, verwiesen spätere Themen wie „Justifying Private Law Remedies“ (2006)2 oder „Rights and Private Law“ (2010)3 auf neuere, ebenfalls höchst umstrittene Forschungsansätze. Doch kein Sujet vermochte den Geist der Zeit besser einzufangen als dasjenige der „Obligations Conference“ von 2012: „Challenging Orthodoxy“.4 Rebellion ist ein Privileg der akademischen Jugend. Nach Peter Birks’ frühzeitigem Ableben gelang es keinem Juristen, eine ähnlich herausragende Stellung einzunehmen, wie sie der Regius Professor of Civil Law innegehabt hatte. Manchen mochte sein ältester Schüler, Andrew Burrows, nun ebenfalls Professor in Oxford und hoch angesehen wegen seiner profunden Arbeiten zum Vertrags- und Bereicherungsrecht, als natürlicher Nachfolger gelten. Doch Burrows ist ein Mann der leisen Töne und der verhaltenen Kritik; visionäre Entwürfe sind seine Sache nicht.5 Die neuen Führungsfiguren – Robert Robertson (Hrsg.), The Law of Obligations: Connections and Boundaries. Rickett (Hrsg.), Justifying Private Law Remedies. 3 Nolan / Robertson (Hrsg.), Rights and Private Law. 4 Die Vorträge dieser Tagung, die sich mit dem Deliktsrecht auseinandersetzen, wurden veröffentlicht in: Pitel / Neyers / Chamberlain (Hrsg.), Tort Law: Challenging Orthodoxy. 5 Erwähnung verdienen jedoch seine „Restatements“ (Burrows, A Restatement of the English Law of Unjust Enrichment; ders., A Restatement of the English Law of Contract). 1 2

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Stevens, Nicolas McBride, Stephen Smith und Jason Neyers – sind allesamt Birks-Schüler, die in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren in Oxford studiert haben. Am deutlichsten wird der Mentalitätswandel jedoch in den Veröffentlichungen derjenigen „Birksians“, die ihre akademische Karriere erst vor wenigen Jahren begonnen haben, wie etwa Ben McFarlane, Eric Descheemaeker oder James Goudkamp. Diese Rechtswissenschaftler zeichnen sich allesamt durch einen ungewohnten Habitus aus: Sie fühlen sich den Richtern ebenbürtig, wenn nicht gar intellektuell überlegen. Während es in den Neunzigerjahren noch als emanzipatorischer Akt galt, eine einzelne Entscheidung als fehlerhaft zu bezeichnen, stellen nun einige Professoren gleich die Rechtsprechung ganzer Jahrzehnte als unverständig und konfus hin – und empfinden dabei offenbar das Vergnügen eines aufbegehrenden Jünglings.6 Doch die Judikatur steht längst nicht mehr im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Die jüngeren Birks-Schüler suchen eher den Konflikt mit der älteren Generation der Rechtslehrer, die vor der Verworrenheit des common law kapituliert hatte und deren Vertreter sich wahlweise mit einer pedantischen Darstellung des Fallrechts begnügt oder auf eine rechtspolitische Betrachtung zurückgezogen hatten. Die Unzufriedenheit mit dieser traditionellen Form der Rechtslehre zwingt sie dazu, in inhaltlicher wie methodischer Hinsicht neue Wege zu beschreiten. In ihren Schriften werden deshalb auffallend häufig die Grundlagen des Rechts und der Jurisprudenz thematisiert. Die aufstrebenden Universitätsjuristen stimmen darin überein, dass das Recht als gesellschaftliche Institution, die der Streitschlichtung dient und zur Ausübung von Zwang ermächtigt, elementaren Rationalitäts- und Gerechtigkeitsanforderungen genügen muss: Regeln und Entscheidungen dürfen nicht willkürlich sein, sondern müssen sich mit moralischen Gründen rechtfertigen lassen; gleich gelagerte Fälle sollen gleich behandelt werden. Deshalb gehen viele dieser Gelehrten von der Annahme aus, dass dem Privatrecht Prinzipien zugrunde liegen, die miteinander zu einem System verbunden sind. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es deshalb, diejenigen Gründe herauszuarbeiten, Dabei handelt es sich um Kodifikationen jeweils eines Rechtsgebiets nebst Kommentierung, die Burrows gemeinsam mit angesehenen Universitätsjuristen und Praktikern erarbeitet hat. Sie enthalten unter anderem Definitionen von Grundbegriffen (wie contract oder enrichment) sowie Formulierungen für Prinzipien (wie freedom of contract oder restitution for unjust enrichment). Die „Restatements“ sollen das geltende Recht so präzise und übersichtlich wie möglich darstellen. Angestrebt wird die bestmögliche Interpretation des Rechtsmaterials. Dies erfordert gelegentlich Korrekturen des derzeitigen Zustands; eine grundlegende Neuordnung oder gar Reform ist dagegen nicht beabsichtigt. Zur Konzeption vgl. Burrows, A Restatement of the English Law of Unjust Enrichment, S. ix ff. 6 Exemplarisch Stevens, Torts, S. 641 („26 years of confusion cannot be eradicated overnight, and the law is still not generally understood, at least not apparently by the Court of Appeal“).

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welche die Richter zu ihren Entscheidungen bewogen haben, und die innere Struktur des Rechts aufzudecken. Doch selbst wenn das Privatrecht noch nicht systematisch sein sollte, darf die Wissenschaft eigenständig nach moralisch ansprechenden Begründungen suchen und die Fallnormen in eine sinnvolle Ordnung bringen. Bei ihren Erklärungsversuchen sollen politische Zielstellungen möglichst außer Betracht bleiben; vielmehr muss das Recht zunächst aus sich selbst heraus verstanden werden. Einem verbreiteten Deutungsmuster zufolge sollen Rechtsregeln die subjektiven Rechte des Einzelnen festlegen und schützen. Demnach ist die Rechtsprechung nicht zur Steuerung der Gesellschaft, sondern ausschließlich zum Schutz subjektiver Rechte berufen. Entsprechend fassen die jungen Rechtsgelehrten die richterliche Entscheidungsfindung als unpolitischen und weitgehend ermessensfreien, ja geradezu mechanischen Prozess auf: „Name the right, define it, and the rest is mere application in light of the circumstances. More juris, less prudence.“7 Damit übernimmt die Schülergeneration nicht nur Positionen ihres Lehrers und entwickelt diese in Reaktion auf die Taxonomie-Kritik weiter. Sie greift darüber hinaus auch Anregungen aus der amerikanischen Tradition des legal formalism auf: So hat sie Wesley Newcomb Hohfelds Untersuchung der zwischen Recht, Pflicht, Nicht-Recht und Erlaubnis bestehenden logischen Relationen wiederentdeckt;8 gleichzeitig rezipiert sie die Deutung des Privatrechts als eines auf Kohärenz angelegten Regimes der Rechtfertigung bipolarer Anspruchsbeziehungen, wie sie von Ernest Weinrib vorgeschlagen worden ist.9 Als fruchtbar hat sich insbesondere Weinribs deontologisches Verständnis des Deliktsrechts erwiesen, wonach die Haftung allein dem Ausgleich für die Verletzung eines subjektiven Rechts dient. Kaum überschätzt werden kann zudem der Einfluss Ronald Dworkins, dessen interpretive theory of law ebenfalls von der Annahme ausgeht, staatlicher Zwang könne nur durch kohärente Begründungen gerechtfertigt werden.10 Die zeitgenössische englische Rechtswissenschaft will diese luftigen Theorien nordamerikanischer Provenienz nun in die Ebenen des englischen Privatrechts holen. Seit einigen Jahren findet eine rege Diskussion über neue Methoden der Rechtswissenschaft statt: Manche Autoren halten entgegen aller vorgetragenen Bedenken an der taxonomischen Arbeitsweise fest. Einerseits wollen sie die Rechtszweige in immer kleinere Verästelungen aufgabeln. Andererseits sollen gemeinsame Elemente zu allgemeinen Teilen vereinigt werden. Umstritten bleibt allerdings, welche Bestandteile des Rechts – Begriffe, Rechte oder Prinzipien – sich für eine Klassifizierung eignen und zu welchen AnMit dieser Formel fassen D. Stevens / Neyers, What’s Wrong with Restitution?, S. 227, ihre methodischen Vorstellungen zusammen. 8 Siehe unten, S. 279 f. 9 Zu Weinribs Theorie des Privatrechts siehe unten, S. 274 ff. 10 Siehe unten, S. 258 ff. 7

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wendungen das System fähig ist.11 Demgegenüber bemühen sich die Vertreter einer als „interpretivism“ bezeichneten Strömung darum, Theorien auszuarbeiten, die einzelne Fallrechtsnormen erklären und die zwischen diesen bestehenden Zusammenhänge offenbaren. Eine interpretative Darstellung darf das geltende Recht nicht allein so getreu wie möglich abbilden; ein ebenso wichtiges Ziel besteht darin, eine möglichst plausible und kohärente Rechtfertigung der einzelnen Regeln zu präsentieren. Eine gelungene Interpretation fördert deshalb das Verständnis des Rechts und zeigt Perspektiven für die Rechtsfortbildung auf.12 Die Befürworter der „rights-based analysis“ schließlich nehmen die Feinstruktur rechtlicher Beziehungen ins Visier: Nach ihrer Auffassung weist das Privatrecht den Individuen Rechte zu, und legt fest, was geschehen soll, wenn diese Rechte verletzt werden. Deshalb muss zunächst der Grundbegriff des „right“ definiert und dessen Verhältnis zu anderen Begriffen wie „remedy“ oder „interest“ bestimmt werden. Auf diese Weise erhält man den Elementarbaustein des subjektiven Rechts, mit dem der Aufbau sämtlicher Rechtsinstitute rekonstruiert werden kann. Die „rights-based analysis“ vollzieht also eine kopernikanische Wende, indem sie – im Gegensatz zum üblichen common law-Pragmatismus, der hauptsächlich danach fragt, welcher Rechtsbehelf zur Verfügung steht – Primärrechte in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. In der Aussage, dass deren Verletzung immer nur ganz bestimmte Sekundärrechte hervorbringt, liegt zugleich eine Kampfansage an den um sich greifenden discretionary remedialism. Mit ihrem deontologischen Rechtsdenken wollen die Vertreter dieser Strömung das Privatrecht nicht zuletzt gegen einen als desaströs empfundenen Instrumentalismus in Schutz nehmen. 13 Zum wichtigsten Schauplatz der Revolte wurde das Deliktsrecht. Das war kein Zufall, denn von allen Rechtsgebieten entspricht das law of torts am ehesten der traditionellen Denkweise eines common law-Juristen: Es setzt sich aus einer verwirrenden Anzahl spezieller Haftungstatbestände zusammen, die sich gelegentlich überschneiden. Obwohl daneben bereits seit Jahrzehnten ein allgemeines Fahrlässigkeitsdelikt (negligence) anerkannt ist, zerfällt auch dieses wieder in zahlreiche Fallgruppen. Die entschieden kasuistische Tendenz wird noch dadurch verstärkt, dass den Schädiger nur dann eine Sorgfaltspflicht trifft, wenn das Gericht dies in der gegebenen Situation für „fair, just and reasonable“ erachtet. Zwar haben einzelne Rechtsgelehrte diese Leerformel scharf kritisiert; mit ihren Gegenvorschlägen gelangten sie jedoch nur selten über lange Kataloge von Abwägungsgesichtspunkten hinaus. In diesen fanden sich zudem außergewöhnlich viele wirtschafts- und sozialpolitische Wertentscheidungen. Hier spiegelte sich der Einfluss der ökonomischen Analyse des 11 12 13

Dazu sogleich, S. 243 ff. Zum „interpretivism“ siehe unten, S. 257 ff. Zur „rights-based analysis“ siehe unten, S. 272 ff.

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Rechts wider, die ihre theoretischen Modelle bekanntermaßen im Hinblick auf deliktsrechtliche Fragestellungen erarbeitet hatte. Die jüngeren Wissenschaftler wenden sich dagegen der Struktur deliktischer Tatbestände zu. Diese setzen mehrheitlich die Beeinträchtigung eines subjektiven Rechts voraus. Das tort law sei deshalb dasjenige Rechtsgebiet, das sich mit den Sekundärpflichten befasse, die bei der Verletzung eines Primärrechts entstünden. Diese Deutung stimmt – ganz im Gegensatz zu den ökonomischen Lehren – weitgehend mit den richterlichen Begründungen überein. Zudem versetzt sie die Rechtswissenschaft in die Lage, solche Deliktstatbestände, die bislang nicht dem Schema der Rechtsverletzung folgen, ebenfalls in diesem Sinne zu interpretieren und auf diese Weise das gesamte Rechtsgebiet kohärenter zu gestalten. Schließlich bietet es sich an, die torts anhand von Rechten, die durch sie beeinträchtigt werden, zu klassifizieren. Mit Hilfe der Taxonomie können Vorschriften, die nur für bestimmte Deliktsgruppen gelten, von solchen unterschieden werden, die sich auf sämtliche Rechtsverletzungen beziehen. Diese Erkenntnis führt zur Bildung eines allgemeinen Teils, der unter anderem Regeln über Kausalität, Verschulden und Einwendungen enthält. Die im zurückliegenden Jahrzehnt erschienenen Beiträge zum tort law belegen damit nicht nur, mit welcher Leichtigkeit sich die drei methodischen Ansätze – „taxonomy“, „interpretivism“ und „rights“ – miteinander verbinden lassen.14 Sie sind auch Ausdruck eines gemeinsamen Forschungsprogramms: der Rationalisierung des Deliktsrechts.15

1. Die Methodendiskussion der Gegenwart 1. Die Methodendiskussion der Gegenwart

a) Taxonomy

Wer einen Blick auf die Titel der juristischen Dissertationen wirft, die in den vergangenen Jahren an der Universität Oxford entstanden sind, könnte leicht zu dem Eindruck gelangen, die Fundamentalopposition gegen das taxonomische Projekt habe ihre Wirkung verfehlt: „Remedies Reclassified“, im Jahre 2005 von Rafal Zakrzewski veröffentlicht, bietet nicht nur eine exakte DefiniInsbesondere die richtungsweisenden Autoren Steven Smith oder Robert Stevens können allen drei Strömungen gleichermaßen zugeordnet werden. Andere einflussreiche Rechtswissenschaftler kombinieren zumindest gelegentlich zwei Ansätze miteinander, so zum Beispiel Allan Beever („interpretivism“ und „taxonomy“) oder Jason Neyers („interpretivism“ und „rights-based analysis“). Es wäre übrigens nicht verfehlt, „taxonomy“ und „rights-based analysis“ als besondere Ausprägungen des „interpretivism“ aufzufassen. Vgl. auch Nolan / Robertson, Rights and Private Law, S. 5 f. und 26 ff., die davon ausgehen, dass die „rights analysis“ interpretative Theorien hervorbringt und beträchtliche Auswirkungen auf die Klassifikation des Privatrechts hat. 15 Zur Diskussion über das Deliktsrecht siehe unten, S. 281 ff. 14

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tion des bisher gedankenlos verwendeten Begriffs „remedy“, sondern enthält auch eine vollständige Klassifikation der Rechtsbehelfe des Privatrechts.16 In „The Division of Wrongs“, erschienen 2009, verwirft Eric Descheemaeker die herkömmliche, noch auf die forms of action zurückgehende Unterscheidung der torts und propagiert eine rigorose Neueinteilung anhand von Verschuldensgraden.17 „A Taxonomy of Tort Law Defences“, von James Goudkamp im Jahre 2013 in den Druck gegeben,18 folgt ebenfalls dem Schema von definitio und divisio: Der Autor fasst den Grundbegriff der „defence“ so abstrakt, dass er sich auf sämtliche Arten von Delikten beziehen lässt, und entwirft erstmals eine Systematik der Einwendungen, die bislang nur selten im Zusammenhang betrachtet worden sind. Doch auch die Gliederung des gesamten Privatrechts bleibt in jenen Jahren ein wichtiges Thema: In ihren richtungweisenden Monographien zum Deliktsrecht schlagen Robert Stevens und Allan Beever auch Klassifikationen vor, die – im Gegensatz zu Peter Birks’ Einteilung – von der Differenz zwischen Primär- und Sekundärrechten ausgehen.19 Doch obwohl jedes einzelne dieser Werke auf große Resonanz stieß, blieben derartige Systematisierungsversuche auf den engeren Kreis der Birks16 Zakrzewski, Remedies Reclassified, S. 11 ff., beginnt seine Untersuchung mit einer eingehenden Analyse des juristischen Sprachgebrauchs, die ein halbes Dutzend verschiedene Bedeutungen des Wortes „remedy“ zu Tage fördert. Der Birks-Schüler will strikt zwischen Rechten des materiellen Rechts („substantive rights“) und prozessualen Rechtsbehelfen („remedies“) trennen und definiert letztere deshalb als „rights arising from court orders“. Daraufhin stellt der Autor seine komplizierte Einteilung vor, wobei er mit der Differenzierung zwischen Rechtsbehelfen, die bereits existierende Rechte durchsetzen („replicative remedies“), und solchen, die neue Rechte schaffen („transformative remedies“) beginnt. Abschließend werden sämtliche Glieder der Taxonomie schematisch hinsichtlich ihrer Form, ihres Wesens und ihrer Durchsetzbarkeit charakterisiert. Siehe auch das Diagramm bei Zakrzewski, Remedies Reclassified, S. 84. 17 Descheemaeker, The Division of Wrongs. Näheres zu diesem Werk unten, S. 289 f. Descheemaeker ist Peter Birks’ letzter Schüler und folgt dem Lehrer in seinen methodologischen Auffassungen und in seiner Orientierung am römischen Recht mit besonderer Ergebenheit. 18 So lautete noch der Titel von Goudkamps Masterarbeit. Siehe auch Goudkamp, A Taxonomy of Tort Law Defences. Bei der Veröffentlichung seiner Dissertation (ders., Tort Law Defences), die zwar der taxonomischen Methode folgt, aber thematisch weit über bloße Klassifikationsfragen hinausgeht, hat der Autor auf das Reizwort im Titel verzichtet. Ausführlich zu diesem Werk unten, S. 290 f. 19 Stevens, Torts and Rights, S. 284 ff., sah sich jedoch vor das Problem gestellt, dass nicht sämtliche Verletzungen eines Primärrechts auch Sekundärrechte auslösen (wie beispielsweise die Nichterfüllung eines Bereicherungsanspruchs). Beever, Rediscovering the Law of Negligence, S. 246 und 311 ff., wusste „unjust enrichment“ ebenfalls nicht einzuordnen; darüber hinaus sah er sich gezwungen, „contract“ und „tort“ aufzuspalten, weil beide Rechtsgebiete seiner Ansicht nach gleichermaßen Primärrechte wie Sekundärrechte verleihen.

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Jünger in Oxford beschränkt.20 Der unter Juristen bis dahin wenig gebräuchliche Ausdruck „taxonomy“ avancierte hingegen bald zu einem Modewort, das gelegentlich auch etwas abschätzig verwendet wurde. Immerhin lag die gedankliche Verbindung zu einer verstaubten naturkundlichen Sammlung nicht fern – ein Umstand, der den damaligen Master of the Rolls, Lord Neuberger of Abbotsbury, zu der malapropistischen Wendung „taxonomy and taxidermy“21 ermunterte. Ob und gegebenenfalls wie das common law systematisiert werden kann, ohne es zugleich zu verfälschen oder seiner Anpassungsfähigkeit zu berauben – diese Frage wurde in England wie in Übersee weiterhin diskutiert, wenngleich weniger leidenschaftlich als noch einige Jahre zuvor.22 Die Befürworter der taxonomischen Denkweise machten sich zunächst daran, die Einwände, die gegen Birks’ Klassifikation des Privatrechts erhoben worden waren, zu entkräften. Autoren wie Steven Smith, Allan Beever oder Darryn Jensen wiesen nach, dass viele Anschuldigungen auf einem falschen Verständnis der Ziele juristischer Systembildung beruhten: Birks habe die Metapher der Kartierung des Rechts gewählt, weil es ihm darum gegangen sei, Komplexität zu bewältigen und Strukturen offenzulegen.23 Dementsprechend wäre es unangebracht gewesen, allen erdenklichen Einzelheiten Beachtung zu schenken.24 Eine Landkarte, die genauso viele Details enthalte wie die Realität, sei nutzlos. Ebenso wenig wie man vom Plan einer Untergrundbahn erwarten könne, dass dieser auch über architektonische Finessen der unterquerten Gebäude informiere, dürfe man von einer Einteilung des Privat20 Allan Beever, der in Neuseeland studiert hat und nur kurzzeitig in England lehrte, bildet insofern eine Ausnahme. Ein weiterer in Oxford ansässiger Taxonomist ist Peter Birks’ langjähriger Kollege William Swadling, der sich seit vielen Jahren für eine bessere Einteilung der trusts stark macht (siehe zum Beispiel Swadling, Explaining Resulting Trusts, sowie dens., Property. General Principles, S. 279). Auch James Edelman, früher Professor in Oxford und nunmehr Richter am High Court of Australia, legte in seiner von Peter Birks betreuten Dissertation (Edelman, Gain-Based Damages) großen Wert auf begriffliche Unterscheidungen. 21 Lord Neuberger of Abbotsbury, The Stuffing of Minerva’s Owl? Taxonomy and Taxidermy in Equity. In seinem Vortrag antwortete Lord Neuberger unter anderem auf den Aufsatz der Taxonomisten McFarlane / Robertson, The Death of Proprietary Estoppel. 22 Noch im Sommer 2012 fand in Auckland ein hochkarätig besetztes Symposium zum Thema „Mapping the Common Law. Testing the boundaries between contract, tort, restitution and equity“ statt. Die überwiegend älteren Professoren und Richter übten verhältnismäßig milde Kritik an Birks’ Taxonomie: Postema, Law’s System, bemühte sich um den Nachweis, dass dem common law bereits ein lockeres System von Fallnormen immanent sei, und bezweifelte, ob sich Ziele wie die Gleichbehandlung von Gleichem oder ein besseres Verständnis des Rechts mit einer rigideren Struktur verwirklichen ließen. Watts, Taxonomy in Private Law, zeigte sich dem Vorhaben gegenüber zwar grundsätzlich aufgeschlossen, beanstandete aber die von Birks vorgeschlagene Einteilung. 23 Beever / Rickett, Interpretive Theory and the Academic Lawyer, S. 329 ff.; Jensen, The Problem of Classification in Private Law, S. 538. 24 Sheehan, Implied Contract and the Taxonomy of Unjust Enrichment, S. 198.

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rechts verlangen, dass sie jeden noch so abwegigen Gesichtspunkt berücksichtige, auf den irgendein Richter einmal eine Entscheidung gestützt hatte.25 Um eine Systematisierung zu falsifizieren, genüge es deshalb nicht, ihre mangelnde Übereinstimmung mit der Realität des Fallrechts nachzuweisen.26 Eine gute Klassifikation zeichne sich nämlich dadurch aus, dass sie nur Wichtiges aufnehme und mit einer kleinen Zahl grundlegender Begriffe auskomme.27 Der Vorwurf, die selektive Betrachtung des Rechts stelle eine unzulässige Vereinfachung, wenn nicht gar Manipulation dar, laufe damit ins Leere. Die Taxonomen bekannten sich im Gegenteil gerade dazu, dass jeder Klassifikation etwas Künstliches anhafte.28 Damit wurde auch das Argument hinfällig, die Veränderlichkeit des Rechts stehe seiner kartographischen Erfassung entgegen. Es sei jedenfalls nicht beabsichtigt, den Zustand des Privatrechts zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte genau wiederzugeben; vielmehr gehe es darum, sich die gleichbleibende Makrostruktur vor Augen zu führen.29 Konsistentes Entscheiden und verständliches Begründen setze nämlich voraus, dass man auf ein halbwegs beständiges System von Rechtsbegriffen zurückgreifen könne.30 Darüber hinaus sei fraglich, ob begriffliche Unterscheidungen, die allein aus theoretischen Überlegungen heraus getroffen werden, durch den Lauf der Geschichte widerlegt werden könnten.31 Hinsichtlich des Einwandes, Präjudizien enthielten häufig Argumentationstopoi aus mehreren Rechtsgebieten, weswegen sich viele Rechtsinstitute nicht eindeutig auf eines der „causative events“ zurückführen ließen, entwickelten die „Birksians“ zwei einander entgegengesetzte Strategien: Die einen betonten wiederum den artifiziellen Charakter juristischer Systembildung und behaupteten, solche Mehrdeutigkeiten ließen sich durch eine bewusste Entscheidung für eine Auffassung auflösen. Das Recht könne eben auf verschiedene Weise klassifiziert werden und jede Einteilung sei das Ergebnis einer Auswahl. 32 Obwohl es an sich wünschenswert wäre, dass alle Juristen die gleiche Taxonomie verwenden, müsse man mit dem Nebeneinander verschiedener Varianten leben, solange sich nicht eine von ihnen durchgesetzt habe. Bei der Verständigung solle freilich auf Überschneidungen zwischen den Kategorien verschiedener Taxonomien besondere Rücksicht genommen werden.33 Jensen, The Problem of Classification in Private Law, S. 537 f. Ähnlich S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 379 f. 26 Beever / Rickett, Interpretive Theory and the Academic Lawyer, S. 331; Jensen, The Problem of Classification in Private Law, S. 523 f. 27 S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 364 f. 28 Siehe etwa Jensen, The Problem of Classification in Private Law, S. 523. 29 Beever / Rickett, Interpretive Theory and the Academic Lawyer, S. 329. 30 Jensen, The Problem of Classification in Private Law, S. 517 und 520 ff. 31 Beever / Rickett, Interpretive Theory and the Academic Lawyer, S. 329 f. 32 Jensen, The Problem of Classification in Private Law, S. 522. 25

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Die anderen suchten die Kritik zu umgehen, indem sie von Birks’ Prämisse abrückten, derzufolge eine Art nicht mehreren Gattungen gleichzeitig angehören könne.34 Denn dies mochte zwar auf eine biologische Klassifikation zutreffen. Aber hatte der Gelehrte mit seiner Konzeption einer „alternative analysis“ nicht selbst anerkannt, dass ein Vorgang im Tatsächlichen je nach Betrachtungsweise einmal als „wrong“, ein anderes Mal als „unjust enrichment“ erscheinen könne?35 Auf dieses Phänomen habe das common law reagiert, indem es bestimmte Arten außervertraglicher Ansprüche gekünstelten Beschränkungen unterworfen habe.36 Dabei spreche nichts dagegen, dem Kläger die Wahl zwischen mehreren – theoretisch voneinander unterscheidbaren, aber real miteinander konkurrierenden – Anspruchsgrundlagen (concurrent causes of action) einzuräumen.37 Zwar möge es in bestimmten Konstellationen geboten sein, diese Freiheit einzuschränken; eine solche Entscheidung erfordere jedoch vertiefte Kenntnisse über die Eigenheiten der verschiedenen Haftungsarten.38 Derartiges Wissen könne nur eine Taxonomie vermitteln, die sowohl Verbindendes als auch Trennendes aufzeige.39 Birks’ Anhänger traten zudem der Ansicht entgegen, klagbare Rechte nach haftungsauslösenden Ereignissen zu klassifizieren sei sinnlos, weil Richter in ihren Urteilen eine Vielzahl von Gesichtspunkten, darunter auch rechtspolitische, erörtern würden: Im Regelfall sei ein Anspruch schon dann gegeben, wenn eine Reihe von im Vorhinein feststehenden Voraussetzungen erfüllt sei. Die entsprechenden Rechtsbegriffe wie „Pflichtverletzung“, „Eingriff in eine Rechtsposition“ oder „Gewinnerzielung“ könnten ohne Weiteres in ein System der Haftungsgründe aufgenommen werden. Nur ausnahmsweise sei es erforderlich, bei der Prüfung eines Anspruchs eine Gesamtschau vieler, sich gegenseitig abschwächender oder verstärkender Faktoren vorzunehmen. Solange diese Gesichtspunkte jedoch an eine bestimmte Haftungskategorie gekoppelt blieben, ließe sich eine Klassifikation durchaus mit einem solchen Entscheidungsmodell vereinbaren. 40 Umgekehrt seien nur klar definierte Begriffe dazu geeignet, die Richter an das Recht zu binden und die Gleichbehandlung aller Bürger sicherzustellen: Immer dann, wenn ein Sachverhalt unter eine der abstrakten Kategorien falle, müsse der Richter die vom Recht dafür vorgesehene Rechtsfolge wählen, sofern nicht gewichtige Gründe entgegenstünden. Dass die genauen Grenzen der Begriffe unklar seien und es deshalb immer wieder McKendrick, Taxonomy: does it matter?, S. 644 ff. Beever / Rickett, Interpretive Theory and the Academic Lawyer, S. 330. 35 Sheehan, Implied Contract and the Taxonomy of Unjust Enrichment, S. 191. 36 S. Smith, Taking Law Seriously, S. 258. 37 Sheehan, Implied Contract and the Taxonomy of Unjust Enrichment, S. 191 f.; Jaffey, Private Law and Property Claims, S. 31 f. 38 S. Smith, Taking Law Seriously, S. 259. 39 Beever / Rickett, Interpretive Theory and the Academic Lawyer, S. 330. 40 S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 376 f. 33 34

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zweifelhafte Fälle gebe, spreche nicht dagegen, die Existenz solcher Grenzen anzuerkennen. Gleichwohl stünde es den Richtern frei, Begriffe zu ändern, indem sie ihren Umfang erweitern oder einschränken. Daher behindere eine an der Taxonomie orientierte Urteilsfindung nicht die Weiterentwicklung des Rechts.41 An die Stelle des von den Kritikern geforderten freien richterlichen Ermessens bei der Auswahl eines Rechtsbehelfs müsse jedoch ein interpretativer Akt treten, durch den der Grenzverlauf zwischen den Kategorien genauer bestimmt werde.42 Akademischen Juristen stehe es ebenfalls nicht gut zu Gesicht, die begriffliche Arbeit zu vernachlässigen und in politische oder ökonomische Betrachtungen abzugleiten. Die routinemäßige Inbezugnahme außerrechtlicher Maßstäbe, so warnten die Apologeten der taxonomischen Methode, komme einer Selbstaufgabe gleich und sei der Anfang vom Ende der Rechtswissenschaft als eigenständiger Disziplin.43 Der Schwerpunkt der Debatte verschob sich deshalb rasch von der Frage, ob eine Einteilung des Rechts überhaupt sinnvoll oder durchführbar ist, hin zu der Problematik, wie eine solche Klassifikation geschaffen werden könnte und zu welchen Zwecken man sie einsetzen dürfe. Uneinigkeit bestand schon hinsichtlich des Klassifikationsgegenstandes und der Klassifikationskriterien. Vollends umstritten war jedoch, welche Bedeutung das System für die Rechtsfindung hat. Zu einem wichtigen Bezugspunkt wurde eine funktionale Differenzierung, die Peter Cane in seiner 1997 erschienenen und damals viel beachteten Monographie „The Anatomy of Tort Law“ vorgenommen hatte. In diesem Werk bemühte sich der Australier, der fast zwei Jahrzehnte lang in Oxford lehrte, die vielfältigen torts in ihre Grundbausteine zu zerlegen und diese zusammen mit wenigen moralischen Prinzipien zu einer neuen, weitaus umfassenderen Einheit zu verbinden.44 Damit wurde Cane vielleicht nicht zu einem „Birksian“ avant la lettre, aber doch zu einem „Dworkinian“ im Morast der deliktischen Spezialtatbestände. Eine Einteilung der causes of action kann nach Canes Auffassung dabei helfen, Gesuchtes schneller aufzufinden und das Recht leichter zu lernen beziehungsweise zu lehren; sie erfüllt damit eine expositorische Funktion. Eine solche Klassifikation zeichnet sich durch analytische Eleganz und Sparsamkeit der Mittel aus. Der expositorischen stellte der Gelehrte eine dispositive Funktion gegenüber: die Lösung von Fällen. Je nachdem, ob man eine Klage „in contract“ oder „in tort“ erhebe, seien unterschiedliche Anforderungen zu erfüllen; die Korrelation eines Falles mit einer be41 Jensen, The Problem of Classification in Private Law, S. 520 f. Ähnlich Descheemaeker, Mapping the Common Law, S. 299. 42 Jensen, The Rights and Wrongs of Discretionary Remedialism, S. 207. 43 Beever / Rickett, Interpretive Theory and the Academic Lawyer, S. 335 ff. 44 Cane, The Anatomy of Tort Law. Elemente eines Delikts sind Cane zufolge das geschützte Interesse des Klägers, das Verhalten des Beklagten sowie die rechtlichen Sanktionen.

