Rückwirkung und die Entwicklung der internationalen Verbrechen: Elemente einer allgemeinen Konzeption des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht [1 ed.] 9783428553754, 9783428153756

Die Arbeit widmet sich der Analyse des Gesetzlichkeitsprinzips im Völkerstrafrecht. Der Autor arbeitet die international

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German Pages 512 Year 2018

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Rückwirkung und die Entwicklung der internationalen Verbrechen: Elemente einer allgemeinen Konzeption des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht [1 ed.]
 9783428553754, 9783428153756

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Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 31

Rückwirkung und die Entwicklung der internationalen Verbrechen Elemente einer allgemeinen Konzeption des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht

Von

Gustavo Emilio Cote Barco

Duncker & Humblot · Berlin

GUSTAVO EMILIO COTE BARCO

Rückwirkung und die Entwicklung der internationalen Verbrechen

Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos, Richter am Kosovo Sondertribunal

Band / Volume 31

Rückwirkung und die Entwicklung der internationalen Verbrechen Elemente einer allgemeinen Konzeption des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht

Von

Gustavo Emilio Cote Barco

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen hat diese Arbeit im Wintersemester 2017/2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-15376-6 (Print) ISBN 978-3-428-55376-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-85376-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Alicia Eugenia und Gustavo Ignacio

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2017/2018 von der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Literatur, Rechtsprechung und weitere Quellen konnten bis einschließlich April 2017 berücksichtigt werden. Mein aufrichtiger Dank gilt zunächst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Kai Ambos, für die engagierte und sorgfältige Betreuung; seine zahlreichen Anregungen und Hinweise haben meine Arbeit entscheidend gefördert. Herrn Prof. Dr. Uwe Murmann danke ich herzlich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens, für die Unterstützung meines Aufenthalts in Deutschland und für mehrere interessante Gespräche. Darüber hinaus danke ich Herrn Prof. Dr. José Martínez, der den Vorsitz der Prüfungskommission übernommen hat; Frau Prof. Dr. Stefanie Bock für wertvolle Anmerkungen zu meiner Arbeit, vor allem in der Anfangsphase; sowie Anett Müller, die stets ausgesprochen freundlich und hilfsbereit war. Weitere Personen haben mir außerdem zu unterschiedlichen Zeitpunkten bei der sprachlichen Korrektur und Verbesserung verschiedener Teile der Arbeit geholfen: Dr. Ksenia Kuzminykh, Dr. Alper Tasdelen, Rosalie Wilde, Dr. Thorsten Paprotny und Susann Aboueldahab; ihnen bin ich auch sehr dankbar. Mein langjähriger Aufenthalt in Deutschland wäre ohne die Unterstützung der folgenden Institutionen nicht möglich gewesen: Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Päpstliche Universität Javeriana (Pontificia Universidad ­Javeriana, Bogotá, Kolumbien), die kolumbianische Verwaltungsabteilung für Wissenschaft, Technologie und Innovation (COLCIENCIAS) und die Stiftung für die Zukunft von Kolumbien (COLFUTURO). Ich danke ebenfalls herzlich den Herausgebern für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe „Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht“ und dem Göttinger Verein zur Förderung vergleichenden und internationalen Strafrechts sowie internationaler Kriminologie e. V. für die großzügige Bewilligung eines Druckkostenzuschusses. Auch möchte ich Freunde und Kollegen erwähnen, die zu meiner akademischen Erfahrung in Deutschland maßgeblich beigetragen haben: Jaime Winter, Diego Tarapués, María Victoria Cabrera, Mario Aguilera, Magdalena Schaffler, Diego Pardo, Narumol Kanarat und Hsiang Pan; von ihnen habe ich immer etwas gelernt, danke für die vielen guten Momente. Tiefer Dank gebühren Luis Fernando und Diana Süssmann sowie Genis Castillo und Sina Kunze, die mit ihrer Freundschaft während all dieser Jahre in Deutschland wie eine Familie für mich waren. Nicht genug danken kann ich meiner Frau und Kollegin, Diana Pérez, für ihren liebevollen und geduldigen Beistand, für ihre

8

Vorwort

anregende konstruktive Kritik und ihre stets scharfsinnigen Ratschläge. Schließlich – aber nicht zuletzt – danke ich meiner Familie für ihre grenzenlose Unterstützung; meinen Eltern danke ich für eine der wichtigsten Lehren meines Lebens: dass Träume mit Begeisterung und Disziplin wahr werden können. Göttingen, November 2017

Gustavo Emilio Cote Barco Assistenzprofessor Abteilung für Strafrecht Pontificia Universidad Javeriana (Bogota, Kolumbien)

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Erstes Kapitel Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots im englischen und im deutschen Strafrecht: Ausgangspunkte zur Analyse des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht

29

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 I.

Methode und Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

II. Makro- und Mikrovergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 III. Funktionale Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1. Der Funktionsbegriff in der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2. Die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 IV. Rechtstraditionen als Gegenstände der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . 42 V. Ausgangspunkte des Vergleichs und Darstellungsweise der Untersuchung . . . . 46 B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht: zwei Arten der Konkretisierung der gleichen Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 I.

Rückwirkung und die principle of legality im englischen Strafrecht . . . . . . . . . 48 1. Überblick über das englische Strafrechtsquellensystem . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Judicial law making im englischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3. Übernahme der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Human Rights Act 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4. Auslegung des Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . 61 5. Das Rückwirkungsverbot und das „flexible“ Verständnis des nullum-crimensine-lege-Prinzips im englischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

II. Rückwirkung und das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafrecht . . . . . . . 65 1. Begründung und Sinn des Rückwirkungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Anwendung des Rückwirkungsverbots auf die Rechtsprechung? . . . . . . . . . 69 3. Gesetzesvorbehalt und Ablehnung des Richterrechts als selbstständige Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

10

Inhaltsverzeichnis 4. Begriffsbildung und Strafrechtsdogmatik als Sicherung der Legalität . . . . . . 75 5. Mauerschützenfälle, Rückwirkungsverbot und materielle Gerechtigkeit . . . 79 III. Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Rückwirkungsverbots im englischen und im deutschen Strafrecht: zwei Formen der Konkretisierung des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

C. Das Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen: Entwicklung des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips in zwei Kontexten . . . . . . . . . . . . . . 86 I.

Das Rückwirkungsverbot und die englische Rechtstradition . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Die Entwicklung des Common Law durch Richter im 12. Jahrhundert . . . . . 87 2. Das Rückwirkungsverbot und die Magna Charta Libertatum: Meilenstein in der Vorgeschichte des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips? . . . . . . . . . . . . . . 91 3. Coke, Hobbes und das Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Naturrechtliche Elemente des englischen Strafrechts und das Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5. Rechtssicherheit durch Präzedenzfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

II. Das Rückwirkungsverbot und die deutsche Rechtstradition . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Rezeption des römischen Rechts und Verstaatlichung der Strafgewalt . . . . . 104 2. Das Rückwirkungsverbot und die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. als Mittel zur Vereinheitlichung des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3. Die Aufklärung und die Kodifikation des Rechts als entscheidende Faktoren zur Entwicklung des Gesetzlichkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4. Feuerbach und die Formulierung des Gesetzlichkeitsprinzips: zwischen aufgeklärtem Naturrecht und Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5. Konsolidierung des Gesetzlichkeitsprinzips im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . 119 III. Mögliche historische Gründe für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Rückwirkungsverbots im englischen und im deutschen Strafrecht . . . . . . . . . . . 123 D. Grundsätzliche Aspekte des n ullum-crimen-sine-lege-Prinzips und das Rückwirkungsverbot: Ausgangspunkte zur Analyse des NCSL-Prinzips im Kontext des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Zweites Kapitel Rückwirkung und die internationalen Tribunale im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg: Grundlagen einer allgemeinen Konzeption des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht

133

A. Vorbemerkung: erster (gescheiterter) Versuch   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 B. Der Nürnberger Prozessgegen die Hauptkriegsverbrecher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 I.

Der Internationale Militärgerichtshof als Gerechtigkeits- und Gnadenakt . . . . . 138

Inhaltsverzeichnis

11

II. Das Recht der Londoner Charta und die Verbrechen gegen den Frieden . . . . . . 143 III. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 151 C. Kontrollratsgesetz Nr. 10: Juristen- und Einsatzgruppenprozesse . . . . . . . . . . . . . . . 161 I.

Auffassungen zum nullum-crimen-sine-lege-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Juristen-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Einsatzgruppen-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

II. Begründung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. Juristen-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Einsatzgruppen-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 D. Der Tokioter Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 I.

Die Anklage: Der Krieg und der Kampf um die „Zivilisation“ . . . . . . . . . . . . . 175

II. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip in der Mehrheitsentscheidung . . . . . . . . 177 III. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und das Fehlen eines Konsenses innerhalb des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Das Naturrecht als Grundlage des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Pragmatische Ablehnung des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips . . . . . . . . . . 182 3. Positivistischer Ansatz und politische Rechtfertigung der Rückwirkung . . . 183 4. Positivistische und realistische Kritik am Internationalen Militärtribunal für den Fernen Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 E. Ergebnis: Grundlagen einer allgemeinen Konzeption des nullum-crimen-sine-legePrinzips im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Drittes Kapitel Rezeption der im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg festgelegten Grundlagen: die theoretischen Prämissen der Entwicklung des Völkerstrafrechts und das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip 



198

A. Spannung zwischen theoretischen Ansätzen in der Diskussion der Nachkriegszeit: Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 I.

Die Diskussion der Nachkriegszeit als Kontext der Begegnung zweier Rechtstraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

II. Die Diskussion im Common-Law-Rechtskreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 1. Die positivistischen Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Die Schwächen der positivistischen Ansätze und die am Naturrecht orientierten Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 III. Die Diskussion im deutschen Rechtskreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

12

Inhaltsverzeichnis 1. Die Abhandlungen über das Nürnberger Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Die Abhandlungen über das Kontrollratsgesetz Nr. 10 im Rahmen des damaligen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 3. Die Abhandlungen über das Kontrollratsgesetz Nr. 10 als Besatzungsrecht . 225 IV. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der in beiden Rechtskreisen erfolgten Diskussionen über das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

B. Die Idee der Legalität und die theoretischen Prämissenzur Entwicklung des Völkerstrafrechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 I.

Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht und die rückwirkende Anwendung völkerstrafrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

II. Kelsens Analyse der Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher: Die Schwierigkeiten der formellen Theorien über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht zur Begründung internationaler Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Kelsens „Reine Rechtslehre“ und das Völkerrecht als koordinierende Rechtordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2. Kelsens Auffassung über das NCSL-Prinzip: Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 III. Die Pflicht zum Rechtsgehorsam und der Zusammenhang zwischen Recht, Legalität und Moral im Rahmen des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Radbruch und die Spannung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit

252

2. Hart und die Relationsmöglichkeiten zwischen Recht und Moral . . . . . . . . . 257 3. Fuller, Legalität und die innere Moral des Rechts als morality of duty und als morality of aspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 4. Recht, Legalität und Moral im Rahmen des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . 266 5. Der Anspruch und die Botschaft des Völkerstrafrechts zu den nationalen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 IV. Der internationale Menschenrechtsschutz als ideologische Grundlage des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1. Lauterpacht, das Völkerrecht als geeignete Bühne zum Schutz inhärenter Rechte des Individuums und die Entstehung des Völkerstrafrechts . . . . . . . . 276 2. Radbruch und die Achtung der Menschenwürde als gemeinsame moralische Grundlage der Menschenrechte und des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . 282 3. Verdross und die internationale Rechts- und Wertegemeinschaft als politisches Substrat des Völker(straf-)rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 C. Ergebnis: Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die theoretischen Prämissen der Entwicklung des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

Inhaltsverzeichnis

13

Viertes Kapitel Rückwirkung und die Entwicklung des Völkerstrafrechts während und nach dem Kalten Krieg: das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 



304

A. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die internationalen Menschenrechte: Kriminalisierung im Völkerrecht und die Nürnberger Klausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 I.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

II. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte . . . . . . . . . . . . . 313 III. Die Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 IV. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 V. Ergebnis: Die internationalen Menschenrechte und die Nürnberger Rechtstradition im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 B. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die Rechtsprechung der Ad-hoc-Straftribunale und des Special Court for Sierra Leone: Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 I.

Rückwirkung und die internationalen Ad-hoc-Straftribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 1. Berichte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen: Anwendung von Normen, die zweifelsfrei Völkergewohnheitsrecht bildeten? . . . . . . . . . . . . . . . 340 2. Anerkennung des NCSL-Prinzips in der Rechtsprechung der internationalen Ad-hoc-Straftribunale: Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit . . . . . . . . . . . 343 3. Der Tadić-Test und Kriegsverbrechen in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten: Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit . . . . . . . . . . . 347 4. Verstöße gegen den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen und die Nürnberger Klausel: moralische Bewertung der relevanten Handlungen . . . 354 5. Völkerrechtsverträge, Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze: Der Schutz des Individuums in Kontexten massenhafter Gewalt als Auslegungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

II. Rückwirkung und das Special Court for Sierra Leone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 1. Das Verbrechen der Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren: Wieder die Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 2. Zwangsverheiratung und die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“: Unbestimmtheit bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit? . . . . . . . . . . . . . 372 III. Ergebnis: Die Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit als Basis für einen doppelten Standard hinsichtlich der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit 378 C. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip in der Arbeit der International Law Commission: Versuche zur Kodifikation des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 I.

Die Nürnberger Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

14

Inhaltsverzeichnis II. Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind 1951/1954

393

III. Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind 1991 . . . . . . 398 IV. Draft Statute for an International Criminal Court 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 V. Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind 1996 . . . . . . 409 VI. Ergebnis: Die Spannung zwischen Rechtssicherheit und Anpassungsfähigkeit bei der Kodifikation des Völkerstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 D. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und die Nürnberger Rechtstradition: Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht? . . . . . . . 418 I. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs: materielle und prozedurale Dimension . . . . . . . . . . . . . . 420 II. Der Internationale Strafgerichtshof und Nicht-Vertragsstaaten: Anwendung des während der Entwicklung des Völkerstrafrechts entstehenden doppelten Standards des NCSL-Prinzips? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 III. Handlungen, die im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht erwähnt sind, aber nach Völkergewohnheitsrecht strafbar sein können: Auslegung, strict construction und Lückenausfülung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 IV. Exkurs: Dauerdelikte und die zeitliche Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs, insbesondere über die Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren und das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 V. Ergebnis: Die Spannung zwischen der Anerkennung der Nürnberger Rechtstradition und der Suche nach Rechtssicherheit im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . 445 Zusammenfassung: Elemente einer allgemeinen Konzeption des nullum-crimen-sinelege-Prinzips im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Weitere zitierte Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Rechtsprechungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504

Abkürzungsverzeichnis AA Akademieausgabe Abs. Absatz AC Appeal Chamber Arabische Charta der Menschenrechte ACMR ACMRV Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker AEM Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Amerikanische Konvention über das Verschwindenlassen AKVP von Personen Allgemeines Landrecht ALR American Journal of International Law Am. J. Int’l L. Am. J. Juris. American Journal of Jurisprudence American Journal of Legal History Am. J. Legal Hist. AGMR Amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte AMRK Amerikanische Menschenrechtskonvention Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie ARSP Aufl. Auflage Berkeley J. Int’l L. Berkeley Journal of International Law Bürgerliches Gesetzbuch BGB BGH Bundesgerichtshof BGHSt Sammlung der Entscheidungen des BGH in Strafsachen BKP Briand-Kellogg-Pakt Brit. Y. B. Int’l L. British Yearbook of International Law Brooklyn Journal of International Law Brook. J. Int’l L. BVerfG Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des BVerfG BVerfGE Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGK bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise ca. circa California Law Review Cal. L. Rev. Criminal Law Review CLR Columbia Journal of Transnational Law Colum. J. Transnat’l L. Columbia Law Review Colum. L. Rev. Cornell Law Review Cornell L. Rev. DDR Deutsche Demokratische Republik d. h. das heißt DJZ Deutsche Juristen-Zeitung Doc. Document(s) Director of Public Prosecution DPP Deutsche Rechts-Zeitschrift DRZ

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Abkürzungsverzeichnis

ebd. ebenda Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch EGStGB Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR European Journal of International Law EJIL Europäische Menschenrechtskonvention EMRK et al. et alii Europäische Union EU European Journal of Crime, Criminal Law Eur. J. Crime Crim. L. and Criminal Justice & Crim. Just. ff. folgende Fn. Fußnote Foreign Affairs Foreign Aff. Goltdammer’s Archiv für Strafrecht GA Grand Chamber GC Georgetown Law Journal Geo. L. J. German Yearbook of International Law German Y. B. Int’l L. GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls Genfer Konvention(en) GK Goettingen Journal of International Law GoJIL Grenzgesetz (DDR) GrenzG Harvard International Law Journal Harv. Int’l L. J. Harvard Journal of Law & Public Policy Harv. J. L. & Pub. Pol’y Harvard Law Review Harv. L. Rev. Human Rights Act HRA Human Rights Law Review HRLR Hrsg. Herausgeber Human Rights Quarterly Hum. Rts. Q. Interamerikanische Kommission für Menschenrechte IAKMR ICJ International Court of Justice International Criminal Law ICL International Committee of the Red Cross ICRC Internationaler Gerichtshof IGH International Law Commission ILC International Law Quarterly ILQ Internationaler Militärgerichtshof IMG Internationales Militärtribunal für den Fernen Osten IMTFO International and Comparative Law Quarterly Int’l & Comp. L. Q. International Criminal Law Review Int’l Crim. L. Rev. International Legal Theory Int’l Legal Theory Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte IPBPR Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulIPWSKR turelle Rechte Israel Law Review Isr. L. Rev. Internationaler Strafgerichtshof IStGH Journal of International Criminal Justice J. Int’l Crim. Just. Journal of International Law of Peace and Armed Conflict JILPAC JStGH Jugoslawien-Strafgerichtshof

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Judge Advocate Journal Judge Advoc. J. Juristen Zeitung JZ King’s College Law Journal KCLJ KRG Kontrollratsgesetz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und RechtsKRITV wissenschaft Kosovo Specialist Chambers KSC Londoner Charta LC Leiden Journal of International Law LJIL Law Quarterly Review LQR Maastricht J. Eur. & Comp. L. Maastricht Journal of European and Comparative Law Michigan Journal of International Law Mich. J. Int’l L. Minnesota Law Review Minn. L. Rev. Modern Law Review Mod. L. Rev. nach Christus n. Chr. Nullum Crimen Sine Lege NCSL New Criminal Law Review New Crim. L. Rev. Neue Justiz NJ Neue Juristische Wochenschrift NJW Nordic Journal of International Law Nordic JIL Dotre Dame Law Review Notre Dame L. Rev. NS nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP Nr. Nummer New York University Journal of International Law and PoliN. Y. U. J. Int’l L. & Pol. tics New York University Law Quarterly Review N. Y. U. L. Q. Rev. New York University Law Review N. Y. U. L. Rev. Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ NZV Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Organisation Amerikanischer Staaten OAS Oxford Journal of Legal Studies OJLS Para. Paragraf Queen’s Bench Divisional Court (England) QBD Queen’s Law Journal Queen’s L. J. Rhein Z f Zivil und ProzessR Rheinische Zeitschrift fur Zivil- und Prozessrecht des Inund Auslandes Revue Internationale de Droit Comparé RIDC RStGB Reichstrafgesetzbuch RStGH Ruanda-Strafgerichtshof S. Seite sog. sogenannt Special Court for Sierra Leone/Sondergerichtshof für Sierra SCSL Leone Special Panels for Serious Crimes SPSC Stanford Journal of International Law Stan. J. Int’l L. Statute Law Review Stat LR StGB Strafgesetzbuch

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Ständiger Internationaler Gerichtshof StIGH Sondertribunal für den Libanon STL Süddeutsche Juristen-Zeitung Süddt. JZ Trial Chamber TC Texas International Law Journal Tex. Int’l L. J. Tul. L. Rev. Tulane Law Review unter anderem u. a. Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UdSSR United Kingdom House of Lords (England) UKHL United Nations War Crimes Commission UNWCC University of Pennsylvania Law Review U. Pa. L. Rev. v. versus VB Völkerbund Villanova Law Review Vill. L. Rev. Vereinte Nationen VN Vol. Volume Volkspolizeigesetz (DDR) VoPoG Washington University Law Review Wash. U. L. Rev. Western Ontario Law Review W. Ontario L. Rev. Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge WÜRV Yearbook of the International Law Commission YILC Yale Journal of International Law Yale J. Int’l L. Yearbook of the United Nations YUN zum Beispiel z. B. zum Teil z. T. Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik ZIS ZP Zusatzprotokoll(e) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft ZStW

Einleitung Das Völkerstrafrecht stand von Anfang an in einem Spannungsfeld mit dem Prinzip Nullum Crimen Sine Lege (NCSL-Prinzip), obwohl dieses Prinzip zum ersten Mal im Jahr 1998 im Statut eines internationalen Strafgerichtshofs explizit vorgesehen wurde, nämlich in Art. 22 und 24 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH-Statut). Seit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher sind einige für das Völkerstrafrecht zentrale Entwicklungen in Frage gestellt worden, weil sie angeblich durch die rückwirkende Anwendung neuen Rechts durchgeführt worden seien und somit gegen das NCSL-Prinzip verstoßen würden. Insbesondere sind der Entstehungsprozess der völkerrechtlichen Kernverbrechen (sog. core crimes) und die Argumentationsweise der internationalen Straftribunale bei der Feststellung des anwendbaren Rechts aus diesem Grund in schwierigen und für die Entwicklung des Völkerstrafrechts richtungsweisenden Fällen kritisiert worden. Diese Diskussionen tauchen u. a. aufgrund unterschiedlicher Konzeptionen der Legalität auf, die nationalen Rechtsordnungen entstammen und nicht immer den Eigenheiten und der Dynamik des Völkerstrafrechts Rechnung tragen. Mit Legalität sind in diesem Zusammenhang zwei miteinander verbundene Aspekte gemeint: Einerseits bezieht sich dieser Ausdruck auf die Elemente, aus denen das geltende Recht besteht, und andererseits auf die Bezugspunkte, von denen die Rechtmäßigkeit richterlicher Entscheidungen abhängt. Deswegen soll gefragt werden, ob im Völkerstrafrecht eine eigene Konzeption des NCSL-Prinzips entwickelt worden ist und wie sich eine solche Konzeption konkretisiert hat. Mit anderen Worten: ob ein Mindeststandard für das NCSL-Prinzip aus der Entwicklung des Völkerstrafrechts selbst rekonstruiert werden kann und wenn ja, mit welchen Elementen. Die vorliegende Arbeit versucht, diese Fragen zu beantworten.

Das Problem Das NCSL-Prinzip bildet einen der wichtigsten Grundsätze des liberalen Strafrechts, das die Bürger vor willkürlicher Machtausübung schützt. Es wird insofern davon ausgegangen, dass es das Strafrecht vorhersehbar macht. Deswegen bezieht sich beispielsweise Luban auf das NCSL-Prinzip als „the most fundamental requirement of natural justice“1, und auch aus diesem Grund bezeichnet Fuller die 1 Hinsichtlich des NCSL-Prinzips behauptet Luban: „In criminal law, the most fundamental requirement of natural justice is the Principle of Legality […] The Principle seem close to the

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rückwirkenden Gesetze als „the brutal absurdity of commanding a man today to do something yesterday“.2 Soll das Völkerstrafrecht tatsächlich als Strafrecht und insofern als eigentliche Ausübung von Strafgewalt und nicht nur als ein ideales Streben oder lediglich als Ausdruck reiner politischer Macht verstanden werden, muss es auch in Einklang mit diesem Prinzip stehen.3 Trotzdem sind die Konturen, die dieses Prinzip im Völkerstrafrecht hat, nicht deutlich; nicht einmal im Kontext des IStGH-Statuts, in welches das NCSL-Prinzip explizit aufgenommen wurde. Die Frage nach dem NCSL-Prinzip bildet ein komplexes und übergreifendes Problem, das mit unterschiedlichen Themen verknüpft ist. Arajärvi bezeichnet diese Frage deshalb als eine „Pandorabüchse“.4 Aber das NCSL-Prinzip scheint im Kontext des Völkerstrafrechts noch problematischer als in den nationalen Rechtsordnungen zu sein, weil die Ausübung der Strafgewalt auf internationaler Ebene besondere Herausforderungen zu überwinden hat. Die folgenden drei Aspekte können die Schwierigkeiten des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht erklären: der doppelte Charakter des Völkerstrafrechts als Völker- und zugleich als Strafrecht; die Tatsache, dass das Völkerrecht fragmentiert ist; und der Zusammenhang des Völkerstrafrechts mit den internationalen Menschenrechten. Das Völkerstrafrecht ergibt sich aus der Intersektion zweier Rechtsgebiete, nämlich dem Völkerrecht und dem Strafrecht.5 Damit befindet sich das Völkerstrafrecht in einem Spannungsfeld, in dem unterschiedliche Rechtsvorstellungen aufeinander treffen, die manchmal widersprüchlich zu sein scheinen. Sowohl das Völkerrecht als auch das Strafrecht beinhalten eigene Ideen hinsichtlich der Aufgaben und Strukturen der Rechtsordnung, unbeschadet der verschiedenen Ansätze innerhalb jedes Rechtsgebiets. Diese zwei Perspektiven müssen berücksichtigt werden, um die Entwicklung, das Potenzial und auch die Grenzen des Völkerstrafrechts richtig zu verstehen.6 Wie Vest behauptet: „das Völkerstrafrecht ist von seinen spezifischen Rechtsquellen her Völkerrecht, inhaltlich gesehen aber Strafrecht“.7

core of the rule of law, in two distinct ways: first, by tying crime and punishment to law rather than the ruler’s arbitrary will; and second, by insisting that law must be publicy accessible, therefore integrated into the daily life of the people it governs“, Luban, in: The Philosophy, S. 581. 2 Fuller, The Morality, S. 59. 3 Vgl. Ambos, OJLS 2013, 1 (5); Sadat, S. 181; Peristeridou, S. 33. 4 Vgl. Arajärvi, S. 149. 5 Vgl. Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 40: „Der zentrale Gedanke der individuellen Verantwortlichkeit und Vorwerfbarkeit eines bestimmten (makrokriminellen) Verhaltens entstammt dem Strafrecht, während die klassischen (Nürnberger) Straftatbestände als internationales Recht formal dem Völkerrecht zuzuordnen sind“; siehe dazu auch Cryer/Friman et al., S. 17; Kreß, ZStW 1999, 597 (599); Bantekas, International, S. 3. 6 Vgl. Bantekas, International, S. 3. 7 Vest, Gerechtigkeit, S. 140.

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Das Spannungsverhältnis zwischen dem „völkerrechtlichen“ und dem „strafrechtlichen“ Charakter des Völkerstrafrechts zeigt sich deutlich wenn es um das NCSL-Prinzip geht, weil gerade dieses Thema sich genau an der Schnittstelle der beiden Rechtsgebiete befindet. Einerseits basiert das Völkerstrafrecht als Bestandteil des Völkerrechts auf demselben Rechtsquellensystem.8 Aus diesem Grund hat das Völkerstrafrecht eine besondere Dynamik, die es ihm erlaubt, anpassungsfähig zu sein, auch wenn dies manchmal auf Kosten der Gewissheit über den Inhalt seiner Normen geht. Andererseits betreffen seine Auswirkungen als Strafrecht wichtige Rechte des Individuums und auf diese Weise soll ein Abschreckungseffekt hervorgerufen werden. Daher ist zugleich ein Mindestmaß an Klarheit seiner Normen erforderlich.9 Das NCSL-Prinzip ist ferner im Völkerstrafrecht ein hoch umstrittenes Thema, weil es nicht immer einfach gewesen ist, den Stand des zum Zeitpunkt der Tat geltenden Rechts festzustellen. In diesem Kontext kann an die von Hart formulierte Behauptung erinnert werden, wonach das Völkerrecht kein Rechtssystem bildet, weil es keine einheitliche „rule of recognition“ hat.10 Tatsächlich muss darauf hingewiesen werden, dass das Völkerrecht zurzeit fragmentiert ist.11 Ein Expansionsprozess des Völkerrechts hat seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts stattgefunden.12 Das Völkerrecht umfasst seither mehr und mehr Aspekte des Lebens. Die verschiedenen Bereiche des Völkerrechts unterscheiden sich angesichts der zunehmenden Spezialisierung einzelner Rechtsgebiete mitunter sehr stark, sodass es schwieriger geworden ist, von einem allgemeinen Völkerrecht zu sprechen.13 Außerdem fehlt es dem Völkerrecht an einer einheitlichen institutionellen Struktur. Etwa das Völkerstrafrecht,14 aber auch andere Bereiche des Völkerrechts, werden durch verstreute Gerichte ohne eine bestehende Hierarchie aufgebaut. Die Fragmentierung des Völkerrechts besteht somit nicht nur materiell, sondern auch institutionell,15 was die Kohärenz der völkerrechtlichen Normen einschränkt.16 Dies macht es kompliziert, festzustellen, ob die Entscheidung eines internationalen (Straf-) Tribunals auf geltendem Recht beruht oder neues Recht schafft.

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Vgl. Cryer/Friman et al., S. 17–18. Ebd. 10 Vgl. Hart, The Concept, S. 214, 236: „[T]he rules of international law, […] constitute not a system but a set of rules […]“). 11 Zur Fragmentierung des Völkerrechts siehe den Bericht der Studiengruppe der ILC, Fragmentation (Doc. A/CN.4/L.702); die ILC verneint jedoch nicht, dass das Völkerrecht ein System bildet, ebd, S. 7. 12 Ebd., S. 3. 13 Ebd., S. 3–5. 14 Siehe insofern van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119 (170): „The adjudication of ICL is thus decentralized, and the field lacks a final arbiter exercising global appellate jurisdiction to harmonize and rationalize divergent trends in the law“. 15 Bericht der Studiengruppe der ILC, Fragmentation, S. 4. 16 Ebd., S. 5. 9

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Darüber hinaus steht das Völkerstrafrecht unter dem starken Einfluss der internationalen Menschenrechte.17 Diese zwei Rechtsgebiete haben sich gewissermaßen parallel entwickelt; sie teilen dieselben Werte und teilweise dasselbe Ziel, d. h. den Schutz des Individuums vor der staatlichen Macht und massenhafter Gewalt. Außerdem haben sie sich hinsichtlich mehrerer Aspekte gegenseitig beeinflusst.18 Es ist somit möglich zu behaupten, dass das Völkerstrafrecht in gewissem Sinne als ein Werkzeug zur Durchsetzung und Verstärkung der internationalen Menschenrechte verstanden werden kann,19 wo auch das NCSL-Prinzip als eine wesentliche Garantie vorgesehen ist.20 Immerhin strebt das Völkerstrafrecht an, die Verantwortlichen für massenhafte Verletzungen wesentlicher Rechte zu bestrafen. Allerdings verfügen die internationalen Menschenrechte und das liberale Strafrecht über unterschiedliche ideologische Ausgangspunkte. Den internationalen Menschenrechten liegt die Opferperspektive zugrunde, nach der das Recht extensiv ausgelegt werden soll, um den Schutz der Opfer auszudehnen. Im Unterschied dazu geht das liberale Strafrecht von der Perspektive des Angeklagten aus, nach der das Recht so restriktiv wie möglich auszulegen ist, um die Bürger vor der staatlichen Macht zu schützen. Das Völkerstrafrecht befindet sich in dem hieraus erwachsenden Dilemma, das auch die Art und Weise beeinflusst, in der sich das NCSL-Prinzip in diesem Kontext konkretisiert.21 Daraus ergibt sich auch eine besondere moralische Konnotation des Völkerstrafrechts, die in einem Spannungsverhältnis zwischen Legalität und Moral zum Ausdruck kommt.22 Eine der Kernfragen im Rahmen des Völkerstrafrechts ist also, inwieweit moralische Kriterien bzw. Erwägungen bei der Festlegung des zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltenden Rechts einzubeziehen sind.

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Vgl. Grover, in: The Crime, S. 376; Cryer/Friman et al., S. 13 ff. Vgl. Cryer/Friman et al., S. 13 ff.; siehe auch Decaux, J. Int’l Crim. Just. 2011, 597; de Frouville, J. Int’l Crim. Just. 2011, 633; Schabas, J. Int’l Crim. Just. 2011, 609; zum Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als „correlative to that of human rights“ siehe Geras, S. 76. 19 Siehe in diesem Sinne Luban, in: The Philosophy, S. 574. 20 Vgl. Art. 7 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Art. 9 Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK), Art. 15 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR), Art.  11 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEM), Art.  7 Abs.  2 Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (ACMRV), Art. 15 Arabische Charta der Menschenrechte (ACMR, revised). 21 Vgl., Luban, in: The Philosophy, S. 582; kritisch Danner/Martinez, Cal. L. Rev. 2005, 75 (86–90) und Robinson, Darryl, LJIL 2008, 925 (933–938), laut Robinson leidet das Völkerstrafrecht aus diesem Grund an einer Art Identitätskrise. 22 Insofern behauptet van Schaack: „when ICL judges find themselves at the ‚point of intersection between law and morals‘, they lean decidedly toward the latter“, van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119 (125). 18

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Einige Meinungen Angesichts dieser Situation werden unterschiedliche Meinungen vertreten. Es wurde beispielsweise zu Anfang der 1960er Jahre behauptet, dass das NCSLPrinzip nur in geschlossenen, kodifizierten Systemen Sinn habe. Somit könne es für das Völkerstrafrecht nicht anwendbar sein.23 Eine solche Behauptung erlaubt die Anmerkung, dass die Eigenschaften des Völkerstrafrechts berücksichtigt werden müssen, um das NCSL-Prinzip in diesem Rechtsgebiet zu definieren. Andere Autoren behaupten, dass der Grund der mit dem NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht verbundenen Probleme in der Rolle des Gewohnheitsrechts als Völkerrechtsquelle liege.24 Freilich kann man nicht leugnen, dass die Relevanz des Gewohnheitsrechts als Völkerrechtsquelle einen wichtigen Faktor hinsichtlich des NCSL-Prinzips darstellt; dies macht jedoch nicht notwendigerweise das Völkerstrafrecht unvereinbar mit diesem Grundsatz. Jedenfalls sind einige Autoren sehr kritisch gegenüber dem von einigen internationalen Straftribunalen verfolgten Ansatz, insbesondere hinsichtlich demjenigen des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofs (IMG) und der sog. Ad-hoc-Straftribunale.25 Im Gegensatz dazu haben andere Autoren versucht, das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht aus einer breiten Perspektive zu definieren, bei der alle Völkerrechtsquellen einbezogen werden. In diesem Sinne ist beispielsweise behauptet worden, dass im Kontext des Völkerstrafrechts nicht die Rede von nullum crimen sine lege, sondern von nullum crimen sine jure sein sollte.26 Auch die Idee, dass eine progressive Entwicklung bzgl. des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht zu finden sei, ist vorgeschlagen worden. Dieser Auffassung zufolge habe das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht allmählich an Bedeutung gewonnen, und somit sei die Doktrin von „substantive justice“ im Völkerstrafrecht durch die Doktrin von „strict legality“ (mit gewissen Einschränkungen) ersetzt worden.27 Einige Autoren haben sogar akzeptiert, dass das Völkerstrafrecht im Lichte des NCSL-Prinzips defizitär sei, aber sie betonen 23

Siehe insofern Dahm, Völkerrecht, Band III, S. 316–317. Der französische Strafrechtler Claude Lombois spricht insofern in seinem Werk „Droit Pénal International“ (1971) vom Antagonismus, der im Völkerstrafrecht bestehe, zwischen dem NCSL-Prinzip als Voraussetzung des Strafrechts (d’une exigence) und dem gewohnheitsrechtlichen Charakter des Völkerrechts als ein Hindernis, das die Achtung des NCSL-Prinzips unmöglich mache (d’une impossibilité), vgl. Lombois, S.  46, ihm zufolge: „Le principe de légalité, dans le détail des trois conséquences qu’on lui fait produire: non rétroactivité de la loi pénale, interprétation stricte des dispositions pénale, caractére écrit de la norme pénale, est une gêne pour le développement du droit des infractions internationales“, ebd., S. 48; obwohl der gewohnheitsrechtliche Charakter des Völkerstrafrechts in der vorliegenden Arbeit nicht als ein Hindernis zur Achtung des NCSL-Prinzips betrachtet wird, ist diese Behauptung von Lombois im Hinblick auf das hier erwähnte Spannungsverhältnis zwischen dem völkerrechtlichen und dem strafrechtlichen Charakter des Völkerstrafrechts illustrativ; siehe auch Lamb, in: The Rome Statute, S. 743: „the nullum crimen principle […] sits uneasily with the very nature of customary international law“. 25 Siehe z. B. Boot, S. 305 ff.; Lamb, in: The Rome Statute, S. 743. 26 Vgl. Bassiouni, Crimes, S. 305–306. 27 Cassese, Cassese’s, S. 24–27. 24

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auch, dass dies die Legitimität des Völkerstrafrechts nicht beeinträchtige.28 Die Frage, ob das Völkerstrafrecht seine eigene Konzeption des NCSL-Prinzips entwickelt hat und mit welchen Auswirkungen, bleibt jedoch offen.29

Das Ziel Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht in der Feststellung der Elemente einer allgemeinen Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht, um auf dieser Grundlage einen Mindeststandard des NCSL-Prinzips in diesem Bereich zu rekonstruieren. Es geht um eine allgemeine Konzeption, weil sie sich nicht nur auf ein bestimmtes internationales Straftribunal bzw. auf eine spezifische Phase des Völkerstrafechts beschränkt. Im Gegensatz dazu wird diese Konzeption für das Völkerstrafrecht im Allgemeinen vorgeschlagen werden. Deswegen muss sie aus der Entwicklung des Völkerstrafrechts selbst hergeleitet werden, wofür alle Phasen des Völkerstrafrechts zu berücksichtigen sind. Damit diese Aufgabe durchgeführt werden kann, müssen jedoch einige Annahmen, die als Ausgangspunkte dienen, wie auch gewisse Grenzen der Arbeit, weiter präzisiert werden.

Annahmen und Grenzen Um das Ziel der vorliegenden Arbeit zu erreichen, sollen weder die Völkerrechtsquellen noch die Rechtsprechung der internationalen Straftribunale von vornherein, d. h. aus einer vorab erstellten Konzeption, kritisiert werden. Diese Arbeit geht viel mehr davon aus, dass die Eigenschaften des Völkerstrafrechts in Betracht gezogen werden sollen,30 wie beispielsweise die Tatsache, dass Rechtsquel 28 Siehe insofern Luban, in: The Philosophy, S. 582–583; van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119 (124). 29 In dieser Richtung soll allerdings die Arbeit von Gallant erwähnt werden, in der er die Eigenschaften des NCSL-Prinzips nach Völkergewohnheitsrecht feststellt. Siehe Gallant, S. 357 ff. 30 Mehrere Autoren haben sich dazu geäußert, siehe z. B. Vest, Gerechtigkeit, S. 102: „Das Völkerstrafrecht bestimmt die Konturen und die Grenzen des Rückwirkungsverbots autonom“; siehe auch Haffke, in: Festschrift für Klaus Lüderssen, S. 407 und Lombois, S. 46–47, Lombois fragt sich: „Le principe de légalité des délits …, auquel certains droits internes tiennent tant, peut-il être reçu dans l’ordre international?“, dazu antwortet er: „Dans l’affirmative, ce ne pourrait être que dans des conditions qui tiennent compte du particularisme de la légalité internationale“; siehe auch Peters, Jenseits, S. 119–121, Peters spricht über die „Notwendigkeit und Zulässigkeit der Modifikation“ des NCSL-Prinzips; auf ähnliche Weise unterscheidet Ferdinandusse zwischen „international principle […] of legality“ und „principle of legality in national legal systems“, Ferdinandusse, S. 222; insofern auch Bantekas, Int’l Crim. L. Rev. 2006, 121 (125): „[I]t is probably not wise to juxtapose a legal concept (the nullum crimen rule) in identical terms with regard to its application in the domestic and international system […] The fact that they share some common rules does not mean that the rules are identical in their content and application in the two legal systems“; zu den Unterschieden zwischen Völkerstrafrecht und

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len wie das Gewohnheitsrecht oder die allgemeinen Rechtsgrundsätze in diesem Bereich relevant sind. Die Konzeption des NCSL-Prinzips, die hier vorgeschlagen wird, soll in Übereinstimmung mit solchen Eigenschaften stehen. Die vorliegende Arbeit versucht somit nicht, ein nationales Verständnis des NCSL-Prinzips auf das Völkerstrafrecht zu übertragen. Peters führt insofern aus: „Eine schematische Übertragung des NCSL-Prinzips aus dem nationalen Strafrecht scheitert bereits daran, dass die Anforderungen der nationalen Rechtsordnungen nicht identisch sind“.31 Darüber hinaus geht diese Arbeit davon aus, dass das Völkerstrafrecht das nationale Strafrecht nicht ersetzen soll.32 Das Völkerstrafrecht muss als eine Art „Sonderrecht“ konzeptualisiert werden, das lediglich auf bestimmte, außerordentliche Situationen anzuwenden ist. Es wird des Weiteren angenommen, dass Rechtsbegriffe, Lehren und Theorien kontextabhängig sind. Insbesondere der historische Kontext, in dem (beispielsweise) Begriffe vorgeschlagen werden, spielt eine entscheidende Rolle. Die Art und Weise, in der jeder Rechtsbegriff konkretisiert wird, sowie seine Auswirkungen und Grenzen sind in großem Maße Ergebnisse der spezifischen Bedürfnisse jedes historischen Prozesses, wenngleich es im Laufe der Zeit möglich ist, die Fortdauer gewisser Ideale zu konstatieren.33 Dies kann gerade in Bezug auf das NCSL-Prinzip gesehen werden. In unterschiedlichen Kontexten hat es sich auf verschiedene Weise entwickelt, so im englischen und im deutschen Strafrecht. Die Rechtsvergleichung erweist sich somit als ein nützliches methodologisches Werkzeug, um eine Grundlage der Analyse des NCSL-Prinzips zu schaffen. Die Arbeit verneint jedenfalls nicht, dass mehrere Widersprüche und konträre Ansätze in der Entwicklung des Völkerstrafrechts gefunden werden können. Hierzu gehört zum Beispiel das Spannungsfeld zwischen Stabilität und Anpassungsfähigkeit des Rechts,34 das maßgeblich für die Weise gewesen ist, in der sich das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht entwickelt hat. Trotzdem wird als Hypothese angenommen, dass ein gewisser Standard, der ein Mindestmaß an Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit gewährleistet, innerhalb dieser Komplexität identifiziert werden kann. Die Arbeit konzentriert sich demgemäß mehr auf die Kontinuitäten im Entwicklungsprozess des Völkerstrafrechts als auf Brüche. Die Arbeit hat deswegen eine große beschreibende Komponente, aus der jedoch gewisse präskriptive Behauptungen herausgearbeitet werden. In Roberts’ Worten kann gesagt werden, dass zwei Arten von Erwägungen in der vorliegenden Arbeit nationalem Strafrecht siehe Sloane, Stan. J. Int’l L. 2007, 39 (40–41): „ICL purports to serve multiple communities […] collective character of ICL crimes […] perpetrators of ICL crimes often act in a normative universe that differs dramatically from the relatively stable, well-ordered society that most national criminal justice systems take as their baseline“. 31 Vgl. Peters, Jenseits, S. 119. 32 Ebd., S. 64. 33 Vgl. Lacey, N. Y. U. L. Rev. 2008, 1059 (1072 ff.) 34 Wie Pound behauptete: „[A]ll thinking about law has struggled to reconcile the conflict­ ing demands of the need of stability and of the need of change“, Pound, Interpretations, S. 1.

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miteinander verbunden sind: „considerations of what the practice has been“ und „considerations of what the law is“.35 Es muss allerdings dazu gesagt werden, dass gerade Roberts diesen Ansatz im Rahmen des Völkerrechts kritisiert. Ihr zufolge können präskriptive Behauptungen nicht aus deskriptiven Behauptungen hergeleitet werden, weil eine Beschreibung es anstrebt, eine bestimmte Praxis widerzuspiegeln, während eine „Präskription“ darauf gerichtet ist, die Praxis zu leiten.36 Trotzdem können diese zwei Argumentationsniveaus im Kontext des Völkerstrafrechts nicht immer strikt getrennt werden, vor allem dann nicht, wenn die Rechtsprechung internationaler Straftribunale Bestandteil des Forschungsgegenstands ist. Es ist nicht möglich, den Stand des Völkerstrafrechts zu einem bestimmten Zeitpunkt festzustellen, ohne auf die Rechtsprechung internationaler Straftribunale Bezug zu nehmen, da die internationalen Straftribunale am Entstehungsprozess des Völkerstrafrechts aktiv teilgenommen haben. Ihre Entscheidungen haben somit einen normativen Anspruch, der über den konkreten Fall hinausgeht und nicht ignoriert werden kann, wenn das Völkerstrafrecht beschrieben bzw. systematisiert wird. Die Gerichtspraxis auf internationaler Ebene wirkt ferner normativ, weil die anschließende Praxis sich an der bereits vorliegenden Rechtsprechung orientiert. Die vorhergehende Gerichtspraxis ist somit auch Bestandteil „of what the law is“.37 Es muss jedenfalls mit Roberts angenommen werden, dass dieser „Übergang“ zwischen beschreibender Analyse und Schlussfolgerungen mit normativem Anspruch doch in gewissem Maße eine Übung de lege ferenda impliziert: „because it requires the formulation of an abstract rule from actual practice, despite the existence of silences, ambiguities, and contradictions in that practice“.38 Die vorliegende Arbeit geht jedoch nicht auf die Frage der Legitimität des Standards ein, der hier identifiziert wird, wenngleich sie feststellen wird, welche theoretische Rechtfertigung der Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht zugrunde liegt. Dementsprechend werden einige rechtstheoretische Debatten thematisiert, jedoch nicht mit der Absicht, sie zu lösen. Stattdessen soll vielmehr verdeutlicht werden, inwiefern diese rechtstheoretischen Debatten die Entwicklung des Völkerstrafrechts und die in diesem Kontext erscheinende Konzeption des NCSL-Prinzips geprägt haben. Die theoretischen Ansätze, die die richterlichen Entscheidungen beeinflussen, sind zu prüfen, um die Entscheidungen selbst besser

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Siehe Roberts, Am. J. Int’l L. 2001, 757 (761), Roberts analysiert in diesem Aufsatz den Völkergewohnheitsrechtsbegriff und spricht von „pratice“ im Sinne von Staatenpraxis als Element dieser Völkerrechtsquelle. Trotzdem sind ihre Erwägungen an dieser Stelle relevant, um den methodologischen Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit zu erklären. 36 Ebd. 37 Vgl. Vest, Gerechtigkeit, S. 27: „Recht wird in letzter Konsequenz nicht erkannt, sondern in einem schöpferischen Interpretationsprozess entwickelt“; zur Rechtsschöpfung als Funktion internationaler Gerichte siehe von Bogdandy/Venzke, S. 13, 23–25. 38 Vgl. Roberts, Am. J. Int’l L. 2001, 757 (761).

