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German Pages 239 [240] Year 2002
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Recht und Sprache in der deutschen Aufklärung
Herausgegeben von Ulrich Kronauer und Jörn Garber
Max Niemeyer Verlag Tübingen
Wissenschaftlicher Beirat: Karol Bai, Manfred Beetz, Jörn Garber, Notker Hammerstein, Hans-Hermann Hartwich, Andreas Kleinert, Gabriela Lehmann-Carli, Klaus Luig, François Moureau, Monika Neugebauer-Wölk, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Hinrich Rüping, Richard Saage, Gerhard Sauder, Jochen Schlobach, Heiner Schnelling, Udo Sträter, Heinz Thoma Redaktion: Sigrid Buthmann Satz: Kornelia Grün
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufiiahme Recht und Sprache in der deutschen Aufklärung / hrsg. von Ulrich Kronauer und Jörn Garber. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung; 14) ISBN 3-484-81014-9
ISSN 0948-6070
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
JÖRN GARBER/ULRICH KRONAUER: E i n l e i t u n g
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REINHART KOSELLECK: Begriffliche Innovationen der
Aufklärungssprache
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AXEL BÜHLER: Zum Anwendungsproblem in der juristischen
Hermeneutik der Aufklärung
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ANDREAS GARDT: Das rationalistische Konzept der Fachsprache: Gottfried Wilhelm Leibniz
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ULRIKE HASS-ZUMKEHR: Spiegelungen der Rechtssprache
in der Lexikographie
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ANDREAS GÖRGEN: Aufklärerische Tendenzen in der Gesetzessprache der frühen Neuzeit
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MICHAEL WIECZORREK: Stil und Status. Juristisches Schreiben im 18. Jahrhundert
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PETER KÖNIG: Idiomate patrio dicitur: die Stellung deutscher Rechtsausdrücke in Christian Wolffs Jus Naturae
113
DANIEL KROCHMALNIK: Mendelssohns Begriff .Zeremonialgesetz' und der europäische Antizeremonialismus. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung
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VI Minderheiten in Rechtstexten und Reformkonzepten der Aufklärungsepoche
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Terminologische Neuerungen in Kants Völkerrechtstheorie und ihre Konsequenzen
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Territoriales Recht und Rechtswörterbuch. Das Beispiel Osnabrück
193
Begriff, Hypothese, Faktum. Christoph Martin Wielands kulturalistische Kritik am Natur- und Staatsrecht
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Personenregister
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ULRICH KRONAUER:
ULRICH THIELE:
KARL H . L . WELKER:
JÖRN GARBER:
Einleitung
Vom 28. bis 30. Januar 1998 fand in Heidelberg in den Räumen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine Tagung zu dem Thema „Recht und Sprache in der deutschen Aufklärung" statt. Veranstaltet wurde die Tagung von dem Deutschen Rechtswörterbuch, einer Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, und von dem Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Bei dieser Tagung ging es darum, eine Epoche in den Blick zu nehmen, die für die Erforschung der deutschen Rechtssprache von besonderer Bedeutung ist. Am Anfang des Jahrhunderts steht die Generalinstruktion der Brandenburgischen Societät der Wissenschaften vom 11. Juli 1700. Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, kündigt an, er wolle die Bemühung um die „uhralte teutsche Haubtsprache in ihrer natürlichen, anständigen Reinigkeit und Selbststand" erneuern. In den „Kantzleyen, Regierungen, Collégien und Gerichten" sollen „gute teutsche Redarten" verwendet und aus den Archiven und Registraturen sowie „aus denen Provintzen" vergessene oder weitgehend unbekannte Wörter gesammelt werden, in denen ein Schatz des teutschen Alterthumbs, auch deren Rechte und Gewohnheiten Unserer Vorfahren, theils zu ErkäntnUss der UhrsprUnge und Historien, theils auch zu Erleuterung heutiger hohen und anderen Rechte, Gewohn- und Angelegenheiten verborgen stecket.1
Das Engagement des Kurfürsten für die deutsche Rechtssprache, das Gottfried Wilhelm Leibniz, der Mitverfasser der Instruktion, geteilt hat, führte nicht zu konkreten Unternehmungen. Es erschien aber im 18. Jahrhundert eine Reihe bedeutender Nachschlagewerke, die auch heute noch für die Arbeit am Deutschen Rechtswörterbuch genutzt werden. Zu nennen sind etwa Thomas Haymes Allgemeines Teutsches Juristisches Lexikon von 1738, das Glossarium Germanicum medii aevi von Christian Gottlob Haltaus, das 1758 erschienen ist, und Georg Stephan Wiesands Juristisches Hand-Buch von 1762. Bereits 1694 war die erste Auflage von Johann Christoph Nehrings Historisch-Politisch-Juristischem Lexicon erschienen. Ein Schwerpunkt der Tagung lag dann auch auf der Beschäftigung mit Wörterbüchern der Epoche (Haß-Zumkehr, Welker) sowie mit der .juristischen Schreibart" (Wieczorrek). Unter terminologischen Einzelaspekten wurden, als große Repräsentanten der Aufklärung, Kant, Mendelssohn und Wolff behandelt (Thiele, 1
Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. Π. Berlin 1900, S. 107.
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Einleitung
Krochmalnik, König), als Vertreter eines rationalistischen Konzepts der Fachsprachen kam Leibniz zu Wort (Gardt). Aufklärerische Tendenzen bereits in der Gesetzessprache der frühen Neuzeit wurden nachgewiesen (Görgen), das Bild von Juden und „Zigeunern" in der Rechtssprache und in Reformkonzepten der Aufklärung wurde beleuchtet (Kronauer), am Beispiel Wielands wurde die Transposition der Rechtsterminologie in literarische Texte verdeutlicht (Garber). Schließlich war ein Vortrag der juristischen Hermeneutik der Aufklärung gewidmet (Bühler). Es versteht sich, daß die Tagung „Recht und Sprache in der deutschen Aufklärung" ihr Thema nicht erschöpfen konnte oder wollte. Dennoch ist es nicht nur der beschränkten Zeit zuzuschreiben, daß zentrale Personen und Texte der Aufklärung nicht präsent waren. Christian Thomasius beispielsweise oder auch das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten (1794) waren als Vortragsthemen eingeplant, die Vorträge konnten dann aber doch nicht realisiert werden. Den Festvortrag über „begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache" hielt Reinhart Koselleck in der Alten Aula der Universität. Dort befindet sich über dem Rednerpult das Gemälde von Ferdinand Keller, das den Einzug der Pallas Athene in die Stadt Ruprechts I. darstellt. Unter anderen sieht man auf diesem Gemälde Samuel Pufendorf, einen der Väter der Aufklärung, der von 1661 bis 1670 Naturund Völkerrecht in Heidelberg lehrte. In Pufendorfs berühmter Schrift De officio hominis et civis iuxta legem naturalem (Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur) ist das zehnte Kapitel des ersten Buches der „Pflicht beim Gebrauch der Sprache" gewidmet. Schon der erste Paragraph dieser Schrift macht deutlich, welch große Bedeutung die Aufklärer der Sprache, nicht zuletzt in bezug auf rechtliche Verhältnisse, zugesprochen haben: Ein wie nützliches und geradezu notwendiges Mittel der menschlichen Gesellschaft die Sprache darstellt, weiß ein jeder. Denn viele folgern allein aus dieser Fähigkeit, daß der Mensch von Natur aus dazu bestimmt ist, ein Leben in der Gesellschaft zu fuhren. In bezug auf den rechtmäßigen und für die menschliche Gesellschaft nützlichen Gebrauch der Sprache schreibt das Naturrecht folgende Regel vor: Niemand darf den anderen durch den Gebrauch der Sprache oder anderer Zeichen, die dazu dienen, Gedanken auszudrücken, täuschen. (Übersetzung Klaus Luig)
In Pufendorfs Ausführungen zeichnet sich das Ideal einer Transparenz menschlicher und gesellschaftlicher Beziehungen ab, das für die Aufklärung symptomatisch ist. Uns mag der Gedanke, die Verpflichtung zur Aufrichtigkeit oder Wahrhaftigkeit sei im Naturrecht begründet, kurios vorkommen. Das Idealbild einer Gesellschaft, in der sich die Menschen .unverstellt' zueinander verhalten, übt aber gleichwohl immer noch Faszination und Irritation aus. Noch ein Hinweis in eigener Sache sei erlaubt. Die Entwicklung in den Techniken der Datenverarbeitung hat inzwischen dazu geführt, daß die Arbeit am Deutschen Rechtswörterbuch ihrerseits sehr an Transparenz gewonnen hat. Der Leser dieses Bandes kann sich davon überzeugen, wenn er die Homepage des Wörterbuchs (DRW) im Internet aufsucht: http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw.
Einleitung
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Dort findet er bereits einen Ausschnitt dessen, was in absehbarer Zukunft insgesamt der Öffentlichkeit zur Verfugung stehen wird. Im Moment werden, parallel zu den Arbeiten an den neuen Wortstrecken, die bis zum Buchstaben R gediehen sind, die alten Bände des Wörterbuchs digitalisiert, und damit wird der vollständige Text des Wörterbuchs mit verschiedensten Recherchemöglichkeiten ins Netz gestellt. In welcher Weise sich diese Möglichkeiten fur die begriffsgeschichtliche Arbeit nutzen lassen, soll ein Beispiel verdeutlichen. Es ist inzwischen möglich, für eine bestimmte Wortstrecke die Erstbelegungen des DRW-Archivs zu recherchieren, soweit sie nach 1700 datieren. Damit kommt das bereits erwähnte „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten" wieder in den Blick, dessen Autoren überaus sprachbewußt und auch innovativ waren. Unter den Erstbelegungen findet sich, neben anderen, das Wort „Offenlegung", bezogen auf den Vermögenszustand (II 18 § 407). Dieses Rechtswort, das, wie es der Zufall will, ebenfalls auf Transparenz hindeutet, ist weder in den Wörterbüchern von Adelung und Campe zu finden noch im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm. Abschließend sei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herzlich gedankt fur die großzügige Unterstützung bei der Ausrichtung und Durchführung der Tagung sowie bei der Drucklegung des Tagungsbandes. Heidelberg/Halle im Sommer 2001
Ulrich Kronauer/Jörn Garber
REINHART KOSELLECK
(Bielefeld)
Begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache Festvortrag Donnerstag, 29.01.1998 Liebe Gastgeber und liebe Gäste, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen. Da die Konferenz sich vorzüglich auf rechtssprachliche Aspekte bezieht, angefangen vom Deutschen Rechtswörterbuch bis zu den Geschichtlichen Grundbegriffen (die ich hier wohl nennen darf, weil zahlreiche juristische Termini darin behandelt werden), möchte ich mit einem Rechtstext beginnen. Er lautet: Verbot des Badens an öffentlichen Orten. Auf geschehene Anzeige, dass der so geschärften und alljährlich verkündet werdenden Verordnung zuwider verschiedene Personen, besonders aber Kinder bei hellem Tage mit Beiseitsetzung aller Schamhaftigkeit nächst der Stadt und an öffentlichen Spaziergängen in dem Neckar baden, dadurch aber nicht allein dem ganzen Publikum Ärgerniß gegeben wird, sondern auch der Gefahr des Ertrinkens sich aussetzen, wird dieser Unfüg abermals aufs nachdrucksamste untersagt, besonders aber den Eltern ihre Kinder davon abzuhalten, um so mehr eingeschärft, als die diesem Verbot zuwider handelnden entweder mit einer Geldstrafe von 3 Rthlr., oder, nach Befund der Umstände mit einer verhältnismäßigen Arreststrafe belegt, den jungen Knaben aber von dem Polizeidiener ihre Kleider bis aufs Hemde und Hosen hinweggenommen und so mit Schlägen fort und nach Hause getrieben werden sollen. Heidelberg den 14ten Juni 1806.'
Nun, wer nach der Aufklärungssprache fragt2 und diesen Text gelesen oder gehört hat, der weiß zunächst einmal: heute steht da ein Schild „Baden verboten", und alles andere fallt weg. Insofern ist der sprachliche Befund, der hier vorgelesen wurde und auch nachlesbar ist, sicher älter als unser heutiger Sprachgebrauch. Hinzu kommt die pädagogisch-didaktische Begründung mit einer gestaffelten Strafverordnungsdrohung und mit einem sehr vage umschriebenen Ort. Denn wo am Neckar nächst dieser Stadt und auf welchen Spaziergängen dieses Verbot ausgesprochen wird, geht aus dem Text nicht hervor. Ist also dieser Text überhaupt der Aufklärungssprache zuzuordnen? Von der Argumentation her gehört er in die Tradition patriarchalischer Herrschaft. Der Text könnte so wahrscheinlich schon im 17. Jahrhundert auftauchen ich kenne nicht die ältere Heidelberger Rechtsverordnungs- und Polizeigesetzge-
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Heidelbergs noch geltende Polizei-Gesetze, von dem Jahre 1800 bis zum Ende des Jahrs 1806, gesammelt und mit einem dreifachen Register versehen von W. Deurer. Heidelberg 1807, S. 74 - Umlaute modernisiert. Die folgenden Überlegungen fußen auf einer Tonbandnachschrift, und sie gründen auf den einschlägigen Artikeln des Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe, wobei ich mit besonderem Dank auf den soliden Beitrag des verstorbenen Horst Stuke zur „Aufklärung" verweisen möchte.
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bung - , vom Duktus her ist er nicht spezifisch aufklärerisch, aber von der Stillage her ist er schon vergleichsweise elegant. Denn es handelt sich um einen einzigen Satz, wie ihn - freilich kunstvoller - auch Kleist formuliert haben könnte. Und in einem Satz ist der Gedanke schon so zusammengefaßt, daß sich die Elastizität und Eleganz eines Feuerbach oder Savigny und anderer juristischer Sprachkönner zumindest abzeichnet. Kleist wird gern als Romantiker definiert, wenn diese Art der Klassifikation überhaupt abgefragt wird, und nicht als Aufklärer. Insofern ist dieser Text, wenn er der Aufklärungssprache zuzuordnen wäre, es nur deshalb, weil er didaktisch ist und belehrend, bevormundend und philanthropisch. D.h. ein gewisser Satz von Kriterien, die der Aufklärungssprache zugeordnet werden, taucht darin auf. Wir können freilich nicht davon ausgehen, daß sich die Aufklärungssprache in dieser didaktischen und pädagogischen Argumentationslinie von oben nach unten erschöpft. Vielmehr - wenn wir etwa an Kant denken - ist es der Überschritt aus der Heteronomie in die Autonomie, der die Sprache leiten müßte, und genau dieser Überschritt wird hier vermieden, indem die Polizei die Leute nur mit Zwangsmaßnahmen und Strafdrohungen aufmuntert, nicht zu baden oder die Schamhaftigkeit der Zuschauer zu verletzen. Wenn man also den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, als Kriterium der Aufklärungssprache ernst nimmt, ist es kein Aufklärungstext. Wir stehen mithin vor dem Paradox, daß ein Text sowohl aufklärungssprachlich gedeutet werden kann wie auch nicht. Was also tun? Das methodische Problem liegt darin, daß wir uns - wenn wir so weiterfragen - nicht an die jeweilige Semantik einzelner Definitionen halten dürfen. Deshalb schlage ich vor, und das werde ich jetzt versuchen zu tun, ,semantische Potentiale' abzutasten aus den verschiedenen Sprachgebräuchen der Grundbegriffe, die im 18. Jahrhundert verwendet worden oder aufgetaucht sind. So fragen wir zunächst nach dem Begriff von .Aufklärung' selber. Der Begriff einer Aufklärung selber, wie er sich als .Aufklärung' überhaupt erst um 1780 abzeichnet, ist als solcher innovativ. Wenn wir also begriffliche Innovationen der Aufklärungssprache erfragen, soll uns die Leitfrage nach der Begriffsgeschichte von Aufklärung etwas helfen. Vor der Mitte des 18. Jahrhunderts taucht dieser Begriff nur sporadisch auf, so daß alle Periodenbestimmungen, die das 18. Jahrhundert inhaltlich als Zeitalter der Aufklärung definieren, nur rückwirkende oder Ex-post-Defmitionen sind. So erinnert die Eule der Minerva, die um 1780 flattert, rückgreifend an Thomasius, Leibniz wird natürlich einbezogen - und selbstverständlich Pufendorf. Aber das sind Ex-post-Konstruktionen, der erste Wortbeleg von .Aufklärung des Verstandes' ist schon bei Stieler in einem Lexikon Ende des 17. Jahrhunderts zu finden, nur völlig unspezifisch; das taucht mal auf, aber gehört nicht zur Selbstbezeichnung all derer, die vor 1780 gelebt haben. - Es gibt freilich schon eine französisch formulierte Überlegung von Leibniz über éclaircissement' und ,éclairer', um vernünftig fortschreitende Erhellungen zu um-
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Reinhart
Koselleck
reißen, die mit Argumenten vorgetragen werden sollen und die auch schon einer Theorie des Fortschritts dienen, und die dann rückwirkend, wie gesagt, zum Zeitalter der Aufklärung zusammengefaßt wurde. Dann geht es schnell weiter, daß die sogenannten Aufklärungen ausgreifen. Der Rückgriff reicht bis in das Altertum. Wieland z.B. kennt die Aufklärung in der Antike, die Aufklärung im Mittelalter - für einige weniger, für andere mehr - , es folgt natürlich die Aufklärung durch die Reformation, und dann gibt es die Aufklärung zur eigenen Zeit. Und die wird durchaus nicht positiver oder produktiver als die der Reformation gedeutet. Wir stehen also vor einem elastisch-diachronen, vor einem ausgedehnten Feld, das sich jeder Systematik entzieht, und jede Systematik, die darübergestülpt wird, entbehrt nicht einer gewissen Ex-post-Willkür, mit der man die Aufklärung nach Schulrichtungen ordnet. Es ist also ein plurivalenter Begriff. Und im 19. Jahrhundert, das darf hinzugefugt werden, ist die diachrone Epochenbezeichnung - besser: die Periodenbezeichnung des 18. Jahrhunderts als eines aufgeklärten Jahrhunderts - bereits außer Gebrauch gekommen. Also das, was Cassirer oder Wieacker heute zum Zeitalter der Aufklärung lehrbuchartig feststellen, war um Mitte des 19. Jahrhunderts so nicht mehr bekannt. Droysen, Biedermann und Hettner - um drei bekannte, große Literatur-Historiker und theoretische Denker zu nennen - setzten den Begriff der Aufklärung in Gänsefußchen und haben sie „sogenannt" genannt, weil sie davon ausgingen, daß die sogenannte Aufklärung als Begriff nicht bekannt war. Je konkreter wir die jeweiligen Definitionen ins Auge fassen, desto mehr verschwimmt die allgemeine Kontur: Nach vorne und hinten beliebig verlängerbar, von den Sophisten bis zur Studentenrevolte 1968. Der Begriff .Aufklärung' ist überall anwendbar geworden, er ruft systematische Überlegungen hervor, die gleichzeitige Parallelbegriffe provoziert haben; also das Zeitalter der Aufklärung ist begleitet vom Zeitalter der Kritik, vom Zeitalter Friedrichs, vom Zeitalter der Vernunft, später vom Zeitalter der Emanzipation, der Säkularisation, der Befreiung, der Selbstbestimmung, der Entzauberung - bei Max Weber etwa - , und was dergleichen Ergänzungs- und Korrelationsbegriffe sind. Auch die Gegenbegriffe sind entsprechend variabel und unendlich elastisch. Zum Beispiel dienen ,Romantik',,Finsternis', .Reaktion', sogar .Religion' als Gegenbegriffe der Aufklärung, ,Offenbarungsgläubigkeit' auch; im Politischen: der .Despotismus', die .Tyrannei',,Reformblockade' (nicht gerade,Reformstau' - aber auch das wird wahrscheinlich antiaufklärerisch verwendet werden -), .Entmündigung', Bevormundung' - kurzum, die Variationsbreite auch der Gegenbegriffe ist so elastisch wie die Skala der Aufklärungsbegrifflichkeit. - Und wenn man sich nach Schulen orientieren wollte, dann sind es die Rationalisten, die Empiristen, die Materialisten, die Sensualisten - sie alle können sich zu den Schulen der Aufklärung zählen. Das heißt, auch hier gibt es keine exakte Zuordnung. Wir fragen also
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deswegen nach dem semantischen Potential der Begriffe, die im 18. Jahrhundert im sogenannten Zeitalter der „sogenannten Aufklärung" auftauchen, nach sprachlichen Hinweisen - nicht nach Einzelbelegen. Und in Anbetracht der hier anwesenden Kompetenz der Fachleute, die mir semantisch wahrscheinlich jeden Beleg widerlegen oder überbieten können, ziehe ich mich zurück auf eine Metafrage: indem ich das semantische Potential der damaligen Sprachgebräuche und der damaligen Begriffe als solches thematisiere. Damit unterlaufen wir all die kategorialen Zuordnungen ex post und untersuchen entlang der sprachlichen Emanation der Begriffe, wie sie im 18. Jahrhundert und vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts auftauchen, welche semantischen Möglichkeiten damit freigesetzt wurden. Die Semantik und die Pragmatik der Wortgebräuche richten sich in dieser Perspektive nicht nach ideologisch präformierten oder tradierten Sprechergruppen. Interessanterweise ist schon der Ausdruck ,die Aufklärer' als Personalbestimmung vergleichsweise selten; eher spricht man von den Philosophen, vor allem in Frankreich spricht man von ,les philosophes', wenn man Aufklärer meint im Sinne personalisierbarer Sprecher, die die Aufklärungssprache gleichsam in die Welt gesetzt hätten. Alle Teilhaber solcher Sprechergruppen unterlaufe ich in meinem Vortrag. Sowohl ethnisch wie politisch, sozial, religiös oder sonstwie überlappen sich die aufgeklärten Sprechergruppen, so wie sich herkunftsmäßig sowohl Professoren wie Adlige, Gelehrte, Kaufleute, Beamte oder Fürsten, Kleriker oder Bischöfe zu den Aufklärern rechnen durften, so daß auch eine prosopographische Zuordnung keine exaktere Begrifflichkeit herbeiführt. Man kann also die Vermutung aufstellen, daß sich der Wandel der Bedeutungsräume und der syntaktischen Spielräume nicht entlang den Sprechergruppen vollzieht. Sprechergruppen finden sich schnell und ebenso länger zusammenkommende Gruppierungen, aber die Sprache, die sie verwenden, ist schon eine Vorgabe, von der sie abhängen. Sprachgebräuche ändern sich langsamer, als die Wahrnehmung der Sprecher vielleicht registrieren kann. Das heißt, die Sprachgeschichte läßt sich von den Sprechergruppen ablösen - theoretisch zumindest - , so daß wir davon ausgehen müssen, daß sich die verwendete Sprache und der Bedeutungswandel der Worte zu den Interessen der Sprecher nicht wie Eins zu Eins verhalten. Die Sprache - besonders deren Grundbegriffe, ohne die überhaupt kein Verstehenshaushalt möglich ist - ändert sich in anderen Rhythmen und im ganzen langsamer, als die politischen Ereignisse der Beteiligten abrollen, die sprachlich auf sie einwirken, oder der ideologischen Programmatiker, die bestimmte Schlagworte benutzen oder provozieren. Deren Wortverwendimg ist nicht identisch mit der schleichenden, langsamen semantischen Verschiebung des Potentials, was ich eben als innovativ selber charakterisieren möchte. Kurzum, die politisch-soziale Semantik ist ohne Sprechergruppen und Sprecherinteressen nicht erklärbar, aber sie läßt sich nicht zur Gänze aus den aktuellen und jeweiligen Sprecherkonstellationen ableiten. Sprachwandel und Begriffswan-
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Reinhart Koselleck
del initiieren zugleich mehr und anderes, als die Sprecher selber unmittelbar wahrnehmen und wahrhaben konnten. Sie bedienen sich der Sprache ja oft sehr naiv und spontan, und Sprecher sind nicht immer reflektierte Definitionskünstler. Die Verwendung der Begriffe, von denen wir jetzt sprechen werden, entspricht nicht nur gesteuerter Sprachtaktik, sondern es handelt sich um Vorgänge, um schleichende Vorgänge, die zum Bewußtsein kommen, und das oft zufallig. Schon unser Begriff ,Aufklärung' selbst taucht zwar als Aufklärung des Verstandes auf (im Stieler, wie vorhin gesagt, im Lexikon), aber es gibt lange keine Definitionen, wie sie Kant oder Mendelssohn getroffen haben, die durch ein Preisausschreiben, wie Sie wissen, dazu evoziert worden sind. Also wir fragen nach Innovationen anläßlich der Aufklärungssprache. Dabei werde ich zunächst zwei bekannte Topoi diskutieren. Erstens: „Si Dieu n'existe pas, il faudrait l'inventer" - „Wenn Gott nicht existierte, müßte man ihn erfinden!" Dieser Topos von Voltaire wird gerne zitiert, um die Souveränität des Menschen zu apostrophieren, die im 18. Jahrhundert freigesetzt worden sei, indem sich der Mensch von Religion und Metaphysik emanzipiert habe. Der Mensch verfüge auch über die Position Gottes und könne sie nach Bedarf, etwa aus Gründen sozialer Steuerung, argumentativ besetzen. Der Glaube an Gott ist kein theologisch begründetes Vorgebot mehr, er sei allenthalben nützlich oder modern gesprochen: ideologisch fungibel. Lassen sie mich gleich das zweite Diktum hinzufügen, das heute ebenso gern zitiert wird, um die im 18. Jahrhundert gewonnene Selbstbestimmung des Menschen, zumindest theoretisch, zu kennzeichnen. „Wie ist eine Geschichte a priori möglich?", fragte Kant. Und er antwortete: „Wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündet." Der Mensch sei oder werde fähig, so folgert man gerne aus dieser Kant-Passage, seine Geschichte planmäßig zu veranstalten, selber zu machen. Beide Interpretationen, hier verkürzt vorgetragen, gehören offensichtlich zusammen: Wenn Gott nicht mehr Herr dieser Welt ist, der auf unvorhersehbare Weise in den Alltag eingreift, sondern höchstens eine Denkfigur, dann tritt der Mensch an seine Stelle - er wird zum Erdengott und damit fähig, seine Geschichte vernunftgemäß zu steuern. Wer sich früher auf Gott berief und dessen Vorsehung, der konnte sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf die Geschichte berufen, auf die Weltgeschichte der Menschen, die vom Plan zur Wirklichkeit fortschreitend zunehmend ihre Freiheit realisieren. Und wer sich auf den Boden dieser - hier geistesgeschichtlichen - Interpretationen stellt, wird auch die Folgerung ziehen können, daß das 18. Jahrhundert so etwas wie eine Epoche oder Periode der Aufklärung gewesen sei. Eine Epoche, sei es im Sinne eines Wendepunkts oder einer Schwelle, oder sei es im Sinne einer abgeschlossenen Periode, wonach die Moderne - unsere Geschichte - begonnen habe, in der sich der Mensch ohne Rekurs auf außer- oder übermenschliche Gewalten in dieser seiner Welt einzurichten trachtet. Im Sinne einer ideologischen Wirkungsgeschichte der Aufklärung hat diese Deutung Voltaires und Kants als zweier
Begriffliche Innovationen der Λ uflclärungssprache