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stimmten Kategorie wirke sich deshalb auf die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe aus. Diesen Automatismus hielt Cane jedoch für schädlich, weil nicht einsehbar sei, weshalb unterschiedliche systematische Einordnungen zu unterschiedlichen Ergebnissen in einem Rechtsstreit führen sollen. Der eigentliche Grund für eine Haftung liege in der vorherigen Verletzung eines geschützten Interesses, die es zu sanktionieren gelte.45 „It is very important“, mahnte der Professor aus Oxford, „that lawyers should remain the masters of their own categories and not become servants of such conceptualism“.46 Ewan McKendrick wunderte sich, wie Cane zu dieser Auffassung gelangen konnte. Der ebenfalls in Oxford ansässige Professor entgegnete, das Ziel der taxonomischen Arbeit bestünde doch gerade darin, Prinzipien aufzufinden, die dabei helfen können, gleiche Fälle gleich zu behandeln und Fremdkörper aus dem Fallrecht zu entfernen. 47 Auch bei der Anerkennung eines neuen Instituts stelle sich sofort die – oftmals schwierige – Frage nach der richtigen Einordnung. Beispielsweise sei im Hinblick auf die negotiorum gestio nicht nur umstritten, ob diese überhaupt in das englische Recht aufgenommen werden solle, sondern auch, ob sie ihren Platz im Vertrags-, Delikts- oder Bereicherungsrecht finden würde.48 McKendrick gestand Cane allerdings zu, dass die Sicht des Richters auf den vor ihm ausgebreiteten Konflikt beschränkt sei und dies groß angelegten Systementwürfen entgegenstehe. Schon gar nicht dürften taxonomische Streitigkeiten auf dem Rücken der Parteien ausgetragen werden. Akademisch tätige Juristen könnten dagegen einen Neubeginn wagen und auch hypothetische Fallgestaltungen durchspielen. Sie müssten deshalb bei der Rationalisierung des Fallrechts vorangehen.49 Doch wie muss eine „classification“ beschaffen sein, damit sie zur Rechtsfindung genutzt werden kann? Diese Frage stellte der Londoner Professor Peter Jaffey an den Anfang seiner 2004 erschienenen Rezension zu Birks’ Alterswerk „Unjust Enrichment“.50 Jaffey schwebte eine Einteilung der „claims“ in „justificatory categories“ vor. Gegenstand der Klassifikation sollen also Ansprüche („right[s] of action or remedial right[s]“) sein. Verschiedene Ansprüche, denen ein gemeinsames moralisches Prinzip („moral principle“) zugrunde liegt, können nach Auffassung Jaffeys zu einer Gattung zusammengefasst werden:51 Vertragliche Ansprüche beruhten auf dem Grundsatz, dass Absprachen einzuhalten sind, während deliktische Ansprüche Cane, The Anatomy of Tort Law, S. 198 ff. Cane, The Anatomy of Tort Law, S. 198. 47 McKendrick, Taxonomy: does it matter?, S. 639. 48 McKendrick, Taxonomy: does it matter?, S. 652 f. 49 McKendrick, Taxonomy: does it matter?, S. 640 ff. 50 Jaffey, Classification and Unjust Enrichment. Eine ausführlichere Darstellung seiner Konzeption findet sich bei dems., Private Law and Property Claims, S. 1 ff. 51 Jaffey, Private Law and Property Claims, S. 2 f.; ders., Classification and Unjust Enrichment, S. 1014. 45 46

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damit begründet werden könnten, dass jedermann dafür Sorge zu tragen hat, andere nicht zu schädigen; sachenrechtliche Ansprüche fänden ihren Rechtfertigung in der Berechtigung zur Nutzung und Wiedererlangung des Eigentums.52 So ergeben sich die Kategorien „contract“, „tort“ und „property“, die sich von den konventionellen Rechtsgebieten gleichen Namens dadurch unterscheiden, dass sie auf einen Normenkomplex verweisen, durch den ein Interessenkonflikt auf eine ganz bestimmte Weise gelöst wird. Das Vertragsprinzip soll beispielsweise das Problem aus der Welt schaffen, dass eine Partei in Vorleistung treten muss, ohne zu wissen, ob sich die andere Seite an ihr Versprechen halten wird. Deshalb gibt es Regeln, die festlegen, wann eine bindende Übereinkunft zustande kommt und welche Sanktionen im Falle des Ausbleibens der Gegenleistung greifen.53 Die Vorschriften, auf die eine „justificatory category“ verweist, bilden Jaffey zufolge einen einheitlichen normativen Rahmen („a uniform framework for the treatment of claims“), der eine konsistente Behandlung des Interessenkonflikts sicherstelle.54 Eine solche Klassifikation nach rechtfertigenden Prinzipien sei geeignet, die theoriegeleitete oder analoge Rechtsfindung („analogical or theoretical reasoning“) zu unterstützen und Kohärenz im Recht zu fördern.55 Bei eindeutiger Rechtslage könne der Richter über einen Anspruch durch bloße Anwendung der einschlägigen Normen entscheiden. Sei das Recht dagegen unklar oder unvollständig, könnten die bestehenden Vorschriften den Ausgang des Rechtsstreits nicht determinieren. Hier helfe die „categorisation“ weiter, durch die ein Fall einer der Rechtfertigungskategorien zugeordnet wird. Sie setze voraus, dass die zu beurteilende Konstellation signifikante Ähnlichkeiten mit dem paradigmatischen Fall („standard case“) der Kategorie aufweist. Gelinge eine solche Einordnung, könne die rechtliche Fragestellung gelöst werden, indem das rechtfertigende Prinzip angewendet werde; dabei dürften im Hinblick auf einzelne Fallgruppen begründete Differenzierungen vorgenommen werden. Es sei auch möglich, einen einfachen Analogieschluss zu ziehen und das Recht auf der Regelebene weiterzuentwickeln, ohne ausdrücklich auf das Prinzip Bezug zu nehmen. Wie dieses Verfahren im Einzelnen auszugestalten ist, lässt Jaffey offen.56 Birks’ Einteilung eignet sich seiner Ansicht nach jedenfalls nicht für die praktische Rechtsanwendung. Denn die „causative events“ knüpften an die logische Struktur einer Rechtsbeziehung („form of a legal relation“) an: Mit „wrongs“ würden beispielsweise alle Ansprüche erfasst, die auf die Verlet52 Jaffey, Private Law and Property Claims, S. 3 und 10; ders., Classification and Unjust Enrichment, S. 1022; ders., Contract, Unjust Enrichment and Restitution. S. 214. 53 Jaffey, Private Law and Property Claims, S. 10 f. 54 Jaffey, Classification and Unjust Enrichment, S. 1014. 55 Jaffey, ebd. 56 Jaffey, Private Law and Property Claims, S. 6 und 12; ders., Classification and Unjust Enrichment, S. 1013 f.

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zung einer Pflicht des Beklagten zurückgehen, wobei dieser Pflicht ein Recht des Klägers korrespondiere; die Kategorie „consent“ enthalte hingegen Ansprüche, die sich mit dem Schema von Kompetenz und Unterordnung beschreiben ließen.57 Grundgedanken, welche die verschiedenen klagbaren Rechte einen könnten, suche man bei Birks dagegen vergebens. Dessen Taxonomie bezeichnete Jaffey deshalb als „formal classification“ und setzte sie seiner „justificatory classification“ entgegen.58 In ihrem Beitrag für die zweite Gedächtnisschrift zu Ehren von Peter Birks griff Emily Sherwin diese Unterscheidung auf und bezog sie auf mögliche Funktionen einer juristischen Klassifizierung.59 Nach Auffassung der USamerikanischen Rechtstheoretikerin folgt eine „formal classification“ der internen Struktur des Rechts und macht die logischen Relationen sichtbar, die zwischen seinen Kategorien bestehen. Sie ordnet die positiven Regeln, ohne dass sich daraus irgendwelche normativen Konsequenzen ergeben. Die Bezeichnungen der Kategorien stehen nicht für bestimmte Begründungen, sondern sind nur Abkürzungen für verschiedene Gruppen von Ereignissen, aus deren Anlass die Gerichte Rechtsbehelfe gewähren. Deshalb kann eine formale Klassifikation lediglich dazu dienen, das wissenschaftliche Arbeiten und die Verständigung zwischen den Juristen zu erleichtern. Ziele wie Gleichbehandlung oder Bindung der rechtsprechenden Gewalt können mit ihr nicht verwirklicht werden.60 In einer „reason-based classification“ werden dagegen rechtliche Regeln nach höherrangigen Gründen sortiert, die ihre Existenz erklären oder rechtfertigen können.61 Emily Sherwin, die in den USA als eine Parteigängerin des legal formalism gilt, nimmt an, dass jede Regel („rule“) Ausprägung einer allgemeiner gehaltenen Wertentscheidung („justification“) ist.62 Doch woher soll man diese Erklärungen oder Rechtfertigungen nehmen? Es liegt nahe, nach den Gründen zu forschen, auf die der Gesetzgeber und die Gerichte ihre Rechtssetzungsakte gestützt haben. Häufig fehlen solche Begründungen jedoch oder sie 57 Bei seiner Analyse der „causative events“ stützte sich Jaffey ausdrücklich auf Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Resaoning, S. 23 ff. Zu Hohfelds Einfluss auf die „rights-based analysis“ siehe unten, S. 279 f. 58 Jaffey, Classification and Unjust Enrichment, S. 1015 ff. 59 Sherwin, Legal Positivism and the Taxonomy of Private Law. Siehe auch dies., Legal Taxonomy. 60 Sherwin, Legal Positivism and the Taxonomy of Private Law, S. 109 und 119 ff.; dies., Legal Taxonomy, S. 33 ff. 61 Sherwin, Legal Taxonomy, S. 36. 62 Emily Sherwin folgt in dieser Hinsicht Frederick Schauer, einem anderen wichtigen Proponenten des amerikanischen legal formalism. Unter einer „justification“ versteht Schauer ein Ziel, das verwirklicht werden, oder ein Übel, das beseitigt werden soll. Ein solches Zielprogramm ist jedoch sehr offen formuliert und nur schwer auf den Einzelfall anzuwenden; deshalb wird es durch eine Regel spezifiziert. Vgl. Schauer, Playing by the Rules, S. 26 und 53 ff.

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widersprechen einander, weshalb es unmöglich ist, mit ihnen eine kohärente Taxonomie aufzubauen. 63 In Betracht kommen ferner moralische Prinzipien. Diese Variante wirft sofort die Frage nach der richtigen moralischen Begründung der jeweiligen Regel auf, und hierüber gehen die Ansichten oft weit auseinander.64 Damit bleiben nur noch Rechtsprinzipien („legal principles“) im Sinne Dworkins, also bestmögliche moralische Erklärungen, die gleichzeitig ein gewisses Mindestmaß an Übereinstimmung mit dem geltenden Recht aufweisen. Sherwin nennt sie auch „attributed rationales“, um zum Ausdruck zu bringen, dass diese Prinzipien nicht streng induktiv aus den Fallregeln gewonnen werden, sondern auf einen schöpferischen Akt zurückgehen, durch den auch unbequeme Präjudizien beiseitegeschoben werden können.65 Wenn die Anwendung eines Rechtssatzes Schwierigkeiten bereitet, könne das ihm zugeordnete Rechtsprinzip als Richtschnur dienen.66 Sherwin bezweifelt jedoch, dass der Einsatz einer „reason-based classification“ zu einer konsistenten Entscheidungspraxis führt: Da in moralischen Fragen nur selten Einigkeit herrsche, wichen die Erklärungen, die Richter für bestimmte Regeln geben, deutlich voneinander ab; zudem wiesen die von der Rechtsprechung verwendeten Rechtsprinzipien auch hinsichtlich ihrer Konformität mit dem bisherigen Fallrecht eine erhebliche Variationsbreite auf. Doch selbst wenn eine einzige Taxonomie allgemein Anerkennung finden würde, bestünde bei der Anwendung der in ihr enthaltenen Grundsätze immer noch ein erheblicher Spielraum – insbesondere dann, wenn konfligierende Prinzipien gegeneinander abgewogen werden müssen. Der Rückgriff auf Prinzipien führe zuletzt auch zu einem Bedeutungsverlust der Regeln, deren Befolgung jedenfalls Gleichbehandlung gewährleisten würde.67 Emily Sherwin gelangt deshalb zu dem ernüchternden Fazit, dass beide Formen der „legal taxonomy“ nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen können.68 Davon unbeeindruckt will sich Charlie Webb schon beim Aufbau einer Klassifikation des Privatrechts streng am Gleichbehandlungsgrundsatz orientieren. In seinem Vortrag auf der „Obligations Conference“ von 2008 kehrte er noch einmal zu Peter Canes Unterscheidung zurück: Sofern eine Klassifikation lediglich expositorischen Zwecken dienen, also die Masse des Fallund Gesetzesrechts in leicht zu fassende Stücke aufteilen soll,69 ist es völlig unerheblich, ob die unter einer Überschrift zusammengefassten Gegenstände

Sherwin, Legal Positivism and the Taxonomy of Private Law, S. 112 f.; dies., Legal Taxonomy, S. 36 f. 64 Sherwin, Legal Positivism and the Taxonomy of Private Law, S. 113. 65 Sherwin, Legal Positivism and the Taxonomy of Private Law, S. 106 f. und 113 ff. 66 Sherwin, Legal Taxonomy, S. 38 f. 67 Sherwin, Legal Positivism and the Taxonomy of Private Law, S. 116 ff. 68 Sherwin, Legal Positivism and the Taxonomy of Private Law, S. 125 f. 69 Webb, Treating Like Cases Alike, S. 216. 63

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einander ähneln70 – stattdessen muss auf Vollständigkeit und Übersichtlichkeit geachtet werden. Die Verwendung kontextueller Kategorien kann den Zugang zum Recht erleichtern. Beim Lernen mögen gewisse Überschneidungen sogar hilfreich sein.71 Gleichbehandlung ist dagegen die erste Tugend einer dispositiven Klassifikation, deren Aufgabe es ist, die Fortbildung des Rechts zu unterstützen.72 Die Stellung eines Falles in der Taxonomie gibt Auskunft darüber, welche Regeln und Prinzipien anzuwenden sind: Einen Fall einordnen heißt, darüber zu entscheiden, wie er behandelt werden soll; einen Fall anderen Fällen zugesellen bedeutet, ihn auf die gleiche Weise handhaben zu wollen. Bei einer solchen Einteilung müssen sich gleichstufige Kategorien gegenseitig ausschließen – Abgrenzungsfragen sind von überragender Bedeutung.73 Der Dozent an der London School of Economics hielt es allerdings für problematisch, zu dispositiven Zwecken klagbare Rechte nach „causative events“ zu sortieren. Denn damit ein Anspruch besteht, müssen oft eine ganze Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein. Da jedoch alle Kausalbedingungen gleichwertig sind, lässt sich nur schwer sagen, welches Element letztlich ausschlaggebend für die Haftung ist: Schon ein simpler Ersatzanspruch wegen einer Vertragspflichtverletzung setzt ein Angebot, eine Annahme, das Inaussichtstellen einer consideration, den Bruch des Vertrages und einen daraus resultierenden Schaden voraus – etwas davon zum „causative event“ zu erheben, erfordert eine Auswahlentscheidung, für die es bislang kein Kriterium gibt. Wird diese Wahl von den Juristen uneinheitlich getroffen, dann konkurrieren mehrere Klassifikationen miteinander und eine konsistente Rechtsanwendung ist ausgeschlossen. 74 Die Festlegung verschiedener „causative events“ darf deshalb nicht am Anfang, sondern allenfalls am Ende der klassifikatorischen Arbeit stehen. Zunächst gilt es herauszufinden, welche Fälle gleich sind und deshalb nach einer gleichen Behandlung verlangen.75 Wann aber sind zwei Fälle gleich? Auf Gemeinsamkeiten im Tatsächlichen kann es nicht ankommen, denn kein Fall gleicht dem anderen bis ins letzte Detail. Zu fragen ist vielmehr, weshalb das Recht Fälle, die streng genommen verschieden sind, dennoch gleich behandelt. Die Antwort auf diese Frage, führt Webb weiter aus, kann aber nur eine Analyse der Gründe („reasons“) oder Prinzipien („principles“) liefern, welche das Recht dazu bewegen, an gewisse Ereignisse bestimmte Rechtsfolgen zu knüpfen. Treffen dieselben Gründe auf beide Fälle zu, sind sie gleich 70 71 72 73 74 75

Webb, Treating Like Cases Alike, S. 221. Webb, Treating Like Cases Alike, S. 217 ff. Webb, Treating Like Cases Alike, S. 216 f. Webb, Treating Like Cases Alike, S. 219 ff. Webb, Treating Like Cases Alike, S. 225 ff. Webb, Treating Like Cases Alike, S. 231.

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zu behandeln.76 Somit muss sich auch Charlie Webb für seine Klassifikation auf eine mühselige Suche begeben: nach den Prinzipien, die das Recht leiten. Diese sind nicht im Fallrecht verborgen, sondern können nur durch moralische, ökonomische oder politische Betrachtungen darüber, welche Fälle gleich behandelt werden sollen, ermittelt werden. Die Klassifikation mutiert dadurch zu einer Revision des geltenden Rechts: Anstatt Präjudizien so zu verbiegen, dass sie in die Taxonomie passen, sollen bestehende Regeln kritisch überprüft und gegebenenfalls verworfen werden.77 Eine Alternative, die Webb in seinem Vortrag in Erwägung zog, war eine Einteilung anhand von Rechtsprinzipien, die den gegenwärtigen Zustand des Rechts erklären können. Damit spielte er auf die interpretative Konzeption der juristischen Klassifizierung an, die Steven Smith im Jahre 2004 in seiner Rezension78 zu Waddams’ „Dimensions of Private Law“ skizziert hatte. Der lange Zeit in Oxford ansässige und heute in Kanada beheimatete Smith vermied es, zwischen verschiedenen Arten von Taxonomien mit jeweils unterschiedlichen Funktionen zu unterscheiden: Wer ein Präjudiz auf eine bestimmte Weise einordnet, so Smith, erklärt damit gleichermaßen, wie er es verstanden wissen will und wie es künftig angewendet werden soll.79 Ganz allgemein gesprochen erweitert jede Klassifikation das rechtliche Wissen („legal knowledge“).80 Juristische Kartographen wollen nachweisen, dass dem Recht eine sinnvolle Ordnung innewohnt, indem sie die Bedeutung einzelner Bestandteile erklären und die zwischen diesen bestehenden Verbindungen identifizieren.81 Der wissenschaftliche Fortschritt, den eine solche Klassifikation bewirkt, lässt sich an der Entstehung des Vertragsrechts oder des Bereicherungsrechts nachvollziehen: Regeln und Entscheidungen, die einst nur als chaotische Masse wahrgenommen wurden, bilden heute wohlgeordnete Rechtsgebiete.82 Doch gerade weil eine Klassifikation dem Recht Bedeutung verleiht, entfaltet sie nach Smith’ Auffassung eine rechtfertigende Wirkung. Die verschiedenen juristischen Kategorien spiegeln nämlich unterschiedliche moralische Wertungen wider. Deshalb sind Mängel der Klassifikation immer auch Rechtfertigungsmängel: „[D]eep taxonomic uncertainties in law usually indicate deep uncertainty about the existence or the distinctiveness of the assumend justification for the rules in question.“83 In der Methode der Klassifizierung tritt Steven Smith’ interpretative Grundhaltung naturgemäß besonders deutlich hervor: Wer das Privatrecht 76 77 78 79 80 81 82 83

Webb, Treating Like Cases Alike, S. 232 ff. Webb, Treating Like Cases Alike, S. 235 ff. S. Smith, A Map of the Common Law? S. Smith, Taking Law Seriously, S. 244. S. Smith, Taking Law Seriously, S. 243. S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 370. S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 381. S. Smith, Justifying the Law of Unjust Enrichment, S. 2179.

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kartieren will, muss sich nicht darauf beschränken, bereits vorhandene Strukturen im Recht zu aufzudecken; er darf auch selbst schöpferisch tätig werden. Zwar kann die Interpretation einer sozialen Praxis nur gelingen, wenn man sich so weit wie möglich dem Selbstverständnis der Akteure annähert.84 Deshalb sollte zunächst die innere Ordnung („self-organization“) des Rechts untersucht werden, die sich in den vertrauten juristischen Begriffen manifestiert.85 Doch selbst wenn die Richter in ihren Entscheidungen bereits vorgeben, wie diese zu klassifizieren sind, ist der Interpret daran nicht immer gebunden: „The aim of the Blackstones and Birks“, behauptet Smith, „is to produce maps of the law, not maps of motivations of lawmakers.“86 Rechtswissenschaftliche Forschung („doctrinal scholarship“) zeichnet sich seiner Ansicht nach gerade dadurch aus, dass sie die überkommenen Kategorien kritisch hinterfragt und gegebenenfalls neu definiert; es steht ihr sogar frei, neue Kategorien zu erfinden.87 Einzelne Entscheidungen, die eine andere als die favorisierte Anordnung nahelegen, können als unbedeutende Anomalien zurückgewiesen werden.88 Einige Jahre später ergänzte Steven Smith seine Konzeption einer Taxonomie noch um die Idee des allgemeinen Teils. Smith, der inzwischen in Montreal beheimatet ist und sich offensichtlich vom civil law beeinflussen lassen hat, geht davon aus, dass eine juristische Kategorie wie „the law of obligations“ nur sinnvoll sein kann, wenn die darin zusammengefassten Elemente irgendwelche Gemeinsamkeiten aufweisen: „The very concept of a law of obligations appears to assume the existence of rules that cut across or otherwise tie together obligation-specific categories such as contract, trespass, and so on.“89 Zu diesen allgemeinen, rechtsgebietsübergreifenden Normen rechnet Smith solche, die gemeinsame Voraussetzungen für die rechtliche Verantwortlichkeit aufstellen (wie zum Beispiel die Bestimmungen über incapacity, duress, undue influence und misrepresentation) oder die Durchsetzung rechtlicher Pflichten näher ausgestalten (wie etwa die Regeln über specific performance oder die Verjährung).90 Aber auch Fallnormen, die Schadensersatzleistungen (damages) betreffen, gehören nicht zum Vertragsrecht, sondern zum „general part of obligations law“91 wenn nicht gar zum „general law“92. Solche Zuordnungen haben zwar keine praktischen Konsequenzen, sind aber dennoch wichtig, damit Regeln, die auf denselben 84 85 86 87 88 89 90 91 92

S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 381; ders., Taking Law Seriously, S. 249. S. Smith, Taking Law Seriously, S. 250. S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 381. S. Smith, Taking Law Seriously, S. 246 f. S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 379 f. Vgl. auch unten, S. 265. S. Smith, The Limits of Contract, S. 2. S. Smith, The Limits of Contract, S. 3 und 9. S. Smith, The Limits of Contract, S. 9. S. Smith, The Limits of Contract, S. 10.