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zu verstehen.39 So bildet beispielsweise die Frage nach dem Rechtsbegriff, der der Entwicklung des Völkerstrafrechts zugrunde liegt, einen bedeutsamen Aspekt, der berücksichtigt werden soll, damit eine allgemeine Konzeption des NCSL-Prinzips vorgeschlagen werden kann. Schließlich sollen weder alle Aspekte des NCSL-Prinzips noch alle Themen, die mit der Idee der Legalität verbunden sind, in dieser Arbeit analysiert werden. Die vorliegende Forschungsarbeit fokussiert sich insbesondere auf das Problem der Rückwirkung in Bezug auf die sog. core crimes. Im Mittelpunkt des Interesses steht somit einerseits die Art und Weise der Feststellung des zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltenden Völkerrechts durch die internationalen Straftribunale und zum anderen der internationalen Kriminalisierungsprozess, d. h. die Art und Weise, wie auf internationaler Ebene bestimmte Verhaltensweisen kriminalisiert werden. Andere Aspekte des NCSL-Prinzips, wie z. B. das Bestimmtheitsgebot oder das Analogieverbot, werden nur thematisiert, soweit es für das Ziel der Arbeit notwendig ist. Weitere Themen, wie beispielsweise die Anwendung des neueren milderen Rechts, die Legalität des Strafprozesses, der Richter bzw. der Gerichte oder der Strafen werden außer Betracht gelassen.

Die Struktur Die vorliegende Arbeit ist in vier Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel widmet sich der Feststellung der Faktoren bzw. Elemente, die als Ausgangspunkte berücksichtigt werden müssen, um die sich aus der Entwicklung des Völkerstrafrechts ergebende Konzeption des NCSL-Prinzips rekonstruieren zu können. Dies wird durch eine vergleichende Analyse der Art und Weise durchgeführt, in der das NCSL-Prinzip im englischen und im deutschen Strafrecht entwickelt worden ist. Das englische und das deutsche Strafrecht bilden zwei voneinander abweichende Modelle, deren Analyse veranschaulichen kann, wie derselbe Begriff bzw. dieselbe Idee sich auf verschiedene Weise in unterschiedlichen Kontexten konkretisiert hat und dass in jedem Kontext unterschiedliche Faktoren relevant sein können. Im zweiten Kapitel soll gezeigt werden, wie die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg eingerichteten Straftribunale das Problem der Rückwirkung gehandhabt haben. Es geht dabei um die Erkundung der in den Entscheidungen dieser Tribunale widergespiegelten Konzeptionen der Legalität. Diese Forschungsarbeit geht gerade davon aus, dass die Grundlagen für eine allgemeine Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht aus den Argumenten und Auffassungen abstrahiert werden können, die von diesen Tribunalen dargestellt wurden.

39 Vgl. Boister/Cryer, S. 271; an dieser Stelle ist auch auf die Behauptung Stuckenbergs hinzuweisen, wonach „ein eklatantes Theoriedefizit“ im Völkerstrafrecht vorliegt, Stuckenberg, in: Völkerrechtsprechung, S. 772.

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Das Ziel des dritten Kapitels ist die Rekonstruktion der theoretischen Debatten, die in der Nachkriegszeit in Bezug auf die im zweiten Kapitel analysierten Strafprozesse stattfanden, und damit das Herausarbeiten der theoretischen Prämissen, die der Entwicklung des Völkerstrafrechts zugrunde liegen. Auf diese Weise sollen die Grundlagen für eine allgemeine Konzeption des NCSL-Prinzips im Rahmen des Völkerstrafrechts, die als Ergebnis des zweiten Kapitels identifiziert werden, theoretisch ergänzt und zugleich mit den Fundamenten einer theoretischen Konzeptualisierung des Völkerstrafrechts verknüpft werden. Das vierte Kapitel thematisiert den Definitionsprozess des NCSL-Prinzips im Völkerrecht während und nach dem Kalten Krieg, um die Elemente einer allgemeinen Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht zu präzisieren. Dafür soll nicht nur die Aufnahme des NCSL-Prinzips in die internationalen Menschenrechte analysiert werden. Auch sind diejenigen Argumente zu berücksichtigen, die in umstrittenen Fällen von den nach dem Kalten Krieg eingerichteten internationalen Straftribunalen dargestellt worden sind. Darüber hinaus sind die Diskussionen zu rekonstruieren, die in den Versuchen zur Kodifikation des Völkerstrafrechts innerhalb der International Law Commission (ILC) stattfanden. In Bezug auf das NCSL-Prinzip erlaubt die Verbindung zwischen den internationalen Menschenrechten, der Rechtsprechung der internationalen Straftribunale und der Arbeit der ILC die Behauptung, dass eine Rechtstradition auf der Grundlage des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher im Völkerstrafrecht entstanden ist. Am Ende muss allerdings gefragt werden, ob die Aufnahme des NCSL-Prinzips in die Art. 22 und 24 des IStGH-Statuts einen Wendepunkt in dieser Rechtstradition darstellt.

Erstes Kapitel1

Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbotsim englischen und im deutschen Strafrecht: Ausgangspunkte zur Analyse des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit widmet sich der Ermittlung der Faktoren bzw. Elemente, die berücksichtigt werden müssen, um die sich aus der Entwicklung des Völkerstrafrechts ergebende Konzeption des NCSL-Prinzips rekonstruieren zu können. Dies wird durch eine vergleichende Analyse der Art und Weise durchgeführt, in der das NCSL-Prinzip im englischen und im deutschen Strafrecht entwickelt worden ist. Diesem Vorgehen liegt die Prämisse zugrunde, dass die Rechtsvergleichung eine hilfreiche und geeinigte Methode zum Verständnis der Entwicklung des Völkerstrafrechts darstellt.1 Die Rechtsvergleichung kann auf zwei Ebenen erfolgen. Durch eine sog. horizontale Rechtsvergleichung2 – also den Vergleich von zwei oder mehreren Rechtsordnungen, die sich auf derselben Ebene befinden – können die wichtigsten Faktoren bestimmt werden, die zur Entwicklung eines bestimmten Rechtsinstituts beigetragen haben. Ferner ist es möglich, durch eine vertikale Rechtsvergleichung3 festzustellen, wie dasselbe Rechtsinstitut auf der Ebene des Völkerstrafrechts entstanden ist und welche Elemente der nationalen Rechtsordnungen im Hinblick auf diesen Entwicklungsprozess von Bedeutung waren, ohne die Eigenheiten des Völkerstrafrechts zu übersehen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich das vorliegende Kapitel nur auf die Darstellung von zwei Rechtssystemen beschränkt, die das NCSL-Prinzip im Kontext des Strafrechts vorsehen. Der Grund dafür liegt darin, dass die Heranziehung einer Vielzahl von Rechtsordnungen lediglich zu ihrer überflüssigen Betrachtung führen könnte. Obwohl ein „umfassender“ Überblick 1

Vgl. Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 44; zur zunehmenden Bedeutung der Rechtsvergleichung aufgrund der Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes und des Völkerstrafrechts siehe Sieber, in: Strafrecht, S. 80 ff.; siehe auch Burghardt, in: Strafrechtsvergleichung, S. 225 ff.; zum Beitrag der Rechtsvergleichung siehe Watson, Legal, S. 7 („Comparative Law is about the nature of law, and specially about the nature of legal development“) und S. 16–20. 2 Vgl. Ambos, GA 2016, 177 (192). 3 Ebd.; siehe auch Sieber, in: Strafrecht, S. 104–109.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

unter bestimmten Umständen nützlich sein kann,4 entspricht eine Darstellung dieser Art nicht den oben dargelegten Zielen der vorliegenden Arbeit. Außerdem wird die geschichtliche Entwicklung des NCSL-Prinzips nicht wie das Ergebnis eines einzigen „evolutionären“ Prozesses dargestellt. Stattdessen wird die Entstehung des NCSL-Prinzips in den beiden bereits genannten Rechtsordnungen getrennt thematisiert. Das englische und das deutsche Strafrecht bilden also in diesem Zusammenhang zwei voneinander abweichende Modelle. Sie sind jedenfalls repräsentativ für das westliche Recht, und beide haben in gewissem Maße das Völkerstrafrecht beeinflusst.5 Zudem kann ihre Betrachtung aufzeigen, wie derselbe Begriff bzw. dieselbe Idee auf verschiedene Weise in unterschiedlichen Kontexten konkretisiert werden kann und dass hierbei verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, oder, wie Jung es ausgedrückt hat, dass „dieselben Rechtsprinzipien unterschiedliche Ergebnisse zeitigen können, je nachdem, in welchem Rechtssystem wir uns bewegen“.6 Der im vorliegenden Kapitel durchgeführte Vergleich soll es erlauben, zwei Punkte aufzuzeigen: Zum einen, dass das NCSL-Prinzip gewisse Elemente hat,

4 Siehe beispielsweise die von Gallant durchgeführte informative Analyse des NCSL-Prinzips in den nationalen Rechtsordnungen, Gallant, S. 231 ff.; siehe auch die Anhänge A (Chart of Non-retroactivity Provision in Criminal Law by Nations), B (Legality and Non-retroactivity Provisions as of 1946–47) und C (Constitutional and Other National Provisions Implementing the Principle of Legality Today), ebd., S. 411 ff. 5 Für die Wahl des englischen und deutschen Strafrechts als „Modelle“ und Gegenstände des Vergleichs sind zwei Gründe zu nennen. Zum einen implizierten die Umstände, in denen das Völkerstrafrecht entstanden ist, die Begegnung und die Spannung zwischen diesen zwei Traditionen; beispielsweise spiegelte sich im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und im Hinblick auf das NCSL-Prinzip die Common-Law-Tradition sowohl in der Anklage als auch im Urteil wider, während die deutsche Rechtstradition in der Argumentation der Verteidigung zu finden ist. Zum anderen stellen die Common-Law- und die Civil-Law-Traditionen die zwei „größten“ und einflussreichsten Rechtstraditionen des westlichen Rechts dar (siehe dazu Glenn, Legal Traditions, S. 175–176). Das englische Strafrecht ist also repräsentativ, denn England stellt die Wiege des Common Law dar, während das deutsche Strafrecht das einflussreichste kontinentaleuropäische Strafrechtssystem nicht nur innerhalb des europäischen Raums (vgl. Jareborg, in: Grundlagen, S. 54), sondern auch außerhalb Europas ist, wie z. B. in Lateinamerika und Asien. Darüber hinaus erschien die bekannteste Formulierung des NCSL-Prinzips, diejenige von Paul Johann Anselm Feuerbach, im 19. Jahrhundert gerade im Kontext des deutschen Strafrechts. Übrigens stellt das Völkerstrafrecht zumindest im Prinzip eine westliche Konstruktion dar (vgl. Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 46); siehe auch JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 158–159. 6 Vgl. Jung, Heike, in: Grundlagen, S. 1480; siehe insofern zum Begriff des „Kontextwechsels“ auch Yamanaka, in: Rezeption, S. 175: „Der Begriff des „Kontextwechsels der Theorien“ lässt sich hier so verwenden, dass die Theorien bzw. Grundsätze eine ganz andere Bedeutung erhalten, wenn man sie in eine andere Rechtsordnung umsetzt“; siehe auch Legrand, Maastricht J. Eur. & Comp. L. 1997, 111 (124); bzgl. der Rechtsgeschichte kann auf den von Pound erwähnten Kontinuitätsfehlschluss („falacy of continuity“) hingewiesen werden, der sich auf die falsche Annahme bezieht, dass die Kontinuität der Termini auch die Kontinuität des Inhalts bzw. der Begriffe impliziert, siehe Pound, Interpretations, S. 37.

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs

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die wesentlich sind und deshalb eine Art „Kern“ bilden,7 und zum anderen, dass sich das NCSL-Prinzip trotz dieses Kerns in verschiedenen Formen materialisieren kann – beispielsweise entsprechend der in jeder Rechtsordnung vorherrschenden Rechtstheorie und deren jeweiligen Rechtsquellensystemen. In der vorliegenden Arbeit wird daher u. a. davon ausgegangen, dass der Zusammenhang zwischen Recht und Moral, der in der Rechtsprechung einer bestimmten Rechtsordnung explizit oder implizit anerkannt ist, eine entscheidende Rolle hinsichtlich der Konzeption des NCSL-Prinzips spielt. Dieser Ausgangspunkt setzt einen weniger essentialistischen Ansatz der Rechtsphänomene voraus. Deswegen wird weder im vorliegenden Kapitel noch in den späteren Ausführungen eine bestimmte Konzeption des NCSL-Prinzips als „die richtige“ verteidigt. Das Ziel dieser Forschungsarbeit ist die Ermittlung bzw. Rekonstruktion der Konzeption des NCSL-Prinzips, die sich aus der Entwicklung des Völkerstrafrechts ergeben hat, nicht die Übertragung eines spezifischen nationalen Verständnisses des NCSL-Prinzips auf dieses Rechtsgebiet. Vorab sind aber noch zwei Aspekte zu klären. Erstens müssen vor dem Vergleich des englischen und deutschen Strafrechts einige methodologische Erwägungen angestellt werden, um die Vorgehensweise hinsichtlich dieses Vergleichs zu veranschaulichen. Zweitens muss darauf hingewiesen werden, dass, obwohl das Hauptthema der vorliegenden Arbeit das NCSL-Prinzip ist, sich dieses Kapitel insbesondere mit dem Rückwirkungsverbot beschäftigt. Denn das Phänomen der rückwirkenden Kriminalisierung war es vor allem, das die Entstehung des NCSLPrinzips motiviert hat. Außerdem sind die entscheidenden Diskussionen über das NCSL-Prinzip im Rahmen des Völkerstrafrechts von der angeblich rückwirkenden Anwendung strafbewehrter Verbote ausgelöst worden. Das Interesse an der Rückwirkung ist also im Prinzip methodologisch begründet. Allerdings wird am Ende dieses Kapitels auch die Meinung vertreten, dass die Verhinderung der rückwirkenden Anwendung geschriebener oder ungeschriebener Rechtsnormen das entscheidende Phänomen zum Verstehen des NCSL-Prinzips darstellt.

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs Wie bereits erwähnt, sind zunächst einige methodologische Erwägungen darzustellen, um die Vorgehensweise im Hinblick auf den im vorliegenden Kapitel durchgeführten Vergleich zu erklären.8 Die Darstellung muss hierbei selektiv 7 In diesem Sinne kann hier von „prinzipienorientierter Rechtsvergleichung“ (Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 48) oder von „Grundlagenforschung“ als Aufgabe der Rechtsvergleichung (Sieber, in: Strafrecht, S. 94–95) gesprochen werden, obwohl eine „repräsentative Anzahl von Rechtsordnungen“ aller Rechtssystemen der Welt nicht durchgeführt wird, wie von Sieber gefordert. 8 Zur Bedeutung eines methodologisch-theoretischen Rahmens in rechtsvergleichenden Arbeiten siehe Kamba, Int’l & Comp. L. Q. 1974, 485 (518).

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

erfolgen. Deswegen wird auf einige Themen der Rechtsvergleichung nicht eingegangen, wie beispielsweise auf die Debatte, ob die Rechtsvergleichung als Rechtsgebiet oder als Methode zu verstehen ist,9 oder auf die Diskussion über den möglichen Zweck der Rechtsvergleichung.10 In Bezug auf diese Streitfragen sollen hier zwei Erwägungen genügen: Zum einen wird die Rechtsvergleichung in Anlehnung an Jescheck als eine universale Methode verstanden, die in allen Gebieten der Rechtswissenschaft angewandt werden kann.11 Zum anderen besteht das Ziel des hier vorgenommenen Vergleichs aus zwei Aspekten: der Aufdeckung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den zwei ausgewählten Rechtsordnungen sowie aus dem (besseren) Verständnis dieser Gemeinsamkeiten und Unterschiede durch die Ermittlung ihrer möglichen Gründe.12 Hieraus sollen sich die Ausgangspunkte für die Ermittlung der Art und Weise ergeben, in der sich das NCSL-Prinzip im Rahmen des Völkerstrafrechts entwickelt hat. Aus der im vorliegenden Kapitel durchgeführten vergleichenden Analyse sollen sich folglich die generellen Aspekte des NCSL-Prinzips ergeben, die auch im Kontext des Völkerstrafrechts berücksichtigt werden müssen, um eine allgemeine Konzeption dieses Grundsatzes feststellen zu können. Auch die Debatte über die wertende bzw. kritische Funktion der Rechtsvergleichung im Sinne der Suche nach der besten Lösung für ein Problem wird nicht thematisiert. Dazu sei an dieser Stelle lediglich auf Esser verwiesen, der meint, „dass sich Wertung und Rechtsvergleichung einerseits nicht grundsätzlich ausschließen, aber andererseits nicht notwendigerweise durchgehend zusammengehören“.13 Dies hänge vielmehr von dem Ziel jedes Vergleichs ab.14

I. Methode und Rechtsvergleichung Verschiedene Methoden sind in Bezug auf die Rechtsvergleichung vorgeschlagen worden.15 Deswegen ist es nicht möglich, mit Blick auf die Rechtsvergleichung über eine einheitliche Methode bzw. einen einheitlichen Begriff zu sprechen. Somit ist es schwierig, eine bestimmte Vorgehensweise zur Rechtsvergleichung als die absolut richtige anzusehen, denn jede der vertretenen Auffassungen weist Vor 9

Ebd., S. 486; auch Örücü, in: Comparative Law, S. 45–46. Siehe Kamba, Int’l & Comp. L. Q. 1974, 485 (489 ff.); Zweigert/Kötz, S. 12 ff.; für Sacco ist die Frage nach dem Ziel der Rechtsvergleichung als eine Legitimationsfrage ein falsches Problem, vgl. Sacco, S. 13–14; dazu ausführlich Kischel, § 2 Rn. 5 ff. 11 Jescheck, Entwicklung, S. 36. 12 Dazu ausführlich Örücü, in: Comparative Law, S. 54. 13 Vgl. Eser, in: Grundlagen, S. 1453. 14 Zur Abhängigkeit der Methode von der Zielsetzung siehe ebd., S. 1460–1461. 15 An dieser Stelle können die folgenden Ansätze bzw. Methoden als Beispiele erwähnt werden: der ökonomische Ansatz (Ogus, in: Comparative Law, S. 155 ff.); der kriminologische (soziologische) Ansatz (Nelken, Comparative, S. 40 ff.); der Legal-Transplants-Ansatz (Watson, Legal; kritisch dazu Legrand, Maastricht J. Eur. & Comp. L. 1997, 111) sowie die Anwendung von Begriffen der Linguistik in der Rechtsvergleichung (Sacco, S. 33 ff.). 10

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs

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teile aber auch Schwächen auf. Von daher ist die Leistungsfähigkeit jeder Auffassung begrenzt. Einige vertreten beispielsweise eine kulturbezogene Rechtsvergleichung, der zufolge das Recht als soziales Konstrukt berücksichtigt werden müsse.16 Andere stellen auf eine systembezogene Perspektive ab, in der das Recht als ein rein normatives System begriffen wird.17 Dazwischen finden sich auch „gemischte“ Ansichten, die versuchen, diese zwei Auffassungen zu verbinden.18 Dabei soll nicht übersehen werden, dass ungelöste Debatten über den Rechtsbegriff selbst im Hintergrund stehen.19 Der Rechtsbegriff bzw. der rechtstheoretische Ausgangspunkt, der hinter einer vergleichenden Analyse steht, bestimmt demnach die jeweils ausgewählte Methode, unabhängig von dem konkreten Rechtsgebiet, in dem der Vergleich sich bewegt. Es geht hier um eine unvermeidbare Verbindung zwischen Theorie und Methode.20 In diesem Zusammenhang behauptet etwa Kamba, dass derjenige, der eine historische oder soziologische Annäherung an das Recht vertritt, höchstwahrscheinlich einen historischen oder soziologischen Ansatz im Hinblick auf die Rechtsvergleichung wählen werde.21 Je nach dem Rechtsbegriff bzw. dem rechtstheoretischen Ausgangspunkt können also verschiedene Faktoren oder Elemente als Bezugspunkte einer Vergleichung in Betracht kommen. In diesem Sinne können nicht nur dogmatische Kategorien, Rechtstheorien, Normen oder die Rechtsprechung, sondern auch politische und soziale Aspekte der Rechtsinstitute oder die geschichtlichen Bedingungen ihrer Entwicklung analysiert werden. Deswegen dürfen die für den Zweck jedes Vergleichs nützlichsten Aspekte verschiedener Methoden ausgewählt werden, obwohl ein solch wahlweiser Ansatz nicht sehr systematisch zu sein scheint.22 Aufgrund der Grenzen jedes methodologischen Ansatzes beruht diese Wahl im Grunde genommen auf pragmatischen Erwägungen. In diesem Sinne betont Jescheck, dass die Wahl der Methode immer von der Eigenart der Aufgabe, die im konkreten Fall gelöst werden soll, abhängig sei.23 Die in der vorliegenden Arbeit vertretene Ansicht über das Recht basiert auf der Auffassung, dass der Sinn der Rechtsbegriffe und Rechtsinstitute sich aus ihrem sozialen Kontext und aus ihrer historischen Entwicklung ergibt. Als Prämisse wird 16

Dazu ausführlich Beck, in: Strafrechtsvergleichung, S. 70. Vgl. Fateh-Moghadam, in: Strafrechtsvergleichung, S. 55. 18 Vgl. Perron, in: Strafrechtsvergleichung, S. 121. 19 Zum Zusammenhang von Rechtsvergleichung und Rechtstheorie, insbesondere in Bezug auf die Verbindung von Strukturfunktionalismus und soziologischer Jurisprudenz, siehe FatehMoghadam, in: Strafrechtsvergleichung. 20 Vgl. Cryer/Hervey et al., S. 5 ff. 21 Vgl. Kamba, Int’l & Comp. L. Q. 1974, 485 (513). 22 Siehe Watson, Legal, S.  11, der die Gefahren und die Grenzen der Rechtsvergleichung erklärt: „Comparative Law can scarcely be systematic […] there will always be  a considerable element of selection in the objects of study […] no objective test will demonstrate that the aspects considered were the most appropriate and the only ones appropriate“. 23 Vgl. Jescheck, Entwicklung, S. 36. 17

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

angenommen, dass jedes Rechtssystem von verschiedenen Vorstellungen über den Menschen, die Gesellschaft und den Staat geprägt ist. Jede Rechtsordnung spiegelt insofern sowohl Spannungen als auch Kompromisse zwischen unterschiedlichen Interessen wider. Gleichzeitig wirken bei der Entstehung der unterschiedlichen Rechtsordnungen verschiedene historische Prozesse. Somit bildet das Recht kein homogenes Konstrukt, sondern stellt vielmehr ein Amalgam dar, in dem mehrere „Farben“ und „Texturen“ zu finden sind.24 Die Rechtvergleichung hilft gerade bei der Ermittlung der Faktoren, etwa der rechtstheoretischen Auffassungen, die zur Konkretisierung der gleichen Idee in verschiedenen Kontexten beigetragen haben, und trägt so zum besseren Verständnis der Rechtsinstitute bei. Aus diesem Grund hat der im vorliegenden Kapitel dargestellte Vergleich zwei Säulen. Einerseits sind einige Elemente aus der funktionalen Methode übernommen worden, um einen Vergleich in Verbindung mit einem zugrunde gelegten, gemeinsamen Problem in beiden Rechtsordnungen überhaupt erst zu ermöglichen.25 Andererseits wird ein historischer Ansatz verfolgt, um festzustellen, wie das thematisierte Rechtsinstitut, d. h. das NCSL-Prinzip, in beiden Kontexten seine Gestalt erlangt hat.26

II. Makro- und Mikrovergleichung Ein wesentlicher Punkt zur Begrenzung eines Vergleichs ist die Frage nach dem Vergleichsgegenstand: Was soll verglichen werden? Hier ist zwischen Makro- und Mikrovergleichung zu differenzieren.27 Laut Zweigert und Kötz umfasst die Makrovergleichung generelle Fragen hinsichtlich der verglichenen Rechtsordnungen. Dazu gehörten beispielsweise die vergleichende Darstellung der Gesetzgebungstechniken, der Methoden der Gesetzesauslegung, der Bedeutung der Lehre oder der Urteilsstile.28 Im Gegensatz dazu befasst sich die Mikrovergleichung mit der Betrachtung einzelner Rechtsinstitute oder Rechtsprobleme.29 Die Makrovergleichung thematisiert Aspekte auf der Ebene des Rechtssystems selbst. Die gesamte Rechtsordnung ist insoweit das Untersuchungsobjekt. Allerdings werden hierbei wieder unterschiedliche Verständnisse des Rechts 24

Siehe Pound, Interpretations, S. 21: „The actual legal order is not a simple rational thing. It is a complex, more or less irrational thing into which we struggle to put reason and in which […] new irrationalities arise in the process of meeting new needs“. 25 Zur Anwendung der funktionalen Rechtsvergleichung auf die Forschung im Rahmen des Völkerstrafrechts siehe Ambos, Der Allgemeine Teil, S.  44–45, Ambos zufolge ermöglicht diese Methode einen begrifflich und dogmatisch unvorbelasteten Vergleich; Sieber zufolge ist die funktionale Rechtsvergleichung nicht nur im Strafrecht, sondern für den Vergleich in allen Rechtsgebieten ein anerkannter Standard, Sieber, in: Strafrecht, S. 112. 26 Zur Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung siehe Koch, in: Grundlagen, S.  1483 ff.; Löhnig, in: The Method, S. 113 ff.; Pihlajamäki, in: The Method, S. 121 ff. 27 Dazu Örücü, in: Comparative Law, S. 56. 28 Vgl. Zweigert/Kötz, S. 4. 29 Dazu auch De Cruz, S. 234.

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs

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begriffs vertreten. Einerseits wird ein enger Begriff von „Recht“ befürwortet, dem zufolge das Recht nur aus Rechtsnormen, Rechtsprechung, Lehre und formellen Rechtsquellen im Allgemeinen bestünde. Andererseits wird ein weiter Begriff vertreten, dem zufolge beispielsweise institutionelle Tätigkeiten, moralische Werte und Praktiken von Anwälten bzw. Professoren oder Behörden zu berücksichtigen seien.30 Durch die Komplementarität dieser beiden Perspektiven sind verschiedene Rechtssysteme, die wichtige Eigenschaften teilen, in Rechtskreise oder -familien eingruppiert worden.31 Für solche Klassifikationen werden mehrere Kriterien angewendet. Dabei kommen die historische Herkunft und Entwicklung einer Rechtsordnung, die vorherrschende, spezifisch juristische Denkweise, besonders charakteristische Rechtsinstitute, die Art der Rechtsquellen und deren Auslegung sowie ideologische Faktoren in Betracht.32 Dies zeigt, dass die Makrovergleichung die Betrachtung verschiedener Elemente voraussetzt, darunter die politischen, kulturellen und ökonomischen Kontexte. Die Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen dem Rechtssystem und anderen sozialen Aspekten hilft, Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Rahmen der Rechtsvergleichung zu erklären. Die Analyse des Rechts in seinem sozialen Zusammenhang (law in context) bildet häufig die einzige Möglichkeit, um die Ergebnisse der vergleichenden Forschung zu verstehen.33 Im Hinblick auf die Mikrovergleichung ist festzustellen, dass die funktionale Perspektive den einflussreichsten Ansatz gebildet hat, insbesondere während der letzten 30 Jahre des 20.  Jahrhunderts.34 Dabei handelt es sich um den Versuch, konkrete Aspekte verschiedener Rechtsordnungen vergleichbar zu machen. Die funktionale Perspektive liegt jenseits eines positivistischen Standpunkts, wonach das Recht nur vom Staat geschaffen wird und die staatlichen Regelungen das einzige bzw. das wichtigste Untersuchungsobjekt der Rechtswissenschaft darstellen.35 Die Berücksichtigung des Kontextes erscheint daher auf dieser Ebene wichtig,36 damit die Gestaltung, der Inhalt und die Bedeutung einer bestimmten Rechtsinsti-

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Dazu Kamba, Int’l & Comp. L. Q. 1974, 485 (506). In diesem Zusammenhang sprechen Zweigert und Kötz von sechs Rechtskreisen: dem romanischen Rechtskreis, dem deutschen Rechtskreis, dem angloamerikanischen Rechtskreis, dem nordischen Rechtskreis, dem Recht im Fernen Osten und dem religiösen Recht. Laut Zweigert und Kötz erfüllt diese Einteilung vor allem eine theoretische Ordnungsaufgabe, Zweigert/Kötz, S. 62 ff.; die Unterteilung der verschiedenen Rechtsordnungen der Welt in Rechtsfamilien ist allerdings umstritten. Beispielsweise behauptet Husa, dass die traditionelle Eingruppierung nicht der Realität der Rechtsordnungen entspricht. Diese Art der Klassifikation hat nach Husas Auffassung ein falsches statisches Bild der eingruppierten Rechtsordnungen zur Folge, vgl. Husa, RIDC 2004, 11 (15). 32 Vgl. Zweigert/Kötz, S. 68; dazu auch De Cruz, S. 32 ff. 33 Vgl. Örücü, in: Comparative Law, S. 57. 34 Vgl. Michaels, in: The Oxford Handbook, S. 340. 35 Zum Verhältnis zwischen Rechtsvergleichung, Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie siehe Zweigert/Kötz, S. 10 ff. 36 Vgl. Nelken, Comparative, in: Comparative Law, S. 22. 31

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

tution bzw. eines konkreten Rechtsbegriffs richtig verstanden werden können.37 Die Rechtsvergleichung führt in diesem Sinne zur interdisziplinären Reflexion. Daraus folgt, dass die Grenzen zwischen Makro- und Mikrovergleichung tatsächlich verschwimmen und sich diese beiden Perspektiven gegenseitig ergänzen.38

III. Funktionale Rechtsvergleichung Wie bereits erwähnt wurde, sind einige Elemente der funktionalen Methode im vorliegenden Kapitel aufgegriffen worden. Zweigert und Kötz stellten 1971 in der ersten Auflage ihres Werkes „Einführung in die Rechtsvergleichung“ die Ausgangspunkte einer funktionalen Methode zur Rechtsvergleichung dar, wenngleich auch der Grundgedanke dieses Ansatzes auf Rabel zurückgeht.39 Dazu ist zunächst festzustellen, dass Kötz und Zweigerts Reflexionen nicht als eine abgeschlossene oder strikte Methode zu verstehen sind. Sie sollen vielmehr als Ausgangspunkte betrachtet werden, um den methodologischen Weg einer vergleichenden Untersuchung zu verdeutlichen.40 In diesem Zusammenhang ist der Funktionsbegriff als Schlüsselwort zu nennen, der die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden ermöglicht. Deshalb sollen an dieser Stelle einige Erwägungen über den Funktionsbegriff angestellt und seine Rolle bei der Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der funktionalen Rechtsvergleichung dargelegt werden. 1. Der Funktionsbegriff in der Rechtsvergleichung Die Funktionalität ist für Zweigert und Kötz das Grundprinzip der Rechtsvergleichung. Vergleichbar ist demnach nur das, was in jeder Rechtsordnung dieselbe Funktion erfüllt (sog. funktionale Äquivalenz).41 Diese Behauptung beruht 37

Vgl. Örücü, in: Comparative Law, S. 57. Vgl. Zweigert/Kötz, S. 5. 39 Siehe Rabel, Rhein Z f Zivil und ProzessR 1924, 279. 40 Vgl. Zweigert/Kötz, S. 32. 41 Laut Fateh-Moghadam beruht die traditionelle funktionale Methode der Rechtsvergleichung einerseits auf dem überholten sozialwissenschaftlichen Paradigma des Strukturfunktionalismus: „Die strukturfunktionalistische Prägung zeigt sich vor allem in der Grundannahme, Aufgabe der Rechtsvergleichung sei es, nach unterschiedlichen Lösungsmodellen für einheitliche gesellschaftliche Probleme zu suchen.“, Fateh-Moghadam, in: Strafrechtsvergleichung, S.  46. Andererseits beruhe sie auf rechtstheoretischen Annahmen der klassischen soziologischen Jurisprudenz: „Für die Rechtsvergleichung impliziert dies, dass die vergleichende Untersuchung von Rechtsdogmatik und Methoden der Rechtsfindung an Bedeutung verliert, da die Gerichte bei der erforderlichen Auflösung widersprüchlicher Grundwerte oder Interessenkonflikte […] weniger durch die Vorgaben der Methodenlehre und systematischen Rechtsdogmatik als durch außerrechtliche Einflüsse und persönliche Überzeugungen geleitet zu sein scheinen“, Fateh-Moghadam, in: Strafrechtsvergleichung, S.  51; siehe auch Valcke/Grellette, in: The Method, S. 99 ff. und Kischel, § 3Rn. 3–5. 38

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs

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auf folgenden Prämissen: Die Probleme, die jede Gesellschaft lösen müsse, seien in der Regel letztendlich die gleichen;42 darüber hinaus solle die Ausgangsfrage einer rechtsvergleichenden Arbeit frei wie möglich von Vorurteilen und Systembegriffen einer spezifischen Rechtsordnung formuliert werden;43 infolgedessen sei die Identifizierung eines gemeinsamen Sachverhalts, Phänomens oder Bedürfnisses – und nicht einer zum eigenen Rechtssystem gehörenden Norm oder ein dogmatischer Begriff mit vorgegebenem bestimmtem Inhalt  – der erste Schritt des Vergleichs.44 Dementsprechend ist es möglich, in einer rechtsvergleichenden Forschung drei Situationen vorzufinden. Erstens können ein Sachverhalt, ein Phänomen oder ein Bedürfnis in einem Rechtssystem ein Problem darstellen, während dies in einem anderen nicht der Fall ist. Dieser Befund ist bedeutsam, solange die Ausgangsfrage gut formuliert ist.45 Zweitens können verschiedene Rechtsfiguren – ggf. trotz ihres unterschiedlichen historischen Ursprungs – die gleiche Funktion erfüllen. In diesem Fall sind die verglichenen Rechtsfiguren funktionelle Gegenstücke. Es ist zu beachten, dass bei dieser Sachlage die terminologischen bzw. begrifflichen Unterschiede irrelevant erscheinen.46 Drittens kann sich das funktionelle Gegenstück einer Norm oder eines Rechtsinstituts nicht in einer formalen Rechtsquelle befinden, sondern in einem außerrechtlichen Phänomen. Demzufolge bedeutet das Fehlen von Normen oder Rechtsprechung nicht zwingend, dass das betrachtete Bedürfnis bzw. Problem nicht gelöst oder ungeregelt ist. Das Grundprinzip der Funktionalität erlaubt es somit, auch die nicht im formalen Sinne rechtlichen Aspekte zu betrachten.47 Die funktionale Rechtsvergleichung ist allerdings aus unterschiedlichen Gründen kritisiert worden.48 Zwei zentrale Kritikpunkte sollen hier erwähnt werden: die Mehrdeutigkeit des Funktionsbegriffs und die angebliche Tendenz zur Unter­

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Vgl. Örücü, in: Comparative Law, S. 51. Im Gegensatz dazu behauptet Jescheck bzgl. des Strafrechts, dass der eigene dogmatische und kriminalpolitische Standpunkt die Grundlage der geistigen Methodik der Rechtsvergleichung ist, Jescheck, Entwicklung, S. 40. 44 Siehe Zweigert/Kötz, S.  33: „Keinesfalls darf man sich also den Blick durch Systembegriffe des eigenen nationalen Rechts verstellen lassen; denn Angelpunkt jeder Rechtsvergleichung ist stets das konkrete Sachproblem“; siehe auch Sieber, in: Strafrecht, S. 112–113. 45 Siehe Zweigert/Kötz, S. 34. 46 Ebd., S. 36. 47 Ebd., S. 37; zum Unterschied zwischen functional-institutional approach und sociological (problem-solving) approach siehe Örücü, in: Comparative Law, S. 51–52; siehe auch Sieber, in: Strafrecht, S. 113, ihm zufolge ermöglicht die funktionale Rechtsvergleichung auch den Vergleich zwischen Normen verschiedener Rechtsgebiete oder sogar zwischen materiellen und prozessualen „Lösungen“. 48 Zu den gegen die funktionale Rechtsvergleichung formulierten Kritiken siehe Kischel, § 3 Rn.  6 ff., Kischel gruppiert diese Kritiken in drei Arten: Kritik an der Vorgehensweise (Rn. 7 ff), Kritik an den Hintergründen (Rn. 15 ff.) und postmoderne Kritik (Rn. 23 ff.); bzgl. des „Zerrbilds“ der funktionalen Rechtsvergleichung siehe auch ebd., § 3 Rn. 179 ff. 43

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

schätzung der Komplexität sozialer Probleme.49 Diese Kritikpunkte zeigen die Grenzen des funktionalen Ansatzes. Basierend auf dem ersten Kritikpunkt bezeichnet Michaels die funktionale Methode als eine Chimäre und behauptet, dass sie kaum als eine voll entwickelte Theorie charakterisiert werden könne.50 Michaels erläutert die verschiedenen Bedeutungen, die der Funktionsbegriff in den Sozialwissenschaften hat, insbesondere in der Soziologie, und behauptet, dass es nicht immer klar sei, in welchem Sinne dieser Begriff in der Rechtsvergleichung angewendet werde.51 Michaels zufolge werde außerdem das Verhältnis zwischen Problemen und Rechtsinstituten in der funktionalen Methode der Rechtsvergleichung als ein notwendiger Kausalzusammenhang begriffen, in dem Rechtsinstitute immer ein Resultat sozialer Probleme seien. Allerdings sei das Verhältnis zwischen Problemen und Rechtsinstituten auch aus einer teleologischen Perspektive zu verstehen, wonach Rechtsinstitute das Ergebnis einer Entscheidung zur Lösung sozialer Probleme seien. Dies bilde Michaels zufolge einen theoretischen Widerspruch, der überwunden werden müsse.52 Bei dem Versuch, die funktionale Methode der Rechtsvergleichung zu begrenzen, erläutert Michaels im nächsten Schritt die Unterschiede zwischen dem Funktionalismus in der Soziologie und dem Funktionalismus im rechtlichen Sinn anhand von drei Aspekten: Der soziologische Funktionalismus interessiere sich für latente Funktionen, während der rechtliche Funktionalismus sich auf explizite oder gewünschte Funktionen konzentriere. Die Soziologen würden den Funktionalismus nutzen, um die Komplexität der Gesellschaft sichtbar zu machen, während die Rechtswissenschaftler versuchen würden, die soziale Komplexität zu reduzieren, um „richtige“ Lösungen zu finden. In der Soziologie wird die Idee der Funktion problematisiert, in der Rechtswissenschaft dagegen wird die Funktionalität des Rechts fast immer angenommen.53 Dabei bleibt die Frage nach dem „richtigen“ bzw. „geeigneten“ Funktionsbegriff im Hinblick auf die Rechtsvergleichung jedoch offen. Die Feststellung der Implikationen des Funktionsbegriffs in rechtlichem Sinne erlaubt es jedenfalls, die funktionale Methode besser anzuwenden und, wenn nötig, zu ergänzen. Michaels schlägt immerhin den von Zweigert und Kötz dargestellten Grundsatz der „funktionalen Äquivalenz“ als Ausgangspunkt für die Rechtsvergleichung vor. Er präzisiert aber zwei wichtige Punkte. Die funktionale Methode solle nicht von einer essentialistischen Ansicht der Rechtsinstitute ausgehen, sondern von einer spezifischen Art der Relation zwischen Recht und Gesellschaft, in der die bestimmten Formen der Rechtsinstitute nicht mehr als kontingente Antworten auf bestimmte Probleme seien. Somit bilde das Verhältnis zwischen Problem 49

Siehe dazu Nelken, Comparative, S. 43–44. Dazu ausführlich Michaels, in: The Oxford Handbook, S. 340. 51 Er erwähnt u. a. die folgenden Ansätze: finalism, adaptionism, classical functionalism, instrumentalism, refined functionalism und equivalence functionalism, ebd., S. 345 ff. 52 Ebd., S. 358–359. 53 Ebd., S. 360, 361. 50

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs

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und Rechtsinstitut keine logische Notwendigkeit.54 Dies stellt auch eine der Prämissen der vorliegenden Arbeit dar. Deshalb beinhalte diese Methode, wenn sie richtig verstanden werde, auch die Betrachtung sozialer Aspekte, aber unter der Annahme, dass Recht und Gesellschaft als Untersuchungsobjekte getrennt werden können.55 Es muss betont werden, dass Kötz und Zweigerts funktionaler Vorschlag vor allem die Unangemessenheit des Vergleichs abstrakter Begriffe betont. Dies bildet den Hauptpunkt der funktionalen Perspektive und eines der wichtigsten Elemente, die für den im vorliegenden Kapitel durchgeführten Vergleich aufgegriffen worden sind. Begriffe und Normen sollen im Kontext analysiert werden, denn nur auf diese Weise kann ihre „Funktion“ festgestellt werden.56 Allerdings wird die funktionale Rechtsvergleichung auch wegen der Unterschätzung der Komplexität sozialer Probleme kritisiert – das ist der zweite, bereits erwähnte Kritikpunkt. Durch diese Kritik werden drei Schwächen dieses Ansatzes hervorgehoben. Erstens die Vermutung, dass die Eingrenzung von rechtlichen und nicht rechtlichen Bereichen in den verglichenen Systemen die gleiche sei.57 Zweitens die Annahme, dass für soziale Probleme immer eine Lösung gefunden werden könne, d. h., dass der funktionale Ansatz davon ausgeht, dass soziale Probleme immer durch das Recht lösbar seien. Dabei muss gesagt werden, dass die funktionale Perspektive die Tatsache übersieht, dass solche „Lösungen“ häufig das Ergebnis von Konflikten und Kämpfen zwischen sozialen Gruppen und Interessen sind. Als dritte Schwäche gilt die Vermutung, dass soziale Probleme wie eine Gegebenheit existieren würden. Aber soziale Probleme sind auch kulturell konstruiert. Deshalb setzt die Analyse sozialer Probleme die Betrachtung kultureller Elemente jenseits der vermuteten gemeinsamen Bedürfnisse voraus.58 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Leistungsfähigkeit der funktionalen Perspektive, wie sie von Zweigert und Kötz vorgeschlagen wurde, beschränkt ist.59 Jedoch kann, wie gesagt, diese Perspektive sinnvoll sein, solange nicht allein auf sie zurückgegriffen wird. Begriffe, Institutionen, Normen und sogar funktionelle Gegenstücke haben aufgrund des Rechtssystems als normativem Kontext, aber auch aufgrund der Struktur der Gesellschaft, in der sie vorliegen, ihre spezifische Bedeutung. Deswegen ist die Ergänzung der funktionalen Methode mit anderen Ansätzen notwendig.60

54

Ebd., S. 358. Ebd., S. 365. 56 Dazu Samuel, in: Epistemology, S. 39. 57 Ebd., S. 40. 58 Siehe Nelken, Comparative, in: Comparative Law, S. 22. 59 Dazu Örücü, in: Comparative Law, S. 52. 60 Ebd., S. 53; siehe insofern Sieber, in: Strafrecht, S. 114 ff. 55

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

2. Die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Rechtsvergleichung Die Debatte über den Bezugspunkt der Rechtsvergleichung spielt eine wichtige Rolle, um die vergleichende Forschung zu strukturieren. In diesem Zusammenhang ist die Frage, ob nach Gemeinsamkeiten oder Unterschieden gesucht werden soll, in der Fachliteratur oft thematisiert worden. Die funktionale Methode interessiert sich im Prinzip für Gemeinsamkeiten. Gerade deshalb wird diese Perspektive kritisiert.61 Trotzdem ist die Feststellung von Unterschieden diesem Ansatz zufolge ebenso wichtig. Eine einfache vergleichende Aussage stellt einen dreiseitigen Zusammenhang zwischen zwei Objekten und einem dritten Element her, das als Bezugspunkt in Betracht kommt. Dieses dritte Element oder tertium comparationis erscheint als das gemeinsame Merkmal der verglichenen Objekte und ermöglicht deshalb die Vergleichung.62 Zur Veranschaulichung soll folgendes Beispiel dienen: Angenommen werden zwei hypothetische Rechtsordnungen (Rechtsordnung a und Rechtsordnung b), von denen jede ihr eigenes Strafgesetzbuch hat. Diese Rechtssysteme sind also ähnlich, weil beide ein Strafgesetzbuch haben. Insofern kann im Allgemeinen gesagt werden, dass beide Rechtsordnungen kodifizierte Systeme sind. Das Bestehen eines Strafgesetzbuchs dient somit in diesem Beispiel als tertium comparationis. Feststellungen dieser Art können als klassifizierender Vergleich bzw. classifying comparison bezeichnet werden.63 Allerdings umfasst die Beurteilung von Gemeinsamkeiten mehr als die bloße Einstufung von Objekten in eine Kategorie, wie z. B. „kodifiziertes Rechtssystem“. Sie enthält darüber hinaus das Problem der Intensität, d. h. die Frage, inwieweit die Objekte a und b die Eigenschaft x teilen. Dies führt zur Berücksichtigung von Besonderheiten und erlaubt es, irreführende oder überflüssige Verallgemeinerungen zu vermeiden.64 Beispielsweise könnte es in Bezug auf die hypothetischen Rechtsordnungen a und b der Fall sein, dass die einzige Rechtsquelle der Straftatbestände gemäß der Rechtsordnung  a das Strafgesetzbuch ist, während neue Straftatbestände in der Rechtsordnung b auch durch die Rechtsprechung geschaf 61

Dazu ausführlich Dannemann, in: The Oxford Handbook, S.  389 ff.; siehe auch FatehMoghadam, in: Strafrechtsvergleichung, S. 56; Legrand, Maastricht J. Eur. & Comp. L. 1997, 111 (123–124): „[…] the comparatist must emphatically rebut any attempt at the axiomatization of similarity, especially when the institutionalization of sameness becomes so extravagant as to suggest that a finding of difference should lead her to start her research afresh! […] comparison must involve ‚the primary and fundamental investigation of difference‘“. 62 Siehe Jansen, in: The Oxford Handbook, S. 310. 63 Ebd., S. 311; Michaels, in: The Oxford Handbook, S. 367–369: „Comparison traditionally requires an invarian element […] Comparability is attained through the construction of universal problems as tertia comparationis“; siehe auch Örücü, in: Comparative Law, S. 48: „a common comparative denominator which could be the third unit besides the two legal comparanda“. 64 Vgl. Jansen, in: The Oxford Handbook, S. 314.