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geistiger Exponenten des 18. Jahrhunderts sogar einige Plausibilität für sich. Das Mißliche dieser Deutung ist nur, daß sie nicht stimmt. Beide schlagwortartig verwendeten Zitate meinten damals etwas anderes, als wir heute in ihnen finden. Voltaires Hinweis, wenn nötig Gott zu erfinden, war eine Suggestivformel. Gottes Existenz war ihm als Deisten unbestreitbar - ein Axiom. Die ganze Natur verweise auf dieses höchste Wesen, in dessen Abhängigkeit wir leben, so Voltaire. Er muß sein, für Voltaire. Seine Formel war ein deistisches Postulat - wenn man so will, eine Art subjektiver Gottesbeweis; und nicht ein Postulat, um ideologiekritisch damit hausieren zu gehen. Herbert Dieckmann hat gezeigt, wie tief eingelassen in die gesamte Aufklärungsphilosophie die Fragen blieben, die die christliche Theologie gestellt hat, und die die Aufklärer neu zu beantworten suchten - also Fragen nach der Existenz der Seele, dem Fortleben der Seele nach dem Tod, nach der Erbsünde und dem Bösen, nach Freiheit und Notwendigkeit; kurzum alle Theologoumena, die von den Theologen bereits beantwortet waren, wurden neu formuliert, umformuliert und versuchsweise mit neuen Antworten bedacht. Das gilt auch für Kant; sogar für das zitierte Diktum. Es dient ihm nicht als Beweis für die Machbarkeit der Geschichte. Vielmehr ist es, ähnlich Voltaires Diktum, halb ironisch gemeint. Der Mensch, der die Begebenheiten herbeiführt, die er vorhersagt, ist der ängstliche Politiker, der das Volk fürchtet und deshalb die Revolutionen hervorruft, die er vermeiden will. Oder es ist der Untergangsprophet, der seine Visionen wider Willen realisieren hilft, indem er sie beschwört. Eine Art negative ,selffulfilling prophecy'. Wenn also hier Geschichte gemacht wird - Kant spricht vorsichtshalber von,Begebenheiten' und nicht von .Geschichte' - , dann im entgegengesetzten Sinne als geplant. Es ist eine Art Dialektik der Vernunft, wenn Sie so wollen, die Kant damit umschrieben hat. Politisch richtet sich Kant hier gegen die Machthaber im Staat und in der Kirche, aber die Machbarkeit der Geschichte hat er damit nicht begründen wollen. Es gibt andere Stellen in Kants Werken, aus denen eine Art Machbarkeit der Geschichte ableitbar ist. Der Einblick in den Kontext nötigt uns also hier, zwei bekannte Fanfaren der Aufklärung zu dämpfen. Die Textstellen sind zurückhaltender und ambivalenter, als sie schlagwortartig ex post gelesen werden. Hören wir also zunächst noch einmal auf die eingangs genannten Auslegungen der dicta von der Erfindung Gottes und von der Machbarkeit der Geschichte. Beide Auslegungen stammen aus dem 19. Jahrhundert. Sie setzen den Tod Gottes bereits voraus, so daß eine neue Lesart erfunden werden konnte - als menschliche Projektion gedeutet, was Voltaire völlig ferngelegen hatte. Und sie rekurrieren auf eine Geschichte, deren Produzierbarkeit, deren Machbarkeit erst oder nur transzendental-philosophisch gedacht werden konnte: nach Kant durch Kant initiiert. Aber beide Deutungen werden zwei Texten entlockt, die zunächst die Möglichkeit einer solchen Auslegung freigegeben haben, zumindest konnten die Autoren in
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Reinhart Koselleck
dieser Richtung gelesen werden. Eine schlichte Gegenfrage erhärtet diese Vermutung. Beide Wendungen wären im 17. Jahrhundert unfaßbar, nicht formulierbar gewesen. Denn beide Wendungen gründen auf der anthropologischen Voraussetzung, daß der Mensch die ihm innewohnende Bestimmung habe, mündig, autonom zu werden, wenn er es noch nicht ist. Die von fremden Autoritäten freie vernünftige Selbstbestimmung ist eine implizite Voraussetzung dafür, die Konstruierbarkeit Gottes oder die Herstellbarkeit der Geschichte zu konzipieren, denkmöglich zu machen. Das ist der semantische Vorgang, der durch den Text hindurch reicht ein semantisches Potential, wie ich es bezeichnen möchte, ein Potential, das nicht in der reinen Intention der Autoren aufgeht. Und dieses semantische Potential ist es, was uns im weiteren Argumentationszusammenhang interessieren soll. Wenn man die ironischen Waffen- und Tarntechniken in Rechnung stellt, kraft derer die Aufklärer wirken mußten oder wollten, so gewinnen unsere beiden dicta von Voltaire und Kant sogar einen hintergründigen Sinn, der sich sprachlich vielleicht als der eigentlich innovative herausstellen mag; jedenfalls als etwas, was sprachlich erst möglich geworden ist und so vorher noch nicht aussagbar war. Ich frage nun im zweiten Durchgang in zwei Argumentationsschritten: erstens nach dem Innovationspotential, das in dem Begriff,Aufklärung' selbst enthalten ist, um dann - zweitens - die daraus gewonnenen Kriterien auf die übrigen Grundbegriffe des Aufklärungszeitalters zu übertragen, um zu sehen, ob dieses Innovationspotential nicht nur zufallig am Aufklärungsbegriff hängt, sondern seitdem generalisierbar und allgemein verwendbar geworden ist. Ich nenne sechs Kriterien, an denen man den Begriff der Aufklärung auf sein semantisches Potential hin lesen kann. Sie haben teilweise hypothetischen Charakter, aber lassen sich zum großen Teil verifizieren. Erstens handelt es sich um einen Epochenbegriff, der Innovationen selber zu begreifen erheischt. Es ist also eine einmalige Ausprägung, kein beliebiger Epochenbegriff, vor allem keiner, der - wie bisher - nur ex post und rückblickend Ereignis und Deutung zusammenfassen würde. Sondern die Prägung hat selbst einen aktiven Anteil daran, wie er sich als eigener Epochenbegriff definiert. Die Neuheit der eigenen Zeit, der eigenen Generation wird als solche thematisiert und im eigenen Land, wo die Leute so reden und sich als aufgeklärt definieren, sich als Neuheit begreifen. Die Renaissance hat als Epochenbegriff drei Jahrhunderte gebraucht, bevor sie Mitte des 16. Jahrhunderts auf diesen ihren Begriff gebracht wurde. Und die Reformation, die ja zunächst ein theologischer und juristischer Institutionsbegriff war, ist erst nach hundert Jahren als historischer Periodenbegriff verwendet worden. Luther selbst hat sich dagegen gesträubt, denn, wie Sie wissen, lebte er in Erwartung des Jüngsten Gerichtes und hat gar nicht daran gedacht, die Reformation als einen Periodenbegriff in die Zukunft hochzurechnen; das war jenseits seiner Vorstellung. Das heißt, die Reformation als Periodenbegriff ist erst hundert Jahre später definiert worden. Die Aufklärung hat als Epochenbegriff sofort das eigene Zeitalter aus der Aktion selbst heraus
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zu begreifen versucht, und zwar gleichzeitig als einen Begriff, der nicht nur die eigene Zeit, sondern der schon die kommende Zeit mit erfaßt. Denn die Aufklärung hat ja die Aufgabe, in die Zukunft hinein Aufklärung voranzutragen, voranzutreiben und insofern eine neue Zukunft zu erschließen. Es wird also eine Schwelle definiert, die überschritten werden muß, indem man Aufklärung betreibt, oder um Kultur und Gesellschaft im Sinne der Aufklärung zu beeinflussen, zu erziehen oder zu leiten, oder zu geleiten, oder zu inspirieren, jedenfalls um den Weg der Menschheit in die Humanität, in die Freiheit und dergleichen zu bahnen. Insofern ist diese Aufklärung ein geschichtlicher Reflexionsbegriff, der die eigene Zeit nicht nur im selbstverständlichen Sinne als neu definiert, wie jede eigene Zeit als neu begriffen werden kann im Unterschied zu früher. Das ist eine überkommene Opposition, die ganz geläufig blieb: heute - früher, neu - alt. Neuheit wird jetzt erstmalig als initiativ, als erschließend, als aktiv, als zukunftoffen definiert. Die rhetorische Überschußbedeutung wird noch einmal überboten. Sie wird in der zeitlichen Abfolge singularisiert. Insofern bereitet die Aufklärung semantisch das vor, was erst im 19. Jahrhundert „Neuzeit" genannt wird. Der (deutsche) Begriff „Neuzeit" stammt erst aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vorher gab es ihn noch nicht. Zweites Kriterium. Aufklärung teilt mit zahlreichen anderen Grundbegriffen, daß das Substantiv aus einem Verb hervorgeht, aus einem Tätigkeitswort abgeleitet worden ist. Das gilt für viele Begriffe, ist an sich nicht spezifisch für das 18. Jahrhundert, aber es bezeugt die Zeugungskraft der Sprache. Man erinnere sich nur an ,Bildung', das von ,bilden' kommt - wie auch ,Bild' von .bilden' - und so an .Vernunft' von ,vernehmen', ,Bund' von .verbinden' und dergleichen. Also im Ganzen gehen verbale Handlungstermini den substantivischen Begriffen voraus, aber erst durch die Substantivierung werden die Begriffe theoriefahig. Das Interessante am Aufklärungsbegriff ist nun folgendes: daß diese Transposition aus einem Tätigkeits- und Handlungsbegriff, nämlich .aufzuklären', fortwirkt in der substantivischen Ausformung des Begriffs. Er rührt von .aufklären' her: Das ist der metaphorische Hintergrund, der zunächst meteorologisch gedacht war, daß die Sonne aufzieht und Morgenröte sich lichtet und Helligkeit ausstrahlt und damit metaphorisch auch eine erfreuliche Zukunft hervorlockt. - Oder militärisch meint Aufklärung das Rekognizieren, wobei Handlungsanweisungen aus der Analyse der Feindlage abgeleitet werden, um erfolgreich wirken zu können. Diese militärische oder meteorologische Hintergrundbedeutung spielt in die Metaphorik hinein, die die Tätigkeitsmerkmale des Aufklärungsbegriffs zu verstehen helfen. Er ist sowohl ein intransitiver wie ein transitiver Handlungsbegriff, und je nach dem metaphorischen Segment, aus dem man es ableitet, ist auch das neue Substantiv intransitiv oder transitiv zu lesen: Aufklärung, die sich selbst vollzieht (meteorologisch), und Aufklärung, die vollzogen wird (militärisch).
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Übrigens ist der Ausdruck ,Aufklärung' auch als Wort neu - er ist nicht nur ein neuer Begriff, sondern ist als Wort erst im späten 17. Jahrhundert und im 18. Jahrhundert entstanden, im Unterschied zu dem französischen „les lumières", das ein Pluralbegriff von vielen Lichtern war, die gleichsam solange die französische Sprache existiert, leuchten konnten im Unterschied zum singularen Aufklärungsbegriff, der nur diachron und historisch und ideengeschichtlich in die Gnostik und die Neuplatonik zurückverweist. Insofern unterscheidet sich Aufklärung auch von den Nachbarbegriffen, und ebenso von dem Nachbarbegriff, der im deutschen Sprachhaushalt des 18. Jahrhunderts sehr häufig auftritt, nämlich von .Erleuchtung' - was ja ungefähr die Übersetzung von ,les lumières', bzw. von .enlightenment' sein könnte (ein englischer Begriff, der erst später, im 19. Jahrhundert, für .Aufklärung' aus dem Deutschen abgeleitet worden ist, aber der Wortbedeutung nach .Erleuchtung' meint). Dieser Begriff »Erleuchtung' dominierte anfangs, ist aber im Deutschen zurückgedrängt worden wegen seiner pietistischen Konnotationen. Denn als .Erleuchtung' blieb sie stark theologisch imprägniert. Und genau um diese Bedeutungsvariante zu vermeiden - so steht zu vermuten - , ist .Aufklärung' im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts besonders stark geworden, gewann also zumindest eine antitheologische Komponente. Aber kehren wir nun zurück von den Inhaltsbestimmungen zu der Erneuerungsträchtigkeit. Man darf also sagen, daß von der semantischen Struktur her .Aufklärung' ein Handlungsbegriff ist, insofern er eine Dynamisierung auf den Begriff gebracht hat, die vom Verb in das Substantiv einging. Es ist nicht mehr die Stetigkeit des vorgegebenen .lumen naturale', das überall in jede dunkle Ecke leuchten kann, sondern der Begriff gewinnt die Vorbedeutung der Aufklärung als eines Prozesses, als einer Tätigkeit, als Vollzug und als Verzeitlichung, die die Aufklärung in Aktion versetzt. Daraus folgt jedenfalls ein zeitlicher Veränderungsfaktor, der mit der Aufklärung mitgedacht wird. Und das ist die Definition, die, wie Sie wissen, von Kant stammt, daß nämlich Aufklärung nicht ein Ergebnis ist, sondern immer der Vollzug dessen, was Aufklärung erst erreichen soll. Ergebnis wäre eigentlich die Aufgeklärtheit. Aber der Begriff .Aufgeklärtheit' wurde im deutschen Sprachgebrauch durch .Aufklärung' ersetzt. Kant hat sich ausdrücklich, wie Sie wissen werden, dagegen gewendet; sie ist fur ihn ein Vollzugsbegriff, der Aufgeklärtheit als Ziel bestimmt, während der Vollzugsbegriff selber .Aufklärung' lautet. Daraus folgt ein drittes Merkmal. Aufklärung ist nicht nur inchoativ und innovativ im Hinblick auf die übrigen geschichtlichen Perioden, indem sie sich selbst als ein Neues produzierendes Zeitalter begreifen will. Sondern Aufklärung ist auch ein Handlungsbegriff, der eine ihm einwohnende temporale Binnenstruktur hat. Der Begriff selbst hat eine temporale Binnenstruktur, die sich nicht auf einen statischen Zustand reduzieren läßt. Mit dem Begriff wird eine Spannung erzeugt, die voraussetzt oder verlangt, daß es nicht nur wie eh und je Wandel gibt, sondern daß dieser Wandel gewollt und in eine bestimmte Richtung gebracht wird. Jeder
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Schritt, einen Sachverhalt oder eine Stimmungslage, ein Problem oder einen Konflikt oder sonst etwas zu analysieren, zu lösen, zu erklären, fordert immer den nächsten Schritt heraus, der die zwangsläufigen Reste und Folgelasten erneut aufzuklären erheischt. Es handelt sich also um eine Art von rekurrentem, dynamisiertem, verzeitlichtem Begriff, der in den alten europäischen Sprachen vor dem Fortschrittsgedanken sprachlich gar nicht denkbar war. .Aufklärung' ist im Fortschrittsbegriff angelegt. Fortschritt besteht darin, daß er immer weiterschreiten muß, um überhaupt Fortschritt sein zu können. Die temporale Binnenstruktur des Aufklärungsbegriffs, sowohl repetitiv zu sein - Aufklärung kommt nie an ihr Ende - wie auch diachron, nämlich auf ein Ziel gerichtet zu sein, das kein Zurück mehr zuläßt, das zeichnet diesen Begriff aus. Nun können Sie sich schon hochrechnen, daß dieser Begriff zahlreiche ähnliche Begriffe induziert hat, auf die ich im Schlußteil meines Vortrages zu sprechen komme. Ohne die selbstreflexive und ohne die zeitliche Komponente, die mehr als nur eine Periodisierung bietet, sondern eine Handlungsdimension eröffnet, ist die Theoriefahigkeit der .Aufklärung' gar nicht denkbar. Die Theoriefahigkeit dieses Begriffs liegt in seiner temporalen Binnenstruktur beschlossen. Und das führt uns auf ein viertes Kriterium - daß sie nämlich auch Ideologie produziert. Viertens: Im Sprachgebrauch der Aufklärer gibt es zahlreiche Verwendungen, die von einer wahren oder falschen Aufklärung zeugen, von einer ganzen oder halben, von einer echten oder unwahren, von einer wirklichen oder eingebildeten. Es gibt eine Fülle von derartigen selbstkritischen oder polemischen Oppositionen, die der Aufklärungsbegriff selber aus sich hervorgetrieben hat. Es sind Binnenoppositionen, denn sie unterscheiden sich selbstredend von der schlichten und traditionalen Opposition ,Licht gegen Finsternis'. Das ist die alte dualistische Formel, die im 18. Jahrhundert zur Vokabel der Propaganda gerinnt. Aber daß die Aufklärung selbst wahre oder falsche Aufklärung sein kann, halbe und schlechte, oder richtige und ganze - das ist bereits eine begriffsimmanente Aufspaltung, die später auf den Begriff der Dialektik der Aufklärung gebracht worden ist. Es ist nun diese binnenaufklärerische Opposition, die Ideologie produziert. Das läßt sich an einem Beispiel sehr schön erläutern. Es gibt die bekannte und strittige Ableitung der Französischen Revolution: ist sie auf die Aufklärung zurückzufuhren oder nicht? Die Revolutionäre selbst haben sich mit Stolz immer wieder darauf berufen, daß sie die Aufklärer seien, die die Revolution initiiert hätten. Aber ebenso wurde es eine konservative Theorie, besonders des Abbé Barruel, daß die Aufklärer finstere Verschwörer seien, die die Revolution inszeniert hätten. Strukturell handelt es sich um dieselbe, nämlich um eine kausale und intentionale Erklärung, die nur verschieden bewertet wird. Die Revolutionäre haben sich immer auch als Aufklärer verstanden. Es wäre absurd, diese Selbstdeutung nicht erst einmal ernstzunehmen. Das heißt aber, wenn die Revolution zeitgemäß aus der Aufklärung abgeleitet wird, dann entsteht die genannte immanente Doppeldeutigkeit:
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ist die ganze Revolution, inklusive des Terrors, aus der Aufklärung ableitbar, oder nur die halbe? Reicht die Aufklärung nur bis zur konstitutionellen Monarchie, die aufgeklärt sei, und ruft dann im Terror ihr Gegenteil hervor? Oder ist der Terror ebenso Folge der Aufklärung? Je nach politischer Perspektive wird die Aufklärung so oder so ideologisch besetzbar. Daraus entsteht im 19. Jahrhundert ein Dauerbrenner der Revolutionstheorien, die immer wieder fragen: war nun die ganze oder nur die halbe Aufklärung für die Revolution zuständig? War der Terror von Übel, dann war es nur die halbe Aufklärung gewesen, sie ist nicht weit genug gediehen, sonst wäre der Terror nicht passiert. Oder man sagt: die Aufklärung hat diesen Terror notwendigerweise produziert. Dann ist die ganze Aufklärung eine schlechte, eine falsche Aufklärung gewesen. Wie immer man es dreht, der Aufklärungsbegriff immunisiert sich, er behält immer Recht. Ob ich ihn nun mit einem ,halb' oder ,ganz' versehe: je nach dem, was mir paßt, benutze ich diese oder jene Variante. Das heißt, der Begriff stellt immer schon die Möglichkeit verschiedener Applikationen zur Verfugung, indem er sowohl ganz wahr, halb wahr, halb falsch oder ganz falsch sein kann, echt oder unecht usw. Das heißt, diese Binnenopposition, die der Begriff aus sich hervortreibt, produziert eo ipso ideologische Verdächtigungen und die entsprechenden Entlarvungstechniken. Und je mehr ich verdächtige, desto mehr muß ich wiederum aufklären, damit die Ideologie entlarvt werden kann. Diese temporalen Repetitionsstrukturen, die aus der Binnenopposition von ganz oder halb, von echt oder unecht entstehen, möchte ich vorschlagen, selbst als Ideologie zu bezeichnen. Sie ruft eine ständige Ideologisierbarkeit hervor, die mit der sogenannten Dialektik der Aufklärung nur einen neuen Namen erhalten hat. Früher war sie nicht einmal innerhalb theologischer Diskurse denkbar, und ebensowenig im Hinblick auf die Praxis des politischen und sozialen Lebens. Daß das schon von Zeitgenossen so gesehen wurde, läßt sich bei Wieland belegen. 1793, als der Terror die provokative Testfrage an die Aufklärer auslöste, fand er folgende definitorische Antwort: „Die Epoke der höchsten Aufklärung [war] [...].immer diejenige [...], worin alle Arten von Spekulation, Wahnsinn und praktischer Schwärmerei am stärksten im Schwange gingen." Es ist freilich eine Aufklärungsbestimmung, die bei Wieland, der nach den Schulkategorien ein klassischer Aufklärer war, am wenigsten erwartet werden mochte. Aber er benutzt eine Definition der .höchsten' Aufklärung, um den Terror aus der ganzen Aufklärung ableiten zu können und nicht auf eine falsche oder halbe Aufklärung zurückfuhren zu müssen. Wie er später schrieb: „Die Kunst, uns selbst zu belügen" sei immer mehr verfeinert worden. Das wäre das aufgeklärte Ideologie-Kriterium des Aufklärungsbegriffs. Damit komme ich zu einem nächsten Kriterium. Ich darf noch hinzufügen, daß das Ideologie-Kriterium die Selbstreflexivität des Begriffs voraussetzt, und insofern auch die Theoretisierbarkeit des Begriffs darin enthalten ist.
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Das finfte Kriterium ist relativ einfach zu erklären. Der Begriff wurde in dem Augenblick, wo er zum Modebegriff wurde, wo er sich also durchsetzte, unentrinnbar. Man konnte auf den Aufklärungsbegriff seit 1780 nicht mehr verzichten. Er war seitdem unersetzbar - auf Kosten der Parallelbegriffe, die zurückgedrängt wurden. .Erleuchtung' war noch zu theologisch, und ,Kritik' war schon zu eng. Aber im selben Moment, als .Aufklärung' unaustauschbar wurde, in dem selben Augenblick wurde .Aufklärung' strittig. Diese Verschränkung, unentrinnbar, aber deshalb auch umstritten zu werden, gehört nicht nur zur Aufklärungssprache. Es ist vielmehr eine semantische und pragmatische Regel: in demselben Augenblick, wo Grundbegriffe entstehen, auf die man nicht verzichten kann, werden diese Begriffe strittig. Das heißt, es ist ein Kriterium aller Grundbegriffe, ohne die man nicht denken kann, daß sie eo ipso streitbar sind und strittig werden. Und das passiert nun mit dem Aufklärungsbegriff um 1780, nicht vorher. Damit hätten wir ein Kriterium, das unabhängig davon gilt, ob .Aufklärung' religiös, naturalistisch, atheistisch, idealistisch, materialistisch, romantisch oder klassisch oder sonstwie angereichert wird. Denn alle Sprechergruppen, auch die Theologen, auch der katholische Klerus, verwenden den Aufklärungsbegriff durchaus positiv, d.h. fur sich selbst. Es ist ja nicht so, daß dieser Begriff, nachdem er einmal unentrinnbar wurde, ein Monopol derer blieb, die man ex post als Aufklärer in einem emphatischen Sinne definiert. Sondern die Sprache war in einen Sog geraten, daß man ohne Aufklärungsargumente gar nicht mehr auskam, gleich ob jemand rechts, links, oben, unten, in der Mitte oder sonst wo stand. In diesem Befund ist ein sechstes Kriterium enthalten, daß nämlich .Aufklärung' auch ein Kollektivsingular ist. Auch das ist nicht spezifisch, bleibt aber doch von Interesse, weil er die Summe vieler möglicher verschiedener Aufklärungsakte und -schritte in sich zusammen bündelt. Und das sieht man im Sprachgebrauch deutlich: Die Aufklärung des Landvolks, der Bürger, des Adels, der Fürsten, der Gewerbetreibenden, der Landwirte, der Ökonomen, des ganzen Volkes, der Gesellschaft - alles kann aufgeklärt werden, je segmentar oder alles zugleich. Das regulative Prinzip, Segmente zusammenzubündeln, daß alle von der Aufklärung erfaßt werden sollen, entspricht einem dynamischen System, das entfesselt werden soll. Das kann mit dem Kollektivsingular einer „Aufklärung schlechthin" bezeichnet werden, und das im Unterschied zum französischen Sprachgebrauch, der wie immer sehr viel empirischer bleibt. ,Les lumières' ist einer der Pluralbegriffe, die wie auch ,les progrès' bei Condorcet im Französischen häufig auftauchen und nie diesen aktivistischen und systematischen Kollektivsingular herbeizwingen wie bei uns. - Und das ist auch fur die Rechtssprache erheblich, rechtserheblich, weil die Depersonalisierung der Herrschaft, wie sie seit dem 18. Jahrhundert gedacht wird, bis hin zur Möglichkeit, eine Gesellschaft ohne Herrschaft überhaupt zu entwerfen, von Kollektivsingularen abhängt, die alle konkreten Bestimmungen in sich aufhe-
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ben. Aus dem .Oberhaupt im Staat' wird der ,Staat überhaupt*. So läßt sich Herrschaft entpersonalisieren, und dieser Kollektivsingular birgt als semantisches Potential die Voraussetzung dafür, die Rechts-Staatslehre des 19. Jahrhunderts entfalten und verstehen zu können. Ich habe also sechs Kriterien genannt, die auf allgemeine und formalisierbare semantische Potentiale verweisen: Da entsteht ein Epochenbegriff, der nicht zurückblickt, sondern Selbstbezeichnungen zur eigenen Zeit enthält, ferner ein Tätigkeitsbegriff, ein dynamischer Handlungsbegriff mit einer temporalen Binnenstruktur, die zudem Ideologisierbarkeit und Ideologieträchtigkeit hervortreibt, und schließlich die Strittigkeit eines Grundbegriffs, der als Kollektivsingular notwendig wird - denn ich muß an ihm teilhaben, wenn ich mich verständlich machen will. All das gilt nun zweifellos bis 1800 fur unseren Begriff der Aufklärung. Bevor ich zum Schlußteil komme, möchte ich zwei historische Hinweise einschieben, die sich auf den deutschen Sprachgebrauch beziehen, also empirienah bleiben. Die erste These lautet, daß die deutsche Aufklärung religiös bleibt. Es ist geradezu ein Kriterium der deutschen Aufklärung, daß sie grundsätzlich religiös bleibt. Die französische Aufklärungssprache ist antikirchlich, anti-staatskirchlich, weil die französische Staatskirche quasi ein Monopol der Intoleranz hatte. Im Streit gegen die Sorbonne, die theologischen Fakultäten, gegen die Zensur und noch gegen Inquisitionsgerichte war und blieb die französische Aufklärung eo ipso unduldsam anti-kirchlich und anti-theologisch. Im Deutschland des 18. Jahrhunderts, als die Konfessionen ja paritätisch organisiert waren und zu einer Art von Ausgleich institutionell gedrängt wurden, ist diese Aufklärung von vornherein eine überkonfessionelle Aufklärung, die sich nicht anti-staatlich oder anti-kirchlich begreift, sondern über-kirchlich, und damit auch religiös. Der neue Begriff .Religiosität' entsteht damals nicht zufallig. Und das führt zu einer zweiten historischen Bemerkung: daß nämlich der Aufklärungsbegriff zu schnell ausfranste oder abstarb, um generell akzeptabel zu bleiben. Hegel sprach bei aller Anerkennung schon von der inhaltslosen Kahlheit der „Aufklärerei", und Leo sprach von „Aufkläricht", und die ideologiekritischen Varianten wurden sehr schnell zu Schlagworten, die dazu führten, daß Droysen Aufklärung in Anführungsstriche setzten mußte. Dieser Verfall ist darauf zurückzuführen, daß inzwischen ein Begriff geprägt wurde, der sehr viel konsistenter das emanzipatorische Postulat der Aufklärung im deutschen Sprachhaushalt einlöste, nämlich der Bildungsbegriff. Wer davon ausgeht, daß heteronome Bedingungen in autonome Selbstbestimmung überführt werden sollen, dem legt sich nahe, mit dem Bildungsbegriff weiterzuarbeiten. Denn .Aufklärung' hieß immer auch die Aufklärung von außen und von oben mitdenken. Erst Selbstaufklärung führt zur Bildung. Und Bildung ist eo ipso Selbstbildung. Und dieser Begriff, wie er um 1800 auftaucht, ist immer transitiv und intransitiv zugleich zu denken - Bildung ist sowohl
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Selbstbildung wie Bildung zugleich aktiv nach außen gerichtet, Gesellschaft, Staat, Volk, Nation und sonstiges erfaßt und gestaltet. Ein interessanter Fall, wo die Selbstbildung besonders wirksam wird, liegt darin, daß der anthropologische Grundentwurf, den man theoriegeschichtlich der Aufklärung zuordnen darf, mit dem Bildungsbegriff weit besser eingelöst wird. Wenn die Erfüllung des Menschen in der Zweigeschlechtlichkeit zu suchen und zu finden ist, dann gehört die geschlechtliche Differenz zur Selbstverständigung derer, die sich bilden wollen oder gebildet wissen. Die Anerkennung im und durch den anderen wird zum Element der Selbstbildung. Diese in der sogenannten Romantik gewonnene Bedeutung ist eine Konsequenz aus der anthropologischen Aufklärung. Sofern ein Mensch sich als autonom und selbständig begreifen will, muß er auch die Liebe intemalisieren, die sich primär in der Zweigeschlechtlichkeit wiederfinden läßt. Der Aufklärungsbegriff war dazu nicht geeignet. Wir wissen es bis heute: Aufklärung über Sex ist nicht das gleiche wie Liebe. Was die Liebe verspricht und einlösen kann, läßt sich nicht durch Aufklärung über Sex erreichen. Es ist diese Art zwischengeschlechtlicher Selbstbildung, die von der Aufklärungssprache tabuiert blieb. Denn Sinnlichkeit war für die Aufklärungsphilosophie primär ein von oben zu steuernder, zu korrigierender, zu zügelnder und sonstwie zu kontrollierender niederer Trieb, nur ein Teilbereich des menschlichen Daseins, den,Bildung' zur Gänze in die Selbstbildung zu integrieren forderte. Das wären zwei historische Bemerkungen gewesen, die erklärlich machen, warum der Begriff der Aufklärung im Deutschen sowohl dem Religiösen verhaftet blieb wie auch vom Bildungsbegriff abgelöst und überboten werden konnte. Die anthropologisch aufgeklärte Religion sollte in die Selbstverwaltung des Menschen übernommen werden, und insofern reicht die Wirkungsgeschichte dieses spezifisch religiös aufgeklärten deutschen Bildungsbegriffs bis mindestens 1848. Er greift durch alle Hegelschulen mit ihren heilsgeschichtlichen Verheißungen, bis hin zur .Emanzipation des Fleisches' und zur Abschaffung von Herrschaft überhaupt. Damit komme ich zum Schlußteil, um die Übertragbarkeit der AufklärungsKriterien an anderen Beispielen zu erläutern. Bisher wurde der Versuch gemacht, nur solche Aspekte des Aufklärungsbegriffs zu kategorisieren, die semantische Potentiale freisetzten, die am Ende des 18. Jahrhunderts innovativ waren. Wenn diese Kategorien auf den übrigen Sprachgebrauch übertragen werden, dann greift das wie ein Zauberschlüssel, der in Kürze aufzeigen läßt, wie eine Fülle von Begriffen die gleiche Innovationskraft gehabt hat. Und das möchte ich nun an einigen Beispielen zeigen. Zunächst ein Hinweis auf die dynamischen Bewegungsbegriffe. - Als solchen hat ja Kant den Aufklärungsbegriff selber verstanden. - Damit stoßen wir sofort auf unaustauschbare Grundbegriffe, nämlich Geschichte, Fortschritt, Entwicklung, Emanzipation, Revolution und Krise. Diese alle sind zeitlich gerichtete dynamische Bewegungsbegriffe, die in analoge Funktionen eintreten wie die Aufklärung.