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Grundsätzen beruhen oder auf dieselben Zwecke zurückgehen, nicht isoliert behandelt werden. Ob eine Norm in den besonderen oder in den allgemeinen Teil des Schuldrechts gehört, richtet sich Smith zufolge nicht allein danach, ob sie auf mehrere Arten von Obligationen angewendet werden kann, sondern auch danach, ob es moralisch sinnvoll ist, sie auf sämtliche Schuldverhältnisse anzuwenden.93 Die Debatte über die Taxonomie des Privatrechts bringt mittlerweile selbst Taxonomien hervor:94 Mehrere Optionen für die Systematisierung ergeben sich bereits im Hinblick auf den Klassifikationsgegenstand; vorgeschlagen worden sind Einteilungen von „rules“ (Sherwin, Smith), „cases“ (Webb) und „claims“ (McKendrick, Jaffey). Sieht man einmal von Steven Smith ab, findet sich bei allen Rechtslehrern zudem die funktionale Differenzierung zwischen einer Aufteilung, die lediglich zu didaktischen Zwecken vorgenommen wird, und einem System, das auf irgendeine Weise zu einer konsistenten Entscheidungspraxis beitragen soll. Diese hat eine gewisse Entsprechung in der – auf das Klassifikationskriterium bezogenen – Unterscheidung zwischen einer Anordnung nach formalen Gesichtspunkten und einer Einteilung anhand von rechtfertigenden Gründen. Als Rechtfertigung kommen neben moralischen Prinzipien (Jaffey, Webb) und Rechtsprinzipien (Sherwin) auch juristische Theorien mit moralischem Gehalt (Smith) in Betracht. Die angeführten Autoren sind sich darin einig, dass eine deskriptive Taxonomie, wie sie Peter Birks vorgeschlagen hatte, die von dem Schulengründer erhobenen Ansprüche nur teilweise einlösen kann. Sie mag zwar zu einer präzisen juristischen Ausdrucksweise beitragen und Doppelungen vermeiden helfen – ein solches Vorhaben gilt aber als unkreativ und wenig ambitioniert.95 Interessant wird eine Klassifikation erst dann, wenn sie normative Konsequenzen hat. Um zusätzliche Regelungsgehalte zu generieren, müssen die Normen des Fallrechts mit höherrangigen Werten verknüpft werden; deshalb ist es für die genannten Autoren selbstverständlich, die jeweiligen Elemente des Rechts nach Prinzipien zu gruppieren. Ob es sich dabei um Prinzipien handelt, die dem Recht immanent sind, oder um solche, die der Moral entstammen, darüber entscheiden nicht so sehr rechtsphilosophische Hintergrundannahmen über die Trennbarkeit der beiden normativen Sphären. Vielmehr hängt dies davon ab, ob die im Recht vorhandenen Entscheidungsmaßstäbe als ausreichend angesehen werden. Ein Verfahren, das es gestatten würde, solche Prinzipien mit der nötigen Genauigkeit zu erkennen, existiert nicht. Wie die Prinzipien angewendet werden sollen, wird ebenfalls nicht näher thematisiert: Offenbar ist daran gedacht, dass die „reasons“ oder „justiS. Smith, The Limits of Contract, S. 5. Emily Sherwins Bemerkung, eine „taxonomy of legal taxonomy“ (Sherwin, Legal Taxonomy, S. 28) entwerfen zu wollen, enthält offenbar nicht ein Fünkchen Ironie. 95 Sherwin, Legal Positivism and the Taxonomy of Private Law, S. 120 f. 93 94

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fications“ Hypothesen für die Bildung von Analogien liefern. Die unmittelbare Deduktion aus dem Prinzip gibt jedenfalls keine zwingenden Ergebnisse vor. Eine mittlere Abstraktionsebene, die ein vollständiges Begriffssystem liefern könnte, wird durch eine solche Einteilung nicht geschaffen. Der Einwand der Taxonomie-Kritiker, eine juristische Klassifikation sei zur Entscheidungsfindung ungeeignet, ist damit noch nicht widerlegt. b) Interpretivism Ein Rechtswissenschaftler, der es unternimmt, eine größere Zahl von Einzelfallentscheidungen zu rationalisieren, indem er ein leitendes Prinzip herausarbeitet oder eine verallgemeinernde Theorie erfindet, sieht sich vor ein methodisches Hindernis gestellt: Nach der Präjudizienlehre ist er nicht nur an die Regeln gebunden, die in den Urteilen kundgetan werden, sondern auch an die Gründe. Wie aber lässt sich eine Präjudizienkette auf einen Nenner bringen, wenn im Laufe der Jahre die Ergebnisse wechseln oder nacheinander auftretende Richter unterschiedliche Begründungen verwenden? Wie ist dem Problem beizukommen, dass die Mitglieder eines einzigen Spruchkörpers mit unterschiedlichen Argumenten zu demselben Resultat gelangen? Was tun mit einem Fall, der zwar im Ergebnis richtig entschieden worden ist, dessen altertümliche Begründung aber nicht mehr überzeugt? Ein Universitätsjurist, der eine neue Lösung für eine Rechtsfrage präsentieren will, wird jedenfalls nicht umhin kommen, sich gelegentlich über ein Präjudiz hinwegzusetzen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen juristischer Theoriebildung und Richterrecht wird im common law-Rechtskreis üblicherweise als Konflikt zwischen reason und authority beschrieben – und es ist nicht verfehlt, hierin das methodische Kernproblem der englischen Rechtswissenschaft zu sehen. Traditionell wird dieser Konflikt zugunsten der authority aufgelöst. Fragt man etwa einen australischen Juristen nach seiner Meinung zu den bereicherungsrechtlichen Lehren der Birks-Schule, erhält man meist folgende Antwort: Diese Theorien geben nicht das geltende Recht wieder. Sie passen (fit oder match) weder zu den Ergebnissen noch zu den Begründungen der Vorentscheidungen und werden daher nicht vom positiven Recht getragen (unsupported by authority). Und als ob es nicht schon gefährlich genug wäre, die zwingenden Vorgaben des Richterrechts nicht zu respektieren, führen sich die Professoren zu allem Überfluss noch wie Gesetzgeber auf! Im Gegensatz zum traditionellen bottom-up approach, bei dem Prinzipien vorsichtig aus vielen Einzelfallentscheidungen extrahiert werden, folgen sie einem top-down approach, ordnen also die Präjudizien ihren aus der Luft gegriffenen Theorien unter. Die Lehren der Universitätsjuristen erzeugen aus Sicht traditioneller Juristen künstliche Einheit, wo nur disparate Fälle existieren. Es ist fast so, als würde man viele unterschiedliche Gegenstände in eine Schublade legen und dann behaupten, sie seien einander ähnlich, nur weil sie sich in demsel-

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ben Fach befinden. Um ihre unhaltbaren Behauptungen zu stützen, erfinden die akademischen Juristen Hilfshypothesen, die nichts anderes sind als Fiktionen. Sie erzeugen damit erst die Inkohärenz, die sie eigentlich beseitigen wollen. Alsbald kursieren sogar mehrere, einander widersprechende Lehren.96 Welche methodologische Konzeption setzen Birks’ Gefolgsleute ihren Kritikern entgegen? Die Rechtsphilosophie Ronald Dworkins hat, wenngleich als Theorie des Rechts und der richterlichen Urteilsfindung (theory of adjudication) konzipiert, das Selbstverständnis der englischen Rechtswissenschaft maßgeblich beeinflusst: Viele akademisch tätige Juristen reklamieren heute für sich eine ähnliche Stellung wie diejenige eines Richters, der mit dem überkommenen Fallnormen ebenso respektvoll wie schöpferisch umgeht. Mit ihren wissenschaftlichen Darstellungen erheben sie den Anspruch, eine gelungene, wenn nicht gar die beste Interpretation des geltenden Rechts zu geben. Ihr Bestreben, das common law aus sich heraus zu verstehen und bei der Erklärung seiner Regeln auf „principles“ statt auf „policy“ zurückzugreifen, verweist ebenfalls auf Dworkins Werk.97 Ronald Dworkin ging von der Überlegung aus, staatlicher Zwang sei nur dann gerechtfertigt, wenn seine Ausübung von Prinzipien geleitet ist, die auf alle Bürger gleichermaßen Anwendung finden; Willkür verletze den Anspruch des Einzelnen auf Gleichbehandlung.98 Der Gesetzgeber ist daher gehalten, das Recht in seiner Gesamtheit kohärent auszugestalten.99 Ein Richter, der schwierige Fälle („hard cases“) zu entscheiden hat, also solche, in denen das Ergebnis nicht durch Regeln vorgegeben ist,100 darf sich nicht wie ein Gesetzgeber von politischen Erwägungen leiten lassen. Vielmehr soll er nach Prinzipien suchen, die eine kohärente Rechtfertigung für sämtliche bisher entschiedenen Fälle vermitteln, und diese – als Bestandteil des Rechts gedachten – Prinzipien auf die neuen Sachverhalte anwenden.101 Den Prozess, der das Auffinden solcher Prinzipien ermöglicht, charakterisierte der ameriDiese Ausführungen gehen zum Teil auf Gespräche mit australischen Juristen zurück, stützen sich aber ganz wesentlich auf Conte, From Only the ‘Bottom-up’?, S. 3 f. und 20 ff., der einen Einblick in die Gedankenwelt der hochrangigsten australischen Richter gewährt und zahlreiche Belege anführt, die sowohl der Judikatur als auch dem außergerichtlichen Schrifttum entstammen. 97 Die rechtsphilosophisch orientierte Dworkin-Exegese hat feinsinnige Differenzierungen zwischen dem „frühen“ und dem „späten“ Dworkin vorgenommen (siehe etwa Coleman, Truth and Objectivity in Law, S. 48 ff.). Eine Betrachtung der Wirkung des amerikanischen Philosophen auf die Rechtswissenschaft in England und dem Commonwealth kann solche Unterscheidungen nicht mit derselben Genauigkeit treffen. Dworkins rechtsphilosophische Zwischenbilanz „Law’s Empire“ aus dem Jahr 1986 übte jedoch unzweifelhaft den größten Einfluss aus. 98 Dworkin, Hart’s Postscript and the Character of Political Philosophy, S. 29. 99 Dworkin, Law’s Empire, S. 176. 100 Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 83. 101 Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 116 f. und 292. 96

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kanische Philosoph als schöpferische Interpretation („constructive interpretation“).102 Der Richter soll das Fallrecht so deuten, dass es den bestmöglichen Zustand erreicht; dies verlangt ihm auch ein moralisches Urteil ab. Die Auswahl zwischen mehreren möglichen Interpretationen erfolgt anhand zweier Kriterien: Zunächst sind gewisse Mindestanforderungen bezüglich der Übereinstimmung mit dem geltenden Recht („fit“) zu stellen. Danach ist zu fragen, welche Deutung die bereits ergangenen Entscheidungen in moralischer Hinsicht am besten zu rechtfertigen vermag („justification“).103 Dworkin verglich die richterliche Tätigkeit mit der Arbeit an einem Fortsetzungsroman, zu dem mehrere Schriftsteller nacheinander jeweils ein Kapitel beisteuern: So wie der jeweils nachfolgende Autor bestrebt sein muss, an den bisherigen Verlauf der Geschichte anzuknüpfen, aber nicht gezwungen ist, jeden einzelnen Handlungsstrang fortzuführen, so muss sich auch der Richter im Wesentlichen an das überkommene Fallrecht halten. Andererseits wird der Schriftsteller nicht umhinkommen, sich ein eigenes ästhetisches Urteil zu bilden und der Handlung eine neue Wendung zu geben, die den ganzen Roman zu einem künstlerisch bedeutsamen Werk geraten lässt. Dementsprechend soll der Richter unter mehreren Möglichkeiten, die Rechtsentwicklung fortzuschreiben, diejenige wählen, die seinen moralischen Überzeugungen am ehesten entspricht.104 Übrigens müssen nach Dworkin auch die konventionellen Einteilungen des Rechts so gedeutet werden, dass sie in einem möglichst günstigen Licht erscheinen. Zwar drängt das interpretative Ideal der „integrity“ – demzufolge sich das Recht als so kohärent wie nur irgend möglich erweisen soll105 – dazu, die Grenzen zwischen den Rechtsgebieten aufzuheben und die Teile des Rechts zu einem Ganzen zu verschmelzen. Allerdings ist diese „compartimentalization“ in der juristischen Praxis so wichtig, dass ein kompetenter Interpret sie nicht einfach ignorieren kann. Er wird die traditionellen juristischen Einteilungen deshalb respektieren, sofern sie allgemein anerkannte moralische Unterscheidungen nachvollziehen – wie beispielsweise die differenzierte Beurteilung der Bösartigkeit einer Handlung nach dem Grad des Verschuldens. Sollten die Wertungsunterschiede zwischen den Kategorien jedoch darauf zurückgehen, dass sich die Rechtsgebiete zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten herausgebildet haben und deshalb einen unterschiedlichen Stand der Entwicklung aufweisen, dann ist die Einteilung arbiträr und muss aufgegeben werden.106 Dworkin, Law’s Empire, S. 52. Dworkin, Law’s Empire, S. 255 f. 104 Dworkin, Law’s Empire, S. 228 ff. und 257 f. 105 Siehe die verschiedenen Formulierungen der „integrity“ bei Dworkin, Law’s Empire, S. 176, 238 f., 243 und 255. 106 Dworkin, Law’s Empire, S. 250 ff. 102 103

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Ronald Dworkins „interpretivism“ hat auch im Werk Peter Birks’ Spuren hinterlassen. Zwar mag Birks, soweit seine rechtsphilosophischen Positionen aus seinen Schriften deutlich werden, im Fahrwasser seiner streng positivistisch gesinnten Fakultätskollegen gesegelt sein – dafür sprechen jedenfalls das Insistieren auf Rechtssicherheit107 und die Ablehnung richterlichen Ermessens.108 Doch der streitbare Dworkin war als Professor of Jurisprudence drei Jahrzehnte lang eine dominante Figur in Oxford, und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Birks zumindest dessen frühe Schriften kannte. Ebenso wie für Dworkin stand die „integrity of the law“109 im Zentrum seines Denkens. Bereits Mitte der Achtzigerjahre konnte man deshalb bei Birks lesen, das Recht könne nur organisiert und verstanden werden,110 wenn man die alten Fälle neu interpretiere.111 Später erklärte er, seine überarbeitete Konzeption des Bereicherungsrechts sei „the best interpretation of the English cases“112 und seine Taxonomie „the best hypothesis currently available“.113 Die „causative events“ waren im Grunde genommen Abkürzungen für Prinzipien, mit denen bereits entschiedene Fälle erklärt oder gerechtfertigt werden konnten.114 Vor allem aber in seinem Bestreben, das Privatrecht als Einheit zu verstehen und rechtsgebietsübergreifende Kohärenz zu erzeugen, zeigt sich Birks’ Nähe zu Dworkin.115 Viele der jüngeren Rechtswissenschaftler verwenden heute eine Methode, die sich als vulgarisierte Abwandlung von Dworkins „interpretivism“ charakterisieren lässt: Ihnen ist daran gelegen, ein möglichst ansprechendes Bild des englischen Rechts zu zeichnen. Im Umgang mit dem Fallmaterial nehmen sie sich allerdings weitgehende Freiheiten heraus. Eine Theorie, die mit sämtlichen Vorentscheidungen übereinstimmt, erscheint ihnen unerreichbar. Zum einen, so hört man gelegentlich, sei das common law dafür nicht homogen genug, weil es über viele Jahrhunderte von unzähligen Richtern geschaffen worden sei. Zum anderen enthielten viele Leitentscheidungen antiquierte Begründungen. Die Erklärung, die ein Richter im 18. Jahrhundert für eine Siehe etwa Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 97. Birks, Rights, Wrongs, and Remedies, S. 22 ff. 109 Birks, Equity in the Modern Law: An Exercise in Taxonomy, S. 50. 110 Birks, An Introduction to the Law of Restitution, S. 1 („organise and understand“). 111 Birks / McLeod, The Implied Contract Theory of Quasi-Contract, S. 47 („the need to re-interpret the old cases, whose reasoning is distorted either by the language of implied contract or by the vacuum created because the implied contract theory prevented the development of any more convincing rationale“). 112 Birks, Unjust Enrichment, S. 163. 113 Birks, Introduction, S. xlvi. 114 Siehe oben, S. 218. 115 McMeel, What Kind of Jurist was Peter Birks?, S. 30 ff., ignoriert demgegenüber die zahlreichen Motive aus Dworkins Werk, die in Birks’ programmatischen Passagen anklingen, und ordnet diesen ausschließlich als Rechtspositivisten ein. 107 108

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von ihm geschaffene Doktrin gegeben hat, möge damals richtig gewesen sein, dürfe heute aber nicht mehr für bare Münze genommen werden. Auch vor Gericht sei die Präjudizienbindung nicht derart streng, dass ein Anwalt keine Argumente gebrauchen dürfte, die nicht bereits in den Fällen vorgefunden werden können. Doch auch die Begründungen in neueren Urteilen sind nicht mehr sakrosankt. Nicht wenige Universitätsjuristen gehen heute davon aus, dass selbst den höchsten Richtern Fehler unterlaufen können. Sie sehen es deshalb als ihre Aufgabe an, überzeugendere Lösungen für altbekannte rechtliche Fragestellungen zu präsentieren.116 Um ein – mehr oder weniger eng umgrenztes – Teilgebiet des Fallrechts zu rationalisieren, haben sich zwei verschiedene Vorgehensweisen eingebürgert:117 Eine Strategie besteht darin, die Ergebnisse (results) zunächst einmal als gegeben hinzunehmen, über die von den Richtern angebotenen Begründungen (reasoning) dagegen hinwegzusehen. Der Rechtswissenschaftler wird nun versuchen, eine Theorie aufzustellen, die möglichst viele dieser Fallnormen erklären kann. Es geht darum, abstrakt zu formulieren, unter welchen Voraussetzungen bestimmte Rechtsfolgen eintreten, vor allem aber zu erklären, weshalb dies so sein soll. Die wenigen Entscheidungen, die sich der Theorie nicht fügen, werden sodann als Anomalien gekennzeichnet. Welche Folgen damit verbunden sein sollen, wird nicht immer ganz deutlich – aber gemeint ist doch wohl, dass die in diesen Urteilen enthaltene Begründung bei der Entscheidung ähnlich gelagerter Fälle nicht mehr beachtet werden muss. Eine andere Strategie ist es, abstrakt das rechtliche Problem zu umreißen, das einer Lösung harrt – etwa die Frage, wie eine bestimmte Fallkonstellation zu entscheiden ist oder in welchen Situationen eine bestimmte Rechtsfolge angeordnet werden soll. Sodann wird eine moralische, also von rechtlichen Vorgaben losgelöste, Diskussion darüber eröffnet, welche Lösung die beste ist. Erst zum Schluss sucht der Rechtswissenschaftler im case law nach Evidenz, die belegt, dass das moralisch richtige Ergebnis auch Bestandteil des englischen Rechts ist. Die autoritative Begründung soll die moralische Argumentation aber lediglich stützen. Sofern es gegenläufige Urteile gibt, wird häufig gesagt, das Recht habe sich im Laufe der Geschichte leider inkonsistent entwickelt, aber man müsse das Beste daraus machen. Gelangen mehrere Juristen bei der Anwendung dieser Methoden zu verschiedenen Erklärungen, so ist die Übereinstimmung mit den Regeln und Begründungen des Fallrechts gewiss nicht das alleinige Auswahlkriterium. 116 Englische Rechtswissenschaftler sprechen ihre methodischen Überzeugungen in ihren Schriften selten offen aus, artikulieren sie aber um so deutlicher im persönlichen Gespräch. Nur ganz vereinzelt finden sich methodologische Streitschriften wie etwa diejenigen von Conte, From Only the ‘Bottom-up’?, S. 21 ff., oder Lucy, Method and Fit, S. 648 ff., an denen sich einige der hier wiedergegebenen Einstellungen ablesen lassen. 117 Die im folgenden beschriebenen Methoden habe ich in mehreren Seminaren und Diskussionsrunden in Oxford und Cambridge studieren können.

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Zwar trägt derjenige die Argumentationslast, der behauptet, die Fälle seien falsch entschieden worden. Häufig wird eine Theorie jedoch angegriffen, weil die Begründung, die sie für die Existenz des Normenkomplexes liefert, in moralischer Hinsicht nicht plausibel erscheint. Von einer gewissen Bedeutung sind auch die Fernwirkungen, die eine Theorie in anderen Rechtsgebieten entfaltet; es gilt als Nachteil, wenn durch die Anwendung der Theorie auf neue Sachverhalte Wertentscheidungen aus anderen Rechtsgebieten unterlaufen werden. Gelegentlich ist sogar der Einwand zu hören, der Anwendungsbereich der Theorie sei zu klein; es wird also gefragt, ob die Begründung konsequenterweise nicht auch in anderen Rechtsbereichen zum Tragen kommen und die bisherige Rechtsprechung entsprechend geändert werden müsste. Dies führt wiederum zu der Frage nach der Übereinstimmung der Theorie mit dem Fallrecht zurück. Zuletzt konkurrieren mehrere Erklärungen miteinander, die in verschiedenen Dimensionen besser oder schlechter erscheinen, also inkommensurabel sind. Dworkin hatte sich die Entscheidung zwischen rivalisierenden Theorien als zweistufigen Prozess vorgestellt: Akzeptabel waren seiner Ansicht nach nur diejenigen Interpretationen, die ein Mindestmaß an Übereinstimmung mit dem geltenden Recht aufweisen. Allerdings war der amerikanische Philosoph durchaus damit einverstanden, dass Richter diese Schwelle unterschiedlich hoch ansetzen.118 Mit Hilfe dieses Kriteriums werden zunächst jedenfalls nur solche Lösungen ausgesondert, die sich mit den Ergebnissen des Fallrechts gar nicht vertragen; irrelevant ist dagegen, ob ein rechtfertigendes Prinzip bereits in den Entscheidungsgründen ausgesprochen worden ist.119 Zwischen den verbleibenden Interpretationen soll der Richter Dworkin zufolge eine Abwägung vornehmen, wobei höherrangige moralische Überzeugungen („higher order convictions“) den Ausschlag geben.120 Im Rahmen der Abwägung soll es darüber hinaus erneut darauf ankommen, inwiefern die verschiedenen Erklärungen im Einklang mit dem Fallrecht stehen; je größer die Abweichungen, umso stärker büßt eine moralische Theorie an Überzeugungskraft ein.121 Ronald Dworkin konzentrierte sich mit seiner Rechtsphilosophie ganz auf die richterliche Urteilsfindung und kennzeichnete diese als eine rechtfertigungsbedürftige Tätigkeit des Staates. Die Entwicklung einer rechtswissenschaftlichen Theorie, die nicht unmittelbar auf die Lösung eines individuellen Konflikts abzielt und die durchaus als Alternative zur bisherigen Rechtspraxis konzipiert sein kann, thematisierte Dworkin nur am Rande.122 Bei Lichte Dworkin, Law’s Empire, S. 255. Dworkin, Law’s Empire, S. 247 f. 120 Dworkin, Law’s Empire, S. 256. 121 Dworkin, Law’s Empire, S. 246 f. und 256. 122 Dworkin, Law’s Empire, S. 285 f., unterschied jedenfalls zwischen einer akademischen und einer praktischen moralischen Theorie. 118 119

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betrachtet widerspricht es nicht nur dem Selbstverständnis der jungen Generation von Universitätsjuristen, sondern es spielt auch den Kritikern der Birks-Schule in die Hände, seine theory of adjudication als Anweisung für die wissenschaftliche Arbeit zu lesen: Ein Richter mag gehalten sein, die Rechtsprechung in einem möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen. Um sich nicht in einen performativen Widerspruch zu begeben, muss er mit seiner Entscheidung einen Anspruch auf moralische Richtigkeit erheben.123 Der Rechtswissenschaftler wird dagegen zunächst verstehen wollen, weshalb die Gerichte zu ihren Ergebnissen gelangen und erst danach – zustimmend oder ablehnend – Stellung nehmen. Angesichts der unter englischen Juristen verbreiteten positivistischen Grundhaltung wird ein akademisch tätiger Jurist darauf bedacht sein, zwischen Interpretation und Kritik des Rechts zu trennen,124 um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, seine Theorie habe nichts mehr mit dem geltenden Recht gemein. Die von Dworkin entwickelten Maßstäbe – „fit“ und „justification“ – sind ferner nicht präzise genug, um mit ihrer Hilfe komplizierte rechtswissenschaftliche Erklärungen zu beurteilen und diese miteinander zu vergleichen. Denn die Übereinstimmung einer Theorie mit ihrem Gegenstand ist einerseits eine Sache des Grades: Wer eine Abfolge von Entscheidungen, die zwar aufeinander Bezug nehmen, aber dennoch inkohärent sind, auf ein einziges Prinzip zurückführen will, muss sich die Frage gefallen lassen, wie viele unpassende Präzedenzfälle er aussondern darf. Andererseits tritt Übereinstimmung in mehreren Dimensionen auf: Es bedarf einer Begründung, weshalb bestimmte Fälle als Beleg für die Richtigkeit der Theorie angeführt und andere verworfen werden. Warum soll ein Fall paradigmatisch sein und ein anderer pathologisch? Sind ältere Entscheidungen weniger bedeutsam als jüngere? Zudem kann die Verträglichkeit mit dem Fallrecht sowohl auf Ergebnisse als auch auf Begründungen bezogen werden. Dworkins Methode, die konsistentes Staatshandeln in der Gegenwart gewährleisten will, 125 ist blind gegenüber den historisch und institutionell bedingten Nuancierungen des common law, die eine rechtswissenschaftliche Theorie nicht gänzlich außer Acht lassen darf. Das Kriterium der Rechtfertigung, das den Wert einer Interpretation an ihre moralische Richtigkeit knüpft, ist ebenfalls nicht geeignet, eine zuverlässige Auswahl zwischen rivalisierenden Theorien zu gewährleisten. Es ist jedenfalls nur hilfreich, wenn man bereit ist anzuerkennen, dass moralische Werte als objektive Tatsachen existieren und moralische Aussagen wahrheitsfähig sind.126 Vgl. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 69. Zur positivistischen Grundhaltung englischer Juristen siehe oben, S. 237 f. Vgl. auch Vogenauer, Vorsprung durch Technik, S. 500 f. 125 Dworkin, Law’s Empire, S. 228 f. 126 Ironischerweise führte gerade Dworkin einen jahrzehntelangen Kampf gegen diese metaethischen Auffassungen, ja er bezweifelte sogar die Möglichkeit einer Metaethik; siehe Dworkin, Law’s Empire, S. 78 ff., sowie dens., Objectivity and Truth: You’d Better 123 124

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Doch selbst dann stellt sich das Problem, wie man richtige moralische Überzeugungen erkennt. Bisher hat jede ethische Tradition ihre eigene Auffassung davon entwickelt, was eine gute moralische Begründung auszeichnet. Solange es keine universell akzeptierte Methode gibt, um zu moralischen Wahrheiten zu gelangen, wird es moralischen Dissens geben – und damit Uneinigkeit über die Richtigkeit juristischer Theorien. Viele englische Juristen, die noch eine darstellende und zurückhaltend kommentierende Universitätsjurisprudenz gewohnt sind, sehen in solchen Meinungsverschiedenheiten einen Beleg für die Fehlerhaftigkeit der verwendeten Methode. All dies wirft die Frage auf, ob sich Dworkins „interpretivism“ nicht auf eine Weise adaptieren lässt, die den traditionellen Erwartungen an die Rechtslehre stärker entgegenkommt, ohne zugleich das Ziel der Rationalisierung des Fallrechts aufzugeben. Stephen Smith hat im Jahre 2004 die bis heute umfassendste Theorie der rechtswissenschaftlichen Theoriebildung vorgestellt127 und damit Anklang gerade unter jüngeren Universitätsjuristen in England und dem Commonwealth gefunden. Smith’ Anliegen ist es, juristische Forschung als Interpretation des geltenden Rechts zu rekonstruieren und Kriterien für die Beurteilung interpretativer Theorien zu benennen. „Legal scholarship“, ist Smith überzeugt, „is done with various purposes in mind, but the basic aim of legal scholarship is to understand the law better.“128 Eine rein deskriptive Rechtslehre hält er für wertlos, weil sie nicht mehr hervorbringe als eine zufällige Ansammlung von Daten. Aber auch ein präskriptives, also auf die Reform des Rechts gerichtetes Vorhaben sei nicht durchführbar, ohne zuvor die theoretischen Grundlagen der geltenden Regeln nachzuvollziehen. Historische Forschungen schließlich könnten zwar wertvolle Impulse für das Verständnis des heutigen Rechts liefern, dieses jedoch nicht vollständig erklären.129 Erstrebenswert sei deshalb ein „interpretive account of the law“,130 der alle drei Ansätze miteinander verbindet. Ein wesentliches Ziel der Theoriebildung besteht darin, das Recht als ein sinnvolles, in sich geordnetes Ganzes darzustellen:131 „An interpretive theory […] helps us to better understand the law by illuminating the significance of, and connections between, its different parts.“132 Nach Smith’ Methode beginnt der Rechtswissenschaftler mit einem Vorverständnis dessen, was zum unantastbaren Kernbestand eines Rechtsgebiets gehört. Was Kern und was Peripherie ist, bestimmt sich nach dem Konsens Believe It. Dies stand in merkwürdigem Widerspruch zu seiner berühmten „right answer thesis“ – worauf seine Kritiker auch immer wieder genüsslich hingewiesen haben; siehe nur Leiter, Objectivity, Morality, and Adjudication. 127 S. Smith, Contract Theory, S. 3 ff. 128 S. Smith, Taking Law Seriously, S. 249. 129 S. Smith, Contract Theory, S. 4 ff. 130 S. Smith, Contract Theory, S. 6. 131 S. Smith, Contract Theory, S. 5. 132 S. Smith, Contract Theory, S. 36.