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs

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fen werden können. Obwohl in diesem Fall in beiden hypothetischen Rechtssystemen ein Strafgesetzbuch zu finden wäre, hätte diese Tatsache in beiden Kontexten nicht die gleiche Bedeutung bzw. nicht die gleichen Konsequenzen. Auf diese Weise erlaubt es die funktionale Rechtsvergleichung, Unterschiede im Rahmen der Gemeinsamkeiten zu identifizieren.65 Der entscheidende Punkt ist hier die Auswahl des tertium comparationis. Es muss berücksichtigt werden, dass die Rechtsvergleichung nicht auf einem abstrakten Niveau stattfindet, sondern vielmehr von konkreten Aspekten der betroffenen Rechtssysteme ausgeht. Wie bereits erwähnt wurde, ist die Wahl dieser Aspekte von den Interessen und Zielen der Forscher abhängig.66 Dies bedeutet, dass die Wahl des tertium comparationis stets subjektiv ist und notwendigerweise die Ergebnisse der Untersuchung bedingt. In Jansens Worten heißt das: „[A] wholly neutral perspective is neither possible nor desirable for comparative law […]. Comparative lawyers should therefore reflect their epistemological interests and openly inform others of the reasons or motives for their choice of tertia comparationis“.67 Der funktionalen Methode der Rechtsvergleichung zufolge ist gerade das als Ausgangspunkt der Untersuchung ausgewählte Problem das Element, das den Vergleich ermöglicht. Der Sachverhalt, das Phänomen oder das Bedürfnis, das den Ausgangspunkt des Vergleichs bildet, wirkt aus dieser Perspektive als tertium comparationis.68 In dem schon erwähnten Beispiel wäre also das Bestehen eines Strafgesetzbuchs an sich kein tertium comparationis. Ein gemeinsames Problem der verglichenen Rechtsordnungen sollte insofern festgestellt werden, wie beispielsweise die Notwendigkeit der Voraussehbarkeit des Strafrechts. Die Konfiguration der Rechtsquellensysteme der Rechtsordnungen a und b – z. B. die zu jedem System gehörenden Mechanismen zur Schaffung von Straftatbeständen – wären als mögliche Antworten im Hinblick auf dieses Problem vergleichbar. In diesem Kontext ist der Begriff der praesumptio similitudinis zu erwähnen, d. h. „die Vermutung für die Ähnlichkeit der praktischen Lösungen“ in verschiedenen Rechtsordnungen.69 Obwohl jedes Rechtssystem seine eigene historische Entwicklung und seinen eigenen theoretischen Aufbau und Stil hat, sind die Lösungen laut Zweigert und Kötz in den gleichen Lebensfragen oft ähnlich. Mit dieser Vermutung als Basis der Untersuchung kann ein Kriterium gebildet werden, um die vergleichende Analyse in eine bestimmte Richtung zu lenken.70 Deswegen ist es möglich, durch die funktionale Methode der Rechtsvergleichung für ein bestimmtes Problem verschiedene Arten von Reaktionen bzw. Antworten fest 65

Ebd., S. 312. Vgl. De Cruz, S. 225–226. 67 Ebd.; siehe auch Jansen, in: The Oxford Handbook, S. 314–315. 68 Siehe insofern Örücü, in: Comparative Law, S. 48: „tertium comparationis could be the ‚common function‘ between institutions and rules, the ‚common goal‘ they set out to achieve, the ‚problem‘, the ‚factual situation‘ they are created to solve or the soutions offered“. 69 Vgl. Zweigert/Kötz, S. 39. 70 Ebd., S. 39. 66

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

zustellen. Ähnlichkeit bedeutet insofern vor allem das Bestehen eines funktionellen Gegenstücks und nicht notwendigerweise die Gleichheit von Normen oder Rechtsinstituten.71 Es ist zu betonen, dass Zweigert und Kötz die praesumptio similitudinis einschränken. Sie behaupten zunächst, dass es nur um eine Vermutung gehe, die „oft“, aber nicht immer bestätigt werden könne.72 Darüber hinaus begrenzen sie sich auf ein bestimmtes Rechtsgebiet im Hinblick auf Länder, deren kulturelle Identitäten sehr ähnlich sind, nämlich das Privatrecht in den von ihnen genannten „entwickelten Rechtsordnungen der Welt“.73 Dies verringert zwar nicht den praktischen Wert der praesumptio similitudinis, da diese Perspektive jedenfalls dem geistigen Prozess des Vergleichs entspricht.74 Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die praesumptio similitudinis ein heuristisches Prinzip ist, das es ermöglicht, mit der Untersuchung zu beginnen. Aber die Betrachtung der Gemeinsamkeiten wie auch der Unterschiede ist gleichermaßen wichtig. Ihr Zusammenspiel ermöglicht es, bessere Bedingungen für die Erlangung rechtswissenschaftlicher Erkenntnisse zu schaffen.75 Deshalb ist es wichtig, den von Dannemann genannten „convergent“ und „divergent approach“ zu verbinden. Der „convergent approach“, d. h. die vergleichende Untersuchung auf der Grundlage der praesumptio similitudinis, erlaubt es, verschiedene Strategien zu entdecken, mit denen ähnliche Probleme gelöst werden sollen, während mit einem „divergent approach“ die spezifische Entwicklung von verschiedenen Gesellschaften aufgezeigt werden kann.76

IV. Rechtstraditionen als Gegenstände der Rechtsvergleichung Begriffe und Theorien spielen eine wichtige Rolle für das Verständnis der modernen Rechtsordnungen, denn sie helfen, abstrakten Normen und der Rechtsprechung, also dem geltenden Recht, einen systematischen Sinn zu verleihen. Die Identität der Rechtssysteme hängt z. T. von der in dem jeweiligen Kontext anerkannten Fachsprache ab. In diesem Sinne haben Rechtsbegriffe mehr oder weniger präzise Bedeutungen, die zu bestimmten Rechtsfolgen und Konsequenzen in jedem Rechtssystem führen.77 Begriffe befinden sich ferner in ständiger Wechselwirkung miteinander, und sie werden mit einem Anspruch relativer Kohärenz formuliert.78 Dementsprechend bedingt der konkrete rechtliche Kontext die Stel 71

Siehe Michaels, in: The Oxford Handbook, S. 381. Vgl. Zweigert/Kötz, S. 38; siehe auch De Cruz, S. 238. 73 Vgl. Zweigert/Kötz, S. 39. 74 Siehe Michaels, in: The Oxford Handbook, S. 370. 75 Vgl. Dannemann, in: The Oxford Handbook, S. 399; auch Örücü, in: Comparative Law, S. 50; Sacco, S. 28. 76 Vgl. Dannemann, in: The Oxford Handbook, S. 401. 77 Vgl. De Cruz, S. 220; ausführlich Sacco, S. 39 ff. 78 Vgl. Fateh-Moghadam, in: Strafrechtsvergleichung, S. 56. 72

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs

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lung und den Umfang jedes Rechtsbegriffs und jeder Doktrin.79 Rechtsordnungen sind aber auch Produkte der Geschichte, weshalb die historische Entwicklung einer Rechtsordnung den Prozess der Entstehung der Rechtsbegriffe in jedem rechtlichem Kontext verdeutlichen kann.80 Durch die historische Untersuchung lassen sich deshalb gesellschaftliche Bedingungen, Gedanken, Einflüsse anderer Rechtsordnungen und weitere Aspekte feststellen, die zu dieser Entstehung beigetragen haben. Die alleinige Betrachtung der Normen oder der formalen Rechtsquellen führt demnach zu einer nur partiellen und vielleicht auch verzerrten Darstellung der Rechtssysteme, die Gegenstände einer vergleichenden Analyse sein sollen.81 Der Bezugspunkt der Rechtsvergleichung darf somit nicht nur das Recht als normatives System sein.82 In diesem Zusammenhang erscheint die historische Betrachtungsweise des Rechts als eine Perspektive, mit der die Beziehung zwischen Recht und Gesellschaft analysiert werden kann, um die Entstehung und Veränderungen der Rechtsordnung zu verstehen.83 Die historische Perspektive erlaubt es ferner, sich zu erinnern bzw., wie Koch es formuliert, zu erkennen, „dass dogmatische Figuren nicht als Frucht reiner logischer Deduktion entstanden [sind], sondern aufgrund handfester rechtspolitischer Interessen“.84 Die Vermutung der Kohärenz von Normen, Begriffen und Doktrinen wird damit stark relativiert. Somit gewinnt die Ansicht des Rechts als einem Bündel von Lösungen für in der Vergangenheit vorhandene Probleme an Bedeutung.85 Dank dieses Standpunkts ist es also möglich, die Komplexität der Beziehung von Recht und Gesellschaft vor Augen zu behalten.86 Die Betrachtung des Sozialkontextes, in dem eine spezifische Rechtsordnung entstanden ist, ruft die Frage hinsichtlich der Bedeutung des Kulturbegriffs hervor. In diesem Zusammenhang sind gewisse kritische Ansätze bzgl. der Ausdehnung und Mehrdeutigkeit dieses Begriffs als einem beschreibenden Begriff 79

Vgl. Kamba, Int’l & Comp. L. Q. 1974, 485 (516). Vgl. De Cruz, S. 223. 81 Dazu Kamba, Int’l & Comp. L. Q. 1974, 485 (513); siehe auch Cotterrell, in: Comparative, S. 145; in Bezug auf das Strafrecht siehe Dubber, The Oxford Handbook, S. 1291. 82 Vgl. Jung, Heike, in: Grundlagen, S. 1467: „Rechtsvergleicher haben früh erkannt, dass man bei einem platen Positivismus nicht stehen bleiben kann. Es reicht nicht einmal, die institutionell-systematischen Zusammenhänge in den Blick zu nehmen“; siehe auch Örücü, in: Comparative Law, S. 58 und Kischel, § 3 Rn. 199–200, Kischel zufolge soll der Kerngedanke der funktionalen Rechtsvergleichung erhalten und mit einer „kontextuellen Rechtsvergleichung“ ergänzt werden. 83 Vgl. Watson, Legal, S. 102–103; Watson, in: Epistemology, S. 1; auch Rabel, Rhein Z f Zivil und ProzessR 1924, 279 (281): „[G]eschichtliche Rechtsvergleichung […]: die Erforschung des historischen Verhältnisses der Rechtsordnungen, durch welche die festgestellten Ähnlichkeiten entweder auf gemeinsame Abstammung oder auf Rezeption oder auf selbständig, aber parallel wirkende Faktoren zurückgeführt werden“. 84 Vgl. Koch, in: Grundlagen, S. 1496. 85 Vgl. Gordley, in: The Oxford Handbook, S. 762. 86 Siehe dazu Watson, in: Epistemology, S. 1–5. 80

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

geäußert worden.87 Glenn hat ihn beispielsweise als ein „over-inclusive and ambi­ guous concept“ bezeichnet, weil er u. a. politische, wirtschaftliche und historische Aspekte unfasse und deswegen kaum eindeutig zu definieren sei.88 Laut Glenn sei dieser Begriff ferner zur Differenzierung von menschlichen Gruppen, insbesondere von Ländern bzw. Nationen, benutzt worden. Diese Differenzierungen würden auf Verallgemeinerungen sowohl des eigenen als auch des fremden Gemeinwesens beruhen und zum Glauben an die Homogenität und Isolation jeder menschlichen Gruppe führen.89 Im Gegensatz dazu behauptet Cotterrell, dass die vergleichende kulturelle Forschung die Akzeptanz der Differenz zwischen Völkern erlaube. Sie fördere deswegen die Kommunikation. Er erkennt aber an, dass die Schlussfolgerungen der vergleichenden kulturellen Forschung niemals endgültig sein können, sondern nur vorläufig und partiell.90 Durch die Wahl des Ausgangspunkts der Rechtsvergleichung soll jedenfalls sichergestellt werden, dass berücksichtigt wird, wie sich die Rechtsordnung und deren sozialer Hintergrund ändern, um ein falsches Bild des Rechts als eines festen und endgültigen Zustandes zu vermeiden. Hierfür kann auf die Betrachtung historischer Aspekte zur Ergänzung der Rechtsvergleichung zurückgegriffen werden.91 Glenn schlägt insofern den Begriff von „Tradition“ vor. Dieser Begriff setze die Berücksichtigung historischer Prozesse voraus und ermögliche die Betrachtung der Wechselwirkung zwischen Rechtssystemen, ohne deren Nuancen zu übersehen.92 Eine Tradition, auch eine Rechtstradition, ist Glenn zufolge mehr als ein wiederholtes Verhalten. Eine Tradition beziehe sich vor allem auf Information, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart überliefert werde.93 Die Information, die einer Tradition zugrunde liege, werde als „voices coming from the past“ rezipiert, aber auch ausgelegt und angewendet, indem sie mit neuer Information ergänzt werde, um weiter überliefert zu werden.94 Eine Tradition sei deswegen nie 87

Siehe Jung, Heike, in: Grundlagen, S. 1472 ff.; Hörle, ZtSW 2005, 801 (801–802); Mankowski, JZ 2009, 321. 88 Vgl. Glenn, in: Epistemology, S. 12; „Kultur“ wird demnach als „total way of live“ verstanden, ebd., S. 14. 89 Ebd., S. 15–16; in Bezug auf den Begriff „legal culture“ und zur Notwendigkeit seiner Begrenzung siehe Nelken, Defining, in: Comparative Law, S. 114 ff. 90 In diesem Sinne schreibt Cotterrell: „Cultural comparatists write of the ‚impossibility of perfect compa­rison‘ since each ‚cultural context is unique to some extent‘ […] The findings of cultural comparative law will always be provisional, partial and contested […] It will not measure up to the protocols of rigour that positivist legal analysis demands“, Cotterrell, in: Comparative, S. 148–152. 91 Siehe Nelken, Comparative, in: Comparative Law, S. 28; Koch, in: Grundlagen, S. 1498. 92 Vgl. Glenn, in: Epistemology, S. 19; dazu auch Örücü, in: Comparative Law, S. 58–59 und Kischel, § 3 Rn.  131–140. 93 Vgl. Glenn, Legal Traditions, S. 13 ff. 94 Ebd., S. 27; Glenn erklärt auf die folgende Weise, wie die Tradition im Laufe der Zeit funktioniert: „Once there has been ongoing application of the original information base of the tradition, this application itself is also subject to capture, and this in turn is added to the information base of the tradition, which becomes larger and larger as the life of the tradition goes on“, Glenn, Queen’s L. J. 2008–2009, 427 (432).

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs

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endgültig,95 sie wandele sich im Laufe der Zeit und sei zu anderen (internen und externen) Traditionen offen, mit denen sie in Kontakt trete.96 Als Ergebnis könne sich die von der überlieferten Information in der Gegenwart gespielte Rolle ändern und dies erlaube, verschiedene Haltungen einzunehmen.97 Eine Tradition enthalte jedenfalls eine gewisse normative Kraft, da sie „lehrreiche“ Erfahrungen ausdrücke.98 Dieses Verständnis von Tradition wirft jedoch eine weitere Frage auf: Woraus besteht die überlieferte Information bei Rechtstraditionen?99 Im Hinblick auf den vorliegenden Vergleich kann das Verständnis von Tradition als Information mit dem von Merryman vorgeschlagenen Begriff von „Rechtstradition“, den er zur Analyse der Civil-Law-Tradition anwendet, ergänzt werden. Rechtstradition bezieht sich demnach laut Merryman auf die tief verwurzelten und historisch bedingten Einstellungen bzw. Vorstellungen über das Wesen des Rechts und über die Rolle der Rechtsordnung in der Gesellschaft bzw. in einem Gemeinwesen sowie die einflussreichsten Gedanken über ihre richtige Gestaltung und Funktionalität.100 Die tatsächliche oder gewünschte Art der Rechtserzeugung, der Rechts­ findung und der Rechtsreform ebenso wie die Art und Weise, in der das Recht gelernt und gedacht wird, sind auch in diesem Begriff der Rechtstradition enthalten.101 In ähnlichem Sinne definieren Pound die „Anglo-American legal tradi 95

Vgl. Glenn, Legal Traditions, S. 16. Ebd., S. 33 ff.; Merryman und Pérez-Perdomo behaupten auch insofern: „The civil law tradition is a composite of several distinct elements or subtraditions, with separate origins and developments in different periods of history“, Merryman/Pérez-Perdomo, S. 6. 97 Siehe Glenn, Legal Traditions, S. 23–30. 98 Ebd., S. 17: „That which has been captured from the past is inherently normative; it provides present lessons as to how we should act“; siehe auch Glenn, Queen’s L. J. 2008–2009, 427 (435). 99 Laut Glenn gibt es keine festen Kriterien, um eine Rechtstradition zu identifizieren; die möglichen Kriterien hängen von jeder Rechtstradition ab, siehe Glenn, Legal Traditions, S. 361 ff.; diesbezüglich behauptet Glenn: „You should not feel tormented by the need to find a universal answer to the question, ‚what is law?‘ It is much less challenging to instead ask: what do we take as law, normatively and for good reason, in this particular society at this particular time for this particular case“, Glenn, Queen’s L. J. 2008–2009, 427 (438). 100 Marryman bezieht sich auf legal tradition, um eine Gruppe mehrerer Rechtssysteme zu bezeichnen, die bestimmte Eigenschaften („this uniquely shared something“) jenseits ihrer Besonderheiten teilen. Unter Rechtssystem versteht er: „an operating set of legal institutions, procedures and rules“, vgl. Merryman/Pérez-Perdomo, S. 1–2. Die erste Auflage dieses Buchs erschien 1969 und wurde von John Henry Merryman verfasst. Die hier zitierte dritte Auflage erschien 2007 und wurde darüber hinaus von Rogelio Pérez-Perdomo bearbeitet. 101 Ebd., S. 2; es soll berücksichtigt werden, dass sich die Unterschiede zwischen Commonund Civil-Law-Tradition mehr aus der Theorie, die in der Regel in jedem Kontext gelehrt und gelernt wird, und weniger aus den tatsächlichen Tätigkeiten von Rechtsanwälten und Richtern ergibt. Diese Unterschiede sind sogar dann noch von Bedeutung, wenn beispielsweise einige deutsche Richter in der Praxis dem Vorbild des Richters einer kodifizierten Strafrechtsordnung nicht entsprechen oder einige englische Richter konservativer und formalistischer als ihre deutschen Kollegen sind; das Bestehen der theoretischen Differenzen sagt jedenfalls viel über die Entwicklung der verglichenen Rechtsordnungen aus, siehe insofern ebd., 47, 52–53. 96

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

tion“ als „a mode of judicial and juristic thinking, a mode of treating legal problems rather than a fixed body of definite rules“102 und Berman die „Western legal tradition“ als „legal institutions, values, and concepts […] consciously transmitted from generation to generation over centuries“.103 Die Idee von Rechtstradition bildet demnach als ein partieller Ausdruck der Kultur einen konkreteren und beschränkteren Begriff. Er ermöglicht damit eine begrenzte historische Betrachtung des Rechts.104

V. Ausgangspunkte des Vergleichs und Darstellungsweise der Untersuchung Vor diesem theoretischen Hintergrund sind folgende drei Aspekte als methodologische Ausgangspunkte des vorliegenden Vergleichs anzunehmen. Erstens beruht der in der vorliegenden Arbeit durchgeführte Vergleich im Prinzip auf der Betrachtung von konkreten Elementen der analysierten Rechtsordnungen. Allerdings ist auch die Reflexion hinsichtlich genereller Aspekte, die diese Rechtsordnungen charakterisieren, von Bedeutung, um die Ergebnisse zum erforschten Thema zu verstehen. In diesem Sinne bewegt sich die Untersuchung zwischen einer Mikround einer Makrovergleichung. Zweitens wird der Vergleich in zwei Teile gegliedert. Zunächst wird ein gemeinsames Problem der beiden Rechtsordnungen als Bezugspunkt der Untersuchung definiert. Es dient als tertium comparationis. Die Art und Weise, wie jede der verglichenen Rechtsordnungen auf dieses Problem reagiert hat, wird im Anschluss daran bestimmt. Das analysierte Problem entspricht nicht einem konkreten Fall bzw. Sachverhalt, sondern einem normativen Phänomen. Die Darstellung im ersten Teil ist somit formal, d. h., dass sie sich auf Normen, Rechtsbegriffe und Doktrinen konzentriert, die widerspiegeln, wie dieses Problem in dem jeweiligen System thematisiert worden ist. Es wird prinzipiell davon ausgegangen, dass dieses Phänomen in beiden Rechtsordnungen ähnlich geregelt ist. In diesem Kontext sind mögliche funktionale Gegenstücke aufzuzeigen. Zudem werden die Besonderheiten berücksichtigt, die diese Rechtsordnungen unterscheiden. Drittens geht es im zweiten Teil um das Ermitteln der möglichen Gründe der identifizierten formalen Gemeinsamkeiten und Unterschiede durch die Berücksichtigung einiger historischer Prozesse und einiger Erwägungen über das Recht im Allgemeinen sowie über das Strafrecht im Besonderen, die die zu jeder Rechtsordnung gehörenden Auffassungen beeinflusst haben. In diesem Zusammenhang wird der bereits genannte Begriff der Rechtstradition betrachtet. Das untersuchte Phänomen (tertium comparationis) bezieht sich auf die Bestrafung eines Verhaltens, dessen Strafbarkeit zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht 102

Vgl. Pound, The Spirit, S. 1. Vgl. Berman, S. 1 und 11.  104 Vgl. Merryman/Pérez-Perdomo, S. 2: „The legal tradition relates the legal system to the culture of which it is a partial expression. It put the legal system into cultural perspective“. 103

A. Methodologische Aspekte des Vergleichs

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explizit vorgesehen war. Im Common-Law-Sprachraum wird dieses Phänomen unterschiedlich bezeichnet. Die Terminologie dafür ist nicht einheitlich. Manchmal wird der Ausdruck retroactivity angewendet, manchmal jedoch auch der Begriff retrospectivity.105 Angesichts dieser Ungenauigkeit soll klargestellt werden, dass das analysierte Phänomen im Allgemeinen der retroactivity entspricht, wie sie von Juratowitch definiert wird, d. h. als die Anwendung einer neuen Norm auf ein Ereignis der Vergangenheit.106 Der Schwerpunkt dieses Vergleichs beschränkt sich also auf die nachträgliche Begründung der Strafbarkeit bzw. auf die rückwirkende Anwendung von strafbewehrten Verboten und folglich auf die rückwirkende Kriminalisierung einer Handlung.107 Dies führt zur Betrachtung der rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen sowie der Bestrafung einer Tat durch richterliche Entscheidungen ohne gesetzliche Grundlage. Auf diese Weise sollen eine Art Kern des NCSL-Prinzips sowie die Rolle, die dieses Prinzip in den verglichenen Rechtssystemen spielt, seinen Anwendungsbereich und seine Grenzen identifiziert werden. Wie bereits erwähnt, wird zunächst das englische Strafrecht analysiert, d. h. das Recht von England und Wales,108 und danach das deutsche Strafrecht. Für die Durchführung der in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen Analyse wurde zwischen Forschungs- und Darstellungsmethode unterschieden.109 Als Forschungsmethode sind im Allgemeinen drei Phasen des Vergleichs zu erwähnen,110 die die Sammlung von Informationen und ihre Systematisierung betreffen. Die erste Phase ist die Auswahl der verglichenen Objekte, d. h. die Identifizierung eines gemeinsamen Problems bzw. der Situation als tertium comparationis. Die zweite Phase umfasst die Darstellung jeder Rechtsordnung und ihres Kontextes. Es geht hier um die Beschreibung der zu jedem System gehörenden Rechtsinstitute. Dazu werden die Elemente des normativen bzw. rechtlichen Kontextes berücksichtigt, in dem jedes spezifische Rechtsinstitut operiert. Zudem werden die nichtrechtlichen Elemente im engeren Sinne betrachtet, wie historische oder politische Aspekte, die die Entwicklung des bestimmten Rechtsinstituts in jedem Kontext beeinflusst haben. Wie bereits erwähnt, kann die Analyse dieser Elemente die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den rechtlichen Problemen und formalen „Lösungen“ der betrachteten Rechtsordnungen erklären. Die dritte Phase betrifft dann die Analyse der jeweiligen Ergebnisse, um eine generelle Reflexion bzgl. des untersuchten Themas vorzunehmen.111

105

Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 12. Ebd., S. 26. 107 Zu den verschiedenen Arten von Rückwirkung siehe Roxin, § 5 Rn. 10. 108 Das englische Recht erstreckt sich nicht auf das gesamte Vereinigte Königreich oder auf Großbritannien, weil es Nordirland, Schottland, die Kanalinseln und die Isle of Man nicht umfasst, vgl. von Bernstorff, S. 1; auch Darbyshire, S. 25. 109 Vgl. Jescheck, Entwicklung, S. 10 ff. 110 Vgl. Dannemann, in: The Oxford Handbook, S. 407–417. 111 Ebd. 106

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Als Darstellungsmethode, d. h. zur Strukturierung dieses Kapitels, werden allerdings die drei von Kamba vorgeschlagenen Momente verwendet, die zu einer vergleichenden Analyse gehören. Demnach ist das vorliegende Kapitel wie folgt aufgebaut: erstens erfolgt die Beschreibung der zu jeder Rechtsordnung gehörenden relevanten Normen, Begriffe und Rechtsprechung, zweitens die Identifizierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden innerhalb der beschriebenen Normen, Begriffe und Rechtsprechung und drittens die Betrachtung der möglichen Gründe112 dieser Gemeinsamkeiten und Unterschiede aus einer geschichtlichen Perspektive.

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht: zwei Arten der Konkretisierung der gleichen Idee Um durch die vergleichende Analyse des englischen und deutschen Strafrechts jene Faktoren bzw. Elemente zu bestimmen, die es ermöglichen, eine völkerstrafrechtlich gewachsene Konzeption des NCSL-Prinzips zu rekonstruieren, sind zunächst diejenigen Normen, Rechtsbegriffe und Doktrinen anzusprechen, die widerspiegeln, wie das als tertium comparationis dienende Phänomen in jedem der beiden Systeme behandelt worden ist. Wie bereits erwähnt, bildet die rückwirkende Anwendung von strafbewehrten Verboten das ausgewählte tertium comparationis dieses Vergleichs. Auf diese Weise sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Rechtsordnungen identifiziert werden, die zu zwei Arten der Konkretisierung des NCSLPrinzips geführt haben. Durch die Erarbeitung von Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Rückwirkung ist eine Art Kern des NCSL-Prinzips zu ermitteln, während gewisse Elemente, die kontingent sind und dieses Prinzip in jeder Rechtsordnung formen, durch die Feststellung der Unterschiede beider Rechtsordnungen zum Vorschein gebracht werden sollen.

I. Rückwirkung und die principle of legality im englischen Strafrecht Im englischen Strafrecht ist das Phänomen der rückwirkenden Anwendung der strafbewehrten Verbote lange in Verbindung mit dem NCSL-Prinzip bzw. dem principle of legality und dem Grundsatz der rule of law thematisiert worden.113 Erst 1998 hat es zum ersten Mal eine gesetzliche Grundlage erhalten, als 112

Dazu Kamba, Int’l & Comp. L. Q. 1974, 485 (511–512). Vgl. Ashworth, Principles, S. 57; Horder, S. 82–83; siehe auch Dicey, S. 202; zum Zusammenhang zwischen dem Begriff der rule of law und dem englischen Strafrecht siehe Wells/ Quick, S. 74 ff. 113

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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die EMRK durch den Human Rights Act (HRA) von 1998 umgesetzt wurde.114 Die EMRK sieht in ihrem Art. 7 das NCSL-Prinzip im Sinne des Rückwirkungsverbots vor.115 Allerdings sind die Auswirkungen dieser Norm im englischen Kontext bis heute nicht eindeutig. Wie im vorliegenden Kapitel noch erläutert wird, scheint der Umfang dieser Norm sowohl im Rahmen des Rechtsquellensystems als auch hinrichtlich der Rolle der Richter problematisch zu sein, weil das Gesetz nicht die einzige Rechtsquelle des englischen Strafrechts bildet und auch das sog. judicial law making von Bedeutung ist. Dieser Umstand spricht gegen eine strenge Geltung des Rückwirkungsverbots und damit des NCSL-Prinzips. Obwohl sich im englischen Strafrecht mittlerweile eine Tendenz zur Beschränkung der Gerichtsbefugnisse zugunsten der Konsolidierung dieses Verbots zeigt, bleibt die Diskussion über seinen Sinn und damit auch über das NCSL-Prinzip u. a. aufgrund der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorgenommenen Auslegung des Art. 7 EMRK weiterhin ungelöst. Wenn die Rolle der Richter im Rahmen des englischen Strafrechts und die Auslegung des Art. 7 EMRK durch den EGMR zusammen betrachtet werden, kann daraus gefolgert werden, dass die Bestrafung eines Verhaltens, dessen Strafbarkeit zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht vorgesehen war, im englischen Recht verboten ist. Dabei handelt es sich aber um kein fest verwurzeltes Verbot. 1. Überblick über das englische Strafrechtsquellensystem Im englischen Recht können im Allgemeinen fünf Rechtsquellen unterschieden werden, nämlich das Common Law im Sinne von case law,116 legislation bzw. statutes, custom, books of authority und international law.117 Im Hinblick auf das Strafrecht sind insbesondere case law, legislation und die EMRK relevant,118 wobei für die Bestimmung neuer Handlungen, die einer Strafe unterliegen, die ersten zwei hervorzuheben sind. Bis zum 19.  Jahrhundert wurde das gesamte englische Strafrecht vor allem durch richterliche Entscheidungen (Common Law) entwickelt.119 Wichtige Delikte wurden in der Rechtsprechung statt in einem vom Parlament verabschiedeten Gesetz definiert (sog. common law offences). Dazu zählen gravierende Delikte wie murder oder manslaughter, aber auch conspiracy und fraud.120 Hierbei waren die 114

Siehe Ambos, KRITV 2003, 31 (33). Vgl. Jefferson, S. 7: „Article 7 can be used to prevent a court from making a statutory offence have retrospective effect“. 116 Der Ausdruck „Common Law“ kann verschiedene Aspekte bezeichnen: das gemeinsame Recht von England und Wales, das von Richtern geschaffene Recht – case law – oder das Recht der courts of equity, siehe dazu Darbyshire, S. 196. 117 Ebd., S. 21 ff.; für eine andere Klassifikation siehe Sims, S. 3 ff. 118 Vgl. Wilson, S. 13. 119 Vgl. Ebd., S. 14. 120 Vgl. Ormerod, S. 17–18. 115

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Werke von Hale, Hawkings und Blackstone als books of authority besonders einflussreich.121 Die Bedeutung dieses case law beschränkt sich aber nicht nur auf die Definition von strafbewehrten Verboten. Darüber hinaus wurden durch die Rechtsprechung sowohl gewisse defences, z. B. duress, automatism und intoxication,122 als auch einige Aspekte des allgemeinen Teiles des Strafrechts entwickelt, wie etwa criminal attempts, complicity oder recklessness.123 Obwohl mehrere Themen mittlerweile durch statute law geregelt worden sind, haben einige offences, wie z. B. murder, assault und conspiracy to defraud, und einige defences, z. B. duress, intoxication und insanity, immer noch keine gesetzliche Grundlage und werden weiterhin nur durch das Common Law geregelt.124 Aufgrund dieser Situation sind der Umfang und die Grenzen einiger strafbewehrter Verbote nicht eindeutig.125 Deshalb kritisieren einige Autoren die Unsicherheit bzw. Ungewissheit des Systems an sich. Smith behauptet beispielsweise in diesem Sinne: „our case law technique is of its nature conductive to the creation of  a climate of uncertainty“.126 Im englischen Strafrecht soll gerade das Präzedenzfallsystem (doctrine of precedent) für die Kontrollierbarkeit der Befugnisse der Richter bei der Schaffung des Rechts sorgen.127 Die Entscheidungen der unteren Gerichte, also der Crown Courts und Magistrates’ Courts als trial courts, haben keinen Präzedenzcharakter. Nur obere Gerichte, die appellate courts, darunter das Queen’s Bench Divisional Court, das Court of Appeal/Criminal Division und das House of Lords bzw. der Supreme Court,128 können für die Untergerichte bindende Entscheidungen treffen.129 Die appellate courts, mit Ausnahme des House of Lords, sind normalerweise an ihre eigenen Vorentscheidungen gebunden.130 Allerdings besteht die Möglichkeit, Präzedenzfällen nicht zu folgen,131 wenn der gegenwärtige Fall und der Präzedenzfall Unterschiede bzgl. wesentlicher Elemente aufweisen (distinguish) oder wenn ein oberes Gericht beschließt, dass die von einem unteren Gericht getroffene Entscheidung falsch war (overruling).132 Dafür wird eine große

121

Vgl. Ashworth, Principles, S. 8. Vgl. Martin/Storey, S. 7. 123 Vgl. Smith, A. T., LQR 1984, 46 (60). 124 Dazu ausführlich Ashworth, Principles, S. 8. 125 Vgl. Martin/Storey, S. 7. 126 Siehe Smith, A. T., LQR 1984, 46 (70). 127 Siehe Wilson, S. 16 ff. 128 Seit 2009 hat das House of Lords keine richterlichen Funktionen mehr; seine gerichtlichen Tätigkeiten werden jetzt vom Supreme Court erfüllt, Darbyshire, S. 47. 129 Siehe Wilson, S. 16. 130 Ebd. 131 Vgl. Darbyshire, S. 51; zur richterlichen Hierarchie im englischen Recht und zum System von Präzedenzfällen siehe Ward/Akhtar, S. 76 ff., 231 ff.; siehe auch Bailey et al., S. 474 ff.; zu precedent und overruling im House of Lords siehe Spencer, The Cambridge Law Journal 1986, 361. 132 Dazu ausführlich Sims, S. 32. 122

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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argumentative Anstrengung der Gerichte verlangt. Dieses System ermöglicht eine relative Kontrolle über die rückwirkende richterliche Gewalt.133 Seit dem 19. Jahrhundert sind immer mehr Aspekte des englischen Strafrechts schrittweise durch die Gesetzgebung geregelt worden.134 Es wurde z. B. versucht, durch den Offences against the Person Act (1861) und die Theft Acts (1968 und 1978) dem Strafrecht eine gesetzliche Grundlage zu geben.135 Einige Elemente, die einst durch das Common Law entwickelt worden waren, wurden später gesetzgeberisch geregelt, wie z. B. die defence of provocation in Bezug auf murder (Homicide Act 1957).136 Jefferson zufolge sind mittlerweile die Mehrheit der Aspekte des Strafrechts im statute law geregelt.137 Allerdings bestehen noch tausende strafbewehrte Verbote, die überall verstreut und nicht systematisiert sind.138 Sogar ministers oder regionale Autoritäten haben manchmal die Befugnis zur Schaffung neuer strafbewehrter Verbote durch statutes.139 Ferner sind die vom Gesetzgeber benutzten Termini oft mehrdeutig, und die Gesetzesnormen definieren einige Kategorien überhaupt nicht.140 Deswegen spielen Richter weiterhin eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des englischen Strafrechts.141 Aus diesem Grund darf trotz des allmählich steigenden Einflusses des Parlaments auf die Bestimmung des Strafrechts die Stellung der Gerichte nicht unterschätzt werden.142 Statute und Common Law stehen miteinander in Wechselwirkung: Wenngleich mehrere common law offences in statutes eingegliedert worden sind, werden gewisse Tatbestandsmerkmale der festgeschriebenen common law offences weiterhin nicht durch statute definiert. Deshalb muss noch immer auf die Rechtsprechung zurückgegriffen werden, um ihre Bedeutung festzustellen.143 Außerdem scheint die Bindung der Gerichte an die Gesetzgebung relativ flexibel zu sein. Gemäß der traditionellen Auslegungstheorie ist zuerst dem natürlichen und dem üblichen Wortsinn zu folgen (sog. literal rule).144 Wenn der Wortlaut einer Norm unklar ist, dürfen sich die Richter von der grammatikalischen Auslegung lösen und auf den expliziten bzw. impliziten Willen des Gesetzgebers durch eine teleologische Auslegung zurückgreifen (sog. mischief rule).145 Darüber hinaus ist 133

Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 125. Vgl. Dine et al., S. 26. 135 Vgl. Wilson, S. 15; siehe auch Ashworth, Principles, S. 8. 136 Vgl. Martin/Storey, S. 8. 137 Vgl. Jefferson, S. 21. 138 Vgl. Ormerod, S. 18–20. 139 Über 70 bis 80 Acts of Parliament werden jedes Jahr erlassen; darüber hinaus gibt es jedes Jahr eine beträchtliche Menge delegierter Gesetzgebung, darunter 3000 Rechtsverordnungen von Ministerien der Regierung, siehe insofern Martin/Storey, S. 8. 140 Vgl. Dine et al., S. 20–27. 141 Siehe Ashworth, Principles, S. 7. 142 Siehe Dine et al., S. 27. 143 Vgl. Wilson, S. 20. 144 Vgl. Darbyshire, S. 34. 145 Dazu ausführlich Kavanagh, OJLS 2006, 179 (181 ff.). 134

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

es in Fällen, in denen eine grammatikalische Auslegung zu einem absurden oder widersprüchlichen Ergebnis führen würde, möglich, den Wortlaut des Gesetzes außer Acht zu lassen und stattdessen die Norm gemäß dem normativen Kontext in einer systematischen Weise auszulegen (sog. golden rule).146 Somit lässt die sog. statutory interpretation den Richtern noch einen weiten Spielraum.147 2. Judicial law making im englischen Strafrecht Das während des 20.  Jahrhunderts im englischen Strafrecht erfolgte judicial law making kann anhand von drei Konstellationen veranschaulicht werden: die Schaffung neuer offences, die erweiternde Auslegung der bereits existierenden Delikte und die Aufhebung von defences. Zwar spiegelen diese Konstellationen nicht unbedingt die übliche Art und Weise wider, in der englische Richter bzgl. des Strafrechts entscheiden, es wird dadurch aber deutlich, dass die Erweiterung des Strafrechts durch richterliche Entscheidungen tatsächlich möglich ist.148 Neben diesen drei Konstellationen werden noch weitere Fälle in der Literatur diskutiert, wie z. B. die richterliche Befugnis zur Schaffung von neuen defences.149 Diese wie auch eine detaillierte Darstellung des case law in Bezug auf die richterliche Entwicklung des Strafrechts sind nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Es geht hier vielmehr um die Veranschaulichung der drei genannten Konstellationen an einigen konkreten Fällen, die die englische Diskussion über das Rückwirkungsverbot im Zusammenhang mit dem judicial law making verdeutlichen. Die Erweiterung des Strafrechts durch die Bestrafung von Handlungen, deren Strafbarkeit im Voraus nicht vorgesehen war, wird zumindest seit 1933 im Lichte des principle of legality diskutiert. Ein Beispiel hierfür ist der Fall R. v. Manley, in dem eine Frau aufgrund einer falschen Aussage gegenüber der Polizei wegen public mischief bestraft wurde.150 Williams zufolge liegt das Problem dieses Falls gerade darin, dass die Richter ohne das Vorliegen eines Präzedenzfalles eine neue und zu vage offence schufen.151 In diesem Sinne kritisiert auch Stallybrass die Entscheidung. Demnach seien wichtige Gewährleistungen für die Bürger von England nicht gültig, nämlich das Rückwirkungs- und Analogieverbot.152 Diese Debatte wurde 1962 im Zusammenhang mit dem Fall Shaw v. DPP erneut aufgegriffen.153 146

Dazu ausführlich Bailey et al., S. 412 ff. Zur statutory interpretation im englischen Strafrecht siehe Ashworth, LQR 1991, 419. 148 Vgl. Smith, A. T., LQR 1984, 46 (50). 149 Dazu ausführlich Watzek, S. 23. 150 „Elizabeth Manley made false allegations of robbery to the police, thus causing them to make unnecessary investigations. She was convicted of the misdemeanor of unlawfully effecting a public mischief, and her conviction was affirmed on appeal“, R. v. Manley, 1933 1 K. B. 529, zitiert in: Williams, Glanwille, S. 596. 151 Williams, Glanwille, S. 596. 152 Siehe Stallybrass, LQR 1933, 183 (183). 153 Siehe dazu Shaw v. DPP, 1962, A. C. 220. 147

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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Wegen der von den Richtern angeführten Argu­mente verdient der Fall an dieser Stelle besondere Aufmerksamkeit. Im Zeitraum vom 1.10.1959 bis zum 23.07.1960 wurde eine Zeitschrift mit Namen, Adressen, Bildern und Telefonnummern von Prostituierten herausgegeben.154 Gegen den Herausgeber wurden drei Anklagen erhoben.155 Das House of Lords bestätigte die Verurteilung der ersten und der zweiten Instanz. In diesem Rahmen diskutierten die Lords über die Auslegung einiger statutes sowie über die Strafbarkeit wegen des Vorwurfs der conspiracy to corrupt public morals. Die Frage bestand darin, „ob ein solcher Straftatbestand überhaupt im Common Law existiere oder ob nicht vielmehr seine Anwendung eine rückwirkende Strafbegründung darstelle“.156 Einige Lords meinten, dass conspiracy to corrupt public morals sich im Anwendungsbereich von public mischief befände,157 aber auch, dass Richter die Rolle von „Sittenwächtern“ hätten und mit ihr die Befugnis, solche „unmoralischen“ Handlungen zu bestrafen.158 Dies war ein zentrales Argument in der Begründung dieser Entscheidung. Lord Viscount behauptete in diesem Sinne, dass es Aufgabe der Gerichte sei, nicht nur die Sicherheit und Ordnung zu garantieren, sondern auch das moralische Wohl des Staates zu gewährleisten, insbesondere wenn keine statutes in Bezug auf den bestimmten Sachverhalt vorlägen.159 Die im Fall Shaw v. DPP getroffene Entscheidung ist wegen der rückwirkenden Schaffung des Straftatbestandes der conspiracy to corrupt public morals heftig kritisiert worden.160 Ashworth hebt beispielsweise hervor, dass in diesem Fall weder der rationale Charakter noch die Freiheit der Bürger beachtet worden seien.161 Es sei nicht möglich, rechtswidrige Handlungen zu unterlassen, wenn Richter die Strafbarkeit eines Verhaltens ohne Vorwarnung festlegen könnten, wie es im Fall Shaw v. DPP geschehen sei.162 Darüber hinaus argumentiert Ashworth, dass der soziale Vorwurf bzgl. der bestraften Handlung nicht breit angenommen oder offensichtlich gewesen sei und dass Richter nicht demokratisch legitimiert seien und deshalb in umstrittenen Fällen wie diesem nicht das Recht neu gestalten dürften. Deswegen solle die Anpassung des Rechts in diesen Situationen dem Parlament überlassen werden.163 Die Richter in diesem Fall waren davon überzeugt, dass das

154

Ebd. „(1) Conspiracy to corrupt public morals; (2) Living on the earnings of prostitution contrary to section 30 of the Sexual Offences Act, 1956; and (3) Publishing an obscene publication contrary to section 2 of the Obscene Publications Act, 1959“, ebd. 156 Siehe Ambos, KRITV 2003, 31 (33). 157 Dazu z. B. Lord Tucker in Shaw v. DPP, 1962, A. C. 220. 158 Siehe Ambos, KRITV 2003, 31 (33). 159 Dagegen war nur Lord Reid. Siehe Shaw v. DPP, 1962, A. C. 220. 160 Der Fall Shaw v. DPP wird oft in Handbüchern als Beispiel der richterlichen (rückwirkenden) Schaffung von offences dargestellt, siehe z. B. Simester et al., S. 24. 161 Ashworth, Principles, S. 58–59. 162 Ebd. 163 Ebd. 155

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

analysierte Verhalten grundsätzlich unmoralisch und asozial sei. Ashworth betont dies als den wichtigsten Aspekt hinter der Entscheidung: „What happened in Shaw was that a majority of the House of Lords felt a strong pull towards criminalization because they were convinced of the immoral and anti-social nature of the conduct  – thus regarding their particular conceptions of social defense as more powerful than the liberty of citizens to plan their live under the rule of law“.164