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Durch ihre dynamische Repetition soll eine strukturelle Veränderung mit der Zielrichtung in eine offene Zukunft hinein herbeigeführt werden. Im Ganzen stoßen wir auf zeittypische Transformationen vom Verb zum Substantiv. Die Worte fortschreiten' oder .entwickeln' waren alt, .Fortschritt' und Entwicklung' waren neueren Datums. ,Emanzipation' war auch als Wort alt handelte es sich hier schon um einen römisch-rechtlichen Begriff. Aber was sich als neuer Begriff an diesem alten Wort angeheftet hat, den alten Begriff verdrängend, ist folgendes: bei .Emanzipation' wird nicht mehr die repetitive generationsspezifische Möglichkeit emanzipiert zu werden gedacht, sondern zunehmend die autonome Selbstemanzipation, die einen linear in die Zukunft gerichteten irreversiblen Begriff enthält. Dieser geschichtsphilosophische Begriff ist dann nicht mehr von Generation zu Generation wiederholbar, sondern soll eine Befreiung genereller Art herbeiführen. Dabei muß erwähnt werden, daß dieser Emanzipationsbegriff - wie Aufklärung - weithin noch von außen gesteuert blieb. Sehr viele Wortverwendungen enthalten im 19. Jahrhundert noch jenen passiven Emanzipationsbegriff, der aus dem römischen Recht herkommt und so in die Geschichte übertragen wurde. Vor allem bei der Emanzipation der Juden ist völlig klar, daß viele christlich verbrämte Wortverwender von ,Emanzipation' den Juden zumuteten, erst und nur dann emanzipiert zu sein, wenn sie Christen werden, was die neuzeitliche Bedeutung der Emanzipation absurderweise revoziert. Aber das war die häufigste Verwendung eines von außen herangetragenen Emanzipationsbegriffs, der gerade nicht auf die Autonomie jüdischer Eigenständigkeit zielte. Das gilt für sehr viele Sprachgebräuche, die von Humboldt und Hardenberg vielleicht ausgenommen. Aber im Ganzen ist diese von außen und oben noch gesteuerte Emanzipation, die Selbstbildung und Autonomie gerade nicht voraussetzt, der im Deutschen noch dominante Sprachgebrauch von Emanzipation. Für .Geschichte' ist klar, daß sie früher ein Pluralbegriff war, der eine Fülle einzelner Geschichten meinte, und der nun durch die Konvergenz von ,Geschichte' und .Historie' zum Reflexionsbegriff wird. Der neue Begriff führt seit rund 1780 die Bedingungen der Wirklichkeit und die Bedingungen möglicher Geschichten mit den Bedingungen ihrer Erkenntnis zusammen. Die Bedingungen dieser neuen Geschichte und die Bedingungen ihrer Erkenntnis werden auf einen gemeinsamen Begriff gebracht: den der .Geschichte selbst', der .Geschichte überhaupt', und ist, wie er von Köster korrekt definiert worden ist, identisch mit ,Theorie der Geschichte'. Denn Geschichte ohne Subjekt, die ihr eigenes Subjekt wird und Geschichte ohne Objekt, die ihr eigenes Objekt wird, ist ein theoretischer und hochabstrakter Kollektivsingular, der die Bedingungen aller nur möglichen Geschichten im Plural überhaupt erst denkbar macht. Und damit ist dieser eine und neue Begriff ganz zentral geworden, ohne den bis heute die Menschen kaum zu denken und zu argumentieren vermögen, - obwohl er ein theoretisch überan-
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spruchsvoller und deshalb fragwürdiger Begriff ist. Es ist ein Reflexionsbegriff, der analog wie,Aufklärung' nur als Kollektivsingular zu denken ist. Das gleiche gilt - wie schon erwähnt - fur ,Fortschritt'. Er bündelt die Summe einzelner Fortschritte, die im französischen ,les progrès' immer noch additiv und plural gedacht werden, im Deutschen zu einem Kollektivsingular, der wie die ,Aufklärung schlechthin' eine einzige Zielrichtung indiziert und evozieren soll. Besonders deutlich wird das beim Revolutionsbegriff. Der Revolutionsbegriff war bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ein Repetitionsbegriff, der die Wiederholung gleicher Grundstrukturen voraussetzt und auch aufweisbar machte. Die politische Auswahl möglicher Verfassungsformen blieb dabei aristotelisch begrenzt, durch die - gleichsam anthropologisch vorgegebenen - drei Herrschaftsformen Monarchie, Demokratie und Aristokratie und ihre entsprechenden Verfallsformen. Alle Revolutionslehren bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts - es gibt da Varianten haben primär diese Wiederholungsstruktur thematisiert. Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird Revolution' zu einem zielgerichteten Begriff, der die strukturelle Veränderung in eine offene Zukunft hinein meint und damit einen irreversiblen Vorgang auslösen soll. Auch Revolution' wird zum Vorgriff, der analog zum Fortschritt und zur Geschichte die Zukunft als einmalig und neu, als nunmehr unvergleichbar setzt. - Der neue Entwicklungsbegriff zielt auf eine gleichsam weniger aktive und mehr selbsttätige Entwicklung. Er verweist auf eine Entwicklung, die über die Köpfe der Menschen hinweggeht, so daß damit verglichen Fortschritt' als ein aktivistischer Eigenbegriff autonomieträchtiger ist. Entwicklung wird eher intransitiv gedacht, zeigt aber ebenso eine intendierte Richtung an, so daß das aktivistische Element des Auswickeins und des Aufklärens in zahlreichen Bedeutungen immer noch mit gemeint wird. Allen diesen Bewegungsbegriffen ist gemeinsam, daß sie als Kollektivsingulare eine Handlungslehre enthalten oder entfesseln. All das gilt analog zur Aufklärung. Eine zweite Gruppe ist mehr der Gesetzessprache einzuordnen. Hier sei auf den Staatsbegriff hingewiesen, aber ebenso auf Freiheit und Gerechtigkeit, auf Brüderlichkeit oder Gleichheit. Das sind auch Schlagworte, die aber als Kollektivsingulare Systemzwang ausüben. Sobald diese Begriffe gedacht werden und kollektiv gedacht werden müssen, üben sie ein Minimum an Systemzwang aus, der in die großen Gesetzeskorpora versuchsweise einwirkt. Die Freiheit selbst oder schlechthin ist etwas anderes als die Freiheit in Form eines Privilegs (wie Heinz Mohnhaupt sehr klar aufgezeigt hat). Und Gerechtigkeit im Sinne des Einzelprivilegs war etwas anderes als die Gerechtigkeit schlechthin, die im Sinne der Justitia für alle zugleich gelten solle. Auch Brüderlichkeit als Abstraktum und als Kollektivsingular ist etwas völlig anderes als eine BruderscAq/?, die als eine konkrete Korporation empirisch einlösbar blieb. Die neuzeitliche Brüderlichkeit enthält dagegen ein Postulat mit temporalem Zwang, sich in Richtung auf eine nationale oder gar universale Brüderlichkeit zu entfalten, was schubweise immer wieder versucht
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worden ist - je nach politischem System und je nach revolutionärer Lage. Und das gleiche gilt für die Gleichheit. Die Gleichheit als kollektives Abstraktum enthält eine universale Botschaft, anders als wenn sie dem Römisch-Rechtlichen ,suum cuique' folgt, das einen ständisch oder stetig differenzierten Adressatenkreis voraussetzte. Damit wäre kategorial eine Gruppe der innovativen Kollektivsingulare umrissen, die einen juristischen Systemzwang ausübten, wie er zuvor, vor dem 18. Jahrhundert, in dieser Form nicht ausgeübt worden ist - und auch nicht ausgeübt werden konnte. Jetzt skizziere ich eine Gruppe von politischen Handlungseinheiten, die sich alle an den Staatsbegriff ankristallisieren. Kaum ein anderer Begriff hat sich so stark gewandelt und eine solche Innovationskraft gewonnen wie der Staatsbegriff. Lange blieb er ein gesellschaftspolitischer und zudem ein zentraler Rechtsbegriff. Das Spannende beim deutschen Staatsbegriff ist nun, daß er, vom französischen ,état' beeinflußt, aus dem lateinischen ,status' und auch aus dem deutschen ,statt' abgeleitet wurde - das sind konvergierende Wortfelder, die dann zu dem modernen Staatsbegriff hinführen. Aber bis ins 18. Jahrhundert hinein war ,Staat' ein pluralistischer Begriff, der als Statusbezeichnung immer schon andere ,status' voraussetzte. Das heißt, es war ein pluralistischer Begriff, der nie auf eine singulare Bedeutung reduziert werden konnte. Wer den ,Status' im Kontext der Stände verwendete, der setzte mit der Bezeichnung eines Standes die Existenz auch anderer Stände voraus. Ob das nun der Hofstaat ist, den der Fürst beansprucht, oder der status = Stand der Bauern oder der Bürger oder des Klerus - es gibt eine schier unendliche Vielfalt - immer ist ,status' = ,Stand' ein pluralistischer Begriff. Um 1800 wird eine Art Düse im Sprachgebrauch wirksam, weil sich der Staatsbegriff zu einem Kollektivsingular verdichtet. Der überkommene Standesbegriff wird zu einem Oppositionsbegriff und als solcher ausgestoßen, und zwar in dem Augenblick, als der ,Staat als solcher' gedacht werden kann, der alle Stände zugleich umfaßt und übergreift. In diesem Moment wird der Staatsbegriff zu einem kollektiven Oberbegriff, der die ständische Pluralität enquadriert oder gar unterdrücken soll. Aus dem pluralistischen ,Status'-Begriff wird als Kollektivsingular der moderne Staatsbegriff. Nachdem er einmal zum unentrinnbaren, deshalb strittigen Begriff geworden ist - strittig deshalb, weil keiner mehr darauf verzichten kann - , gibt es keine Diagnose irgendeiner Gesellschaft mehr, die ohne den Staatsbegriff auskommt. Erst seitdem der Staat seine Souveränität verliert, also sicher nach 1918, wird es möglich, den Begriff ,Staat' - wie bei Luhmann - als Unterfall der Gesellschaften' zu behandeln. Aber im Ganzen müssen auch die Gesellschaftslehren immer noch den politischen Staat einbeziehen. Es ist die semantische Unausweichlichkeit, die zu seiner Strittigkeit führt. Seitdem sich der Kollektivsingular durchgesetzt hat, ist eine Fülle von Definitionen möglich geworden, die den Staatsbegriff nunmehr parteilich differenziert: da gibt es den Fürstenstaat, den Machtstaat, den Wohlfahrtsstaat, den Rechtsstaat, den Nationalstaat, den Sozial-
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Staat, sogar noch den Führerstaat - was auch immer er an Staatlichkeit vernichtet hat. All diese Staatsbegriffe werden nach jeweiligen politischen Interessen neu besetzt, um Teilhabe an der vorgegebenen Institution zu gewinnen oder diese zu vereinnahmen. Das heißt, .Staat' war ein unverzichtbarer Begriff geworden, so wie Aufklärung vorübergehend ein unverzichtbarer Begriff gewesen und um 1968 wieder geworden ist. Die innovative Kraft, die dem Staatsbegriff im 19. Jahrhundert innewohnte, fehlte zuvor den überkommenen Bedeutungen der Worte ,Stand' oder ,status': Als Worte waren sie nicht innovativ gewesen. Erst der kollektiv-singulare Begriff, der mit dem alten Wort transportiert wurde, ist in der Tat ein neuer Begriff geworden. Insofern haben all die Worte, die bisher analysiert wurden, den Status von Neologismen mit den geschilderten innovativen Kräften. Also Geschichte, Fortschritt, Entwicklung, Emanzipation, Staat, Freiheit, Gerechtigkeit - die Worte sind älter: Aber die Begriffe, die seit der ,Aufklärung' damit verbunden werden, haben eine enorm innovative und dynamisierte Kraft entfaltet. Zum Schluß möchte ich auf eine Gruppe tatsächlicher Neologismen hinweisen, die auch als Worte Neologismen sind, und die erst im 18. Jahrhundert oder frühen 19. Jahrhundert entstanden sind. Es handelt sich um, wie ich sie nennen möchte, temporale Kompensationsbegriffe. Als erster taucht .Patriotismus' auf. Als Neubildung ist dieser Begriff Anfang des 18. Jahrhunderts entstanden, geprägt in Frankreich und bald auf den .citoyen' bezogen, der an Stelle des ,bourgeois' und in Opposition dazu als wahrer Staatsbürger den Patriotismus zu vollziehen und zu erfüllen habe. Diese rhetorisch neue Opposition stammt von Diderot aus der Encyclopédie. Der .bourgeois' wird seitdem auf den unpolitischen Wirtschaftsbürger reduziert. Früher, vor Diderot, waren beide Begriffe noch austauschbar. .Citoyen' versus .bourgeois', diese Oppositionsbestimmung ist erst im Zukunftssog eines Patriotismus, den allein der Citoyen verwirklichen könne, neu gedacht worden. Darauf baut der ,Kosmopolitismus' auf, der gleichsam die Internationale aller Patrioten sein sollte, und der lange nicht als Oppositionsbegriff zum Patriotismus' erfahren werden konnte. Bald folgte der ,Republikanismus', der die Einfuhrung einer Republik nicht mehr als eine von drei möglichen Verfassungsformen meinte, Republik als eine Form der Demokratie neben einer Monarchie oder einer Aristokratie. Die Republik des dynamischen Republikanismus wird jetzt im klassischen Sinne des Cicero wieder als Oberbegriff verwendet: er steht fur die wahre Verfassung schlechthin. Der Republikanismus ist jener Bewegungsbegriff, der die wahre Verfassung einer Republik anstrebt und ständig zu erfüllen erheischt auf Kosten jeder Monarchie oder Aristokratie. - Das gilt analog für Demokratismus als dem antiständischen Begriff katexochen, der genau diese Aktionsstrukturen beschwört mit einer irreversiblen Zielbestimmung in die offene Zukunft hinein. Bevor diese Demokratie nicht erreicht ist, lebt man in einem Zustand der Depravation. -
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Und das gleiche gilt für den Liberalismus als jenen Bewegungsbegriff, der auch den Rechtsstaatsbegriff hochgetragen hat, welcher alle anderen Staatsbestimmungen als unrecht ausschließen sollte. - Schließlich sei der Konservativismus als Reaktionsbegriff genannt. Denn die Konservativen haben sich nicht selbst auf einen ,-ismus'-Begriff bringen lassen wollen, aber sie kamen nicht umhin, sich in die Bewegungsbegriffe einzupassen, obwohl eine Kompensation in der Zukunft von ihnen per definitionem gerade nicht gesucht wurde. - Außerdem folgen der Sozialismus und der Kommunismus in dieser Begriffsreihe. Sozialismus ist als Wort älter, aber als Begriff wurde er völlig neu definiert, im Vormärz. Dann folgte der Nationalismus, der als Wort der mittelalterlichen Universitätsverfassung entstammte, aber erst um 1900 in das politische Vokabular eingeschleust wurde, zunächst in Frankreich, dann in Deutschland, vor allem nach 1918. Schließlich folgen Faschismus, der Nationalsozialismus oder der Sozialismus in einem Lande', der semantisch dem nationalen Sozialismus entspricht. All diese Begriffe, die eine dynamische Bewegungsstruktur haben analog zur Aufklärung, und die in einer offenen Zukunft Erfüllung erheischen, teilen die gleiche Typologie: Es sind temporale Kompensationsbegriffe. D.h., als sie geprägt wurden, war der Erfahrungsgehalt dieser Begriffe gleich Null, oder er bestand höchstens in der psychischen Disposition derer, die das Wort verwendeten. Wenn ich mich selbst fur Patriotismus entscheide, dann gewinne ich eine patriotische Haltung oder Einstellung oder Mentalität, aber der Patriotismus als Massenbewegung, als Aktionsform, als Integrationsweise der Bürger war noch nicht da, als der Begriff gestiftet wurde. Aber so kam er in Gang und ist dann in der Französischen Revolution aktiviert worden. Zudem expansiv betrieben, mit Missionskriegen, die dann den Patriotismus im Namen des Kosmopolitismus internationalisiert haben. - Das gilt für den Republikanismus auch. Das ist ein Wort, das zu Beginn, als es gestiftet wurde, im Zeitalter reiner Monarchien überhaupt noch keinen Realitätsgehalt hatte. Aber von dem Augenblick an, als der Bewegungsbegriff als programmatischer Aktionsbegriff erst einmal entstanden war, ist das Programm zunehmend verwirklicht und in der Französischen Revolution vorübergehend schon erreicht worden. Aber erst mit vielen Verzögerungen hat der Republikanismus das ganze Frankreich und schließlich auch die übrigen Länder Europas erfaßt. Ähnliches gilt - regional dosiert - im 20. Jahrhundert auch für den .Sozialismus'. Der einzige Bewegungsbegriff dieser Art, der per definitionem noch nie erfüllt worden ist, ist der ,Kommunismus'. Denn selbst die Kommunisten haben aufgrund ihrer eigenen Theorie noch nie behauptet, daß der Kommunismus jemals verwirklicht worden sei. Hier ist nicht die Rede von jenen Kommunen, die als empirische Einzelgruppierung tätig wurden, sondern von dem marxistischen Programm des Kommunismus, der nur mit universalem Anspruch zu verwirklichen sei. Das heißt, der einzige Begriff, der bisher nach eigener Definition nie eingelöst worden ist, ist der Kommunismus. Das gilt - leider - nicht für Nationalismus, Fa-
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schismus, Nationalsozialismus oder für die kommunistische Lehre des Sozialismus in einem Lande'. Es gehört nun zur Grundstruktur dieser Bewegungsbegriffe, die analog zu A u f klärung' entstanden sind, daß sie immer mit einem Aufklärungselement bedacht wurden. Denn die Erfüllung dieser Begriffe - oder die Einlösung dieser Vorgriffe - setzt ein Minimum an Aufklärung voraus, sei es als Tätigkeit der politischen Aktivisten oder sei es als Empfangsbereitschaft der weniger aktiven Bürger, um sich zu verwirklichen. Die semantische Grundstruktur bleibt: je weniger Erfahrung in diesen Begriffen enthalten ist, desto größer ist die Erwartung. Je weniger Erfahrung - desto größer die Erwartung. Und je mehr Erwartungen eingelöst werden, desto gesättigter wird die Erfahrung - sei sie positiver oder negativer Art. Das ist die Logik dieser Leitbegriffe, die uns seit dem 18. Jahrhundert begleitet und mobilisiert haben, bis in die Mitte unseres Jahrhunderts, ja ich möchte sagen, bis 1989 zumindest. Und wir können darauf gespannt sein, wann und ob sie sich mit neuem Vokabular wiederholen. Also, je weniger Erfahrung, desto größer die Erwartung - es ist ein utopischer Einlösungszwang, der kontinuierlich erneuert wurde. Mit der Setzung dieser Bewegungsbegriffe wurde ein steter Handlungsdruck teils registriert, teils erzeugt. Und damit komme ich zur Schlußüberlegung. Es wurde eine semantische Typologie jener Grundbegriffe entworfen, die im 18. Jahrhundert auftauchten oder geprägt wurden, und es wurde ihr Innovationspotential in vielen Varianten beschrieben. Wer nun diese Neuerungen in die gesamte Sprachgeschichte einordnen will, oder einzuordnen versucht, dem möchte ich folgenden Vorschlag machen: Die Rechtssprache, vor allem die Rechtssprache, aber es gilt auch für die politische und die soziale Sprache, enthält bis ins 18. Jahrhundert im wesentlichen eine Erfahrungsregistratur. Die Begriffe, die verwendet, die gebildet oder gefunden wurden, registrierten das, was in der Erfahrung vorgegeben war. Sie bringen rückwirkend auf den Begriff, was in der Erfahrung angelegt war oder sich sukzessive angereichert hat. Ein schönes Beispiel ist unser Bundesbegriff, der ja im Deutschen entstanden und kein Übersetzungsbegriff von foedus, confoederatio, amicitia und dergleichen ist. Der Bundesbegriff ist erst nach ca. zwei Generationen verbalen Vorlaufs entstanden. Die später als ,Bund' bezeichnete Organisationsform wurde zunächst verbal beschworen. Wir „vereinigen" uns, wir „verstricken" uns, wir „verpflichten" uns gegenseitig - so und ähnlich lauteten die Aktionsformeln verbaler Art, die gegenseitige Rechtsansprüche enthielten und Rechtsverpflichtungen auf befristete Zeit. Und je mehr diese Art gegenseitiger Verpflichtungen verbaler und rechtskräftig beeideter, auch durch Handschlag vollzogener, Vereinigungsweisen funktionierten, so daß eine Vereinigung entstand, die schließlich institutionsfahig wurde, entstand der Begriff ,Bund' als Kollektivsingular ex post zu den vorange-
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gangenen verbalen Handlungsbegriffen. Seitdem konnten .Bünde' geschlossen werden, die auf längerer Erfahrung aufruhten und erst seitdem rechtssprachlich theoriefahig wurden. Eine solche Struktur, die auch vom .aufklären' zur ,Aufklärung' geführt hatte, ermöglicht nun, wissenschaftsterminologisch gesprochen, einen Erfahrungsregistraturbegriff. Und im wesentlichen sind die überkommenen politischen und theorieträchtigen Begriffe, sofern sie als Substantive überhaupt theoriefähig werden oder zu Kollektivsingularen gerinnen - wie auch ,Bund' einer ist - , rückblickende Begriffe. Und jede Zusatzbestimmung beruht auf erweiterter Erfahrung. Das ist der erste Grundtyp, den es natürlich auch heute noch gibt. Aber bis ins 18. Jahrhundert hinein war er dominant. Das, was nun im 18. Jahrhundert innovativ zu werden beginnt, ist der neue semantische Befund, daß auch neue Erfahrung entfesselt, neue Erfahrung gestiftet oder ausgelöst werden kann, wie es sie zuvor so noch nicht gegeben hat. Das zeigte schon die Struktur unserer temporalen Kompensationsbegriffe. Wer auf Patriotismus, Republikanismus oder Demokratismus setzt, der löst damit mögliche Erfahrungen aus, die so noch nicht gemacht worden sind, aber realisierbar zu sein scheinen. Insofern sind es Erfahrungsstiftungsbegriffe, die nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, sondern Anschluß suchen an das, was vorhandene rechtsträchtige Begriffe bereits liefern. Republikanismus fußt auf Republik, und das ist schon vorher ein rechtsträchtiger Begriff gewesen, so wie auch Demokratismus aus dem Demokratie-Begriff ableitbar ist. Das heißt, es gab schon Erfahrungsbegriffe, die nunmehr neue Erfahrung stiften helfen sollten. Diese Erfahrungsstiftungsbegriffe enthalten jene dynamische Struktur, die ich am Aufklärungsbegriff anfangs zu zeigen versucht habe. Ein sehr schöner Erfahrungsstiftungsbegriff ist der Begriff der Bundesrepublik', der im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts entstanden ist, innerhalb des Römischen Reiches deutscher Nation. Dieses Reich war ja insgesamt keine Föderation, aber es enthielt eine Fülle föderaler Strukturen - Kreise, Ligen, Unionen usw. - innerhalb der ständischen Lehensgesellschaft. Montesquieu hat zuerst .République fédérative' als Strukturformel vorgeschlagen, und das hat Johannes Müller übersetzt in .Bundesrepublik', die es so noch nicht gab. Aber die Verfassungsstrukturen des Deutschen Reiches enthielten potentiell alle Elemente, eine Bundesrepublik bilden zu können. Die Gleichberechtigung der Partner, sei sie fürstlicher, ständischer oder schon bürgerlicher Art, konnte durch neuen Vertragschluß jene föderalen Angebote der Vergangenheit so institutionalisieren, daß auch ohne Kaiser oder Reichstag ein ,foedus' zustande kam. Und das ist dann im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr oder minder durchgeführt worden; vorerst monarchisch, später republikanisch oder beides kombiniert. Das heißt, .Bundesrepublik' war ein Erfahrungsstiftungsbegriff gewesen, der aus vorangegangener Erfahrung Möglichkeiten zukünftiger Organisationen ableitete. Das wäre ein Begriffstypus, der im 18. Jahr-
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hundert um sich greift, und der den Sprachhaushalt des 18. Jahrhunderts generell imprägniert hat. Er enthielt eine Fülle von Erfahrungsstiftungsbegriffen, wobei man davon ausgehen muß, daß diese sprachlichen Leistungen der Wirklichkeit vorausliefen, und keine reinen Epiphänomene waren. Der letzte Typus von Begriff ist der reine Erwartungsbegriff, der reine Zukunftsbegriff, der zur Zeit seiner Prägung ohne jede Erfahrung ist. Kants Völkerbund' gehört in diese Reihe, der 1919 erstmals realisiert wurde. Auf den per definitionem bisher uneingelösten .Kommunismus' habe ich schon verwiesen. Aber streifenweise gilt selbst für den ,Staat', der ja die Vermutung fur sich hat, ein reiner Institutionsbegriff zu sein, daß er als Erwartungsbegriff verwendet wurde. Seitdem der Kollektivsingular ,Staat schlechthin' entstanden war, ,Staat überhaupt', statt ein Staat mit Oberhaupt zu sein, erfolgte die semantische Transposition, die sich um 1800 durchsetzt. Dieser,Staat überhaupt' wird für eine Fülle von Theoretikern zum Zukunftsbegriff: für Fries oder Krug, um die Kantianer zu nennen, für Fichte sowieso, gewinnt der zukunftsoffene Staat den Auftrag, sich selbst aufzuheben, indem er die Bürger so erzieht, daß sie autonom werden müssen. Fichtes ,Erziehungsstaat' wird deshalb auch als ,Zukunftsstaat' definiert. Und die Aufgabe des Zukunftsstaates ist, sich selbst aufzuheben und alle Herrschaft zu erübrigen. Und das genau ist die Erwartung, die auch Marx daraus abgeleitet hat. Sie ist eben von Fichte vorausgedacht worden und war bei Kant schon angelegt. Im geschichtsphilosophischen Kontext wurde ,Staat' also zum reinen Erwartungsbegriff, der die dynamischen Veränderungskomponenten zu institutionalisieren verpflichtet sei. Staat darf nur sein, der sich dauernd reformiert. Insoweit wird selbst ,Staat' zum Bewegungsbegriff schlechthin. Also die dynamische und temporale Binnenstruktur, die wir beim Aufklärungsbegriff kennengelernt haben, läßt sich selbst bei Institutionsbegriffen wie ,Staat' im Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts wiederfinden. Eine Schlußbemerkung. Ich möchte nicht den Anspruch erhoben haben, mit diesen kategorialen Vorschlägen die Semantik der Begriffe völlig neu zu ordnen, ohne auf die empirischen Einzelfalle zurückgegriffen zu haben. Aber keine empirische Sprachanalyse reicht hin, die Geschichte selber auf den Begriff zu bringen. Deshalb sei daraufhingewiesen, daß die Geschichte ohne Begriffe überhaupt nicht erkennbar ist. Also Begriffe müssen wir schon verwenden. Aber die Begriffe, die wir verwenden, sind nie identisch mit der Wirklichkeit. Deswegen möchte ich vor Überlastungen warnen, daß unsere kategorialen Analysen der Begriffe nicht verwechselt werden mit dem, was die Begriffe meinen. Denn die Begriffe, die auf die Wirklichkeit zielen, mögen die Wirklichkeit deuten oder verändern, sind aber nicht identisch mit ihr. Daher sei zum Abschluß eine Regel angeboten, die aus den vorgetragenen Überlegungen abgeleitet werden darf: daß in der geschichtlichen Wirklichkeit immer mehr oder weniger enthalten ist, als sprachlich über sie gesagt werden kann. So wie sprachlich immer mehr oder weniger gesagt wird, als in der wirk-
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lichen Geschichte enthalten ist. Das ist ein aporetischer Satz, dessen beide Aussagen sich gegenseitig verhindern: Wirklichkeit und Sprache sind aufeinander verwiesen, aber nie so, daß eine Eins-zu-Eins-Gleichung herstellbar wäre. Deswegen muß die Geschichte auch immer wieder umgeschrieben werden. Wenn Sprache und geschichtliche Wirklichkeit nie konvergieren können, dann muß die Geschichte auch umschreibbar sein. Ja, sie erzwingt ihre Umschreibung, weil Geschichte immer mehr oder anderes ist, als sprachlich über sie gesagt wird, wie umgekehrt Sprache nie das einholt, was Geschichte potentiell ist oder war. Mit dieser Bemerkung möchte ich schließen, auch um Erwartungen, die mit den Begriffsanalysen vielleicht gehegt werden, nicht allzu hochsprießen zu lassen, und um in Erinnerung zu rufen, daß die wirkliche Geschichte immer noch anders läuft, als sprachlich sich ausdenken läßt. Insofern können wir mit Kants Postulat weiterleben: Wage, selbst zu denken, und versuche, deinen eigenen Verstand zu nutzen! - Geschichte zu denken bleibt ein Wagnis, sie zu begreifen, nötigt immer zum Umdenken.