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der Rechtskundigen, also einer Art communis opinio.133 Im Rahmen seiner Interpretation muss der Universitätsjurist dann versuchen, die allermeisten Urteile dieses Kernbereichs auf ein einziges Prinzip zurückzuführen.134 Dabei sollte er die richterlichen Begründungen zumindest in Betracht ziehen, muss diese aber nicht übernehmen.135 Hat er nun ein Prinzip gefunden, das einen Großteil der Fälle erklärt und andere nicht, so kann er letztere als falsch verwerfen und damit den ursprünglichen Konsens angreifen. Eine Grenze ist erst dort erreicht, wo so viel verworfen werden muss, dass das ursprüngliche Rechtsgebiet für den Kundigen nicht mehr wiederzuerkennen ist.136 In diesem Falle muss der Rechtsgelehrte seine Theorie abändern. Ein Ausweg besteht darin, geringere Anforderungen an die Kohärenz zu stellen und mehrere tragende Grundsätze zuzulassen, aber nur insoweit, wie diese konsistent sind.137 Diese Prinzipien müssen auch nicht moralisch richtig sein; es reicht aus, wenn die Erklärungen nach dem Selbstverständnis der Richter oder des Wissenschaftlers eine plausible moralische Rechtfertigung darstellen.138 Steven Smith’ zufolge gilt es bei der Theoriebildung vier Optimierungsgebote zu einem Ausgleich zu bringen: Die Theorie muss zu den Rechtsnormen passen („fit“); sie muss die Entscheidungsgründe der Richter ernst nehmen („transparency“); sie soll das Rechtsgebiet als konsistent und kohärent darstellen („coherence“); schließlich muss die Theorie zeigen, dass die in den Fallentscheidungen zum Ausdruck kommenden Regeln auch moralisch begründbar sind („morality“).139 Weil das englische Recht das Produkt einer schöpferischen Tätigkeit ist, die Jahrhunderte dauerte und bei der ungezählte Individuen mitwirkten, wäre es erstaunlich, wenn eine Theorie jedes dieser Kriterien vollständig erfüllen würde.140 Smith betont daher, dass es sich nicht um Mindestanforderungen handelt, sondern um Vergleichsmaßstäbe, an denen konkurrierende Theorien gemessen werden können.141 Die Anforderung, dass eine juristische Theorie im Einklang mit den Fallund Gesetzesnormen stehen muss („fit“), schränkt Smith in zweierlei Hinsicht ein: Erstens wird sie nur auf ein bestimmtes Rechtsgebiet bezogen. Normen, die anderen Rechtsgebieten angehören, müssen durch eine andere Theorie erklärt werden. Ein wichtiges Ziel jeder Interpretation sei es, Grenzfälle („borderline cases“) zu klassifizieren – insofern konvergieren die taxonomische und die interpretative Methode. Deshalb muss es erlaubt sein, einen 133 134 135 136 137 138 139 140 141

S. Smith, Contract Theory, S. 8 f. S. Smith, Contract Theory, S. 11 f. S. Smith, Contract Theory, S. 24 f. S. Smith, Contract Theory, S. 10 f. S. Smith, Contract Theory, S. 12 f. S. Smith, Contract Theory, S. 18 ff. S. Smith, Contract Theory, S. 7 ff. S. Smith, Contract Theory, S. 10. S. Smith, Contract Theory, S. 37.

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unpassenden Fall auszusondern, indem er einem anderen Rechtsgebiet zugewiesen wird. Allerdings ist dazu der Nachweis erforderlich, dass dieser Fall im Widerspruch zum Kernbestand der Fall- und Gesetzesnormen des jeweiligen Rechtsgebiets steht.142 Zweitens dürfen auch Fälle, die thematisch eindeutig dem zu interpretierenden Rechtsgebiet zuzuordnen sind, als Anomalien („anomalies“)143 oder Ausnahmen („exception[s]“)144 charakterisiert werden. Eine juristische Theorie solle nämlich verdeutlichen, welche Bestandteile des Rechts wichtig und welche unbedeutend sind. Deshalb ist der Rechtswissenschaftler befugt, einzelne Teile des Rechts für unerheblich zu erklären.145 Smith ist sich der Zirkularität der beiden Selektionsmechanismen durchaus bewusst. Da es jedoch keinen archimedischen Standpunkt gebe, von dem aus solche Wertungen vorgenommen werden könnten, müsse der Rechtswissenschaftler diese Entscheidungen selbst treffen.146 Der bisherige Konsens der Rechtsgelehrten sorgt dafür, dass missliebige Präjudizien ohne weiteres beiseitegeschoben werden können.147 Das Gebot der Transparenz („transparency“) verlangt, für die Erklärung des geltenden Rechts Begründungen zu wählen, die auch die juristischen Akteure selbst verwenden könnten. Dürfte die Rechtswissenschaft lediglich die von Richtern tatsächlich angeführten Gründe wiederholen, wäre Theoriebildung unmöglich. Der Universitätsjurist, führt Smith aus, sei nicht darauf beschränkt, lediglich eine abstraktere Erklärung für die in den Fällen enthaltenen Regeln zu liefern, aus der sich dann die richterlichen Entscheidungsgründe ableiten lassen. Denn dies würde bedeuten, dass der Rechtswissenschaftler gezwungen wäre, diese Gründe als die richtigen zu präsentieren.148 Eine Interpretation des geltenden Rechts als einer sich selbst reflektierenden Praxis solle dessen Verständnis fördern, und dies sei möglich, ohne sich die Auffassungen der Teilnehmer zu eigen zu machen.149 Andererseits dürfe der Rechtslehrer keine Erklärung offerieren, die dem Recht völlig fremd ist. Das Recht könne nur verstanden werden, wenn man von seinem Selbstverständnis ausgehe („law’s self-understandig“); zu diesem zähle auch der vom Recht erhobene Anspruch auf Transparenz.150 Damit ist gemeint, dass die Richter in ihren Urteilen implizit behaupten, diejenigen Gründe anzugeben, die sie auch tatsächlich zu ihren Entscheidungen bewogen

142 143 144 145 146 147 148 149 150

S. Smith, Contract Theory, S. 9 ff. S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 379. S. Smith, Contract Law, S. 10. S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 379 ff. S. Smith, A Map of the Common Law?, S. 380. S. Smith, Contract Theory, S. 10 f. S. Smith, Contract Theory, S. 27. S. Smith, Contract Theory, S. 13 f. S. Smith, Contract Theory, S. 27.

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haben.151 Die rechtsrealistische Position, derzufolge Richter ihre wahren Gründe verschleiern, hält Smith für verstiegen, weil sie darauf hinauslaufe, dass sich Generationen von Juristen zur Unehrlichkeit verschworen haben.152 Deshalb dürfe der Rechtswissenschaftler beispielsweise nicht auf ökonomische oder sozialpolitische Argumentationsmuster zurückgreifen. Vielmehr müsse seine Theorie die gleiche Art von Begründungen enthalten, die auch Richter gebrauchen. Entscheidend ist also, dass eine genuin juristische Erklärung gewählt wird.153 Aber muss eine gute Theorie nicht ebenso in moralischer Hinsicht überzeugen? Für Steven Smith stellt sich diese Frage – anders als für Ronald Dworkin – nicht, weil das Ziel seiner Interpretation lediglich ein besseres Verständnis des Rechts, nicht jedoch die Rechtfertigung staatlichen Handelns ist. Der Grund, dennoch ein Kriterium der moralischen Begründbarkeit („morality“) einzuführen, liegt wiederum im Selbstverständnis des Rechts, das der Wissenschaftler bei seiner Sinndeutung berücksichtigen muss: Das Recht erhebe den Anspruch, für seine Gebote und Verbote gute moralische Gründe anzuführen und nicht nur eine faktische, sondern auch eine legitime Autorität zu sein.154 Eine juristische Theorie solle daher das Recht auf eine Weise erklären, die belegt, dass es moralisch gerechtfertigt werden kann.155 Deshalb sei es nötig, die moralischen Überlegungen nachzuvollziehen, welche die juristischen Akteure zu ihren Entscheidungen bewogen haben, oder nach einer moralischen Begründung zu suchen, auf die sie ihre Urteile stützen könnten. „[G]ood theories“, behauptet Smith, „show that the law is, or could be thought to be, supported by recognizably moral principles.“156 Den Beleg, dass die Regeln des Fall- und Gesetzesrechts tatsächlich moralisch gerechtfertigt sind, verlangt der kanadische Professor dagegen nicht. Im Gegensatz zu Dworkin, der den Interpreten auf die Teilnehmerperspektive S. Smith, Contract Theory, S. 24 f. S. Smith, Contract Theory, S. 26. 153 S. Smith, Contract Theory, S. 28 ff. 154 S. Smith, Contract Theory, S. 15. Die Auffassung, das Recht erhebe einen Anspruch auf moralische Verbindlichkeit („claim to authority“), geht auf den Philosophen Joseph Raz zurück (Raz, The Authority of Law, S. 28 ff.; ders., Ethics in the Public Domain, S. 194 ff.) und ist heute unter englischsprachigen Rechtspositivisten weit verbreitet (siehe etwa die Raz-Schüler Green, The Authority of the State, und Gardner, How Law Claims, What Law Claims). Der prominenteste Kritiker dieser These war Ronald Dworkin (Dworkin, Thirty Years On, S. 1665 ff.). Nach Raz’ Konzeption kommt dem Recht Autorität zu, weil es den Bürgern dabei hilft, vernünftig zu handeln. Es nimmt ihnen die Entscheidung moralischer Fragen ab, indem es präemptive Gründe liefert, also solche, die alle moralischen Erwägungen ersetzen. Den Individuen ist es dadurch verwehrt, ihre Entscheidungen auf die hinter den Rechtsnormen stehenden moralischen Erwägungen zu stützen, auch wenn diese gegen das rechtlich Gebotene sprechen. 155 S. Smith, Contract Theory, S. 18. 156 S. Smith, Contract Theory, S. 22. 151 152

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verpflichten wollte und von ihm bestmögliche Erklärungen einforderte,157 trennt Smith Verstehen und Rechtfertigung. Die Motive für eine menschliche Handlung könne man auch dann nachvollziehen, wenn man sie nicht für richtig halte.158 Beispielsweise sei es möglich zu begreifen, weshalb in der Frühen Neuzeit der Aderlass als wirksame Therapie angesehen wurde, obwohl die Säftelehre heute längst widerlegt sei.159 Ebenso könne man verstehen, weshalb Richter ihre Entscheidungen für moralisch richtig halten, ohne ihre Auffassung zu teilen. Eine Theorie erfülle das Kriterium der moralischen Begründbarkeit deshalb auch dann, wenn sie eine plausible, obschon nicht überzeugende Rechtfertigung für den Normenkomplex aufzeige.160 Mit dem Kriterium der Kohärenz („coherence“) ist noch einmal das Hauptziel einer interpretativen Theorie angesprochen: „revealing an intelligible order in the law“.161 Der Begriff der Kohärenz schließt den Begriff der Konsistenz mit ein. Es ist unverzichtbar, das Recht als konsistent darzustellen, weil es sonst nicht verständlich ist.162 Aber muss eine gelungene Interpretation das Recht auch notwendig als kohärent präsentieren? Kann der Rechtsgelehrte nicht ebenso zu dem Ergebnis gelangen, dass gar keine Begründungszusammenhänge bestehen? Steven Smith bringt hier erneut den Konsens der Rechtskundigen ins Spiel, der den Maßstab für die Vertretbarkeit einer Theorie bildet: Sofern die verschiedenen Teile eines traditionellen Rechtsgebiets tatsächlich ein Ganzes bilden, müssen zwischen ihnen Verbindungen existieren. Sonst bliebe dem Theoretiker nichts anderes übrig, als das Rechtsgebiet aufzuspalten – was jedoch dem Selbstverständnis des Rechts, zu dem unter anderem die traditionellen juristischen Kategorien gehörten, zuwiderliefe. Die Absicht des Interpreten, das Recht aus sich selbst heraus zu verstehen, spricht deshalb zunächst dafür, dass zwischen den Normen Wertungszusammenhänge bestehen.163 Allerdings könnten die Handlungen eines Menschen auch dann verstanden werden, wenn sie auf verschiedene Gründe zurückzuführen sind. Im Gegenteil erweise es sich gerade nicht als vernünftig, nur einem einzigen Handlungsprinzip zu folgen.164 Im Recht sei vollständige Kohärenz weder praktisch erreichbar noch theoretisch sinnvoll. Das Kohärenzkriterium verlan-

Dworkin, Law’s Empire, S. 14, 52 f. und 285. S. Smith, Contract Theory, S. 17 f. 159 S. Smith, Contract Theory, S. 14. 160 S. Smith, Contract Theory, S. 20 f. Zu der Frage, ob man von einer Theorie verlangen solle, dass sie das geltende Recht so gut wie möglich moralisch rechtfertigt, siehe auch dens., Taking Law Seriously, S. 252 ff. 161 S. Smith, Contract Theory, S. 11. 162 S. Smith, ebd. 163 S. Smith, Contract Theory, S. 12. Vgl. auch dens., Taking Law Seriously, S. 250. 164 S. Smith, Contract Theory, S. 12. 157 158

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ge deshalb von einer guten Theorie nur, dass sie die Kernbestandteile eines Rechtsgebiets durch ein einziges Prinzip erklärt.165 Steven Smith’ Konzeption der juristischen Theoriebildung als Interpretation des geltenden Rechts wurde begierig aufgenommen. Die Einleitung zu seiner im Jahr 2004 erschienenen Monographie „Contract Theory“, in der Smith seine Lehre am ausführlichsten dargestellt hat, ist inzwischen der in England und dem Commonwealth am weitesten verbreitete Methodentext geworden. Von den Befürwortern des „interpretivism“ als Manifest einer neuen, zeitgemäßen methodischen Strömung gefeiert166 und in Monographien pflichtschuldig als Referenz angeführt,167 dient sie den Kritikern des Wandels der Privatrechtswissenschaft als ideale Zielscheibe. Steve Hedley, ein gnadenloser Polemiker aus Neigung, verspottet den Ansatz nun schon seit Jahren als rückwärtsgewandt und kleingeistig:168 Die „interpretivists“ würden Ordnung und Kohärenz über alles stellen und deshalb Entscheidungen als systemwidrig verdammen, die eigentlich fortschrittlich seien.169 Das common law sei von vielen Richtern und mit völlig unterschiedlichen Absichten geschaffen worden, weshalb es höchst unwahrscheinlich sei, hinter seinen Doktrinen eine tiefere Bedeutung zu entdecken.170 Überdies könne es dem Verständnis des Rechts nur abträglich sein, sich ausschließlich auf die Binnenperspektive zu beschränken; erst eine Betrachtung der Begleitumstände, unter denen die Regeln zur Anwendung kommen, bringe wesentliche Erkenntnisse an den Tag.171 Es mag den Erfolg von Smith’ metajuristischer Theorie ein wenig geschmälert haben, dass sie als Rekonstruktion rechtswissenschaftlicher Forschung konzipiert war und – so wie in der analytischen Philosophie üblich – ein eigentlich schon bekanntes Phänomen lediglich genauer beschrieb. Viele Autoren, die der „Birksian school of thought“172 zuzurechnen sind, fragen sich deshalb, ob der interpretative Ansatz überhaupt etwas Neues hervorbringt. Beispielsweise behauptet der in Oxford lehrende Robert Stevens, eine rein deskriptive Rechtswissenschaft sei ohnehin unmöglich – weswegen Juristen S. Smith, Contract Theory, S. 13. Siehe nur Beever / Rickett, Interpretive Legal Theory and the Academic Lawyer, S. 321 ff.; Conte, From Only the ‘Bottom-up’?, S. 16 ff. 167 So bei Beever, Rediscovering the Law of Negligence, S. 21 ff.; Barnett, Accounting for Profit for Breach of Contract, S. 2 ff. Auch unter US-amerikanischen Autoren findet Smith zunehmend Anhänger; siehe beispielsweise Gold, A Moral Rights Theory of Private Law, S. 1882 ff. 168 Zu Hedleys Taxonomie-Kritik siehe bereits oben, S. 225 ff. 169 Hedley, The Shock of the Old: Interpretivism in Obligations, S. 213 f. 170 Hedley, Is Private Law Meaningless?, S. 113. 171 Hedley, Looking Outward or Looking Inward?, S. 210; ders., The Shock of the Old: Interpretivism in Obligations, S. 214 f. 172 Burrows / Lord Rodger or Earlsferry, Peter Birks, S. 73. 165 166

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das Recht schon immer interpretiert hätten.173 Andrew Robertson, Professor an der Universität Melbourne und Veranstalter der zweijährlichen „Obligations Conference“, hält Smith’ Methode sogar für einen „orthodox and widely followed approach to legal analysis“. 174 Seiner Ansicht nach divergieren die Rechtswissenschaftler in ihren Methoden hauptsächlich deshalb, weil sie die vier Kriterien unterschiedlich gewichten und das Kriterium der moralischen Begründbarkeit auf andere Weise ausfüllen. Vertreter zeitgenössischer Strömungen wie beispielsweise der „rights-based analysis“, die nach besseren Begründungen für etablierte Doktrinen suchen, würden der Kohärenz größere Bedeutung beimessen und dafür die Transparenz vernachlässigen. 175 Tatsächlich ist in jüngster Zeit ein Streit darüber entbrannt, ob eines der Smith’schen Kriterien gegenüber den anderen Vorrang genießen sollte. Allan Beever, ebenfalls ein leidenschaftlicher Polemiker und nicht ganz zufällig der Lieblingsgegner Steve Hedleys, sieht es als wichtigste Aufgabe einer juristischen Theorie an, das Recht so darzustellen, dass es möglichst kohärent erscheint. Als hätte er Max Weber gelesen, attestiert der neuseeländische Gelehrte dem common law eine begrenzte Rationalität („limited rationality“): Bei der Lösung einzelner Rechtsprobleme, meint Beever, entwickeln Richter nicht selten höchst rationale und differenzierte Begründungen. Doch die Erklärungen verschiedener Rechtsbereiche widersprechen einander, weshalb nicht nur das Recht in seiner Gesamtheit irrational ist, sondern auch seine Bestandteile.176 Deshalb muss der Rechtswissenschaftler nach Beevers Auffassung bei der Theoriebildung mit nachträglichen Rationalitätsunterstellungen arbeiten („ex post facto rationalisation“),177 um das Recht dennoch als Einheit darstellen zu können – selbst wenn diese Einheit letztlich nicht gefunden werden sollte: „[T]he discovery of unity is clearly desirable and, if we want to explain the law as best as we can, it is something that we must search for, even if we do not find it. Importantly, it must not be assumed that it does not exist.“178 Damit geht Allan Beever über Steven Smith hinaus, der vollkommene Kohärenz im Recht für wenig erstrebenswert, wenn nicht gar für unmöglich erachtet. Statt sich mit einer Mehrzahl rechtfertigender Prinzipien zufriedenzugeben, muss der akademische Jurist Beever zufolge nach einem noch abstrakteren Prinzip suchen, um zu einem vertieften Verständnis des Rechts zu gelangen.179 Dabei werden notwendig Fälle zu Tage treten, deren Ergebnisse oder Begründungen sich mit einem solchen Globalprinzip nicht vereinbaren Stevens, The Conflict of Rights, S. 141. Vgl. auch Conte, From Only the ‘Bottomup’?, S. 17, der behauptet, „interpretive legal analysis“ sei „far from […] novel“. 174 Robertson, Rights, Pluralism, and the Duty of Care, S. 438. 175 Robertson, Rights, Pluralism, and the Duty of Care, S. 437 ff. 176 Beever, Rediscovering the Law of Negligence, S. 22 f. 177 Beever / Rickett, Interpretive Legal Theory and the Academic Lawyer, S. 324. 178 Beever, Rediscovering the Law of Negligence, S. 24. 179 Beever, Rediscovering the Law of Negligence, S. 23 f. 173

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lassen. Obwohl Beever betont, dass keines der vier Gebote juristischer Theoriebildung Priorität beanspruchen könne, will er Konflikte zwischen „fit“ und „transparency“ einerseits sowie „coherence“ andererseits tendenziell zugunsten der Letzteren auflösen. Richter hätten oft nicht ausreichend Zeit, sich gute Begründungen auszudenken und griffen in ihrer Not oft zu simplen politischen Erwägungen. Es sei daher Aufgabe der Rechtswissenschaft, theoretisch überzeugende Erklärungen anzubieten: „The interpretive legal theorist does not try to interpret the judges’ actual intentions but to determine what their intentions should have been.“180 Um seine Präferenz philosophisch zu untermauern, bemüht Allan Beever das von John Rawls eingeführte Modell eines reflexiblen Gleichgewichts moralischer Überzeugungen („reflective equilibrium“).181 So wie beim Aufbau einer ethischen Theorie moralische Intuition und ethische Prinzipien zu einem Ausgleich gebracht werden müssen, indem einzelne intuitive Auffassungen verworfen werden, so darf auch der Rechtswissenschaftler einige Fallentscheidungen zurückweisen, um einen Zugewinn an Kohärenz zu erzielen.182 Charlie Webb nimmt die Gegenposition ein: Er sympathisiert zwar mit interpretativer Theoriebildung, hält deren Möglichkeiten aber angesichts des grundsätzlichen Erfordernisses der Übereinstimmung mit dem Fallrecht für begrenzt. Sowohl die Ergebnisse als auch die Begründungen der Fälle seien als gegeben hinzunehmen. Diese dürften nicht durch eine Theorie korrumpiert werden, auch wenn diese noch so kohärent oder moralisch überzeugend sei: „[I]f the theory which is considered soundest or most just does not fit the cases, it is the theory that must go and not the cases.“183 Die gegenwärtige Praxis, aus dem Fallmaterial diejenigen Fälle herauszugreifen, die zu der eigenen Theorie am besten passen, führe letztlich dazu, dass die Theorien verschiedener Autoren unterschiedliche Gegenstandsbereiche aufweisen.184 Roderick Bagshaw hält übertriebenes Streben nach Kohärenz sogar für unangebracht und stellt stattdessen die moralische Dimension der Theoriebildung heraus. Der Professor aus Oxford geht davon aus, dass das Recht die Aufgabe habe, die Welt zu verbessern; dazu müsse es offen bleiben für neue Anschauungen.185 Interpretative Theorien dürften das Recht deshalb nicht als vollkommen darstellen: „[A]n account of the law which presents it as static, complete and coherent is likely to be misleading and may restrict progress towards better solutions.“186 Beever / Rickett, Interpretive Legal Theory and the Academic Lawyer, S. 324. Siehe dazu Rawls, A Theory of Justice, S. 18 f. und 42 ff. 182 Beever, Rediscovering the Law of Negligence, S. 25 ff.; Beever / Rickett, Interpretive Legal Theory and the Academic Lawyer, S. 324 f. 183 Webb, Unjust Enrichment and Defective Transfers, S. 340. 184 Webb, Unjust Enrichment and Defective Transfers, S. 339 f. 185 Bagshaw, Tort Law, Concepts, and What Really Matters, S. 250 f. 186 Bagshaw, Tort Law, Concepts, and What Really Matters, S. 251. 180 181

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Dass Kohärenz nicht das Maß aller Dinge sein könne, betont auch Robert Stevens. Ein gewisser Grad an Kohärenz sei lediglich eine Mindestanforderung, die an jede Rechtsordnung gestellt werden müsse.187 Im Gegensatz zu Bagshaw sieht Stevens es aber nicht als Aufgabe des Rechts an, moralische Ziele, die eigentlich nicht miteinander vereinbar sind, zu einem Ausgleich zu bringen. Insbesondere die gleichzeitige Anwendung kategorial verschiedener moralischer Rechtfertigungen führe notwendig zu innerrechtlichen Widersprüchen. Vielmehr gehe es im Recht ausschließlich darum, moralische Rechte („moral rights“) zu konkretisieren und diesen zur Durchsetzung zu verhelfen. 188 Deshalb sei die Zahl der möglichen Gründe, die bei der Streitentscheidung eine Rolle spielen können, begrenzt: „Private law is simply about the rights we have one against another.“189 Stevens plädiert damit zwar – anders als Beever – nicht für einen Prinzipienmonismus, wohl aber für eine konsistente moralische Rechtfertigung rechtlicher Regeln auf der Grundlage einer streng deontologischen Ethik. Die doppeldeutige Formulierung – mit „rights“ können sowohl moralische als auch juridische Rechte gemeint sein – verweist allerdings auch auf Smith’ Kriterium der Transparenz: Wenn eine interpretative Theorie moralisch ansprechende Begründungen liefern soll, die auch die juristischen Akteure verwenden könnten, liegt es dann nicht nahe, sich einer Moralphilosophie zu bedienen, die ihren Ausgangspunkt bei den Rechten und Pflichten des Einzelnen nimmt? c) Rights-based analysis Es ist nicht ganz leicht zu sagen, ob es sich bei der „rights-based analysis of private law“190 nur um einen Seitenarm des „interpretivism“ oder um eine eigenständige methodische Strömung handelt. Einerseits ziehen die „rights theorists“191 eine radikale Konsequenz aus der bisherigen Methodendebatte: Peter Birks hatte eine Taxonomie der gerichtlich einklagbaren Rechte („rights which, one against another, people are able to realize in court“) vorgeschlagen;192 andere Autoren haben sich ebenfalls für eine Klassifikation von Klagerechten („claims“) ausgesprochen.193 Ferner war die Diskussion zu dem Ergebnis gelangt, dass die Einteilung nicht von tatsächlichen „causative events“ ausgehen dürfe, sondern an rechtfertigende Prinzipien anknüpfen müsse, die entweder moralisch sind oder moralische Wertungen in Recht Stevens, The Conflicts of Rights, S. 141. Stevens, The Conflicts of Rights, S. 140 ff. 189 Stevens, The Conflicts of Rights, S. 141. 190 Nolan / Robertson, Rights and Private Law, S. 10. 191 Nolan / Robertson, Rights and Private Law, S. 5. 192 Birks, Introduction, S. xxxvi. 193 McKendrick, Taxonomy: does it matter?, S. 653; Jaffey, Private Law and Property Claims, S. 2. 187 188

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nachvollziehen.194 Solche Prinzipien können durch interpretative Theoriebildung gewonnen werden. Allerdings muss die Interpretation beim Selbstverständnis des Rechts ansetzen, also dessen innere Struktur sowie die Anschauungen der Juristen ernst nehmen; rechtspolitische Erklärungen sind möglichst zu vermeiden.195 Gleichzeitig soll die juristische Theorie auch in moralischer Hinsicht überzeugen. All dies kann eine Interpretation leisten, die das Privatrecht als ein System subjektiver Rechte beschreibt, deren Existenz auf moralischen Prinzipien – wie der ausgleichenden Gerechtigkeit oder der Bindung an ein gegebenes Versprechen – beruht. Andererseits verheißt die Beschränkung des juristischen Blickfeldes auf die Struktur rechtlicher Beziehungen auch einen Zugewinn an Rationalität, der nicht allein durch interpretative Prinzipienbildung erreicht werden kann: Eine formale Betrachtungsweise versetzt den Universitätsjuristen in die Lage, nach strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu suchen, die zwischen den Rechtsbereichen bestehen. Womöglich lässt sich sogar eine universelle Struktur ausfindig machen, die sämtliche Rechtsgebiete durchzieht und das Privatrecht eint. Manches Rechtsinstitut, das bisher als merkwürdig galt, mutet vertraut an, wenn man in ihm die bekannte Figur des subjektiven Rechts entdeckt. Schließlich können problematische Rechtsbegriffe auf den obersten Begriff des „right“ zurückgeführt und als dessen Arten oder Unterarten definiert werden. In der Moralphilosophie haben „rights-based ethics“ seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts Konjunktur; sie bieten eine Alternative zu dem auch im anglo-amerikanischen Raum unter Druck geratenen Utilitarismus. „Rightsbased moral theories“ bilden eine Spielart deontologischer Morallehren, das heißt, sie beurteilen Handlungen – im Gegensatz zu konsequentialistischen ethischen Theorien – nicht in erster Linie nach ihren Folgen, sondern nach ihrem intrinsischen Wert. Ihre Befürworter gehen davon aus, dass Individuen Rechte zustehen, denen jeweils Pflichten anderer Individuen entsprechen.196 Seitdem die Lehre vom subjektiven Recht im frühen 19. Jahrhundert ihren Siegeszug vollendet hat, sieht der kontinentaleuropäische Jurist Rechte, wohin er blickt; es fällt ihm schwer, sich rechtliche Zustände anders zu denken als ein Netz von Anspruchsbeziehungen. Es mag eine Spätfolge des Aktionendenkens sein, dass solche Vorstellungen in England nur wenig verbreitet sind; in Nordamerika, dem Reich des Rechtsrealismus, sind sie seit langem Webb, Treating Like Cases Alike, S. 234; S. Smith, Justifying the Law of Unjust Enrichment, S. 2179. 195 S. Smith, Contract Theory, S. 28; Beever / Rickett, Interpretive Legal Theory and the Academic Lawyer, S. 335 ff.; Beever, Rediscovering the Law of Negligence, S. 28. 196 Mackie, Can There Be a Right-Based Moral Theory?, hat diese Bezeichnung populär gemacht. Seiner Ansicht nach kommt allerdings keine Moralphilosophie ohne die Vorstellung subjektiver Rechte aus. Als „rights-based moral theorists“ gelten heute Robert Nozick, John Rawls, Ronald Dworkin und Jeremy Waldron. 194

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diskreditiert. Die US-amerikanische Jurisprudenz unterscheidet sich bekanntlich von der europäischen dadurch, dass die anwendungsbezogene Bearbeitung des geltenden Rechts geringgeschätzt wird und stattdessen die fremddisziplinäre Erforschung des Rechts dominiert.197 Die ausgeprägte Skepsis gegenüber begrifflichen Analysen des geltenden Rechts ist zum Teil auf die Rezeption des Zweckdenkens Jherings und der Forderungen der Freirechtsschule zurückzuführen.198 Erst seit dem Beginn der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts propagiert eine kleine Gruppe nordamerikanischer Gelehrter unter dem provokant gewählten Banner des „legal formalism“ eine deontologische Theorie des Privatrechts.199 Einer der Wortführer dieser Gegenbewegung ist Ernest Weinrib, der an der Universität Toronto lehrt. Der promovierte Altphilologe, der sich erst spät der Rechtswissenschaft zuwandte, ist zuerst mit einigen Aufsätzen ans Licht der Öffentlichkeit getreten, welche die Grundlagen des Deliktsrechts sowie die Methode des „legal formalism“ behandeln.200 Im Jahre 1995 hat er in dem Buch „The Idea of Private Law“ seine Ideen zu einer umfassenden Privatrechtskonzeption fortentwickelt.201 Seiner Ansicht nach kann Recht ausschließlich aus sich selbst heraus verstanden werden, das heißt, eine Theorie des Privatrechts muss die Grundbegriffe, Prinzipien und Denkfiguren, welche die Juristen verwenden, ernst nehmen und als solche zu erklären versuchen. Ausgangspunkt der Analyse ist deshalb die innere Struktur rechtlicher Beziehungen.202 Die Außenperspektive kann Weinrib zufolge nur eine Erklärung des Rechts liefern, die wiederum parasitär zu anderen erklärungsbedürftigen Beobachtungen ist und deshalb in einen infiniten epistemischen Regress mündet.203 Stattdessen müsse man anerkennen, dass das Recht seinem Selbstverständnis nach autonom ist und sich selbst Erklärung genug; deshalb solle gerade dieses Selbstverständnis des Rechts näher untersucht werden.204 Das Privatrecht ist für Weinrib daher ein ausschließlich juristisches Phänomen und kein politisches.205 Es hat keine weiteren Zwecke als eben Privatrecht zu sein – der Wert des Rechts ist also, um es aristotelisch zu sagen, ein intrinsischer, vergleichbar der Freundschaft 197 Vgl. Dedek, Recht an der Universität: „Wissenschaftlichkeit“ der Juristenausbildung in Nordamerika. 198 Reimann, Historische Schule und Common Law, S. 256 ff. und 264 f. (mit weiteren Nachweisen). 199 Siehe dazu Hosemann, „The New Private Law“: Die neue amerikanische Privatrechtswissenschaft in historischer und vergleichender Perspektive, S. 50 ff. 200 Siehe beispielsweise Weinrib, The Jurisprudence of Legal Formalism. 201 Weinrib, The Idea of Private Law. 202 Weinrib, The Idea of Private Law, S. 2, 9 ff. und 24 f. 203 Weinrib, The Idea of Private Law, S. 6 f. und 17 f. 204 Weinrib, The Idea of Private Law, S. 2 und 206 ff. 205 Weinrib, The Idea of Private Law, S. 8.