Die Geltung von Shaw v. DPP als Präzedenzfall wurde später auch in anderen Fällen diskutiert.165 Hier ist der ähnlich gelagerte Fall Knuller v. DPP zu nennen.166 Wie Ambos erläutert, befanden sich die Lords in diesem Fall im Dilemma, „entweder die Bindungswirkung der Entscheidung in Shaw anzuerkennen und diese damit in der Sache nachträglich zu legitimieren, oder sie aufzuheben und sich damit erneut eine rechtssetzende Befugnis anzumaßen, anstatt mögliche Rechtsänderung dem Parlament zu überlassen“.167 Um dieses Problem zu lösen, wurde die Entscheidung Shaw v. DPP uminterpretiert. In Knuller v. DPP behaupteten die Lords, dass es im Fall Shaw v. DPP nicht um die Schaffung einer neuen offence ginge, sondern um die Klarheit und die Bestimmtheit einer bereits existierenden common law offence, nämlich der conspiracy to corrupt public morals, die durch Richterrecht konkretisiert werden musste.168 Die Lords betonten also in Knuller v. DPP, dass die rechtliche Befugnis zur Schaffung neuer offences jedenfalls nicht mehr zulässig war.169 Derzeit liegen auch andere richterliche Entscheidungen vor, in denen die Befugnis der Gerichte zur Schaffung neuer strafbewehrter Verbote verneint wird.170 Es scheint also so, als ob die Richter die Kompetenz zur Schaffung neuer strafbewehrter Verbote nicht mehr für sich beanspruchen.171 Art. 7 EMRK war ein wichtiger Ansatzpunkt für diese Entwicklung. Die englischen Richter haben durch die Auslegung dieser Norm anerkannt, dass sie keine Zuständigkeit mehr zur Schaffung bzw. zur Aufhebung von offences haben. Dies geschah beispielsweise in der Entscheidung Goldstein und Rimmington. Hier wurde erneut über eine common law offence diskutiert. Die Angeklagten wurden zunächst wegen causing a public nuisance verurteilt.172 Sie argumentierten dann vor dem House of Lords, dass diese 164

Ebd. Siehe Knuller, 1973, A. C. 435 und Hunter, 1974, Q. B. 95; diese Fälle werden von Smith A. T. zitiert, siehe Smith, A. T., LQR 1984, 46 (50). 166 In diesem Fall musste das House of Lords entscheiden, „ob ein Magazin mit Anzeigen von Männern zur Vermittlung homosexueller Kontakte ebenfalls als ‚conspiracy to corrupt public morals‘ und als Verletzung der ‚public decency‘ anzusehen sei“, Ambos, KRITV 2003, 31 (34). 167 Ebd. 168 Vgl. Knuller, 1973, A. C. 435. 169 Ebd.; vgl. auch Ambos, KRITV 2003, 31 (34). 170 Siehe Withers, 1975, A. C. 842 – zitiert in: Smith, A. T., LQR 1984, 46 (55) – und Jones, 2006, UKHL 16; siehe dazu Jefferson, S. 23–26. 171 Vgl. Ashworth, Principles, S. 59. 172 In dieser Entscheidung wurden zwei Fälle gelöst: Rimmington schickte 538 Pakete per Post zu verschiedenen Personen, die rassistische und beleidigende Sachen enthielten. Gold 165

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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offence zu unbestimmt sei und sie deshalb nicht hatten wissen können, dass dieses Verhalten verboten bzw. strafbar war.173 Das House of Lords stellte eine Reihe von Definitionen mit Blick auf den Straftatbestand der causing a public nuisance auf, um seinen Sinn zu bestimmen, und entschied dann, dass die betreffenden Handlungen jedenfalls nicht in den Anwendungsbereich dieser offence fielen.174 In der Begründung der Entscheidung bezogen sich die Lords auf ein Urteil des Court of Appeal (Criminal Division), in dem die Rechtsprechung des EGMR analysiert wurde, und behaupteten, dass Art.  7 EMRK die rückwirkende Schaffung von offences sowohl durch die Gesetzgebung als auch durch das Common Law verbiete. Es wurde dann festgelegt, dass die rule of law die Beachtung des Prinzips der legal certainty verlange, wonach das Recht die strafbaren Handlungen im Voraus und eindeutig definieren müsse.175 Im englischen Strafrecht nehmen die Richter eine weniger dynamische Rolle bzgl. der Auslegung von statutes für sich in Anspruch, als dies bei der Entwicklung des Common Law der Fall ist.176 Im Prinzip muss das statute law im Rahmen des Strafrechts streng ausgelegt werden. D. h., dass Richter die Wirkungen einer Strafnorm minimieren sollen (principle of strict construction).177 Trotzdem ist es auch möglich, eine Norm über ihren Wortlaut hinaus zu erweitern, um ihren Zweck zu erreichen. Das war genau der Fall in Smith v. Hughes.178 Gemäß dem Street Offences Act 1959 section. 1 war es Prostituierten verboten, auf der Straße um Kunden zu werben: „It shall be an offence for a common prostitute to loiter or solicit in a street or public place for the purpose of prostitution“.179 In Smith v. Hughes wurden einige Frauen verurteilt, weil sie von Balkonen und Fenstern aus ihre Dienste angeboten hatten. Dem Gericht zufolge mussten sich die Angeklagten nicht unbedingt auf der Straße befinden, um dieses strafbewehrte Verbot zu verwirklichen, solange das Anbieten ihrer Dienstleistungen auf der Straße wahrgenommen werden konnte.180 Diese Ansicht entspricht im Prinzip nicht dem stein schickte hingegen als Scherz einen Brief per Post, der ein wenig Salz enthielt. Im Postamt wurde das Salz entdeckt. Die Postbeamten dachten, dass es sich um Anthrax handelte, siehe Goldstein and Rimmington, 2005, UKHL 63, Rn. 2–4. 173 Ebd. 174 Die Lords zitierten hierfür books of Authority, Handbücher und Präzedenzfälle, z. B. das Buch von Hawkins – „A Treatise of the Pleas of the Crown“ (1716): „Sect. 1. As to the first point it seems, That a Common Nuisance may be defined to be an Offence against the Publick, either by doing a Thing which tends to the Annoyance of all the King’s Subjects, or by neglect­ ing to do a Thing which the common Good requires“, ebd., Rn. 8. 175 Ebd., Rn. 33; wie unten erklärt wird, wurde das Verbot des ex post facto law durch einige books of authority im englischen Recht bereits anerkannt, z. B. im Werk von Blackstone; allerdings bezog sich die Ablehnung der Rückwirkung auf das geschriebene Recht, nicht auf das Richterrecht. 176 Vgl. Wilson, S. 21. 177 Ebd. 178 Siehe Smith v. Hughes, 1960, 2 All ER 859. 179 Siehe dazu Russell, S. 722. 180 Vgl. Murphy (Hrsg.), S. 314.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Wortlaut der Norm, da sich die verurteilten Frauen nicht auf der Straße befanden. Das Ziel dieser Norm war es aber, nicht nur die Anwesenheit von Prostituierten auf der Straße zu unterbinden, sondern auch die Sichtbarkeit der Prostitution zu verringern, weil „the visible and obvious presence of large numbers of prostitutes in the streets in some parts of London and of a few large provincial towns has been a source of grave embarrassment in the last few years“.181 In diesem Fall wurde deshalb eine teleologisch erweiternde Auslegung der Norm vorgenommen, die auf moralischen Erwägungen beruhte.182 Dies hatte allerdings keine beachtenswerte Diskussion zur Folge, weil es sich um einen im englischen Recht akzeptierten Ansatz zur statutory interpretation handelte (sog. purposive interpretation). In diesem Sinne sagte Williams 1961, dass der Ausdruck „in a street“ weit und „vernünftig“ ausgelegt werden konnte, ohne gegen das Analogieverbot zu verstoßen.183 Die Möglichkeit der Schaffung neuer strafbewehrter Verbote durch die richterliche Gewalt hat sich tatsächlich verringert. Es wird generell anerkannt, dass Richter heutzutage dafür nicht mehr zuständig sind.184 Allerdings haben Gerichte weiterhin die Befugnis zur Anpassung des Rechts an neue gesellschaftliche Bedingungen, auch wenn die Grenzen zwischen Schaffung und Anpassung oft verschwimmen.185 Dies geschah etwa im Fall R v. R, in dem die marital exemption als defence of rape durch das House of Lords aufgehoben wurde.186 Das Leicester Crown Court verurteilte einen Mann, der seine Ehefrau im Haus ihrer Eltern vergewaltigte. Die Frau hatte sich scheiden lassen wollen und deshalb ihren Ehemann einige Tage vor der Tat verlassen.187 Auf Seiten der Verteidigung wurde argumentiert, dass ein Mann nicht wegen Vergewaltigung seiner eigenen Frau für schuldig erklärt werden könne, weil die Frau schon eine generelle Zustimmung zum Geschlechtsverkehr gegeben habe (sog. marital exemption). Sowohl das Court of Appeal als auch das House of Lords lehnten jedoch dieses Argument ab und bestätigten die ursprüngliche Verurteilung.188 Die Rechtsgrundlage der marital exemption stellte der Kommentar von Hale über rape in seinem Werk „History of the Pleas of the Crown“ (1736) dar.189 Das House of Lords musste das folgende rechtliche Problem lösen: Die nicht geschriebene Norm über die marital exemption war zwar unter den sozialen Bedingungen der Begehungszeit schon anachronistisch, aber diese Norm war durch die damals existierenden geschriebenen Regelungen über rape nicht explizit modifiziert 181

Vgl. Williams, J. E., Mod. L. Rev. 1960, 173 (173). Vgl. Wilson, S. 21. 183 Vgl. Williams, Glanwille, S.  589; ein anderes Beispiel ist R. v. Elbekkay; dazu Ambos, KRITV 2003, 31 (37). 184 Vgl. Wilson, S. 15. 185 Vgl. Jefferson, S. 25. 186 Siehe R v. R, 1991, 4 All ER 481; siehe dazu Giles, CLR 1992, 407. 187 Siehe R v. R, 1991, 4 All ER 481. 188 Ebd. 189 Ebd.; dazu auch Wilson, S. 14. 182

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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worden.190 Der Sexual Offences (Amendment) Act 1976 section 1 definiert rape durch zwei Merkmale: den rechtswidrigen (unlawful) Geschlechtsverkehr mit einer Frau, die in den Geschlechtsverkehr nicht eingewilligt hat.191 Laut der bis dahin verbreiteten traditionellen Auslegung bedeutete unlawful in diesem Kontext outside marriage. Somit war der Anwendungsbereich des Straftatbestands der rape allein auf den ohne Einwilligung erfolgten Geschlechtsverkehr beschränkt, der außerhalb der Ehe vollzogen wurde. Dem Act zufolge wäre also die defence der marital exemption noch gültig.192 Die von Lord Keith dargestellte Begründung der Entscheidung bestand daher aus zwei zentralen Erwägungen: Zum einen solle laut Lord Keith das Common Law in der Lage sein, sich im Lichte der sich entwickelnden sozialen und kulturellen Bedingungen zu entwickeln.193 Zum anderen entspreche die übliche Bedeutung des im Sexual Offences Act 1976 enthaltenen Ausdrucks „unlawful“ nicht dem Verständnis vom Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe. Insofern behauptete er: „Certainly in modern times sexual intercourse outside marriage would not ordinarily be described as unlawful“.194 Deshalb sei laut Lord Keith die defence der marital exemption im Sexual Offences Act 1976 nicht anerkannt. Diese Regelung sei somit kein Hindernis für die Anpassung des Common Law durch Richterrecht und insofern auch keines für die Ablehnung der marital exemption.195 Anhand dieses Falls wird das Dilemma deutlich, das bei der Reform des Rechts auftritt: Die Anpassung an die gegenwärtigen Bedingungen entweder durch richterliche, rückwirkende Entscheidungen oder durch die Veränderung der Gesetzgebung. Hier wurde die erste Möglichkeit präferiert. Die Frage nach der Legitimation dieser Alternative bleibt jedoch bestehen. Insofern behauptet beispielsweise Giles, dass der Ansatz von Lord Keith sehr ähnlich zu dem im Fall Shaw angenommenen Kriterium sei, d. h. zur rückwirkenden Schaffung von strafbewehrten Verboten.196 In diesem Zusammenhang ist hier auch auf Wilson hinzuweisen, für den dieser Fall die Tendenz der englischen Richter zur Ausdehnung des Strafrechts aufgrund moralischer Erwägungen zeigt.197 Dieser Meinung stimmt auch Baker zu. Er behauptet in Bezug auf R v. R: „Once again, principle has been 190

Dazu Laird, Mod. L. Rev. 1992, 386 (387). Section 1 sexual offences Act 1976: „For the purposes of section 1 of the Sexual Offences Meaning of Act 1956 (which relates to rape) a man commits rape if (a) he has unlawful sexual intercourse with a woman who at the time of the intercourse does not consent to it; and (b) at that time he knows that she does not consent to the intercourse or he is reckless as to whether she consents to it; and references to rape in other enactments (including the following provi­ sions of this Act) shall be construed accordingly“. 192 Dazu Laird, Mod. L. Rev. 1992, 386 (387). 193 Siehe R v. R, 1991, 4 All ER 481. 194 Ebd. 195 Ebd.; siehe dazu auch Laird, Mod. L. Rev. 1992, 386 (388). 196 Vgl. Giles, CLR 1992, 407  (409); Baker hierzu: „Until the decision in R. v. R., it was thought that a man could not be convicted of raping his wife“, Baker, Dennis, S. 89. 197 Vgl. Wilson, S. 18. 191

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

abandoned because the wrong involved was particularly vile. Rape is a crime that stirs public sentiment“.198 3. Übernahme der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Human Rights Act 1998 Die EMRK wurde 1950 ausgearbeitet und vom Vereinigten Königreich unterzeichnet.199 Sie trat 1953 in Kraft.200 Art. 7 EMRK trägt den Titel „No punishment without law“. Gemäß Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EMRK darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war.201 Diese Norm enthält somit drei Gewährleistungen: die Rechtsbindung der Rechtsprechung, das Rückwirkungsverbot und den Bestimmtheitsgrundsatz. Mithilfe der ersten Gewährleistung sollen willkürliche Bestrafungen vermieden werden.202 In diesem Kontext umfasst „law“ sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht.203 Die zweite Gewährleistung, das Rückwirkungsverbot, ergibt sich direkt aus dem Wortlaut des Art. 7 EMRK.204 Es soll den rückwirkenden Erlass von Strafnormen durch den Gesetzgeber und die rückwirkende Anwendung von strafbewehrten Verboten bzw. offences verhindern.205 Nach dem Bestimmtheitsgrundsatz muss die Strafbarkeit einer Handlung zugänglich und vorhersehbar sein.206 Die EMRK wurde erst ca. fünfzig Jahre nach ihrer Unterzeichnung durch den HRA, der am 01.10.2000 in Kraft trat, ins englische Recht übernommen. Der HRA integrierte die in der Konvention vorgesehenen Rechte (convention rights) in das englische Recht,207 wodurch sie Bestandteil des innerstaatlichen Rechts wurden.208 Dementsprechend kann die Einhaltung dieser Rechte erst seit dem Jahr 2000 in nationalen Prozessen verlangt werden.209 Sie sind nunmehr aber von den Gerichten für die Auslegung und Entwicklung des nationalen Rechts zu berücksichtigen.210 Das bedeutet auch, dass erst seit dem Erlass des HRA in strafrecht 198

Vgl. Baker, Dennis, S. 90. Vgl. Darbyshire, S. 99; dazu ausführlich Ward/Akhtar, S. 145. 200 Vgl. Grabenwarter/Pabel, § 1 Rn. 3. 201 Siehe dazu Meyer-Ladewig et al., in: Europäische Menschenrechtskonvention, Artikel 7 Rn. 5 ff. 202 Vgl. Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 150 ff. 203 Dazu Peters/Altwicker, S. 178; Meyer-Ladewig et al., in: Europäische Menschenrechtskonvention, Artikel 7 Rn 5. 204 Siehe Grabenwarter/Pabel, § 24 Rn. 151. 205 Vgl. Peters/Altwicker, S. 180. 206 Dazu White/Ovey, S.  296 ff.; Meyer-Ladewig et  al., in: Europäische Menschenrechts­ konvention, Artikel 7 Rn. 15 ff.; Clayton et al., S. 890 ff. 207 Vgl. Wilson, S. 25 ff. 208 Vgl. Ambos, KRITV 2003, 31 (31). 209 Dazu ausführlich Darbyshire, S. 100. 210 Vgl. Wilson, S. 26. 199

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lichen Prozessen von der Konvention ausgehende Argumente vorgetragen werden können.211 Trotzdem hat die EMRK im englischen Recht keine besondere Stellung im Sinne einer verfassungsrechtlichen Norm.212 Der HRA weist der EMRK nicht den Charakter einer höheren Norm zu. Deshalb ist der Widerspruch mit den convention rights kein Grund, um die Geltung eines Gesetzes (statute) abzulehnen.213 Stattdessen wurden durch den HRA einige Vorschriften erlassen, mithilfe derer versucht wurde, das nationale Recht mit der EMRK zu harmonisieren, vor allem durch die konventionskonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts. Der HRA schreibt in section 3 vor,214 dass die Gesetzgebung (primary legislation and subordinate legislation) in einer mit der Konvention kompatiblen Weise ausgelegt und angewendet werden muss, sofern dies möglich ist.215 Richter müssen damit gemäß section 2 die convention rights und die Rechtsprechung des EGMR berücksichtigen, obwohl diese Entscheidungen nicht als Präzedenzfälle im englischen Recht wirken.216 Wenn ein Gericht feststellt, dass eine statutory norm nicht gemäß der Konvention ausgelegt werden kann, ist es laut section 4 möglich, die Inkompatibilität zu erklären. Allerdings sind für diese Erklärung nur die höheren Gerichte zuständig, d. h. High Court, Court of Appeal, House of Lords bzw. Supreme Court, Privy Council und Martial-Appeal Court. Demzufolge muss ein unteres Gericht in diesen Fällen die in Frage gestellte Norm anwenden.217 Nur wenn ein bestimmter Fall vor einem der bereits genannten Gerichte verhandelt wird, kann die Erklärung der Inkompatibilität erfolgen. Die Erklärung hebt jedoch nicht die Geltung der Norm auf (section 4.6.). Die Entscheidung über eine mögliche Änderung (amendment) des betroffenen Gesetzes ist Aufgabe des Parlaments (sections 9 und 19, Schedule 2).218 Die Eingliederung der EMRK durch den HRA in das englische Recht hatte allerdings nicht eine Beschränkung des Entscheidungsspielraums der Richter zur Folge. Art. 7 EMRK hat nicht zur strengen Unterwerfung der Gerichte unter das Gesetz oder zur Ablehnung der common law offences geführt. Vielmehr hat der HRA im englischen Recht zu einer heftigen Debatte über die Grenzen der richterlichen Funktion und über das Verhältnis zwischen dem Gesetzgeber und der richterlichen Gewalt ausgelöst. Ewing behauptet beispielswiese in diesem Zusammen 211

Vgl. Simester et al., S. 34. Vgl. Jefferson, S. 13–14. 213 Vgl. Simester et al., S. 34. 214 Verfügbar unter: http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1998/42/contents (zuletzt aufgerufen am 14.11.2016). 215 In den Worten des HRA: „So far as it is possible“; dazu ausführlich Samuels, Stat  LR 2008, 130. 216 Dazu ausführlich Jefferson, S. 13–14; auch Wilson, S. 26. 217 Vgl. Darbyshire, S. 102. 218 „The declaration does not render the relevant statute invalid but does require Parliament to consider the need for reforming it“, McAlhone/Huxley-Binns, S. 6; zur Auslegung der Gesetzgebung gemäß EMRK bzgl. des Strafrechts siehe Simester et al., S. 36 ff.; zur Declaration of incompatibility siehe auch Clayton et al., S. 209 ff. 212

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

hang, dass der HRA eine Übertragung von Kompetenzen vom Gesetzgeber auf die Richter darstelle.219 Bereits während der Ausarbeitung des HRA und sogar zuvor wurden diesbezüglich gewisse Befürchtungen geäußert. Einige Politiker und höhere Beamte argumentierten, dass durch den HRA den Gerichten ein sehr weiter Entscheidungsspielraum im Hinblick auf die zur Kompetenz des Gesetzgebers gehörenden Themen gegeben werde und damit das parlamentarische Souveränitätsprinzip, dem zufolge es keine zur Aufhebung von Entscheidungen des Parlaments befugten Institution gibt,220 in Frage gestellt werde.221 Dieses Verständnis der parlamentarischen Souveränität spiegelt sich in der traditionellen Auslegungstheorie (statutory interpretation) wider. Wie bereits erklärt wurde, sollen die Normen gemäß der Intention des Parlaments ausgelegt werden. Zu diesem Zweck ist vor allem vom natürlichen und üblichen Wortsinn auszugehen. Der Richter kann sich aber aufgrund einer teleologischen Auslegung vom Wortlaut der Normen lösen. Mit dem HRA bekommt dieses Verständnis der statutory interpretation jedoch eine neue Dimension. Die Intention des Parlaments ist nicht mehr das einzige Kriterium für die Gesetzesauslegung. Die konventionskonforme Interpretation stellt – so far as it is possible – einen zusätzlichen, gewichtigen Grund dar, um den Wortlaut des Gesetzes, wenn nötig, zu berichtigen.222 Hierbei dürfen Richter aber kein ganzes Gesetz (statute) ändern; ihnen sind diesbezüglich also immer noch Grenzen gesetzt.223 In diesem Kontext wurde weiterhin gesagt, dass die konventionskonforme Auslegung wegen der Unbestimmtheit der in der EMRK enthaltenen Normen auch die Schaffung des Rechts durch die richterliche Gewalt impliziere, nicht aber im gleichen Umfang wie die Rechtserzeugung durch den Gesetzgeber.224 Die Rolle der Richter ist aufgrund des HRA also dynamischer geworden.225 Wenngleich auch das sog. judicial law making kein neues Phänomen in einem Common-Law-System ist, wurde die diesbezügliche Diskussion mit dem Erlass des HRA dennoch in einen relativ konservativen Bereich gebracht und vertieft, nämlich den der statutory interpretation.226

219

Siehe Ewing, Mod. L. Rev. 1999, 79 (79). Dazu ausführlich Dicey, S. 39; siehe auch Austin, S. 21, 165 ff.; zu einer kritischen Analyse des parlamentarischen Souveränitätsprinzips siehe Lakin, OJLS 2008, 709; dazu auch Tucker, OJLS 2011, 61. 221 Beispielsweise die Einwände von Lord Chancellor Mackay; siehe Darbyshire, S. 100–101; zur Debatte zwischen den politischen Parteien und der Rolle der Labour Party während des Erlasses des HRA siehe Clayton et al., S. 43 ff. 222 Vgl. Kavanagh, OJLS 2006, 179 (197–198). 223 Ebd., S. 200. 224 Dazu ausführlich Kavanagh, OJLS 2004, 259 (266). 225 Dazu ausführlich Arden, The Cambridge Law Journal 2008, 487. 226 Zu den Auswirkungen des HRA siehe Bailey et al., S. 595; zu den Auswirkungen des HRA bezüglich der doctrine of precedent siehe Ward/Akhtar, S. 79–80. 220

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

61

4. Auslegung des Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 1995 traf der EGMR in Bezug auf das Vereinigte Königreich zwei Entscheidungen, in denen Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EMRK ausgelegt wurde.227 Nach den Ausführungen der Beschwerdeführer veränderten die englischen Gerichte das Recht durch die Aufhebung der marital exemption in einer rückwirkenden Weise. Um festzustellen, ob Art. 7 EMRK in diesen Fällen verletzt wurde, analysierte der Gerichtshof zuerst den Straftatbestand des rape im englischen Strafrecht und in diesem Zusammenhang die Gültigkeit dieser Ausnahme. Dabei kam der EGMR zu drei Schlussfolgerungen: Erstens, die Ausnahme war tatsächlich in einigen Präzedenzfällen anerkannt worden; zweitens, zum Zeitpunkt der nationalen relevanten Entscheidungen lag zwar keine Einheitlichkeit der Rechtsprechung diesbezüglich vor; drittens, aber eine Tendenz zur Bestrafung des sexuellen Missbrauchs innerhalb der Ehe bestand.228 Danach befasste sich der Gerichtshof in seiner Argumentation mit der Bedeutung von Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EMRK. Dazu präzisierte der EGMR, dass der Begriff „law“ sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht erfasse und im Sinne von Art. 7 EMRK zwei qualitative Voraussetzungen habe, nämlich accessibility und forseeability (Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit).229 Dem EGMR zufolge ist eine gewisse richterliche Auslegungskomponente in der Rechtsfindung unvermeidbar. Die Klärung zweifelhafter rechtlicher Aspekte und die Anpassung der Rechtsordnung an neue Umstände seien stets notwendig. In diesem Sinne könne Art. 7 EMRK nicht als ein Verbot der graduellen Fortentwicklung des Strafrechts durch Gerichte (case by case)  verstanden werden, solange zwei Voraussetzungen erfüllt werden: Zum einen dürfe eine solche Entwicklung den Kern des betrachteten strafbewehrten Verbots nicht ändern. Zum anderen müsse die mögliche Richtung der Änderung des Rechts vernünftigerweise vorhersehbar sein.230 Es kommt also entscheidend darauf an, ob die Strafbarkeit der konkreten Handlung im Lichte der bereits vorliegenden Normen oder ggf. der vorliegenden Rechtsprechung überraschend ist oder nicht.

227 Eine Entscheidung bezog sich auf den Fall R v. R (Juli 1990): EGMR, C. R. v. The United Kingdom, 1995; die zweite bezog sich auf einen Fall, in dem das vom House of Lords in R v. R angewendete Kriterium bzgl. marital exemption und rape angewendet wurde, EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995. 228 Siehe EGMR, C. R. v. The United Kingdom, 1995, Para. 19 ff. und EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para. 22 ff. 229 Siehe EGMR, C. R. v. The United Kingdom, 1995, Para. 33 und EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para. 35. 230 Siehe EGMR, C. R. v. The United Kingdom, 1995, Para. 34 und EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para. 35.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Der EGMR kam zum Ergebnis, dass sich die rechtliche Behandlung der Vergewaltigung innerhalb der Ehe in einem bereits laufenden progressiven Veränderungsprozess befand. Deshalb sei es vorhersehbar gewesen, dass die marital exemption nicht mehr anerkannt werde, und darum sei auch die Bestrafung der Taten keine Überraschung gewesen.231 Darüber hinaus untermauerte der EGMR sein Argument mit der Betonung der Schwere der Tat und behauptete, dass die Bestrafung des Verhaltens der Angeklagten keine Verletzung von Art. 7 EMRK darstelle und dass sie dem Schutz der Menschenwürde als Ziel der Konvention entspreche.232 Die moralische Bewertung steht damit wieder in der Begründung der Änderung des Rechts und in der daraus resultierenden Relativierung des Rückwirkungsverbots. 5. Das Rückwirkungsverbot und das „flexible“ Verständnis des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im englischen Strafrecht Die Bestrafung einer Handlung, deren Strafbarkeit zum Zeitpunkt der Begehung nicht vorgesehen war, ist im englischen Recht gemäß Art. 7 EMRK und dem HRA verboten. Dieses Verbot ergibt sich aus dem NCSL-Prinzip (principle of legality), das laut Ashworth drei Unterprinzipien umfasst: principle of nonretroactivity, principle of maximum certainty und principle of strict construction of penal statutes.233 Das principle of non-retroactivity bzw. das Rückwirkungsverbot soll im Bereich der Gesetzgebung die Schaffung von statutes mit rückwirkendem Effekt verhindern. Seine Wirkung im Bereich des Common Law, im Sinne vom case law, ist jedoch problematisch. Aufgrund des Bestehens ungeschriebener strafbewehrter Verbote (common law offences) und der Auslegungsbefugnisse der englischen Richter ist nicht immer klar, wann eine richterliche Entscheidung eine neue offence schafft oder wann eine bereits existierende common law offence (expansiv) ausgelegt wird. Es ist insofern aufschlussreich, dass Wilson noch im Jahr 2011, d. h. nach Fällen wie beispielsweise Knuller oder Goldstein und Rimmington, behauptet, dass Richter im englischen Strafrecht manchmal so entscheiden würden, als ob sie Rechtserzeugungsbefugnisse hätten, und manchmal nicht.234 Daher lässt sich festhalten, dass das Rückwirkungsverbot im englischen Strafrecht als relatives Verbot begriffen werden kann und von daher ein flexibles Verständnis des NCSL-Prinzips vorliegt. Juratowitch betont, dass das Rückwirkungsverbot sowohl im Bereich der Gesetzgebung als auch in Bezug auf das Common Law gelte.235 Im Hinblick auf die 231 Siehe EGMR, C. R. v. The United Kingdom, 1995, Para. 38 und EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para. 40. 232 Siehe EGMR, C. R. v. The United Kingdom, 1995, Para. 42 und EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para. 44. 233 Vgl. Ashworth, Principles, S. 57; Horder, S. 82. 234 Siehe Wilson, S. 18. 235 Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S.  67 ff.; zur adjudicative retroactivity ebd., S.  119 ff.; dazu auch Ticehurst, KCLJ 1998–1999, 88 (99).

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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Gesetzgebung stellt diese Tatsache trotz des wegen des parlamentarischen Souveränitätsprinzips zumindest theoretisch möglichen Erlasses eines rückwirkenden statute ein „Schutzschild“ dagegen dar. Hier kommen zwei Fallkonstellationen in Betracht: der explizit rückwirkende Erlass einer Strafnorm durch das Parlament, was einen offensichtlichen Verstoß gegen Art. 7 EMRK darstellen würde, und der Erlass von Normen, die undeutlich in Bezug auf ihre zeitliche Anwendbarkeit sind. Im letztgenannten Fall solle Art. 7 EMRK gerade die richterliche Ablehnung der rückwirkenden Anwendung dieses Gesetzes fördern. In beiden Konstellationen wirkt die Ungerechtigkeit der rückwirkenden Kriminalisierung als ein Warnsignal dahingehend, dass die rückwirkende Bestrafung einen Verstoß gegen die rule of law und gegen die Menschenrechte des Angeklagten darstellt.236 In Bezug auf das Common Law muss gesagt werden, dass die im Fall Goldstein und Rimmington zum Ausdruck gekommene Ablehnung der Schaffung neuer strafbewehrter Verbote durch Richter begrüßt worden ist. Ormerod kennzeichnet vor dem Hintergrund dieser Fälle das judicial law making als einen Prozess ohne demokratische Legitimation, der zur Ungewissheit des Rechts führt.237 Gerade aus diesem Grund sagte Lord Bingham in den Fällen Goldstein und Rimmington, dass es im englischen Strafrecht zwei zentrale Voraussetzungen gibt: Die Strafbarkeit einer Tat muss klar und vor der Tatbegehung bestimmt sein, damit Personen vorher von der Strafbarkeit einer gewissen Handlung wissen können.238 Der entscheidende Punkt dieser Auffassung für die Ablehnung des judicial law making im Lichte des NCSL-Prinzips ist also die Gewissheit (certainty) nicht nur über die Strafbarkeit einer Handlung selbst, sondern auch über den Umfang der strafbewehrten Verbote. In seiner Argumentation lehnt das House of Lords jedoch die Entwicklung bzw. Erweiterung der bereits existierenden common law offences durch Richterrecht nicht ab. Lord Bingham betont aber, dass dies Schritt für Schritt ausgeführt werden muss: „If the ambit of a common law offence is to be enlarged, it ‚must be done step by step on a case by case basis and not with one large leap‘“.239 Es darf somit behauptet werden, dass die in der vorliegenden Arbeit dargestellten Fälle ein wichtiges Spannungsverhältnis widerspiegeln. Die Art und Weise, in der solche Spannungen gelöst werden, bildet gerade einen der Faktoren, die die Konzeption des NCSL-Prinzips im englischen Strafrecht bestimmen. Auf der einen Seite befindet sich das principle of legality als Konsequenz der rule of law und als Gewährleistung der individuellen Freiheit gegen die willkürliche Strafverfolgung. Andererseits liegen verschiedene kriminalpolitische Interessen vor, deren Verwirklichung auch Aufgabe des Strafrechts ist und gelegentlich eine relativ

236

Vgl. Simester et al., S. 23. Siehe Ormerod, S. 18. 238 Siehe Goldstein and Rimmington, 2005, UKHL 63, Rn. 33. 239 Ebd. 237

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

flexible Reaktion voraussetzt.240 In diesem Zusammenhang haben die Unterprinzipien, die das principle of legality konkretisieren, insbesondere die Prinzipien von non-retroactivity und maximum certainty, ihre Kontrapunkte und werden auf diese Weise im englischen Strafrecht relativiert. In diesem Sinne behauptet z. B. Horder, dass das Strafrecht sich in einem Spannungsfeld zwischen „principles of restrain“ und dem, was er „authoritarian principle“ nennt, befindet.241 Das Rückwirkungsverbot wird somit durch die „Lehre des dünnen Eises“ (sog. thin ice principle) beschränkt.242 Danach können Handlungen bestraft werden, die sich an der Grenze zwischen Rechtmäßigkeit und Kriminalität bewegen, sogar wenn ihre Rechtswidrigkeit nicht völlig klar oder explizit vorgesehen ist. Denn in diesen Grenzfällen nimmt die Person das Risiko der Bestrafung auf sich und trägt die Verantwortung für die Handlung.243 Dieser Ansatz führt in Zweifelsfällen zur Anwendung der strafbewehrten Verbote zulasten des Angeklagten.244 Im Rahmen des Prinzips der maximum certainty wird gesagt, dass Bürger vom Staat als freie Individuen behandelt werden sollen. Sie sollen also die Möglichkeit haben, eine rationale Entscheidung für oder gegen die Rechtsordnung zu treffen.245 Dafür ist allerdings die Bestimmtheit der Strafnormen erforderlich. Vage formulierte Normen ermöglichen keine klare und eindeutige Vorstellung davon, welches Verhalten verboten ist. Deshalb bildet die sog. „faire Warnung“ (fair warning) die Basis der legitimen Strafe und der Ablehnung rückwirkender Kriminalisierung.246 Allerdings wird akzeptiert, dass eine gewisse Flexibilität des Rechts notwendig ist, damit Richter gegen neue Formen der Kriminalität vorgehen können (sog. policy of social defence).247 Deswegen spricht man von maximum certainty und nicht von absolute certainty.248 Aus den bereits genannten Spannungen ergibt sich, dass es sich, obwohl eine durch den HRA und Art. 7 EMRK verstärkte Ablehnung der rückwirkenden Kriminalisierung im englischen Strafrecht vorliegt, um eine Ablehnung handelt, die dennoch „by compelling reasons“ relativiert werden kann.249

240

Vgl. Wilson, S. 18–19. Vgl. Horder, S. 66, 89 ff., ihm zufolge müssen beide Arten von Prinzipien berücksichtigt werden, um das Strafrecht verstehen zu können, er behauptet insofern: „A genuinely principled approach to criminal law does not entail a blanket rejection of extensions to criminalization“, ebd., S. 66. 242 Vgl. Ashworth, Principles, S. 73. 243 Diese Lehre wurde von Lord Morris im Fall Knuller begründet, siehe dazu Ambos, KRITV 2003, 31 (35). 244 Ashworth zufolge stellt diese Lehre eine Verletzung von Art.  7 EMRK dar, Ashworth, Principles, S. 63. 245 Ebd.; siehe auch Juratowitch, Retroactivity, S. 43 ff. 246 Vgl. Simester et al., S. 26 ff. 247 Vgl. Ashworth, Principles, S. 66. 248 Ebd.; Horder, S. 87. 249 Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 197. 241

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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II. Rückwirkung und das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafrecht Die rückwirkende Anwendung einer Strafnorm ist im deutschen Recht auf zwei Ebenen geregelt. Sowohl das Grundgesetz (GG) als auch das Strafgesetzbuch (StGB) enthalten ein explizites Verbot dieser Vorgehensweise. Art. 103 Abs. 2 GG schreibt vor, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. § 1 StGB hat den gleichen Wortlaut. Demzufolge hat das Rückwirkungsverbot im deutschen Strafrecht nicht nur eine strafrechtliche Konnotation. Es stellt vielmehr eine verfassungsrechtliche Garantie dar.250 Das sog. Rückwirkungsverbot zählt somit zum Grundrechtskatalog und ist aus diesem Grund verfassungsbeschwerdefähig.251 Die Diskussion über das Rückwirkungsverbot im deutschen Strafrecht ist sehr stark vom Bestreben zur Sicherung der Gewaltenteilung durch die Hierarchie der Rechtsquellen geprägt. In diesem Kontext wird generell anerkannt, dass das Rückwirkungsverbot eines der Elemente des Gesetzlichkeitsprinzips darstellt. Die anderen Aspekte des Gesetzlichkeitsprinzips sind das Verbot des strafbegründenden Gewohnheitsrechts, das Bestimmtheitsgebot und das Analogieverbot. Dieses Verständnis spiegelt den Versuch wider, Richter an die Gesetzgebung zu binden. In diesem Sinne wird die richterliche Gewalt vor allem als eine auslegende Funktion des geschriebenen Rechts begriffen. Wie im vorliegenden Kapitel erklärt wird, führt dieses Verständnis der Rechtsquellen zu einer strengen Konzeption des Rückwirkungsverbots und des NCSL-Prinzips im deutschen Strafrecht. Die Diskussionen über die Anwendung des Rückwirkungsverbots auf die Rechtsprechung sowie die Betrachtung des Gesetzesvorbehalts und der Ablehnung des Richterrechts als selbstständige Rechtsquelle erlauben diese Schlussfolgerung. Vor dem Hintergrund dieser Darstellung wird hier auch hervorgehoben, dass der im deutschen Strafrecht angenommene Ansatz bzgl. des Rückwirkungsverbots und des NCSL-Prinzips durch die folgenden zwei Umstände in gewissem Sinne auch relativiert wird. Erstens kann behauptet werden, dass die Grenzen der Gesetzesauslegung nicht immer eindeutig sind. Deswegen kann die Festlegung der Trennlinie zwischen reiner richterlicher Auslegung und Rechtsschöpfung durch Richterrecht auch in diesem Kontext problematisch sein. Das führt zu einer Verbindung der Debatten über das Rückwirkungsverbot mit der Diskussion über die vom Gesetzgeber eingesetzten Begriffe. Dies zeigt ferner die Bedeutung der Strafrechtsdogmatik für die Verwirklichung des Gesetzlichkeitsprinzips und dadurch des Rückwirkungsverbots. Zweitens scheint die deutsche Rechtsordnung in Fällen, in denen der moralische Vorwurf sehr stark ist, hinsichtlich des NCSL-Prinzips ambivalent zu sein, beispielsweise in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen.

250

Vgl. Nolte, in: Kommentar zum Grundgesetz, Art. 103 Abs. 2 Rn. 102. Ebd.

251

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Die richterliche Behandlung der Soldaten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in Bezug auf die „Mauerschützenfälle“ ist ein gutes Beispiel dafür. Es muss in diesem Zusammenhang betont werden, dass weder alle Probleme des Rückwirkungsverbots noch alle Diskussionen zu allen Elementen des Gesetzlichkeitsgrundsatzes hier behandelt werden können. Es geht an dieser Stelle lediglich um die Veranschaulichung der wichtigsten Aspekte, die einen Vergleich mit dem englischen Strafrecht ermöglichen. 1. Begründung und Sinn des Rückwirkungsverbots Das Rückwirkungsverbot (nullum crimen sine lege praevia)  wird durch das Verständnis der Eigenverantwortlichkeit des Menschen und des Vertrauensschutzes als Fundament des Rechtsstaatsprinzips begründet. In diesem Zusammenhang erscheint das Rückwirkungsverbot als Voraussetzung der Freiheit im Bereich des Strafrechts.252 Die Rechtsordnung geht davon aus, dass jede Person die Fähigkeit hat, freie Entscheidungen zu treffen und damit über sich selbst zu bestimmen. Der Rechtsstaat impliziert somit die Behandlung des Individuums als freien Bürger. Demnach soll der Staat die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen anerkennen und Bedingungen schaffen, damit der Bürger zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann.253 Das Recht erscheint somit als Grundlage freier Entscheidungen.254 Wenn der Bürger sich also im Rahmen des gesetzlich Erlaubten bewegt, darf seine Handlung folglich nicht nachträglich als strafbar qualifiziert werden.255 Dannecker behauptet insofern: „Ohne verlässliche Orientierung kann sich individuelle Freiheit nicht entfalten“.256 Aus kriminalpolitischer Sicht soll die Strafandrohung die Bürger vom rechtswidrigen Verhalten abschrecken, was aber nur möglich ist, wenn die verbotene Handlung vor der Tat festgelegt ist.257 In diesem Sinne ermöglicht das Rückwirkungsverbot auch die generalpräventive Funktion der Strafnormen. Das Rückwirkungsverbot erlangt also eine besondere Bedeutung im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips, wonach die Strafgewalt durch ein formalisiertes Strafrecht,258 das Rechtssicherheit gewährleistet, ausgeübt werden soll, um legitim zu sein.259 Die Idee eines formalisierten Strafrechts als Mechanismus zur Bewältigung der sozialen Konflikte steht hinter der im deutschen Strafrecht entwickelten Kon 252

Dazu ausführlich Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 374 ff. Ebd.; siehe auch Nolte, in: Kommentar zum Grundgesetz, Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 101, 118. 254 Vgl. Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 376. 255 Ebd. 256 Ebd., § 1 Rn. 377. 257 Roxin, § 5 Rn. 22. 258 Dazu ausführlich Hassemer/Neumann, in: Nomos Kommentar, Vor § 1 Rn. 159 ff. 259 Ebd., § 1 Rn. 45 ff. 253

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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zeption des Rückwirkungsverbots. Unter formalisiertem Strafrecht ist laut Hassemer und Neumann die an Prinzipien und Kriterien der Richtigkeit gebundene und nachprüfbare Sozialkontrolle zu verstehen.260 Insofern ist auch zu erwähnen, dass das bloße Bestehen des geschriebenen Gesetzes für die Gestaltung eines solchen Strafrechts nicht ausreichend ist. Auch die Systematisierung von Begriffen und Definitionen ist dafür unerlässlich.261 Die Rechtssicherheit setzt in diesem Zusammenhang die Kontinuität und Konsistenz der Rechtsentwicklung als System von Normen voraus und bildet die Grundlage des Vertrauensschutzes für die Bürger.262 Es soll also möglich sein, darauf zu vertrauen, dass „die im Gesetz fixierte Bewertung einer Tat nicht nachträglich zuungunsten [des Täters] geändert werden kann“.263 Die staatlichen Eingriffe durch das Strafrecht müssen somit vorhersehbar, berechenbar und kontrollierbar seien.264 Demnach soll das Rückwirkungsverbot zur Täuschungsfreiheit des Strafrechts führen und stellt damit einen der Grundpfeiler rechtsstaatlicher Legitimation dar.265 Das Rückwirkungsverbot, wie es sich im deutschen Strafrecht entwickelt hat, kann in seiner Komplexität nicht verstanden werden, ohne den be­grifflichen Zusammenhang zu betrachten, in dem es thematisiert wird, d. h. ohne die Berücksichtigung seines jeweiligen Verhältnisses zu jedem der anderen drei Elemente des Gesetzlichkeitsprinzips.266 Im deutschen Strafrecht wird generell angenommen, dass das in Art. 103 Abs. 2 GG und in § 1 StGB enthaltene Gesetzlichkeitsprinzip vier Elemente hat, nämlich das Rückwirkungsverbot (lex praevia), das Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts (lex scripta), das Bestimmtheitsgebot (lex certa) und das Analogieverbot (lex stricta). Die Verwirklichung des Rückwirkungsverbots setzt nach diesem Verständnis voraus, dass die (abstrakte) Entscheidung über die Kriminalisierung einer Handlung innerhalb der Kompetenz des Gesetzgebers liegt. Das bedeutet, dass nur der Gesetzgeber die äußere Grenze des strafrechtlichen Verbots festlegen darf.267 Deshalb ist das Richterrecht als selbstständige Rechtsquelle abzulehnen. Der Wortlaut des Gesetzes muss so bestimmt wie möglich sein, damit Richter bei ihrer Entscheidung einen relativ engen Spielraum haben. Dadurch wird u. a. versucht, eine durch eine ausgedehnte Auslegung des Gesetzes verursachte (rückwirkende) Bestrafung zu verhindern. Die heutzutage anerkannte Bedeutung des Rückwirkungsverbots und des Gesetzlichkeitsprinzips im Allgemeinen ergibt sich z. T. aus den Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Das Gesetzlichkeitsprinzip war seit 1871 in 260

Ebd., Vor § 1 Rn. 160. Ebd., Vor § 1 Rn. 170 ff. 262 Zur Rechtssicherheit und der Garantiefunktion des Strafgesetzes siehe Maurach/Zipf, Strafrecht (1992), § 10 Rn. 6. 263 Vgl. Schreiber, JZ 1973, 713 (715). 264 Vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 46. 265 Ebd. 266 Siehe dazu Jescheck/Weigend, S. 133 ff. 267 Vgl. Schmitz, in: Münchener Kommentar, § 1 Rn. 7; dazu Jescheck/Weigend, S. 134. 261

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

§ 2 Abs. 2 Reichstrafgesetzbuch (RStGB) festgeschrieben: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde“.268 Verfassungsrang erlangte dieses Prinzip erst 1919 durch Art. 116 WRV.269 Fünfzehn Jahre später ersetzte das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28.06.1935 jedoch den ursprünglichen Wortlaut von § 2 Abs. 2 RStGB durch die folgende Formulierung: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft“.270 Die sich aus dem Gesetzlichkeitsprinzip ergebenden Anforderungen entsprachen nicht dem während der Zeit des Nationalsozialismus entwickelten Verbrechensbegriff, der sich aus der Gleichsetzung von Recht, Willen des Führers und Wohl des Volkes ergab.271 Ausdrücke wie „Grundgedanken“ und „gesundes Volksempfinden“ als Voraussetzungen der Strafbarkeit widersprachen dem Gebot eines gesetzlich bestimmten Strafrechts, da sie erheblichen Raum für die politische Instrumentalisierung der Strafrechtspflege ließen.272 Der modifizierte § 2 RStGB wurde durch das Kontrollratsgesetz Nr.  11 von den Besatzungsmächten nach dem Zweiten Weltkrieg aufgehoben.273 1953 wurde durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz das NCSL-Prinzip in seiner heutigen Fassung in § 2 StGB eingefügt.274 Seit dem Zweiten Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1969 ist diese Version in § 1 StGB enthalten.275