AXEL BÜHLER (Düsseldorf)
Zum Anwendungsproblem in der juristischen Hermeneutik der Aufklärung 1. Einleitung In der juristischen Hermeneutik des 18. Jahrhunderts galt die Ermittlung des Denkens des Texturhebers weithin als das ausschließliche Ziel juristischer Interpretation oder Auslegung. Jan Schröder hat darauf hingewiesen,1 daß in der Zeit vor etwa 1700 in der juristischen Methodenlehre noch unterschiedliche Interpretationskonzeptionen gängig waren: zwar auch eine engere der Ermittlung des gemeinten Sinnes, aber daneben eine umfassendere, die dogmatische Zielsetzungen verfolgte und Berührungspunkte zu verschiedenen Einzelwissenschaften einbezog. Außerdem hatte es Autoren gegeben, die die Anwendung des geschriebenen Rechts als zu seiner Interpretation gehörig betrachteten.2 Erst um 1700 ist es dann wohl zum Vorherrschen jener Konzeption gekommen, die die Sinnermittlung als das Hauptziel der Interpretation sah, der entsprechend der Interpret also versuchen sollte, das Denken des Texturhebers zu ermitteln und dasselbe zu denken wie der Autor. Für diese Entwicklung mag die Herausbildung der allgemeinen Hermeneutik mitverantwortlich gewesen sein.3 Da die allgemeine Hermeneutik zumeist auf die Eruierung der Vorstellungen des Autors zielte, mag man versucht haben, sich innerhalb einer speziellen Hermeneutik, hier der juristischen, an die Interpretationskonzeption der allgemeinen Hermeneutik anzugleichen. Aber auch die Entwicklung der politischen Wirklichkeit wird eine Rolle gespielt haben. Die zunehmende politische Bedeutung von gesatztem Recht und von Rechtssouveränen kann den Rekurs auf einen die Rechtsprechung und damit Rechtsanwendung legitimierenden Willen des Gesetzgebers bei der Festlegung von Auslegungszielen begünstigt haben. Wenn als Interpretationsziel nämlich gilt, das Denken und damit die Absicht des Gesetzgebers herauszubekommen, und wenn gleichzeitig die Art und Weise der Anwendung auf den Einzelfall unmittelbar als Autorabsicht ange-
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Schröder, Jan, Juristische Hermeneutik im frühen 17. Jahrhundert: Valentin Wilhelm Forsters ,Interpres', in: Medicus, Dieter u.a. (Hg.), Festschrift für Hermann Lange. Stuttgart/Berlin/ Köln 1992, S. 223-243, hier S. 235-237. Ebd., S. 237, Anm. 30. Zu dieser Problematik siehe Scholz, Oliver R., lus, Hermeneutica iuris und Hermeneutica Generalis - Verbindungen zwischen allgemeiner Hermeneutik und Methodenlehre des Rechts im 17. und 18. Jahrhundert, in: Schröder, Jan (Hg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 18.-20. April 1996. Stuttgart 1998, S. 85-99.
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sehen wird, dann ist diese Anwendung politisch legitimiert. So kommt etwa eine eventuell vorhandene richterliche Entscheidungsautonomie gar nicht in den Blick. Wenn man Rechtsanwendung durch den Willen des Gesetzgebers rechtfertigen möchte, dann bietet es sich also an, das Interpretationsziel der Eruierung der Vorstellungen des Autors aus der allgemeinen Hermeneutik zu übernehmen. Läßt sich aber die Zielsetzung der Ermittlung des gemeinten Sinnes von rechtliche Normen enthaltenden Texten ohne Schwierigkeiten mit der Anforderung ihrer praktischen Umsetzung verbinden? Erfordert ihre Anwendung zur Regelung konkreter sozialer Situationen nicht eine Kenntnis dieser Situationen, über die diejenigen, die die relevanten Nonnen aufstellen, im allgemeinen gar nicht verfugen? In bezug auf die juristische Hermeneutik der Aufklärung stellen sich deshalb die folgenden Fragen, die ich in diesem Aufsatz anhand zweier Beispiele behandeln will: Wie wurden im 18. Jahrhundert die Erfordernisse der Anwendung rechtlicher Normen, denen die juristische Auslegung ja gar nicht ausweichen konnte, mit der vorherrschenden Interpretationskonzeption zusammengebracht? Wie konnte man einerseits Dasselbe-Denken-wie-der-Autor als das Ziel der Interpretation propagieren, andererseits aber der Forderung nach der praktischen Umsetzimg von rechtlichen Normen gerecht werden? Dieser Frage möchte ich im folgenden nachgehen. Ich werde zwei wichtige Autoren herausgreifen, Christian Wolff (1679-1754) und Christian Heinrich Eckhard, und betrachten, wie sie Interpretation als Ermitteln der Absichten von Autoren und Interpretation als Normanwenden miteinander zu harmonisieren suchten.4
2. Wolff: Tatsächlicher Willensgrund und mögliche Willensakte Christian Wolff diskutiert in dem Kapitel „De Interpretatione" seines Jus Naturae detailliert die Interpretation und Anwendung von Rechtsnormen ausdrückenden Texten, und zwar vor allem von Texten, die Versprechen und Verträge beinhalten.5 Wolff versucht, in allen Fällen der Anwendung von Rechtsnormen ausdrückenden Texten (Versprechen, Verträgen, Gesetzen) zur Regelung konkreter Situationen
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Siehe hierzu ausführlicher auch meine Aufsätze: Verstehen und Anwenden von Gesetzen in der juristischen Hermeneutik des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Schröder, Jan (Hg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie, (wie Anm. 3), S. 101-116, sowie: Interpretazione e applicazione nelP ermeneutica giuridica di Christian Wolff, in: Cacciatore, Giuseppe/Gessa, Vanna/Poser, Hans (Hg.), La filosofia pratica tra metafisica e antropologia nell' età di Wolff e Vico, im Druck. Im zuerst genannten Aufsatz gehe ich auch auf die juristische Hermeneutik von Christian Thomasius ein. Wolff, Christian, Jus Naturae methodo scientifica pertractatum pars sexta. Halae Magdeburgicae 1746, Nachdruck in: Wolff, Christian, Gesammelte Werke, hg. von Jean Ecole, J. E. Hofmann, M. Thomann, Hans Werner Arndt. II. Abteilung. Lateinische Schriften. Bd. 22. Hildesheim 1968, Kap. III. Die im Text im folgenden nicht weiter gekennzeichneten Paragraphenund Seitenverweise beziehen sich alle auf diese Schrift.
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Äußerungen des Willens der Texturheber zu sehen. Er zielt darauf ab, daß die Anwendung solcher Texte und deren Interpretation zur Koinzidenz kommen. Ich möchte mich hier lediglich auf die Frage konzentrieren, ob und inwiefern es Wolff gelingt, sein allgemeines Interpretationsziel der Untersuchung der Gedanken des Autors, die dieser mit den hervorgebrachten Worten verbindet, auch in den Fällen aufrechtzuerhalten, in denen die Interpretation vom Wortlaut des zu interpretierenden Textes abzuweichen gezwungen ist bzw. auf Fälle auszudehnen ist, die der Autor nicht vorhergesehen hat. Versprechen, Verträge und Gesetze können uns nach Wolff zur Regelung sozialer Situationen dienen, indem wir Rede oder schriftlichen Text interpretieren, d.h. „auf gewisse Art schließen, was jemand mit seiner Rede oder mit anderen Zeichen anzeigen wollte" (§ 459, S. 318). Hierbei wird, wie Wolff auch sagt, die „mens" des Sprechers untersucht. Die „mens" des Sprechers bestimmt er als die inneren geistigen Akte („interni actus animi"), die den vorgebrachten Worten entsprechen (S. 318). Die Interpretation von für die Regelung sozialer Situationen intendierten Texten, vor allem von Versprechen und Verträgen, soll Aufschluß darüber geben, welche Verpflichtungen die Textautoren eingehen bzw. welche Rechte sie einräumen, und soll die Rechte und Verpflichtungen von Personen in der sozialen Situation erschließen, das, was in der Situation getan werden muß bzw. darf. Wolff meint, daß Interpretation, so verstanden, unmittelbar Anweisungen zur Gestaltung der zu regelnden Situation gibt. Dabei erhebt er den Anspruch, daß das von ihm für die Interpretation von Verträgen und Versprechen Ausgeführte auch für die Interpretation von Gesetzen heranzuziehen ist (S. 318). - Zunächst betrachte ich, wie die Interpretation nach Wolff die „mens loquentis" eruiert, im Anschluß daran untersuche ich, ob und vor allem inwieweit das von Wolff empfohlene Vorgehen dazu dienen kann, die tatsächliche „mens loquentis" herauszufinden. Wolff beschränkt seine Betrachtungen weitgehend auf Rechtsgeschäfte, die Versprechungen („promissiones") beinhalten: Versprechen („promissa") und Abmachungen („pacta").6 Sowohl „promissa" wie auch „pacta" enthalten Willenserklärungen, die bestimmte, konkrete Situationen betreffen und diese Situationen in irgendeiner Weise regeln sollen. Der auf die Situation bezogene Wille ist eine Absicht, die Situation so oder so zu regeln, eine Regelungsabsicht. Die „interpretatio" der Willenserklärung hat die Aufgabe, die Regelungsabsicht (eine Komponente der „mens loquentis") zu ermitteln. Wenn die Regelungsabsicht festgestellt ist, dann muß sie nur noch in die Tat umgesetzt werden. Eigentliche Interpreta-
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Die Unterteilung in Versprechen und Abmachungen, die aus dem Römischen Recht in dieser Weise nicht bekannt zu sein scheint, betrifft wohl den Aspekt von Einseitigkeit gegenüber Wechselseitigkeit von Rechtsgeschäften: ein Versprechen („promissum") ist die einseitige Willenserklärung nur einer Person; eine Abmachung oder ein Vertrag („pactum") dagegen involviert wechselseitige Willenserklärungen mehrerer Personen.
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tionsarbeit fallt nicht an, sofern die verwendeten Ausdrücke eine „feste und bestimmte Bedeutung" haben und die Text- oder Redehervorbringer ihre Regelungsabsicht mit ihren Worten hinreichend klar zum Ausdruck bringen. Diese Bedingungen sind aber nicht erfüllt, wenn im einzelnen: a) Ausdrücke mehrdeutig sind (§ 480); b) aus der Interpretation eine Absurdität folgt: eine physikalische Unmöglichkeit oder etwas, was der Vernunft fremd ist (§ 483); c) wenn durch das Rechtsgeschäft nichts bewirkt wird („sequitur, nihil actum esse"), wenn also Verfugungen jeglichen sinnvollen Regelungszweck verfehlen und damit gegenstandslos werden (§ 485); d) wenn die Rede dunkel - also schwer verständlich - ist (§ 487). Liegt nun mindestens einer dieser Fälle vor, dann muß interpretiert werden (§ 460). Hierbei müssen wir unter weitgehender Berücksichtigung des Wortlauts zur Zuschreibung einer Regelungsabsicht kommen. Das können wir, indem wir vor allem folgende Interpretationsregeln anwenden: Regel 1 : Wenn wir den einzigen Grund für den Willen einer Person kennen, dann sind die Worte so zu interpretieren, daß sie diesem Willensgrund entsprechen (§ 489). Regel 2: Wenn der situative Anwendungskontext („relatio ad aliquid") eines mehrdeutigen Ausdrucks seine Bedeutung festlegt, müssen wir den Anwendungskontext bei der Interpretation berücksichtigen (§ 491). Regel 3: Dem Autor des zu interpretierenden Textes sollen nur solche Regelungsabsichten zugeschrieben werden, von denen wir mit Wahrscheinlichkeit annehmen können, daß er sie tatsächlich gehabt hat (§ 512). Ich möchte hier nur kurz Regel 1 kommentieren. Wolff unterscheidet zwischen dem Willen bzw. den Willensakten, als Teil der „mens" des Sprechers einerseits, und dem Willensgrund, der „ratio volitionis" andererseits. Den Willensgrund nennt er auch das Motiv („motivum") des Willensaktes. Ohne Motive gibt es keine Willensakte. Der Willensgrund, die „ratio volitionis", ist dabei offenbar ein psychischer Faktor beim Sprecher, kein außerpersönlicher, .objektiver' Grund oder Zweck. Regel 1 weist dem Willensgrund eine wichtige Funktion bei der Interpretation zu: wenn aus den Worten des Autors allein nicht klar wird, wie sie gemeint sind, können wir zu ihrer genaueren Bestimmung den Willensgrund heranziehen. In Hinsicht auf die Gestaltung einer sozialen Situation bezeichne ich hier, um die Bezüge zur praktischen Umsetzung terminologisch zu unterscheiden, den Willensgrund auch als „Regelungszweck" oder „Regelungsmotiv", den Willen bzw. den Willensakt - wie schon weiter oben gesagt - auch als „Regelungsabsicht". Die Regeln 1-3 sollen für die Fälle ausreichen, in denen verwendete Ausdrücke keine feste und bestimmte Bedeutungen haben oder der Wille des Autors nicht klar ausgedrückt wird. Nun gibt es aber auch solche Fälle, in denen die durch die Interpretation erhaltene Regelungsvorschrift vom Wortlaut des interpretierten Textes
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abweicht. Dies geschieht bei der extensiven und der restriktiven Interpretation.7 In beiden Fällen sind die konventionelle Wortbedeutung in der Normformulierung und die Gedanken des Normgebers nicht in Übereinstimmung. Extensive und restriktive Interpretation haben von der konventionellen Wortbedeutung abzusehen und nur zu berücksichtigen, was der Autor gemeint hat. Extensive Interpretation überträgt die Wortbedeutung auf Fälle, die nicht unter die Normformulierung fallen. Restriktive Interpretation nimmt Fälle, die unter die Wortbedeutung fallen, aus dem Anwendungsbereich der Norm heraus. Um unter diesen Umständen eine Interpretation zu erhalten, reichen die obigen Regeln nicht aus. Eine weitere Regel, die von der kontrafaktischen Überlegung ausgeht, was der Autor beabsichtigen würde, wenn ihm bestimmte Umstände bekannt wären, muß herangezogen werden: Regel 4: Die Interpretation ist so durchzufuhren, wie sie der Autor durchführen würde, wenn er anwesend wäre, oder wenn ihm bekannt gewesen wäre, was jetzt bekannt ist (§ 515).8 Mit Hilfe dieser Regel kommt man zu einer Regelung der problematischen Fälle. Inwieweit ermittelt die Interpretation, die in beschriebener Weise vorgeht, die tatsächliche „mens loquentis"? Zur „mens loquentis" gehören die „inneren Akte des Geistes, des Verstandes oder des Willens" (S. 318), die den vorgebrachten Worten entsprechen. Sehen wir hier von den Akten des Verstandes ab und betrachten wir allein Willensakte. In den Fällen, in denen die zugeschriebene Regelungsabsicht nicht vom Wortlaut der Willenserklärung abweicht, kann die „mens loquentis" oft aufgrund der Wortbedeutungen und aufgrund der Situationskenntnis („relatio ad aliquid"; siehe oben: Regel 2) zugeschrieben werden. Eine andere Art der Zuschreibung der „mens loquentis" geht vom Willensgrund aus und ermittelt unter der Annahme, ein bestimmter Grund sei der einzige Willensgrund, die Regelungsabsicht der Person (Regel 1). Beiderlei Vorgehen erschließt die „actus internos", wie sie bei einer bestimmten Person zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegen. Dies ist aber nicht der Fall, wenn die durch die Interpretation ermittelte Regelungsabsicht vom Wortlaut des Textes abweicht oder wenn allgemeine Gesetze auf den dem Gesetzgeber unbekannten Einzelfall angewendet werden sollen, vor allem also, wenn die vierte Interpretationsregel zur Anwendung kommt. Denn die Absicht, die wir, um die soziale Situation zu regeln, in diesem Fall dem Normgeber zuschreiben, hat der Autor ja gerade nicht. Er hätte sie nur dann, „wenn er anwesend wäre, oder wenn ihm bekannt gewesen wäre, was jetzt bekannt ist". Dennoch 7
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Siehe zu dieser Terminologie Tarello, Giovanni, L'interpretazione della legge. Milano 1980, S. 35-36. ,Jnterpretatio ita facienda, quemadmodoum earn faceret, qui locutus est, si praesens esset, vel si eidem cognita fuissent, quaenunc palam sunt".
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meint Wolff, daß wir auch bei Anwendung dieser Regel „den Geist dessen untersuchen, der gesprochen hat" (siehe Erläuterungen auf S. 372f.). Er weist nämlich auf die Tatsache hin, daß wir unter bestimmten Umständen etwas nicht wollen, was wir bei Abwesenheit der Umstände wollen. Wenn nun eine Person gefragt würde, ob sie bei Eintritt bestimmter Umstände noch dasselbe wolle, dann würde sie antworten, daß sie es nicht wolle. Wenn wir sie so interpretieren, dann - sagt Wolff - untersuchten wir ihre „mens". Das heißt wohl: wir untersuchen ihre möglichen Willensakte. Daß es die möglichen Willensakte dieser Person sind, ist dann gewährleistet, wenn wir den tatsächlichen Willensgrund dieser Person kennen. Wolff bemerkt: „Die Interpretation geschieht hier außerhalb der Bedeutung der Wörter, so daß der Absicht der Person, die gesprochen hat, Genüge getan werde, wobei auf den Grund zu achten ist, warum jemand das, was er gesagt hat, gewollt hat." (S. 373). 9 Die Interpretation muß dem Autor also auf jeden Fall einen tatsächlich vorliegenden Willensgrund zuschreiben. Um dem Willensgrund Genüge zu tun, muß der Interpret zu einer Entscheidung kommen, die der Autor getroffen hätte, wenn er die Umstände gekannt hätte. Wolff spricht hier davon, daß eine Interpretation, die die Regel vier verwendet, den Geist des Sprechers untersucht, und er benutzt dabei die Wörter „investigare" und „inquirere". Er sagt nicht, daß das, was der Autor denkt bzw. will, erschlossen wird („colligere"). Wolff scheint sich also wohl darüber im klaren zu sein, daß die Interpretation nicht den tatsächlichen Willen als Teil der „mens loquentis" erschließt; aber er meint dennoch, daß das Vorgehen eine Untersuchung der „mens" des Autors ist, und zwar wohl deswegen, weil sie (1) seinen tatsächlichen Willensgrund berücksichtigt, und dadurch (2) mögliche Willensakte des Autors herausfindet. Wir sehen also: bei der Anwendung der vierten Interpretationsregel scheinen wir zwar keine Regelungsabsicht zuzuschreiben - denn der Autor hatte tatsächlich keine Regelungsabsicht - , wir schreiben ihm aber ein tatsächliches Regelungsmotiv zu, überlegen uns, wie er entschieden hätte, erhalten eine dem Autor mögliche Regelungsabsicht und untersuchen so die mens des Autors. Dabei erhalten wir ein Interpretationsresultat, das die Textanwendung auf eine Situation erlaubt, so, als sei sie vom Autor gewollt. 10
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„Fit hic interpretatio extra verborum significatimi, ut intentione ejus, qui locutus est, satisfiat, animum attendendo ad rationem, cur quis hoc, quod dixit, voluerit". Übrigens führt möglicherweise auch die Anwendung einer weiteren Regel, die für die Bedeutungszuweisung positive und negative Folgen mitberücksichtigt, auf Resultate, die nicht als Zuschreibung von tatsächlichen Regelungsabsichten aufgefaßt werden können (Regel 5): Wenn die weitere Bedeutung von Ausdrücken für die Vertragspartner oder für Begünstigte positive Folgen hat („favorabilia"), ist die weitere Bedeutung anzunehmen (§ 500); können negative Folgen („odiosa") durch Zuschreibung der engeren Bedeutung vermieden werden, ist die engere Bedeutung anzunehmen (§ 506). In diesem Fall wird eine eventuelle Abweichung von tatsächlichen Regelungsabsichten darauf zurückzuführen sein, daß die Berücksichtigung positiver und negativer Folgen bei Wolff auch mit normativen Überlegungen verbunden zu sein scheint. Auf diese Problematik kann ich im gegebenen Rahmen aber nicht eingehen.
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3. Eckhard: Die Einbeziehung der „ratio legis" Betrachten wir nunmehr Eckhards Interpretationskonzeption in seiner Hermeneutica Juris aus dem Jahre 1750,11 dargelegt vor allem im ersten Kapitel des ersten Buches „De Interpretatione legum generatim". Eckhard beginnt mit weitgehend aus der zeitgenössischen allgemeinen Hermeneutik stammenden Überlegungen zur Interpretation im allgemeinen, denen Überlegungen zur juristischen Interpretation folgen. Eckhard schließt sich einleitend an das damals vorherrschende Interpretationsziel aus der allgemeinen Hermeneutik an, der Interpret solle dasselbe denken wie der Autor: „Bei jeder Auslegung, die den Sinn der Wörter untersucht, ist es das höchste Ziel, daß wir diejenigen Begriffe den Worten des anderen zuschreiben, die er selbst mit ihnen verstanden wissen wollte".12 Wie auch andere Autoren unterstellt Eckhard dem Textproduzenten Rationalität. So nimmt er vor allem an, daß ein Autor nicht bewußt Widersprüche in Kauf nimmt. „Man muß davon ausgehen, daß jeder Schriftsteller konsequent sein will; noch soll sich herausstellen, daß er Dinge vorgebracht hat, die unter sich nicht zusammenhängen und seinen Meinungen oder seiner Gewohnheit widersprechen" (§ 14).'3 Daß solche Rationalitätsunterstellungen vorgenommen werden, berücksichtigt Eckhard schließlich in folgender Definition der Auslegung oder Interpretation: Auslegen ist nichts anderes, als die Vorstellungen des Autors aus seinen Worten und [seiner bzw. der] Vernunft zu erklären" (§ 16).14 Hervorzuheben ist hier zweierlei: 1) Eckhard nimmt in dieser Definition explizit auf die „ratio" Bezug - was in dieser Weise in Definitionen der Interpretation in Texten zur Allgemeinen Hermeneutik nicht stattfindet. 2) Die Definition weist eine gewisse Mehrdeutigkeit auf: Wird der „sensus" aus der Vernunft des Autors oder aus der Vernunft als solcher erklärt? Falls die Vernunft als solche gemeint ist, dann mag sich eine Diskrepanz zwischen „sensus autoris" als Gegenstand der Interpretation und dem tatsächlichen Denken des Autors ergeben,
" Eckhard, Christian Heinrich, ¿¡ermeneutica Juris. 1. Aufl. Jena 1750. Mit einer Vorrede und fortlaufenden Anmerkungen versehen von Karl Friedrich Walch. Leipzig 1779. Letzte Aufl. 1802. Ich zitiere aus der Ausgabe, die im Jahre 1792 in Leipzig erschienen ist. - Erwähnt, aber nicht weiter erläutert wird Eckhards Werk in Lutz Geldsetzers Überblick über die Geschichte der juristischen Hermeneutik in seiner „Einleitung" zur Neuausgabe zu Anton Friedrich Justus Thibaut: Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts. [2. Aufl. 1806] Düsseldorf 1966, S. XXVni. Etwas ausführlicher berichtet Peter Raisch: Juristische Methoden. Vom antiken Rom bis zur Gegenwart. Heidelberg 1995, über Eckhards Hermeneutica Juris, und zwar auf S. 76-78. 12 Eckhard, Hermeneutica Juris, (wie Anm. 11), § 1: „In omni interpretatione, qua verborum sensus investigatur, summum illud est, ut eas alterius verbis notiones attribuamus, quas ipse sub illìs intellegi voluit". 13 „Omnis quoque scriptor sibi constare velie existimandus est, ne ea protulisse videatur, quae inter se non cohaerent, et placitis sui, aut consuetudini suae repugnant". 14 „[...] interpretan nihil aliud esse, quam sensum auctoris ex eius verbis et ratione declarare". Ist hier mit „ratio" gar die Zwecksetzung des Autors gemeint?
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mag also das, was wir dem Autor als sein Denken zuschreiben, etwas anderes sein als das tatsächliche Denken des Autors. - Eckhard unterscheidet nun zwischen zwei Arten von Auslegung, zwischen grammatischer und dialektischer Auslegung, und verweist die erste an die Grammatik, die zweite an „die Quellen der Dialektiker". Die dialektische Auslegung leite das, was nicht geschrieben steht, aus dem Geschriebenen durch „ratiocinatio" her. 15 Dies ist die Art von Auslegung, die den „sensus auctoris" aus der „ratio" erklärt. Eckhard geht nunmehr zur „Hermeneutica iuris" über, die aus Regeln zur Interpretation der Gesetze bestehe. Zum einen leiten sich diese aus allgemeinen Auslegungsprinzipien, zum anderen aus besonderen Auslegungsprinzipien her. Auch in der juristischen Hermeneutik unterscheidet Eckhard zwei Arten von Interpretation: die grammatische und die dialektische. 16 Während die grammatische Interpretation mit den Wortbedeutungen zu tun hat, eruiert die dialektische Interpretation nicht etwa - wie wir erwarten würden - die „notiones legislatoris", sondern die „ratio legis". Die „ratio legis" bestimmt Eckhard dabei als: „das, aus welchem eingesehen wird, warum das Gesetz gegeben wurde" (§ 24).17 Sie ist offenbar nicht das Motiv des Gesetzgebers, sondern der Grund für das Zustandekommen seines Motivs. Zur „ratio legis" bemerkt Eckhard außerdem, 18 daß sie dem Juristen bei der Anwendung der Gesetze auf Fälle diene. Drei Bemerkungen sind in diesem Zusammenhang zu machen: 1) Zu beachten ist, daß die dialektische Interpretation zur Aufgabe hat, die „ratio legis", nicht die „ratio legislatoris" herauszufinden. Zum Herausfinden der „ratio legis" ist es nach Eckhard zwar erforderlich, die mens legislatoris zu kennen. Dennoch wird die „ratio legis" nicht mit der „ratio legislatoris" identifiziert. 2) Wir können in der „mens legislatoris" die Regelungsabsicht des Gesetzgebers sehen, die er mit der Formulierung des Gesetzes verbindet. Zu ihrer Erklärung kann die „ratio legislatoris" als Regelungsmotiv des Gesetzgebers herangezogen werden, und diese wird ihrerseits durch die „ratio legis" erklärt. 3) Eckhard verbindet die Anwendung explizit mit der Auslegung: die dialektische Auslegung - sagt er - ist bei der Gesetzesanwendung dienstbar. 19 Und „Gesetzesanwendung" definiert er folgendermaßen: „Die Anwendung eines Gesetzes ist nämlich nichts anderes als seine lebendige Auslegung, durch welche mit den Gesetzen verknüpfte Tatsachen hinsichtlich des Gesetzesinhalts untersucht werden und für recht oder unrecht erklärt werden". 20 Eine „lebendige" Auslegung ist auf praktische Folgerungen bedacht.