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oder der Liebe.206 Zu einer gewissen Berühmtheit gelangt ist Weinribs Behauptung: „[L]ove does not shine in our lives with the borrowed light of an extrinsic end. Love is its own end. My contention is that, in this respect, private law is just like love.“207 Doch wodurch zeichnet sich das Privatrecht aus? Nach Weinrib ist das Privatrecht ein „justificatory enterprise“,208 das heißt, es begründet Entscheidungen. Es stellt normative Zusammenhänge zwischen menschlichen Konflikten und ihrer Lösung her und gibt Gründe dafür an, weshalb bestimmte Ergebnisse richtig sind.209 Ein damit verbundenes, für Weinrib zentrales Charakteristikum des Privatrechts ist dessen Streben nach Kohärenz („striving for coherence“).210 Das Privatrecht erhebt selbst den Anspruch, Widersprüche zwischen einzelnen Entscheidungen zu vermeiden und Regeln miteinander zu verbinden. Das Privatrecht ist also eine Ordnung derjenigen Elemente, aus denen es selbst zusammengesetzt ist. Dies impliziert nicht, dass das Privatrecht notwendig kohärent ist, sondern nur, dass es seinem Selbstverständnis nach die Absicht hegt, kohärent zu sein. Einzelne Entscheidungen können durchaus fehlerhaft sein, ohne dass dadurch der Anspruch auf Kohärenz in Frage gestellt würde.211 Nach Weinrib muss derjenige, der das Recht gedanklich erfassen will, versuchen, dieses aus sich selbst heraus zu verstehen und dabei von dessen Trieb nach einheitlichen Erklärungen ausgehen. Er ist jedoch nicht gezwungen, jede Bestimmung des geltenden Rechts zu akzeptieren, sondern kann einzelne Fallnormen im Sinne des Kohärenzpostulats reinterpretieren oder sogar zurückweisen. Damit ist Kohärenz für Weinrib sowohl ein erkenntnisleitendes Prinzip als auch ein Maßstab, an dem die Begründungsleistung einer rechtlichen Entscheidung gemessen werden kann. Dazu muss der Erkennende freilich begriffen haben, auf welche Weise das Recht selbst Kohärenz herstellt. Dies führt Weinrib zu einer Strukturanalyse des Privatrechts, zur Beschreibung seiner spezifischen Gestalt („form“).212 Dieser Ausdruck wird im englischen philosophischen Sprachgebrauch insbesondere zur Übersetzung von Platons εἶδος beziehungsweise ἰδέα verwendet; daher rührt wahrscheinlich der Buchtitel „The Idea of Private Law“. Die Gestalt eines Gegenstandes ist artbildend und verbindet seine charakteristischen Eigenschaften zu einer Einheit.213 Die spezifische Form des Privatrechts ist – und hierin liegt Weinribs zentrale These – die bipolare Anspruchsbeziehung zwischen Kläger und 206 207 208 209 210 211 212 213

Weinrib, The Idea of Private Law, S. 5 f. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 6. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 12. Weinrib, ebd. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 13. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 12 ff. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 25. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 27 f.

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Beklagtem („the direct linking of plaintiff and defendant“).214 Jede dieser zweiseitigen Beziehungen bildet eine Einheit, insofern als der eine etwas schuldet, auf das der andere einen Anspruch hat.215 Da Recht nun aber ein „justificatory enterprise“ ist, muss auch die Rechtfertigung dieser Korrelation von subjektivem Recht und Pflicht einheitlich sein, damit dem Kohärenzgebot Rechnung getragen wird. Die Begründung, derzufolge der eine Teil etwas schuldet, muss dieselbe sein wie diejenige, die den korrespondierenden Anspruch des anderen Teils legitimiert. Das Privatrecht ist nach Ansicht Weinribs nur verständlich, wenn die rechtlichen Bindungen zwischen Kläger und Beklagtem als Einheit begriffen werden: „Coherence is the interlocking into a single, integrated justification of all the justificatory considerations that pertain to a legal relationship.“216 Damit bezieht sich Kohärenz im Recht bei Weinrib nicht in erster Linie auf die Einheit der Rechtsordnung, sondern auf die Einheit des Rechtsverhältnisses. Entscheidend ist, dass ein Anspruch und die ihm korrespondierende Verpflichtung durch dieselben Erwägungen gerechtfertigt werden müssen: „To understand the relationship between the parties, we need a set of considerations that embraces plaintiff and defendant in a single movement of thought.“217 Die Erklärung einer rechtlichen Beziehung mit unterschiedlichen, möglicherweise sogar gegenläufigen Gründen führt dagegen notwendig zu Inkohärenz.218 Die einzig plausible Erklärung für privatrechtliche Rechtsverhältnisse, die dieses Kohärenzkriterium erfüllt, sieht der kanadische Gelehrte in dem Gebot, zwischen den Parteien ausgleichende Gerechtigkeit herzustellen.219 Ernest Weinrib verdeutlicht seine Strukturtheorie des Privatrechts am Beispiel der Schadensersatzpflicht für fehlerhafte Produkte:220 Die in den USA verbreitete ökonomische Analyse des Rechts begründet die Haftung des Schädigers damit, dass er, durch drohende Schadensersatzzahlungen abgeschreckt, Vorkehrungen treffen solle, damit sich keine Unfälle mit seinen Produkten ereignen. Außerdem könne er das Risiko eines Schadens versichern, so dass dieses auf die Allgemeinheit verteilt werden könne, und nicht ein einzelner Geschädigter den Schaden allein tragen müsse. Der Grund des Anspruchs des Geschädigten liegt für die ökonomische Analyse dagegen allein darin, dass dieser Kompensation für den von ihm erlittenen Schaden erhalten soll. Weinrib lehnt die Erklärung der ökonomischen Analyse ab, weil beide Begründungserwägungen nichts miteinander zu tun haben oder, anders gesagt, nicht für beide Seiten gleichermaßen gelten. Die verschiedenen 214 215 216 217 218 219 220

Weinrib, The Idea of Private Law, S. 28. Rödl, Normativität und Kritik des Zivilrechts, S. 168. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 32. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 43. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 35 f. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 75. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 36 ff. und 39 ff.

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zweckorientierten Begründungen für die Haftung des Schädigers und den Anspruch des Geschädigten können nicht miteinander in Einklang gebracht werden und stören deshalb den inneren Zusammenhang des Privatrechts:221 „In this mixing of justifications, no single one of them occupies the entire area to which it applies. Thus none of them in fact functions as a justification. The consequence of incoherence is that private law ceases to be a justificatory enterprise.“222

Der Zweck des Rechts, Ansprüche zu begründen, verlangt also nach einem Prinzipienmonismus. Als Alternative zu den rechtsrealistischen Theorien bietet der kanadische Privatrechtstheoretiker deshalb an, die Haftung für fehlerhafte Produkte ausschließlich mit der Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit zu erklären. Die „corrective justice“ – verstanden als Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes der Parteien – setzt den Verlust des Klägers und den Gewinn des Beklagten in unmittelbare Beziehung zueinander. Der Gewinn des einen ist die Kehrseite des Verlusts des anderen.223 Weinrib geht nun so weit zu behaupten, dass die ausgleichende Gerechtigkeit die spezifische Form des Privatrechts überhaupt ist – also ein Begründungsmuster existiert, das in jeder Privatrechtsbeziehung latent vorhanden ist.224 Nur sie reflektiert seiner Ansicht nach die Bipolarität des Rechtsverhältnisses, indem sie die Verpflichtung der einen Partei mit dem Anspruch der anderen Partei normativ verknüpft und damit die Beziehung erst zu einer Einheit verbindet. Die ausgleichende Gerechtigkeit erzeugt damit die „unifying structure that renders private law relationships immanently intelligble“.225 Die aristotelische Konzeption der ausgleichenden Gerechtigkeit allein hält Weinrib jedoch nicht für ausreichend, um die anfängliche ideelle Gleichheit der Parteien und die Möglichkeit ihrer Verletzung abzubilden. Sie muss deshalb um die kantianische Vorstellung des subjektiven Rechts ergänzt werden.226 Immanuel Kants berühmte Definition des Rechts – „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“227 – bringt nach Ansicht Weinribs zum Ausdruck, dass die Handlung des einen mit der Willensfreiheit des anderen vereinbar sein muss, und zweckgeleitetes Handeln deshalb Beschränkungen unterworfen ist.228 Durch die Handlung des einen dürfen die Rechte des anderen nicht verletzt werden: Kants allgemeines Rechtsprinzip, so Weinrib, 221 222 223 224 225 226 227 228

Weinrib, The Idea of Private Law, S. 37 f. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 42. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 63 ff. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 19. Weinrib, ebd. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 78 ff. Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 230. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 98.

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„is satisfied when the action of one party does not violate a duty, when the freedom of the other manifests itself in a right, and when the reason inherent in free and purposive agency grounds both the right and the duty and connects the one to the other“.229

Die ausgleichende Gerechtigkeit korrigiert deshalb nicht tatsächliche, sondern normative Gewinne und Verluste.230 Ein normativer Verlust liegt vor, wenn der Besitzstand einer Person kleiner ist als er sein sollte; dies ist der Fall, wenn es eine Rechtfertigung dafür gibt, dass dieser Bestand wieder vergrößert wird.231 Eine solche „justification“ liefern die Haftungsnormen des Privatrechts: Sie alle knüpfen an eine irgendwie geartete Rechtsbeeinträchtigung an: „The various branches of civil liability work out the circumstances under which the defendant can be said to have done something that is inconsistent with a right of the plaintiff.“232 Die spezifische, einheitsstiftende Form des Privatrechts ist daher die ausgleichende Gerechtigkeit, die sich in dem Recht des Klägers und der korrespondierenden Pflicht des Beklagten zeigt.233 In ihrer Einseitigkeit und Radikalität wenig überzeugend, aber dennoch richtungweisend – so ließe sich der Einfluss Ernest Weinribs auf die Rechtswissenschaft in England und dem Commonwealth beschreiben. Trotz der Beteuerungen, das Privatrecht aus sich selbst heraus verstehen zu wollen, bietet Weinrib in erster Linie eine abstrakte moralphilosophische Deutung rechtlicher Elementarstrukturen und blendet konkrete juristische Fragestellungen weitgehend aus. Suspekt erscheint vor allem, dass der Rechtsphilosoph sämtliche privatrechtliche Ansprüche auf ein einziges rechtfertigendes Prinzip zurückführt. In seiner Rezension zu Weinribs „Idea of Private Law“ bemerkte Steven Smith, Weinrib habe große Schwierigkeiten, mit seiner Analyse bipolarer Rechtsbeziehungen präzise herauszuarbeiten, welche Rechte und Pflichten den Individuen nun eigentlich zustehen. Deswegen könne er sein Versprechen, zu einem besseren Verständnis des Rechts beizutragen, gerade nicht einlösen.234 Mit seiner Konzentration auf strukturelle Eigenheiten des Rechts und seiner vehementen Zurückweisung externer Erklärungen liefert Weinrib allerdings ein methodologisches Programm, das vorzüglich dazu geeignet ist, die Abkehr von der akademischen Vorgängergeneration wirkungsvoll zu inszenieren. Ebenso wie Weinrib seinen „legal formalism“ – einen Ausdruck, der in den USA ganz überwiegend abwertend gebraucht wird – nachdrücklich in Opposition zu dem vorherrschenden „legal realism“ setzt, bietet der „rights229 230 231 232 233 234

Weinrib, The Idea of Private Law, S. 122. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 119. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 115. Weinrib, Corrective Justice in a Nutshell, S. 353. Weinrib, The Idea of Private Law, S. 142. S. Smith, The Idea of Private Law. By E. J. Weinrib, S. 367 f.

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based approach“ Gelegenheit, sich von der akademischen Rechtslehre der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abzugrenzen, welche die wirtschafts- und sozialpolitische Dimension des Rechts hervorgehoben hatte. „Rights theorists […] frequently define rights analysis by reference to what it is not“,235 konstatieren Donal Nolan und Andrew Robertson deshalb in ihrer Einleitung zu dem Band „Rights and Private Law“, in dem die Vorträge der gleichnamigen „Obligations Conference“ des Jahres 2010 veröffentlicht worden sind. Allgemein abgelehnt werde ein instrumentalistisches Verständnis des Privatrechts als eines bloßen Steuerungsmittels, das dem Allgemeinwohl zu dienen bestimmt sei. Die Vertreter der neuen Strömung enthielten sich deshalb bewusst jeglicher rechtspolitischer Forderung, beschränkten sich aber gleichwohl nicht auf eine bloße Darstellung des geltenden Rechts.236 Doch wie ließe sich die Methode der „rights theorists“ kennzeichnen? „Rights-based theorists explain private law in terms of rights that individuals hold against other individuals“, formuliert Steven Smith lakonisch.237 Nolan und Robertson fassen das Charakteristische des „rights-based approach“ folgendermaßen zusammen: Er ist interpretativ, strebt also die bestmögliche Erklärung einer privatrechtlichen Doktrin beziehungsweise des Privatrechts insgesamt an. Er ist strukturalistisch, weil er das dem Recht eigene begriffliche Gefüge erforscht. Zudem kann der Ansatz als formalistisch bezeichnet werden, weil er das Privatrecht mithilfe von „principles“ statt „policy“ erklärt. Die „rights-based analysis“ ist schließlich monistisch, weil sie davon ausgeht, dass die Idee des subjektiven Rechts nicht nur einzelnen Rechtsgebieten, sondern dem gesamten Privatrecht zugrunde liegt.238 Die „rights theorists“ legen den Schwerpunkt bislang auf die Ausarbeitung von Grundbegriffstheorien. Bei ihren Begriffsklärungen greifen sie auf die logischen Schemata der deontischen Relationen zurück, die der amerikanische Jurist Wesley Newcomb Hohfeld zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckt hat.239 Der Elementarbegriff des „right“ wird demzufolge als „claim-right“ verstanden, dem grundsätzlich eine „duty“ gegenübersteht; jedem Recht entspricht also eine Pflicht, und umgekehrt korrespondiert jeder Pflicht ein Recht.240 „Right“ und „duty“, so bringt es Nicolas McBride auf den Punkt, „are the same thing, just viewed through different ends of the telescope.“241 Abstrakte Pflichten, die dem Einzelnen allein aus Gründen des AllgemeinNolan / Robertson, Rights and Private Law, S. 3. Nolan / Robertson, Rights and Private Law, S. 1 ff., 6 f. und 21 ff. 237 S. Smith, Duties, Liabilities, and Damages, S. 1729. 238 Nolan / Robertson, Rights and Private Law, S. 4 ff. 239 Hohfeld, Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, S. 23 ff. Eine formal-logische Rekonstruktion der Hohfeld’schen Schemata findet sich bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 187 ff. und 218 f. 240 Stevens, Torts and Rights, S. 4 f. 241 McBride, Rights and the Basis of Tort Law, S. 342. 235 236

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wohls auferlegt werden, kann es damit nicht geben.242 Auf die Verletzung von „primary claim-rights“ antwortet das Recht mit „secondary claim-rights“.243 Umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob im Augenblick der Rechtsverletzung ein neues Recht entsteht oder sich das ursprüngliche Recht in anderer Gestalt fortsetzt.244 Von großer Bedeutung ist auch der Begriff der „liability“: In Anlehnung an Hohfeld wird darunter verstanden, dass jemand der Möglichkeit einer Klageerhebung ausgesetzt ist; die konverse Relation dazu ist die Kompetenz („power“), Klage zu erheben. Rechtsverletzungen („wrongs“) führen zur Haftung („liability“); aber nicht jede Haftung beruht auf einer Rechtsverletzung, wie das Bereicherungsrecht zeigt.245 Uneinigkeit besteht darüber, ob dem Verletzten vor Klageerhebung bereits ein Sekundärrecht auf Schadensersatz zusteht246 oder ob der Anspruch erst mit der Entscheidung des Gerichts geschaffen wird.247 Inzwischen hat sich eine rege Diskussion über das Verhältnis von „rights“ und „remedies“ entsponnen.248 Beispielsweise hat Steven Smith – in Auseinandersetzung mit Peter Birks’ Forderung, den Ausdruck „remedy“ gänzlich abzuschaffen und nur noch von „rights“ zu sprechen249 – eine „rights-based theory of remedies“250 entworfen. Der Kanadier differenziert zwischen Rechten, die dem Einzelnen durch Rechtsnormen vermittelt werden („rule-based rights“) sowie Rechten, die auf einer gerichtlichen Entscheidung beruhen und dem Klagegegner auferlegen, etwas zu tun oder zu unterlassen („court-ordered rights“). Wie Smith durch eine Untersuchung des geltenden Rechts belegt, besteht zwischen den beiden Arten weder notwendig eine inhaltliche Übereinstimmung, noch lässt sich aus der Existenz eines „court-ordered right“ schließen, dass ein „rule-based right“ besteht.251 Anders als die nordamerikanischen Vertreter deontologischer Privatrechtstheorien widmen sich die englischen „rights theorists“ auch der detailgetreuen Rekonstruktion einzelner Rechtsbereiche. Die Domäne der „rights-based analysis“ ist das Deliktsrecht: Ein „wrong“, so die These von Robert Stevens sowie Nicolas McBride und Roderick Bagshaw, begeht derjenige, dessen Hand-

Nolan / Robertson, Rights and Private Law, S. 13 f. Nolan / Robertson, Rights and Private Law, S. 13. 244 Zu dieser bisher vor allem im US-amerikanischen Schrifttum ausgetragenen Kontroverse siehe S. Smith, Duties, Liabilities, and Damages, S. 1730. 245 Nolan / Robertson, Rights and Private Law, S. 15 f. 246 Stevens, Rights and Other Things, S. 133 ff. Vgl. auch dens., Torts and Rights, S. 2. 247 Murphy, Rights, Reductionism and Tort Law, S. 397. 248 Einen Überblick bietet Dedek, From Norms to Facts, S. 83 ff. 249 S. Smith, Rights, Remedies, and Causes of Action, S. 405. Zu Birks’ These, dass auch die Anordnung, die ein Gericht als Sanktion für eine Rechtsverletzung erlässt, als „right“ einzustufen ist, siehe oben, S. 208. 250 Dedek, The Relationship between Rights and Remedies in Private Law, S. 69. 251 S. Smith, Rule-Based Rights and Court-Ordered Rights, S. 221. 242 243

2. Ein neues Verständnis des Deliktsrechts

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lung das Primärrecht eines anderen verletzt;252 deshalb dient das „tort law“ ausschließlich der Verteidigung („vindication“) subjektiver Rechte.253 Die Regeln über das Fahrlässigkeitsdelikt (negligence) etwa sollen nach Auffassung Allan Beevers sanktionieren, dass der Beklagte ein Primärrecht des Klägers in unvernünftiger Weise gefährdet hat.254 Donal Nolan argumentiert, eine Gebrauchsbeeinträchtigung (nuisance) setze stets voraus, dass dem Kläger das Eigentum oder eine eigentumsähnliche Position an dem Grundstück zustehe und die Handlung des Beklagten dieses Recht beeinträchtige.255 Jason Neyers hat sich mit verschiedenen Theorien auseinandergesetzt, die das Delikt unlawful interference with economic relations als Rechtsverletzung beschreiben.256 Eine „rights-based theory“ des Vertragsrechts hat Steven Smith entworfen.257 Ein vertragsrechtliches Sonderproblem, das von Robert Stevens behandelt worden ist, bildet das Verhältnis des „primary right to performance“ zu dem „secondary right to damages“.258 Dass die „rights-based analysis“ durchaus etwas Verspieltes an sich hat, zeigt Ben McFarlanes Konzeption des trust als eines „duty-burdened right“.259 Schließlich fasst der bereits erwähnte Jason Neyers vier völlig unterschiedliche Doktrinen – misfeasance in public office, lawful means conspiracy, lawful act duress und marshalling of securities – als Manifestationen eines allgemeinen Grundsatzes des Rechtsmissbrauchs („abuse of rights“) auf, der dem Inhaber eines Rechts die Pflicht auferlegt, andere nicht gezielt und grundlos zu schädigen.260

2. Ein neues Verständnis des Deliktsrechts 2. Ein neues Verständnis des Deliktsrechts

Als geeigneter Gegenstand, um die neuen methodischen Ansätze zu erproben und zu verfeinern, hat sich das Deliktsrecht erwiesen. Dieses altehrwürdige Gebiet des common law ist nicht nur weitgehend frei von gesetzgeberischer Intervention oder unionsrechtlicher Einflussnahme geblieben. Das englische Deliktsrecht ist auch – und hierin besteht die wesentliche Herausforderung für die neuere englische Privatrechtswissenschaft – heterogen und fragmentarisch. Es wird von vielen nicht „tort law“, sondern „law of torts“ genannt, Stevens, Torts and Rights, S. 2 f.; McBride / Bagshaw, Tort Law, S. xvi. Eine Theorie der „vindication“ entwickelt Varuhas, The Concept of ‘Vindication’ in the Law of Torts, S. 254. 254 Beever, Rediscovering the Law of Negligence, S. 512. 255 Nolan, ‘A Tort Against Land’: Private Nuisance as a Property Tort, S. 473 ff. 256 Neyers, Rights-based justifications for the tort of unlawful interference with economic relations. 257 S. Smith, Contract Theory. 258 Stevens, Damages and the Right to Performance, S. 172. 259 McFarlane, The Centrality of Constructive and Resulting Trusts, S. 184. 260 Neyers, Explaining the Inexplicable?, S. 309. 252 253

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Kapitel 7: Angriffe auf die Orthodoxie

weil es aus einer Vielzahl spezieller Haftungstatbestände zusammengesetzt ist. Deren Namen beschreiben entweder ein Verhalten oder knüpfen an die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts an:261 assault, battery, conspiracy, conversion, deceit, false imprisonment, inducement of breach of contract, injurious falsehood, libel, malicious prosecution, misfeasance in a public office, passing off, private nuisance, public nuisance, Rylands v Fletcher, slander, trespass to chattles, trespass to land, trespass to the person. In vielen dieser Deliktstypen leben ehemalige forms of action weiter.262 Daneben steht der allgemeine Tatbestand der Fahrlässigkeit (negligence), der eine Haftung statuiert für sorgfaltswidriges Verhalten, das zu einem Schaden führt. Dieser ist das Ergebnis einer richterlichen Prinzipienbildung und wesentlich jüngeren Datums: Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine Vielzahl situationsbezogener Pflichten existierte,263 verkündete Lord Atkin im Jahre 1932 in der berühmten Entscheidung Donaghue v Stevenson, das Gebot der Nächstenliebe („neighbour principle“) gebiete es, eine Sorgfaltspflicht immer dann anzunehmen, wenn für den Schädiger vorhersehbar ist, dass sein Verhalten bei einer anderen Person zu einem Schaden führen kann.264 In derselben Entscheidung freilich erklärte Lord Macmillan, die Entwicklung der Kategorien fahrlässigen Verhaltens sei niemals abgeschlossen,265 und sorgte auf diese Weise dafür, dass sich die Rechtsprechung zunächst weiter an den etablierten Fallgruppen der Pflichtverletzung orientierte.266 Erst in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde die Haftungsregel dahingehend verallgemeinert, dass jeder Schaden, also insbesondere auch ein reiner Vermögensschaden, der für den Beklagten vorhersehbar war, ersetzbar ist, wenn nicht ausnahmsweise wirtschaftspolitische Gründe entgegenstehen.267 Inzwischen ist die Rechtsprechung mit der Annahme von Sorgfaltspflichten zwar wieder etwas vorsichtiger geworden und zu einer situativen Beurteilung zurückgekehrt – spezielle Regeln existieren beispielsweise für Schockschäden, reine Vermögensschäden und Schäden aufgrund von Unterlassungen. Gleichwohl wird das Vorliegen einer duty of care auch an die generalklauselartige Bedingung geknüpft, dass eine Schadensersatzpflicht im Einzelfall „fair, just, and reasonable“ erscheint.268 Vgl. Rudden, Torticles, S. 106 und 109 f. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 607 ff.; Lunney / Oliphant, Tort Law, S. 2 ff. 263 Vgl. Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 178. 264 Donaghue v Stevenson [1932] AC 562 (HL) 580. 265 Donaghue v Stevenson [1932] AC 562 (HL) 619 („The categories of negligence are never closed“). 266 Ibbetson, A Historical Introduction to the Law of Obligations, S. 191. 267 Hedley Byrne & Co v Heller & Partners Ltd [1964] AC 465 (HL); Home Office v Dorset Yacht Co Ltd [1970] AC 1004 (HL); Anns v Merton LBC [1978] AC 728 (HL). 268 Caparo Industries plc v Dickman [1990] 2 AC 605 (HL) 617–618, per Lord Bridge. 261 262

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Während die viktorianischen Professoren sich noch für eine Fahrlässigkeitshaftung auf der Grundlage einer allgemeinen Sorgfaltspflicht einsetzten und Prinzipien postulierten, die das gesamte Deliktsrecht beherrschen sollten,269 haben die Universitätsjuristen nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Systemlosigkeit dieses Rechtsgebiets kapituliert. So stellte der Rechtshistoriker David Ibbetson resignierend fest, es bedürfe eigentlich keiner Erwähnung, dass die negligence, und damit das law of tort insgesamt, in großer Unordnung sei – bis zu einem gewissen Grade sei dies auch unvermeidlich.270 Bei Tony Weir, der lange als graue Eminenz des englischen Deliktsrechts galt, trat die nihilistische Haltung besonders deutlich hervor. Danach gefragt, welche Theorie er für das Rechtsgebiet entwickelt habe, antwortete er: „Tort is what is in the tort books, and the only thing holding it together is their binding.“271 Die Inkohärenz im Recht der negligence führte die ältere Generation der Rechtsgelehrten auf die fallgruppenbezogene Rechtsprechung zur duty of care zurück. So befanden etwa Bob Hepple und Jane Stapleton, die künstlichen begrifflichen Einteilungen würden von den entscheidenden rechtspolitischen Erwägungen ablenken.272 Viele akademische Juristen sympathisierten mit der Auffassung des vom amerikanischen Rechtsrealismus beeinflussten Komparatisten John Fleming, wonach der Sorgfaltspflicht lediglich die Aufgabe zukomme, eine uferlose Haftung zu verhindern.273 Entsprechend stellte sich Peter Cane auf den Standpunkt, die duty of care sei gar keine echte Verhaltenspflicht, sondern nur eine Verpflichtung, unter bestimmten Umständen für einen verursachten Schaden Ersatz zu leisten;274 Tony Weir sah in ihr einen bloßen Platzhalter für die wahren, von den Gerichten jedoch nicht offen ausgesprochenen Haftungsgründe.275 Jane Stapleton verstand die duty of care hingegen als Ergebnis einer komplexen Abwägung im Einzelfall, bei der eine Vielzahl von Gesichtspunkten Berücksichtigung fänden („complex trade-offs between legal concerns“).276 Sie forderte deshalb eine „policies analysis“277 und stellte eine Liste von 29 haftungsbegründenden und haftungsausschließenden Faktoren zusammen.278 Bob Hepple schlug dagegen vor, die individuelle Sorgfaltspflicht durch ein allgemeines Haftungsprinzip zu ersetzen, das 269 Richtungweisend insofern Pollock, The Law of Torts, S. 1 und 20 ff. Zu Pollocks Systematisierung des Deliktsrechts siehe oben, S. 96 ff. 270 Ibbetson, How the Romans Did For Us, S. 475. 271 Weir, An Introduction to Tort Law, S. ix. 272 Stapleton, Duty of Care and Economic Loss, S. 284; Hepple, Negligence: The Search for Coherence, S. 76. 273 Fleming, Remoteness and Duty, S. 471. 274 Cane (Hrsg.), Atiyah’s Accidents, Compensation and the Law, S. 66. 275 Weir, Suicide in Custody, S. 242 f. 276 Stapleton, Evaluating Goldberg and Zipursky’s Civil Recourse Theory, S. 1534. 277 Stapleton, Duty of Care and Economic Loss, S. 285. 278 Stapleton, Duty of Care Factors: a Selection from the Judicial Menus, S. 92 ff.