268

Vgl. Das Strafgesetzbuch Sammlung, Band I, S. 2. Vgl. Jescheck/Weigend, S. 132. 270 Vgl. Das Strafgesetzbuch Sammlung, Band I, S. 307 (eigene Hervorhebung). 271 Dazu ausführlich Marxen, Der Kampf, S. 71, 182 ff., 192 ff.; insofern auch Görtemaker/ Safferling, S. 44; siehe z. B. den 1934 von Carl Schmitt verfassten Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“, Schmitt, DJZ 1934, 945 („Der wahre Führer ist immer auch Richter“, S. 946–947; „In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz“, S. 947). 272 Vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 11; Görtemaker/Safferling, S. 55 (in Bezug auf den Fall Katzenberger); hinsichtlich des NCSL-Prinzips und des Bestimmtheitsgebots siehe Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 23: „Die eingentliche Gefahr droht dem Grundsatz nulla poena sine lege nicht von der Analogie sondern von unbestimmten Strafgesetzen!“. 273 Vgl. Das Strafgesetzbuch Sammlung, Band 1, S. 369. Das Kontrollratsgesetz Nr. 11 wurde am 30.01.1946 erlassen. 274 Vgl. Das Strafgesetzbuch Sammlung, Band 1, S. 404, Drittes Strafrechtsänderungsgesetz vom 04.08.1953. 275 Seit 1969 wurde der Grundsatz nullum crimen sine lege in § 1 StGB vorgesehen. Der Grundsatz nulla poena sine lege bleibt bis heute in § 2 StGB, vgl. Das Strafgesetzbuch – Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen, Band II, S. 114 ff. 269

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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2. Anwendung des Rückwirkungsverbots auf die Rechtsprechung? In seiner heutigen Fassung umfasst das Rückwirkungsverbot alle materiellen Voraussetzungen der Strafbarkeit, d. h. die Regeln des allgemeinen Teiles des StGB sowie die Straftatbestände des besonderen Teiles.276 In diesem Sinne wäre beispielsweise die nachträgliche Ausweitung der Teilnahme- oder Versuchsregelungen unzulässig.277 Außerdem gilt das Verbot auch für Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Strafausschließungsgründe.278 Die rückwirkende Aufhebung oder Einengung von Rechtfertigungsgründen ist daher ebenso verboten,279 auch für solche, die nicht im StGB vorgesehen sind, d. h. für außerstrafrechtliche und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe.280 Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB verbieten im Allgemeinen die rückwirkende Begründung oder Verschärfung der Strafbarkeit. Somit verhindert das Rückwirkungsverbot die nachträgliche, zum Nachteil des Täters erfolgende Änderung der Bewertung des Unrechtsgehalts einer Tat.281 Deshalb richtet sich das Rückwirkungsverbot sowohl an den Gesetzgeber als auch an den Richter.282 Der Erste darf somit eine Strafnorm nicht rückwirkend erlassen, während der Zweite die Strafnormen nicht rückwirkend anwenden darf.283 Insofern ist aber umstritten, ob die rückwirkende Änderung der Rechtsprechung einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG darstellt. Um den im deutschen Recht vorliegenden Ansatz bzgl. des Rückwirkungsverbots zu verstehen, ist die Betrachtung der Diskussion über dessen Gültigkeit in Bezug auf die Rechtsprechung hilfreich. Diese Diskussion wurde jedenfalls seit den 1960er Jahren geführt, als der Bundesgerichtshof (BGH) 1966 einen Blutalkoholgehalt von 1,3‰ als hinreichend für die Annahme absoluter Fahruntüchtigkeit im Sinne der §§ 315c und 316 StGB erklärte.284 Über ein Jahrzehnt lang hatte die Rechtsprechung 1,5‰ als Grenze festgelegt.285 Deshalb könnte die Anwendung des neuen Kriteriums auf die davor begangenen Taten als Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot beurteilt werden.286 Die Anwendung des Rückwirkungsverbots auf Recht 276

Vgl. Roxin, § 5 Rn. 55; Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 21. Dazu ausführlich Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 390. 278 Vgl. Degenhart, in: Grundgesetz Kommentar, Art. 103 Abs. 2 Rn. 61. 279 Vgl. Roxin, § 5 Rn. 55. 280 Das Argument dafür ist vor allem die notwendige Einheit der Rechtsordnung, siehe Schmitz, in: Münchener Kommentar, § 1 Rn. 13; in diesem Sinne auch Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 391, 392; Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 3. 281 Vgl. Degenhart, in: Grundgesetz Kommentar, Art. 103 Abs. 2 Rn. 73; zum Rückwirkungsverbot und zu Ausfüllungsnormen von Strafblanketten siehe Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 394, 395. 282 Vgl. Schmitz, in: Münchener Kommentar, § 1 Rn. 34. 283 Vgl. Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 362. 284 Siehe BGH, Urteil vom 09.12.1966, in: BGHSt 21, 157; siehe dazu Schreiber, JZ 1973, 713 (713–714). 285 Vgl. Schreiber, JZ 1973, 713 (713). 286 Siehe dazu ebd, S. 714; Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 438 ff. 277

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

sprechungänderungen ist jedoch von mehreren Autoren abgelehnt worden, wie z. B. Jescheck, Maurach und Welzel.287 Unter den dafür angeführten Gründen sind insbesondere die folgenden zwei zu erwähnen: Zum einen wurde hervorgehoben, dass der Richter nicht für jedermann bestimme, was strafbar oder erlaubt sei, sondern nur entscheide, inwieweit ein Gesetz auf den Einzelfall Anwendung finde.288 Zum anderen wurde behauptet, dass eine gewisse Rückwirkung richterlicher Entscheidungen ein wesentlicher Aspekt jeder Rechtsordnung sei, weil sie sich selbstverständlich auf bereits begangene Taten beziehe. Deshalb könne die rückwirkende Wirkung der Rechtsprechung nicht ausgeschlossen werden.289 Roxin und Jakobs vertreten auch die Ansicht, dass das Rückwirkungsverbot nicht für die Rechtsprechung gilt. Nach ihrer Auffassung sollen die Bürger sich nur an dem gesetzlichen Regelungsrahmen orientieren.290 Sonst werde die Trennung zwischen Gesetzgebung und Rechtspflege übersehen, obwohl Art. 103 Abs. 2 GG gerade von dieser Trennung ausgehe.291 Außerdem hätte die Anwendung des Rückwirkungsverbots auf die Rechtsprechung eine Überforderung der Justiz zur Folge,292 weil Richter auf diese Weise nicht aus ihren Fehlern lernen könnten, die Fortentwicklung der Rechtsprechung unmöglich wäre und ihre Bindung an das Gesetz aufgelöst würde.293 Ferner meint Roxin, dass die neue Auslegung einer Norm keine rückwirkende Bestrafung darstelle, sondern die Verwirklichung eines Gesetzeswillens, der schon immer bestanden habe, aber erst jetzt erkannt worden sei.294 Die Idee dahinter ist, dass das Vertrauen in den Fortbestand einer früheren Auslegungspraxis nicht geschützt wird, weil die Vertrauensgrundlage nach Art. 103 Abs. 2 GG ausschließlich das Gesetz ist.295 Andererseits gibt es Autoren, die die Anwendung des Rückwirkungsverbots auf die Rechtsprechung befürworten, aber mit gewissen Einschränkungen. Sie nehmen als Grundlage ihrer Argumentation eine andere Konzeption der Rechtsquellen des Strafrechts an. Ihnen zufolge muss vom Ergänzungsverhältnis zwischen dem Gesetz und seiner Auslegung ausgegangen werden, weil nur dann das Strafgesetz seine Garantiefunktion erfüllen könne.296 Deshalb seien die gleichen 287 Jescheck/Weigend, S. 139 (Fußnote 46); Maurach (4. Aufl., 1971), S. 137 (diesbezüglich befindet sich in der 5. Aufl. des Lehrbuchs von Maurach eine andere Auffassung; die 5. Aufl. – Band I wurde von Heinz Zipf fortgeführt, siehe Maurach/Zipf, Strafrecht (1977), S. 165); Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 462; siehe dazu Schreiber, JZ 1973, 713 (714). 288 Vgl. Schreiber, JZ 1973, 713 (714). 289 Ebd. 290 Dazu ausführlich Roxin, § 5 Rn. 61. 291 Ebd. 292 Ebd.; siehe auch Jakobs, 4. Abschnitt Rn. 81. 293 Vgl. Roxin, § 5 Rn. 61; Jakobs, 4. Abschnitt Rn. 80; laut beiden Autoren müssen diese Fälle gemäß § 17 StGB (Verbotsirrtum) behandelt werden. 294 Vgl. Roxin, § 5 Rn. 61. 295 Vgl. Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 2 Rn. 7. 296 Vgl. Baumann et al., Strafrecht Allgemeiner Teil  (12. völlig neu bearbeitete Aufl.), § 7 Rn. 45.

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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Anforderungen an die Gesetzgebung und an die Rechtsprechung zu stellen.297 Insofern schlagen einige Autoren vor, dass die Änderung der bisherigen Rechtsprechung nur durch eine graduelle Abstufung durchgeführt werden soll.298 In diesem Zusammenhang ist sogar über die aus dem Common-Law stammende sog. prospective overruling diskutiert worden. Nach dieser Lehre „wirke die neue [Rechtsprechung] wie das ändernde Gesetz nur in die Zukunft“.299 Wie Schreiber verdeutlicht, solle das Gericht daher „[…] im konkreten Fall noch nach der alten Auslegung entscheiden, aber die gewandelte Ansicht darlegen und ankündigen, demnächst nach ihr zu judizieren“.300 Diese Auffassung wurde jedoch im deutschen Kontext abgelehnt.301 Es ist jedenfalls anerkannt worden, dass die konkrete Gestalt des Rechts wesentlich durch die Praxis der Gerichte mitbestimmt werde.302 Insofern behauptet beispielsweise Schreiber, dass, wenngleich auch jedes Urteil primär nur auf den Einzelfall ausgerichtet sei und deswegen in gewissem Sinne einen rückwirkenden Charakter habe,303 die Individualisierung der Norm nicht die einzige Aufgabe der Richter sei. Richter und Gerichte würden anhand des Gesetzes und des Falls einen neuen allgemeinen Satz bilden, der im Einklang mit dem rechtlichen Zusammenhang stehen müsse.304 Schreiber zufolge solle somit das Rückwirkungsverbots auch für die Rechtsprechung gelten, aber unter der Voraussetzung, dass es um „Fälle einhelliger höchstrichterlicher Rechtsprechung“ gehe.305 Andere Autoren, z. B. Hassemer und Kargl, akzeptieren, dass die allgemeine Ausdehnung des Rückwirkungsverbots auf die Rechtsprechung dem Wortlaut von Art. 103 Abs. 2 GG widerspreche.306 Sie behaupten jedoch, dass es einige Konstellationen gebe, in denen die Rechtsprechung aus der Sicht der Betroffenen und der Bürger dieselbe Funktion wie die Gesetzgebung erfülle.307 Dies geschehe vor allem, wenn der Gesetzgeber auf die Bestimmtheit der Strafandrohung verzichte und deshalb eine „Kompetenzverlagerung“ vom Gesetzgeber auf die Gerichte

297

Ebd., § 7 Rn. 43. Siehe Baumann et al., Strafrecht Allgemeiner Teil (11. Aufl.), § 9 Rn. 38. 299 Vgl. Knittel, S. 31. 300 Vgl. Schreiber, JZ 1973, 713 (717).  301 Insofern ebd., S. 715, 717; auch Robbers, JZ 1988, 485 (488–489). 302 Vgl. Schreiber, JZ 1973, 713 (715), er erkennt die Anwendung von Art. 103 Abs. 2 GG auf die Rechtsprechung durch Analogie an, weil eine direkte Anwendung den Wortlaut dieser Norm übersehen würde. 303 Ebd., S. 716. 304 Ebd. 305 Ebd., S. 717–318, laut Schreiber: „Anders sollten aber die Fälle sonstiger einheitlicher und widersprüchlicher, gleich- und verschiedenrangiger Rechtsprechung behandelt werden. Wegen des wesentlich geringeren Geltungsranges dieser Rechtsprechung verbietet sich m. E. bei ihr eine entsprechende Anwendung der objektiven Kriterien der Gesetzmäßigkeitsprinzip“. 306 Art. 103 Abs. 2 GG setzt nur die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit voraus, vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 50. 307 Ebd., § 1 Rn. 51. 298

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

stattfinde.308 Hiermit werde den richterlichen Entscheidungen auch eine Orientierungsfunktion bzgl. des Verhaltens zuerkannt.309 In diesen Fällen erscheine auch die Rechtsprechung als Bezugspunkt des Vertrauensschutzes der Bürger. Richter müssen dann in solchen Situationen die Verlässlichkeit der Rechtsordnung sicherstellen.310 Die Rechtsprechung wirke deswegen unter diesen Bedingungen als Gesetzesergänzung in der Bestimmung einer verbotenen Handlung.311 Es gehe hierbei allerdings vor allem um gefestigte, höchstrichterliche Rechtsprechung, die nur geändert werden dürfe, wenn es deutlich geboten sei.312 Die Frage nach der rückwirkenden Rechtsprechungsänderung wurde auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aufgrund der neuen Herabsetzung der Grenze absoluter Fahruntüchtigkeit thematisiert.313 Dem BVerfG zufolge war die Strafbarkeit in § 316 StGB nicht an eine bestimmte Blutalkoholkonzentration geknüpft.314 Darüber hinaus konstatierte es, dass die angegriffenen Entscheidungen nur auf einer Änderung der wissenschaftlichen Erkenntnisgrundlagen beruhete und nicht auf einem geänderten strafrechtlichen Unwerturteil.315 Deshalb erklärte das BVerfG, dass die Grundsätze des Rückwirkungsverbots und des Vertrauensschutzes der Bürger die Gerichte nicht daran hindern, bestimmte Sachverhalte aufgrund neuer Erkenntnisse als tatbestandsmäßig zu qualifizieren.316 Das BVerfG bestätigte 2011, dass es bislang einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG wegen der Abweichung von der früheren Rechtsprechung nicht angenommen hatte. Das Gericht behauptete in dieser Entscheidung jedoch: „Die Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG auf ‚Rechtsprechungsänderungen‘ würde jedenfalls voraussetzen, dass die frühere Rechtsprechung durch ein Mindestmaß an Kontinuität einen Vertrauenstatbestand begründen konnte“.317 Das BVerfG hat insofern jedenfalls anerkannt, dass sich gewisse Anforderungen an die Gerichte aus Art. 103 Abs. 2 GG ergeben. Dies geschieht insbesondere im Rahmen des Bestimmtheitsgebots, wobei die Rechtesprechung eine besondere Rolle spielt, wenn es um umbestimmte Tatbestandsmerkmale geht.318 In diesem Sinne spricht das BVerfG auch von einem 308

Vgl. Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 443. Siehe dazu Maurach/Zipf, Strafrecht (1992), § 12 Rn. 8. 310 Vgl. Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 343. 311 Vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 58. 312 Vgl. Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 445. 313 1990 setzte der BGH diese Grenze auf 1,1‰ herab. Siehe dazu BGHSt 37, 89. 314 Vgl. BVerfG NStZ 1990, 537. 315 Ebd. 316 Ebd.; dieses Kriterium wurde 1994 wiederholt, siehe BVerfG, Beschluss vom 27.06.1994, in: NJW 1995, 76; laut Dannercker deutet sich in dieser Rechtsprechung des BVerfG folgende Differenzierung: „Für eine Rechtsprechungänderung, die das Unwerturteil modifiziert, soll das Rückwirkungsvebot gelten; demgegenüber soll für eine Rechtsprechungänderung, die allein die Tatsachegrundlage berührt, das Rückwirkungsvervot nicht gelten“, Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 435. 317 Siehe BVerfG, Beschluss vom 16.05.2011, in: BVerfGK 18, 430 (435). 318 Siehe BVerfG, Beschluss von 23.06.2010, in: BVerfGE 126, 170 (198–199); BVerfG, Beschluss vom 28.07.2015, in: NJW 2015, 2949 (2954–2955). 309

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„Präzisierungsgebot“, das Gerichte bei der Auslegung solcher Tatbestände, „die der Gesetzgeber im Rahmen des Zulässigen durch Verwendung von Generalklauseln verhältnismäßig weit und unscharf gefasst hat“, erfüllen sollen.319 Obwohl derzeit die Tendenz zu sein scheint, weitere Auswirkungen des NCSLPrinzips auch für die Rechtsprechung anzuerkennen, zeigt diese Diskussion, dass die Rolle der Rechtsprechung und der Umfang des Rückwirkungsverbots umstritten gewesen sind. Trotz der dargestellten Entwicklung ist es im deutschen Strafrechtssystem schwer zu akzeptieren gewesen, dass die Rechtsprechung zusammen mit der Gesetzgebung die Rechtsordnung ausgestaltet. Aber auch ein unerwarteter Wandel in der Rechtsprechung kann freilich das Vertrauen der Bürger in die Vorhersehbarkeit staatlicher Eingriffe durch das Strafrecht vermindern. Die Frage ist aber, welche Strategien bzw. Mechanismen in das deutsche Strafrecht aufgenommen worden sind, um die Bürger vor einer solchen Situation zu schützen. 3. Gesetzesvorbehalt und Ablehnung des Richterrechts als selbstständige Rechtsquelle Im deutschen Strafrecht wird das Gesetzlichkeitsprinzip vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Gesetzesbindung verstanden, d. h. als Bindung der Richter und Gerichte an das geschriebene Recht.320 Der Vorrang des Gesetzes vor der Rechtsprechung soll dabei als Gewährleistung der Rechtssicherheit dienen. In diesem Zusammenhang soll das Strafgesetz eine Garantiefunktion erfüllen.321 Es soll die Bürger vor willkürlicher Strafbarkeit schützen.322 Das geschriebene Recht erscheint somit als Mittel, um die Voraussehbarkeit, Vorausberechenbarkeit und Messbarkeit des Strafrechts zu ermöglichen.323 Demnach muss die Strafbarkeit unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit in einem geschriebenen Gesetz angeordnet werden.324 Dementsprechend verlangt Art. 103 Abs. 2 GG die gesetzliche Regelung der strafbarkeitsbegründenden und -ausdehnenden Normen. Wie bereits gesagt, umfasst dies die Kodifikation sowohl des allgemeinen Teils als auch des besonderen Teils des Strafrechts.325 Die Gesetzesbindung impliziert insofern eine Objektivitätsgarantie. Die Strafbarkeit darf also nicht nur hinsichtlich schon bekannter 319 Siehe BVerfG, Beschluss vom 23.06.2010, in: BVerfGE 126, 170 (198) und BVerfG, Beschluss von 28.07.2015, in: NJW 2015, 2949 (2954); siehe dazu Wessels et al., § 2 Rn. 65; diese Rechtsprechung kann einen Meinungswandel hinsichtlich der Anwendung des Rückwirkungsverbots auf Rechtsprechungsänderungen darstellen, ebd., § 2 Rn. 70: „So hat das BVerfG selbst angedeutet, dass bei gesetzlich besonders unscharf gefassten Strafvorschriften der Vertrauensschutz bei Rechtsprechungsänderungen eine gesteigerte Bedeutung erlangen könne“.  320 Vgl. Jakobs, 4. Abschnitt Rn. 1. 321 Siehe dazu Maurach/Zipf, Strafrecht (1992), § 8 Rn. 33 ff. 322 Vgl. Wessels et al., § 2 Rn. 61. 323 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht (1992), § 10 Rn. 6. 324 Ebd., § 10 Rn. 9. 325 Dazu Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 172.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Täter bestimmt werden, sondern nach allgemeingültigen und abstrakten Erwägungen.326 Dies ergibt sich auch aus dem Demokratieprinzip, wonach wesentliche Entscheidungen, die den Bürger unmittelbar betreffen – etwa die Frage nach der Beschränkung der Grundrechte – als Ergebnis einer parlamentarischen Diskussion und damit einer Abwägung verschiedener Interessen getroffen werden müssen.327 Der Ausschluss des Richterrechts als selbstständige Rechtsquelle im Strafrecht wird oft im Zusammenhang mit dem Verbot des strafbegründenden Gewohnheitsrechts thematisiert (nullum crimen sine lege scripta). Gemäß Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB sei die auf der allgemeinen sittlichen Missbilligung einer Verhaltensweise basierende Strafbarkeit unzulässig.328 In diesem Sinne behaupten Hassemer und Kargl, dass es im Strafrecht niemals ein wirksames „Gewohnheitsrecht“ ohne eine konstitutive Entscheidung des Gesetzgebers oder eines Richters gebe. Des­ wegen reduziert sich die Frage nach dem Gewohnheitsrecht als Strafrechtsquelle in diesem Kontext auf das Problem des Richterrechts.329 Obwohl die Einheitlichkeit der Rechtsprechung im deutschen Recht in Art. 95 Abs. 3 GG als Verfassungswert anerkannt ist, wird sie nicht durch eine Bindung an die obergerichtliche Rechtsprechung gewährleistet.330 Nach der „deutschen“ Perspektive verlangt die Unabhängigkeit der Richter die Unzulässigkeit eines Präzedenzfallsystems. Richter sind insofern gemäß Art. 97 Abs. 1 GG nur dem Gesetz unterworfen.331 Laut Maurach und Zipf beruht die reale Verbindlichkeit der höchstrichterlichen Entscheidungen in der Praxis nur auf der Überzeugungskraft der Autorität dieser Gerichte selbst und auf der Tatsache, dass die Untergerichte letztlich die Aufhebung abweichender Entscheidungen im Rechtsmittelverfahren befürchten.332 Die Bedeutung der Rechtsprechung für die Gestaltung des Rechtssystems wird aber in der Fachliteratur unzweifelhaft anerkannt. Trotzdem sehen einige Autoren die Unterwerfung der Richter unter das Gesetz aufgrund zweier faktischer Umstände relativiert. Zum einen, wie Stratenwerth und Kuhlen meinen, muss jedes Gesetz ausgelegt werden, was grundsätzlich auch ein schöpferischer Vorgang ist.333 Zum anderen ergeben – entsprechend den Worten von Hassemer und Kargl  – Gesetz und Gesetzesanwendung erst in ihrem Zusammenspiel die Grenzen zwischen dem erlaubten und dem verbotenen Verhalten.334 Die Rolle der Rechtsprechung bei der Gestaltung der Rechtsordnung wird bei Berücksichtigung der Themen des allgemeinen Teils des Strafrechts, die nicht gänzlich oder explizit geregelt werden, deutlich. In Bezug auf solche Themen haben 326

Vgl. Jakobs, 4. Abschnitt Rn. 9. Siehe dazu Kuhli, S. 77 ff. 328 Vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 64. 329 Ebd., § 1 Rn. 66; in diesem Sinne auch Stratenwerth/Kuhlen, § 3Rn. 25 ff. 330 Dazu ausführlich Martens, JZ 2011, 348 (354). 331 Ebd. 332 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht (1992), § 8 Rn. 39 ff. 333 Vgl. Stratenwerth/Kuhlen, § 3Rn. 29 ff. 334 Vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 58. 327

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Richter einen relativ weiten Entscheidungsspielraum, dem jedoch der herrschenden Meinung zufolge durch das Gesetz Grenzen gesetzt werden. Der Gesetzgeber hat weite Bereiche der allgemeinen Strafrechtslehre offengelassen, teils wegen der Schwierigkeiten einer Kodifikation solcher Materien, teils aus dem Bestreben, die wissenschaftliche Entwicklung nicht zu unterbinden.335 Der ständige Gerichtsgebrauch bzgl. dieser Themen führt Welzel zufolge zu einem ergänzenden Gewohnheitsrecht.336 In diesen Fällen enthalte das Gesetz allerdings eine „Ermächtigung zur Rechtsfortbildung intra legem“.337 Richter würden sich hinsichtlich allgemeiner Lehren und Zurechnungsregeln, wie z. B. der Kausalität, der objektiven Zurechnung, des Vorsatzes, der Fahrlässigkeit oder des Unterlassens, nicht in einem „rechtsfreien Raum“ bewegen.338 Notwendig sei immer eine gesetzliche Entscheidung über die Voraussetzungen der Strafbarkeit, in der die Rechtsprechung als ergänzendes Richterrecht wirken könne.339 In diesem Kontext betont jedoch Roxin, dass die richterlichen Entscheidungen immer ein Auslegungsergebnis seien und niemals die normative Verbindlichkeit des Gewohnheitsrechts im Sinne eines Präzedenzfallsystems hätten.340 4. Begriffsbildung und Strafrechtsdogmatik als Sicherung der Legalität Im deutschen Strafrecht wird versucht, Rechtssicherheit nicht nur durch das Gesetzlichkeitsprinzip zu sichern. Die Begriffsbildung und die Strafrechtsdogmatik spielen hierfür auch eine besondere Rolle. Genau genommen bilden sie einen entscheidenden normativen Referenzpunkt bei der Bestimmung der Legalität einer richterlichen Entscheidung. Die begriffliche und systematische Rekonstruktion des geltenden Rechts wirkt dann als der Blickwinkel, aus dem die Rechtsordnung gesehen, interpretiert und verstanden wird. Deswegen ist das Verständnis des NCSL-Prinzips im Kontext des deutschen Strafrechts sehr eng verknüpft mit der „wissenschaftlichen“ Betrachtungsweise der Rechtsordnung, mithilfe derer der Inhalt der strafrechtlichen Regeln in ihrem inneren Zusammenhang entwickelt und gedeutet werden soll.341 Die Strafrechtswissenschaft ergänzt somit das Gesetzlichkeitsprinzip im Hinblick auf die Schaffung von Rechtssicherheit.342 335

Siehe dazu Kuhli, S. 106. Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 23. 337 Vgl. Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 173. 338 Ebd., § 1 Rn. 174. 339 Ebd. 340 Vgl. Roxin, § 5 Rn. 47. 341 Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 1. 342 Insofern kann die folgende Behauptung Welzels interpretiert werden: „Als systematische Wissenschaft legt sie [die Strafrechtswissenschaft] den Grund zu einer gleichmäßigen und gerechten Rechtspflege, da nur die Einsicht in die inneren Zusammenhänge des Rechts die Rechtsanwendung über Zufall und Willkür hinaushebt“, ebd.; siehe auch ebd., S. 30, 48. 336

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

In diesem Zusammenhang sind das Rückwirkungsverbot, das Bestimmtheitsgebot und das Analogieverbot als drei miteinander verbundene Elemente des Gesetzlichkeitsprinzips entstanden.343 Als Konsequenz des Gesetzlichkeitsprinzips muss der Gesetzgeber die strafrechtlichen Normen so konkret wie möglich umschreiben, damit die Gesetzesfassung Klarheit über die verbotenen Handlungen schaffen kann (nullum crimen sine lege certa).344 Im deutschen Strafrecht wird also angenommen, dass das Strafgesetz nur dann seine Garantiefunktion erfüllen kann. Der Präzisierungsgrad der Bestimmungen ist jedoch im allgemeinen und im besonderen Teil des Strafrechts unterschiedlich. Insofern kann mit Jakob gesagt werden, dass der Wortlaut des Gesetzes hinsichtlich des allgemeinen Teils einen notwendigen Ausgangspunkt zur systematischen Begriffsbildung darstellt, während die wörtliche Formulierung des besonderen Teils vor allem eine Auslegungsgrenze bilden soll.345 In dem Bestreben um Klarheit durch das geschriebene Gesetz spielt der Begriff vom Straftatbestand eine wesentliche Rolle. Unter Straftatbestand im weiteren Sinne können alle normierten Voraussetzungen der Strafbarkeit verstanden werden, wie etwa die Merkmale des Unrechtstatbestandes, der Rechtswidrigkeit und der Schuld.346 Im engeren Sinne ist damit die genaue Beschreibung des missbilligten Verhaltens gemeint.347 Das Gesetz selbst soll dann „die Verbotsmaterie (den Tatbestand) durch Angabe der einzelnen Merkmale des verbrecherischen Verhaltens erschöpfend beschreiben“.348 Der Bestimmtheitsgrad, den Strafgesetze haben sollten, erweist sich jedoch als problematisch.349 Manche Begriffe sind ambivalent und weisen einen bestimmten Grad an Vagheit auf.350 Darüber hinaus sind die vom Gesetzgeber eingesetzten Begriffe fast immer „wertausfüllungsbedürftig“.351 Sie haben bewertende Aufgaben und Ziele und befinden sich in einem normativen Kontext, der eine bloß deskriptive Handhabung ausschließt.352 Angesichts dieser Tatsache wird im deutschen Kontext die höchstmögliche Präzision bei der Formulierung des Strafgesetzes verlangt.353 Trotzdem muss anerkannt werden, dass die strafrechtlichen Normen kein bestimmtes Ergebnis in konkreten Fällen sichern können. Wie Hassemer und Kargl behaupten, kann das Bestimmtheitsgebot nur die Feststellung eines richterlichen Spielraums und „Argumentationsprogramms“ durch das Gesetz

343

Vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 13. Vgl. Wessels et al., § 2 Rn. 64. 345 Dazu ausführlich Jakobs, 4. Abschnitt Rn. 16. 346 Vgl. Wessels et al., § 5 Rn. 175. 347 Ebd., § 5 Rn. 176 ff; dazu auch Jakobs, 6. Abschnitt Rn. 46 ff. 348 Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 49. 349 Insofern bezieht sich Welzel beispielsweise auf die fahrlässigen Delikte und auf die Unterlassungsdelikte als „offene“ oder „ergänzungsbedürftige“ Tatbestände, ebd., S. 50. 350 Dazu ausführlich Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 16 ff. 351 Ebd., § 1 Rn. 32 ff. 352 Ebd. 353 Vgl. Schmitz, in: Münchener Kommentar, § 1 Rn. 45. 344

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gewährleisten.354 Aus diesem Grund betonen sie, dass die Nachprüfbarkeit und Vorhersehbarkeit der staatlichen Eingriffe durch das Strafrecht erst durch das Zusammenspiel von Strafgesetzgebung und Strafgesetzanwendung erreicht werde.355 Aus diesem Grund wird das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafrecht um das Verbot der Analogie zulasten des Täters ergänzt.356 Die Mehrdeutigkeit der meisten Begriffe führt zur Notwendigkeit ihrer Interpretation und daher zum Problem der Abgrenzung zwischen zulässiger Tatbestandsauslegung und unzulässiger Analogie (nullum crimen sine lege stricta).357 Diesbezüglich behauptet beispielsweise Welzel, dass eine „ausdehnende Auslegung“ zulässig sei, sofern „sie über eine zu enge Wortinterpretation hinaus den vernünftigen Sinn des Tatbestands zur Geltung bringt“, während eine „gesetzeserweiternde Analogie“ abzulehnen sei, die „auf einen vom erklärten Sinn des Gesetzes nicht mehr getroffenen Fall hinausgreift“.358 Im Rahmen der Diskussion über die Auslegungsmethode und das Analogieverbot wird jedenfalls anerkannt,359 dass der Wortlaut das zentrale Kriterium für das richtige Verstehen des Gesetzes bildet.360 Eine Tat kann also nicht strafbar sein, wenn das konkrete Verhalten nicht unter einen bestimmten Straftatbestand subsumiert werden kann.361 Die systematische Rekonstruktion des geltenden Rechts durch die Begriffsbildung soll gerade dabei helfen.362 Die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen Auslegung und analoger Anwendung spiegelt sich in der richterlichen Praxis wider.363 Beispielsweise der BGH hat sich in einigen Fällen ausdrücklich über die Wortlautgrenze hinweggesetzt bzw. eine ausdehnende Auslegung vertreten.364 Der Fall zu den Sitzblockaden illustriert genau diesen Punkt. Nach dem BGH fallen Blockadeaktionen unter den „Gewaltbegriff“ der Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 StGB.365 Trotzdem stellt dem BVerfG zufolge diese Auffassung eine gegen Art.  103 Abs.  2 GG verstoßende Auslegung dar.366 Die Interpretation des BGH wurde wegen ihrer Unbestimmtheit vom BVerfG in folgender Weise kritisiert: „In demjenigen Bereich, in dem die Gewalt lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung 354

Vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 19 ff. Ebd., § 1 Rn. 41. Dazu auch Roxin, § 5 Rn. 28. 356 Vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 71 ff. 357 Dazu ausführlich Schmitz, in: Münchener Kommentar, § 1 Rn. 70 ff. 358 Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 22. 359 Dazu ausführlich Rüthers/Höpfner, JZ 2006, 21 (22); auch Schmitz, in: Münchener Kommentar, § 1 Rn. 73. 360 Dazu ausführlich Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn.  78 ff.; siehe auch Freund, § 1 Rn. 28 ff. 361 Vgl. Rüthers/Höpfner, JZ 2006, 21 (23 ff.). 362 Vgl. Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 1 Rn. 37. 363 Siehe für eine Vielfalt an Beispielen Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 92. 364 Dazu ausführlich Roxin, § 5 Rn. 34 ff. 365 Siehe dazu BGH, Urteil vom 08.08.1969, in: BGHSt 23, 46 (53–54). 366 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.01.1995, in: BVerfGE 92, 1; dazu auch Degenhart, in: Grundgesetz Kommentar, Art.  103 Abs.  2 Rn.  70; Nolte, in: Kommentar zum Grundgesetz, Art. 103 Abs. 2 Rn. 160. 355

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auf den Genötigten nur psychischer Natur ist, wird die Strafbarkeit nicht mehr vor der Tat generell und abstrakt vom Gesetzgeber, sondern nach der Tat im konkreten Fall vom Richter aufgrund seiner Überzeugung von der Strafwürdigkeit eines Tuns bestimmt“.367 In Bezug auf diese Probleme betonen Hassemer und Kargl zu Recht, dass die Neigung zu wortlautferner Gesetzesinterpretation mit der Intensität des sozialen Wandels korreliert.368 Fälle wie dieser zeigen das Verhältnis zwischen dem Rückwirkungsverbot, dem Bestimmtheitsgebot und dem Analogieverbot. Dies erlaubt es auch, die Rolle der Strafrechtsdogmatik im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip zu präzisieren. Die (rückwirkende) Anwendung einer Norm auf Ereignisse der Vergangenheit kann nicht ohne relativ klare Strafvorschriften und kontrollierbare richterliche Entscheidungen vermieden werden. Deshalb wirkt die systematische Bearbeitung von Begriffen zur Rekonstruktion des geltenden Rechts, also die Strafrechtsdogmatik, als eine Art Sicherung des Gesetzlichkeitsprinzips außerhalb der formellen Rechtsquellen.369 Ein Begriffssystem als Ausgangspunkt zur Interpretation der Rechtsordnung ermöglicht das Verständnis des Rechts, insbesondere des Strafrechts, auch als ein System. Die Auffassung von Jakobs ist insofern aufschlussreich: „[W]enn die strafrechtlichen Normen nicht willkürlich sein sollen, müssen sie miteinander verbunden sein und in diesem Sinn ein System bilden“.370 Deshalb seien alle Komponenten bzw. Tatbestandsmerkmale einer Norm wie „Knoten eines Netzes“ zu betrachten.371 Der Sinn jedes Rechtsbegriffs ergebe sich dann aus dem System, in dem er sich befinde.372 Die konkrete Lösung eines Falls müsse insofern ohne Schaden für das System generalisierbar sein. Demnach müsse die Lösung auch für zukünftige Fälle gelten und die Kohärenz des Systems erhalten.373 Dieses zusammenhängende Netz von Begriffen diene folglich als Zulässigkeitsmaßstab der Begründung von richterlichen Entscheidungen.374 Auch Hassemer und Kargl heben dies hervor, indem sie behaupten, dass die Rechtsdogmatik die Kluft zwischen der Konkretisierung des Gesetzes und der Verallgemeinerung der Fälle überbrücken solle.375 Gerade in diesem Sinne solle die Strafrechtsdogmatik das Gesetzlichkeitsprinzip sichern.

367

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.01.1995, in: BVerfGE 92, 1 (18). Vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 93. 369 Ebd., § 1 Rn. 102 ff. 370 Dazu ausführlich Jakobs, 4. Abschnitt Rn. 38. 371 Ebd. 372 Ebd.; zur Rolle der Begriffe im Recht siehe Puppe, S. 22. 373 Vgl. Jakobs, 4. Abschnitt Rn.  38; zur Kritik des systematischen Denkens siehe Puppe, S. 205 ff. 374 Vgl. Jakobs, 4. Abschnitt Rn. 38; zur Bedeutung des Systemzusammenhangs für die Gesetzauslegung siehe Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, § 1 Rn. 39. 375 Vgl. Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 103. 368

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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5. Mauerschützenfälle, Rückwirkungsverbot und materielle Gerechtigkeit Das Rückwirkungsverbot ist im deutschen Strafrecht im Prinzip als eine absolute verfassungsrechtliche Garantie begriffen worden.376 Diese strenge Auffassung ist allerdings relativiert worden, vor allem in Fällen von massenhaften Menschenrechtsverletzungen. Die deutschen Gerichte haben in solchen Fällen auf „naturrechtliche“ Erwägungen zurückgegriffen, um eine „gerechte“ Entscheidung zu begründen, wie z. B. in den sog. Mauerschützenfällen. In Bezug auf dieses Thema werden hier nur einige Argumente bzgl. des Rückwirkungsverbots näher betrachtet, sofern sie für diese Arbeit relevant sind. Konkretere Probleme im Hinblick auf die strafrechtliche Verantwortung, wie die Diskussion über die mittelbare Täterschaft oder den Verbotsirrtum, werden hier nicht thematisiert.377 Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde diskutiert, ob die Grenz­ soldaten der ehemaligen DDR und die politisch Verantwortlichen wegen des Schusswaffeneinsatzes gegen Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze verurteilt werden können. Nach der Rechtsordnung der DDR war der Schusswaffengebrauch zur Verhinderung illegaler Grenzübertritte unter bestimmten Umständen gerechtfertigt.378 Ausgangspunkt der Debatte war die Frage nach der Auslegung des DDR-Rechts. Zwei gegensätzliche Positionen wurden hierbei vertreten. Die erste Ansicht ging davon aus, dass der Gebrauch von Waffen tatsächlich durch einige Normen gerechtfertigt gewesen sei, nämlich § 17 Abs. 2 des Volkspolizeigesetzes (VoPoG) vom 11.06.1968 und § 27 des Grenzgesetzes (GrenzG) vom 25.03.1982.379 Die Verteidiger dieser Auffassung führten an, dass die Schützen durch Befehle und öffentliche Reden zu den Taten veranlasst worden seien und sogar Geldprämien erhalten hätten.380 Deshalb sei eine Bestrafung nach der DDR-Rechtsordnung nicht zu erwarten gewesen, und gerade aus diesem Grund stelle die nachträgliche Verurteilung einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG dar.381 Die zweite Position stützte sich darauf, dass das Recht der DDR sowohl verfassungsrechtliche Bestimmungen, wie z. B. Art. 30 Abs. 2 Satz 2 DDR-Verfassung, als auch gesetzliche Vorschriften, wie § 16 Abs. 2 und § 17 Abs. 1, 4 VoPoG sowie § 26 Abs  2 und § 27 Abs. 1 GrenzG, enthielt, die eine an „Menschenrechten orientierte Auslegung“ des Rechtfertigungsgrunds vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips erlauben würden.382 Nach dieser Auffassung musste der vom DDR-Recht 376

Vgl. Nolte, in: Kommentar zum Grundgesetz, Art. 103 Abs. 2 GG Rn. 117. Hierzu zählt beispielsweise die Notwendigkeit des Unterschieds zwischen der Verurteilung von Vorgesetzten und Grenzsoldaten, dazu „Concurring opinion of judge Loucaides“, in EGMR, K.-H. W. v. Germany, 2001, S. 38 ff. 378 Vgl. Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 447. 379 Dazu ausführlich Buchner, S. 66 ff.; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 24.10.1996, in: BVerfGE 95, 96 (97 ff.). 380 Vgl. Biermann, S. 76; dazu auch Werle, NJW 2001, 3001 (3004). 381 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.10.1996, in: BVerfGE 95, 96 (121). 382 Vgl. BGH, Urteil vom 03.11.1992, in: BGHSt 39, 1 (23–26); 40, 241 (249–251). 377

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

zur Verfügung gestellte Rechtfertigungsgrund einschränkend ausgelegt werden. Somit sei die Tötung unbewaffneter Flüchtlinge auch nach DDR-Recht rechtswidrig gewesen.383 Sowohl das Landgericht Berlin als auch der BGH und das BVerfG nahmen eine Strafbarkeit in diesen Fällen an. Ein Beispiel ist das Urteil des Berliner Landgerichts vom 20.01.1992, in dem die Regelung der DDR zum Grenzübertritt, z. B. § 213 DDR-StGB, als Verstoß gegen fundamentale Grundsätze des Rechts und der Menschlichkeit gekennzeichnet wurde.384 Auch der BGH griff auf solche Begründungen zurück. Das Gericht argumentierte hierbei auf zwei Ebenen:385 Einerseits verteidigte es die bereits genannte an „Menschenrechten orientierte Auslegung“ des DDR-Rechts. Andererseits stellte es die Gültigkeit des in § 27 Abs. 2 GrenzG geregelten Rechtfertigungsgrundes, „wie er sich in der Staatspraxis darstellte“,386 in Frage. Der BGH griff dafür auf die sog. Radbruch’sche Formel zurück, wie sie in Bezug auf NS-Verbrechen angewendet wird, und behauptete: „[Der Recht­ fertigungsgrund] könne vielmehr nur dann wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck komme“.387 Die Radbruch’sche Formel wurde vom BGH im Lichte des Völkerrechts konkretisiert.388 Es diente somit als Prüfungsmaßstab, insbesondere der IPBPR vom 19.12.1966, der für beide deutschen Staaten am 23.03.1976 in Kraft getreten war.389 Als Schlussfolgerung betonte der BGH im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG, dass der Anwendungsbereich des Rückwirkungsverbots nicht die Erwartung umfasse, dass die menschenrechtswidrige Auslegung eines Rechtfertigungsgrunds in Zukunft erhalten bleiben werde.390 Auch das BVerfG sah keine Verletzung des Rückwirkungsverbots in den sog. Mauerschützenfällen. Das zentrale Argument dafür bot die Gegenüberstellung des 383

Vgl. BGH, Urteil vom 26.07.1994, in: BGHSt 40, 241 (249–251). Dazu ausführlich Biermann, S. 69 ff. 385 Ebd., S. 87. 386 Vgl. BGH, Urteil vom 03.11.1992, in: BGHSt 39, 1 (15). 387 Der BGH erklärte: „Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit muß so unerträglich sein, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat (Radbruch, SJZ 1946, 105, 107). Mit diesen Formulierungen (vgl. auch BVerfGE 3, 225 [232]; 6, 132 [198 f.]) ist nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft versucht worden, schwerste Rechtsverletzungen zu kennzeichnen. Die Übertragung dieser Gesichtspunkte auf den vorliegenden Fall ist nicht einfach, weil die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden kann. Gleichwohl bleibt die damals gewonnene Einsicht gültig“, BGH, Urteil vom 03.11.1992, in: BGHSt 39, 1 (15–16); siehe auch BGH, Urteil vom 26.07.1994, in: BGHSt 40, 241 (244); für die Radbruch’sche Formel siehe Radbruch, Süddt. JZ 1946, 105; in Bezug auf die NS-Verbrechen, das Völkerrecht und das Rückwirkungsverbot siehe Werle, NJW 2001, 3001 (3002 ff.). 388 Zur Radbruch’schen Formel siehe unten, drittes Kapitel, B. III. 1. 389 Vgl. BGH, Urteil vom 03.11.1992, in: BGHSt 39, 1 (16–17); 40, 241 (244); dazu ausführlich Buchner, S. 112 ff. 390 Vgl. BGH, Urteil vom 26.07.1994, in: BGHSt 40, 241 (250). 384

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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Rückwirkungsverbots und der Forderung nach materieller Gerechtigkeit als Gehalt des Rechtsstaatsprinzips.391 In diesem Zusammenhang bestätigte das BVerfG die besondere Vertrauensgrundlage gegenüber einer nachprüfbaren Ausübung des Strafrechts als rechtsstaatliche Grundlage eines strikten Rückwirkungsverbots.392 Es wurde jedoch auch festgelegt, dass das Rückwirkungsverbot nur gelte, wenn die Strafgesetze von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen worden seien.393 Mit dieser Behauptung lehnte das BVerfG die Anwendbarkeit des Rückwirkungsverbots in den Fällen ab, in denen das zum Zeitpunkt der Tat geltende Recht als „extremes staatliches Unrecht“ bezeichnet werden kann, wie beispielsweise menschenrechtswidrige Bestimmungen autoritärer Regime. Das BVerfG kam daher zu folgendem Schluss: „Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG muss dann zurücktreten. Anderenfalls würde die Strafrechtspflege der Bundesrepublik zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch geraten“.394 Diese Entscheidung des BVerfG wurde vom EGMR bestätigt.395 Hierbei wurde das Common-Law-Verständnis des NCSL-Prinzips angewendet und damit die Verletzung des Rückwirkungsverbots im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK verneint. Wie Ambos behauptet: „Der Gerichtshof jedenfalls billigt das common law Verständnis des Gesetzlichkeitsprinzips, er macht damit den kleinsten gemeinsamen Nenner zum europaweit gültigen Standard“.396 Diese Argumentation wurde jedoch kritisiert. Beispielsweise Dannecker zufolge darf die Unbeachtlichkeit von Erlaubnissätzen im Strafrecht nicht aus naturrechtlichen Prinzipien abgeleitet werden.397 Der Grund liege darin, dass Art. 103 Abs. 2 GG einen positivistischen Ansatz voraussetze.398 Ein Beleg dafür ergebe sich bereits aus der Tatsache, dass Deutschland Art. 7 Abs. 2 EMRK (sog. Nürnberger Klausel) nicht ratifiziere, wonach von der Völkergemeinschaft anerkannte Rechtsgrundsätze eine Strafbarkeit begründen können.399 Dieser Perspektive zufolge erfordere der positivistische Ansatz des Art. 103 GG eine systemimmanente Auslegung des DDR-Rechts, um eine unzulässige Uminterpretation des damals geltenden Rechts aus „westlicher“ Sicht zu vermeiden.400 391

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.10.1996, in: BVerfGE 95, 96 (130 ff.). Ebd. 393 Ebd. 394 Ebd.; siehe kritisch dazu Neumann, in: Transitional, S. 49–51. 395 Siehe EGMR, K.-H. W. v. Germany, 2001. 396 Ambos zufolge wird Art. 7 EMRK im Verhältnis zu Art. 103 Abs. 2 GG weniger strikt verstanden, nämlich im Hinblick auf das Analogieverbot (lex stricta) und vor allem auf die Zulässigkeit völkergewohnheitsrechtlicher Bestrafung (lex scripta). Trotzdem ist der EGMR auf Art. 7 Abs. 2 EMRK nicht eingegangen und hat den Fall nach Art. 7 Abs. 1 EMRK gelöst. Für eine kritische Bewertung der Begründung des EGMR siehe Ambos, KRITV 2003, 31 ( 41 ff.); auch Rau, NJW 2001, 3001 (3008). 397 Vgl. Dannecker, in: StGB Leipziger Kommentar, § 1 Rn. 451. 398 Ebd. 399 Ebd., § 1 Rn. 11; auch dazu Ambos, KRITV 2003, 31 (41). 400 Siehe dazu Biermann, S. 87 ff.; siehe auch Rau, NJW 2001, 3001 (3010 ff.); Herrmann, NStZ 1993, 118. 392

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Die Frage nach dem Sinn und der Legitimation der Bestrafung einer Person, die nach dem zum Zeitpunkt der Tat geltenden Recht rechtmäßig gehandelt hat, jedenfalls bleibt. Vor allem, wenn die Person zumindest gemäß der Weise, in der die in diesem Moment geltende Rechtsordnung tatsächlich ausgelegt und angewendet wurde, gehandelt hat. Es scheint ganz so, als ob die Beachtung der Eigenverantwortlichkeit des Menschen durch die vorherige Strafandrohung als Voraussetzung der Ausübung der Strafgewalt dann nicht gilt, wenn es um die Bestätigung der Geltung besonderer Werte geht, die heutzutage in den Menschenrechten verkörpert sind. Die in diesem Abschnitt erwähnten Entscheidungen zeigen insofern, dass auch die durch ein formalisiertes Strafrecht verstärkte strenge Auffassung des Rückwirkungsverbots Grenzen haben kann.401

III. Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Rückwirkungsverbots im englischen und im deutschen Strafrecht: zwei Formen der Konkretisierung des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips Die Darstellung der in dieser Untersuchung festgestellten Gemeinsamkeiten zwischen dem englischen und dem deutschen Strafrecht bzgl. der Art und Weise, in der die rückwirkende Anwendung von strafbewehrten Verboten in dem jeweiligen System gehandhabt wird, kann anhand von drei Kriterien systematisiert werden: die Regulierung dieses Phänomens durch das geschriebene Recht, die Begründung der Regulierung und die problematischen Aspekte des Rückwirkungsverbots, die in beiden Rechtsordnungen zu finden sind. In Bezug auf die Regulierung muss gesagt werden, dass ein explizites Verbot der rückwirkenden Begründung der Strafbarkeit derzeit in beiden Rechtssystemen vorliegt. Im englischen Strafrecht erhielt das Rückwirkungsverbot (prohibition of ex post facto law) 1998 eine gesetzliche Grundlage, als die EMRK durch den HRA angenommen wurde. Im deutschen Strafrecht ist das Rückwirkungsverbot sowohl in Art. 103 Abs. 2 GG als auch in § 1 StGB festgeschrieben; es hat allgemeine Geltung seit 1871. Das Verbot wird in England und in Deutschland sehr ähnlich begründet. Die diesbezügliche Argumentation umfasst vor allem zwei Stränge, die sowohl in der englischen als auch in der deutschen Fachliteratur vorgefunden werden können. Zuerst ist das an der individuellen Freiheit orientierte Argument zu nennen. Das Rückwirkungsverbot basiert auf der Idee, dass Bürger vom Staat als freie Individuen zu behandeln sind. Der Staat muss also die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen anerkennen und Bedingungen schaffen, damit die Bürger zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können. Aus diesem Grund legte das House of Lords 401

Dazu Hassemer/Kargl, in: Nomos Kommentar, § 1 Rn. 48a; vgl. auch Lüderssen, ZStW 1992, 735 (747–748, 752); zur rechtstheoretischen Dimension der Debatte über die Strafbarkeit der Mauerschützen siehe Neumann, in: Festschrift für Klaus Lüderssen, S. 109 ff.; dazu auch Haffke, in: ebd., S. 395 ff.