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Ebd., § 17. Ebd., §23. „¡d, ex quo, cur lex lata est, intelligitur". Siehe Anmerkung 17. Eckhard, Hermeneutica Juris, (wie Anm. 11), § 23: „posterius interpretationis genus [sc.: interpretatio dialéctica] iurisconsulti officio maxime inservit in legibus ad caussas adplicandis". „Adplicatio enim legis nihil aliud est, nisi viva eiusdem interpretatio, qua facta cum legibus collata, ad mentem ¡Darum examinantur, et vel iusta, vel iniusta pronunciantur", ebd., S. 830.
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Obzwar Eckhard zunächst Verstehen nur als Zuschreibung von Gedanken zu Autoren bestimmt hat, kommt bei seiner Definition der Interpretation im allgemeinen bereits die „ratio", die Vernunft, mit ins Spiel. Und dabei bleibt - wie ich vorhin schon bemerkt habe - offen, ob es sich um die „ratio" der Person handelt, die wir verstehen wollen, oder um die Vernunft als solche. Bei der juristischen Interpretation geht es aber schließlich gar nicht mehr - wie man aufgrund der Definition der Auslegung erwarten würde - um die Vernunft des Gesetzgebers, sondern um die Vernunft des Gesetzes selber, also den Gesetzesgrund oder die „ratio legis". Sie wird auch nicht mit dem Regelungszweck oder Regelungsmotiv des Gesetzgebers identifiziert. Zunächst hat es den Anschein, als sei auch die juristische Interpretation nur die Zuschreibung von Gedanken bzw. kommunikativen Absichten zu Autoren. Aber schließlich ergibt sich, daß sie zusätzlich die Feststellung der „ratio legis" umfaßt. Der Ausdruck „dialektische Auslegung" bedeutet bei Eckhard im Fall der allgemeinen Hermeneutik eine Auslegung, die unter der Voraussetzung der Kenntnis der konventionellen Bedeutung eines Ausdrucks oder eines Satzes auf die Erkenntnis dessen abzielt, was vom Autor gemeint ist. Für den Fall der juristischen Auslegung würden wir erwarten, daß „dialektische Auslegung" nunmehr speziell die Eruierung der Absichten des Gesetzgebers bedeutet. Stattdessen geht es Eckhard im Fall des Rechts bei der dialektischen Auslegung um den Aufweis der „ratio legis" und um die Subsumtion des Einzelfalls unter den Rechtssatz. So hat Eckhard nunmehr keine Schwierigkeiten, traditionell unterschiedene Arten von anwendender Interpretation in seiner Konzeption von juristischer Interpretation zu berücksichtigen. Extensive und restriktive Interpretation kommen zum Tragen, wenn sich die „ratio legis" und der Wortlaut des Gesetzes nicht decken. 21 Authentische Interpretation und die „interpretatio usualis" sind zwei weitere Arten von Auslegung; die authentische Auslegung beruht auf der eigenen Erklärung des Gesetzgebers, die „interpretatio usualis" erklärt ein Urteil aus der Gewohnheit, die mit einer zweifelhaften gesetzlichen Regel verbunden ist.22 Eckhard erlaubt diese Arten von Auslegung aber nur, „wenn sie den Regeln der Wissenschaft und den hermeneutischen Gründen" entsprechen und sofern mit ihnen keine neuen Gesetze gegeben oder keine neuen Gewohnheiten eingeführt werden. Eckhard scheint also bei der Auslegung von Gesetzen de facto neben dem Ziel der Feststellung dessen, was der Autor gedacht hat, weitere Ziele zuzulassen. Durch Einbeziehung dieser Ziele kann die Gesetzesauslegung auch die Gesetzesanwendung umgreifen. Was hierbei stattfindet, ist folgendes: Der Interpret versichert sich 1) des Inhalts des Gesetzes, so wie er vom Gesetzgeber gedacht wurde. Aus den Texten und aus den Gedanken des Gesetzgebers hat der Interpret 2) die „ratio legis" zu erschließen. 3) hat der Interpret die zu regelnde Situation zu be21 22
Ebd., § 3 6 . Ebd., § 3 7 .
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Axel Bühler
trachten und zu prüfen, ob die „ratio legis" die Situation betrifft. 4) kommt er nunmehr unter Verwendung des Gesetzesinhaltes zur Entscheidung des Einzelfalls. Überlegungen, wie Wolff sie angestellt hatte, darüber, wie sich denn der Normgeber mit seinen tatsächlich gegebenen Motiven im betrachteten Fall verhalten hätte, scheinen hierbei nicht relevant zu werden. Da in dem Interpretationsprozeß, wie Eckhard ihn sieht, der Inhalt des Gesetzes, wie er vom Gesetzgeber gedacht wird, aber noch eine zentrale Rolle spielt, und da die „ratio legis" außerdem aus dem Text des Gesetzgebers (und historischen Zusatzinformationen) erschlossen werden soll, kann der Schein aufrechterhalten werden, die Interpretation ziele allein auf die Rekonstruktion des vom Gesetzgeber Gedachten.
4. Schluß Das Problem, die Anwendung von Rechtsnormen mit dem Interpretationsziel der Feststellung der Gedanken des Normgebers in Einklang zu bringen, lösen Wolff und Eckhard auf unterschiedliche Weisen: 1. Wolff betrachtet den tatsächlichen Normgeber und die kontrafaktische Situation, der Normgeber hätte sich der zu regelnden Situation konfrontiert gefunden. Er zieht den tatsächlichen Willensgrund des Normgebers heran und erschließt auf dieser Grundlage die Entscheidung, die dem Normgeber in der Situation möglich gewesen wäre. 2. Eckhard führt - unter der Hand - neben dem Interpretationsziel der Feststellung der Gedanken des Normgebers weitere Interpretationsziele ein, vor allem das Ziel der Feststellung der „ratio legis". Die Entscheidung eines Einzelfalles bei der Gesetzesanwendung erhält er dann dadurch, daß er aus der „ratio legis" und aus dem Gesetz, so wie es der Autor gedacht hat, die Entscheidung herleitet. Eckhard vertritt explizit das Interpretationsziel zu eruieren, was der Autor gedacht hat. Seine Lösung des hier behandelten Problems kommt aber mit dieser Zielsetzung in Konflikt. Daß es nicht zu einem offenen Widerspruch kommt, liegt daran, daß Eckhard nicht zwischen der mit der Normformulierung verbundenen Absicht des Normgebers und einer Absicht des Normgebers hinsichtlich einer konkreten einzelnen Situation unterscheidet.23 Wolff dagegen modifiziert das Interpretationsziel der Eruierung dessen, was der Autor gedacht hat, zu einem anderen Ziel, nämlich dem, herauszufinden, was der Autor denken konnte, also in einer kontrafaktischen Situation gedacht hätte, und vermeidet so den Widerspruch.
23
Die Unterscheidung wurde aber - zumindest später - gemacht. So wendet sich Anton Friedrich Justus Thibaut in seiner Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts (2. Aufl. 1806), Neudruck Düsseldorf 1966, gegen Autoren, die vorbringen, „daß es nach dem Sprachgebrauch nicht interpretieren genannt werden könne, wenn man Fälle unter ein Gesetz subsumire, an welche der Gesetzgeber nicht gedacht habe", S. 17.
ANDREAS GARDT ( H e i d e l b e r g )
Das rationalistische Konzept der Fachsprache: Gottfried Wilhelm Leibniz Die ideen- und zeitgeschichtliche Situation, vor deren Hintergrund die rationalistische Sprachkonzeption von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) entstand, ist gekennzeichnet durch einen umfassenden Strukturwandel im öffentlichen und privaten Leben. Von hervorgehobener Bedeutung für die Stellung der Fachsprachen sind diese Aspekte:1 - einschneidende Veränderungen in den ökonomischen Verhältnissen (Zunahme der Arbeitsteilung, Trennung von Wohn- und Arbeitsbereich, Intensivierung des Handels, insgesamt eine Tendenz zur Kapitalisierung der Wirtschaft); - die Herausbildung eines modernen Wissenschaftsbegriffs des weitgehend voraussetzungslosen Forschens, das weniger der gelehrten Tradition und metaphysischen Vorgaben verpflichtet ist; damit einhergehend die Verwissenschaftlichung traditioneller und die Etablierung neuer Fach- und Wissensbereiche, insbesondere der modernen Naturwissenschaften; - die Formulierung einer realienorientierten Pädagogik und Didaktik, wie sie etwa in den Entwürfen von Wolfgang Ratke und Johann Amos Comenius vorliegt; zugleich die Aufwertung der artes mechanicae an den Lehrinstitutionen;
Nach Gardt, Andreas, Die Auffassung von Fachsprachen in den Sprachkonzeptionen des Barock, in: Hoffmann, Lothar/Kalverkämper, Hartwig/Wiegand, Herbert Ernst, in Verbindung mit Christian Galinski und Werner Hüllen (Hg.), Fachsprachen. Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. 2 Halbbde. Bd. 2. Berlin/New York 1999, S. 2410-2420; zur Fachsprache im 18. Jahrhundert vgl.: Roelcke, Thorsten, Das Kunstwort in der Zeit der Aufklärung, in: Fachsprachen (wie oben) sowie: Seibicke, Wilfried, Von Christian Wolff zu Johann Beckmann. Fachsprache im 18. Jahrhundert, in: Kimpel, Dieter (Hg.), Mehrsprachigkeit in der deutschen Aufklärung. Hamburg 1985, S. 42-51; zu den sprachtheoretischen Bezügen und zu den entsprechenden sprachpraktischen (u.a. grammatikographischen, sprachpädagogischen und -didaktischen) Fragen vgl. Gardt, Andreas, Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin/New York 1994; ders., Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Berlin/New York 1999; zur Entwicklung des Wissenschaftsbegriffs, speziell aus der Perspektive der Ideengeschichte, siehe Wollgast, Siegfried, Philosophie in Deutschland ¡550-1650. Berlin 1988; zu den wissenschaftsgeschichtlichen Veränderungen im einzelnen siehe Heidelberger, Michael/Thiessen, Sigrun, Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaft. Reinbek bei Hamburg 1981; zum Übergang vom Lateinischen zu den Volkssprachen siehe Schiewe, Jürgen, Sprachenwechsel - Funktionswandel Austausch der Denkstile. Die Universität Freiburg zwischen Latein und Deutsch. Tübingen 1996; allgemein zur sprachgeschichtlichen Entwicklung der Zeit siehe von Polenz, Peter, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin/New York 1994.
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Andreas Gardt
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die Aufwertung der Volkssprache Deutsch gegenüber dem Lateinischen als der bisherigen Sprache des gelehrten Diskurses. Vor allem der letzte Punkt spielt für die Konzeption und Geschichte der Fachsprachen eine besondere Rolle. Die Hinwendung zu den Volkssprachen erfaßt, von der Romania ausgehend, das gesamte Europa der frühen Neuzeit. Auch in dieser Entwicklung finden unterschiedliche Faktoren zusammen: soziale (durch die Erfindung des Buchdrucks werden breitere, des Lateinischen nicht mächtige Leserschichten angesprochen), ökonomische (die veränderten Wirtschafts-, speziell: Handelsbedingungen erfordern eine überregional geltende Ausgleichssprache), politisch-administrative (die territorialstaatlichen Verwaltungen in Deutschland sind auf eine entsprechend funktionstüchtige Sprache angewiesen), konfessionelle (speziell in Deutschland ist die Volkssprache die Sprache des Protestantismus, am nachhaltigsten wirkend in der Bibelübersetzung Luthers) und kulturpatriotische. Die einschlägigen Texte humanistischer Autoren enthalten Beschreibungen der jeweiligen Muttersprache als einer Größe, die der Findung und Sicherung der individuellen und der gruppenspezifischen Identität, im weitesten Sinne: der ethnischen, kulturellen und politischen Identität der Sprechergemeinschaft als ganzer dient. Schon in Dantes De vulgari eloquentia (um 1303) wird das Lateinische, der Tradition entsprechend, als die fraglos kunstvollere Sprache dargestellt, die Muttersprache aber - für Dante das Toskanische - als die dem Menschen natürlichere (naturalis) und daher letztlich edlere (nobilis). 2 Diese Sicht der Muttersprache als der mit der Muttermilch aufgenommenen („cum lacte ebibimus") 3 und daher ihren Sprechern irgendwie ,wesensgemäßeren' Sprache ist schließlich in den deutschen Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, mit deren Bemühungen Leibniz vertraut war, die allgemein verbreitete. 4 Die Arbeiten der Autoren, von Justus Georg Schottelius über Georg Philipp Harsdörffer und Philipp von Zesen bis zu Kaspar Stieler und vielen anderen enthalten
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Solche Argumentationen finden sich ansatzweise bereits in früheren Texten. Vgl. etwa Ebernands von Erfurt Feststellung von 1220 (Heinrich und Kunigunde, Zeile 4467-4474), er sei ein Thüringer „von art geborn" und wolle sich deshalb nicht zwingen, die Sprache einer anderen Region des deutschen Sprachraums zu verwenden, weil dies einem nur äußerlichen Nachäffen gleichkäme. Meyfart, Johann Matthäus, Melchior Steinbrück, Melleficium oratorium. 2. Aufl. Frankfurt 1701, Teil II, S. 67. Dazu und zum folgenden vgl.: Kühlmann, Wilhelm, Frühaufklärung und Barock. Traditionsbruch - Rückgriff - Kontinuität, in: Garber, Klaus (Hg., in Verb, mit Ferdinand van Ingen, Wilhelm Kühlmann u. Wolfgang Weiß), Europäische Barock-Rezeption. Wiesbaden 1991, S. 187-214; ders., Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982; Huber, Wolfgang, Kulturpatriotismus und Sprachbewußtsein. Studien zur deutschen Philologie des 17. Jahrhunderts. Frankfurt u.a. 1984; Gardt, Sprachreflexion, (wie Anm. 1); ders., Die Sprachgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonderegger, Stefan (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2 Halbbde. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin/New York 1998, S. 332-348.
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die gängigen Topoi der kulturpatriotischen Aufwertung des Deutschen gegenüber dem Lateinischen, mehr noch gegenüber den europäischen Nachbarsprachen, allen voran dem Französischen. Dem Deutschen wird hohes, sogar biblisches Alter zugesprochen: Durch die Identifizierung mit dem Germanischen, stellenweise sogar mit dem Keltischen, wird es als sogenannte „Hauptsprache" unmittelbar auf die Babylonische Sprachverwirrung zurückgeführt. Zugleich wird ein Bild genealogischer Reinheit und struktureller Homogenität entworfen: Das Ideal ist die biblisch legitimierte, den Deutschen und ihrem Reich von alters her zukommende, von keinen Fremdeinflüssen entstellte Sprache (Schottelius z.B. beschreibt das Reich Karls des Großen als „von fremder Macht gäntzlich unbezwungen/und von fremden Sprachen unverworren").5 Wie in kulturpatriotischen Argumentationen üblich, wird die Sprache dabei aus ihren historischen und sozialen Bedingtheiten herausgelöst, erscheint sie nicht als bloßer Niederschlag der Interessen der Menschen, ihren Alltag durch sie zu gestalten, sondern als eine eigenständige Größe, die über eine bestimmte „Natur" („Wesen", „Art", „Kraft", „Geist", „Genie"/„Genius" etc.) verfugt, die wiederum der „Natur" (dem „Wesen", der „Art" etc.) ihrer Sprecher gemäß ist: Sprache (das Deutsche als eigentlich Germanisch') und Sprecher (die Deutschen als .Nachfahren der Germanen', in Formulierung und Fortschreibung des Germanenmythos auf der Grundlage der Germania des Tacitus) gelten als gleichermaßen „rein", „natürlich", „aufrichtig", „ehrlich", „treu", „kraftvoll" etc. Die Bereiche des Sprachlichen, des Politischen und des Moralisch-Ethischen werden übereinandergeblendet, die Gefahrdung eines der Bereiche gilt zugleich als Gefährdung der anderen. In einer Zeit starker gesellschaftlicher Umbrüche soll die Sprache als fixer Orientierungspunkt dienen und dem Wandel selbst nicht ausgesetzt sein. Das negative Gegenbild zur deutschen Sprache gibt zum Teil das Französische als eigenständige Sprache ab (und dies obwohl bzw. weil die in ihm verfaßten Textzeugnisse - insbesondere die dichterischen - als beneidenswerte Vorbilder gelten), vor allem aber die affektierte („alamodische") und pseudogelehrte Orientierung an französischer Sprache und Lebensart innerhalb Deutschlands, praktiziert von „halbgebackene[n] Teutschefn] Frantzos[en]".6 Die puristische Kritik wendet sich in einzelnen Fällen auch gegen Fremdwortverwendung in Fachtexten. Auf der Basis der Überzeugung, daß „alles/was zu richtigem Verständniß einer Sache dienlich ist/in unsrer Sprache [...] bedeutet werden [kann]", also „des Menschen Verstand nicht an eine gewisse Sprache gebunden" ist,7 werden zunehmend deutsche Fachwörter als Ersatz für lateinische, griechische, französische etc. Aus5
6
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Schottelius, Justus Georg, Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache [...] [1663], hg. v. Wolfgang Hecht. 2 Teile. Tübingen 1967, S. 123. Schorer, Christoph [?], Newe außgeputzte Sprachposaun/An die vnartigen teutscher SprachVerderber [...]. O.O. 1648, S. 2. Harsdörffer, Georg Philipp, Poetischer Trichter [...]. [1. Teil 1650, 2. Teil 1648, 3. Teil 1653]. Hildesheim/New York 1971, Teil III, S. lOf. u. Teil I, S. 17.
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Andreas Gardí
drücke gefordert. 8 Christoph Schorer kritisiert, daß die juristische Terminologie fast ausschließlich lateinisch vorliegt - „ D a m u ß es heissen Appeliern, concipiern, giern,
judiciern,
vidimiem,
pensiern,
abcopiern,
repliciern,
citiern,
mundiern, differiern,
recessiern, diffamirn
referiern,
suppliciern, purgiern,
[sie!], aeeeptiern,
urcom-
v n d dergleichen" - und kommentiert die Fremdwörter:
Die meisten können gar wol vnd gut teutsch übersetzet werden/als Appelliem, sich beruften an ein höhers Gerichte. Suppliciern, bitten/eine Bittschrift einlegen. Concipiern, auffsetzen. Judiciern, urtheilen. Abcopiern, abschreiben. Mundiern, rein/sauber abschreiben. Recessiern, mündlich etwas vorbringen. Referiern, erzehlen. Purgiern, sich entschuldigen. Urgiern, anhalten/darauff dringen. Vnd sofort an. 9 D i e präskriptiven Grammatiker heben insbesondere die Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen als positiv hervor, die Problemlosigkeit, mit der sich Ableitung e n und Komposita bilden lassen. 1 0 S o schlägt Schottelius in seiner Grammatik v o n 1663 vor (teils i m Rückgriff a u f b e r e i t e etablierte Bildungen, teils als eigene Vorschläge): fur franz. „casse-loix" - dt. „Gesetzbrecher", franz. „casse-mceurs" dt. „Sittenbrecher", lat. „emphyteuticum bonum" - dt. „Erbzinßguht", lat. „litis pendentia" - dt. „Rechtsstand". 1 1 Kaspar Stieler nennt: „Erblasser" (defunetus testator), „Klagfuhrer" (actoris procurator), „Benöthiger" (vocans), „Benöthigter" (provocatus). 1 2 Philipp v o n Z e s e n erwähnt 1643: „Vertrag" (contract), „Fruchtniessung" (ususfruetus), „Gewährserhaltung" (usucapió), „Vermachung" (legatimi). 1 3
8
9 10
11 12 13
In diesem Sinne auch Carl Gustav von Hille, der bezweifelt, „daß man nur in Latein/Griechisch oder Hebräisch weiß [= weise]/in Teutsch aber närrisch sein solte" (in: Hille, Carl Gustav von, Der Teutsche Palmbaum: Das ist/Lobschrift Von der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Anfang/Satzungen/Vorhaben/Namen/Sprüchen/Gemählden/Schriften und unverwelklichem Tugendruhm. München 1970. [Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1647], S. 136). - Ähnlich Balthasar Schupp: „Ich halte/man könt einen Krancken eben so wol auff Teutsch/als auff Griechisch oder Arabisch curiren" (zit. nach Zeiller, Martin, Epistolische SchatzKammer [...]. Ulm 1700, S. 315). - Beispiele für ausführliche Kritik an der Verwendung von Fremdwörtern in den Fachsprachen siehe Schorer, Sprachposaun, (wie Anm. 6). Schorer, Sprachposaun, (wie Anm. 6), S. 44. Zu Schottelius' Überlegungen in seiner Grammatik von 1663 siehe Gützlaff, Kathrin, Von der Fügung Teutscher Stammwörter. Die Wortbildung in J. G. Schottelius' .Ausführlicher Arbeit von der Teutschen HaubtSprache*. Hildesheim/Zürich/New York 1989; Neuhaus, Gisela M., Justus Georg Schottelius: Die Stammwörter der Teutschen Sprache Samt dererselben Erklärung/und andere die Stammwörter betreffende Anmerkungen. Eine Untersuchung zur frühneuhochdeutschen Lexikologie. Göppingen 1991; Gardt, Sprachreflexion, (wie Anm. 1), S. 160ff. Schottelius, Ausführliche Arbeit, (wie Anm. 5), S. 72-103. Stieler, Kaspar, Teutsche SekretariatKunst [...]. 2. Aufl. Nürnberg 1681, S. 270. Zesen, Philipp von, Hooch-Deutsche Spraach-Übung [...] [1643], in: ders., Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung v. Ulrich Maché u. Volker Meid hg. v. Ferdinand van Ingen. Bd. 11. Bearb. v. Ulrich Maché. Berlin/New York 1974. - Speziell zur Rechtssprache im 17. u. 18. Jahrhundert siehe Heller, Martin Johannes, Reform der deutschen Rechtssprache im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1992; zu den begriffsgeschichtlichen Entwicklungen u.a. im Rechtswesen des 17. Jahrhunderts siehe Steger, Hugo, Revolution des Denkens im Fokus von Begriffen und Wörtern. Wandlungen der Theoriesprachen im 17. Jahrhundert, in:
Gottfried Wilhelm Leibniz
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Die Belege dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Bereich der Fachsprachen immer schon eine größere Toleranz gegenüber Fremdwörtern herrschte als im Bereich des gesellschaftlichen Verkehrs.14 Zum Ende des 17. Jahrhunderts - und damit auch mit zunehmender Distanz zum Dreißigjährigen Krieg, unter dem in den Augen der altdeutschen Sprachgelehrten in gleicher Weise die Menschen wie die Sprache in Deutschland litten15 - nimmt die Toleranz gegenüber Fremdwortverwendung auch außerhalb des Fachschrifttums zu, wenn auch kulturpatriotische Positionen weiterhin Bestand haben. Persönlichkeiten wie der Frühaufklärer Christian Thomasius propagieren ein anderes Erziehungs- und Bildungsideal als das traditionelle, auf den septem artes liberales beruhende. Die Ausbildung, die er den Studenten zukommen lassen will, zielt auf polite, Welt= kluge und höffliche Leute",16 denen es möglich ist, „sich selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschaften wohl zu rathen/und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen".17 Die Spracherziehung soll, als Teil der Persönlichkeitsbildung, die jungen Menschen dahin bringen, sich sicher, gewandt und erfolgreich im gesellschaftlichen Raum zu bewegen, dabei das Wohl des Ganzen nicht aus den Augen lassend. Die Öffnung zu Frankreich wird nicht nur toleriert, sondern geradezu
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Stein, P. K./Weiss, A./Hayer, G. (Hg., unter Mitwirkung v. R. Hausner, U. Müller u. F. V. Spechtler), Festschrift für Ingo Reiffenstein zum 60. Geburtstag. Göppingen 1988, S. 83-125; zur Rechtssprache im 18. u. 19. Jahrhundert siehe Schräder, Norbert, Termini zwischen wahrer Natur und willkürlicher Bezeichnung. Exemplarische Untersuchungen zur Theorie und Praxis historischer Wissenschaftssprache. Tübingen 1990. Vor allem dann wird das fremde Wort akzeptiert, wenn 1. in der eigenen Sprache entweder kein oder kein semantisch vergleichbar prägnantes Wort vorhanden ist, wenn sich 2. das Fremdwort bereits weitgehend im Sprachgebrauch durchgesetzt hat (es also ein geringeres Kommunikationshindernis darstellt, als dies ein neu eingeführtes Wort der eigenen Sprache darstellen würde) und wenn 3. das Fremdwort strukturell assimiliert ist. Zur Darstellung des Fremdworts in grammatikographischer, stilistischer und sprachtheoretischer Hinsicht im 17. u. 18. Jahrhundert siehe Gardt, Andreas, Das Fremdwort in der Sicht der Grammatiker und Sprachtheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts. Eine lexikographische Darstellung, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 116 (1997), S. 388-412; zum Fremdwortpurismus im 18. u. 19. Jahrhundert siehe Kirkness, Alan, Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789-1871. Eine historische Dokumentation. Tübingen 1975. Z.B. Philipp von Zesen, Rosen-mänd [...]. [1651], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 11, (wie Anm. 13), S. 102f.: Gott „straffet [die Länder]", in dem er sie „mit fremden Völkern/und folgendes mit fremden sprachen und mund-ahrten überfüllet und vermischet"; in diesem Sinne auch: Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. Briefe, Devisen und anderweitige Schriftstücke [...], hg. v. G. Krause. Hildesheim/New York 1973 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1855]; auch Schottelius, Justus Georg, Lamentatio Germaniae Expirantis. Der nunmehr hinsterbenden Nymphen Germaniae elendeste Todesklage (1640), auch Leibniz, Gottfried Wilhelm, Unvorgreijfliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache (entstanden um 1697, veröffentlicht 1717), in: Pietsch, Paul (Hg.), Leibniz und die deutsche Sprache, in: Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. Wissenschaftl. Beihefte, 4. Reihe, Heft 30, (1908), S. 313-356, § 25. Thomasius, Christian, Von Nachahmung der Franzosen. Nach den Ausgaben von 1687 und 1701 hg. v. August Sauer. Stuttgart 1894, S. 11. Thomasius, Christian, Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit [...]. Frankfurt/M. 1971 [Nachdruck der Ausgabe Frankfurt u. Leipzig 1710]. - Das Zitat ist Teil des Titels.
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Andreas Gardt
gefordert. Bei all dem aber bleibt der Wunsch nach einer eigenständigen deutschen Fachterminologie bestehen. Genau an diesem Schnittpunkt der historischen Entwicklung steht Leibniz. Ein Blick in seine Schriften zeigt recht bald, daß sich bei ihm beide Tendenzen finden: die kulturpatriotische Hochschätzung der eigenen Sprache wie auch die Haltung fast kosmopolitischer Offenheit. In gewisser Weise entsprechen den beiden Tendenzen zwei wissenschaftliche Gegenstandsbereiche und Verfahren: auf der einen Seite die sprachpflegerische Beschäftigung mit der deutschen Sprache, auf der anderen die Auseinandersetzung mit sprachphilosophischen Fragen, die jede einzelsprachliche Ausrichtung überschreiten. Als repräsentative Texte fur die Beschäftigung mit dem Deutschen seien hier zwei erwähnt, die Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache beßer zu üben (1679) und die Unvorgreiffliche[n] Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache (entstanden um 1697, veröffentlicht 1717). An wichtigen sprachphilosophischen Arbeiten ließen sich weit mehr auffuhren, darunter etwa De connexione inter res et verba, seu potius de linguarum origine (1677), die zahlreichen, meist fragmentarischen Schriften zu einer logischen Universalsprache (Characteristica universalis, 1903 von Couturat ediert, in diesem Zusammenhang auch die Dissertano de Arte Combinatoria von 1666) und das dritte Buch seiner Nouveaux essais sur l'entendement humain von 1704 (veröffentlicht 1765). Im folgenden sollen zunächst die auf das Deutsche bezogenen Schriften im Hinblick auf ihre Behandlung der Fachsprachenthematik betrachtet werden. Leibniz' Haltung zum Stand der Fachsprachen im Deutschen ist eindeutig: Das Deutsche sei in all jenen Bereichen lexikalisch gut ausgestattet, die „mit den ftinff Sinnen zu begreiffen" sind,18 also in denjenigen Fachsprachen, deren Bezugsgegenstände Realia sind, wie etwa in den Sprachen der Handwerke (z.B. Bergbau, Jagdwesen, Schifffahrt). Ein Mangel herrsche dagegen beim Wortschatz abstrakter Gegenstandsbereiche, etwa der Philosophie und der Logik, aber auch wichtiger Bereiche der Politik und des gesellschaftlichen Lebens („das Sitten-wesen, Leidenschafften des Gemüths, gemeinliche[r] Wandel, Regierungs-Sachen, und allerhand bürgerliche Lebens- und Staats-Geschäffte").19 Die Wortschatzlücken müssen ausgeglichen werden, als Möglichkeiten diskutiert Leibniz: 1. die Übernahme fremden Wortgutes als Fremd- oder als assimilierte Lehnwörter, 2. die ausdrucksseitige Neubildung von Wörtern auf der Grundlage vorhandenen Wortgutes und die entsprechende inhaltsseitige Definition, 3. die inhaltsseitige Neudefinition bereits in der eigenen Sprache vorhandener, allerdings an der Peripherie des Wortschatzes angesiedelter Wörter. Was die Einstellung zur Übernahme fremden Wortgutes angeht, so halten sich bei Leibniz patriotisch motivierter Purismus und pragmatische Toleranz in etwa die Waage: Einerseits lobt er „Stärke" und „Mut" der Deutschen, ihr „edles 18 19
Leibniz, Unvorgreiffliche Gedancken, (wie Anm. 15), S. 330. Ebd., S. 331 f.