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auch Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit in sich aufnehmen sollte.279 Patrick Atiyah gelangte sogar zu dem Schluss, das Fahrlässigkeitsdelikt müsse gänzlich abgeschafft und durch eine obligatorische Unfallversicherung ersetzt werden.280 Den älteren Universitätslehrern war gemeinsam, dass sie das law of torts als Recht des Schadensersatzes begriffen. Sie hielten es also für einen bloßen Kompensationsmechanismus, der je nach politischer Präferenz beliebig manipuliert werden konnte. Eine Handvoll jüngerer Rechtswissenschaftler will nun mit diesem pragmatischen Verständnis des Deliktsrechts aufräumen und zugleich ein Deutungsmuster anbieten, mit dem sich die vielfältigen Tatbestände dieses Rechtsgebiets einheitlich erklären lassen. Autoren wie Robert Stevens, Allan Beever, Nicolas McBride und Roderick Bagshaw, die allesamt Anhänger interpretativer Theoriebildung sind, gehen wieder davon aus, dass es sich bei den Sorgfaltspflichten im law of negligence um individuelle Verhaltensstandards handelt, die von Rechts wegen zu beachten sind.281 Solche Pflichten können immer nur einzelnen Personen gegenüber bestehen, weswegen ihnen – nach Hohfelds Schema der deontischen Relationen – stets subjektive Rechte entsprechen.282 Dies führt zu der grundlegenden Einsicht, dass nur derjenige fahrlässig handelt, der das Recht eines anderen beeinträchtigt: Nicht die Verursachung eines Schadens, sondern die Verletzung eines Rechts ist das wesentliche Element der negligence.283 Diese Erkenntnis wird schließlich dahingehend verallgemeinert, dass das Deliktsrecht insgesamt das Recht der Rechtsverletzungen ist – oder, genauer gesagt, derjenigen Rechtsverletzungen, die nicht traditionell einem anderen Rechtsgebiet zugeschlagen werden, wie etwa der Vertragsbruch oder die Verletzung einer Treuepflicht.284 In seiner Monographie „Torts and Rights“ aus dem Jahr 2007 hat Robert Stevens diese neue Auffassung mit bewundernswerter Klarheit formuliert: „A tort is a species of wrong. A wrong is a breach of a duty owed to someone else. A breach of a duty owed to someone else is an infringement of a right they have against the tortfeasor. […] The law of torts is concerned with the secondary obligations generated by the infringement of primary rights. The infringement of rights, not the infliction of loss, is the gist of the law of torts.“285

Hepple, Negligence: The Search for Coherence, S. 72 und 85 f. Atiyah, Accidents, Compensation and the Law, S. 611 ff.; ders., The Damages Lottery, S. 173 ff. 281 Stevens, Torts and Rights, S. 291; Beever, Rediscovering the Law of Negligence, S. 115 ff.; McBride, Duties of Care – Do they Really Exist?, S. 441; McBride / Bagshaw, Tort Law, S. 3 ff. und 51 ff. 282 Stevens, Rights and Other Things, S. 117. Vgl. auch dens., Torts and Rights, S. 4 ff. 283 Beever, Rediscovering the Law of Negligence, S. 211 ff. 284 McBride / Bagshaw, Tort Law, S. 10 f. 285 Stevens, Torts and Rights, S. 2. 279 280

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Robert Stevens’ – ganz offensichtlich in Auseinandersetzung mit Peter Birks’ Taxonomie entstandene286 – Kernthese lautet also, dass deliktische Ansprüche Sekundärrechte sind, die dabei helfen, bereits bestehende Primärrechte zu verteidigen. Die rechtlich angeordnete Folge des Schadensersatzes (damages) soll in erster Linie eine Entschädigung für die Missachtung des ursprünglichen Rechts (injury) darstellen und erst in zweiter Linie dem Ausgleich des daraus resultierenden Schadens dienen. Da es nicht möglich ist, ein Delikt rückgängig zu machen, ist der Ersatzanspruch die nächstbeste Reaktionsmöglichkeit, die dem Recht zur Verfügung steht.287 Stevens ist ersichtlich bemüht, das von ihm entwickelte „rights model“ mit einem angeblich etablierten „loss model“ zu kontrastieren. Anstatt grundsätzlich von einer Haftung des Schädigers auszugehen und zu fragen: „Is there any good reason why the defendant should not pay for the loss he has through his fault caused the claimant?“, soll die Vermutung nun zunächst gegen eine Haftung sprechen und geprüft werden: „Did the defendant infringe a right of the claimant?“288 Gleichwohl bezeichnet er seine Interpretation des Deliktsrechts als konservativ, ja sogar als reaktionär.289 Der inzwischen in Oxford lehrende Professor beruft sich nämlich auf einige berühmte, aber bislang als überholt geltende Entscheidungen vom Ende des 19. Jahrhunderts, in denen die Richter noch streng zwischen Rechtsverletzung und Schaden unterschieden hatten und davon ausgegangen waren, dass ein erlittener Schaden nur dann ersatzfähig ist, wenn er auf einer Rechtsverletzung beruht.290 Robert Stevens behauptet jedoch nicht nur, seine „rights-based theory“ stimme mit den Begründungen wichtiger Präjudizien überein. Er nimmt ebenfalls für sich in Anspruch, dass sein „rights model“ für viele Ergebnisse der Judikatur, die das vorherrschende „loss model“ gar nicht oder nur mit großem Aufwand erklären kann, bessere – und das heißt vor allem: einfachere – Begründungen liefert.291 Augenfällig ist dies für die torts actionable per se, also diejenigen Delikte, die den Nachweis eines Schadens nicht voraussetzen; Siehe nur Stevens, Torts and Rights, S. 284 ff. Stevens, Torts and Rights, S. 59. 288 Stevens, Torts and Rights, S. 350. 289 Stevens, Torts and Rights, S. 348. 290 Stevens, Torts, S. 633, bezeichnet Mogul Steamship Co Ltd v McGregor, Gow & Co [1892] AC 25 (HL), Allen v Flood [1898] AC 1 (HL) sowie The Mayor of Bradford v Pickles [1895] AC 25 (HL) als „foundation of the law of torts“, nachdem er zuvor die Bedeutung des sonst als grundlegend wahrgenommenen Falles Donaghue v Stevenson [1932] AC 532 (HL) heruntergespielt hat. Auch McBride / Bagshaw, Tort Law, S. xii ff., stellen ihre Neuinterpretation als „traditional view of tort law“ dar und kontrastieren ihn mit dem „modern view of tort law“ der Vorgängergeneration. 291 Ebenso halten McBride / Bagshaw, Tort Law, S. xviii, ihre angeblich traditionelle Auffassung des Deliktsrechts für vorzugswürdig, weil sie nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die Begründungen der Vorentscheidungen erklären könne. 286 287

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hierzu zählen praktisch wichtige Tatbestände wie trespass, libel oder wrongful imprisonment. Das Gericht spricht dem Kläger hier einen Anspruch zu, der als Substitut für das verletzte Recht gedacht ist und der sich deshalb am objektivem Wert des Rechts orientiert.292 Stevens fordert, auch bei anderen Delikten müsse eine signifikante Rechtsverletzung, die keinen Schaden nach sich ziehe, durch einen Ersatzanspruch sanktioniert werden.293 Ein weiterer wichtiger Anwendungsfall für seine Theorie ist die Nichtersatzfähigkeit reiner Vermögensschäden. Die konsequentialistischen Argumente, die hier gewöhnlich zur Begrenzung der Haftung herangezogen werden, überzeugen Stevens nicht.294 Angeführt werde beispielsweise, wenn Vermögensschäden generell ersatzfähig wären, so würde dies zu einer unüberschaubar großen Zahl potenzieller Kläger führen, weswegen das Risiko, für eine eigentlich erwünschte wirtschaftliche Aktivität Schadensersatz leisten zu müssen, nicht mehr kalkulierbar wäre. Stevens entgegnet, in der Mehrzahl der bisher entschiedenen Fälle sei jeweils nur ein einziger Kläger in Betracht gekommen; zudem dürfe die potenzielle Gefährlichkeit einer Aktivität keine Rechtfertigung für eine Haftungsbefreiung sein.295 Darüber hinaus könne mit dem „loss model“ nicht erklärt werden, weshalb die Gerichte in gewissen Fällen – wie etwa bei fahrlässigen Falschauskünften296 oder beruflichen Sorgfaltspflichtverletzungen297 – dem Geschädigten durchaus einen Ersatzanspruch zugestehen. Stevens schlägt deshalb die Interpretation vor, dass nur Vermögensschäden, die aus der Verletzung eines Rechts folgen, ersatzfähig sind.298 Die Schadenszufügung für sich genommen stelle dagegen keine Rechtsverletzung dar und führe deshalb noch nicht zu einem Ersatzanspruch.299 Das „rights model“ empfiehlt sich gleichfalls, um die uneinheitliche Rechtsprechung zur Staatshaftung (state liability) zu rationalisieren. Zwar ist seit langem anerkannt, dass auch staatliche Stellen dafür einzustehen haben, wenn sie ihre Pflichten gegenüber den Bürgern verletzen. Allerdings finden sich auch zahlreiche Entscheidungen, die eine Sorgfaltspflicht verneinen und sich dabei auf Erwägungen des Allgemeinwohls (policy arguments) stützen.300 So soll beispielsweise verhindert werden, dass staatliche Organe zur 292 Stevens, Torts and Rights, S. 62 f. Ähnlich Varuhas, The Concept of ‘Vindication’ in the Law of Torts, S. 261 ff. 293 Stevens, Torts and Rights, S. 84. 294 Stevens, Torts and Rights, S. 25. 295 Stevens, Torts and Rights, S. 20 f. 296 Hedley Byrne & Co v Heller & Partners Ltd [1964] AC 465. 297 White v Jones [1995] 2 AC 207 (HL). 298 Stevens, Torts and Rights, S. 25. 299 Stevens, Torts and Rights, S. 21. 300 Siehe nur Hill v Chief Constable of West Yorkshire Police [1989] AC 53 (HL); X v Bedfordshire CC [1995] 2 AC 633 (HL). Differenzierend Kent v Griffiths [2001] QB 36 (CA).

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Vermeidung einer Haftung besonders vorsichtig handeln oder ihre kostbaren Ressourcen dafür einsetzen müssen, Klagen abzuwehren.301 Stevens will diese Fälle dagegen streng nach Hohfelds Schema lösen und die Staatshaftung von vornherein möglichst restriktiv ausgestalten: Nur wenn dem Einzelnen ein subjektives Recht („right“) gegenüber dem Staat zusteht, existiert auch eine Pflicht („duty“), die von einer staatlichen Stelle verletzt werden kann.302 In Betracht kommen erstens Rechte, die gegenüber jedermann wirken und deshalb auch vom Staat zu respektieren sind. Zweitens können entsprechende Rechte durch die Übernahme einer Verpflichtung seitens einer staatlichen Stelle entstehen. Drittens kann sich ein solches Recht aus einer gesetzlichen Pflicht einer Behörde ergeben, wobei allerdings durch Auslegung zu ermitteln ist, ob diese Pflicht individuelle Berechtigungen gewähren soll oder lediglich eine Zielbestimmung ist.303 Wenn das Gesetz die staatliche Institution nicht zum Handeln verpflichtet, sondern ihr nur eine Kompetenz („power“) zum Handeln verleiht, ergibt sich daraus kein Recht des Bürgers und folglich auch keine Sorgfaltspflicht des Staates.304 Deshalb haftet eine staatliche Stelle niemals, wenn sie von einer Kompetenz keinen Gebrauch macht und eine dem Bürger vorteilhafte Handlung unterlässt.305 Stevens’ Strukturanalyse wirkt sich also insbesondere auf die in jüngster Zeit viel diskutierte Fallgruppe aus, in der Bürger einen Schaden erleiden, weil staatliche Organe fahrlässig nicht die erforderlichen Aufsichts- oder Überwachungsmaßnahmen ergreifen.306 Ob Gehilfenhaftung (vicarious liability),307 Ersatzfähigkeit von Schockschäden (psychiatric injury),308 Nichtersatzfähigkeit von Drittschäden (doctrine of privity)309 oder Konkurrenzen zwischen verschiedenen deliktischen Ansprüchen (concurrent liability):310 Scheinbar mühelos gelingt es Robert Stevens, mit seiner Theorie des Delikts als Rechtsverletzung verschiedenste Phänomene des tort law zu erklären. Der Universitätsjurist kommt jedoch nicht umhin, einen Großteil der einschlägigen Präjudizien als Fehlurteile abzutun oder zumindest deren Begründungen abzulehnen. Fast immer handelt es sich dabei um Entscheidungen, die rechtspolitische Argumente heranziehen, um

301 Hill v Chief Constable of West Yorkshire Police [1989] AC 53 (HL); Smith v Chief Constable of Sussex Police [2009] 1 AC 225 (HL). 302 Stevens, Torts and Rights, S. 220. 303 Stevens, Torts and Rights, S. 218. 304 Stevens, Torts and Rights, S. 223. 305 Stevens, Torts and Rights, S. 221 f. 306 Siehe hierzu Michael v Chief Constable of South Wales Police [2015] UKSC 2. 307 Stevens, Torts and Rights, S. 257 ff. 308 Stevens, Torts and Rights, S. 54 ff. 309 Stevens, Torts and Rights, S. 173 ff. 310 Stevens, Torts and Rights, S. 199 ff.

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eine Haftungseinschränkung zu rechtfertigen.311 Es ist deshalb wenig überraschend, dass vor allem Stevens’ selektive Verwendung des Fallrechts auf wenig Gegenliebe stößt.312 Der Verzicht auf jegliche teleologische Kriterien sowie die Präferenz für viktorianische Entscheidungen und ältere Lehrbücher lässt Stevens’ Thesen zudem anachronistisch wirken.313 Seine Analysen werden als inhaltsleer kritisiert, weil sie nicht begründen können, welche Rechte den Individuen überhaupt zustehen und deshalb deliktisch geschützt werden sollen.314 Allerdings liegt ein wesentliches Element von Stevens’ Konzeption des „law of torts“ gerade darin, dass dieses nicht selbständig Rechte schafft, sondern sich gegenüber anderen Rechtsgebieten parasitär verhält.315 Der „rights-based approach“ wirkt sich auch auf die Einteilung des englischen Deliktsrechts aus. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis eines zeitgenössischen Lehrbuchs genügt, um festzustellen, dass derzeit drei Klassifikationskriterien nebeneinander verwendet werden: Die Mehrzahl der Delikte ist nach einer Angriffshandlung benannt, die gegen ein bestimmtes Rechtsgut gerichtet ist. Zum Beispiel verweist trespass to land auf das Eigentum an Grundstücken, battery auf die körperliche Integrität und defamation auf die Reputation des Geschädigten. Andere Delikte bezeichnen einen Verschuldensgrad (wie etwa negligence) oder erhalten ihre Eigenständigkeit gegenüber anderen Delikten erst durch das Fehlen eines Verschuldenserfordernisses (Rylands v Fletcher). Schließlich werden manche torts von vornherein in kontextuellen Kategorien zusammengefasst, wie beispielsweise product liability oder economic torts.316 Dies führt dazu, wie Robert Stevens kritisch bemerkt, dass sich manche Tatbestände in ihren Anwendungsbereichen überschneiden. So ist bei einer vorsätzlichen Körperverletzung nicht nur trespass, sondern auch negligence einschlägig; die unabsichtliche Veröffentlichung einer ehrverletzenden Äußerung lässt sich gleichermaßen als defamation wie als negligence deuten.317 Andererseits lässt die Beschränkung des negligence-Tatbestandes auf fahrlässige Verletzungshandlungen gelegentlich Schutzlücken entstehen, weil für manche Rechte kein entsprechendes Vorsatzdelikt existiert.318 Siehe beispielsweise Stevens, Torts and Rights, S. 233 ff. und 257 ff. So etwa bei Murphy, Rights, Reductionism and Tort Law, S. 407. 313 Priel, That Can’t Be Rights, S. 238; ders., Torts, rights and right-wing ideology; Descheemaeker, De la structure de la résponsabilité, S. 63. 314 Steele, Fair, just and reasonable, unveröffentlichter Vortrag auf der „Obligations Conference“ zum Thema „Rights and Private Law“ in Oxford vom 14. Juli 2010; Priel, That Can’t Be Rights, S. 234 f. 315 Stevens, Torts and Rights, S. 299 („parasitic“). 316 Stevens, Torts and Rights, S. 291 ff. Vgl. auch die Aufteilung der torts bei McBride /  Bagshaw, Tort Law, S. vii f., in „Negligence“, „Rights-based Torts“, „The Economic Torts“ und „Other torts“. 317 Siehe Stevens, Torts and Rights, S. 292 ff. 318 Siehe Stevens, Torts and Rights, S. 295. 311 312

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Stevens plädiert deshalb für eine Klassifikation, die sich ausschließlich an den Primärrechten oder Rechtsgütern orientiert, die deliktisch geschützt werden: Diese können unterteilt werden in solche, die jedermann zustehen – wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit (bodily safety) oder die Ehre (reputation) –, solche, die ein wirtschaftliches Handeln voraussetzen – wie Rechte aus Vertrag (contract) oder der Übernahme einer Haftung (assumption of responsibility) –, Familienrechte und Sonstige („other“). Diejenigen Fallregeln, die nur die Verletzung einzelner Rechte betreffen, bilden den besonderen Teil des „law of torts“. Dagegen können sämtliche Regeln, die für alle Delikte gleichermaßen gelten, in einem allgemeinen Teil („General Part“) zusammengefasst werden. Hierzu zählen insbesondere Fragen der Kausalität (causation) und des Verschuldens (fault) sowie der Teilnahme beziehungsweise der Zurechnung einer Verletzungshandlung zu Dritten (attribution). Rechtsbehelfe (remedies) und Einwendungen (defences) sollen nach Stevens’ Konzeption ebenfalls für sich behandelt werden.319 Robert Stevens entwirft damit ein Deliktsrecht, das aus vielen Spezialtatbeständen besteht, die jedoch wegen der gemeinsamen Voraussetzung der Rechtsverletzung allesamt dieselbe Struktur aufweisen und für die gemeinsame Regeln gelten. In diesem System wäre ein allgemeines Haftungsprinzip, das an die Verursachung eines Schadens und an einen bestimmten Verschuldensgrad anknüpfte, ein Fremdkörper. Der Birks-Schüler will deshalb den Tatbestand der negligence in verschiedene Arten von Rechtsverletzungen aufspalten. Er begründet dies damit, dass je nachdem, welches Rechtsgut betroffen ist, bereits nach geltendem Recht erhebliche Unterschiede bestehen: hinsichtlich des Sorgfaltsmaßstabs, der Möglichkeit eines Haftungsausschlusses sowie der Vorhersehbarkeit des Schadens.320 Zudem sei es trotz der enormen Ausdehnung, die der tort of negligence im 20. Jahrhundert erfahren habe, nicht gelungen, die schon seit langem existierenden spezielleren Delikte in das Schema der Fahrlässigkeitshaftung zu integrieren. Eric Descheemaeker setzt sich in seiner 2009 erschienenen Dissertation „The Division of Wrongs“ ebenfalls mit verschiedenen Varianten der Aufteilung des englischen Deliktsrechts auseinander.321 Die anfänglich noch von Peter Birks betreute Arbeit ist historisch-vergleichend angelegt; es werden sowohl antike römische und gemeinrechtliche als auch englische Einteilungsversuche analysiert. Stevens’ Taxonomie lehnt Descheemaeker nicht allein deshalb ab, weil sie hinter den Erkenntnisstand von Donaghue v Stevenson zurückfällt und die Existenz eines allgemeinen Fahrlässigkeitsdelikts leugnet. Er gibt auch zu bedenken, dass es sehr schwer fallen dürfte, sämtliche durch das Deliktsrecht geschützten Rechte oder Rechtsgüter zu benennen. Gerade 319 320 321

Stevens, Torts and Rights, S. 303. Stevens, Torts and Rights, S. 302. Descheemaeker, The Division of Wrongs.

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weil sich der tort of negligence weiter ausdehne, würden ständig neue verletzungsfähige Rechte anerkannt. Gegen den „rights-based approach“ spricht zudem, dass die Zuordnung eines Rechts zu einem bestimmten Delikt – und umgekehrt – nicht in jedem Falle möglich ist. Das Ansehen wird beispielsweise nicht nur durch defamation, sondern auch durch malicious prosecution und conversion geschützt. Andererseits dient defamation nicht allein der Verteidigung der Ehre, sondern – auf dem Umweg über den Ersatz von Folgeschäden – auch dem Schutz des körperlichen Wohlbefindens und des Vermögens. 322 Eric Descheemaeker, der in Frankreich ausgebildet worden ist und sich insbesondere von der eleganten Schule der Jurisprudenz hat beeinflussen lassen, setzt sich demgegenüber für eine Einteilung der Delikte anhand von Verschuldensgraden („by degree of blameworthiness“) ein.323 Mithilfe einer umfassenden Analyse der Lehrbuchliteratur des 20. Jahrhunderts will er nachweisen, dass sich die Unterscheidung zwischen dolus, culpa und casus nach dem Wegfall der forms of action und der Entdeckung der negligence immer mehr durchgesetzt habe.324 James Goudkamp wendet die taxonomische Methode schließlich auf ein bedeutendes Teilgebiet des Deliktsrechts an, das bisher gar nicht als ein solches wahrgenommen wurde. In seiner Oxforder Dissertation, die 2013 unter dem Titel „Tort Law Defences“ veröffentlicht wurde, betrachtet der Australier die unzähligen, jeweils bestimmten Delikten zugehörigen Einwendungen erstmals als normative Einheit. Unter einer Einwendung („defence“) versteht er „a rule that relieves the defendant of liability even though all of the elements of the tort in which the claimant sues are present“.325 Nicht zu den „defences“ gehören deshalb die „denials“, die bereits das Vorliegen eines oder mehrerer Tatbestandsmerkmale des Delikts – wie beispielsweise Handlung, Kausalität, Verschulden oder Schaden – in Abrede stellen.326 Die Unterscheidung zwischen „denials“ und „defences“ ist wichtig für die Verteilung der Beweislast zwischen Kläger und Beklagtem. Goudkamps vorrangiges Ziel ist es jedoch, aus den bislang verstreuten Instituten ein verhältnismäßig einfaches System zu formen, um allgemeine Aussagen über verschiedene Klassen von Einwendungen treffen zu können. Zur Hauptunterscheidung bestimmt er den Gegensatz zwischen Rechtfertigungen („justification defences“) und Haftungsbefreiungen aus Gründen des Allgemeinwohls („public policy defences“). Die „justification defences“ verschonen den Deliktstäter von einer Haftung, weil sein deliktisches Handeln im Einzelfall moralisch vernünftig war. Sie werden weiter unterteilt in 322 323 324 325 326

Descheemaeker, The Division of Wrongs, S. 228 f. Descheemaeker, The Division of Wrongs, S. 224 f. Descheemaeker, The Division of Wrongs, S. 231 ff. Goudkamp, Tort Law Defences, S. 7. Goudkamp, Tort Law Defences, S. 73 f.

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private Rechtfertigungen – hierzu zählen etwa die Einwilligung (consent) oder Notwehr (self-defence) – und öffentliche Rechtfertigungen – hierher gehören beispielsweise Notstand (public necessity) oder Nothilfe (defence of another person).327 Die „public policy defences“ betreffen dagegen Gemeinwohlinteressen, hinter denen die Ziele des Deliktsrechts ausnahmsweise zurücktreten müssen. Goudkamp gliedert diese Einwendungen danach, ob sie bereits im Zeitpunkt des Delikts vorlagen – gemeint sind verschiedene Immunitäten (immunities) und die Einrede des rechtswidrigen Opferhandelns (illegality) – oder ob sie erst später entstanden sind – wie Verjährung (limitation bars), rechtskräftige Entscheidung (res judicata) oder Missbrauch des Verfahrens (abuse of process).328 Die Klassifikation dient nach Ansicht ihres Urhebers nicht nur der besseren Übersicht und der Verständlichkeit. Sie hat auch gewichtige normative Folgen: Die „justifications“ greifen zum Beispiel nur, wenn der Beklagte von den sie begründenden Umständen Kenntnis hatte, während „public policy defences“ nur vom objektiven Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen abhängig sind.329 Andererseits können Rechtfertigungen auch auf Teilnehmer erstreckt werden, während dies bei Haftungsbefreiungen nicht möglich ist.330 Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den beiden Hauptarten der defences besteht darin, dass „justifications“ vom Kläger vorgetragen werden müssen, während „public policy defences“ vom Amts wegen zu berücksichtigen sind.331 Goudkamp verschweigt jedoch nicht, dass sich seine Klassifikation auf andere wichtige Fragen – wie die Gehilfenhaftung oder das schuldhafte Herbeiführen einer Rechtfertigungslage – in keiner Weise auswirkt und sie die einschlägigen Regeln gerade nicht erklären kann.332 Dennoch hat er eine Taxonomie geschaffen, die dazu geeignet ist, neue Einwendungen in sich aufzunehmen und Aussagen über deren Voraussetzungen zu treffen. Damit geht er wesentlich über die deskriptiven Klassifikationen seines Vorbilds Peter Birks hinaus. Ein Gedanke durchzieht sämtliche Arbeiten, die eine Neuordnung des Deliktsrechts propagieren, ebenso wie viele Beiträge zu der Debatte über die Methode der Jurisprudenz: Das Recht ist nicht allein das Resultat der um Anerkennung ringenden wirtschaftlichen, sozialen oder religiösen Interessen, sondern ein eigenständiges Produkt des Geistes. Dieses muss aus sich selbst heraus verstanden werden; eine wissenschaftliche Bearbeitung kann es verbessern und dadurch eine größere intellektuelle Befriedigung verschaffen. Wenn rechtliche 327 328 329 330 331 332

Goudkamp, Tort Law Defences, S. 105 ff. Goudkamp, Tort Law Defences, S. 122 ff. Goudkamp, Tort Law Defences, S. 140 f. Goudkamp, Tort Law Defences, S. 143 f. Goudkamp, Tort Law Defences, S. 138. Goudkamp, Tort Law Defences, S. 145 ff.