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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2005 in der Entscheidungen über Goldstein und Rimmington fest, dass englische Richter keine neuen offences schaffen dürfen. In diesem Kontext wird über die Prinzipien der non-retroactivity sowie der maximum certainty gesprochen. In Deutschland bildet dieser Gedanke der individuellen Freiheit den Anknüpfungspunkt zwischen dem Rückwirkungsverbot und der Gestaltung eines formalisierten Strafrechts, in dem die Rechtssicherheit als höchster Wert eine besondere Bedeutung erlangt. Das zweite Argument zur Begründung des Rückwirkungsverbots bezieht sich auf die Legitimation des staatlichen Eingriffs in die individuellen Rechte durch Strafen. Sowohl im englischen als auch im deutschen Strafrecht wird das Rückwirkungsverbot zurzeit als Gewährleistung gegen die willkürliche Strafverfolgung anerkannt. Der Staat darf nur eine Strafe verhängen, sofern die Voraussetzungen der Strafe mit hinreichender Klarheit festgelegt worden sind (fair warning). Somit müssen staatliche Eingriffe durch das Strafrecht vorhersehbar sein. Es soll also darauf vertraut werden können, dass die im Gesetz festgelegte Bewertung einer Tat nicht nachträglich zulasten des Bürgers geändert werden kann (sog. Vertrauens­ schutz). In beiden Rechtsordnungen wird somit das Rückwirkungsverbot als ein wesentliches Element zur Unterwerfung des Staates unter das Recht verstanden, in England im Rahmen der rule of law, in Deutschland als Konsequenz des Rechtsstaates. Darüber hinaus weisen beide Rechtsordnungen zwei gemeinsame Problemfälle im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot auf. Dieses scheint gewisse Grenzen zu haben in Fällen, in denen eine vorher nicht bzw. nicht explizit als Straftat klassifizierte Handlung dem Rechtsanwender zufolge eine Bestrafung verdient. Der englische Fall Smith v. Hughes und der deutsche Fall der Sitzblockade zeigen insofern, dass die Grenzen zwischen der Anwendung des gegenwärtig geltenden Rechts und der Bestrafung einer Tat, die nicht als Straftat definiert war, nicht immer eindeutig sind, unabhängig davon, ob es sich bei dem bestehenden Recht um geschriebenes Recht oder Richterrecht handelt. Problematischer wird es zudem, wenn die Fälle eine stark moralische Dimension haben und eine starke Empörung auslösen, wie etwa in England die Fälle Shaw v. DPP und R v. R, die Fragen der Sexualität behandelten, oder in Deutschland die Fälle der Mauerschützen. In diesem Kontext muss betont werden, dass im Fall R v. R sowie in den Mauerschützenfällen wichtige individuelle Rechte der Opfer verletzt wurden. Genau dieser Umstand führte in beiden Systemen zur größten Herausforderung für die Beachtung des Rück­ wirkungsverbots. Es lässt sich also festhalten, dass sowohl das englische als auch das deutsche Strafrecht zwei wichtige Probleme bei der Verwirklichung des Rückwirkungsverbots lösen müssen: einerseits die Spannung zwischen Rechtssicherheit und Anpassung der Rechtsordnung an neue soziale Bedingungen sowie andererseits die Spannung zwischen Legalität und Moral. In Bezug auf die Unterschiede muss zunächst widerholt werden, dass das Rückwirkungsverbot in beiden Rechtssystemen die gleiche Funktion erfüllt: staatliche

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Eingriffe in individuelle Rechte durch Strafen berechenbar zu machen. Allerdings unterscheiden sich die beiden Rechtsordnungen hinsichtlich des Umfangs. Das im deutschen Strafrecht vorherrschende Verständnis des Rückwirkungsverbots geht aus einem formalisierten Ansatz der Rechtsordnung hervor, der im englischen Recht nicht zu finden ist. Der Unterschied ergibt sich also aus den in den verglichenen Rechtsordnungen entwickelten Rechtsquellensystemen des Strafrechts und aus dem in diesem Kontexten jeweils anerkannten Verhältnis zwischen der richterlichen Gewalt und dem Gesetzgeber. Im englischen Strafrecht konnten bis vor Kurzem strafbewehrte Verbote nicht nur vom Gesetzgeber (statute law), sondern auch von Richtern (case law) geschaffen werden (sog. common law offences). Aufgrund dieser Möglichkeit müssen zwei besondere Konstellationen betrachtet werden, die zugleich die umstrittensten Punkte in der englischen Diskussion über das Rückwirkungsverbot verdeutlichen: Das ist zum einen der Fall, wenn zum ersten Mal eine bestimmte Handlung als Straftat deklariert wird und dies gerade durch eine richterliche Entscheidung erfolgt. Die andere Konstellation ist die Anwendung eines bereits durch case law geschaffenen Verbots. Diese letzte Fallkonstellation impliziert (im Prinzip) keine Rückwirkung, da die Strafbarkeit der Tat bei deren Begehung schon bekannt war. Allerdings ist wegen der Auslegungsbefugnisse der englischen Richter nicht immer eindeutig, wann eine richterliche Entscheidung eine neue offence schafft und wann eine bereits existierende common law offence (expansiv) ausgelegt wird. Im Gegensatz dazu wird die erste dieser beiden Fallgruppen heutzutage wegen ihres immanent rückwirkenden Effekts grundsätzlich abgelehnt. Richter haben daher im englischen Strafrecht nicht mehr die Befugnis zur Schaffung neuer strafbewehrter Verbote. Insoweit besteht also eine Annäherung zwischen beiden Rechtsordnungen. Trotzdem wird es akzeptiert, dass die bereits existierenden common law offences durch case law entwickelt bzw. erweitert werden. Dies kann jedenfalls eine unerwartete (rückwirkende) Bestrafung einer Tat zur Folge haben. Im deutschen Strafrecht ist die richterliche Festlegung der Strafbarkeit einer Tat ohne die vorherige abstrakte Entscheidung des Gesetzgebers nicht erlaubt. Das geschriebene Recht bildet den einzigen Weg, um festzulegen, dass ein bestimmtes Verhalten eine Straftat darstellt. Ferner liegt ein verfassungsrechtliches Gebot vor, nach dem Richter immer innerhalb des vom Gesetzgeber durch die Festsetzung der Straftatbestände bestimmten Rahmens entscheiden müssen. Infolgedessen ist die richterliche Entwicklung bzw. Erweiterung eines Straftatbestands ausgeschlossen. Das Rückwirkungsverbot wird also im deutschen Recht im Rahmen des Gesetzlichkeitsprinzips und im Zusammenhang mit der Gesetzesbindung verstanden. Demnach sind Richter dem Gesetz strikt unterworfen. Deshalb wird das Rückwirkungsverbot im deutschen Recht zusammen mit dem Analogieverbot, dem Bestimmtheitsgebot und dem Verbot des strafbegründenden Gewohnheitsrechts als Element des Gesetzlichkeitsprinzips gesehen. Im englischen Strafrecht wird das Rückwirkungsverbot hingegen als Konsequenz des principle of legality begriffen, aber nicht unbedingt im Sinne der Gesetzesbindung der Richter.

B. Rückwirkungsverbot im englischen und im deutschen Strafrecht 

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Die Gesetzesbindung hat aber auch Grenzen, die sich aus der Formulierung und anschließenden Auslegung des geschriebenen Rechts ergeben. Gerade hier zeigt sich die Bedeutung der Strafrechtsdogmatik als Produkt der Strafrechtswissenschaft. Sie soll zur Schaffung von Rechtssicherheit beitragen und insoweit das Gesetzlichkeitsprinzip ergänzen. Im Bereich des allgemeinen Teiles des Strafrechts ist der Richter zwar dem Gesetz unterworfen. Aber das Recht, das er diesbezüglich anwendet, ist größtenteils eine dogmatische Konstruktion. Im Rahmen des besonderen Teils ist der Richter ebenfalls an das Gesetz gebunden. Es ist ihm allerdings gestattet, „erweiternde“ Auslegungen vorzunehmen, sofern er das Gesetzesziel verfolgt und sich innerhalb des systematischen Zusammenhangs der Gesetze bewegt, was dogmatisch nachprüfbar sein muss. Die Auslegung des Rechts im englischen Kontext führt zweifelsohne auch zu Problemen. Insofern wurde hier bereits auf die Spannungen zwischen Rechtssicherheit und der Anpassung des Rechts als gemeinsames Problem beider Rechtsordnungen hingewiesen. Aber die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft bzw. der Strafrechtsdogmatik als Antwort zur Stärkung der Rechtssicherheit angesichts dieser Schwierigkeiten und zur Hervorhebung ihrer Bedeutung bildet eine Besonderheit des deutschen Strafrechts. Die Ablehnung von Willkür bedeutet im englischen Strafrecht nicht zwingend die strikte Unterwerfung der Richter unter das geschriebene Recht. Die Stellung der Richter im Rechtsquellensystem hat vielmehr die Entwicklung von Lehren erlaubt, die eine rückwirkende Anwendung neuer Kriterien auf Ereignisse der Vergangenheit zur Folge haben, wie z. B. die „Lehre des dünnen Eises“ (thin ice principle) oder die sog. policy of social defence. Deswegen haben das Rückwirkungsverbot und damit das NCSL-Prinzip in beiden Rechtsordnungen nicht den gleichen Umfang. Im englischen Strafrecht ist es also möglich, aufgrund der Stellung der Richter im Rechtsquellensystem von einer eingeschränkten bzw. „flexiblen“ Konzeption zu sprechen, während im deutschen Strafrecht wegen des Grundsatzes der Gesetzesbindung ein strengerer Ansatz gilt. Diese Unterschiede führen auch zu verschiedenen Einschätzungen der Rechtssicherheit in beiden Rechtsordnungen. Im englischen Strafrecht ist es einfacher anzuerkennen, dass die Gewissheit in der Rechtsordnung bzw. die Rechtssicherheit Grenzen hat, dass eine gewisse Flexibilität des Rechts nicht nur notwendig, sondern auch unvermeidbar ist, dass die Rechtssicherheit als Wert mit anderen Werten kollidieren kann und dass diese Umstände mit der Art und Weise, in der das NCSL-Prinzip umgesetzt wird, verbunden sind.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

C. Das Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen: Entwicklung des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips in zwei Kontexten Nachdem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des englischen und deutschen Strafrechts in Bezug auf die rückwirkende Anwendung von strafbewehrten Verboten ermittelt und unterschiedliche Verständnisse des NCSL-Prinzips in den verglichenen Rechtsordnungen festgestellt wurden, wonach im englischen Strafrecht ein flexibles Verständnis und im deutschen Strafrecht ein striktes Verständnis besteht, sollen nunmehr die möglichen Gründe hierfür eruiert werden.402 Dies erfolgt mittels der Betrachtung einiger historischer Prozesse und Überlegungen, die die in jeder Rechtsordnung herrschenden Auffassungen über das NCSLPrinzip beeinflusst haben. Dafür können das von Glenn formulierte Konzept der Tradition als Information, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart überliefert wird („voices coming from the past“), und der von Merryman vorgeschlagene Begriff der Rechtstradition herangezogen werden, wonach eine Rechtstradition aus verschiedenen Elementen besteht, wie beispielsweise den tief verwurzelten und historisch bedingten Einstellungen über das Wesen des Rechts, den herrschenden Meinungen über die Rolle der Rechtsordnung und aus den einflussreichsten Gedanken über die richtige Gestaltung und Funktionalität des Rechtssystems.

I. Das Rückwirkungsverbot und die englische Rechtstradition Wie bereits dargelegt, besteht im englischen Strafrecht erst seit 1998 eine explizite Vorschrift, in der das Rückwirkungsverbot festgeschrieben ist, nämlich der HRA 1998. Die Geltung des Rückwirkungsverbots in Bezug auf die Gesetzgebung, d. h. im Bereich der statutory construction, hat keine nennenswerten Debatten ausgelöst. In diesem Kontext ist generell anerkannt, dass das Erlassen von Normen mit rückwirkendem Effekt gegen das NCSL-Prinzip verstoße und ungerecht sei. Allerdings ist hervorzuheben, dass im englischen Strafrecht auch in Bezug auf Richter und ihrer Entscheidungen über Rückwirkung diskutiert wird, wenngleich der Umfang des Rückwirkungsverbots im Kontext des Richterrechts nicht ganz eindeutig ist. Obwohl vom House of Lords im Jahr 2005 festgelegt wurde, dass neue offences nur durch das statute law geschaffen werden können, besteht immer noch die Möglichkeit, die bereits vorliegenden offences durch die Rechtsprechung weiter zu entwickeln und auszuweiten,403 was einen rückwirkenden Effekt haben kann. Dies ist jedoch im Allgemeinen akzeptiert und wird nicht als Verletzung des NCSL-Prinzips begriffen. 402

Vgl. Kischel, § 3 Rn. 237: „Zentral für die rechtsvergleichende Studie ist vielmehr die Erläuterung und Bewertung [der] Gemeinsamkeiten und vor allem Unterschiede, also die Antwort auf die Frage nach dem Warum“. 403 Siehe dazu Goldstein and Rimmington, 2005, UKHL 63.

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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Der Unterschied zwischen der Bewertung der Rückwirkung im Rahmen der Gesetzgebung und des Richterrechts lässt sich durch die Betrachtung historischer Aspekte erklären. In diesem Abschnitt wird dargelegt, dass in der historischen Entwicklung des englischen Strafrechts die Ablehnung der rückwirkenden Kriminalisierung im Hinblick auf die statutory construction stärker ausgeprägt ist als in Bezug auf das Common Law.404 Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass in der englischen Rechtstradition Richter eine wesentliche Rolle bei der Vereinheitlichung des Rechts gespielt haben. Außerdem sind das englische Recht im Allgemeinen und das englische Strafrecht im Besonderen von nicht formalen Auffassungen geprägt worden, wobei eine relativ flexible Weise zur Kontrolle der richterlichen Gewalt entwickelt worden ist, nämlich die doctrine of precedent. 1. Die Entwicklung des Common Law durch Richter im 12. Jahrhundert Ein grundsätzliches Merkmal des englischen Rechts ist es, dass die richterliche Gewalt nicht zwingend mit Rechtsunsicherheit assoziiert wird.405 Ganz im Gegenteil haben Richter in der englischen Rechtstradition nicht nur wesentlich zur Entwicklung, sondern auch zur Vereinheitlichung des Rechts beigetragen. Diese Konzeption der Rolle der Richter ist sehr tief verwurzelt und hat ihren Ursprung in der Zeit der Entstehung des Common Law im 12. Jahrhundert.406 Nach dem normannischen Eroberungszug im Jahr 1066 begann in England ein Zentralisierungsprozess bzgl. der politischen Macht, der zur Stärkung der Position des Monarchen führte.407 In diesem Zusammenhang kam die Notwendigkeit eines einheitlichen, zentralen Rechts auf, wozu Richter, als Vertreter des Monarchen, wesentlich beitrugen.408 Aus diesem Grund ist das Common Law vor allem aus dem Richterrecht hervorgegangen.409 Um diesen Prozess verstehen zu können, müssen einige historische Fakten berücksichtigt werden. Die Entstehung des Common Law wird nach herrschender Meinung ins 12.  Jahrhundert in die Zeit der Herrschaft von Heinrich II. (1154–1189) datiert.410 Er führte mehrere Reformen 404

Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 42. Dazu ausführlich Merryman/Pérez-Perdomo, S. 16, 17. 406 Dazu ausführlich van Caenegem, S. 1 ff. 407 Vgl. Darbyshire, S. 193–194. 408 Vgl. von Bernstorff, S. 2–4. 409 Vgl. Darbyshire, S. 195–196. 410 Dazu ausführlich Baker, John, S. 13; der Entstehungsprozess des Common Law fing jedoch bereits im 11. Jahrhundert mit der Ankunft der Normannen an, Glenn, Legal Traditions, S. 237; es ist wichtig zu betonen, dass, auch wenn die Entstehung des Common Law einige Besonderheiten aufweist, sie in einem breiteren Kontext stattgefunden hat, in dem gewisse politische und rechtliche Reformen nicht nur in England, sondern in ganz Europa durchgeführt wurden, Glenn, Legal Traditions, S. 239; siehe dazu auch Pound, The Spirit, S. 16 und Berman, S. 438 ff. 405

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

durch, mit denen er u. a. versuchte, bereits existierende Maßnahmen aufzugreifen und zu verbessern.411 Die Herrschaft Heinrichs II. fiel ferner in einen Zeitraum tiefgreifender sozialer Veränderungen, die 1066 begonnen hatten.412 Der normannische Eroberungszug veränderte die soziale Struktur Englands stark. Die angelsächsische Aristokratie wurde beispielsweise durch die neuen normannischen Lehnsherren ersetzt.413 Darüber hinaus führte die neue herrschende normannische Minorität gewisse Werte, Regeln und sogar eine Sprache ein, die sich mit den ursprünglichen Sitten und Gebräuchen der angelsächsischen Majorität vermischten.414 Die Normannen versuchten allerdings nicht alles, was sie in England vorfanden, zu zerstören bzw. zu ersetzen.415 Ein national organisiertes Königtum existierte schon 1066, und es wurde von den Normannen genutzt, um die eigene Herrschaft zu festigen.416 Diese zentrale Macht wurde mithilfe des von den Normannen eingesetzten Feudalismus verstärkt,417 d. h. durch eine zentralisierte Hierarchie, in der beispielsweise Ritter als Gegenleistung für ihren Militärdienst für den König die Herrschaft, nicht aber notwendigerweise das Eigentum, über ein Lehnsgut vom König erhielten.418 Barone, Bischöfe und Äbte huldigten dem König, wodurch sich beide Parteien gegenseitig Vertrauen und Schutz zusicherten.419 Der Lehnsherr hatte somit Verwaltungs- und Richterbefugnisse bzgl. seines Lehensguts; aber die höchste Autorität blieb der König.420 Dieser gesellschaftliche Veränderungsprozess hatte einen hohen Grad an Ungewissheit hinsichtlich des geltenden Rechts zur Folge.421 Die Koexistenz von zwei „verschiedenen“ Völkern, die jeweils eigene Sitten und ungeschriebene Normen hatten, erwies sich als Rückschlag für die Einheit des Rechts.422 Das alte englische Gewohnheitsrecht, das sich in jeder Region unterschied, und das neue Lehnsrecht standen nebeneinander. Darüber hinaus existierten parallel verschiedene Gerichte, deren Zuständigkeit sich nach der Herkunft der betroffenen Personen richtete, wie z. B. die borough courts für Engländer und die borough courts für „Frenchmen“.423 Eine relative Stabilität wurde unter Heinrich I. (1100–1135) erreicht.424 Als er verstarb, begann eine Zeit der Unruhen und der politischen In 411

Vgl. Hudson, S. 19–20; siehe auch van Caenegem, S. 13 ff. Vgl. van Caenegem, S. 3. 413 Ebd. 414 Ebd. 415 Ebd., S. 8 ff.; siehe auch Lyon, S. 136. 416 Vgl. van Caenegem, S. 9–10; Hudson, S. 19 ff.; Baker, John, S. 12. 417 Vgl. Lyon, S. 127 ff. 418 Ebd. 419 Ebd., siehe auch van Caenegem, S. 6. 420 Dazu ausführlich Lyon, S. 130 ff. 421 Vgl. van Caenegem, S. 12. 422 Ebd. 423 Ebd. 424 Zur „Anarchie“ zwischen 1135 und 1154 siehe Lyon, S. 123 ff. 412

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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stabilität, die erst mit der Krönung Heinrichs II. 1154 und damit 20 Jahre später ihr Ende fand.425 Dies ist der Hintergrund, vor dem sich das Common Law entwickelte. Diese Umstände führten zur Errichtung gewisser Gerichte, die sich aus der curia regis, einer Versammlung von Kronvasallen und Klerikern zur Beratung des Königs in rechtlichen Themen, zusammensetzten426 und allmählich den Aufbau einer zentralisierten Rechtspflege ermöglichten. Zu diesen Gerichten zählten the Common Bench, the Bench coram rege, the Exchequer und the justices in eyre.427 The Common Bench hatte einen festen Sitzungsort in Westminster, und die Anwesenheit des Königs war für ihre Sitzungen nicht erforderlich.428 Dieses Gericht begann seine Tätigkeit unter Heinrich II. Im Unterschied dazu hatte The Bench coram rege keinen festen Sitz und folgte dem König durch das Land.429 Im Prinzip bestand kein Unterschied hinsichtlich der Zuständigkeit zwischen beiden Gerichten. Es handelte sich bei ihnen nur um zwei verschiedene Arten zur Ausübung der Königsgerechtigkeit.430 The Common Bench spezialisierte und professionalisierte sich allerdings allmählich während der Zeit Heinrichs II., wohingegen the Bench coram rege eine königsnahe Institution blieb, die sich mit Problemen beschäftigte, die für den König besonders bedeutend waren.431 The Exchequer war hingegen eine für die Kontrolle des Einkommens des Königs zuständige Institution.432 Sie hatte sowohl Verwaltungsbefugnisse zur Steuererhebung als auch richterliche Funktionen zur Sicherung eines zentralen Finanzsystems.433 Ein wichtiges Phänomen während der Herrschaft Heinrichs I. war die Delegation richterlicher Befugnisse an Richter, die in den Grafschaften (counties) Sitzungen abhielten. Dies erfolgte zunächst durch das Ernennen von lokalen Richtern (sog. local justiciars).434 Kurze Zeit später wurden sie aber durch sog. reisende Richter ersetzt (sog. justices in eyre).435 Diese Richter hatten keinen festen Arbeitsort, aber waren dennoch Mitglieder des Kronrats.436 Die Institution der sog. reisenden Richter wurde von Heinrich I. durchgehend aufrechterhalten. Zwischen 1135 und 1154 konnte sie aber wegen des Kampfes um die Krone nicht mehr ge 425

Ebd., S. 126. Zur Geschichte der curia regis und des angelsächsischen witenagemot als ihr Vorläufer siehe Lyon, S. 138 ff.; dazu auch Turner, Am. J. Legal Hist. 1977, 238 (239). 427 Vgl. van Caenegem, S. 19; Berman führt hierzu aus: „Henry II came to the throne, not only determined to replace anarchy and violence by law and order but also willing to do so through political and legal institutions“, Berman, S. 442. 428 Dazu ausführlich Baker, John, S. 18 ff. 429 Ebd. 430 Ebd. 431 Dazu ausführlich Turner, Am. J. Legal Hist. 1977, 238 (244 ff.). 432 Dazu ausführlich Lyon, S. 157 ff. 433 Vgl. Baker, John, S. 18. 434 Ebd., S. 15 ff. 435 Ebd. 436 Ebd. 426

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

nutzt werden.437 Erst 1166 wurde sie von Heinrich II. wiederhergestellt.438 Die Aufgabe der justices in eyre war insbesondere das Durchsetzen des neuen Rechts, und ihre Tätigkeiten waren eng mit der Kontrolle des Landbesitzes verknüpft.439 Ferner stellten diese Richter für den König eine Möglichkeit dar, die lokalen Regierungen zu kontrollieren,440 z. B. die sheriffs.441 Es darf nicht vergessen werden, dass die Normannen das System der sheriffs beibehielten, welches zur Zeit Heinrichs II. problematisch war, weil eine wachsende Spannung sich zwischen sheriffs und Baronen entwickelte. Zudem nahm die Macht des Königs im Gegensatz zu der der lokalen Mächte zwischen 1135 und 1154 ab.442 Die genannten richterlichen Institutionen bildeten also eine Gruppe von Gerichten und Richtern, die im Namen des Königs ein allgemeingültiges, allerdings nicht geschriebenes Recht für England, one common law, entwickelten.443 In diesem Kontext muss auch das System der writs berücksichtigt werden.444 Es handelte sich hierbei um königliche Befehle, die vom Chancellor erlassen wurden, um individuelle Streitigkeiten zu lösen. Diese hatten aber eher einen prozessualen Charakter, da sie nicht nur die Zuständigkeit der Gerichte bestimmten, sondern auch, wie das Gerichtsverfahren zu eröffnen und durchzuführen war.445 Die writs bildeten allmählich ein komplexes formelles System, das die königliche Kontrolle über die (zentralisierte) Rechtspflege ermöglichte, während die Schaffung des materiellen Rechts den Gerichten und vor allem der jury oblag.446 Gerade aus diesem Grund wird behauptet, das Common Law sei „a law of procedure“.447 Vor diesem Hintergrund ist mit Glenn zu sagen, dass „[a] common law tradition, with the judge as ist leading figure, thus emerged in the first century and a half follow­ing the Normen conquest“.448

437

Vgl. van Caenegem, S. 20; siehe auch Berman, S. 441. Vgl. Baker, John, S. 16. 439 Ebd.; siehe auch van Caenegem, S. 20. 440 Vgl. Baker, John, S. 16. 441 Dazu ausführlich Lyon, S. 166 ff. 442 Ebd. 443 Vgl. van Caenegem, S. 20; siehe Berman, S. 443: „In England […] the professionalization and systematization of this practice [the creation of a central royal bench of judges] was accomplished only under Henrry II“. 444 Siehe Glenn, Legal Traditions, S. 241–243; Berman, S. 452 ff. 445 Vgl. Glenn, Legal Traditions, S. 241–243. 446 Ebd., S.  242; das System der writs bestand bis zur Mitte des 19.  Jahrhunderts, ebd., S. 254–255. 447 Ebd., S. 242. 448 Ebd., S. 252. 438

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2. Das Rückwirkungsverbot und die Magna Charta Libertatum: Meilenstein in der Vorgeschichte des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips? Ein üblicher Ausgangspunkt für die Darstellung der (englischen) historischen Entwi­cklung des Rückwirkungsverbots ist Art. 39 der sog. Magna Charta Libertatum von 1215.449 Art.  39 der Charta bestimmt, „dass kein freier Mensch festgenommen oder inhaftiert werden darf „[…], dass niemand als ‚Gesetzlos‘ bezeichnet, verbannt oder auf irgendeine Weise mißhandelt werden darf, außer auf Grund eines Urteils von Seinesgleichen oder/und nach dem Gesetz des Landes“.450 Der genaue Sinngehalt dieser Bestimmung ist jedoch umstritten. Es ist insbesondere nicht eindeutig, ob die Bestimmung ein Verbot der rückwirkenden Anwendung des Rechts enthält.451 Deshalb ist eine nähere Betrachtung der Charta sinnvoll, um die Situation im englischen Strafrecht in Bezug auf die rückwirkende Krimina­lisierung zu verstehen. Der Sinn der Magna Charta ergibt sich aus dem politischen Kontext, in dem sie verabschiedet wurde, also aus den Spannungen zwischen dem König und den Baronen zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Diese Situation zeigt, dass die Charta vor allem auf die Begrenzung der Macht des Königs abzielte und nicht auf die Beschränkung der Zuständigkeit der Richter.452 Die Magna Charta war eine schriftliche Abmachung, die 1215 unter der Herrschaft Johanns I. (1199–1216), auch Johann „ohne Land“ genannt, unter Beteiligung der Barone, des Klerus und einiger englischer Bürger unterzeichnet wurde.453 Dies geschah aufgrund der schwierigen politischen Situation, in der sich der König befand und die durch drei Ereignisse verursacht worden war: durch den Verlust von Territorien in Westfrankreich, insbesondere den Verlust der Normandie (1204), durch die erst 1213 mit der Unterordnung des Königs endende Auseinandersetzung mit Papst Innozenz III. bzgl. der Ernennung des Erzbischofs von Canterbury und durch die aus den extrem hohen Steuerbelastungen resultierende Unzufriedenheit des Adels.454 Das alles führte zur Schwächung des Königs und zum Widerstand der Barone.455 Diese Spannung zwischen dem König und den Baronen war ein Kampf um die verlorene Macht. Es darf nicht vergessen werden, dass seit der Zeit H ­ einrichs II. gewisse Reformen zur Zentralisierung der Macht zu Lasten der territorialen Herrschaft der Barone stattfanden.456 Dieser Prozess wurde von den Baronen als Verstoß gegen die alten Traditionen des Königreiches und deshalb als Tyrannei

449

Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 27. Vgl. Kyriazis-Gouvelis, S. 28; Version auf Englisch in Turner, Magna Carta, S. 71, 72. 451 Siehe dazu Schottlaender, S. 28. 452 Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 28; Hudson, S. 220 ff. 453 Vgl. Kyriazis-Gouvelis, S. 20. 454 Siehe dazu Turner, Magna Carta, S. 30 ff. 455 Ebd. 456 Ebd., S. 46. 450

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

empfunden.457 Die unterschiedliche Behandlung rechtlicher Streitigkeiten um Landbesitz und feudale Rechte ist ein Beispiel hierfür. Die Rechtspflege war damals in zwei „Stufen“ organisiert.458 Eine Stufe bestand aus den common law courts, etwa den reisenden Richtern und dem Gericht in Westminster, die relativ unabhängig vom König waren. Die zweite Stufe stellte die sog. royal justice dar, wie z. B. the Exchequer. Hier griff der König direkt ein.459 Die common law courts waren für common pleas zuständig, d. h. für Streitigkeiten, an denen die Krone kein Interesse hatte. Deshalb konnten sich Ritter, ihre Herren und Lehnsgutbesitzer an diese Gerichte wenden.460 Für Barone war die Situation jedoch anders, insbesondere bei Streitigkeiten mit dem König selbst. Sie konnten nicht auf die „Garantien“ der common law courts zählen, wie z. B. die common law’s juries. In diesen Fällen war allein die sog. royal justice zuständig, die vor allem den Willen des Monarchen vertrat.461 Die Magna Charta war somit keine systematische Formulierung gemeinsamer bzw. genereller Rechte durch allgemeine Formulierungen.462 Sie enthielt vielmehr konkrete „Einschränkungen der königlichen Gewalt innerhalb der Feudalbeziehungen“, d. h. zugunsten freier Menschen.463 Mit dem König als Eigentümer des gesamten Landes diente die Charta der Verhinderung von Missbrauch der feuda­ len Rechte seitens des Königs und dem finanziellen Schutz des Adels, d. h. dem Schutz von Herzögen, Baronen und Grafen.464 In diesem Sinne wurden durch die Charta vor allem Sitten und Gebräuche sowie traditionelle Rechte in Bezug auf wirtschaftliche Interessen der Barone bestätigt, die vom König missachtet worden waren.465 In diesem Kontext entstand Art. 39 der Magna Charta als Anerkennung der Privilegien „freier Menschen“. Diese Privilegien umfassten die Garantie, grundsätzlich nur durch Menschen verurteilt zu werden, die zur gleichen sozialen Schicht gehörten. Demnach durften Barone gemäß Art. 39 der Charta nur durch andere Barone verurteilt werden, nicht aber durch die von der Krone ernannten Beamten von niederer sozialer Herkunft.466 Außerdem wurde durch den Ausdruck „Gesetz des Landes“ sichergestellt, dass Verurteilungen lediglich auf das bereits geltende Recht gestützt werden konnte. Aber mit „Gesetz des Landes“ waren die alten Sitten und Gebräuche des Königtums gemeint, nicht aber neue Rechte bzw.

457

Ebd.; zu verschiedenen Interpretationen der Charta im 13. Jahrhundert siehe Holt, S. 13 ff. Vgl. Turner, Magna Carta, S. 48; zur gerichtlichen Struktur im mittelalterlichen England und ihrer politischen Bedeutung siehe Capua, Am. J. Legal Hist. 1983, 54 (55). 459 Vgl. Turner, Magna Carta, S. 48. 460 Ebd. 461 Ebd. 462 Dazu ausführlich Kyriazis-Gouvelis, S. 21 ff. 463 Ebd., S. 21. 464 Ebd., S. 24 ff.; siehe dazu auch Holt, S. 77 ff. 465 Die Bestimmungen über das Erbrecht, das Familienrecht, die Erhebung von Steuern und über den Handel erlauben dies zu behaupten; dazu ausführlich Kyriazis-Gouvelis, S. 38 ff. 466 Dazu ausführlich Turner, Magna Carta, S. 72. 458

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Freiheiten.467 Die Magna Charta enthielt daher in Art. 39 keine explizite Bestimmung über die nachträgliche Änderung des Rechts; sie diente nicht unmittelbar der Beschränkung der Befugnisse der Gerichte; sie legte auch keinen Vorrang zwischen den Rechtsquellen fest.468 Allerdings enthielt sie den Gedanken der Rechtsbindung bei der Machtausübung,469 der für die spätere Entwicklung des NCSLPrinzips im englischen Strafrecht von Bedeutung war. 3. Coke, Hobbes und das Rückwirkungsverbot Die rückwirkende Anwendung strafbewehrter Verbote wurde in England bereits während des 16.  und des 17.  Jahrhunderts diskutiert. Zwei der einflussreichsten rechtlichen und politischen Theoretiker dieser Zeit, Sir Edward Coke (1552–1634) und Thomas Hobbes (1588–1679), beschäftigten sich damals mit diesem Problem. In seinem Werk „The Second Part of the Institutes of the Laws of England“ behauptete Coke, dass jede neue Rechtsnorm nur zukünftige Fälle regeln dürfe.470 Einige Jahre später schrieb Hobbes im „Leviathan“ bzgl. der „Strafen und Belohnungen“: „[E]ine Schädigung, die wegen einer Tat zugefügt ist, die vor dem Erlaß eines diese Tat verbietenden Gesetzes begangen worden war, ist keine Strafe, sondern ein feindlicher Akt“.471 Diese Vorstellungen über die Rückwirkung ergeben sich jedoch aus verschiedenen Konzeptionen der Legalität. Die rechtlichen und politischen Gedanken von Coke entsprachen keiner formalisierten Perspektive des Rechts. Deswegen waren seine Überlegungen bzgl. der Rückwirkung begrenzt. Er griff vielmehr auf die Tradition des Common Law und dadurch auf das Gewohnheitsrecht zurück,472 während Hobbes eine rationalistische Auffassung vertrat.473 Das 16.  Jahnhundert war in Europa durch tiefe geistige Veränderungen geprägt.474 Die wissenschaftliche Entwicklung475 sowie die Reformation und ihre politischen Auswirkungen führten zu einer Reihe neuer Ideen,476 die „die Entzauberung der Welt zur Folge hatten“.477 Die in diesem Zusammenhang entstehende 467

Ebd.; siehe dazu auch Holt, S. 80. Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 28–29. 469 Vgl. Turner, Magna Carta, S. 73. 470 Dazu Juratowitch, Retroactivity, S.  29.; auch Smead, Minn.  L.  Rev. 1935–1936, 775 (776). 471 Vgl. Hobbes, S. 239. 472 Dazu ausführlich Plucknett, S. 48 ff. 473 Dazu ausführlich Schlosser, S. 170 ff. 474 Siehe dazu Plucknett, S. 39. 475 Vgl. Schlosser, S. 145 ff. 476 Vgl. Plucknett, S. 41 ff. 477 Vgl. Schlosser, S. 145; die Metapher der „Entzauberung der Welt“ als Definition des Intellektualisierungs- und Rationalisierungsprozesses wurde auch von Max Weber eingeführt, vgl. Weber, S. 19. 468

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Problematisierung der Autorität der katholischen Kirche führte zugleich in England zur Frage nach der Legitimation der staatlichen Autorität478 und zur Diskussion über die Grenzen der königlichen Macht sowie über deren Verhältnis zum Parlament.479 Zu dieser Zeit regierte das Haus Tudor (1485–1603), eine Dynastie, bei der sich die Macht des Staates mit einer beachtlichen Tendenz zum Absolutismus entwickelte.480 Hier sind zwei wichtige Umstände in Bezug auf die Rechtspflege zu erwähnen, um die Auffassung von Coke in ihrem historischen Kontext zu begreifen. Diese zwei Aspekte sind zum einen die Rolle des Court of Star Chamber seit der Herrschaft Heinrichs VIII. (1509–1547) und zum anderen die Einrichtung neuer Gerichte zu dieser Zeit.481 Der König übte damals eine große und evidente Macht über die Tribunale aus, was allmählich eine starke Ablehnung hervorrief.482 Der Fall des Court of Star Chamber veranschaulicht dies. Obwohl das Gericht wesentlich zur Entwicklung des englischen Strafrechts beitrug,483 wurde es seit der Zeit Heinrichs VIII. zur Bekämpfung politischer Gegner der Monarchie instrumentalisiert.484 Die Entscheidungen des Court of Star Chamber wurden daher als Zeichen der Macht bzw. des Vorrangs des Monarchen empfunden. Deswegen wurde das Gericht 1641 durch das „Lange Parlament“ aufgrund des Vorwurfs des Autoritarismus abgeschafft.485 Die Kontrolle des Königs über Richter wurde auch durch die Einrichtung von Sondergerichten für besondere Angelegenheiten verstärkt, wie es beispielsweise durch den Act of Proclamation 1539 geschah.486 Gemäß diesem statute durfte der König unter bestimmten Bedingungen gewisse Regelungen erlassen, die den gleichen Rang wie die Vorschriften des Parlaments hatten, und die zuständigen Gerichte für den Verstoß gegen solche Normen einrichten.487 Diese Gerichtshöfe sowie der Court of Star Chamber arbeiteten parallel zu den common law courts.488 Vor diesem Hintergrund fand im frühen 17. Jahrhundert unter der Herrschaft der Stuarts ein Konflikt zwischen der Krone und dem Parlament statt. Sir ­Edward Coke agierte dabei als Richter sowohl am Court of Common Pleas als auch am Court of King’s Bench und später als Mitglied des Parlaments.489 Während der 478

Vgl. Plucknett, S. 41. Ebd., S. 49. 480 Vgl. Curzon, S. 33. 481 Ebd., S. 33–34. 482 Vgl. Vande-Zande, Am. J. Legal Hist. 2008–2010, 326 (334). 483 Dazu ausführlich Holdsworth, A History, Vol. V, S. 155 ff. 484 Vgl. Vande-Zande, Am. J. Legal Hist. 2008–2010, 326. 485 Ebd., S. 342 ff. 486 Vgl. Curzon, S. 35. 487 Siehe dazu Plucknett, S. 45. 488 Vgl. Vande-Zande, Am. J. Legal Hist. 2008–2010, 326 (331); diesbezüglich behauptete Pound: „A valiant fight against this movement for administrative absolutism was waged by the common-law courts, and in the end the older law prevailed“, Pound, The Spirit, S. 73. 489 Dazu ausführlich Holdsworth, A History, Vol. V, S. 425 ff. 479

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Herrschaft Jakobs I. (1603–1625) wurde das Parlament zweimal aufgelöst, und einige seiner Mitglieder wurden wegen ihrer oppositionellen Haltung gegenüber dem König verhaftet.490 Die sich in diesem Zusammenhang stellende Frage war, wer nun der Träger der Souveränität im Königreich sein sollte.491 Hier standen sich zwei Positionen gegenüber: Einerseits die Vertreter der göttlichen Autorität des Königs, wonach der König als Verkörperung der Staatsgewalt die vollständige Macht über das Recht habe, weshalb er es auch nach seinem Willen festsetzen könne.492 Dem standen diejenigen gegenüber, die für den Vorrang des „traditionellen“ Common Law plädierten.493 Diese Meinung beruhte auf einer historischen Perspektive als Grundlage des Primats des Rechts über den König.494 Es ging um eine für diese Zeit „moderne“ Auslegung einer mittelalterlichen Doktrin, dessen wichtigster Vertreter Sir Edward Coke war.495 Coke bezog sich als Verteidiger des Common Law gegen den Autoritarismus der Monarchie und ihrer Gerichte u. a. auf die Arbeit von Bracton (1210–1268),496 auf die Magna Charta und auf den historischen Ursprung des Parlaments.497 Aus diesem Grund wurde er von Pound als „the champion of the common law in the contest with the Stuarts“ bezeichnet.498 Es war im Rahmen dieser Debatte, dass er über die rückwirkende Anwendung des Rechts sprach.499 Allerdings muss auch betont werden, dass Coke kein Gegner des judicial law making war. Denn er kritisierte nicht seinen rückwirkenden Effekt. Coke propagierte vielmehr ein auf Tradition und nicht auf dem Willen des Königs basierendes Verständnis von Legalität und damit die Unabhängigkeit der common law courts.500 Aus diesem Grund beschränkte er seine Ausführungen zum Rückwirkungsverbot auf das geschriebene Recht bzw. auf das sog. statute law.501 Es muss ferner betont werden, dass der Streit, der sich im 17. Jahrhundert zwischen der Monarchie einerseits und dem Parlament und den common law courts andererseits zutrug und in dem Coke als Richter intervenierte, die Entwicklung des Verständnisses der Richter als Wächter

490

Vgl. Curzon, S. 37–38. Ebd. 492 Dazu ausführlich Holdsworth, A History, Vol. VI, S. 274 ff. 493 Ebd., S. 281 ff. 494 Vgl. Plucknett, S. 49. 495 Ebd.; siehe auch Pound, Interpretations, S. 8 („he seeks to make out the case of the common-law courts against the Stuart kings by setting forth the immemorial common-law rights of Englishmen“). 496 Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 29. 497 Zu den Beiträgen von Coke und der Wiederentdeckung der mittelalterlichen Vergangenheit als „Waffe“ gegen das Haus Stuart siehe Turner, Magna Carta, S. 145 ff. 498 Siehe Pound, The Spirit, S. 74. 499 Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 29. 500 Vgl. Vande-Zande, Am. J. Legal Hist. 2008–2010, 326 (334); auch Plucknett, S. 50–51. 501 Vgl. Smead, Minn. L. Rev. 1935–1936, 775 (777); siehe auch Juratowitch, Retroactivity, S. 37. 491

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des Primats des Rechts und damit der rule of law502 gegenüber dem König bzw. der Königin förderte. Gerade in diesem Sinne beschreibt Pounds die Doktrin des Primats des Rechts: „It became a doctrine that it was the function of the common law and of common-law courts to stand between the individual and oppressive action by the state“.503 Hobbes kritisierte seinerseits den historischen Ansatz von Coke.504 So schlug er vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs (1642–1648) und der Wirren der Stuart-Zeit eine rationalistische Herangehensweise zur Analyse des Staates und insbesondere der Frage der Souveränität vor. Zugleich kritisierte er die seiner Meinung nach widersprüchliche und mit moralischen Erwägungen gemischte Betrachtung der englischen Geschichte sowohl durch die royalists als auch durch die common lawyers.505 Laut Hobbes ist Souverän allein der, der das Recht erlässt, weswegen der Souverän als Versammlung oder auch als Einzelperson dem Recht nicht unterworfen ist.506 Vor diesem Hintergrund verteidigte Hobbes die Unteilbarkeit der Souveränität und lehnte die von Richtern durchgeführte Neuinterpretation der (rechtlichen) Entscheidungen des Souveräns ab. Er stellte insoweit das judicial law making in Frage.507 Darüber hinaus geht Hobbes im Wesentlichen von dem Gedanken der Sicherheit im Recht und durch das Recht aus508 und argumentiert, dass es allgemeine Regeln über Gut und Böse nur im Staat geben könne.509 Demnach ist jede Handlung als solche ihrer Natur nach indifferent. Eine Handlung erhält also „ihren Wertcharakter […] allein durch den Befehl (mandatum) eines Übergeordneten“.510 Hobbes stand ferner für eine deterministische Vorstellung des Menschen, der zufolge sein Wille durch Befehle und unter Androhung von Strafe beeinflusst werden könne.511 Vor diesem Hintergrund lehnte Hobbes die rückwirkende Kriminalisierung einer Handlung ab und sagte diesbezüglich: „Kein nach einer Tat erlassenes Gesetz kann sie zu einem Verbrechen machen“.512 Der Sinngehalt dieser Aussage scheint jedoch vor dem Hintergrund fraglich, dass Hobbes selbst ausführt, dass, wenn eine Handlung gegen ein natürliches Gesetz verstoße, das verletzte Gesetz bereits vor der Tat bestanden habe. Deswegen würde es in diesen Fällen keine Rückwirkung geben.513 Dies kann aber nicht als Zustim 502 Pound zufolge bildet das Primat des Rechts neben der Doktrin des judicial precedent und the tribunal by jury eine der wichtigsten Merkmale des Common Law, vgl. Pound, The Spirit, S. 65. 503 Ebd., S. 74. 504 Siehe dazu Holdsworth, A History, Vol. V, S. 481. 505 Siehe dazu Holdsworth, A History, Vol. VI, S. 290 ff.; auch Plucknett, S. 61; Welzel, Naturrecht, S. 116. 506 Vgl. Hobbes, S. 204 ff. 507 Ebd., S. 207 ff.; siehe auch Holdsworth, A History, Vol. VI, S. 297. 508 Vgl. Welzel, Naturrecht, S. 115. 509 Ebd., S. 119. 510 Ebd. 511 Vgl. Hobbes, S. 94 ff., 225–226, 238; dazu ausführlich Schreiber, Gesetz, S. 39 ff. 512 Vgl. Hobbes, S. 226. 513 Ebd.; siehe insofern Schreiber, Gesetz, S. 42 ff.