Gottfried Wilhelm Leibniz
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Blut", ihre „Aufrichtigkeit", ihr „rechtes Herz", sieht selbst noch die heimischen Äpfel als den exotischen Orangen überlegen (in Ermahnung an die Teutsche) und warnt entsprechend vor dem „Frantz- und Fremd-entzen"20 in der Sprache, was den „Verlust der Freyheit und ein fremdes Joch" mit sich bringen könnte. Andererseits wendet er sich vehement gegen allzu puristische „Rein-Dünckler" und erkennt die Vorteile eines engen kulturellen Kontaktes zu Frankreich. Daneben propagiert er die anderen der erwähnten Möglichkeiten: die ausdrucksseitige Neubildung und die semantische Umdeutung bereits vorhandener, aber selten verwendeter Wörter, insbesondere von Archaismen. All diese Wörter sollen in Wörterbüchern des Deutschen gesammelt werden, darunter auch in einem Fachwörterbuch.21 Mit einem solchen Fachwörterbuch verbindet Leibniz, ganz in aufklärerischer Manier, ein pädagogisches Anliegen, das vor allem seine deutschen Schriften durchzieht und auch in seinen Bemühungen um die Einrichtung der Brandenburgischen Societät der Wissenschaften offenbar wird: Ein Fachwörterbuch würde breiten Teilen der Bevölkerung zugleich Fachwissen zur Verfugung stellen: [...] ein Teutsches Werck der Kunst-Worte [würde] einen rechten Schatz guter Nachrichtungen in sich begreiffen, und sinnreichen Personen, denen es bissher an solcher Kunde gemangelt, offt Gelegenheit zu schönen Gedancken und Erfindungen geben. Denn weil [...] die Worte den Sachen antworten, kan es nicht fehlen, es muss die Erläuterung ungemeiner Worte auch die Erkäntniss unbekandter Sachen mit sich bringen. 22
Der sprachphilosophisch zentrale Gedanke ist der, daß „die Worte den Sachen antworten", also die Sachen ihren sprachlichen Bezeichnungen vorausgehen. Der Gedanke mag selbstverständlich anmuten, verrät jedoch schlagartig seine Problematik, wenn neben den „Sachen" und den „Wörtern" die dritte Größe im Bezeichnungsvorgang einbezogen wird: die „Vorstellungen" (bzw. „Abbilder", „Begriffe", „Konzepte" etc.). Die Sachen erhalten ihre Bezeichnungen (die „Wörter") ja erst aufgrund der Tatsache, daß sie sich als Vorstellungen („Abbilder") im menschlichen Bewußtsein niederschlagen. Wer also behauptet, daß „die Worte den Sachen antworten", beschreibt damit folgendes Verhältnis zwischen den Größen „Sachen", „Vorstellungen" und „Wörtern" (mithin zwischen den Größen Wirklichkeit, Denken und Sprache): Die Gegenstände der Wirklichkeit sind der menschlichen Er-
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Hier und im folgenden: Leibniz, Urtvorgreiffliche Gedancken, (wie Anm. 15), S. 330-335. Zu den Wörterbuchprogrammen der Zeit vgl.: Kühn, Peter/Püschel, Ulrich, Die deutsche Lexikographie vom 17. Jahrhundert bis zu den Brüdern Grimm ausschließlich, in: Hausmann, Franz Josef/Reichmann, Oskar/Wiegand, Herbert Emst/Zgusta, Ladislav (Hg.), Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. 3 Teilbde. Berlin/New York 1989, 1990 u. 1991, 2. Teilbd., S. 2049-2077; Reichmann, Oskar, Geschichte lexikographischer Programme in Deutschland, in: (ebd.), Teilbd. 1, S. 230-246; Henne, Helmut, Deutsche Lexikographie und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders., (Hg.), Deutsche Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Einführung und Bibliographie. Hildesheim/New York 1975, S. 3-37. Leibniz, Unvorgreiffliche Gedancken, (wie Anm. 15), S. 338f.
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Andreas Gardt
kenntnis objektiv vorgegeben und liegen, nach ihrer Perzeption durch die Sinnesorgane, im Bewußtsein als mentale Abbilder vor. Die Wörter wiederum sind die sprachlichen Bezeichnungen dieser Abbilder. Der Erkenntnis- und Versprachlichungsprozeß verläuft also von den Sachen über die Vorstellungen von den Sachen zur Sprache. Diese realistische, auf dem Gegenstandsapriori beruhende Semantik setzt ein umfassendes Sprachvertrauen voraus.23 Denn nur dann können die Wörter den Sachen tatsächlich „antworten", nur dann kann die Erklärung unbekannter Wörter in einem Fachwörterbuch zur „Erkänntnis unbekanndter Sachen" fuhren, wenn die Gegenstände der Wirklichkeit tatsächlich so, wie sie sind, im Bewußtsein abgebildet werden und wenn diese Abbildungen tatsächlich sachadäquat durch die Wörter bezeichnet werden. Ein solches Sprachvertrauen begegnet in zahlreichen Texten der frühen Neuzeit, darunter auch bei Autoren, die, wie Leibniz, ein pädagogisches Anliegen haben (auch wenn dieses pädagogische Anliegen stärker religiös geprägt sein mag, wie dies etwa bei Comenius und Ratke der Fall ist): „Die Dinge sind an sich, was sie sind", schreibt Comenius, „auch wenn keine Vernunft oder Sprache sich mit ihnen verbindet. Die Vernunft und die Sprache aber drehen sich nur um die Dinge und sind ganz von ihnen abhängig".24 Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein begegnet diese Auffassung von der Präexistenz der Dinge gegenüber der Sprache; zumindest außerhalb der Wissenschaften ist sie die dominierende Beschreibung des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit bis in die Gegenwart hinein. 1762 schreibt z.B. Johann Christoph Gottsched, daß die Wörter zwar zunächst nur fur die menschlichen Begriffe von den Dingen stehen, aber man könne der Begriffe, d.h. ihrer ontischen Substanz, „gar wohl versichert seyn: weil man sie nämlich von wirklich vorhandenen Dingen hergenommen hat" (Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, S. 140). Eben diesen Sachverhalt bringt Johann Joachim Becher in seiner Methodvs Didáctico (2. Aufl. 1674)25 ausgesprochen schlicht auf den Punkt: „Ein Hund", so schreibt er, „ist in der gantzen Welt ein Hund", nur heiße er einmal „canis", ein anderes Mal „chien", „cane", „dogge" etc.26 Von den Bezeichnungen kann man aber zurück auf die bezeichneten Abbilder und von dort auf die zugrundeliegenden Sachen gelangen. Es ist nur konsequent, wenn sich die realienorientierte Sprachpädagogik diese realistische Erkenntnistheorie zunutze macht. So ist Becher davon überzeugt, daß
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Der Terminus .realistisch' wird hier und im folgenden weder im alltagssprachlichen Sinne noch in dem fachsprachlichen Sinne des Gegensatzes zu ,nominalistisch', sondern im Sinne eines Gegensatzes zu .idealistisch' verwendet. „Res per se sunt, id qvod sunt, qvávis se illis nulla ratio aut lingva applicet: Ratio verò & Lingva tantum circa Res versantur, & ab illis pendent [...]", aus: Comenius, Johann Amos, Didáctico magna [...]. [1657]. Nachdruck hg. v. d. tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. 3 Bde. Bd. 1. Prag 1957, 30/5. Becher, Johann Joachim, Methodvs Didáctico. 2. Aufl. Frankfurt 1674. Ebd., „Vorred" u. S. 4.
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der Schiller mit dem Spracherwerb zugleich „einen breiten Schritt in die Physicam, und Bedeutung der Sachen" mache,27 eine Vorstellung, die mit der Hoffnung von Leibniz auf Wissensvermittlung durch ein deutsches Fachwörterbuch im Grunde identisch ist. Voraussetzung ist allerdings, daß die Schüler die Fachwörter verstehen, diese also in deutscher Sprache vorliegen, und einer der Leitsätze der „Ratichianischen Lehrkunst" (d.h. der auf den Köthener Schulreformer Wolfgang Ratke zurückgehenden Lehrmethode) ist daher die Formel „Alles zu erst in der Mutter Sprach".28 Mit dieser sachsemantischen Konzeption und der damit einhergehenden Aufgabenbeschreibung von Fachtermini und -Wörterbüchern ist jedoch erst ein Teil des Fachsprachenkonzeptes bei Leibniz beschrieben, sprachtheoretisch der wohl weniger spektakuläre Teil. Wenn sich Leibniz in der bislang dargestellten Weise über Sprache im allgemeinen und Fachsprachen im besonderen äußert, dann tut er dies mit Blick auf die Bewältigung des fachlichen Alltags. Für die Handwerke und traditionellen Gewerbe, aber auch für akademische Disziplinen, soweit sie in einem mehr oder weniger unmittelbaren Bezug zur Lebenspraxis stehen, fordert er eine auch kommunikationsgerechte Sprache. Das Verhältnis zwischen Sprachzeichen und bezeichneten Gegenständen soll selbstverständlich denotativ korrekt und möglichst eindeutig sein, doch stehen diese semantischen Relationen auch im Dienste der optimalen Verständigung über die Gegenstände der Welt: Jeder Autor müsse über einen Vorrat an „bequemen und nachdrücklichen Worten" verfugen, heißt es in den Unvorgreifflichen Gedancken, damit er die zu bezeichnenden Gegenstände „kräfftig und eigentlich vorstellen und gleichsam mit lebenden Farben abmahlen könne." Bequem, nachdrücklich, kräftig, lebend - an anderer Stelle verwendet Leibniz die Adjektive .naturalis' (natürlich), ,proprius' (nicht figürlich), .simplex' (schlicht), .perspicuus' (deutlich, verständlich), .facilis' (eingängig), ,popularis' (üblich)29 - sind Ausdrücke aus dem Bereich der Rhetorik, nicht aus dem der Analytik, und es liegt auf eben dieser Linie des rhetorischen Sprachbegriffs, wenn Leibniz die Konzepte der ,claritas' und .Veritas' in seiner NizoliusVorrede als Forderung an Fachsprachen nicht über die Genauigkeit der semantischen Relationen, sondern rein pragmatisch-kommunikativ bestimmt: ,Klar' ist eine Sprache, deren Wortbedeutungen alle bekannt sind („Clara est oratio cuius
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Ebd., S. 97. Helwig, Christopher/Jung, Joachim, Artickel/Auff welchen fìirnehmlich die Ratichianische Lehr Kunst beruhet [um 1614/15], in: Ratichianische Schriften II. Mit einer Einl. u. Anm. hg. v. P. Stötzner. Leipzig 1893, S. 11-25, Zitat S. 12. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Marii Nizolii de veris principiis et vera ratione philosophandi contra pseudophilosophos libri 4 [1670], in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, später Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin bzw. Akademie der Wissenschaften der DDR, seit 1993 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Darmstadt, später: Leipzig, dann Berlin 1923ff. [= Akademieausgabe]. 6. Reihe: Philosophische Schriften. Bd. 2. Berlin 1966, S. 398-444, S. 408.
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omnium vocabulorum significationes notae sunt [...]"),30 ,wahr' ist sie, wenn sie von jemandem verstanden wird, der einen durchschnittlichen Standpunkt gegenüber den Gegenständen hat („Vera est oratio quae sentiente et medio recte disposito sentietur [...]").31 Im Vorangehenden stand Leibniz als Sprachpfleger im Mittelpunkt, der um den Ausbau des Deutschen zur leistungsfähigen Fach- und Wissenschaftssprache bemüht ist. Die dabei konzipierte Form der Fachsprache basiert auf dem Wunsch nach möglichst umfassender zeichenrelationaler Genauigkeit, die jedoch stets im Dienste der Kommunikation über das Fachgebiet steht. Eine solche Sprache ermöglicht es vernünftigen Individuen, sich die Welt kognitiv anzueignen, in einer Weise, daß diese Aneignung der individuellen Vervollkommnung des Menschen und zugleich der Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft im Sinne abendländisch-christlicher Ethik dient. Von diesem Typ der Fachsprache hebt sich ein zweiter ab, der erst das Attribut „rationalistisch" voll und ganz rechtfertigt. Dieser Typ der Fachsprache basiert auf der Annahme, daß die natürlichen Sprachen (fur Leibniz also das Deutsche) den höchsten Anforderungen nach semantischer Exaktheit gar nicht gerecht werden können. Ihr historisches Herkommen und ihre Abhängigkeit von den sich wandelnden Gebrauchsinteressen der Sprecher bringt schon auf der Ebene des Sprachsystems unweigerlich Phänomene wie Polysemie, Homonymie, Synonymie und semantische Vagheit mit sich, ferner die unterschiedlichen lexikalischen Repräsentationen der Wirklichkeit in den verschiedenen Einzelsprachen, die Tendenz zu strukturellen Unregelmäßigkeiten anstelle eines streng nach dem Analogieprinzip aufgebauten Regelwerks, schließlich die Formen des uneigentlichen Gebrauchs, wie er etwa in rhetorisch gestalteter Sprache üblich ist. Werden solche Erscheinungen in Texten der frühen Neuzeit kritisiert und nicht als selbstverständlich hingenommen, dann ist diese Kritik häufig - jedenfalls bei Leibniz und ähnlich gesinnten Autoren - von einem bestimmten Erkenntnisideal getragen: dem der Mathematik und der aufkommenden Naturwissenschaften. Die vollkommene Sprache ist dann die morphologisch, syntaktisch und semantisch vollständig durchsichtige Sprache, deren Zeichen in einem Verhältnis der Eindeutigkeit, idealiter sogar der Eineindeutigkeit und der strukturellen Isomorphic zu den bezeichneten Vorstellungen und damit letztlich auch zu den Gegenständen der Wirklichkeit stehen. Das Konzept einer solch absolut präzisen Sprache ist zugleich Ausdruck und Stimulans des genuin neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs. Charakteristisch für seine Repräsentanten ist ein Verfahren der Beweisführung, das sich deutlich von den Argumentationsverfahren anderer, zumeist früherer Autoren unterscheidet. Vergleicht man diese Verfahren z.B. bei Leibniz, dem Anfang des 17. Jahrhunderts 30 31
Ebd., S. 408f. Ebd., S. 409. - Leibniz bezieht sich hier auf eine wünschenswerte Fachsprache der Philosophie, allerdings denkt er dabei nicht an die analytische lingua philosophica.
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schreibenden Sprachmystiker Jacob Böhme und dem Grammatiker Schottelius, dann zeigt sich, daß Leibniz den rationalen, schlüssigen wissenschaftlichen Stil und Diskurs (ein gängiges Begriffspaar lautet „clarus et distinctus") nicht nur fordert, sondern selbst praktiziert: Wo Böhme seine Sachverhalte stark bildhaft, assoziativ und im Hinblick auf die Entwicklung des Arguments häufig zirkulär präsentiert (z.B.: „Denn alles, was da lebet und schwebet, das ist in GOtt, und GOtt selber ist alles; und alles, was gebildet ist, das ist aus Ihm gebildet"), 32 verfahrt Leibniz streng linear, die einzelnen Schritte der Argumentation in kausale oder finale Beziehungen stellend. Und wo Schottelius die Beweise fur seine Behauptungen aus der allgemeinen Lebenserfahrung, aus der wissenschaftlichen Tradition oder aus vermeintlich universell gültigen metaphysischen Einsichten gewinnt (z.B. „Es ist [...] unserem Gemüte angeboren [...]"; „Das Alter eines Dinges ist ein Vorbotte seines Unterganges [...]"; die Betrachtung eines jeden, auch wissenschaftlichen Gegenstandes fuhrt zur Einsicht in die „stets=bleibende Unbeständigkeit alles irdischen Wesens"), 33 liefert Leibniz nicht selten einen Beweis mit Hilfe der Logik.34 Im Zuge der Beschäftigung mit den Voraussetzungen und Möglichkeiten einer präzisen Fachsprache wird die naive Sachsemantik, mit ihrer Überzeugung vom Primat der Dinge gegenüber den Vorstellungen und Wörtern, aufgegeben. Stattdessen diskutieren die Philosophen und Vertreter der Allgemeinen Grammatik den Einfluß der Sprache auf das Denken und damit auf die kognitive Aneignung von Wirklichkeit. Dieser Einfluß wird zum Teil als negativ, zum Teil als positiv beschrieben. In negativer Sicht gilt die Sprache als eine erkenntnisbildende Größe, die dem Bewußtsein falsche Auffassungen von der Realität vermittelt. In dieser Sprachkritik sind sich angelsächsische Empiristen wie kontinentale Rationalisten durchaus einig. In seinem Essay concerning human understanding von 1689 stellt John Locke fest, daß die Wörter nicht „for the reality of things" stehen, sondern nur fur die Vorstellungen der Menschen von der Realität der Dinge (III/II/5).35 Bei der Zuweisung der Bezeichnungen zu den Dingen lasse sich der Mensch von den Erfordernissen des Alltags leiten (III/VI/30), orientiere sich an den äußerlichen Erscheinungen der Phänomene, nicht aber an ihrer tatsächlichen Substanz (III/VI/25f.) und verfahre dabei zumindest „with some liberty" (III/VI/27), gelegentlich gar „very arbitrarily" (III/V/3). So geschehe es, daß man substantiell iden-
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Böhme, Jacob, Avrora oder Morgenröthe im Aufgang [...]. [1612], in: ders., Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730. 11 Bde. Begonnen von A. Faust, neu hg. v. W.-E. Peuckert. Bd. 1. Stuttgart 1955, 13/115. Schottelius, Ausführliche Arbeit, (wie Anm. 5), S. 29f. Zu einer Analyse der Argumentationstechnik der Autoren siehe Gardt, Sprachreflexion, (wie Anm. 1), S. 32^t4. Locke, John, An Essay concerning Human Understanding [1689], hg. v. Peter H. Nidditch. Oxford 1975. - Die erste römische Ziffer gibt das Buch, die zweite das Kapitel an; die arabische Ziffer nennt den Paragraphen.
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tische Gegebenheiten mit völlig unterschiedlichen Bezeichnungen belege, wie man an den Ausdrücken „water" und „ice" (III,VI,13) erkennen könne. Indem sie uns ein Bild von der Realität nahelegen können, das sachlich falsch ist, können uns die sprachlichen Kategorien regelrecht in die Irre fuhren. Sprache kann zwischen unser Erkennen und die Wahrheit der Dinge treten („between our Understandings, and the Truth", III/IX/21). Leibniz übernimmt diese sprachskeptische Position Lockes in seinen Nouveaux essais, der Antwortschrift auf Lockes Essay. Ein Wort wie z.B. das in einigen Strömungen der griechischen Philosophie verwendete „Pflanzenseele" („ames vegetatives", III/X/14)36 suggeriere fälschlicherweise, daß Pflanzen Seelen haben. Wer über den Inhalt eines Wortes verfugt, verfugt noch lange nicht über die sachlich zutreffenden Vorstellungen von den Dingen („ideas rerum"),37 die der Ausdruck bezeichnet. Dieser letztlich in nominalistischer Tradition stehende Zweifel am Erkenntniswert der Sprachzeichen wird von Leibniz von den Zeichen selbst, die bereits als isolierte Einheiten ontologisch ,wahr' oder eben ,falsch' bezeichnen, auf die Verwendung der Zeichen in der Rede übertragen. Zu der Möglichkeit zeicheninhärenter Fehlerhaftigkeit tritt dann die Möglichkeit einer der Realität der Dinge nicht entsprechenden Verwendung von Zeichen. Offenkundig wird das unter anderem in metaphorischer, also uneigentlicher Sprache, und so kritisiert Leibniz auch „Γaffectation de l'élégance", 38 die dazu beitrage, „falsche Ideen hervorzurufen, die Leidenschaften zu erwecken und das Urteil irrezuleiten" („insinuer de fausses idées, émouvoir les passions et seduire le jugement"). 39 Der negativen Bewertung der kognitiven Leistung von Sprache steht ihre positive gegenüber. Ohne Sprache könnten wir „niemals etwas deutlich denken noch schließen",40 sie ist „instrumentum rationis",41 mit deren Hilfe sich der Mensch die Welt kognitiv zu eigen macht. Die Wörter sind wie Münzen, mit denen wir kognitiv handeln (in den Unvorgreifflichen Gedancken spricht Leibniz von „Rechenpfennigein]"), sie fungieren als Abkürzungen für komplexe Vorstellungen und ersparen es uns, bei jedem Denkvorgang den Gegenstand unserer Reflexion in sei36
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Leibniz, Gottfried Wilhelm, Nouveaux essais sur l'entendement humain [1704], in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe [= Akademieausgabe, wie Anm. 29], 6. Reihe: Philosophische Schriften. Bd. 6. Berlin 1962. - Dt. Text nach: ders., Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, hg. u. übers, v. Wolf von Engelhardt u. Hans Heinz Holz. Frankfurt 1961. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Meditationes de Cognitione, Vertíate et Ideis [1684], in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Hildesheim 1965 [Nachdruck der Ausgabe Berlin 1875-1890], Bd. 4, S. 422^126, hier S. 424. Leibniz, Nouveaux essais, (wie Anm. 36), II/XXIX/12. Ebd., III/X/34. „Imo si characteres abessent, nunquam quicquam distincte cogitaremus, neque ratiocinaremur". In: De connexione inter res et verba, seu potius de linguarum origine, in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, (wie Anm. 37), Bd. 7, S. 190-193, S. 191. Brief an Oldenburg, 1673, in: Sämtliche Schriften und Briefe [= Akademieausgabe, wie Anm. 29], Reihe 2, Bd. 1, S. 239.
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ner ganzer Komplexität, mit all seinen Merkmalen vor unserem geistigen Auge haben zu müssen.42 Komplexes und effizientes Denken kann nur in Sprache verlaufen. Dies festzustellen bedeutet fur Leibniz aber nicht, daran zu zweifeln - und darin liegt das Entscheidende seines Sprachbegriffs - , daß die Dinge eine objektive, sprachunabhängige Existenz besitzen und wir in der Lage sind, diese Existenz der Dinge in ihrer objektiven Qualität zu erkennen („daß die Dinge dadurch daran gehindert werden, vom Verstand unabhängige reale Wesenheiten zu haben, und wir, sie zu erkennen").43 Wenn aber das Denken sprachlich gebunden ist und wir zugleich mittels dieses Denkens zur objektiven Wahrheit der Dinge gelangen wollen, dann ist das nur möglich, wenn die Sprache von einer Art ist, die uns das erlaubt. Eben aus dieser Notwendigkeit ergibt sich die rationalistische Forderung nach künstlichen Sprachen, die nicht der Geschichtlichkeit und den Veränderungen durch den Gebrauch ausgesetzt sind, sondern deren Ausdrucks- und Inhaltsseiten und deren Regelwerk vom Menschen in vollständiger Arbitrarität präzise festgelegt werden können. Nur eine stark formalisierte Sprache kann das leisten, eine Sprache also, die nicht auf den lexikalischen Kategorien und syntaktischen Regeln bereits existierender Sprachen aufbaut. Ausgangspunkt muß die Festlegung einfacher, nicht mehr zerlegbarer Vorstellungen sein (Leibniz spricht von „notiones primitivae" und „termini primi", insgesamt von einem „Alphabetum cogitationum humanarum").44 In ihren Verbindungen spiegeln diese Vorstellungen sämtliche Gegebenheiten der Wirklichkeit („omnes res totius mundi").45 Diesen einfachen Vorstellungen werden nun Zeichen in einer Weise zugeordnet, daß zwischen Zeichen und Vorstellung absolute Strukturgleichheit besteht.46 Bei Einhaltung bestimmter Verbindungsregeln (d.h. morphologischer und syntaktischer Regeln) läßt sich aus einer gegebenen Zeichenverbindung auf die bezeichneten Vorstellungen und deren Verbindung und damit auf die zugrundeliegenden Gegenstände der Wirklichkeit und deren faktische Verknüpfung schließen. Das Ideal der Eineindeutigkeit ist dann erreicht, wenn sich die Bedeutung des Ausdrucks ,homo' zu den Bedeutungen der Ausdrücke ,animal' und .rationalis' genauso verhält wie die Werte der Primzahlen 2 und 3 zum Wert der Zahl 6 (6 = 2 χ 3; homo = animal + rationalis).47 Mehr noch: Mit Hilfe einer solchen lingua rationalis wäre man sogar in der Lage, bislang unerkannte Wahrheiten zu erschließen, sie als ars inveniendi
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Vgl. etwa Leibniz, Nouveaux essais, (wie Anm. 36), III/I/2. „Mais je ne vois point qu'elle puisse empecher les choses d'avoir des essences réelles independament de l'entendement, et nous de les connoistre [...]", ebd., III/VI/27, vgl. auch III/V 1/28 u. ΙΠ/ν/9. Z.B. in [Characteristica Universalis], in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, (wie Anm. 37), S. 184-189, hier S. 185. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Elementa Calculi [1679], in: Opuscules et fragments inédits de Leibniz, hg. ν. Louis Couturat. Paris 1903, S. 49-57, hier S. 50. Vgl. dazu Leibniz, [Characteristica Universalis], (wie Anm. 44), S. 185 u. Leibniz, Meditationes, (wie Anm. 37), S. 423. Leibniz, De veris principiis, (wie Anm. 29), S. 50 u. S. 53f.
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einzusetzen. Streitigkeiten bezüglich der Wahrheit von Aussagen über die Welt ließen sich klären, indem man nachrechnet. 48 Leibniz steht mit diesen Überlegungen in einer vielschichtigen Tradition, die an dieser Stelle nicht ausgeführt werden kann. 49 Sie reicht von der mittelalterlichen, noch religiös ausgerichteten Kombinationskunst des Raimundus Lullus über die Kryptologie, einschlägige Äußerungen Descartes' (z.B. in seinem Brief an Mersenne vom 20. November 1629) bis hin zu seiner eigenen Monadenlehre. Der Grundgedanke ist stets der, daß sich komplexe Einheiten (Gegenstände, Vorstellungen, Sprachzeichen) in einfache Einheiten zerlegen lassen und daß sich aus der Kombination dieser einfachen Einheiten nach genau festgelegten Regeln letztlich das ganze Universum beschreiben läßt. So versteht Leibniz seine utopische characteristica universalis denn auch als eine moderne, säkulare Variante jener verlorengegangenen lingua adamica des Paradieses, in der jedem Ding das ihm vollkommen entsprechende Wort zukam. 50 Bei aller Einsicht in die sprachliche Konstituiertheit des Denkens also und trotz aller Sprachskepsis ist Leibniz' rationalistischer Sprachbegriff von einem Erkenntnisoptimismus getragen, der den modernen Betrachter, der sich allen Formen der Dekonstruktion und der Relativierungen der Erkennntis ausgesetzt sieht, fast mit Neid erfüllt ( - dieser Erkenntnisoptimismus unterscheidet Leibniz' Sprachbegriff im übrigen auch von dem sprachlichen Relativitätsdenken, das in der Tradition Humboldts steht). Es ist der Optimismus auch der frühen Naturwissenschaften, deren Erkenntnisideal auf eine präzise Beschreibung der Dinge in ihrem objektiven Gegebensein zielt, bei immer größerer Vermehrung des Wissens über die Welt. Wie die Naturwissenschaften richtet auch Leibniz sein Interesse auf „die Natur der Dinge" („la nature des choses"), 51 auf das, was tatsächlich existiert („qui existe effectivement"). 52 Hinter den vielen sprachlich bedingten Perspektiven auf die Wirklichkeit steht, sozusagen als Archephänomen, die einzige, verbindliche' Wirklichkeit. In der Monadologie schreibt Leibniz: 53 Und wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, immer wieder anders und gleichsam perspektivisch vervielfältigt erscheint, so gibt es vermöge der unendlichen 48 49 50
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Leibniz, [Characteristica Universalis], (wie Anm. 44), S. 188f. Vgl. dazu Gardt, Sprachreflexion, (wie Anm. 1), S. 212ff. u. 332ff. Vgl. z.B. Leibniz, [Characteristica Universalis], (wie Anm. 44), S. 184; Leibniz, Nouveaux essais, (wie Anm. 36), III/II/l u. Leibniz, De connexione, (wie Anm. 40), S. 191 f. Leibniz, Nouveaux essais, (wie Anm. 36), III/V/9. Ebd., III/VI/28. „Et comme une même ville regardée de differens côtés paroist toute autre et est comme multipliée perspectivement, il arrive de même, que par la multitude infinie des substances simples, il y a comme autant de differens univers, qui ne sont pourtant que les perspectives d'un seul selon les differens points de veue de chaque Monade". § 57, dt. Text S. 448, in: Leibniz, Gottfried Wilhelm, Monadologie [1714], in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, (wie Anm. 37), Bd. 6, S. 607-623. - Dt. Text: Leibniz, G. W., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übers, v. Artur Buchenau. Durchges. u. mit Einleitungen u. Erläuterungen hg. v. Ernst Cassirer. 2 Bde. 3. Aufl. Hamburg 1966. Bd. 2, S. 435^»56.