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Regelungen überhaupt einen äußeren Zweck verfolgen, so besteht dieser meist nicht darin, irgendwelche politischen Ziele zu erreichen, sondern er beschränkt sich darauf, für eine gleiche Behandlung aller Menschen zu sorgen und zwischen den Individuen ausgleichende Gerechtigkeit herzustellen. Aufgabe des Universitätsjuristen ist es daher nicht, die Transformation politischer Entscheidungen in das Recht nachzuvollziehen oder sich gar zum Handlanger der Politik zu machen. Vielmehr muss es Anliegen der Rechtswissenschaft sein, zu analysieren, wie das Recht seine ethischen Ziele erreicht, und diesen Prozess gegebenenfalls durch gedankliche Umformungen zu unterstützen. Denn ein Recht kann nur gerecht sein, wenn es geistig fassbar und folgerichtig ist. Dies wiederum lässt sich nur durch eine strenge Ökonomie des rechtlichen Denkens erreichen: Es gilt, die vielfältigen, in Urteilen und Gesetzen zur Sprache kommenden Gesichtspunkte auf wenige Wertentscheidungen zu reduzieren. Deshalb, so lautet das Credo der jungen Generation akademischer Juristen, muss sich die Jurisprudenz auf die Analyse der im Recht vorgefundenen Begriffe sowie die prinzipienbildende Interpretation des rechtlichen Materials konzentrieren. Die gegenwärtige Diskussion in England und dem Commonwealth erinnert entfernt an den deutschen Methodenstreit um 1900, in dem die sogenannte „Interessenjurisprudenz“, die Rechtsnormen als Lösungen gesellschaftlicher Konflikte verstand, über die – als lebensfremde „Begriffsjurisprudenz“ verhöhnte – systematisch-konstruktive Pandektenwissenschaft triumphierte. Der bemerkenswerte Unterschied besteht darin, dass sich diese Debatte nunmehr unter umgekehrten Vorzeichen vollzieht. Die junge Generation der Rechtsgelehrten geht bewusst auf inhaltliche Positionen, aber auch auf methodische Ideale aus der Anfangszeit der englischen Rechtswissenschaft zurück, weshalb man die jüngste Entwicklung auch als Viktorianisierung bezeichnen könnte. Dies erklärt das Paradox, dass die führenden Vertreter der neuen Privatrechtslehre ihre Theorien zugleich als traditionell und revolutionär darstellen. Die viktorianischen Professoren wiederum zeigten sich fasziniert von den Systementwürfen der Pandektistik und wendeten deren Methoden sorgfältig auf das englische Recht an. Der Schulengründer Peter Birks war als Romanist ebenfalls mit dem älteren deutschsprachigen Schrifttum zum römischen Recht vertraut. Insofern haben sich die methodischen Überzeugungen mancher zeitgenössischer englischer Universitätsjuristen durchaus dem klassischen Modell deutscher Rechtsdogmatik angenähert. Eine deutliche Parallele zur deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts besteht jedenfalls darin, dass die englischen Rechtslehrer der Gegenwart sich ihr System erst erarbeiten müssen, bevor sie dieses auf neue rechtliche Fragestellungen anwenden können. Dennoch dürfen die neuen methodischen Ansätze – „taxonomy“, „interpretivism“ und „rights-based analysis“ – keineswegs als Rezeption kontinental-

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europäischen Rechtsdenkens missverstanden werden. Sie stellen in erster Linie eine Reaktion auf den US-amerikanischen Rechtsrealismus dar, der nicht nur das Denken der Vorgängergeneration maßgeblich beeinflusst hat, sondern aufgrund der sprachlichen und kulturellen Nähe der CommonwealthLänder zu den USA weiterhin als dominante rechtstheoretische Strömung wahrgenommen wird. Der US-amerikanischen Tradition entsprechend steht in dieser Auseinandersetzung die Rechtsanwendung nicht im Vordergrund. Die bisherigen Forschungsergebnisse sind so elementar, dass sie nicht nur einer Dogmatik des geltenden Rechts, sondern ebenso gut einer allgemeinen Rechtslehre oder einer Philosophie des Privatrechts zugerechnet werden könnten: Umgrenzungen von Rechtsgebieten und Einteilungen einzelner Bereiche des Rechts sowie begriffliche Unterscheidungen auf höchster Abstraktionsebene; moralische Prinzipien, die einer größeren Zahl von Rechtsnormen oder Entscheidungen zugrunde liegen; Strukturtheorien, die ganze Rechtsgebiete erklären sollen. Fern liegt englischen Universitätsjuristen auch die für die deutsche Rechtsdogmatik einstmals so wichtige Vorstellung einer inneren Ordnung des Privatrechts, die lediglich aufgedeckt werden muss. Vielmehr erscheint ihnen das Recht von vorherein planlos und inkonsequent, weswegen sie vorhandene Widersprüche erst beseitigen müssen, wenn sie ein System entwerfen wollen. Ihr Verhältnis zur Rechtsprechung ist deshalb ambivalent: Einerseits wagen sie offene Kritik und sondern falsche Entscheidungen rigoros aus, andererseits ist das Richterrecht weiterhin Substrat ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit. Ambivalent ist auch ihr Verhältnis zur Rechtsgeschichte: Sie dient als Inspirations- und Legitimationsquelle neuer Theorien; gleichzeitig müssen über Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte mitgeschleppte Doktrinen beseitigt werden. In England bedeutet dogmatisches Denken deshalb, undogmatische Kategorien zu überwinden.

Schluss Schluss

Schluss

Die Betrachtung rechtsdogmatischen Denkens in England bestätigt weder die These von der Konvergenz der juristischen Denkstile noch die Auffassung von der vollkommenen Andersartigkeit des common law. Sie offenbart zwar, dass sich in jüngster Zeit auch in England Methoden herausgebildet haben, die den Denkweisen der deutschen Dogmatiktradition durchaus vergleichbar sind: Peter Birks’ Taxonomie des Privatrechts ist eine Spielart des Begriffssystems, das der Abgrenzung von Rechtsgebieten dient. Die Ordnung des Bereicherungsrechts sowie des Deliktsrechts mit Hilfe des taxonomischen Verfahrens beziehungsweise durch interpretative Theoriebildung bringt Grundbegriffe und Prinzipien hervor. Insofern lässt sich kaum bestreiten, dass sich das englische Rechtsdenken dem deutschen annähert. Die neuen methodischen Ansätze gehen jedoch nur zum Teil auf kontinentaleuropäische Vorbilder zurück. Überwiegend handelt es sich um unabhängige Konzeptionen, die ganz auf die Eigenheiten des englischen Rechtssystems zugeschnitten sind. Angesichts deutlicher Unterschiede in den Ausgangsbedingungen und den Ergebnissen juristischer Dogmatik lässt sich der Wandel des englischen Privatrechtsdenkens als Transformation in Differenz beschreiben. Dies zeigt bereits eine historisch-vergleichende Analyse der institutionellen Grundlagen des Rechtsdenkens. Ein wesentlicher Unterschied betrifft das Rechtsmaterial, an dem die systematische Arbeit ansetzen muss. Die kontinentalen Rechtsordnungen konnten mit dem spätantiken römischen Recht eine hochgradig ausdifferenzierte Sammlung von Rechtssätzen rezipieren, in der bereits zahlreiche Abstraktionen und Einteilungen angelegt waren. Die Beschaffenheit des autochthonen englischen Rechts machte seine dogmatische Durchdringung dagegen lange Zeit unmöglich: Es mangelte vor allem an dem für die Bildung übergreifender Kategorien nötigen Substrat, nämlich an Vorschriften des materiellen Rechts. Das common law breitete sich seit dem Hochmittelalter nur ganz allmählich aus und stand zudem in beständiger Konkurrenz mit weiteren Rechtsordnungen. Der Gang des Verfahrens zwang die Richterschaft bis in die Frühe Neuzeit hinein nicht dazu, Rechtsfragen zu entscheiden und dadurch Regeln zu schaffen. Weil die Prozessführung maßgeblich von der verwendeten Klageformel abhing, wurde das Recht zunächst nur als Ansammlung von Rechtsbehelfen und nicht als Korpus materieller Regelungen verstanden. Bis zum 18. Jahrhundert knüpften juristische Darstellungen des geltenden Rechts deshalb an jene Eigenstruktur an. Diese ent-

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hielt jedoch wegen des übermäßigen Gebrauchs von Fiktionen bei der Anwendung der Klageformeln zahlreiche Fehlkategorisierungen. Erschwerend trat hinzu, dass sich die Richter in ihren Urteilssprüchen auf die Lösung des jeweiligen Einzelfalles beschränkten und nur selten abstraktere Regeln formulierten. All dies hat dazu geführt, dass dogmatisches Denken erst viel später einsetzte als auf dem Kontinent und die juristische Systembildung bis zum heutigen Tage nicht abgeschlossen ist. Gegen die Annahme einer allmählichen Konvergenz der beiden Rechtsfamilien sprechen auch die nach wie vor unterschiedliche Stellung und das Selbstverständnis der Jurisprudenz als Träger der Rationalisierung. Das ius commune war von Beginn an ein gelehrtes Recht. Die Professoren wirkten maßgeblich an der Fortentwicklung des Rechts mit; bisweilen gelang es ihnen sogar, ihren Begriffen und Prinzipien Rechtsgeltung zu verschaffen. Insbesondere die deutsche Rechtswissenschaft pflegte im 19. Jahrhundert einen freien, aktualisierenden Umgang mit den römischen Quellen und setzte sich selbst nach der Kodifizierung des Privatrechts immer wieder über Festlegungen des Gesetzgebers hinweg, wenn ihr diese systemwidrig erschienen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ging die Führerschaft bei der außergesetzlichen Fortbildung des Rechts auf die Obergerichte über. Mittlerweile hat sich ein Kooperationsverhältnis herausgebildet, wobei die Richter das letzte Wort haben, während die Universitätsjuristen sich darauf beschränken, möglichst praxistaugliche Vorschläge zu unterbreiten sowie Änderungen konstruktiv nachzuvollziehen. Für das englische Recht war hingegen lange Zeit die unangefochtene Führungsrolle der Richterschaft als einer juristischen Fachelite stilprägend. Erst im viktorianischen Zeitalter entstand eine universitäre Rechtslehre, die sich zunächst mit der Darstellung und Kommentierung des geltenden Rechts zufrieden geben musste. Zu höherem Ansehen gelangte die Jurisprudenz nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts kam es zeitweilig sogar zu einem Dialog zwischen Universitätsjuristen und Richtern. Für die neuere englische Privatrechtswissenschaft ist dagegen ein Gefühl der intellektuellen Überlegenheit kennzeichnend, das zu einer gewissen Respektlosigkeit im Umgang mit dem Fallrecht geführt hat. Akademische Juristen fühlen sich heute dazu berufen, gegen die Rechtsprechung aufzubegehren und völlig etablierte Doktrinen in Frage zu stellen. Ob sich ihre Forschungsergebnisse praktisch umsetzen lassen, erscheint ihnen dagegen zweitrangig. Ein Vorbild für viele jüngere Wissenschaftler ist Peter Birks, zuletzt Regius Professor of Civil Law in Oxford, der in den Achtziger- und Neunzigerjahren beinahe im Alleingang zwei höchst unterschiedliche Systeme des Bereicherungsrechts schuf und sich dabei immer wieder bewusst von der Rechtsprechung lossagte. Birks war im Übrigen der erste Universitätsjurist, der eine größere Zahl von Schülern heranzog, die heute für seine methodologischen Auffassungen eintreten.

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Eine Untersuchung der juristischen Mentalitäten fördert ebenfalls deutliche Unterschiede zu Tage. Für einen kontinentaleuropäischen Juristen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass eine Rechtsordnung widerspruchsfrei und folgerichtig zu sein hat. Nach allgemeiner Auffassung ist der Gesetzgeber nicht nur gehalten, gleichartige Vorkommnisse gleich zu behandeln. Er soll auch mit Begriffen und Instituten möglichst sparsam umgehen und bei der Regelung neuer Materien auf bekannte juristische Instrumente zurückgreifen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nahmen deutsche Rechtsgelehrte noch an, zwischen den Rechtssätzen bestünden verborgene Zusammenhänge, die man mit einem speziellen Verfahren aufdecken könne. Seitdem ist das Vertrauen in die ordnende Kraft des Gesetzgebers erheblich gesunken, weswegen zeitgenössische Rechtswissenschaftler es als ihre Aufgabe ansehen, solche Verbindungen erst herzustellen. Bei der juristischen Theoriebildung gilt es zudem als vorzugswürdig, mit dem vorhandenen Apparat an Begriffen und Prinzipien auszukommen, um die Kompliziertheit des Rechts zu verringern. Nach englischem Verständnis hingegen folgt das common law von vornherein keinem Plan. Es bildet lediglich die Summe vieler Einzelleistungen, die Richter und Anwälte im Laufe der Jahrhunderte erbracht haben. Widersprüche und Unregelmäßigkeiten werden deshalb nicht nur als unvermeidlich angesehen, sondern gelten auch als willkommener Ausdruck situativer Gerechtigkeit. Eine Ordnung und Vereinheitlichung des Rechts mit Hilfe abstrakter Begriffe oder Prinzipien erscheint weder möglich noch sinnvoll: Da jedes einzelne Präjudiz verbindlich ist, sind Verallgemeinerungen und scharfe Abgrenzungen nur im Wege einer Manipulation des Fallrechts zu erlangen. Ein hoher Abstraktionsgrad führt nach Auffassung vieler Rechtslehrer zu umfänglichen Kategorien, die wegen der Heterogenität ihrer Inhalte nicht mehr brauchbar sind. Ein starres System erweist sich zudem als ungeeignet, den beständigen Wandel des common law abzubilden. Schließlich kann eine Taxonomie auch zur Lösung neuer Fälle wenig beitragen, weil Richter ihre Entscheidungen nicht aus Begriffen deduzieren, sondern durch eine Abwägung begrifflicher und interessenbezogener Argumente gewinnen. In jüngster Zeit lässt sich allerdings ein Einstellungswandel, wenn nicht gar ein Mentalitätsbruch beobachten: Immer mehr Universitätsjuristen gehen heute davon aus, dass im geltenden Privatrecht übergreifende Strukturen und Prinzipien existieren, deren Erkenntnis das Verständnis des Rechts fördert. Verbreitet ist auch die Überzeugung, das Recht könne nur dann Legitimität für sich beanspruchen, wenn es grundlegenden Anforderungen an Rationalität und Gerechtigkeit genüge; dazu gehöre nicht zuletzt die Gleichbehandlung gleichgelagerter Fälle. Damit das Recht diesem Anspruch besser gerecht werden könne, dürfe der akademische Jurist das Recht systematisch ordnen und die dabei zu Tage tretenden Fremdkörper aussondern. Solche Auffassungen sind bislang vor allem in der jüngeren Generation der Privatrechtswissen-

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schaft präsent. Es bleibt abzuwarten, ob sie eines Tages für die gesamte englische Rechtslehre identitätsstiftend sein werden. Schließlich kann auch der geistesgeschichtliche Befund eine Konvergenz der juristischen Methoden nicht belegen. Auf dem europäischen Festland haben sich vor dem dargestellten institutionellen und mentalen Hintergrund dogmatische Denkformen herausbilden können. Begriffe höchsten Abstraktionsgrads und feinsinnige Gliederungen des Rechtsstoffs waren bereits im späten Mittelalter und in der Reformationszeit verbreitet. Im 19. Jahrhundert brachte die Rechtswissenschaft in Deutschland komplizierte Begriffssysteme hervor, aus denen mittels Konstruktion neue Regeln abgeleitet werden konnten. Im 20. Jahrhundert geriet dogmatisches Denken zwar zunächst in Verruf, wurde jedoch im Gewand der systematischen Auslegung beziehungsweise des Prinzipiensystems alsbald rehabilitiert. Manche dieser Methodenschöpfungen sind zwar in England rezipiert worden, nämlich die Dihairese und das Institutionensystem im 17. Jahrhundert sowie das Begriffssystem der Pandektistik im 19. Jahrhundert. Daraus erwuchs gleichwohl keine durchgehende dogmatische Tradition. Stattdessen dominierten unsystematische, an den Bedürfnissen der Prozessführung ausgerichtete Literaturgattungen. Erst in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat der Romanist Peter Birks das Modell des Institutionenlehrbuchs wieder aufgegriffen und ein System der subjektiven Rechte entworfen. Birks’ späte bereicherungsrechtliche Studien sind von deutschen Vorbildern beeinflusst und gespickt mit Gebietsabgrenzungen, Prinzipienbildungen und Begriffseinteilungen. Die maßgebliche methodologische Referenz seiner „taxonomy“ bildete aber bezeichnenderweise nicht die kontinentaleuropäische Rechtsdogmatik, sondern die aus der Biologie bekannte Klassifikation der Lebewesen. Peter Birks’ Schüler bemühen sich nun schon seit einigen Jahren, die taxonomische Methode zu präzisieren und sie auf einzelne Rechtsgebiete oder Rechtsinstitute anzuwenden. Eine jüngere, als „interpretivism“ bezeichnete Strömung erfindet Prinzipien oder Theorien, die einzelne Teile des Fallrechts erklären und zugleich als kohärent darstellen sollen. Die „rights-based analysis“ bringt Grundbegriffs- und Strukturtheorien hervor, mit denen sich ganze Rechtsgebiete einheitsstiftend rekonstruieren lassen. Die junge Generation der Universitätsjuristen empfängt ihre Anregungen allerdings nicht mehr aus dem civil law, sondern aus dem nordamerikanischen Diskurs über die philosophischen Grundlagen des Rechts. Die neuen methodischen Ansätze sind freilich noch längst nicht ausgereift, und nicht wenige Arbeiten erschöpfen sich darin, das Werk der Vorgängergeneration zu zertrümmern. Im Unterschied zu den deutschen Rechtsdogmatikern müssen englische Rechtswissenschaftler zunächst althergebrachte Doktrinen und Kategorien überwinden, bevor sie mit der Neuordnung des Privatrechts beginnen können. Ein produktives System des Rechts, das es ermöglichen würde, Regeln für neue tatsächliche oder rechtliche Phänomene zu generieren, liegt deshalb noch in weiter Ferne.

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Das Reich der formell-rationalen Rechtsschöpfung durch logische Sinndeutung – um ein letztes Mal auf Webers Nomenklatur zurückzukommen – bleibt damit Kontinentaleuropa. Gleichwohl wäre es unzutreffend, das englische Rechtsdenken mit Pierre Legrand als „ascience juridique“ zu charakterisieren. Ganz im Gegenteil ist es gerade das Streben nach Wissenschaftlichkeit, das die junge Generation der Rechtslehrer in England und dem Commonwealth eint: Ihre führenden Protagonisten legen größten Wert auf begriffliche Klarheit und gedankliche Folgerichtigkeit. Die zunehmende Akzeptanz des Systemgedankens zeigt sich in den zahlreichen Einteilungen und Strukturtheorien, die in den letzten Jahren vorgeschlagen worden sind. Schließlich belegt die Kontroverse über die Methoden der Jurisprudenz eindrucksvoll, wie sehr sich die Identität akademisch tätiger Juristen gewandelt hat – aber auch, wie dringlich ihr Bedürfnis nach Selbstvergewisserung weiterhin ist. Insbesondere für deutsche Rechtswissenschaftler, denen der Wert dogmatischen Denkens zweifelhaft geworden ist, lohnt es sich, diese Debatte aufmerksam zu verfolgen. Weil die common law-Juristen ihre Wissenschaftstheorie völlig neu und ohne wesentliche Anregungen aus dem civil law entwerfen, eröffnet ein Vergleich mit den Zielen und Mitteln der traditionellen Rechtsdogmatik auch eine neue Perspektive auf die Grundlagen der kontinentaleuropäischen Jurisprudenz. So verdeutlicht die Auseinandersetzung englischer Rechtsgelehrter über die Aufgaben und Gegenstände juristischer Taxonomien, auf welch schwankendem wissenschaftstheoretischen Boden die konkurrierenden Einteilungen und unbefriedigenden Abgrenzungen der deutschen Rechtsdogmatik stehen. Die in der Methodendiskussion der Gegenwart vorgetragenen Argumente mögen zwar auf die konkreten Bedingungen der englischen Rechtsordnung bezogen sein, sie lassen sich aber mit geringem Aufwand in den deutschen Kontext übertragen. In Anbetracht der zunehmenden Verbreitung eines instrumentalistischen Rechtsverständnisses – vornehmlich in Gestalt der ökonomischen Analyse – sollte es deutsche Juristen hellhörig machen, dass es ausgerechnet die Unzufriedenheit mit dem Durcheinander verschiedener Regulierungsansätze ist, die ihre englischen Kollegen zu einer dogmatischen Rekonstruktion des Deliktsrechts drängt, und dass sich diese von einer deontologischen Theorie des Privatrechts und einer begrifflich-systematischen Methodik die entscheidenden Impulse für ihre Forschung erhoffen. Schon heute zeichnet sich ab, dass die Rechtsdogmatik, die weithin als das Proprium der deutschen Rechtswissenschaft gilt, bald gar nicht mehr so einzigartig sein wird. Ebenso unübersehbar ist jedoch: Die englischen Juristen werden keineswegs deutscher oder europäischer. Vielmehr bringt der Transformationsprozess der englischen Rechtswissenschaft neue, faszinierende Differenzen hervor. Ein Rechtsvergleicher, der nach einem tieferen Verständnis des ausländischen Rechts strebt, wird die Erkenntnis der Andersartigkeit des fremden Rechtsdenkens in jedem Falle als intellektuelle Bereicherung empfinden.

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Sachverzeichnis

Sachverzeichnis Sachverzeichnis abridgement 100, 128, 148, 206 Abgrenzung (siehe auch Definition) – von Anspruchsgrundlagen 237 – von Rechtsbegriffen 57 – von Rechtsgebieten 40 Abstraktion 2, 28, 45–46 – Misstrauen des Engländers gegenüber Abstraktionen 6, 12–13, 102–103, 106– 107 – Nutzlosigkeit von Abstraktionen für die Rechtsfindung 224–225 Abwägung 45, 234, 283 aktionenrechtliches Denken – im alten Rom 125–126, 130 – in England (siehe auch forms of action; writ) 116, 125–126, 141–148, 164, 273 allgemeine Rechtslehre 92–93, 293 allgemeiner Teil – in der englischen Rechtswissenschaft 23, 96–98, 255–256, 289 – in der kontinentaleuropäischen Rechtswissenschaft 42–43, 48–49 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch 44 alternative analysis 175, 180, 189, 193, 247 alterum non laedere 96 Analogie 4, 66, 140, 224–225, 250, 256– 257 – Gesamtanalogie 44, 47 Anfechtung 60 Anomalie im Fallrecht 96, 255, 261, 266 Anspruchskonkurrenz 59–60, 175, 189, 237, 247 Arbeitsrecht 41, 47, 60–61 arbor porphyriana 56, 81 assumpsit 143, 145 Auslegung (siehe Gesetzesauslegung) Australien 20, 183, 234–236, 257–258 Autonomie des Rechts 110–111

Autorität – von Gerichtsentscheidungen 4, 139, 149–151, 237–239 – von juristischer Literatur 152–153 – des Rechts 267 barrister 141–144, 152, 153 Begriff – Begriffsbaum 56, 81 – Begriffssystem 55–58, 132–135, 168, 203–221, 223–224, 228, 243–248, 288– 291 – Bildung juristischer Grundbegriffe 4, 49–54, 133–135, 161 – Nutzlosigkeit abstrakter Begriffe für die Rechtsfindung 224–225 Begriffsjurisprudenz (siehe konstruktive Jurisprudenz) Begründung – einer einzelnen Rechtsnorm (siehe auch justification) 59–69, 89, 241, 251–252, 261–262, 275–278 – einer richterlichen Entscheidung 7–8, 29, 117, 151, 231–233 Bereicherungsrecht (siehe auch law of restitution; unjust enrichment, principle of  ) 39, 59 155–156, 161, 164–201, 214 bewegliches System 234 Birks-Schüler (siehe auch Schulenbildung) 158–159, 162–164, 221, 240– 242, 243–245, 289 bottom-up approach 77, 257 breach of contract 145, 184, 213, 229, 231–232 Bürgerliches Gesetzbuch 37, 43 Calvinismus 78–79, 82 Cambridge 120, 239 – Universität 93, 158

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Sachverzeichnis

case law (siehe Fallrecht) case, action of trespass on the 142–143, 144, 145 casebook 15 causative event (siehe auch alternative analysis; taxonomy) 190–191, 198, 207–208, 211–215 – als allgemeines Haftungsprinzip 215, 218 – Begriff 190 – manifestations of consent 191, 213 – miscellaneous other events 214, 230 – und response 170–172, 190, 204, 216– 217 – unjust enrichment at the expense of another 171–172, 214 – wrongs 213–214, 216, 231–232 – Zuordnung eines Rechtsinstituts zu mehreren causative events 228–230, 246–247 chancery (siehe auch equity) 136, 141– 142 common law – Abstraktionsebenen 139–141 – und equity 103–104, 126–127, 131, 165–166, 209, 226–227, 228 – als Gewohnheitsrecht 116, 146 – als Richterrecht 141 – vollkommene Andersartigkeit gegenüber dem civil law 9–10, 17–18, 295, 299 condictio indebiti 175–176, 185, 194 contribution 164 conversion 98, 144, 145 Corpus Iuris Civilis 135–136 declaratory theory 12, 140, 185 Deduktion 36, 45, 55, 58, 71, 163, 219, 233, 238, 256–257 defences 177–178, 186–187, 199–201, 290–291 Definition 40, 49–50, 53–54, 57, 89, 128, 133–134, 170, 205 deklarative Theorie des Rechts 12, 140 Deliktsrecht 61, 96–98, 148, 234, 242– 243, 281–291 demurrer in law 138 detinue 144 Dialektik 75, 78–80, 132–134

digest 99 Digesten 42, 75, 76, 132 Dihairese (siehe auch Einteilung des Rechtsstoffs) 55–58, 79–82, 132, 203, 207–208 discretion (siehe Ermessen, richterliches) discretionary remedialism (siehe auch Ermessen, richterliches) 208–209, 234– 236 Dissertation (siehe auch Promotion) 57, 158, 159, 243–244, 289–290 Distinktion (siehe Dihairese) divisio obligationum 211–212, 215 Effizienz 28–29 Eigentümer-Besitzer-Verhältnis 42 Eingriffskondiktion 59 Einheit – des Privatrechts 37, 209–210 – der Rechtsordnung 28, 58, 90, 209 Einteilung des Rechtsstoffs 2, 40–44, 55– 58, 79–82, 83–86, 88–89, 203–217, 288–291 Einwilligung 63–64 ejectment 143, 145 Empirismus 4, 18, 71, 73, 76 England – Gartenbau 107, 109 – geistiger Austausch mit dem europäischen Kontinent 15–16, 73, 78–79, 93, 99, 109 Isolation 71–72 englisches Recht – Eigenständigkeit 72 – Eigenstruktur 83, 147–148 – europäischer Charakter 15–16 – Fiktionen 4, 142–146, 166–167 – Gesetzgebung 146–147 – Herausbildung materieller Regeln 135– 141, 147–149 – geringer Abstraktionsgrad 4, 13, 141– 142 – Komplexität 100, 147, 229 – Kompliziertheit 101, 227 – Planlosigkeit 223, 237, 260 – Rationalisierung 16, 148, 161–164, 220–221 – und römisches Recht 93, 120–128, 160–161

Sachverzeichnis – Rückständigkeit 3–5, 93–94 – als Sammlung von Rechtsbehelfen 18, 22, 126 – und schottisches Recht 206 – Überlegenheit gegenüber philosophischer Spekulation 83 – Unmöglichkeit seiner Systematisierung 119, 228–231 englisches Rechtsdenken – Andersartigkeit gegenüber dem kontinentaleuropäischen Rechtsdenken 4–5, 8–9 – Pragmatismus 7–8, 11, 13–15, 123, 141–147, 222, 242 Entdeckung – neuer Rechtsinstitute 39, 46, 53 – von Zusammenhängen zwischen Rechtsnormen 35–37, 45–46 Entscheidungsfindung, juristische 29–30, 219, 221, 231–236, 241, 247–248, 256– 257, 258–259 Entscheidungszwang 138 equity – in Australien 226 – als eigenständige Rechtsordnung 127, 131 – Verschmelzung mit dem common law 209, 226–227 Erfindung neuer juristischer Grundbegriffe 52–53, 161, 200–201 Erfüllung 63 Ermessen, richterliches (siehe auch discretionary remedialism) 208–209, 222–223, 234–236, 238, 241, 248 Essay 72–73, 76–77 Ethnozentrismus 24 Europarecht 10 Fallentscheidung (siehe Entscheidungsfindung, juristische) Fallrecht (siehe auch Präjudiz) – Anomalie 96, 255, 61, 266 – und Gesetzesrecht 9–10, 124, 116–117 – Erklärung 95–96, 161–163, 154–155, 257–272 – Manipulation 230–231, 245–246, 271 – Ordnung 146, 161–163, 205–207 – Seltenheit materieller Rechtsnormen 137–141

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Feudalismus 136 fiduciary obligations 165, 166, 184–185, 209 Fiktion – als Hindernis für dogmatisches Denken 4, 144–146, 166–167 – als Mittel der Rechtsfortbildung 142– 144 forms of action (siehe auch aktionenrechtliches Denken) 85, 90, 94, 125–126, 146, 148, 244, 282 Formfreiheit 61 Forschungsstil 162–163 Frankreich 72–73 französisches Recht 17–18 Freirechtsschule 31, 274 funktionale Methode der Rechtsvergleichung 24–25 Gartenbau 107, 109 Gelehrsamkeit 104 Gemeines Recht 111, 296 Genealogie der Begriffe 56–57, 218 Generalklausel 47, 234–235, 282 general average 164 general traverse 137–138 Gerechtigkeit – ausgleichende 33, 277–278 – im Einzelfall 117, 238 – formale 29–30 – verteilende 283–284 Geschäftsführung ohne Auftrag 42, 214, 249 Geschworene (siehe jury) Gesetzesauslegung – grammatische 7, 9 – objektiv-teleologische 34, 44, 54 – und Rechtsdogmatik 34, 53–54 – systematische 12, 34 Gesetzesinterpretation (siehe Gesetzesauslegung) Gesetzgebung 37, 146–147 – und Rechtsdogmatik 39, 43–44 Gestaltungsrecht 53 Gewinnhaftung 165, 173–175, 184–185, 228–229 Gleichbehandlung 29–30, 205, 220, 238, 252–254 Glossatoren 1