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mung für die Bestrafung von Handlungen verstanden werden, die nicht vorher gesetzlich unter Strafe gestellt waren. Die rückwirkende Kriminalisierung scheint nach Hobbes’ Auffassung vielmehr logisch unmöglich zu sein. Deswegen behauptet er in demselben Absatz: „[E]in positives Gesetz kann nicht bekannt sein, bevor es erlassen wurde, und kann deshalb nicht verpflichten“.514 Es darf insofern nicht übersehen werden, dass laut Hobbes die „natürlichen Gesetze“ eher „sittliche Tugenden“ darstellen,515 die allerdings nur „durch die souveräne Gewalt“ geltendes Recht werden könnten, obwohl sie „von Natur aus vernünftig sind“ („Auctoritas, non veritas facit legem“).516 Dies bestätigte Hobbes mit den Worten: „Eine Schädigung, die wegen einer Tat zugefügt wird, die vor dem Erlaß eines diese Tat verbietenden Gesetzes begangen worden war, ist keine Strafe, sondern ein feindlicher Akt“.517 4. Naturrechtliche Elemente des englischen Strafrechts und das Rückwirkungsverbot Das Rückwirkungsverbot ergibt sich im englischen Strafrecht aus der Idee der rule of law, d. h. aus dem Ideal der Herrschaft des Rechts als Gegenteil der Willkürherrschaft.518 Rule of law bezeichnet die beschränkte Ausübung der politischen Macht und setzt deshalb die Gewissheit der Bürger in Bezug auf gerechte staatliche Entscheidungen voraus.519 In seinem Werk „Introduction to the Study of the Law of the Constitution“ definierte Albert Venn Dicey 1885 den Begriff der rule of law als ein wesentliches Element der ungeschriebenen Verfassung Englands.520 Laut Dicey enthalte die rule of law drei Aspekte. Erstens, dass niemand bestraft werden kann, außer aufgrund des vor einem rechtlichen Gericht bewiesenen Verstoßes gegen das Recht. Zweitens, dass alle Menschen, einschließlich der Beamten, dem Recht und den „normalen“ Richtern unterworfen sind. Drittens, dass sich die Rechte der englischen Bürger aus der historischen Entwicklung des Richterrechts ergeben.521 Historisch betrachtet ist die rule of law als Leitidee der englischen Vorstellung der Rechtsordnung nicht zwingend mit einer positivistischen oder formalisier 514

Vgl. Hobbes, S. 226. Ebd., S. 122. 516 Ebd., S. 212; die Hobbes’schen Begriffe von Verbrechen und Strafe ergeben sich auch aus diesem Satz, siehe ebd., S. 223: „Ein Verbrechen ist eine Sünde, die im Begehen einer gesetzlich verbotene Handlung […] besteht“, und S. 237: „Eine Strafe ist ein Übel, das die öffentliche Autorität demjenigen auferlegt, der getan oder unterlassen hat, was diese Autorität als Gesetzesübertretung beurteilt“. 517 Ebd., S. 239. 518 Dazu ausführlich Endicott, OJLS 1999, 1 (2). 519 Vgl. Wells/Quick, S. 74 ff. 520 Siehe dazu Dicey, S. 183 ff. 521 Ebd., S. 187 ff. 515

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ten Konzeption des Rechts verknüpft.522 Sie ist vielmehr von einem moralischen Idealismus als Grundlage des Naturrechts und von einem auf Richterrecht basierenden Verständnis der Rechtsordnung geprägt.523 Diese Tatsache stellt eine nicht formalisierte Konzeption der Legalität in den Vordergrund, aus der die bereits genannte relative Ablehnung der rückwirkenden Anwendung strafbewehrter Verbote im englischen Recht herrührt. Der Unterschied zwischen offences mala in se (d. h. Handlungen, die an sich strafbar sind) und offences mala prohibita (d. h. Handlungen, deren Strafbarkeit sich aus der Entscheidung einer Autorität ergibt) sowie die sog. declaratory theory sind insofern aufschlussreich.524 In diesem Zusammenhang ist auf die Auffassung von William Blackstone (1723–1780), einem der einflussreichsten Theoretiker des Common Law, zu verweisen. Blackstone unterschied zwischen den Gesetzen der Natur und den vom konkreten Ge­meinwesen erlassenen Gesetzen (municipal law).525 Ihm zufolge ist das Universum von einem höchsten Wesen erschaffen worden.526 Der Schöpfer habe für den Erhalt der Ordnung des Universums gewisse Normen festgesetzt, in denen sich sein Wille widerspiegele.527 Diese würden die sog. Gesetze der Natur bilden, die auf Gerechtigkeit und auf unveränderlichen Regeln über das Gute und das Böse basieren würden.528 Der Mensch als geschaffene Kreatur sei also dem Willen des Schöpfers unterworfen. Es bestehe somit ein Gebot, solche Gesetze mithilfe der Vernunft zu erkennen und zu beachten.529 Die Gesetze der Natur würden aus diesem Grund keine Anerkennung durch municipal law benötigen.530 Hieraus würden sich natürliche Rechte ableiten, wie etwa das Recht auf Leben oder auf Freiheit. Ferner würden auch natürliche Pflichten neben solchen Rechten (natural duties) bestehen.531 Verstöße gegen natural duties seien insofern nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich verwerflich. Deshalb sei es nicht immer erforderlich, die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch eine positivierte Norm zu begründen.532 Blackstone erklärte auf diese Weise die seit 1496 im englischen Recht bestehende Unterteilung der Straftaten in mala in se und mala prohibita.533­ Offences mala in se würden gegen natural duties verstoßen; sie seien an sich 522

Siehe Peristeridou, S.  54 ff., 67, 69, Peristeridou betont insofern den Unterschied zwischen der englischen Idee der rule of law und dem deutschen Verständnis des Rechtsstaats; zu positivism und idealism als Grundlagen („political choices“) der rule of law siehe Coyle, OJLS 2006, 257 (257–259). 523 Vgl. Coyle, OJLS 2006, 257 (257–258). 524 Siehe dazu Garner, Bryan (Editor in Chief), S. 496, 1103; Horder, S. 62–63. 525 Siehe Blackstone, S. 52 ff. 526 Ebd. 527 Ebd. 528 Ebd., S. 54–57. 529 Ebd., S. 58. 530 Ebd., S. 63. 531 Ebd., S. 93, 94. 532 Ebd. 533 Zur historischen Entwicklung der Begriffe offences mala in se und offences mala prohibita siehe N. N., Colum. L. Rev. 1930, 74.

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rechtswidrig, weil sie den Gesetzen der Natur widersprechen würden.534 Im Gegensatz dazu würden offences mala prohibita nur gegen municipal law verstoßen, weshalb sie nur rechtswidrig seien, weil die Handlungen explizit von der Autorität des Gemeinwesens verboten worden seien.535 Obwohl diese Differenzierung in der Gegenwart umstritten ist,536 verdeutlicht sie, wie die moralische und die strafrechtliche Vorwerfbarkeit im englischen Recht miteinander verbunden sind. Eine Bestrafung ohne vorherige Strafandrohung durch eine positivierte Norm sei demnach dann legitim, wenn der moralische Vorwurf der Tat besonders gravierend ist, also im Fall einer mala in se.537 Hierneben steht die sog. declaratory theory.538 Blackstone beschrieb Richter als „living oracles“.539 Sie würden feststellen, was die rechtlichen Werte und Prinzipien für jeden Einzelfall vorschreiben. Die Grundlage dafür seien die vorherigen richterlichen Entscheidungen, also „Präzedenzfälle“. Falls ein Richter aber merke, dass ein bestimmter Präzedenzfall absurd oder ungerecht sei, solle er ihn nicht beachten und ein „neues“ Kriterium anwenden.540 Diese Entscheidung impliziere dann keine Veränderung in der Rechtsordnung, sondern stelle lediglich eine Erklärung bzw. eine Berichtigung bzgl. des wirklichen Inhalts des Rechts dar.541 Nach der declaratory theory wird folglich das Common Law nicht durch Richter geschaffen, sondern nur festgestellt bzw. „gefunden“.542 Die declaratory theory spielte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle.543 Laut Juratowitch beeinflusst sie sogar noch bis heute einige Richter und Professoren, obwohl sie mittlerweile von der wohl herrschenden Auffassung abgelehnt wird.544 Jedenfalls verdeutlicht sie, warum im Fall des statute law die Kritik an der rückwirkenden Anwendung des Strafrechts schärfer ausfällt. Gerade diese Auffassung wurde auch von Blackstone vertreten. Er meinte, dass die rückwirkende Anwendung eines strafbewehrten Verbots grausam und ungerecht sei,545 weil vor dem Erlass eines bestimmten Gesetzes kein Grund dafür bestanden habe, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen.546 Vom ex post facto law

534

Vgl. Blackstone, S. 97. Ebd., S. 98. 536 Siehe dazu Gray, Wash. U. L. Rev. 1995, 1369; siehe auch Husak, in: Defining, S. 65 ff. 537 Vgl. Ticehurst, KCLJ 1998–1999, 88 (98). 538 Dazu ausführlich Juratowitch, Retroactivity, S.  119 ff.; diese Theorie wurde auch von Coke und Hale vertreten, vgl. Cross/Harris, S. 25; dazu auch Cornish et al., in: The Oxford History, S. 44 ff. 539 Vgl. Blackstone, S. 116. 540 Ebd., S. 118. 541 Ebd. 542 Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 39 ff. 543 Siehe dazu Cross/Harris, S. 28. 544 Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 119. 545 Siehe Blackstone, S. 75 ff. 546 Ebd., S. 78. 535

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

sprach er jedoch nur in Bezug auf das municipal law.547 Denn nach seiner Auffassung stellte die Bestrafung aufgrund eines Verstoßes gegen „ewige“ Normen bzw. die Anwendung des Rechts, wie es immer bestanden hat, beispielsweise im Fall eines mala in se, keine Rückwirkung dar.548 5. Rechtssicherheit durch Präzedenzfälle Das Common Law ist durch richterliche Entscheidungen ausgestaltet worden.549 Geschichtlich betrachtet ist die analoge Analyse von Fällen der herrschende Gedankengang der englischen Rechtstradition.550 Deshalb bestanden seit dem 12. Jahrhundert gewisse, wenngleich nicht offizielle Fallsammlungen, deren Ziel die Bewahrung und Weitergabe der angewandten rechtlichen Kriterien für zukünftige Fälle war, darunter beispielsweise the Bracton’s Notebook und the yearbooks.551 Allerdings waren die richterlichen Entscheidungen selbst nicht als unmittelbare Rechtsquelle anerkannt. Die Rechtsprechung wurde damals vielmehr nur als Beweis der Praxis betrachtet. Für viele Jahre gab es deswegen keine systematische Analyse bzw. Darstellung der Rechtsprechung.552 Im 16.  Jahrhundert begann sich jedoch diese Situation zu ändern. Gerichte mussten vermehrt über neue Sachverhalte entscheiden. Dies hatte auch zur Folge, dass neuere und bessere Fallsammlungen geschaffen wurden, was allmählich zu einer kritischen Betrachtung der alten Rechtsprechung durch andere Richter führte und zugleich präzisere Verweise auf vorherige Fälle in der rechtlichen Argumentation ermöglichte.553 Als Konsequenz dieses Prozesses wurde begonnen, in den richterlichen Entscheidungen zwischen dem die Entscheidung tragenden Hauptkriterium (ratio decidendi) und anderen Erwägungen (obiter dictum) zu unterscheiden, die die Entscheidung nicht unmittelbar begründen.554 Der Ausdruck stare decisis wurde bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verwendet. Der Begriff drückte damals aber nicht zwingend die Verbindlichkeit der Präzedenzfälle aus, wie es später insbesondere im 19. Jahrhundert der Fall war.555 Hier ist neben den Entwicklungen im Rahmen des Common Law auch auf die Entstehung der Chancery als equity court einzugehen.556 Ursprünglich hatte die Chancery lediglich Verwaltungsbefugnisse und diente zunächst nur als Sekretariat 547

Ebd. Vgl. Juratowitch, Retroactivity, S. 30. 549 Vgl. Baker, John, S. 196. 550 Dazu ausführlich Cross/Harris, S. 26–27. 551 Vgl. Martens, JZ 2011, 348 (348). 552 Vgl. Baker, John, S. 198. 553 Ebd. 554 Ebd., S. 199. 555 Ebd. 556 Dazu ausführlich Plucknett, S. 157 ff. 548

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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des königlichen Hofes.557 Ab dem 14. Jahrhundert entwickelte sie sich aber zu einer parallelen Gerichtsbarkeit, um Konflikte ohne die „formellen“ Hindernisse der common law courts zu schlichten.558 Martens zufolge „handelte es sich [dabei] zunächst um eine Art Interventionsrecht des Königs, das dieser durch seinen Lord Chancellor auf Anruf von Prozessparteien von Fall zu Fall ausübte, wenn Entscheidungen der Gerichte des Common Law der Gerechtigkeit widersprachen“.559 Die Regeln der equity ergaben sich also aus den Entscheidungen der Chancery, welche seit dem 17.  Jahrhundert auch regelmäßig dokumentiert wurden.560 Die Chancery als Gericht erster Instanz und das House of Lords als Kontrollorgan bildeten damit eine einfachere Gerichtsbarkeit, und gewannen dadurch an Prestige.561 Das hatte in diesem Bereich eine an Präzedenzfällen orientierte richterliche Praxis zur Folge.562 Im 19. Jahrhundert vollzogen sich ferner einige der bedeutendsten Rechtsreformen im englischen Recht.563 Die Lehren von Jeremy Bentham (1748–1832) und seines Anhängers John Austin (1790–1859) waren zu dieser Zeit besonders einflussreich.564 Bentham stellte die Grundlage einer positivistischen Perspektive des Rechts vor. Darüber hinaus formulierte er eine starke Kritik am Richterrecht. Darin hob er die Notwendigkeit der Systematisierung der Rechtsordnung hervor. Vor diesem Hintergrund entwickelte auch Austin einen rechtspositivistischen Standpunkt, ohne jedoch das Richterrecht abzulehnen.565 Bentham stellte zwei Aspekte der traditionellen englischen Rechtstheorie in Frage, insbesondere im Hinblick auf Blackstones Werk. Erstens kritisierte Bentham den Verweis auf Begriffe wie natural law oder natural rights, um das englische Recht zu begründen. Bentham kennzeichnete solche Begriffe als „non-entities“, weil sie sich auf kein reales Wesen beziehen würden. Er behauptete, dass sie vielmehr die eigenen moralischen Überzeugungen des Rechtsanwenders verkörpern würden.566 Zweitens war laut Bentham das englische Recht nicht als ein Komplex von Gewohnheiten (custom) zu begreifen, weil Sitten und Gebräuche eines Gemeinwesens an sich keine verbindliche Kraft hätten. Um als Rechtsnormen zu gelten, würden sie vielmehr immer eine Entscheidung einer Autorität benötigen.567 In diesem Sinne wurde betont, dass lediglich die von Gerichten oder von einem Gesetzgeber ausgehenden Befehle und Strafen als Recht bestehen könnten. Deshalb lehnte Bentham die declaratory theory ab und machte auf den rückwirkenden Effekt des 557

Siehe dazu Lyon, S. 156. Vgl. Martens, JZ 2011, 348 (350). 559 Ebd. 560 Ebd. 561 Ebd. 562 Ebd. 563 Vgl. Baker, John, S. 215. 564 Dazu ausführlich Cornish et al., in: The Oxford History, S. 72 ff. 565 Ebd. 566 Vgl. Bentham, A Comment, S. 35 ff.; dazu Cornish et al., in: The Oxford History, S. 76 ff. 567 Vgl. Bentham, A Comment, S. 176 ff. 558

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Richterrechts aufmerksam; Bentham bezeichnete das judicial law making sogar als „dog-law“.568 Demnach warte der Hundehalter auf den Moment, in dem der Hund einen Fehler begehe, und bestrafe ihn dann. Hunde würden somit nur durch Bestrafung lernen. Laut Bentham sei dies aber genau die Art und Weise, in der die Bürger von den Richtern durch das Richterrecht behandelt würden.569 Hinter dieser Kritik am judicial law making steht eine rationalistische und materialistische Sicht des Menschen, der zufolge jede Person die Fähigkeit hat, die Wirkungen ihres Verhaltens im Lichte der möglichen Nachteile (pain) und Vorteile (pleasure) vernünftig abzuwägen.570 Aus diesem Grund verteidigte Bentham die Idee einer umfassenden und geschlossenen Kodifikation des Rechts als einzigen Weg zur Erreichung der erforderlichen Sicherheit bzgl. des Inhalts der Rechtsordnung.571 Vor diesem Hintergrund schlug er außerdem eine präventive Konzeption bzw. Abschreckungswirkung der Strafe vor.572 Austin griff den Ansatz von Bentham als Grundlage für seine Theorie auf,573 stimmte ihm allerdings bei der Ablehnung des Richterrechts nicht zu.574 Laut Austin war das Richterrecht nützlich und sogar notwendig. Austin erkannte, dass das englische Recht das Ergebnis der Entwicklung des Richterrechts war. In diesem Zusammenhang erklärte er, dass die Methode, die die englischen Richter normalerweise für ihre Argumentation verwenden und mithilfe derer sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen würden, die Analogie sei. Infolgedessen sei es möglich, konkrete Rechtsnormen aus einer bestimmten Reihenfolge von richterlichen Entscheidungen (line of precedents), die in Bezug auf ähnliche Fälle getroffen worden sind, zu induzieren. Hierfür müsse die ratio decidendi jeder Entscheidung systematisch betrachtet werden.575 Auffassungen wie diejenigen von Bentham und Austin förderten, wie gesagt, während des 19. Jahrhunderts wichtige Debatten über die Rechtsquellen und den angemessenen Weg zur Reform des englischen Rechts, insbesondere in Bezug auf 568 Zum Common Law als „judicial decisions“ siehe ebd., S. 186 ff.; die Bezeichnung „dog law“ in diesem Zusammenhang erscheint in Bentham, Truth, S. 11. 569 Siehe Bentham, Truth, S. 11: „It is the Judges […] that make the common law: – Do you know how they make it? Just as a man makes laws for his dog. When your dog does any thing you want to break him of, you wait till he does it, and then beat him for it. This is the way you make laws for your dog: and this is the way the Judges make law for you and me“. 570 Vgl. Bentham, An Introduction, S. 1 ff. (S. 2: „By the principle of utility is meant that principle which approves or disapproves of every action whatsoever, according to the tendency it appears to have to augment or diminish the happiness of the party whose interest is in question: or, what is the same thing in other words to promote or to oppose that happiness“). 571 Vgl. Bentham, in: The Works, S. 205 ff.; siehe dazu Baker, John, S. 218; zur Idee der Kodifikation nach Bentham siehe Alfange, Cornell L. Rev. 1969, 58 (für die Prinzipien vom „perfect utilitarian code“ siehe S. 70 ff.). 572 Vgl. Bentham, An Introduction, S. 170–171; dazu Norrie, S. 18, 19. 573 Dazu Cornish et al., in: The Oxford History, S. 84 ff.; siehe Austin, S. 18–19. 574 Siehe Austin, S. 35, 36, 166, 163. 575 Vgl. Cornish et al., in: The Oxford History, S. 87.

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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das Strafrecht.576 Im Mittelpunkt der Diskussion standen sowohl die Gegenüberstellung des statute law und des case law als auch die Forderung nach einer Systematisierung und Kohärenz der Rechtsordnung,577 weniger dagegen die Schaffung neuen Rechts. Laut Pound bestand darin die Aufgabe der Juristen im 19. Jahrhundert: „to perfect what he found in the legal system rather than to build a new“.578 Dies stellte einen der bedeutendsten Unterschiede hinsichtlich der Denkweise bzgl. der Rechtsordnung zwischen dem 19. Jahrhundert einerseits und dem 17. und 18. Jahrhundert andererseits dar.579 Dieser Unterschied ergab sich Pound zufolge u. a. aus der Forderung nach „security of transactions in  a commercial and industrial society“. Der methodische Ansatz war vor diesem Hintergrund eher „analytical“ als „philosophical“.580 Dieser Zustand führte zu einigen Versuchen, das englische Strafrecht zu kodifizieren. Als Beispiele hierfür seien die Bestrebungen der Criminal Law Commission zwischen 1833 und 1849 sowie der Statute Law Commission 1854 und die Consolidation Acts 1861 genannt.581 In diesem Zusammenhang muss vermerkt werden, dass sich die Criminal Law Commission aufgrund des rückwirkenden Charakters des Common Law in ihren Berichten für den Vorrang des geschriebenen Rechts vor dem Richterrecht aussprach.582 Der Versuch, das Strafrecht zu kodifizieren, war jedoch nicht erfolgreich. Richter und Anwälte lehnten die Arbeit dieser Kommissionen ab. Es wurde dazu u. a. angeführt, dass ein solches Bestreben für die Entwicklung und Anpassung des englischen Rechts abträglich sei.583 Zur gleichen Zeit fanden allerdings zwei einander bedingende Prozesse statt, die auch durch die Suche nach einer Einheitlichkeit und Konsistenz der Rechts­ ordnung gefördert wurden. Der erste Prozess war die Reform der Justiz. Durch die Judicature Acts 1873–1875 wurde die moderne Hierarchie der englischen Gerichte geschaffen. Ein einziger Court of Appeal wurde eingerichtet, mit dem House of Lords als oberstes Gericht. Außerdem wurde durch diese Acts festgelegt, dass alle englischen Gerichte sowohl das Common Law als auch die Regeln der equity anwenden müssen.584 Der zweite Prozess bezog sich auf die Konsolidierung der doctrine of precedent. Die Idee der Verbindlichkeit von Präzedenzfällen wurde damit angenommen. Insbesondere wurde akzeptiert, dass die Beachtung der eigenen vorherigen Entscheidungen obligatorisch ist. Dies geschah 1844 für das Court of Appeal und von 1898 bis 1966 für das House of Lords.585 576

Dazu ausführlich Smith, Keith, in: The Oxford History, S. 180 ff. Ebd. 578 Vgl. Pound, The Spirit, S. 148 579 Ebd. 580 Ebd. 581 Vgl. Smith, Keith, in: The Oxford History, S. 193 ff. 582 Ebd., S. 195, 196. 583 Dazu ausführlich ebd., S. 199. 584 Vgl. Martens, JZ 2011, 348 (350 ff.). 585 Dazu ausführlich Cornish et al., in: The Oxford History, S. 48 ff.; siehe auch Baker, John, S. 200; Glenn, Legal Traditions, S. 258–259. 577

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

II. Das Rückwirkungsverbot und die deutsche Rechtstradition Im vorliegenden Kapitel wurde gezeigt, dass im deutschen Strafrecht eine strikte Auffassung des Rückwirkungsverbots vorliegt. Eigentlich hat das Rückwirkungsverbot in Deutschland nicht nur eine strafrechtliche Konnotation, es hat zugleich mit Art. 103 Abs. 2 GG auch Verfassungsrang, was durch § 1 StGB untermauert wird. Das Rückwirkungsverbot steht im deutschen Strafrecht im Zusammenhang mit drei weiteren Aspekten des Gesetzlichkeitsprinzips, also dem Verbot des strafbegründenden Gewohnheitsrechts, dem Bestimmtheitsgebot und dem Analogieverbot. Diese Grundidee spiegelt den Versuch wider, Richter an die Gesetzgebung zu binden. Die Verwirklichung des Rückwirkungsverbots setzt nach diesem Verständnis den Vorrang des geschriebenen Gesetzes innerhalb des Rechtsquellensystems hinsichtlich der Festlegung strafbaren Verhaltens voraus. Ferner ist eine vorherige und genaue Beschreibung der verbotenen Handlung erforderlich, was zu einem engen richterlichen Auslegungsbereich führen soll. Dieser Ansatz wird zusätzlich durch die Konzeption der Strafrechtsdogmatik als Mittel zur Überprüfbarkeit der von den Richtern getroffenen Entscheidungen ergänzt. Historisch betrachtet lässt sich also festhalten, dass das im deutschen Strafrecht bestehende Verständnis des Rückwirkungsverbots vor allem durch zwei Aspekte geprägt ist: einerseits durch die während des Entstehungsprozesses des (deutschen) Nationalstaates durch das geschriebene Recht bezweckte Vereinheitlichung der Rechtsordnung; andererseits durch die aus der in Deutschland verbreiteten wissenschaftlichen Perspektive hervorgehende formalisierte Vorstellung des Strafrechts. Diese beiden Punkte führten zur Beschränkung des Entscheidungsspielraums der Richter durch Kodifikation586 als Gewährleistung gegenüber willkürlicher Strafbarkeit. 1. Rezeption des römischen Rechts und Verstaatlichung der Strafgewalt Das im deutschen Recht allgemein anerkannte Verständnis des Rückwirkungsverbots ist von zwei wichtigen historischen Prozessen beeinflusst worden. Einerseits ist die Entwicklung der wissenschaftlichen Betrachtung des geltenden Rechts als vorherrschender Ansatz zu erwähnen. Andererseits muss der Vorgang der Verstaatlichung der Strafgewalt berücksichtigt werden. Beide Prozesse traten bereits parallel im 12.  Jahrhundert auf. Die Verwissenschaftlichung des Rechts wurde damals von der Rezeption des römischen Rechts gefördert, während sich die Verstaatlichung der Strafgewalt durch den Versuch der Landesherren und des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die legitime Gewaltausübung zu monopolisieren, vollzog.587 586

Zur Kodifikation als eines der wichtigsten Merkmale der Civil-Law-Tradition siehe Glenn, Legal Traditions, S. 133, 142 ff. 587 Frotscher und Pieroth bezeichnen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als den staats- und völkerrechtlichen Rahmen für die Ausübung politischer Herrschaft in Deutschland

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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Die Grundlagen der Rechtswissenschaft und mit ihr der Strafrechtswissenschaft entwickelten sich seit dem 12. Jahrhundert in Italien.588 Entscheidend hierfür waren die Bestrebungen der Kanonisten zur Systematisierung des Kirchenrechts.589 Das im Jahr 1140 erschienene Buch „Concordantia Discordantium Canonum“ von Gratian ist ein bedeutsames Beispiel dafür. Hierbei handelte es sich um eine mithilfe der scholastischen Methode harmonisierte Auslegung verstreuter Bibel­zitate, Konzilsbeschlüsse und päpstlicher Erlasse.590 Diese besondere Betrachtungsweise des Rechts, d. h. die scholastische Methode, wurde von den sog. Glossatoren auch für die Analyse des 546 n. Chr. von Justinian erlassenen Corpus Iuris Civilis angewendet.591 Sie kommentierten den Corpus Iuris in der Absicht, das Zivilrecht widerspruchsfrei darzustellen.592 In diesem Zusammenhang wurde die neue Rechtswissenschaft an den italienischen Universitäten gelehrt, insbesondere an der Rechtsschule von Bologna, und durch Juristen, die an diesen Universitäten ausgebildet wurden, darunter viele Deutsche, allmählich jenseits Italien verbreitet.593 Aus der Rezeption der italienischen Rechtswissenschaft folgte die Rationalisie­ rung des während des Mittelalters in deutschen Gebieten entwickelten Strafrechts,594 d. h. das Verständnis der Rechtsordnung mithilfe begrifflicher Abstraktionen zur deduzierenden Ableitung von Schlussfolgerungen.595 Die aus dem römischen Recht hergeleiteten Termini wurden dann zur Artikulation allgemeiner Grundsätze und zur Formulierung genereller Begriffe verwendet, indem sie konsistent miteinander verbunden wurden und somit ein System bildeten,596 wobei die Bebis zu seinem Ende im Jahr 1806, vgl. Frotscher/Pieroth, § 4 Rn. 97; zu den Verhältnissen zwischen dem Landesherrschaft und dem Kaiser siehe Willoweit, § 11 Rn. 1 ff.; dazu auch Berman, S. 482. 588 Siehe dazu Rüping/Jerouschek, Rn.  30 ff.; Berman datiert die Geburt des westlichen Rechts ins 12.  Jahrhundert und weist hierbei auf vier Prozesse hin: die Entstehung der ersten starken, zentralisierten politischen Autoritäten; das Erscheinen professioneller Juristen; die Gründung der ersten juristischen „Fakultäten“; und, die Entwicklung der Idee des Rechts als selbständigem Komplex von Prinzipien und Verfahren, Berman, S. 86 ff. 589 Vgl. Rüping/Jerouschek, Rn. 30. 590 Ebd. 591 Zu „Glossa“, „distintiones“ und „quaestiones“ in den Rechtsvorlesungen des 12. Jahrhunderts, in denen die scholastische Methode gelehrt wurde, siehe Berman, S. 129–130, Berman führt hierzu aus, dass „[t]his method […] presupposes the absolute authority of certain books, which are to be comprehended as containing an integrated and complete body of ­doctrine; but paradoxxically, it also presupposes that there may be both gaps and contradictions within the text: and it sets as ist main task […] the closing of gaps […] and the resolution of contradictions“, ebd., S. 131. 592 Dazu ausführlich Gnür/Roth, § 135. 593 Glenn zufolge war die Rezeption des römischen Rechts besonders stark in den deutschen Territorien, da sie sich selbst als die Erben des römischen Reichs und Karls des Großen sahen, Glenn, Legal Traditions, S. 141; siehe auch Merryman/Pérez-Perdomo, S. 10 und Berman, S. 120. 594 Vgl. Schmidt, Einführung, S. 108. 595 Vgl. Rüping/Jerouschek, Rn. 85. 596 Berman, S. 151 ff.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

deutung und sogar die Geltung der entwickelten Rechtsnormen mit Blick auf die Kohärenz des Systems festzulegen waren.597 Im 12. Jahrhundert war jedoch der Einfluss dieses Ansatzes in den deutschen Territorien noch recht bescheiden.598 Sowohl das Kirchenrecht als auch das römische Recht wurden zunächst nur durch kirchliche Gerichte und Notare angewandt.599 Aber der Einfluss der neuen Lehre verstärkte sich, als die ersten „deutschen“ Universitäten im 14. Jahrhundert in Prag (1348), Wien (1365) und Heidelberg (1386) gegründet wurden.600 Das Strafrecht selbst wurde seit dem 14. Jahrhundert in Italien wissenschaftlich untersucht.601 In den deutschen Territorien vollzog sich die Rezeption des Strafrechts insbesondere um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert anhand von zwei Ereignissen: Zum einen die Ersetzung des königlichen Kammergerichts durch das Reichskammergericht (1495), an dem Richter amtierten, die an Universitäten ausgebildet worden waren.602 Zum anderen der Erlass der Halsgerichtsordnung für das Fürstbistum Bamberg (sog. Constitutio Criminalis Bambergensis) im Jahr 1507, die als Vorbild der für das ganze Reich geltenden Constitutio Criminalis Carolina (1532) diente.603 Wie Schmidt veranschaulicht, umfasste das rezipierte Gedankengut im Rahmen des Strafrechts hauptsächlich drei Aspekte. In erster Linie ist die damals bestehende Notwendigkeit zu nennen, das Strafrecht zu vereinheitlichen, um die Rechtsfragmentierung der vorangegangenen Jahrhunderte zu überwinden.604 Hierfür war die Festlegung relativ klarer Normen für die staatliche Strafe erforderlich, was die Notwendigkeit implizierte, die einzelnen Straftatbestände begrifflich zu fassen.605 Darüber hinaus wurden bestimmte Fragen der sog. allgemeinen Lehre thematisiert, wie beispielsweise die an der Schuld orientierte strafrechtliche Verantwortlichkeit, das Versuchsproblem sowie die Anerkennung einiger Recht­ fertigungsgründe.606 Es lässt sich also festhalten, dass die Bedeutung des Systemdenkens im deutschen (Straf-)Recht ebenso wie die zentrale Rolle, die die deutschen Professoren bei der Gestaltung und Entwicklung der Rechtsordnung gespielt haben, auf die Entstehung der Rechtswissenschaft im 12. Jahrhundert an den italienischen Universitäten zurückgeführt werden kann.607

597

Ebd. Vgl. Gnür/Roth, § 135. 599 Ebd. 600 Ebd. 601 Ebd., § 327. 602 Vgl. Rüping/Jerouschek, Rn. 87; hierzu kann gesagt werden, dass „[t]he rise of nationstates and the growing power of kings provided a significant opportunity for university-educated jurists“, Merryman/Pérez-Perdomo, S. 10. 603 Vgl. Gnür/Roth, § 327. 604 Dazu ausführlich Schmidt, Einführung, S. 114. 605 Ebd., S. 115. 606 Ebd., S. 117 ff. 607 Vgl. Berman, S. 151 ff., 162. 598

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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Der Konsolidierungsprozess der Strafverfolgung und der Verhängung von Strafen als staatliche Aufgaben erfolgte in den deutschen Territorien ab dem 11. Jahrhundert aufgrund der Landfriedensbewegung und parallel zur Rezeption des römischen Rechts und dauerte bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts.608 In diesem Kontext muss im Hinblick auf die Verstaatlichung der Strafgewalt gesagt werden, dass es im Unterschied zu England auf kaiserlicher Ebene während des 11., 12. und 13. Jahrhunderts keine zentralisierte Strafrechtspflege gab.609 Dies bedeutet aber nicht, dass sich der Kaiser an dem Rechtsschaffungsprozess nicht beteiligte, der in dieser Zeit stattfand.610 Er wirkte bei der Entwicklung des Rechts zu dieser Zeit vor allem durch „legislative“ Maßnahmen mit,611 d. h. durch die Verkündung geschriebener Normen, die von (neuen) richterlichen Obrigkeiten innerhalb der sich entwickelnden Territorien angewendet werden mussten. Darüber hinaus erschienen einige „Rechtsbücher“, die damals als „Keiserrecht“ bezeichnet wurden und zu einer gewissen Vereinheitlichung des Rechts beitrugen, wie z. B. der sog. Schwabenspiegel (ca. 1275) und Sachsenspiegel (1220–1235).612 Letzterer wurde von gelehrten Juristen glossiert und führte somit zu einer „common German legal language“ für die deutschen Territorien.613 Die Geschichte der Entstehung des modernen Staates ist tatsächlich die Geschichte der Monopolisierung der legitimen Gewaltausübung. Träger legitimer Gewalt außerhalb staatlicher Autorität wurden insofern als Ablehnung des Staates selbst verstanden.614 Nur der Staat durfte deswegen die Voraussetzungen zur Beschränkung von Rechten bzw. zur Verhängung von Strafen legitim festlegen. Vorschriften wie diejenige des Mainzer Reichslandfriedens (1235) verfolgten genau dieses Ziel.615 In diesem Sinne behaupten Rüping und Jerouschek, dass die Fehde der Hauptangriffspunkt der im Frieden zusammengefassten Regelungskomplexe gewesen sei.616 Es muss betont werden, dass das Ziel der Landfriedensbewegung gerade darin bestand, die private Rache zu regeln, insbesondere die Ritterfehde, und nicht darin, die Fehde an sich abzuschaffen.617 Aus diesem Grund wurde die

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Vgl. Schmidt, in: Die Carolina, S. 87. Vgl. Berman, S. 487–488, 502. 610 Ebd. 611 Ebd.: „[V]arious imperial peace statutes enacted after 1150 contained much new law that was, in fact, enforced at the imperial level; and more important, they contained much new law that penetrated the territorial law of the duchies and others principalities as well as the law of the cities“. 612 Vgl. Rüping/Jerouschek, Rn. 54. 613 Vgl. Berman, S. 505. 614 Vgl. Gernhuber, S. 5 ff. 615 Ebd., S. 63 ff., 224 ff.; siehe auch Berman, S. 499: „[It] was a deliberate use of law reform as a means of reviving imperial unity in Germany, but it did not succeed […] it did, however, have very great significance for the development of the law of the various principalities and­ other territories“. 616 Vgl. Rüping/Jerouschek, Rn. 49. 617 Dazu ausführlich Gernhuber, S. 187 ff. 609

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Fehde zunächst nur bzgl. bestimmter Orte und Personen sowie während bestimmter heiliger Tage verboten.618 Sie wurde erst mit dem Ewigen Landfrieden durch Maximilian I. (1495) allgemein und endgültig verboten.619 Der im Mittelalter erfolgte Prozess der Konzentration der Gewalt beim Staat wurde durch zwei Phänomene beeinflusst, die gemeinsam die Ausgestaltung des modernen Strafrechts prägten. Hierbei ging es erstens um die Anerkennung der Idee, dass die Landesherren für die Verwirklichung des gebotenen Gottesfriedens verantwortlich waren und dass sie deshalb für die zweckmäßige erforderliche Gerechtigkeit sorgen mussten.620 Neben diesem Gedanken entwickelte sich zudem ein „peinliches“ Strafrecht, wonach jede Strafe als Übel dazu diente, die individuelle Schuld des Straftäters zu sühnen und ihn so vom Begehen zukünftiger Straftaten abzuschrecken.621 Dementsprechend wurden Strafen mit einer privatrechtlichen Konnotation, wie beispielsweise die sog. Bußenstrafen, allmählich durch Strafen wie die Enthauptung oder das Herausschneiden der Zunge ersetzt.622 Diese Entwicklung wurde zweitens vom zeitgleichen Aufbau des Justizapparats begleitet. Wie Gernhuber erklärt, setzte die Überwindung des Fehderechts den Aufbau eines dieses ersetzenden Rechtsinstituts in Gestalt der staatlichen Justiz voraus, das die Anwendung eines für jedermann geltenden Rechts sicherstellen konnte.623 Zu diesem Zweck war auch die Schaffung einer neuen Art von Richtern notwendig, welche frei von den mit dem Rittertum einhergehenden Bindungen und Vorurteilen war.624 Hierbei waren die ausgebildeten Richter von zentraler Bedeutung.625 Die Prozesse der Verwissenschaftlichung und der Verstaatlichung der Strafgewalt liefen dann in den von Maximilian I. und Karl V. in der frühen Neuzeit durchgeführten Reformen zusammen: Dazu zählen die bereits genannte Verkündung des Ewigen Landfriedens (1495), die Einrichtung des Reichkammergerichts (1495) sowie der Erlass der Constitutio Criminalis Carolina (1532).626 Hier entstanden bereits wichtige Grundlagen, die später das Verständnis des Rückwirkungsverbots und des NCSL-Prinzips im deutschen Recht prägten.

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Ebd., S. 196 ff. Vgl. Gnür/Roth, § 230. 620 Vgl. Schmidt, Einführung, S. 112 ff. 621 Vgl. Schmidt, in: Die Carolina, S. 99. 622 Vgl. Rüping/Jerouschek, Rn. 63 ff. 623 Vgl. Gernhuber, S. 172 ff. 624 Ebd. 625 Ebd. 626 Vgl. Gnür/Roth, § 230. 619

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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2. Das Rückwirkungsverbot und die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. als Mittel zur Vereinheitlichung des Strafrechts Die im Jahr 1532 auf dem Reichstag zu Regensburg verabschiedete Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. (sog. Constitutio Criminalis Carolina)  stellt das erste und bis 1877 einzige Gesetz dar, in dem das Strafprozessrecht und das materielle Strafrecht für ganz Deutschland einheitlich geregelt wurden.627 Mehrere Bestimmungen der Carolina waren der Bambergensis (1507) wörtlich entnommen.628 Wie bereits angesprochen, bildete die Bambergensis einen wichtigen Meilenstein bei der Rezeption im Bereich des Strafrechts. Dieses Gesetz wurde von Richter Johann v. Schwarzenberg mithilfe von universitären Mitarbeitern verfasst, wobei er Elemente aus dem heimischen und fremden Recht vereinte.629 Aus diesem Grund bezeichnet Schmidt sowohl die Bambergensis als auch die Carolina als „Rezeptionsgesetze“ und behauptet, dass diese Regelungen vor allem zwei Ziele gehabt hätten: einerseits „die mittelalterliche Rechtsentwicklung da, wo sie unfertig stehen geblieben war, […] zum Ende zu führen und zu vollenden“630 und andererseits die Rechtsunsicherheit und Willkür „durch einen Geist echter Ordnung zu beseitigen“.631 Dieser Versuch zur Vereinheitlichung des Rechts war ein Aspekt eines weiteren politischen Prozesses, nämlich der Verstaatlichung der Strafgewalt im Rahmen der Entwicklung des modernen Staates. Schmidt kennzeichnet daher die „ausschließliche Durchsetzung der sog. öffentlich-rechtlichen Auffassung von Verbrechen und Strafe“ als wichtigsten Unterschied der Rezeptionsgesetze zu den mittelalterlichen Strafrechtsquellen.632 Es muss allerdings beachtet werden, dass die Entwicklung des Strafrechts im Heiligen Römischen Reich keinen kontinuierlichen Prozess darstellt. Zwischen den in den Reichsständen durchgeführten Reformen lag z. T. ein beträchtlicher Zeitraum. Buße, Fehde, Blutrache sowie das „peinliche“ Strafrecht bestanden lange Zeit nebeneinander.633 Dementsprechend darf die Carolina nicht als radikaler Wendepunkt im Hinblick auf das mittelalterliche Strafrecht verstanden werden. Sie stellt vielmehr ein Ergebnis der mittelalterlichen Rechtsentwicklung bzw. der Entstehung deutscher Staatlichkeit dar.634

627

Ebd. Vgl. Schmidt, Einführung, S. 109. 629 Vgl. Radbruch, in: Gesamtausgabe, Band XI, S. 318–319. 630 Vgl. Schmidt, Einführung, S. 111. 631 Ebd. 632 Vgl. Schmidt, in: Die Carolina, S. 84. 633 Ebd., S. 89; diesbezüglich behauptet Radbruch: „[Kein Mensch wusste] mehr, was eigentlich rechtens sei, in diesem Wirrsal landschaftlich zersplitterten Völksrecht, willkürliche obrigkeitlicher Strafrechtspraktiken und dem ungelehrten Schöffen unverständlichen fremdem Rechts“, Radbruch, in: Gesamtausgabe, Band XI, S. 316. 634 Vgl. Schmidt, in: Die Carolina, S. 89. 628

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Es ist umstritten, ob die Carolina in ihren Art. 104 und 105 ein generelles Verbot der Bestrafung außerhalb des geschriebenen Rechts enthielt und ob darin die Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips zu sehen sind.635 Dazu muss gesagt werden, dass die Carolina kein neues Recht schuf, sondern lediglich feststellte, was bereits Recht war.636 In der Carolina findet sich demnach auch die in einigen mittelalterlichen Strafrechtsquellen vorgenommene Unterscheidung zwischen Strafe ordinaria und Strafe extraordinaria, d. h. zwischen den durch geschriebenes Recht festgelegten Strafen und denjenigen, die nicht durch geschriebenes Recht bestimmt waren.637 Laut Diedenhofen betonte Art. 104 die Bindung der Richter an die Strafe ordinaria, während Art. 105 den Entscheidungsspielraum der Richter bzgl. der Strafe extraordinaria regelte.638 Für die Begründung dieser Schlussfolgerung beruft sich Diedenhofen auf die unmittelbar nach dem Erlass der Carolina vorgetragenen Auslegungen dieser Normen, wonach die Strafbarkeit außerhalb der in der Carolina vorgesehenen Straftatbestände gemäß Art. 105 zulässig blieb.639 Die Carolina stellte somit keinen umfassenden Katalog von Straftatbeständen dar. Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass die Existenz sowohl von delicte nominata als auch von delicte innominata – die Ähnlichkeit mit dem Konzept der mala in se und der mala prohibita ist offensichtlich – bis ins 18. Jahrhundert anerkannt wurde.640 Ferner hatte die herrschende Auffassung des Strafrechts im 16. und 17. Jahrhunderts eine religiöse Konzeption, der zufolge das Recht nur einen deklaratorischen Charakter hatte und die Gottesordnung widerspiegeln sollte. Nach dieser Strafrechtsauffassung stellte eine Straftat vor allem eine Auflehnung gegen Gott dar und wurde deswegen als Sünde angesehen.641 Die Carolina wurde jedoch nicht ohne Einwände akzeptiert, weil sie eine Beschränkung der Territorialmächte zugunsten des Kaisertums bedeutete.642 Dies zeigte sich insbesondere in der sog. „salvatorischen Klausel“. Demnach war die Carolina nur in einigen wenigen Fällen zwingend direkt anzuwenden und im Allgemeinen subsidiär.643 Aus diesem Grund wurde die Carolina nicht immer strikt beachtet.644 Trotzdem ist an dieser Stelle ihre Bedeutung hervorzuheben, denn sie stellt den ersten Versuch zur Vereinheitlichung des deutschen Strafrechts dar und zwar durch geschriebenes Recht.