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Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebensoviele verschiedene Welten, die indes nichts andres sind, als - gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade - perspektivische Ansichten einer einzigen.
Es ist keine Frage, daß Leibniz die logisch-analytische Kunstsprache nicht als mögliche Fachsprache für die kommunikative Bewältigung eines fachlichen Alltags versteht. Das Sprachverständnis aber, das ihr zugrunde liegt, ist dasselbe wie das seiner Fachsprachenkonzeption, wenn auch dort in einer auf die Realität des Alltags zugeschnittenen, weniger strikten Form. Wie die lingua rationalis das logische Denken zugleich ermöglicht und schult, so haben diejenigen „Nationen, deren Sprache wohl ausgeübt und vollkommen gemacht [wird], [...] einen großen Vorteil zur Schärfung ihres Verstandes". 54 Und hier wie dort gilt, daß man an der einmal definierten Bedeutung eines (Fach-)Terminus unbedingt festhalten müsse („constantissime insistendum est") 55 bzw. daß bei der Verwendung eines Terminus seine Bedeutung stets klar sein und sich umgekehrt bei vorgegebener Bedeutung der zugehörige Terminus sofort einstellen müsse. 56 Das Ideal ist die zeichenrelational eindeutige, von vernünftigen Individuen im allgemeinen Konsens souverän gehandhabte Sprache, mit der sich die Welt in ihren Details bezeichnen und intellektuell erschließen läßt. Dieses rationalistische Ideal der Fachsprache setzt sich zu großen Teilen bis in die Gegenwart fort, in theoretischer Hinsicht bis zur sprachanalytischen Philosophie, in anwendungsbezogener Hinsicht bis in die moderne Fachsprachenforschung und -lehre. Es ist keine Frage, daß sich Überlegungen von Leibniz in den Arbeiten Gottlob Freges ebenso wiederfinden wie in den Schriften des frühen Wittgenstein. Freges „Begriffsschrift" z.B. zielt ebenfalls, auf der Basis eindeutiger Bedeutungszuweisungen, auf eine Kongruenz von „Satzgefüge" und „Gedankengefuge" 57 zum Zwecke der präzisen Formulierung von Aussagen. Und Wittgensteins vielzitierte Rede von der „Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache" 58 ergibt nur einen Sinn, wenn eine Alternative zumindest denkbar ist. In seiner Anthropologie der Technik von 1978 schreibt Hans Sachsse, daß sich die Technik
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Einige patriotische Gedanken [1697], in: Leibniz, Gottfried Wilhelm, Deutsche Schriften, hg. v. Walther Schmied-Kowarzik. 2 Bde. Leipzig 1916. Bd. 1, S. 3 - 8 , Zitat S. 5; ähnlich der Beginn der Unvorgreifjflichen Gedancken. Leibniz, De veris principiis, (wie Anm. 29), S. 411. „Atque ita patet dato vocabulo quae adhibenda sit significatio, videamus, et contra: datae significationi quod adhibendum sit vocabulum", ebd., S. 411. Frege, Gottlob, Logische Untersuchungen [1923-26]. 3. Teil: Gedankengefuge, in: ders., Logische Untersuchungen, hg. v. Gunther Patzig. Göttingen 1966, S. 72-91, hier S. 72ff.; ders., Begriffsschrift und andere Aufsätze, hg. v. I. Angelelli. 2. Aufl. Darmstadt 1964. Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen I [verf. 1945], in: ders., Schriften. Frankfurt 1960, S. 2 7 9 ^ 8 4 , § 109.
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Andreas Gardt nicht mit den Deutungen, den Bewertungen, den Beurteilungen der Dinge, sondern mit den Dingen selbst [befaßt], sie ist sozusagen in der Lage, die ganze Kompliziertheit der Bewußtseinsprozesse zu unterlaufen und zur konkreten Wirklichkeit selbst vorzustoßen.59
Daß die Technik auch die Sprache unterläuft, ist dabei ganz selbstverständlich mitgemeint. Die in der Fachsprachenforschung nach wie vor dominierende Sprachkonzeption läßt die Nähe zur hier beschriebenen rationalistischen erkennen. Eine Untersuchung von etwa 150 Arbeiten der Fachsprachenforschung aus der Zeit nach 1960 zeigt die Vergleichbarkeit:60 Immer wieder werden fur die Fachsprache gefordert Präzision, Systematik, Ökonomie, Sachbezogeneheit, „exakte Definitionen", „Klarheit", „Eindeutigkeit", „Stringenz", „Konsistenz", „Widerspruchsfreiheit" etc. Mit all dem ist nicht gesagt, daß es zu dieser Sicht der Fachsprache keine Alternativen gäbe. Sie stammen in der Gegenwart entweder aus dem Umfeld der Pragmatik oder, traditioneller, aus dem der Hermeneutik. Diese Alternativen und die in ihnen zum Ausdruck gelangende Kritik am rationalistischen Sprachbegriff zu diskutieren, ist jedoch nicht Thema dieses Beitrags.61
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Sachsse, Hans, Anthropologie der Technik. Braunschweig 1978, S. 122. Gardt, Andreas, Sprachtheoretische Grundlagen und Tendenzen der Fachsprachenforschung, in: Zeitschrift flir germanistische Linguistik 26 (1998), S. 31-66. Dazu vgl. Gardt, Sprachtheoretische Grundlagen, (wie Anm. 60).
ULRIKE HASS-ZUMKEHR ( M a n n h e i m )
Spiegelungen der Rechtssprache in der Lexikographie1
Alte Sprachwörterbücher und auch Sachenzyklopädien sind heutzutage in allen Disziplinen als Kulturdokumente vergangener Epochen beliebt, weil sich, so heißt es oft, die Vorstellungen einer Zeit in ihnen spiegeln. Es scheint ein Leichtes, je nach Untersuchungsziel dort explizite Aussagen zu den in Frage stehenden Ideen aufzufinden. Erfahren wir also, wie „man" im 18. Jahrhundert über das Recht gedacht hat, wenn wir in den Wörterbüchern dieser Zeit die sinn- und sachverwandten Stichwörter hierzu aufschlagen? Nein, so einfach ist es nicht - der ZeitSpiegel Wörterbuch oder (Sach-)Lexikon enthält ebenso viele Brechungen wie etwa ein Reisebericht oder sonst irgendeine literarische Gattung. Wie bei diesen können auch Wörterbücher und Enzyklopädien nur dann als historische Quelle oder als Hilfsmittel zur Feststellung der Normalbedeutung benutzt werden, wenn über die Art der jeweiligen Brechung Klarheit hergestellt worden ist. Autoren und Adressaten der Wörterbücher stehen in einer Diskussion über den aktuellen Zweck und die gesellschaftliche Aufgabe ihrer Arbeit, so daß uns aus diesen Werken heute keineswegs eine glatte Abbildung des Denkens und Handelns früherer Epochen entgegenleuchtet, sondern immer eine Mischung aus Dokumentation und versuchter Einflußnahme auf die Sprache und die Weltsicht der Benutzer.2 Enzyklopädien stehen ebenfalls, aber in partiell anderen, Diskussionen und Diskursen; ich beschränke mich hier auf sprachbezogene Lexika, d.h. auf Wörterbücher. Die vom Veranstalter zitierte Generalinstruction (vgl. Einleitung, S. 1) des brandenburgischen Kurfürsten vom 11. Juli 1700 steht im Kontext einer zeitlich wie personell ausgedehnten Programm-Diskussion über die Möglichkeiten der „Verbesserung der deutschen Sprache" (Leibniz). Sprachplanerische Eingriffe von staatlichen Institutionen oder gesellschaftlich einflußreichen Personengruppen waren seinerzeit nichts vollkommen neues, aber neu war, daß sich das sprachplanerische Instrumentarium nun auf das Wörterbuch konzentrierte. Mit keinem anderen Medium vor Erfindung des Computers läßt sich der Wortschatz einer Sprache
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Da der Verlag Einheitlichkeit der Rechtschreibung verlangt, stimmte die Autorin einer Rückänderung ihres Beitrags in die alte Schreibung zu. Vgl. Haß-Zumkehr, Ulrike, Der Lexikograph als Hermeneut. Über die historisch-kulturelle Gebundenheit von Wörterbüchern, in: Tommola, Hannu/Varantola, Krista/Salmi-Tolonen, Tarja/Schopp, Jürgen (Hg.), EURALEX '92 Proceedings I—II. Tampere/Finnland 1992, S. 6 2 1 629; Haß-Zumkehr, Ulrike, Die kulturelle Dimension der Lexikografie am Beispiel der Wörterbücher von Adelung und Campe, in: Gardt, Andreas/Haß-Zumkehr, Ulrike/Roelcke, Thorsten (Hg.), Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Berlin 1999, S. 247-266.
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so gut sammeln, ordnen, vergleichen und kommentieren wie mit alphabetisch oder auch sachlich geordneten Listen. Zu diesem kognitiven Nutzen der Wörterbücher tritt aber noch ein autoritativer: In der Sicht der Benutzer stellen Wörterbücher immer irgendeine sprachliche Norm dar, die in Zweifelsfallen entscheidet.3 Diese Funktion hatte in der humanistischen Schullexikographie und auch in den Werken der barocken Sprachgesellschaften eine feste Tradition ausgebildet. Die Textsorte Wörterbuch entspricht den gesellschaftlichen Ordnungs- und Orientierungsbedürfnissen in sprachbezogener Hinsicht wie keine andere. Festzuhalten ist, daß die ideale Verbindimg von kognitiver und autoritativer Funktion das Wörterbuch bis in die Gegenwart zum bevorzugten Instrument der Sprachplanung werden ließ. Es scheint sogar, daß dies um 1700 in besonderer und zum Teil neuartiger Weise entdeckt wurde: Also hat es der Verfertiger gegenwärtigen Wörter-Buchs gewagt, und seine Arbeit herausgegeben, ohngeachtet viele daran gezweifelt, ob es so weit zum Stand kommen werde. Es hat ihm die λεξικοφιλια, oder Liebe zum Lexicon-Schreiben so vieler gelehrten Leute, ja sogar die λεξικομανια oder damit vorgehende Raserey dieses Seculi allerdings viel geholfen, und die Arbeit etwas erleichtert.4
Der dies schrieb, Johann Leonhard Frisch, war seit 1706 Mitglied der Preußischen Societät der Wissenschaften, stand mit Leibniz in Korrespondenz und setzte die obrigkeitlichen Aufforderungen zu Wortschatzsammlung zwecks Verbesserung der „teutschen Haubtsprache" in die Tat um. Die allgemeine lexikographische „Raserey" bezog sich aber nicht nur auf die allgemeinsprachliche, d.h. auf die überregionale Standardsprache zielende Lexikographie, sondern auch auf die Lexikographie der Mundarten, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts zuerst in Niederdeutschland zu entstehen beginnt, und jener der beruflichen Sondersprachen („Seemanns-", „Kaufmanns-", „Bergmannssprache") ab 1712.5 In allen Fällen ist als eines unter mehreren Motiven immer auch die Behebung juristischer Verständigungsprobleme anzunehmen; die lexikographische Parallelisierung mundartlicher bzw. funktional spezifischer Rechtswortschätze beförderte nicht nur den Sprach-, sondern auch den Rechtsausgleich im Deutschen Reich. Ich möchte im folgenden an diesem und zwei weiteren deutschen Wörterbüchern des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zeigen, wie sich die sprachplane-
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Ripfel, Martha, Die normative Wirkung deskriptiver Wörterbücher, in: Hausmann, Franz Josef/Reichmann, Oskar/Wiegand, Herbert E./Zgusta, Ladislav (Hg.), Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. Berlin 1989. 1. Teilbd., S. 189-208. Frisch, Johann Leonhard, Teutsch-Lateinisches Wörter-Buch. Nachdruck der Ausg. Berlin 1741 mit e. Einf. u. Bibliographie hg. von Gerhardt Powitz. Hildesheim 1977, „Vorbericht", S. XIV v. Vgl. Kühn, Peter/Püschel, Ulrich, Die deutsche Lexikographie vom 17. Jahrhundert bis zu Grimm ausschließlich, in: Hausmann/Reichmann/Wiegand/Zgusta (Hg.), Wörterbücher, (wie Anm. 3). Berlin 1990. 2. Teilbd., S. 2049-2078.
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rischen Ideen von Leibniz bis zur Pädagogik der Spätaufklärung auf die Behandlung der Rechtssprache ausgewirkt haben. Es handelt sich außer dem erwähnten Werk von Frisch um das Grammatisch-Kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung, d.h. um die 2. bearbeitete Auflage dieses Werks von 1793-1801.6 Und drittens um das in kritischer Opposition zu Adelung entstandene Wörterbuch der deutschen Sprache von Joachim Heinrich Campe, dem Pädagogen, Volksaufklärer und Fremdwortpuristen. Dieses fünfbändige Werk erschien 1807-1811.7 Daß auch diese spät datierten Wörterbücher noch in die Aufklärung hineingehören, läßt sich anhand ihrer Methodik erweisen und erklärt sich auch aus der langen Vorbereitungszeit der immer umfangreicheren Werke. Generell werden im Wortschatz der Rechtssprache diverse Bereiche oder Schichten unterschieden; ich greife hier exemplarisch auf neuere Arbeiten von Schmidt-Wiegand zurück.8 Üblicherweise geht die Klassifikation dabei von den Entstehungszeiträumen der Wörter im Zusammenhang mit wesentlichen Rechtsentwicklungen aus. Man könnte demnach die Behandlung des Germanischen Rechtswortschatzes, des Rechtswortschatzes des frühen, hohen, späten Mittelalters usw. in den Wörterbüchern untersuchen. Dagegen spricht die sehr andere Sicht des 18. Jahrhunderts auf Geschichte und Wortgeschichte. Im Unterschied zu dieser genetischen Klassifikation habe ich deshalb für meine lexikographische Untersuchung Kriterien in den Mittelpunkt gestellt, die im sprachreflexiven Horizont der Wörterbuchautoren des 18. Jahrhunderts lagen. Hiernach muß sich der Rechtswortschatz einordnen lassen in außerhalb und innerhalb der Gemeinsprache stehende und in überlappende Bereiche, linguistisch gesprochen in fachinterne, fachexterne und allgemeinsprachliche. In der Sicht der damaligen Lexikographen spielten hierbei die Entlehnungen aus dem Lateinischen, Französischen und sogar schon aus dem Englischen eine große Rolle; fremde Wörter wurden einheimischen in differenzierter Weise gegenübergestellt.
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Adelung, Johann Christoph, Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. 5 Bde. Leipzig 1775-1786; ders., Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Leipzig 1793-1801. Nachdruck hg. und mit einer Einl. versehen v. Helmut Henne. Hildesheim 1975; Henne, Helmut, Einführung und Bibliographie zu Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1793-1801), in: ders. (Hg.), Deutsche Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Einführung und Bibliographie. Hildesheim 1975, S. 109-142. Campe, Joachim Heinrich, Wörterbuch der deutschen Sprache. 5 Bde. Braunschweig 18071811. Nachdruck mit einer Einf. und Bibliogr. hg. v. Helmut Henne. Hildesheim 1969. Schmidt-Wiegand, Ruth, Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte bis zum Ende des Mittelalters (Artikel Nr. 5), in: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonderegger, Stefan (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 1. Teilbd., 2. Aufl. Berlin 1998, S. 72-87; dies., Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte seit dem Ausgang des Mittelalters (Artikel Nr. 6), in: Besch/Betten/ Reichmann/Sonderegger (Hg.), Sprachgeschichte, (wie oben), S. 87-98.
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Außer der Unterscheidung deutsch vs. fremdsprachlich lag auch das Kriterium mündlich vs. schriftlich im Horizont der Lexikographen. Die Lexikographie des Mittelalters und des Humanismus war zwar bei den deutschen Lemmata notgedrungen mündlichkeitsorientiert gewesen; man ging aber schon in der Barockzeit dazu über, sich auf schriftliche Zeugnisse zu stützen.9 Insgesamt blieb die Wortschatzdarstellung bis zu Matthias Kramers deutsch-italienischem Wörterbuch von 1700/170210 an die mündliche Individualkompetenz der Lexikographen gebunden. Erst 1734 begann mit Steinbachs deutschem Wörterbuch11 die systematische Belegung des Wortgebrauchs durch nachgewiesene deutschsprachige Texte. In der gesamten Aufklärungszeit nahmen die Spuren der Mündlichkeit in den Wörterbüchern weiter ab, so daß bei Jacob Grimm der Hörbeleg nur noch Notnagel war, der die Lücken der Exzerption überdecken mußte. Vor diesem Hintergrund der Unterscheidung von deutsch vs. fremd und dem Bemühen um Quellenfundierung kann man in der Lexikographie der Aufklärung vier Klassen rechtssprachlicher Ausdrücke zugrundelegen - ich nenne nachfolgend nur die Simplizia, untersucht wurden aber immer auch alle rechtserweiternden Ableitungen und Zusammensetzungen: 1. Die rechtsbezüglichen Ausdrücke in der Gemeinsprache wie Recht, Gerechtigkeit, Strafe, Gnade, Schuld·,12 sie sind rein äußerlich gesehen alle deutschen Ursprungs und nicht exklusiv schriftlich. 2. Ausdrücke, die fast ausschließlich der juristisch-gelehrten Kommunikation angehören und damit überwiegend lateinischen und schriftsprachlichen Ursprungs sind: corpus iuris, ius publicum, ius naturae oder Naturrecht, Statuten, Polizei. Ferner Ausdrücke, die sowohl dem juristischen wie dem allgemeinen oder öffentlichen Sprachgebrauch angehören. Dies ist z.B. 3. beim Prozeßrecht und 4. beim Verfassungsrecht teilweise der Fall. Die prozeßbezüglichen Ausdrücke wie Prozeß, Richter, Gericht, Anwalt, Schöffe, Fall, Akte, Zeuge haben neben der lateinischen eine längere deutschsprachige und auch mündliche Tradition. Im Unterschied dazu haben verfassungsrechtliche Aus9
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Stieler mußte in diesem Punkte aber noch hinter Schottels Forderungen zurückbleiben; vgl. Schmidt-Wiegand, Art. 6, (wie Anm. 8), Abschnitt 2. Kramer, Matthias, Herrlich-großes Teutsch-Italiänisches Dictionarium. 2 Bde. 2. Auflage 1700 bis 1702 (1. Auflage 1678). Nachdr. mit e. Einf. hg. von Gerhard Ising. Hildesheim 1982. Steinbach, Christoph Ernst, Vollständiges Deutsches Wörterbuch. Nachdruck der Ausg. Breslau 1734. Nachdr. mit einer Einf. hg. v. Walther Schröter. Hildesheim 1973. Nach sprachwissenschaftlichem Usus werden in diesem Beitrag objektsprachliche Erwähnungen von Wörtern kursiv und Bedeutungsangaben in einfachen Anführungszeichen gesetzt.
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drücke wie Reich, Staat, Verfassung, Fürst, Volk, Souverän, absolut, Gewalt, Untertan im späten 18. Jahrhundert inhaltsseitig lind z.T. auch ausdrucksseitig englische und französische Traditionen aufgenommen. Sie kennzeichnen aber neuere, nicht mehr nur rechtliche, sondern auch politische Entwicklungen, die den Weg ins 19. und 20. Jahrhundert weisen.13 Es geht im folgenden um die Fragen, wie die Lexikographen der Aufklärungszeit den juristischen und den allgemeinen Gebrauch dieser Wörter darstellten und womöglich in ein Verhältnis zueinander brachten, wo und warum sie sprachplanerisch eingriffen, ob solche Eingriffe puristisch auf die Wortform bezogen blieben oder sich auch auf die begrifflichen Inhalte erstreckten.
I. Johann Leonhard Frisch Das Teutsch-Lateinische Wörterbuch von Frisch ist ein Wörterbuch, das die gesamte deutsche Sprache erfassen wollte.14 Hinter ihm steht der Anspruch, der großen Vielfalt der sprachlichen Verkehrsformen, in denen sich das Deutsche auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts darstellte, eine alphabetische Ordnimg zu geben und so die Integration der regionalen, beruflich-funktionalen, gattungsgebundenen und auch der vergangenen alten Sprachformen voranzutreiben. Frisch zählt sie in seiner langen Titelei alle auf (siehe Anhang). Auch das Lateinische, das hier traditionsgemäß als eine Art Tertium comparationis mit den deutschen Varietäten parallelisiert wird, ist in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ja immer noch ein faktisches Kommunikationsmittel, vor allem in den Wissenschaften. Frisch bezieht sich mit seinem Wörterbuchkonzept explizit auf Leibniz' Ideen, wie sie in den Unvorgreiflichen Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache von 1697 entwickelt wurden.15 Man kann sein Wörterbuch mit Recht als einen Versuch betrachten, nicht nur einen landschaftlichen Sprachausgleich zu befördern, sondern auch die Sprache der Gelehrten durch Aufnahme der alten „echt" deutschen Wörter zu verbessern, d.h. von fremdsprachlichen Interferenzen zu befreien und ausdrucksseitig „patriotischer" zu machen. Leibniz dachte dabei an mehrere getrennte Wörterbücher:
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Hilfreich bei der Auffindung der Wortschätze waren: Stein, Peter G., Römisches Recht in Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur. Frankfurt 1996; Wesel, Uwe, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht. München 1997. Reichmann, Oskar, Geschichte lexikographischer Programme in Deutschland (Artikel Nr. 28), in: Hausmann/Reichmann/Wiegand/Zgusta (Hg.), Wörterbücher, 1. Teilbd., (wie Anm. 3), S. 230-246, insb. S. 236. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache. Zwei Aufsätze, hg. v. Uwe Pörksen, kommentiert von Uwe Pörksen und Jürgen Schiewe. Stuttgart 1995.
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nämlich ein eigenes Buch für durchgehende Worte, ein anderes für Kunstworte und letztlich eines fur alte und Landworte und solche Dinge, so zur Untersuchung des Ursprungs und Grundes dienen, deren erstes man Sprachbrauch, auf lateinisch Lexikon, das andere Sprachschatz oder cornu copiae, das dritte Glossarium Etymologicum oder Sprachquell nennen möchte. 16
Frisch nun vereinigt alle in einem Band und nutzt Leibniz' Unterscheidungen zwischen allgemeinem, berufs- und landschaftsspezifischem Gebrauch und spracharchäologischen Erläuterungen lediglich zur Gliederung seiner Wortartikel. Dem Sprachausgleich wird dadurch viel besser gedient, daß ,recht' in der Bedeutung von ,gut und richtig' unmittelbar neben der Bedeutung ,rechtmäßig' erläutert wird, statt in einem anderen Buch. Tatsächlich wäre die Rechtssprache nach Leibniz' Vorschlag wohl auf alle drei Bücher verteilt worden, denn sie läßt sich eben nicht als eine spezifische Berufssprache behandeln wie die von Bergbau und Fischerei, und sie läßt sich auch nicht entweder dem allgemeinen Gegenwartsgebrauch oder dem Gebrauch früherer Epochen zuordnen, sondern nur in der Verbindung von Geschichte und Gegenwart darstellen. Wie sah nun die Behandlung des Rechtswortschatzes in Frischs Wörterbuch de facto aus? Am folgenreichsten erwies sich, daß er - auch hierin einem Vorschlag Leibniz' folgend - in großem Umfang ältere Rechtsquellen aus allen deutschen Landschaften exzerpiert hatte. Sein dreiseitiges Quellenverzeichnis enthält über 400 Titel, von denen schätzungsweise die Hälfte Rechtsquellen im engeren Sinne sind. Man findet etwa ein Bayerisches Jagd- und Fischrecht, die „Clevische Policey-Ordnung", die „Peinliche Hals-Gerichts-Ordnung", eine Rostockische KleiderOrdnung von 1585, eine Preußische Bernsteins-Ordnung von 1693, aber auch rechtsgelehrte Schriften, etwa von Gobier. Neben Rechtsquellen sind Chroniken, Reisebeschreibungen und unter anderem sehr viele naturkundliche Werke vertreten. Frischs Quellenmasse stammt aus dem 15. bis 17. Jahrhundert,17 d.h. nur zu einem geringen Teil aus Frischs unmittelbarer Gegenwart. Rechtsgeschichtlich wird damit die gesamte Zeit der Rezeption abgedeckt, die für die Entwicklung des deutschen Rechtswortschatzes entscheidend war. Frischs Interesse an den Rechtsquellen richtete sich aber nicht primär auf ihre rechtliche Seite, sondern auf den in ihnen enthaltenen Wortschatz der zum Teil abgelegenen Berufe und Sachbereiche,18 der in diesen Ordungen und Statuten oft erstmals verschriftlicht worden war. Um der „voces Technica" willen habe er „so viel Teich-Ordnungen, als er habe können, durchlesen, und die darin angemerkte Wörter, so bei dieser sache ge-
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Leibniz, (wie Anm. 15), S. 18. Powitz, (wie Anm. 4), Einleitung, S. XIII*. Ebd.
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braucht werden, ausgezogen", so steht es in einem Protokoll der Berliner Societät von 1727.19 Eine gesonderte Gattung sah er in den Rechtsquellen also nicht. Diese Art der Auswertung älterer deutscher Rechtstexte führt in Frischs Wörterbuch dazu, daß der Gebrauch eines Worts nur selten mittels der Formulierung „in den Rechten" oder „im juristischen Stylo"20 markiert wird. Dem entspricht, daß im Register der lateinischen Wörter kaum rechtsspezifische Ausdrücke vorkommen: corpus ja, corpus juris nein, die lateinischen Bezeichnungen für Floßrecht und Fährgerechtigkeit ja, die für Naturrecht nein. An den rechtsbezüglichen Ausdrücken in der Gemeinsprache hebt Frisch auffallend oft und lobend ihr Alter hervor und zeigt darin ein Fortwirken der barocken Wörterbuchtradition. Der Wortartikel Schultz z.B. stellt eine kleine Rechtsgeschichte dieses Amtes dar, in der rechtliche Sachverhalte mehrmals mittels ehemals, anfänglich und in den alten Gesetzen kommentiert und somit deutlich von den Amtsbräuchen des Schulzen in der Gegenwart unterschieden werden, wenn es etwa heißt: „ist noch in Sonderheit auf den Dörfern gewöhnlich".21 Der positive Bezug auf die Vergangenheit bei Leibniz wie bei Frisch ähnelt zwar demjenigen der barocken Sprachpflege, unterscheidet sich aber von jener durch den rationalen Zugriff auf die Zeugnisse. Die spekulativen Etymologien seiner Vorgänger geht Frisch im Vorbericht seines Wörterbuchs hart an: Wo die Etymologie gar ausgelassen ist, hat sie der Verfasser nicht gewußt. Man will hier lieber eine behutsame Unwissenheit bekennen, als ein verwegenes Wissen vorgeben. [...] Kurtz zu sagen, [...] man hat in Ansehung aller erstgemeldten Ursachen, denjenigen fiir einen Ertz-Praler zu halten, der da sagt, er wisse wo alle unsere Wörter herkommen. 22
Es scheint, daß das besondere Alter vieler Rechtswörter ausschlaggebend fur ihre ausfuhrliche Behandlung durch Frisch war, selbst wenn Wortform oder -inhalt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr verwendet werden. Gleiches trifft auch auf den biblischen Wortschatz Luthers zu; auch hier verzichtet Frisch nicht auf inzwischen Veraltetes, denn er verfolgt mit seinem Wörterbuch auch die Absicht, den Zugang zu diesen alten Texten offen zu halten.23 Aus der Schwerpunktsetzung bei den Rechtsquellen und der besonderen Hervorhebung des Alters der Wörter, gleich aus welchen Quellen sie stammen, resultiert ein Wörterbuch, in dem diverse Einzelwortschätze erstmals miteinander verbunden, verglichen und disparate Verwendungsweisen eines Worts eng aufeinander bezogen werden. Dies gelingt durch einen methodischen Fortschritt, denn 19 20 21 22 23
Zit. ebd. Frisch, (wie Anm. 4), S. 5. Frisch, (wie Anm. 4), S. 233; ähnlich ebd. im Wortartikel Schöpfe. Frisch, (wie Anm. 4), Vorbericht S. XI r/v. Die Lexikographie sollte die Brücke schlagen helfen zu den immer schwerer verständlichen alt-, mittel- und sogar frühneuhochdeutschen Texten; in den Schriften kurz vor und kurz nach der Erfindung des Buchdrucks stünden, so Frisch, „auf allen Seiten Wörter [...] die dem Leser am Verstand solcher Schrifften hinderlich fallen", (wie Anm. 4), Vorbericht, S. X2 r.