332

Sachverzeichnis

Hermeneutik – in der juristischen Methodenlehre 31, 34, 66 – in der Rechtsvergleichung 19–20, 25–26 Historische Rechtsschule 35–36, 107 – Einfluss in England 92–95 House of Lords 154, 183–188 Humanismus 41, 56 Humoralpathologie 103, 268 Idealtypus 3 Individualismus 117–118 indebitatus assumpsit 143, 145–146, 164, 166–167, 183 Induktion (siehe auch Abstraktion) 45– 49, 52–53, 73, 95, 134, 172, 198 Inns of Court (siehe auch Juristenausbildung) 11, 124, 150 Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts 16, 86, 90, 206 Institutionensystem 42–43, 44, 56, 85–86, 160–161, 206, 207, 210 Institutiones 134–135 integrity 259 Interdisziplinarität 32, 274 Interessenjurisprudenz 31, 34–35, 292 Interpretation – von Gesetzen (siehe Gesetzesauslegung) – des Fallrechts 161–162, 258–262 interpretivism (siehe auch Theoriebildung, interpretative) 23, 242, 254–256, 257– 271, 279 Inversionsmethode (siehe auch konstruktive Jurisprudenz) 37, 58 ius commune 111, 296 judgement 233 Juristenstand (siehe auch Rechtshonoratioren) 111–112, 123–124 Juristenausbildung 11, 150, 151, 153, 158–159 juristische Literatur – in Deutschland 32, 33, 50 – in England 100, 128, 148, 153, 159, 207, 243–244 – im alten Rom 129–130, 132–135 justification (siehe auch Begründung) 251–252, 275–278 jury 3, 6, 137

Kadijustiz 3–4, 6 Kanada 20, 183 Kartierung des Rechts (siehe auch taxonomy) 55, 88, 221–222, 224, 227, 245– 246 Kasuistik (siehe auch Fallrecht) 5, 116– 117, 124, 128, 150, 242 Kategorienfehler 198, 204, 215 Kaufvertrag 225 Kindeswohl 46 Klassifikationskriterium 81, 84, 190, 204, 210, 215, 289–290 knowing receipt (siehe auch Gewinnhaftung) 165, 218–219 Kodifikation – in Deutschland 43–44 – in England 91–92, 117, 146–147 Kohärenz 35, 55, 59, 206, 268–269, 271– 272, 275–277 Kommentar 129–130, 132 Kommentatoren 1 Komplexität 100, 147, 229 Konsistenz 2–3, 6, 95, 205, 268 Konstruktion, juristische 61–69, 134–135 – Auswahl zwischen mehreren Konstruktionsmöglichkeiten 66–69 – Begriff 52, 61–62, 66 – Funktion 64–66 – Verfahren 63–64 konstruktive Jurisprudenz (siehe auch Pandektistik) 3, 31, 34, 292 kontextuelle Kategorie 41, 149, 206–207, 218, 288 Konvergenzthese 9–10, 17–18, 295–298 kultureller Essentialismus 108 Kündigung aus wichtigem Grund 47 Kündigungsschutz 47, 60–61 land law 6, 211 Landschaftsgarten, englischer 107, 109 law and economics 31, 32, 242–243, 276– 277, 299 law of obligations 148, 171, 184, 207 law of personal property 136–137, 211 law of property 148, 171, 198 law of restitution (siehe auch Bereicherungsrecht; unjust enrichment, principle of) 155–156, 161, 164–201, 214

Sachverzeichnis – Abgrenzung zu anderen Rechtsgebieten 170–171, 189 – absence of basis 185–186, 190 – Abstimmung auf das contract law 190, 194–197, 200–201 – Abstimmung auf das law of trusts 178– 181, 196, 197 – acquisitive wrongs 173–175, 192–193 – Bezeichnung als „unjust enrichment“ 190–191 – change of position 167, 177–178, 186– 187, 199–200 – Einteilung 174–175, 189, 192–193 – Geschichte 155–156, 164–168 – proprietary restitution 178–181, 187– 188, 198–199, 226 – restitution (Rechtsfolge) 170–171, 178–181, 190–191 – restitution for wrongs 173–175, 184– 185, 192–193 – stultification 200–201 – unjust enrichment at the expense of another (Tatbestand) 171–172 – unjust factors 175–177, 185–186, 193– 198 – Verhältnis zum contract law 145–146, 166, 184, 189–190, 194–197, 200–201 – Verhältnis zum law of property 171, 198–199 law of torts (siehe auch wrongs) 96–99, 242–243, 281–291 – allgemeiner Teil 96–98, 289 – defences 290–291 – duty of care 283–284 – Einteilung 288–291 – Konzeption als Recht der Rechtsverletzungen 284–289 – Nichtersatzfähigkeit reiner Vermögensschäden 286 – Staatshaftung 286–287 – Struktur deliktischer Tatbestände 284– 285 – Systemlosigkeit 281–283 law of trusts (siehe auch trust) 178–179, 196, 197 – Gewinnhaftung 165, 173–175, 184– 185, 228–229 – fiduciary obligations 165, 166, 184– 185, 209

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– following and tracing 166, 229–230 legal formalism 241, 251, 274–279 legal realism 224, 267, 278–279, 293 legal scholar (siehe Universitätsjuristen in England) legal treatise (siehe auch Lehrbuch) 91, 99, 152, 153 Legalordnung 42 Lehrbuch (siehe auch legal treatise) 15, 33, 90, 95, 99, 134–135, 163, 168, 182, 189, 217 lex Aquilia 215 lex Rhodia de iactu 164 Lizenz 67–69 Logik 1–3, 6–7, 34, 37, 58–59, 80, 132– 133, 233, 279 London 102 – Universität 92, 93, 160 maxims of the law 74–77 Mehrheitsprinzip 138 Melancholie 102–105 Menschenrechte 10 Mentalität (siehe auch Rechtsmentalität) – Begriff 112 – Mentalitätsbruch 114 Mentalitätsgeschichte 113–115 Methode – demonstrative 71, 89 – ramistische 79–80, 103 – scholastische 73, 79, 111 Methodenlehre, juristische 34–35, 37–38, 66 methodus 76, 79–80 motion in banc 138–139 Monographie 32, 33, 153, 159, 163, 284 Moral (siehe Recht und Moral) Moralphilosophie 273 Nachwuchs, wissenschaftlicher 158–159, 239–244 Nationalcharakter (siehe auch Mentalität) – deutscher 102, 108 – englischer 11, 101–107, 121 naturhistorische Methode 30 negotiorum gestio 214, 249 neighbour principle 96, 233, 282 negligence 98, 233, 281, 282, 283–284, 288, 289–290

334

Sachverzeichnis

Neuseeland 20, 183, 234–235 Obliegenheit 64 obligatio 50 Obligations Conference 239, 252, 270, 279 ökonomische Analyse des Rechts 31, 32, 242–243, 276–277, 299 omission 98 Ordnung – des juristischen Wissens 13–14, 204– 206, 225–226 – des Rechts 1, 17, 42–44, 146, 161–163, 205–207 Oxford – Weltabgeschiedenheit 102 – Universität 87–88, 93, 157–160, 239– 240, 243–245, 248–249, 260 Pandektensystem 43–44 Pandektistik 3, 35–37 – Einfluss in England 93, 99–100, 292– 293 personal property law 136–137, 211 Pflicht 64, 276, 278, 279–280 Pflichtverletzung (siehe auch wrongs) 174–175, 192–193, 215–216, 231–232 pleading 137–138 policy arguments 7, 232–233, 247–248, 258, 279, 283, 286–287, 278–286 Postmoderne 108 Pragmatismus – der Engländer 101–102, 105–107 – im englischen Rechtsdenken 7–8, 11, 13–15, 123, 141–147, 222, 242 Präjudiz (siehe auch Fallrecht) – Abstraktionsgrad der enthaltenen Regel 139–141 – Bindung an Vorentscheidungen 4, 6, 7, 9, 95, 109–110, 116, 139, 150–151 – und interpretative Theoriebildung 161, 169, 257, 260–262, 263, 265–266 Prinzip – Begriff 44–45 – Gewinnung 44–49, 154–156, 252 – Kollision 44–45, 60–61 – Konkretisierung 47, 59 – moralisches 5, 249–250, 252, 253–254, 256–257, 258, 265, 272–273

– rechtliches 12, 44–49, 74–77, 95–96, 140, 218, 252 private law 148, 209–210, 274–278 Privatrecht 20–24, 32–33, 39, 49–50, 209–210, 240–242, 274–278 Privatrechtstheorie – deontologische 274–278, 293 – utilitaristische (siehe ökonomische Analyse des Rechts) Professor (siehe Universitätsjuristen in England) Promotion (siehe auch Dissertation) 153, 158, 159 Ramismus 79–80, 103 Rationalisierung des Rechts 1–3, 4, 20, 162, 206, 220–221, 243, 249, 257–272 Rationalismus 1–2, 71–72 reading 150 Recht – Autonomie gegenüber anderen Kulturerscheinungen 110–111 – Autorität 267 – Funktion 29, 272 – als Gestaltungsinstrument der Herrschenden 37 – Gewohnheitsrecht 116, 146 – materielles 135–141, 147–149 – und Moral 29, 219, 259, 261–262, 263– 264, 267–268 – als Produkt des menschlichen Geistes 291 – subjektives 51–52, 56–57, 116, 147, 207–208, 273, 277–278, 279–281 – als Weltdeutung 62 Rechtfertigung (siehe auch Begründung; justification) 251–252, 275–278 Rechtsanwalt 141–144, 152, 153 Rechtsdogmatik – Bedeutungsverlust 32 – Begriff 28 – Denkformen 39–69 – Entwicklungsphasen 27–28 – Funktion 28–30, 38 – Geschichte 30–39 – und Gesetzesauslegung 34, 53–54 – und Gesetzgebung 39, 43–44, 49 – und juristische Entscheidungsfindung 29–30, 33, 35, 38, 66

Sachverzeichnis – – – –

Kritik 30–31 Langlebigkeit 30, 33 als Rechtsquelle 36, 45–46 ontologischer Status dogmatischer Aussagen 35–38, 55 – Wertungswiderspruch 35, 59–60, 69 Rechtsentwicklung 127–128 Rechtsfortbildung – durch die Gerichte 38 – durch die Rechtswissenschaft 149 Rechtsfortwirkungsgedanke 59 Rechtsgebiet 40–44, 47, 69, 259 Rechtsgelehrter (siehe Universitätsjuristen in England) Rechtsgeschichte – deutsche 30–39 – englische 72–100, 123–128, 115–116, 135–156 – europäische 1, 8–9 – römische 123–128, 128–135 Rechtshonoratioren (siehe auch Juristenstand) 11, 122–124, 129 Rechtsinstitut 45 Rechtslehre an englischen Universitäten – Anfänge 93–94, 151–152 – Bedeutungszuwachs 22, 153 Rechtsmentalität (siehe auch Mentalität) 21–22, 111–118 – Begriff 22, 113 – deutsche 112–113 – englische 22, 115–118, 236–238, 239– 240 – Mentalitätsschichten 115 – in der Rechtsvergleichung 7, 17–19, 114–115 Rechtsmissbrauch 281 Rechtsnihilismus 222, 283 Rechtspositivismus – in Deutschland 37–38 – in England 14, 116–117, 237–238, 263 Rechtsprechung und Rechtswissenschaft – Kooperation 16–17, 33, 38, 149, 154– 156, 183–185 – Opposition 153, 187–188, 201, 240, 293 – Rationalitätskontrolle 220 Rechtsprinzip (siehe Prinzip) Rechtsrationalität 1–9, 270 Rechtsrealismus 224, 267, 278–279, 293

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Rechtsscheinhaftung 48–49 Rechtsschöpfung 27–28 Rechtssicherheit 117, 150–151, 152 Rechtssprache 168, 205 Rechtsstoff – Ordnung 1, 17, 42–44, 146, 161–163, 205–207 – Reduktion 28 Rechtssubjekt 56 Rechtssystem (siehe System) Rechtstransplantat 10, 160 Rechtsvereinheitlichung 9, 32 Rechtsvergleichung – zum Bereicherungsrecht 182, 194–195 – Dichotomie von common law und civil law 9–20 – Geschichte 6–8, 9 – Methode 19–20, 24–26 – und Nationalcharakter 11, 101–102, 106–108 – Rechtskreislehre 9–10 – und Rechtskulturschutz 19 Rechtsverhältnis 50–51, 276 Rechtswissenschaft, deutsche – Bedeutung der Rechtsdogmatik 30–35 – Eigenständigkeit gegenüber anderen Disziplinen 32 – und Gesetzgebung 149 – und Rechtsprechung 33, 38, 149 – Wissenschaftscharakter 32, 33 Rechtswissenschaft, englische – Aufgabe 152–153, 154–155, 161–163, 219–212, 240–241, 255, 261, 264, 292 – Eigenständigkeit gegenüber anderen Disziplinen 240–241, 248, 266–267, 278–279 – Fehlen 4, 18, 149 – Generationenkonflikt 20–21, 23–24, 239–240, 283–284 – Manipulation des Fallrechts 230–231, 245–246, 271 – Methodendiskussion 23, 162–163, 203–209, 218–221, 222–238, 241–242, 243–281, 291–293 – und Rechtsprechung 151–156, 183– 185, 187–188 – systematische Tradition 16, 21, 71– 100, 168, 207 Rechtswissenschaft, europäische 1, 3, 8–9

336

Sachverzeichnis

recoupment 164 regulae iuris 75–76, 124–125, 134 remedy 85, 147, 208, 217, 234, 243–244, 280 response (siehe auch causative event) 190, 208, 216–217 restatement 239–240 Rezeption des römischen Rechts – in Deutschland 1, 42–43, 45, 53, 149 – in England 15–16, 72, 75, 85–86, 92– 93, 160–161, 207 Richter (siehe auch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft) – Autorität 138, 149–151, 238 – Ordnung des englischen Rechts durch Richter 146 Richterrecht 95–96, 116, 117, 137–141, 153–156, 257–259 rights-based analysis 23, 242, 272–281, 284–289 rights-based ethics 273 römisches Recht (siehe auch ius commune) – ius civile und ius honorarium 126–127, 131–132 – klassisches und justinianisches Recht 3, 121–122 – materielles Recht und Prozessrecht 125–126, 130 – Systematisierung des klassischen Rechts 132–135 Sachverhaltsobsession englischer Juristen 18, 111, 128, 139, 233 salvage 164, 214 schottisches Recht 206 Schulenbildung 158–159, 162–164, 221– 222, 239–241 Schwurgericht (siehe jury) Skeptizismus 72–73 Sozialisation 111–112 Sparsamkeit bei der juristischen Begriffsbildung 62–63 Studium der Rechtswissenschaft (siehe auch Juristenausbildung) 11, 111, 113, 151, 153 subrogation 164 Subsumtion 62–63 swap 183, 185–186 System

– – – – – – – –

äußeres 35, 40, 43 Begriff 35 Begriffssystem 55–58 inneres, 40, 58–59 Prinzipiensystem 58–61 als Rechtsquelle 27–28, 35–38, 65–66 Vollständigkeit 36, 37 der subjektiven Rechte 86, 88–89, 134– 135, 207–217 – Systembildung 39, 55–61 Szientismus 95–96, 99, 225–226 taxonomy (siehe auch Kartierung des Rechts) 205–238, 241–242, 243–257 – Funktion 203, 205–206, 218–220, 245, 248–249, 250, 251 – und juristische Entscheidungsfindung 219, 221, 231–236, 247–248, 249–252, 256–257 – Kritik 222–238 – rechtfertigende Wirkung 249–250, 251–252, 254, 256–257 – taxonomy debate 222–238, 245–257 – Vorbild in der Biologie 204–205, 225– 226 – Testament 63 – Testierfreiheit 46 textbook (siehe Lehrbuch) top-down approach 257 trespass 142, 145 trover 144, 145 trust (siehe auch fiduciary obligations; law of trusts) – constructive 165, 167, 178–179, 181, 184–185 – express 179–180 – implied 179–180 – resulting 178–181, 187–188, 198–199, 226 Theorie – interpretative 49–50 – Konstruktionstheorie 66–67 – Theoriebildung, interpretative 261– 262, 264–269 – keine fremddisziplinären Begründungen 266–267 – Kohärenz 268–269, 271–272 – moralische Überzeugungskraft der Theorie 267–268

Sachverzeichnis – Übereinstimmung der Theorie mit dem Recht 265–266, 271 – Ziel 264, 271–272 Überschneidung – von Begriffen 168, 208 – von forms of action 85 – von Rechtsgebieten 41, 174, 204, 228, 253 – von Rechtsinstituten 242, 288 Übersichtlichkeit 29, 55–56, 88, 205–207 unconscionability 218–219, 234–236 Universität 11, 22, 93, 108–109, 111, 151–152 Universitätsjuristen in England – geringes Ansehen 151–153 – Mentalitätswandel 23–24, 163–164, 239–242, 260–261, 291–293 – Zurückhaltung mit Kritik an der Rechtsprechung 14, 117, 150, 237–238 unjust enrichment, principle of (siehe auch Bereicherungsrecht) 155–156, 167, 169, 172–173, 183–184 Unterlassung 98 Unterscheidung – zwischen primary rights und secondary rights 86, 174–175, 213–214, 215–216 – zwischen rights in rem und rights in personam 210–212 – zwischen Vertrag und Delikt 213, 229 Urteilsgründe 7–8, 151, 231–233, 266– 267 USA 7, 241, 273–274, 293 Utilitarismus 91–92, 105, 273 Verbot, lebende Autoren zu zitieren 152– 153, 154 Vereinfachung des Rechts 2, 28–29, 168, 197–198, 220–221, 285–286 Vernunftrecht 42–43, 89–90 Versicherungsvertrag 64

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Vertrag – atypischer 65 – Vertragsbruch 145, 184, 213, 229, 231– 232 – Vertragsübernahme 64–65 Vertragsrecht 64–65, 137–138, 145–146, 234, 281 Vertrauenshaftung 48–49 Verfügung 52 Viersäftelehre 103, 268 Volksgeist 108 Vorlesung 87–88, 93, 150 Vorverständnis 25–26 Wertung 28, 29, 34–35, 40, 44, 58 Wertungsjurisprudenz 34, 58 Wertungswiderspruch 35, 59–60, 69 Willenserklärung 54 Willkür 30, 208–209, 236, 240 Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft 31–33, 225–226 writ (siehe auch aktionenrechtliches Denken) 125, 136, 141–142, 148 wrongs (siehe auch law of restitution; law of torts) – acquisitive 173–175, 192–193 – Begriff 213–214, 280–281 – Einteilung 84–85, 97, 289–290 – Vielgestaltigkeit 231–232 Zeitschrift, juristische 153, 182 Zitierpraxis englischer Gerichte 152, 154 Zitierverbot (siehe Verbot, lebende Autoren zu zitieren) Zusammenhang – zwischen Rechtsgebieten 69, 197, 205 – zwischen Rechtsnormen 28, 40, 45–46, 55, 58–59 Zweck 44, 53–54, 62, 274–275 Zweckmäßigkeitserwägung 5, 66–67

Personenverzeichnis

Personenverzeichnis Personenverzeichnis Alexy, Robert 29, 30, 38 Althusius, Johannes 42, 56, 79–80, 81 Anson, William 93 Aristoteles 104, 133, 274–275, 277 Arnold, Matthew 105 Atiyah, Patrick 7–9, 152–153, 167, 222, 284 Atkin, James (Lord Atkin) 146, 282 Austin, John 92–93, 140, 147, 168, 171, 174, 210, 213, 215

Bacon, Francis 73–78, 80, 82, 87, 89, 94, 100 Bagshaw, Roderick 222, 271–272, 280– 281, 284, 285, 288 Baker, John 72, 103, 141 Ballerstedt, Kurt 44 Beatson, Jack 157–158, 182 Beever, Allan 243, 244, 245, 270–271, 272, 284 Bentham, Jeremy 71, 91–92 Berkeley, George 71 Birks, Peter 156, 157–164, 168–184, 187– 201, 203–228, 230–232, 234, 235–237, 238, 240, 244, 245, 247, 249, 250–251, 255, 256, 260, 272, 280, 285, 289, 291, 292, 295, 296, 298 Blackstone, William 16, 21, 87–91, 100, 105, 147, 149, 207, 218, 220, 221–222, 230, 255 Bohannan, Paul 24 Bourdieu, Pierre 112 Boyle, Robert 104 Bracton, Henry de 16 Brand, Paul 72, 141 Braudel, Fernand 113–114 Braun, Alexandra 16–17 Browne-Wilkonson, Nicolas (Lord Browne-Wilkinson) 186, 187–188

Brunner, Heinrich 93 Bryce, James 93, 123 Büchner, Georg 25 Bumke, Christian 30, 38, 39 Burrows, Andrew 157, 158, 162, 182, 187, 239–240 Burton, Robert 102–104 Bydlinski, Franz 34, 35, 38, 40 Campbell, David 223 Canaris, Claus-Wilhelm 29, 38, 44, 48– 49, 58, 64–65, 66, 67 Cane, Peter 248–249, 252 Chambers, Robert 159 Cohen, Felix 224 Coke, Edward (Chief Justice Coke) 77–78, 80, 82, 103–104, 152 Collins, Hugh 222 Conte, Carmine 258, 261, 270 Cooke, Robin (Lord Cooke) 235 Cujas, Jacques 105 Dagan, Hanoch 224, 225 Dannemann, Gerhard 182 Darwin, Charles 204–205, 207 Dedek, Helge 112 Denning, Alfred (Lord Denning) 156, 173 Descartes, René 71, 72, 76 Descheemaeker, Eric 159, 240, 244, 289– 290 Dicey, Albert Venn 209 Dietrich, Joachim 224–225, 230, 234, 235–236 Diplock, Kenneth (Lord Diplock) 146, 156 Donellus, Hugo 86 Donne, John 104 Dowland, John 104 du Plessis, Jacques 182

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Personenverzeichnis

Dworkin, Ronald 241, 252, 258–260, 262–264, 267–268, 273

Ibbetson, David 141, 283 Iulianus, Salvius 129

Edward I., King of England 136, 146 Egerton, Thomas (Baron Ellesmere) 103– 104 Ellesmere, Baron siehe Egerton, Thomas Erskine, John 206 Esser, Josef 12, 14, 30

Jaffey, Peter 249–251 Jansen, Nils 28 Jensen, Darryn 245 Jhering, Rudolf von 3, 27–29, 30–31, 33, 34, 36, 46, 51, 52, 62–63, 64, 93, 274 Jones, Gareth 155–156, 161, 164, 167– 168, 170, 172–173, 175, 178, 214

Fikentscher, Wolfgang 12, 27, 31, 43, 140 Finch, Heneage (Lord Nottingham) 146 Finch, Henry 78–82, 83, 85, 86, 87, 100 Finn, Paul 162, 209, 227, 235 Fleming, John 283 Florio, John 73 Freedland, Mark 222 Gaius 130, 134–135, 160, 207, 211, 213, 214, 218 Galligan, Denis 222 Gardner, John 267 Geertz, Clifford 21, 25, 26, 62, 110, 114 Gerber, Karl Friedrich von 27 Gierke, Otto von 93 Giglio, Francesco 182 Goff, Robert (Lord Goff) 154–156, 161, 164, 167–168, 170, 172–173, 175, 178, 183, 186–187, 214, 220 Goudkamp, James 240, 244, 290–291 Green, Leslie 267 Gummow, William 162, 227, 235 Hale, Matthew 16, 21, 82–86, 87, 88–89, 90, 100, 104, 147, 148, 213, 218 Halley, Edmond 104 Hammond, Grant 209 Heck, Philipp 31, 33, 37, 54, 58, 66–67 Hedley, Steve 223, 225, 231, 269, 270 Henry II., King of England 136 Henry III., King of England 142 Henry VIII., King of England 146 Hepple, Bob 222, 283–284 Herder, Johann Gottfried 108 Hobbes, Thomas 83 Hohfeld, Wesley Newcomb 241, 279– 280, 284, 287 Holland, Thomas Erskine 100 Hume, David 45, 71

Kant, Immanuel 35, 50, 277–278 Kelsen, Hans 37 Kirby, Michael 227 Kohler, Josef 68 Kötz, Hein 10–12, 13–15, 17, 24, 38, 43, 71–72, 107 Krebs, Thomas 182 Labeo, Antistius 130 Larenz, Karl 49–50, 54 Lawson, Frederick 5–6, 8, 211 Legrand, Pierre 17–20, 26, 71–72, 107, 108, 109, 110, 112, 113, 299 Lehane, John 162, 227 Linné, Carl von 204, 207, 226 Littleton, Thomas 78, 148, 152 Locke, John 71 Low, Kelvin 226 Lucy, William 261 Luhmann, Niklas 110 Mackenzie, George 206 Mackie, John 273 Macmillan, Hugh (Lord Macmillan) 106, 282 Maine, Henry James Sumner 90, 93 Maitland, Frederic William 93, 94, 136, 148 Mann, Katia siehe Pringsheim, Katharina Mann, Thomas 120 Mansfield, Lord siehe Murray, William Markby, William 93 Markesinis, Basil 9 Mason, Anthony 227 Matthews, Paul 233 McBride, Nicolas 222, 239–240, 271– 272, 279, 280–281, 284, 285, 288 McEldowney, John 209

Personenverzeichnis McFarlane, Ben 204, 245, 281 McKendrick, Ewan 158, 249, 256 McMeel, Gerard 203, 260 Meagher, Roderick 162, 227 Meier, Sonja 182, 194–195 Mill, John Stuart 71, 105 Milsom, Stroud Francis Charles 136, 137, 141 Mitchell, Charles 159 Mitteis, Ludwig 121 Montaigne, Michel de 72–73 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de 105 Mucius Scaevola pontifex 133 Murray, William (Lord Mansfield) 146 Neratius Priscus 134 Neuberger, David (Lord Neuberger) 245 Newton, Isaac 104 Neyers, Jason 239–240, 241, 243, 281 Nolan, Donal 243, 279–280, 281 Nottingham, Earl of siehe Finch, Heneage Nozick, Robert 273 Palmer, Robert 141 Panofsky, Erwin 112 Papinianus, Aemilius 129 Paulus, Iulius 132, 134 Pollock, Frederick 93, 94–99, 100, 136, 207, 283 Postema, Gerald 219, 245 Pothier, Robert-Joseph 93, 211 Pretto-Sakmann, Arianna 159 Pringsheim, Fritz 120–123, 124, 127, 128 Pringsheim, Katharina (Katia Mann) 120 Puchta, Georg Friedrich 27, 30–31, 36, 56–57, 218 Pufendorf, Samuel von 50 Rabel, Ernst 107 Radbruch, Gustav 106–107 Radley-Gardner, Oliver 93, 94 Ramus, Petrus 42, 78–79 Rawls, John 271, 273 Raz, Joseph 267 Rheinstein, Max 6–7, 8 Rickett, Charles 183, 221–222, 239 Rinkes, Jac 211

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Robertson, Andrew 243, 245, 270, 279– 280 Rodger, Alan (Lord Rodger) 157 Rudden, Bernard 13, 211 Ruskola, Teemu 24 Sabinus, Massurius 132, 134 Samuel, Geoffrey 108, 211, 225–226, 233 Savigny, Friedrich Carl von 27, 45–46, 50, 51, 53, 55, 92, 93, 99–100, 107–108, 110 Schlechtriem, Peter 182 Schmidt, Karsten 39 Schröder, Jan 8, 45 Schulz, Fritz 128–129, 132, 133 Sellin, Volker 114 Servius Sulpicius Rufus 133 Shakespeare, William 104 Sherwin, Emily 251–252, 256 Simpson, Brian 151 Smith, Lionel 159, 183 Smith, Stephen 183, 239–240, 243, 245, 254–256, 264–270, 272, 278, 279, 280, 281 Stair, James Dalrymple of 206 Stapleton, Jane 283 Stevens, David 241 Stevens, Robert 158, 239–240, 243, 244, 269–270, 272, 280–281, 284–289 Stoll, Heinrich 54 Stolleis, Michael 32 Stürner, Rolf 31, 32 Summers, Robert 7, 8–9 Swadling, William 159, 245 Taine, Hippolyte 106 Tettenborn, Andrew 211 Thibaut, Anton Friedrich Justus 92–93 Tilbury, Michael 224–225 Tuhr, Andreas von 52 Ulpianus, Domitius 129, 132 van Caenegem, Raoul 72 Vangerow, Karl Adolf von 93 Virgo, Graham 159, 182 Vogenauer, Stefan 14, 33, 115, 153 Waddams, Stephen 227–233, 254 Waldron, Jeremy 273

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Personenverzeichnis

Webb, Charlie 252–254, 256, 271 Weber, Max 1–6, 8, 11, 122, 124, 126, 220–221, 270, 299 Weinrib, Ernest 241, 274–279 Weir, Tony 14, 15, 106, 222, 283 Wieacker, Franz 1, 99, 107, 130 Wolf, Erik 56

Wolff, Christian 50 Worthington, Sarah 159 Wright, Robert (Lord Wright) 172–173 Zakrzewski, Rafal 159, 243–244 Zimmermann, Reinhard 15–16, 182 Zweigert, Konrad 10–12, 15, 17, 107