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Frisch hebt die ausführliche semantische Kommentierung auf ein lexikographiegeschichtlich neues Niveau. Allerdings gewinnt er den gemeinsprachlichen Teil seiner Lemmata nicht aus Textquellen, sondern aus den Wörterbüchern seiner jüngsten Vorgänger Steinbach (1734) und vor allem Matthias Kramer (1700/ 1702)24 und tradiert somit auch eine Schicht mündlicher Rechtssprache in die Lexikographie des 18. Jahrhunderts. Von Kramers Beispielen gesprochener Sprache übernimmt Frisch z.B. einen Proceß haben, gewinnen, verlieret und variiert dies noch mit einem einen Proceß an den Hals werfen-, allerdings wird Rechtshandel durch Proceß ersetzt (Frisch s.v. Proceß). Die Integration funktional unterschiedlicher Wortschätze bei Frisch gilt für die rechtlich relevanten Wörter der Gemeinsprache und für die allgemein bekannten alten deutschen Rechtswörter. Ausgeschlossen aus diesem Fokus bleiben der lateinisch gebildete gelehrte Rechtswortschatz und der Mischbereich des Verfassungsrechts als eines seinerzeit noch schmalen und öffentlich irrelevanten Rechtswortschatzes. Beide werden nicht nur kaum in die Gesamtsprache integriert, sondern sind bei Frisch überhaupt auffallend schwach repräsentiert. Zu Völkerrecht etwa wird nur das Äquivalent jus gentium verzeichnet, und in den Artikeln Fürst oder Volk fehlt jeder Rechtsbezug; stattdessen wird über die angemessenen Anredeformen und Titulaturen informiert. Ein Beispiel für die integrative Behandlung rechtsspezifischer und gemeinsprachlicher Bedeutungen ist der Artikel Kämerer. Genannt werden hintereinander erstens der „Camerarius, auf den Rathhäusern, quaestor" usw., zweitens „bei Königen und Fürsten für Kammerherr, cubicularius, nobilis primi ordinis", drittens „In der Bibl. Ubersetzung, eunuchus, spado, cubicularius" und schließlich viertens „Camerierer, in der Pommerisch. Holz- und Jagdordn. p. [pagina] 29. Noch vor dem Rent-Meister, nach dem Amts-Hauptmann".26 Die Integration bezieht sich, wie man sieht, selbstverständlich auch auf die landschaftlichen Unterschiede im Wortgebrauch; zwar homogenisiert Frisch diese noch nicht, liefert aber durch seine ordnende und parallelisierende Arbeit die Voraussetzungen für etwaige sprachpolitische Eingriffe in Richtung auf den regionalen Sprachausgleich. Solche Variantenlisten konnten auch die Wortwahl bei der Formulierung überregionaler Gesetze anleiten. Diejenigen Wörter, bei denen sich rechts- und gemeinsprachliche Bedeutung vermischen, werden von Frisch vielleicht noch integrativer dargestellt, als es der damaligen Sprachwirklichkeit entsprach. Eine Ausnahme stellen die thematisch zentralen Wörter Recht (Subst.), recht (Adj.) und richten dar, für die Homonyme angesetzt werden entsprechend equum, bonus gegenüber jus, dirigere gegenüber
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Powitz, (wie Anm. 4), Einleitung, S. XI*; Powitz, Gerhardt, Das deutsche Wörterbuch Johann Leonhard Frischs. Berlin 1959, S. 22f. Kramer, (wie Anm. 10), Bd. II, S. 280, 281. Frisch, (wie Anm. 4), S. 498.
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judicare. Die integrative Darstellung von Gemeinsprache und Rechtssprache überwiegt jedoch, so daß man festhalten kann: Frisch hat die deutsche Rechtssprache des 15. bis 17. Jahrhunderts umfassend im allgemeinsprachlichen Wortschatz etabliert und durch seine integrative Darstellung ein lexikographisches Instrument geschaffen, das gut geeignet war, Leibniz' Vorstellungen von der Verbesserung auch der Juristensprache zu unterstützen. Übrigens käme eine Untersuchung der theologischen und kirchlich-institutionellen Sprache bei Frisch zu einem sehr ähnlichen Ergebnis; die älteren deutschen Bibelübersetzungen haben den gleichen Quellenstatus wie die alten Rechtsquellen, während die wissenschaftlich-theologische Literatur in etwa derjenigen der juristisch-gelehrten entspricht. Die juristische Ausrichtung des Wörterbuchs ist allerdings deutlich stärker als die theologische. Johann Leonhard Frisch stammte aus einer protestantischen Theologen- und Juristenfamilie der bayerischen Oberpfalz. Nach dem Theologiestudium trieb er sich einige Jahre herum als Erzieher im Harz, im Odenwald, als Dolmetscher auf dem Balkan und als landwirtschaftlicher Hofverwalter nahe Nürnberg. Schon in dieser Zeit hat er sich für Natur- und Sprachdinge interessiert und mit Leibniz korrespondiert. Mit 32 Jahren kam er als Gymnasiallehrer, später Rektor in Berlin äußerlich zur Ruhe. Hier arbeitete er an Lehrbüchern und Übersetzungen und publizierte Wissenschaftliches über die Seidenraupenzucht, über Insekten überhaupt, über Vögel, über Farbenchemie, über die ältesten deutschen Wörterbücher, und vieles mehr. Als der preußische König Friedrich I., vormals Kurfürst von Brandenburg, ihn mit der Seidenproduktion beauftragte, ließ Frisch auf allen Berliner Grünflächen Maulbeerbäume anpflanzen. Erfolgreich war auch sein verbessertes Herstellungsverfahren des Farbstoffs „Berliner Blau". Neben allen diesen Aktivitäten arbeitete er rund 50 Jahre lang an seinem Wörterbuch.27 Powitz hat Frischs exakt beschreibende Darstellungen naturkundlicher Gegenstände mit seiner lexikographischen Methodik zur Deckung zu bringen versucht Sammeln und Ordnen hier wie dort.28 Empirie und Deskriptivität sind in der Tat die herausragenden und lexikographiegeschichtlich neuen Merkmale von Frischs Wörterbuch.
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Powitz, (wie Anm. 24), S. 1. „Zur gleichen Zeit, da er die Sammlungen seines Insekten- und Vogelkabinetts Stück um Stück zu vervollständigen sucht, trägt er unermüdlich exzerpierend wortgeschichtlichen Erfahrungsstoff aus den Quellen zusammen, um Einblick zu gewinnen in die Sprache als Erscheinung der objektiven Wirklichkeit." Powitz, (wie Anm. 24), S. 9.
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II. Johann Christoph Adelung Machen wir nun einen Sprung von gut 50 Jahren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand eine neue Programmdiskussion um Art und Zweck des Wörterbuchs, diesmal getragen von den Schriftstellern. Im Zentrum ihrer Vorstellungen stand nicht mehr eine Bestandsaufnahme des Deutschen in seiner Vielfalt, sondern wiederum seine Verbesserung, nun allerdings für Zwecke der Dichtung: Stilsicherheit, Ausdrucksreichtum und Flexibilität waren die Ziele, denen das Wörterbuch jetzt dienen sollte. Lessing, Klopstock und Wieland forderten eines, das die Sprache der schönen Literatur dokumentiert und ihr so einen Einfluß auf die Gemeinsprache sichern würde. Gottsched begann mit den Arbeiten für solch ein Wörterbuch, aber abgeschlossen wurde es in einer Form, die nicht unerheblich von den programmatischen Ideen der Dichter abwich: Johann Christoph Adelungs Versuch eines grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen erschien in fünf Bänden von 1774 bis 1786 in Leipzig. Der Titel verrät, daß nun eine der regionalen Varietäten als besonders geeignet und vorbildlich kodifiziert werden sollte. Tatsächlich handelte es sich um eine regional wie sozial bestimmte, d.h. auf höfische Kreise beschränkte Varietät. Adelungs Bevorzugung der mündlichen Umgangssprache der „obern Classen" Obersachsens oder Meißens erregte heftige Kritik, als deren Folge von 1793 bis 1801 eine zweite überarbeitete Fassung mit dem Titel Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart in vier Bänden erschien. Es blieb dennoch das Wörterbuch einer Hochsprache, die den Benutzern als allgemeiner Standard anempfohlen wurde. Adelungs Intention bestand darin, eine sprachliche Norm darzustellen, die er von dem seiner Ansicht nach besten Sprachgebrauch einer herausgehobenen sozialen Gruppe ableitete. Kompliziert wird die Diagnose dadurch, daß diese normative Intention die lange Vorrede beherrscht, sich aber in der Wörterbuchpraxis die Beschreibung nicht nur des vorbildlichen Gebrauchs durchsetzt. Welchen Stellenwert besaß dabei die Rechtssprache? In der Vorrede heißt es: Besonders habe ich mir angelegen seyn lassen, die Kunstwörter aus allen Künsten, Lebensarten und Wissenschaften zu sammeln, weil viele derselben selbst eingebohrnen Deutschen unverständlich und fremd sind. Unter die Kunstwörter rechne ich auch die Namen aller besondern Gebräuche, Rechte, obrigkeitlichen Aemter u.s.f., wenn sie gleich nur in dieser oder jener Provinz allein üblich sind, weil sie doch in hochdeutschen Büchern mehrmals vorkommen, und von keinem Hochdeutschen vermieden werden können, wenn er von diesen oder jenen Dingen reden oder schreiben muß. 29
Den Ausschlag für die Aufnahme fachsprachlicher Wörter gibt also ihre Schwerverständlichkeit, die hier auf ihre Regionalspezifik zurückgeführt wird. In der 29
Adelung, Versuch, (wie Anm. 6), Vorrede zur 1. Aufl., S. XIII.
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Wörterbuchpraxis werden aber auch Entlehnungen aus anderen Sprachen und damit etliche lateinische Rechtswörter erklärt. Und dies geschieht nicht nur so, daß lateinische Lemmata deutsch erläutert werden, z.B. „Das Statut [...] aus dem Latein [...] ein Gesetz, welches einer Stadt, oder einer bürgerlichen Gesellschaft gegeben, oder von derselben selbst gemacht worden [...] ehedem die Willkür, [...]",30 sondern auch so, daß bei der Erläuterung deutscher Rechtswörter das lateinische Äquivalent beigefügt wird, wie Rechtsgelehrt [...] Wissenschaft und Fertigkeit besitzend, das Verhältniß der menschlichen Handlungen gegen die Gesetze zu bestimmen; am häufigsten als ein Hauptwort. Ein Rechtsgelehrter [...] Im gemeinen Leben ist dafür das aus dem mittlem Lat. entlehnte Jurist sehr gewöhnlich) 1
Die lateinischen Äquivalente werden aber immer dann als abzulehnend markiert, wenn mehrere deutsche Ausdrücke zur Verfügung stehen. Der Wortartikel Prozeß enthält die Anmerkung: „Dieses fremde Wort ist zugleich mit dem Römischen Rechte in Deutschland eingeführt worden. Vorher hatte man eigene deutsche Ausdrücke dafür". 32 Die im Vergleich zu Frisch größere Freiheit Adelungs in der Aufnahme fremdsprachlicher Entlehnungen ist einmal darauf zurückzuführen, daß die starke Vergangenheitsorientierung, die Demonstration des Uraltertums der deutschen „Haubtsprache", obsolet geworden war. Zum zweiten war in der Sprachentwicklung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Dominanz des Lateins endgültig überwunden worden; das Ziel einer überregionalen Varietät des Deutschen war deutlich näher gerückt, obwohl auch Adelung noch am Sprachausgleich arbeiten mußte. Er schreibt ein dominant gegenwartsbezogenes Wörterbuch und verschiebt alle form- und bedeutungsgeschichtlichen Informationen und damit einen großen Teil der von Frisch übernommenen Angaben ans Artikelende in eine Anmerkung. Der Schwerpunkt seiner Quellenbasis liegt bei literarischen Texten von etwa 1740 bis 1760, sofern sie das von ihm geforderte „Hochdeutsch" repräsentieren, aber auch die lexikographischen Vorgänger seit frühneuhochdeutscher Zeit sind extensiv eingearbeitet. All diese Voraussetzungen fuhren dazu, daß die rechtsspezifischen Wörter bzw. Wortbedeutungen in Adelungs umfangreichem Werk eine relativ sehr viel kleinere Rolle spielen als bei Frisch. Markierungen wie „in den Rechten", „in den Gerichten", „im gerichtlichen Verstände" sind selten, und Erläuterungen wie „Straffall [...] in den Gerichten, Fälle, wo Strafen statt finden, welche bestrafet zu werden verdienen",33 demonstrieren nicht gerade juristischen Sachverstand. Der ältere 30 31 32 33
Adelung, Grammatisch-kritisches Ebd., Bd. 3, Sp. 1008. Ebd., Bd. 3, Sp. 851. Ebd., Bd. 4, Sp. 417.
Wörterbuch, (wie Anm. 6), Bd. 4, Sp. 307.
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deutsche Rechtswortschatz scheint, wie die Artikel Schuldheiß, Stab, Vogt zeigen, größtenteils in enger Anlehnung an Frisch dargestellt zu sein, einschließlich der wiederholten Markierung als veraltet. Ausschlaggebend für die Repräsentation der Rechtssprache in Adelungs Wörterbuch ist jedoch eine weit über Frisch hinausgehende Integration rechtlicher Wortverwendungen in die Gemeinsprache, die wiederum mit einer methodischen Innovation zusammenhängt. Adelungs Verfahren der Bedeutungserläuterung ist erstens ausführlicher und differenzierter als bei seinen Vorgängern; zweitens geht er von einer relativ konstruierten abstrakten Grundbedeutung aus, von der dann die konkreten, u.a. die rechtlichen Bedeutungen abgeleitet werden. Adelung selbst sprach von einer „Bedeutungsleiter". In diesen semantisch-hierarchischen Bäumen nun sitzt das Recht regelmäßig auf den kleineren Zweigen, nicht auf den dicken Ästen. Im Wortartikel zum Substantiv Recht z.B. wird die Grundbedeutung „Zustand, da etwas recht ist, und dasjenige, was recht ist" in zahlreiche Untergliederungen geteilt. Das positive Recht rangiert dabei unter 2.1 .b) α: 2. „als ein Concretum", 1) „Ein Gesetz, die Richtschnur menschlicher Handlungen", (b) „In weiterer Bedeutung", (α) „Objektive, die Sammlung der Inbegriff der Gesetze einer Art". Diese Angabe wird dann allerdings mit der folgenden Beispielreihe illustriert: „Das göttliche Recht [...] Das geistliche, päpstliche oder kanonische Recht. Das bürgerliche Recht. [...] Das gemeine oder Deutsche Recht im Gegensatze des Römischen Rechtes."34 Juristisches taucht auch noch in weiteren Gliederungspunkten des Artikels Recht auf, statt an einer Stelle gebündelt zu werden. Im übrigen ist die Entgegensetzung von gemeinem und römischem Recht zumindest aus heutiger Sicht nicht korrekt. Kurzum, Adelungs feine hierarchische und per Abstraktion konstruierte Bedeutungsgliederung stellt einerseits eine enge Verflechtung, ja oft eine Gleichsetzung von moralischem, biblischem und positivem Recht her, macht andererseits aber auch deren Unterscheidungen sichtbar. Ich komme noch kurz auf den verfassungsrechtlichen Wortschatz zu sprechen. In den Wortartikeln Fürst, Gewalt, König, Reich und Staat spielen die rechtlichen Aspekte eine sehr untergeordnete Rolle. Lediglich etliche Kompositen zu Reich und Fürst, die Organe des Deutschen Reichs bezeichnen, sind meist markiert mit „in dem Deutschen Staatsrecht". Aber obrigkeitliche Gewalt wird unter der Bedeutung .Herrschaft' per Beispiel in eine Reihe mit „eine Sprache in seiner Gewalt haben" gesetzt. Die von Wolff geprägte „elterliche Gewalt"3^ fehlt.36 Als lexikographisches Prinzip kann festgehalten werden, daß Adelung die rechtliche Bedeutung eines Ausdrucks stets als besonderen und relativ nebensäch34 35 36
Ebd., Bd. 3, Sp. 1002. Schmidt-Wiegand, (wie Anm. 8), Art. 6. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch, (wie Anm. 6), Bd. 2, Sp. 651 f.
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liehen Fall einordnet, der zudem erst auf späteren, jüngeren Stufen der Bedeutungsleiter entstanden sei. Trotz der rationalistischen Semasiologie sind bei Adelung keinerlei Spuren der Definitionsarbeit eines Thomasius oder Wolff zu erkennen. Die Integration der Rechts- in die Hochsprache fuhrt Adelung weit über Frisch hinausgehend fort, so weit, daß die rechtliche Dimension des deutschen Wortschatzes relativ zur literatur- und schreibsprachlichen Dimension des Wörterbuchs nahezu verschwindet.
III. Joachim Heinrich Campe Die Rechtssprache wurde aber in besonderer Weise wieder zum Vorschein gebracht durch Joachim Heinrich Campe, der sein fiinfbändiges Wörterbuch der deutschen Sprache 1807-1811 in engem, aber äußerst kritischem Bezug auf den Vorgänger Adelung verfaßte bzw. verfassen ließ.37 Der vielseitige Pädagoge und Schriftsteller war Anhänger der Französischen Revolution und einer der herausragenden Verbreiter revolutionären Gedankenguts in Deutschland, und er blieb dies in der lexikographischen Arbeit.38 Er ersetzte die höfische und oberdeutsche Ausrichtung Adelungs durch bürgerliche, konstitutionell-demokratische und nationale Orientierungen. Aus diesen Vorzeichen resultieren für die lexikographische Tradierung des Rechtswortschatzes vier wesentliche Neuerungen: Erstens streicht Campe alle Rechts- und Wortgebräuche, die schon bei Adelung als veraltet markiert worden sind, etwa bei Schuld und Schuldheiß. Dafür wird die Stichwortmenge u.a. durch die Aufnahme bürgerlichrechtlicher und verfassungsrechtlicher Ausdrücke wie Reichsverfassung, Staatsbeamter, Staatsumwälzung, Volksherrschaft, Volksversammlung erweitert. Campe versäumt dabei nicht, auf die vielfaltigen rechtlichen Folgen der Aufhebung des Deutschen Reiches hinzuweisen. Kommentare wie „in der ehemaligen deutschen Reichsverfassung", „ehemals im Deutschen Staatsrechte" findet man besonders oft in der Reichs-Strecke. Er arbeitet mittels seines Wörterbuchs an der neuen Zeit, die angebrochen sei. Seine Erläuterungen verfassungsrechtlicher Ausdrücke sind daher nicht selten appellativ-utopisch. Z.B. ist der Staatsbeamte:
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Henne, Helmut, Braunschweigische Wörterbuchwerkstatt - Joachim Heinrich Campe und sein(e) Mitarbeiter, in: Schmitt, Hanno in Verbindung mit Peter Albrecht u.a. (Hg.), Visionäre Lebensklugheit. Joachim Heinrich Campe in seiner Zeit (1754-1818). Wiesbaden 1996, S. 215-224. Henne, Helmut, Einführung und Bibliographie zu Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache (1807-1811), in: ders. (Hg.), Deutsche Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Einführung und Bibliographie. Hildesheim 1975, S. 143-168; Schiewe, Jürgen, Joachim Heinrich Campes Verdeutschungsprogramm. Überlegungen zu einer Neuinterpretation des Purismus um 1800, in: Deutsche Sprache, 16. Jg. 1988, Heft 1, S. 17-33.
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Ulrike Haß-Zumkehr [...] der Staatsdiener, sofern er dadurch dem Ganzen, wovon er ein sehr untergeordneter Theil ist, dienet oder in dessen Diensten ist. Der Vernunft gemäß ist also der Fürst, Kaiser, König &c. der erste Staatsbeamte oder Staatsdiener, welcher nur durch den Staat und für den Staat da ist; aber nicht umgekehrt. 39
Zweitens wird die verfassungsrechtliche Relevanz vieler von Adelung übernommener Stichwörter hervorgekehrt oder überhaupt erstmals verzeichnet. Kam obrigkeitliche Gewalt bei Adelung nur in einem Beispiel vor, so setzt Campe hierfür eine eigene Hauptbedeutung neu an: 4) Die Person oder die Personen, die eine gewisse Gewalt haben, mit der Mehrzahl (Pouvoir). So werden die Obrigkeiten zuweilen bürgerliche Gewalten genannt. Die gesetzgebende Gewalt der gesetzgebende Körper, die Personen, welche die Gesetze geben.
Danach erst kommen die „himmlischen Gewalten" in der dichterischen Sprache.40 Drittens werden alle entlehnten Wörter radikal eingedeutscht. Und er nahm sich bestimmte Bereiche, „Fächer" vor, die ,ganz Deutsch eingekleidet zu werden verdienen, weil sie für alle Deutsche gehören". Dazu rechnete Campe die „Sittenlehre", die „Gotteslehre" (Religion), die „Rechtssprache", „Theile der Vernunftwissenschaft", also der Philosophie, der „Naturlehre" und „Naturbeschreibung", „Theile der Arzneiwissenschaft", die „Umgangs- und Geschäftssprache" und die „Dichtkunst" (S. CXV ff.). Nicht ausdrücklich erwähnt ist politischer Wortschatz, den er der Rechtssprache und Philosophie zurechnen mag.41 Bevor das Wörterbuch der deutschen Sprache entstand, hatte Campe ein Verdeutschungswörterbuch verfaßt, in dem auch für viele lateinische Rechtswörter deutsche Entsprechungen vorgeschlagen wurden, die teils von ihm selbst gebildet, teils von Zeitgenossen eingeführt worden waren. Eine stark erweiterte Neuauflage des Verdeutschungswörterbuchs folgte 1813.42 Campes Verdeutschungsarbeit war im Unterschied zum barocken und noch bei Leibniz anzutreffenden Purismus verständlichkeitsmotiviert; Ziel war, daß auch die Bürger ohne Lateinbildung in öffentlichen Angelegenheiten mitreden können sollten. In Campes Verdeutschungswörterbuch ist der gelehrte Rechtswortschatz sehr viel breiter vertreten als je zuvor in der deutschen Lexikographie. Im Wortartikel Corpus juris heißt es zunächst: „ein Buch, worin alle (Römische) Rechte zusammengetragen sind. Man könnte vielleicht das Römische Rechtsgebäude dafür sagen".
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Campe, (wie Anm. 7), Bd. 4, S. 566. Ebd., Bd. 2, S. 357. Henne, (wie Anm. 37), S. 221, zitiert aus Campes Preisschrift von 1794. Campe, Joachim Heinrich, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelung's und Campe's Wörterbüchern. Neue [...] Auflage. Braunschweig 1813.
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Dann folgt ein längeres Definitionszitat von einem gewissen von Strombeck,43 in dem Pandecten, Codex und Institutionen miterläutert werden. Abschließend zitiert Campe aus einem „Heidelbergischen Verzeichniß der Vorlesungen": „Heise erklärt die schweren Stellen des Rechtskörpers".44 Viertens dient gerade die verständlichmachende Darstellung des Rechtswortschatzes45 Campe zum Entwurf einer demokratischen Rechts- und Gesetzesidee und einer utopischen, nachabsolutistischen Gesellschaftsform. Am Schluß der umfangreichen Strecke der /ws-Kompositen schreibt er: „Man sieht, daß es uns an Rechten aller Art keineswegs mangelt; möchte uns auch eben so viel Gerechtigkeit zu Theil geworden sein oder werden!"46 Erstmals wird hier in einem deutschen Wörterbuch Kant zitiert, etwa bei gerecht, Rechtslehre und Staatenrecht. Recht, Staat und Polizei sollen nach Campes Darstellung nun für die Bürger da sein. Im Artikel Rechtlos ist von den „Rechtswohlthaten" der „bürgerlichen Gesetze" die Rede. Der hier erstmals lexikographisch gebuchte Rechtsanspruch wird in den Beispielen „geltend gemacht" und „durchgesetzt". Polizei ist in der ersten Bedeutung: Die Handhabung guter Ordnung und Verfassung in einem Staate, wie auch in einer Stadt, welche besonders auf Erhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit und [...] außerdem noch auf mancherlei andre die Wohlfahrt, Gesundheit, Bequemlichkeit &c. der Einwohner betreffende Dinge Rücksicht nimmt. [...] Bei der guten Polizei hört man hier nichts von Diebereien, siehet man keine Bettler, findet man reine Straßen, die Abends hell erleuchtet sind. 47
Bei Campe geht der Rechtswortschatz über in den frühen politisch-öffentlichen Wortschatz. Obwohl er auch Frisch und noch ältere Lexikographen (Stieler, Kramer) selbständig benutzt hat, scheint der ältere deutsche Rechtswortschatz weit an den Rand gedrängt. Stattdessen wird die bis dahin exklusiv gelehrte Rechtsterminologie fur das Bürgertum transparent gemacht und mit Aufforderungen zur Handhabung des Rechts versehen. Einige von Campes Verdeutschungen haben sich bis heute erhalten: u.a. Bittsteller (für supplicant), Gesetzentwurf (für engl, bill), Gesetzeskraft verleihen (für sanctionieren), Gnadenfrist (induit) und - der Rechtsverdreher (chicaneur).48
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Friedrich Karl von Strombeck, 1771-1848, war in vielen Funktionen Jurist in Braunschweig, Wolfenbüttel, Kassel. Für den biographischen Hinweis danke ich Herrn Christoph Leist, Heidelberg. Campe, (wie Anm. 42), S. 239. Kirkness, Alan, Sprachreinheit und Sprachreinigung in der Spätaufklärung. Die Fremdwortfrage von Adelung bis Campe, vor allem in der Bildungs- und Wissenschaftssprache, in: Kimpel, Dieter (Hg.), Mehrsprachigkeit in der deutschen Aufklärung. Hamburg 1985, S. 85-104, hier S. 98. Campe, (wie Anm. 42), S. 389. Campe, (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 671. Die zweite Bedeutung sind die „Herren von der Polizei"; die dritte die „Polizeiwissenschaft". Kirkness, Alan, Zur Sprachreinigung im Deutschen ¡789-1871. Eine historische Dokumentation. Tübingen 1975, Teil 1, S. 161-167.
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Es bleibt zum Schluß die Frage nach den Folgen, die die Wörterbücher der Aufklärung für die Sprachentwicklung insbesondere der Rechtssprache und ihrer Integration in die Gemeinsprache hatten. Frischs historische Bestandsaufnahme ist bis heute wissenschaftlich unersetzlich geblieben. Von den beiden spätaufgeklärten Wörterbüchern wurde und wird Adelung als „der" aufgeklärte Lexikograph etikettiert, obwohl er es nicht in allen Hinsichten war, während Campe bei Jacob Grimm in Ungnade fiel und seine Wörterbücher in der Folge fast wirkungslos blieben. Damit fehlt in der zentralen lexikographischen Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts ein gemeinsprachlich sehr wichtiger Teil des Rechtswortschatzes, nämlich deijenige, der einer politisch aufgeklärten Gesellschaft die für Rechtskultur und Verfassung notwendigen Begriffe präsent gehalten hätte.
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