635

Dazu ausführlich Diedenhofen, S. 7 ff. Ebd., S. 10 ff. 637 Ebd. 638 Ebd. 639 Ebd., S. 13 ff. 640 Ebd., S. 21. 641 Ebd., S. 25 ff. 642 Vgl. Gnür/Roth, § 332–333. 643 Vgl. Radbruch, in: Gesamtausgabe, Band XI, S. 319. 644 Vgl. Gnür/Roth, § 332–333. 636

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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3. Die Aufklärung und die Kodifikation des Rechts als entscheidende Faktoren zur Entwicklung des Gesetzlichkeitsprinzips Im 17. und 18. Jahrhundert fand eine grundsätzliche Veränderung bzgl. der allgemeinen Betrachtung des Rechts in Europa statt. Dies geschah im Rahmen der Aufklärung und der in diesem Kontext sich ausbreitenden rationalistischen Naturrechtslehre. Dieser Prozess erfolgte parallel zur Herausbildung des Absolutismus in Deutschland.645 In diesem Kontext muss jedoch gesagt werden, dass das NCSLPrinzip, wie es in seiner heutigen Form besteht, nicht als Konsequenz der Aufklärung entstand. Trotzdem formten sich bereits damals zwei wichtige Elemente, die später zur Entstehung des Rückwirkungsverbots und des NCSL-Prinzips im deutschen Strafrecht wesentlich beitrugen. Hierzu zählen insbesondere die Kodifikation der Rechtsordnung im modernen Sinne und die Unterwerfung der Richter unter das geschriebene Recht.646 Die Konsolidierung der staatlichen Macht erfolgte im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland auf der Ebene der verschiedenen Territorien, nicht auf der Ebene des Reiches. Die größeren Territorien entwickelten sich damals zu absolutistischen Herrschaftsgebieten.647 Die Monarchen konzentrierten die gesamte Staatsgewalt ungeteilt und ohne Einschränkungen auf sich. In diesem Zusammenhang wurden z. B. die Befugnisse der Landstände stark zurückgedrängt und in einigen Fällen sogar ganz beseitigt.648 Diese Entwicklung fiel zeitlich mit der Aufklärung zusammen und führte im 18. Jahrhundert in Deutschland zum sog. aufgeklärten Absolutismus.649 Laut Hilgendorf war die deutsche Aufklärung „nur die späte Frucht einer europaweiten Bewegung“, die im Wesentlichen von England ausging und in Frankreich ihre radikalste Ausprägung fand.650 Die Aufklärung, die von Kant als „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definiert wurde,651 stellte die Vernunft des Menschen in den Mittelpunkt des Weltverständnisses und propagierte den Freiheitsgedanken als Voraussetzung und als Folge der menschlichen Ratio.652 Allerdings beschränkte sich die Idee der Freiheit in Deutschland auf die wissenschaftlichen, künstlerischen und religiösen Bereiche. Auf der politischen Ebene herrschte hingegen der Gedanke des Gehorsams.653 Es wurde deshalb angenommen, dass nur ein absoluter Herrscher den aufgeklär-

645

Dazu ausführlich Frotscher/Pieroth, § 4 Rn. 113 ff. Vgl. Schreiber, Gesetz, S. 46. 647 Vgl. Frotscher/Pieroth, § 4 Rn. 113. 648 Ebd., § 4 Rn. 112. 649 Zu den charakteristischen Merkmalen des Absolutismus siehe Willoweit, § 23 Rn. 3 ff. 650 Vgl. Hilgendorf, in: Gesetzlichkeit, S. 18. 651 Vgl. Kant, in: Was ist Aufklärung?, S. 9. 652 Vgl. Frotscher/Pieroth, § 4 Rn. 119. 653 Ebd., § 4 Rn. 121 ff. 646

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

ten Staat gestalten könne.654 Das notwendige Werkzeug dafür war dann gerade die Gesetzgebung.655 Auf Grundlage insbesondere der Werke von Hugo Grotius (1593–1645), ­Thomas Hobbes (1588–1679) und Samuel von Pufendorf (1632–1694) wurde sodann die Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts entwickelt.656 Laut Vormbaum setzte die neuzeitliche Naturrechtslehre den denkenden Menschen an die Stelle des gläubigen Menschen des Mittelalters und löste sich dadurch vom Einfluss der Theologie.657 Das Naturrecht als säkularisiertes Recht bestand nach dieser Ansicht aus den von der Vernunft des Menschen als Träger angeborener Rechte abgeleiteten Grundsätzen.658 Dazu gehörten beispielsweise die Beachtung fremden Eigentums, das Einhalten des in Verträgen Vereinbarten sowie die Pflichten, verursachte Schäden wiedergutzumachen und die Strafe für begangenes Unrecht zu tragen.659 Das von Menschen geschaffene Recht musste demnach mit den Geboten der Vernunft übereinstimmen.660 Auf diese Weise gewann das positive Recht den Charakter von Geboten bzw. Befehlen der staatlichen Obrigkeit. Der Machthaber hatte sich daher mittels der Gesetze als Willensakte um das allgemeine Wohl und den Frieden zu kümmern.661 Die Naturrechtslehre schuf die Grundlage dafür, das traditionelle Recht in Frage zu stellen. Das alte „justinianische Recht“ galt demnach als nicht mehr zeitgemäße, lückenhafte und widersprüchliche Rechtsordnung des „Ancien Regime“.662 Das mittelalterliche Strafrecht wurde auch in diesem Kontext wegen seiner Grausamkeit heftig kritisiert, u. a. aufgrund des übermäßigen Gebrauchs von Folter, Körperstrafen und der qualvoll durchgeführten Todesstrafe.663 Den Naturrechtsphilosophen zufolge war der Mensch nicht nur in der Lage, ein völlig neues Recht zu schaffen, sondern dieses auch in einer schriftlichen und kohärenten Art und Weise zu verfassen.664 Daraus entstand die Idee der Kodifikation. Dieses mathematischdeduktive Denken führte dazu, dass die Rechtsordnung als ein umfassendes und 654 Ebd., § 4 Rn. 124; siehe den von Kant verfassten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, Kant, in: Was ist Aufklärung?, S. 11, 17–18. 655 Willoweit spricht insofern von „Herrschaft der Gesetze“, siehe Willoweit, § 26 Rn. 8. 656 Dazu ausführlich Schlosser, S.  161 ff.; zur naturrechtlichen Auffassungen dieser drei Autoren siehe Welzel, Naturrecht, S. 114 ff., 123 ff., 130 ff. 657 Vgl. Vormbaum, S. 25–26. 658 Vgl. Schlosser, S. 163. 659 Ebd. 660 Ebd. 661 Dazu ausführlich Schreiber, Gesetz, S. 46–47. 662 Vgl. Schlosser, S. 191; in diesem Zusammenhang weist Glenn auf die „creative power“ des geschriebenen Rechts hin und betont die Expansion des Gesetzesrechts zu Lasten vor allem des Gewohnheitsrechts, siehe Glenn, Legal Traditions, S. 145. 663 Hinsichtlich der Forderungen der strafrechtlichen Aufklärung siehe Vormbaum, S. 28–30; zum Einfluss von Beccaria als Vertreter der strafrechtlichen Aufklärung siehe Hilgendorf, in: Gesetzlichkeit, S. 18 ff. 664 Vgl. Schlosser, S. 191; siehe auch Glenn, Legal Traditions, S. 151.

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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widerspruchsfreies, ideales Normensystem betrachtet wurde,665 das gerechte Antworten auf alle im Alltag auftretenden Rechtsfragen enthält.666 Es ging um eine umfassende und kohärente Formulierung von Normen durch abstrakte Begriffe, die die Subsumtion besonderer Fallgestaltungen bzw. Probleme ermöglichten.667 Die Idee hinter diesem Gedanken bestand darin, die soziale Realität durch die Vernunft zu erfassen. Das geschriebene Recht als Verkörperung des sog. Vernunftrechts diente daher der Gestaltung einer rationalen politischen Gemeinschaft.668 Die Idee der Kodifikation führte zur Gleichsetzung von Recht und Gesetz.669 Aus diesem Grund beanspruchte das Gesetz als „Realisierung des umfassenden Vernunftsystems“ ausschließliche Geltung.670 Diese Vorstellung bedeutete in der politischen Wirklichkeit eine Vielfalt neuer Möglichkeiten für die absolutistischen Herrscher, weshalb sie sich um die ausschließliche Befugnis zur Gesetzgebung bemühten. Die Fürsten konsolidierten und stabilisierten dank dieser Ideen ihre politische Macht mithilfe des Gesetzes.671 In diesem Zusammenhang ent­standen beispielsweise das Kriminalgesetzbuch des Großherzogs der Toskana Leopold II. (1786), das Allgemeine Gesetz über Verbrechen und derselben Bestrafung Josephs II. von Österreich (1787) (die sog. Josephina)  und das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 (ALR).672 Die ersten im 18. Jahrhundert von deutschen Fürsten erlassenen neuen Strafgesetzbücher, wie z. B. der Codex Juris Bavarici Criminalis (1769) und die österreichische Constitutio Criminalis Theresiana (1768), entsprachen zwar mehr oder weniger dem bereits erwähnten Verständnis von Kodifikation, änderten jedoch noch nichts hinsichtlich der Stellung der Richter im Bezug auf die Gesetz 665 Insofern spricht Schreiber von der „Mathematisierung des Sozialmodells“, vgl. Schreiber, Gesetz, S. 48. 666 Vgl. Schlosser, S. 192. 667 Vgl. Schreiber, Gesetz, S. 48. 668 Vgl. Schlosser, S. 192; in Glenns Worten: „Using law as the instrument of reason, you can also construct a modern state, which is essentially created out of formal, written law“, Glenn, Legal Traditions, S. 153. 669 Vgl. Schlosser, S. 192; siehe Pound, Interpretations, S. 14 ff. 670 Vgl. Schreiber, Gesetz, S. 49. 671 Vgl. Schlosser, S. 193; zum Zusammenhang zwischen dem Entstehungsprozess des Nationalstaats zur Zeit des aufgeklärten Absolutismus, dem Verständnis der Rechtsquellen und der Kodifikation des Rechts in Kontinentaleuropa siehe Merryman/Pérez-Perdomo, S. 20 ff.  672 Vgl. Vormbaum, S. 35–36; zur (französischen) Kodifikation nicht als Form, sondern als Ausdruck einer Ideologie bzw. Utopie siehe Merryman/Pérez-Perdomo, S. 27–30, ihnen zufolge kann die Ideologie der Kodifikation durch sechs Elemente gekennzeichnet werden: Ablehnung der Autorität des alten Rechts; Nationalismus und Betonung des nationalen, zentralisierten Rechts; übertriebener Rationalismus; Glauben an die Eindeutigkeit, Gesamtheit und Nachvollziehbarkeit des geschriebenen (kodifizierten) Rechts, sogar in den Augen des einfachen Bürgers; Misstrauen gegenüber dem Richterrecht. Dies stellt laut Merryman und P ­ érez-Perdomo einen der wesentlichen Merkmale der Civil-Law-Tradition dar, das in der Common-Law-Tradition nicht zu finden ist. Obwohl es in Common-Law-Ländern, wie z. B. den Vereinigten Staaten, auch Gesetzbücher gibt bzw. gewisse Bemühungen stattgefunden haben, um das Recht zu kodifizieren, hat die Idee der Kodifikation in diesen Kontexten nicht die gleiche Implikation.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

gebung.673 Die Unterwerfung der Richter unter das geschriebene Recht erfolgte erst mit der Josephina und später mit dem ALR. In diesen Gesetzen kann der Grundgedanke Montesquieus (1689–1755) bzgl. des Verhältnisses zwischen richterlicher und gesetzgebender Gewalt gefunden werden.674 Entsprechend Montesquieus Vorstellungen von Freiheit und Gesetz ergab sich ein tiefes Misstrauen gegenüber den Richtern, das durch ihre strenge Gesetzesbindung beseitigt werden sollte.675 Montesquieu zufolge bestand die Freiheit darin, „alles zu tun, was die Gesetze erlauben“.676 Montesquieu betrachtete demnach das Gesetz als die einzige Möglichkeit zur Verwirklichung der Freiheit. Für ihn waren Gesetze im weitesten Sinne Beziehungen, „die sich aus der Natur der Dinge mit Notwendigkeit ergeben“.677 Daher seien Gesetze in Übereinstimmung mit der „Natur“ bzw. Wirklichkeit des betroffenen Landes zu erlassen und nicht nach der „Laune“ eines bestimmten Gesetzgebers.678 Nur so spiegele das Gesetz die Vernunft wider und ermögliche es, der Willkür Einhalt zu gebieten.679 Eine strikte Trennung der staatlichen Gewalt, also der gesetzgebenden, der vollstreckenden und der richterlichen Gewalt, war hierfür nach Montesquieus Auffassung unerlässlich.680 Dementsprechend sollten sich Richter nur mit der Anwendung genau formulierter Gesetze begnügen. Denn es gebe keine Freiheit, „wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt ist“.681 Aus diesem Grund betonte Montesquieu, dass „Richter […] nur der Mund [sind], der die Worte des Gesetzes ausspricht, willenlose Wesen, die weder seine Schärfe, noch seine Strenge [zu] mildern vermögen“.682 Dieser Gedanke der Gesetzesbindung lag den bereits genannten Gesetzbüchern Österreichs und Preußens, der Josephina und dem ALR, zugrunde.683 § 1 des 673

Vgl. Schreiber, Gesetz, S. 45. Zur Rezeption Montesquieus in Deutschland im 18. Jahrhundert siehe Herdmann, S. 128 (insbesondere zum Einfluss von Montesquieu auf Friedrich II.). 675 Vgl. Vormbaum, S. 30; in diesem Punkt kann der Einfluss der französischen Revolution auf die Entwicklung des deutschen (Straf-)Rechts gesehen werden: Richter waren in Frankreich Angriffsziel der Revolution, sie wurden im Unterschied zum englischen Richtertum, das als eine „progressive force“ gesehen wurde, als „an aristocratic group who supported the landed aristocracy against the centralization of governmental power“ wahrgenommen (Merry­ man/Pérez-Perdomo, S. 17). 676 Vgl. Montesquieu, S. 212–213. 677 Ebd., S. 9. 678 Ebd., S. 14 ff.; siehe dazu Schreiber, Gesetz, S. 54. 679 Vgl. Schreiber, Gesetz, S. 54. 680 Ebd. 681 Vgl. Montesquieu, S. 215. 682 Ebd., S. 225. 683 Laut Marryman und Pérez-Perdomo weist das deutsche BGB (1896) nicht alle Merkmale der französischen Kodifikation und der unter ihrem Einfluss erlassenen Gesetzbücher auf, wie z. B. das ALR; es entspreche nicht dem „revolutionary, rationalistic, and non-technical“ Charakter des Code Napoléon; das BGB kann daher viel eher als historisch und wissenschaftlich bezeichnet werden. Trotzdem verkörpert es jedenfalls den Gedanken der strikten Gewaltenteilung und daher die Ideale einer kohärenten und umfassenden Kodifikation als Voraussetzung einer einheitlichen Nation, siehe Merryman/Pérez-Perdomo, S. 31–33. 674

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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ersten Teiles der Josephina schrieb z. B. vor: „[A]ls Criminalverbrechen [sind] nur diejenigen gesetzwidrigen Handlungen anzusehen und zu behandeln, welche durch gegenwärtiges Strafgesetz als solche erklärt werden“.684 In § 6 der Einleitung des ALR war bis 1789 sogar ein sog. Kommentierungsverbot für Richter und Rechtsprofessoren festgeschrieben, um die „Korrektur“ oder Ergänzung des Gesetzes zu vermeiden.685 Ferner implizierte das ALR ein neues Gesetzesverständnis, wonach es als Handlungsnorm für die Bürger diente und eine unmittelbare Rechts- und Pflichtenbeziehung zwischen den Bürgern und dem Staat begründete; es stand damit im Gegensatz zu früheren Gesetzen, die sich nur an die Rechtsanwender richteten.686 Deshalb machten §§ 10 und 11 der Einleitung des ALR die rechtliche Wirkung des Gesetzes auch von seiner Bekanntmachung abhängig, und § 14 schrieb vor, dass neue Gesetze auf schon vorgefallene Handlungen und Begebenheiten nicht angewendet werden dürfen.687 Trotzdem wurden durch diese Regelungen nicht festgeschriebene Verbote und Strafen nicht völlig ausgeschlossen. Das ALR bezog sich in seiner Einleitung in § 87 beispielsweise noch auf die durch natürliche Gesetze verbotenen Handlungen.688 Außerdem ist festzuhalten, dass diese Normen nicht notwendigerweise auf die Sicherung der individuellen Freiheit abzielten, sondern vielmehr darauf, „alle richterliche Ermessensfreiheit im Interesse der Durchsetzung der absoluten Gewalt zu beseitigen“.689 4. Feuerbach und die Formulierung des Gesetzlichkeitsprinzips: zwischen aufgeklärtem Naturrecht und Rechtspositivismus Die Entstehung des Gesetzlichkeitsprinzips im deutschen Strafrecht ist untrennbar mit dem Namen Paul Johann Anselm Feuerbach (1775–1833) verknüpft.690 Feuerbachs Auffassung beruht auf aufgeklärten naturrechtlichen Erwägungen691 684

Zitiert in Schreiber, Gesetz, S. 73. Vgl. Schlosser, S. 213. 686 Dazu ausführlich Kleinheyer, S. 212 ff. 687 Ebd.; einige Abschnitte des ALR sind verfügbar unter: www.uni-heidelberg.de/institute/fak2/mussgnug/ALR.doc (zuletzt aufgerufen am 06.02.2017). 688 § 87 ALR: „Handlungen, welche weder durch natürliche, noch durch positive Gesetze verboten worden, werden erlaubt genannt“. 689 Dazu ausführlich Schreiber, Gesetz, S. 77 ff. 690 Ebd., S. 102 ff. 691 Die Lehre Feuerbachs bewegt sich zwischen naturrechtlichen (aufgeklärten) Ideen und positivistischen Erwägungen; dazu behauptet z. B. Radbruch: „Wie Kant der kritizistische Markscheider war in dem Grenzstreit zwischen Rationalismus und Empirismus, so hat Feuerbach dem Naturrecht einerseits, andererseits dem Positivismus […] Platz und Schranke gewiesen. […] Naturrechtlicher Willkür das Bollwerk des Rechtsstaates entgegenzusetzen, war Feuerbachs geschichtliche Sendung: er ist der Rechtstheoretiker des liberalen Rechtsstaates. […] Aber er erschöpfte sich nicht in diesem Formalismus, diesem Rigorismus des positiven Gesetzes“, Radbruch, Feuerbach ein Kämpfer, in: Gesamtausgabe, Band VI, S. 290–291; Feuerbachs Auffassung ist einerseits von der politischen Philosophie der Aufklärung und andererseits von Kant beeinflusst worden, was in seinem Staatsbegriff deutlich gesehen werden kann (vgl. 685

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

und enthält Elemente, die zu einem formalisierten Verständnis des Rechts führen. Hierbei wird der Vorrang des Gesetzesrechts verteidigt und zugleich die Bedeutung der Rechtswissenschaft betont. Feuerbach zufolge soll das geschriebene Gesetz den Ausgangspunkt der Rechtswissenschaft und den daran ausschließenden Mechanismus zur allgemeinen Anerkennung von Rechten bilden.692 Ferner begreift er die Rechtswissenschaft als Mittler zwischen Gesetzgebung und richterlicher Gewalt und betont aus diesem Grund ihre Bedeutung für die Erläuterung und Systematisierung des geltenden Rechts.693 In diesem Kontext begründet Feuerbach das Gesetzlichkeitsprinzip in einer Weise, aus der sich das Rückwirkungsverbot ohne explizite Erwähnung ergibt.694 Feuerbach begründet das Gesetzlichkeitsprinzip aus einer kriminalpolitischen Sicht mithilfe der Theorie des psychologischen Zwangs.695 Ihm zufolge besteht der Zweck des Staates darin, die Rechte und Freiheiten der Bürger zu schützen. Er selbst sagt dazu: „Sein Zweck ist die Errichtung des rechtlichen Zustands, d. h. das Zusammenbestehen der Menschen nach dem Gesetz des Rechts“.696 Für die Erreichung dieses Ziels seien Zwangsmaßnahmen unabdingbar.697 Allerdings genüge der nach der Rechtsverletzung zugefügte physische Zwang nicht, weil dieser zu spät erfolge.698 Der Staat müsse daher auf ein anderes Mittel zurückgreifen, um auf potenzielle Täter einzuwirken und dadurch rechtswidrige Handlungen zu verhindern. Die gesetzliche Strafandrohung stelle gerade dieses Mittel dar.699 Die von Feuerbach vertretene psychologische Vorstellung des Menschen ist durch den Intellektualismus, Individualismus und Moralismus des 18. Jahrhunderts geprägt.700 Feuerbach nimmt an, dass das menschliche Verhalten durch die Bestimmung seiner Gründe und Folgen und damit der konkreten Motivationen vernünftig verstanden und erklärt werden könne.701 Er behauptet in diesem Zusammenhang, dass alle Handlungen aus dem Verlangen nach Lust entspringen würden.702 Schreiber, Gesetz, S. 101–102); der Einfluss der politischen Philosophie der Aufklärung (z. B. Volteire und Beccaria) auf Feuerbach ist jedoch stärker als der von Kant (siehe dazu Hilgendorf, in: Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, S. 149 ff.); die liberale Prägung Feuerbachs erweist sich in der Ablehnung der unbegrenzten Übertragung der Macht auf den Souverän im Sinne von Hobbes (vgl. Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 154 ff.; siehe dazu Brandt, in: Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, S. 174–177). 692 Dazu ausführlich Feuerbach, in: Naturrecht und positives Recht, S. 73 ff. 693 Ebd. 694 Vgl. Schreiber, Gesetz, S. 108. 695 Siehe dazu Feuerbach, Lehrbuch, § 8 ff. 696 Ebd., § 8, 9. 697 Ebd., § 10. 698 Ebd., § 11. 699 Ebd., § 12 ff.; siehe die von Binding formulierte Kritik an der Theorie des psychologischen Zwangs in Binding, Handbuch, S. 27; aus heutiger Sicht auch kritisch hierzu Frisch, in: Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, S. 196 ff. 700 Vgl Radbruch, Feuerbach als Kriminalpsychologe, in: Gesamtausgabe, Band VI, S. 283. 701 Ebd., S. 283 ff. 702 Vgl. Feuerbach, Lehrbuch, § 13.

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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In diesem Sinne erläutert Schreiber bzgl. der Theorie des psychologischen Zwangs: „[E]in Anreiz zu einer Tat entsteht, wenn diese Lust verspricht und ihre Nichtvornahme Unlust“.703 Somit werde der Anreiz für eine Tat aufgehoben, wenn mit ihr ein Nachteil verbunden sei, wie z. B. eine Strafe. Die von der Strafe ausgehende Unlust müsse daher gegenüber der sich aus der Nichtvornahme der geplanten Tat ergebenden Unlust überwiegen.704 Der durch die Strafandrohung ausgeübte psychologische Zwang könne aber die Verwirklichung von Delikten nur verhindern, wenn alle Bürger mit Gewissheit zuvor die Folgen der Rechtsverletzungen kennen würden.705 Um dies zu erreichen, müsse in einer allgemeinen und zwingenden Weise eine Verbindung zwischen der Tat und der Strafe durch das Gesetz, also durch das geschriebene Recht, hergestellt werden.706 Strafe und Gesetzesrecht sind also für Feuerbach begrifflich verbunden. Insoweit behauptete er 1797 in seinem Werk „Anti-Hobbes“: „Üben wir […] Gewalt, um ein physisches Übel zuzufügen, das wir in der Absicht uns vor Beleidigungen zu sichern vorher angedroht haben, so ist dies Strafe“.707 Auch an einer anderen Stelle desselben Werks schreibt er: „Strafe setzt immer […] eine Androhung oder ein Strafgesetz voraus“.708 Deshalb schlägt Feuerbach in seinem Lehrbuch (1801) als höchste Prinzipien des „peinlichen Rechts“ die zwei lateinischen Ausdrücke „nulla poena sine lege“ und „nulla poena sine crimine“ vor.709 Dem ersten Grundsatz zufolge kann eine Strafe nicht verhängt werden, wenn sie nicht gesetzlich bestimmt war; laut dem zweiten Prinzip erfordert das Verhängen einer Strafe zwingend die Verwirklichung einer durch das Gesetz als Verbrechen definierten Tat.710 Das Gesetzlichkeitsprinzip hat nach der Auffassung von Feuerbach aber auch eine tiefere Bedeutung. Es diene nicht nur der Vermeidung bestimmter unerwünschter bzw. verwerflicher Handlungen mithilfe der Strafandrohung und dem Schutz der Bürger vor richterlicher Willkür,711 sondern auch der Verwirklichung der Rechtsordnung selbst. In seinem Werk „Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft“ legt Feuerbach den Zusammenhang zwischen Rechtswissenschaft und positivem Recht dar und verteidigt zugleich den Vorrang des Gesetzesrechts.712 Hier behauptet er, dass das Gesetz der 703

Vgl. Schreiber, Gesetz, S. 104. Ebd.; vgl. Feuerbach, Lehrbuch, § 13. 705 Vgl. Schreiber, Gesetz, S. 104. 706 Ebd., S. 105; vgl. Feuerbach, Lehrbuch, § 14. 707 Vgl. Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 203. 708 Ebd., S. 207. 709 Ebd., § 20. 710 Ebd. 711 Hilgendorf zufolge zeigt gerade dies, dass Feuerbach u. a. von Beccaria beeinflusst wurde (vgl. Hilgendorf, in: Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, S. 164–165); Feuerbach verteidigte auch die Notwendigkeit der Kodifikation des Strafrechts (Brandt, in: Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, S. 173). 712 Zum Zusammenhang zwischen Feuerbachs Straftheorie und dem Schutz individueller Rechte und Freiheiten als Staatsaufgabe siehe Frisch, in: Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, S. 191 ff. 704

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Vernunft, das „Rechtsgesetz“, die letzte Quelle aller Rechte sei.713 Allerdings erklärt Feuerbach, dass dieses Gesetz keine unmittelbare allgemeine Geltung haben könne, sondern erst in ein Positivgesetz überführt werden müsse.714 Der Gesetzgeber sei daher der höchste Interpret des „Rechtsgesetzes“, und deswegen solle er sich nicht von subjektiven Urteilen beeinflussen lassen.715 Darüber hinaus kennzeichnet Feuerbach die Gewissheit über die Rechte als die erste Bedingung des rechtlichen Zustands. Nur wenn Rechte eindeutig bestimmt seien, könne der Staat diese Rechte sichern.716 Dementsprechend bilde das Positivgesetz die „erste und nächste Quelle“ aller Rechte der Bürger. Folglich dürfe nur der Gesetzgeber bestimmen, was nach dem Vernunftrecht hinsichtlich der „Verhältnisse des Lebens“ rechtmäßig sei.717 Trotzdem erkennt Feuerbach auch an, dass das Gesetz bzw. der Gesetzgeber allein die erforderliche Gewissheit über das Recht, die zur Verwirklichung des rechtlichen Zustands dient, nicht verschaffen kann.718 Die Rechtswissenschaft müsse auch eine wesentliche Rolle spielen. Laut Feuerbach soll der Rechtsgelehrte also „mit der Fackel der Wissenschaft das Gesetz beleuchten, aus dem der Richter dem Untertan seine Rechte zuerkennen soll“.719 Jede Rechtsnorm bestehe aus mehreren Elementen, die als Voraussetzung für eine rechtliche Folge dienen würden.720 Die Rechtswissenschaft solle folglich gerade solche Voraussetzungen durch Begriffsbestimmung zusammenfassen und festlegen.721 Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Gewährleistung der Gewissheit der Rechtsordnung kann auch im folgen 713

Vgl. Feuerbach, in: Naturrecht und positives Recht, S. 77. Ebd., S. 77–78. 715 Ebd., S. 82. 716 Ebd., S. 78. 717 Ebd., S. 83. 718 Ebd., S.  84; dies bildet einen wesentlichen Unterschied zu Beccaria, der zwar ebenso wie Feuerbach das Gesetzlichkeitsprinzip als Gesetzesvorbehalt zur Festlegung der strafbaren Handlungen verteidigte (vgl. Beccaria, S. 61). Beccaria vertrat jedoch eine extrem legalistische Auffassung (wie Montesquieu), der zufolge Richter nicht einmal die Befugnis zur Gesetzesauslegung hätten (ebd., S. 63). Diese Auffassung wurde mit dem Kommentierungsverbot ins preußische ALG aufgenommen. Beccaria zufolge müsse der Richter lediglich „einen vollkommenen Syllogismus“ mit dem Gesetzeswortlaut als Obersatz und der jeweiligen Handlung als Untersatz vollziehen; er behauptete insofern: „Zieht der Richter gezwungen oder freiwillig auch nur einen Schluß mehr, so wird der Ungewißheit Tür und Tor geöffnet“ (ebd., S. 63–64). Beccarias Misstrauen gegenüber dem Richter und jeder Art von Gesetzesinterpretation wird in folgendem Zitat noch deutlicher: „Es gibt nichts Gefährliches als jenes verbreitete Axiom, daß man den Geist des Gesetzes zu Rate ziehen müsse“ (ebd., S. 64). In diesem Zusammenhang sieht er die „gute oder schlechte Logik der Richter“, ihre „gute oder schlechte Verdauung“, „die Stärke seiner Leidenschaften“ und „all die kleinsten Kräfte, welche den Anschein eines jeden Gegenstandes im unsteten Herzen des Menschen verändern“ (ebd.) als Ursachen der Ungewissheit im Recht an. Daraus ergibt sich ihm zufolge die Notwendigkeit der Kodifikation, aber nicht durch eine „dem Volk fremde Sprache“, die nur einige wenige verstehen können (ebd., S. 66). 719 Vgl. Feuerbach, in: Naturrecht und positives Recht, S. 84. 720 Ebd., S. 91. 721 Ebd., S. 92 ff. 714

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den Zitat von Feuerbach erkannt werden: „Der größte Teil der rechtlichen Begriffe selbst wird also nicht durch den Gesetzgeber gegeben, sondern muss durch den Rechtsgelehrten geschaffen werden“.722 In diesem Sinne besteht laut Feuerbach die Aufgabe des Rechtsgelehrten darin, den „lebendigen Geist der Gesetzgebung, der zugleich der Geist der Wissenschaft ist“, zu erläutern.723 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Feuerbach sich für die Positivierung des Strafrechts aussprach, ohne aber dem Gesetzgeber uneingeschränkt zu vertrauen. Die durch das geschriebene Recht zu schaffende Rechtssicherheit bedurfte jedenfalls seiner Auffassung nach der Rechtsdogmatik zur vollständigen Verwirklichung. 5. Konsolidierung des Gesetzlichkeitsprinzips im 19. Jahrhundert Die Entwicklung des Gesetzlichkeitsprinzips vollzog sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Deutschland sowohl in den Partikularstrafgesetzbüchern als auch in den Verfassungen der Staaten des Deutschen Bundes.724 Das Prinzip fand 1871 mit der Gründung des Deutschen Reiches allgemeine Anerkennung. Nach der Niederlage Napoleons trat eine Welle an Kodifikationsbestrebungen im Bereich des Strafrechts auf.725 Das von Feuerbach entworfene Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 spielte in diesem Prozess eine gewichtige Rolle.726 Schreiber erklärt dessen Bedeutung auf folgende Weise: „Dieses Gesetzbuch bildet den Ausgangspunkt der modernen, rechtsstaatlich-liberalen Epoche des Strafrechts in Deutschland“.727 Das Bayerische StGB trug somit wesentlich zur Verbreitung der Idee bei, dass nur die im Gesetz explizit mit einer Strafe bedrohten Handlungen strafbar sein dürfen.728 Dieses Gesetzbuch diente beispielsweise 1814 als Vorbild für das Oldenburger StGB. Art. 1 des Oldenburger StGB schrieb vor: „Wer eine unerlaubte Handlung oder Unterlassung verschuldet, für welche ein Gesetz gewisses Uebel gedrohet hat, ist diesem gesetzlichen Uebel als seiner Strafe unterworfen“.729 Der Gedanke der Gesetzesbindung findet sich z. B. auch in Art. 26 der Verfassung des Königreichs Württemberg vom 25.09.1819: „Niemand darf seinem ordentlichen Richter entzogen werden und anders als in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und in den gesetzlichen Formen verhaftet und bestraft […] werden“.730 722

Ebd. Ebd., S. 99. 724 Vgl. Schreiber, Gesetz, S. 118. 725 „Bis in die 60er Jahre des Jahrhunderts besaßen alle deutschen Territorien mit Ausnahme Mecklen­burgs kodifiziertes Strafrecht“, Vormbaum, S. 77. 726 Vgl. Schreiber, Gesetz, S. 118. 727 Ebd. 728 Ebd., S. 119. 729 Ebd. 730 Es findet sich auch in der Verfassung für das Königreich Bayern vom 26.5.1818, ebd., S. 120. 723

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Das Rückwirkungsverbot wurde auch im Grundgesetz für das Herzogtum Sachsen-Altenburg vom 29.04.1831 ausdrücklich festgeschrieben: „Keinem neuen Gesetze darf rückwirkende Kraft beigelegt werden“.731 Allerdings findet sich das Prinzip in den meisten Fällen nicht in den Strafgesetzbüchern selbst, sondern vielmehr in den Einführungsgesetzen, mit Ausnahme z. B. von Hessen und Baden.732 Das Preußische StGB vom 14.04.1851 bildete einen Meilenstein in Deutschland für die Konsolidierung des Rückwirkungsverbots und damit des NCSL-Prinzips im Anschluss an den Gedanken der Gesetzesbindung. § 2 des Preußischen Strafgesetzbuchs lautete: „Kein Verbrechen, kein Vergehen und keine Uebertretung kann mit einer Strafe belegt werden, die nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde“.733 Am 31.05.1870 wurde dieses Strafgesetzbuch unverändert für den gesamten Norddeutschen Bund übernommen.734 Am 15.05.1871 wurde es dann sogar nach dem deutschen Sieg im deutsch-französischen Krieg (1870–1871) und nach der Gründung des Deutschen Reiches als Reichstrafgesetzbuch verkündet.735 Wie auch Frotscher und Pieroth hervorgehoben haben, handelte es sich u. a. bei § 2 RStGB um die Erfüllung bestimmter liberaler Forderungen nach erhöhter Berechenbarkeit des staatlichen Handelns als Mittel zur Integration des neu gegründeten Reiches.736 Die Konsolidierung des Gesetzlichkeitsprinzips erfolgte im Deutschland des 19. Jahrhunderts in einem Kontext, in dem auch weitere Strategien zur Verschaffung von Rechtssicherheit entwickelt wurden. In diesem Rahmen ist insbesondere die Entstehung und Entwicklung der (deutschen) positiven Rechtswissenschaft zu nennen. Das 19. Jahrhundert war in Deutschland das Jahrhundert der Rechtswissenschaft, „dieser allseits bewunderten Maschine zur Herstellung von Rechtssicherheit jenseits von Gesetz und Urteil“.737 Im Kontext der Französischen Revolution bildete der Vorrang eines einheitlichen Gesetzes als Kodifikation die Antwort auf das willkürliche Recht, wohingegen die im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte englische Antwort im Unterschied dazu u. a. die doctrine of prece­dent war.738 In Deutschland hingegen etablierte sich damals die Rechtswissenschaft, die eine selbständige und sogar privilegierte Rechtsquelle bildete, als dritte Möglichkeit.739 Rechtswissenschaft bedeutet in diesem Zusammenhang die logische Rekonstruktion des geltenden Rechts durch Begriffsbildung. Danach muss die Rechtsordnung als ein System dargestellt werden, um zu einem Erkennt 731

Ebd. Ebd., S. 161. 733 Vgl. Vormbaum, S. 81; diese Fassung entsprach dem Artikel 4 des französischen Code­ Pénal von 1810, vgl. Schreiber, Gesetz, S. 164. 734 Ebd., S. 167; auch Vormbaum, S. 85. 735 Dazu ausführlich Vormbaum, S. 86. 736 Vgl. Frotscher/Pieroth, § 14 Rn. 453. 737 Kiesow, JZ 2010, 585 (588). 738 Ebd., S. 586. 739 Ebd., S. 587. 732

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nisgegenstand werden zu können.740 Laut Larenz impliziert der Gedanke des Systems „die Entfaltung einer Einheit in einer Mannigfaltigkeit, die dadurch als ein Sinnzusammenhang erkannt wird“.741 Das Begriffssystem bilde dann eine Pyramide, an deren Spitze sich der höchste Begriff befinde, der weit über der Basis schwebe und darum den umfassendsten Überblick ermögliche.742 Das Ideal des logischen Systems werde vollendet, wenn sich alle übrigen Begriffe „als solche von Arten und Unterarten“ unter den höchsten Begriff subsumieren ließen.743 Die Idee der Rechtswissenschaft als systematischer Rekonstruktion des Rechts verbreitete sich vor allem unter dem Einfluss von Friedrich Carl von  Savigny (1779–1861) und Georg Friedrich Puchta (1798–1846), die gerade die Rechtswissenschaft neben der Gesetzgebung und dem Gewohnheitsrecht als selbstständige Rechtsquelle betrachteten.744 Die Rechtswissenschaft verlor jedoch aufgrund der nationalen Kodifikationsarbeiten Ende des 19.  Jahrhunderts (das StGB von 1871 und das Bürgerliche Gesetzbuch bzw. BGB von 1900) diese Bedeutung.745 Sie blieb allerdings in Deutschland der vorherrschende Ansatz in der Lehre des Rechts, ein Ansatz, der sich zwischen Rechtsauslegung und Rechtsschöpfung bewegt.746 Auch im Bereich des Strafrechts wurde der Systemgedanke im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgenommen, wobei das Gesetzesrecht den Ausgangspunkt zur Bildung des Systems darstellte. In diesem Sinne äußerte sich von Liszt 1891 in seinem Werk „Lehrbuch des Deutschen Strafrechts“, in dem er die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft wie folgt festlegte: „Somit erwächst der Strafrechtswissenschaft die nächste Aufgabe, in rein juristisch-technischer Betrachtung, gestützt auf die Strafgesetzgebung, Verbrechen und Strafe als begriffliche Verallgemeinerungen ins Auge zu fassen; die einzelnen Vorschriften des Gesetzes, bis zu den letzten Grundbegriffen und Grundsätzen aufsteigend, zum geschlossenen Systeme zu entwickeln; im besonderen Teil des Systemes die einzelnen Verbrechen und die auf dieselben gesetzten Strafen, im allgemeinen Teile des Verbrechens, die Strafe überhaupt darzustellen“.747

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Vgl. Larenz, S. 19: „Das ‚System‘ bedeutete hier […] die einzige mögliche Weise, in der sich der erkennende Geist der Wahrheit zu versichern vermag: Kriterium der inneren ‚Vernünftigkeit‘, unerläßliche Anforderung echter Wissenschaftlichkeit“. 741 Ebd. 742 Ebd., S. 20. 743 Ebd. 744 Vgl. Savigny, S.  11 (zum Begriff der Rechtsquellen), 34–38 (zum Gewohnheitsrecht), ­38–44 (zur Gesetzgebung), 45–49 (zum wissenschaftlichen Recht); siehe auch Puchta, S. 30 ff., 37. 745 Vgl. Kiesow, JZ 2010, 585 (589). 746 Vgl. Merryman/Pérez-Perdomo, S. 61–62. 747 Von Liszt, Lehrbuch (1891), S. 2, von Liszt zufolge bildet die Strafrechtswissenschaft im engeren Sinne neben der Kriminalpolitik, die auf die Kriminologie und die Pönologie gestützt war, einen Zweig der sog. gesamten Strafrechtswissenschaft; siehe auch den Aufsatz „Die Aufgaben und die Methode der Strafrechtswissenschaft“, von Liszt, in: Strafrechtliche Aufsätze, S. 284 ff., insbesondere S. 285–286.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

Dementsprechend wurde auch die Idee dargestellt, der zufolge die wissenschaftliche Betrachtungsweise des Rechts die einzige Möglichkeit zur Verhinderung der willkürlichen Rechtsanwendung sei.748 Dies erweist sich als ein zentrales Element für das Verständnis des NCSL-Prinzips als Gesetzesbindung der Richter im deutschen Kontext. Wenngleich von Liszt auch das Gesetz als einzige Quelle des Strafrechts akzeptierte und vor diesem Hintergrund das Strafgesetzbuch als die „magna charta des Verbrechers“ bezeichnete,749 plädierte er nicht für ein übertriebenes Verständnis der Gesetzesbindung, in der Richter nicht einmal das Gesetz auslegen durften, wie z. B. Baccaria es tat. Im Gegenteil forderte von Liszt die Anwendung des Rechts „in seinem organischen Zusammenhang“, d. h. die Anwendung des „wissenschaftlich erkannten Rechts“.750 Auch Binding ging vom Systemgedanken aus. Er behauptete 1885 z. B., dass es die Aufgabe der Wissenschaft sei, die Bestandteile des positiven Rechts „in ihrer Vereinzelung wie in ihrem Zusammenhang zu erfassen und zu durchleuchten“.751 Binding erkannte jedoch noch deutlicher als von Liszt den schöpferischen Charakter der Strafrechtswissenschaft an.752 In diesem Sinne bezog er sich auf ihr „ewiges Mittleramt zwischen Rechtsschöpfung und Rechtsanwendung“ 753 und hielt daran fest, dass die Rechtswissenschaft auch zur „Ausfüllung von Lücken“ und zur „Beseitigung von Mängeln“ des Gesetzes dienen müsse, nicht aber des geltenden Rechts.754 Ihre Aufgabe liege also auch darin, ein „latentes Recht“ ans Licht zu bringen.755 Anfang des 20. Jahrhunderts wurde von Beling in diesem Kontext und als Ergebnis wissenschaftlicher Reflexion auch der Begriff des Straftatbestandes erarbeitet. Beling formulierte die Tatbestandsmäßigkeit als eine selbstständige dogmatische Kategorie, die als erstes Element, noch vor der Rechtswidrigkeit und der 748

Von Liszt, Lehrbuch (1891), S. 2. Von Liszt, ZStW 1893, 325 (357). 750 Von Liszt, Lehrbuch (1891), S. 79–80. 751 Vgl. Binding, Handbuch, S. 9. 752 Dazu behauptete von Liszt: „Damit ist aber auch der Rechtswissenschaft die rechtschaffende Kraft versagt. Durch die Kunst der Auslegung hat sie den Inhalt der Rechtssätze klarzustellen; durch die Begriffsentwicklung kann sie vorhandene, aber nicht ausdrücklich und nicht unmittelbar ausgesprochene Rechtssätze aufdecken“, von Liszt, Lehrbuch (1891), S. 80. 753 Vgl. Binding, Handbuch, S. 14. 754 Ebd., S. 10–11. 755 Ebd.; laut Binding müssen die Ergebnisse der Strafrechtswissenschaft auch als positives Recht betrachtet werden (ebd.); er bezeichnete die Gleichsetzung von positivem Recht und geschriebenem Recht als „Täuschung“ (ebd., S. 11, 29). Vor diesem Hintergrund kritisierte Binding die „Tyrannei“ des NCSL-Prinzips (ebd., S.  17) und insbesondere das Analogieverbot. Ende des 19. Jahrhunderts verteidigte Binding die analoge Anwendung von Straftatbeständen und stellte die vom NCSL-Prinzip ausgehenden Beschränkungen der Richter in Frage. Diese Kritik stützte sich auf den von Binding dargestellten Unterschied zwischen Verhaltensnormen (Verbote oder Gebote) und Straftatbeständen (ebd., S. 156 ff.). Die Analogie bilde die Methode zur Ermittlung eines „latenten“ Rechts, das sich jenseits des kodifizierten Rechts befinde (ebd., S. 212 ff.). 749

C. Rückwirkungsverbot in den englischen und deutschen Rechtstraditionen

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Schuldhaftigkeit der „Handlung“, zu konstatieren sei, um von einer Straftat sprechen zu können.756 Dieser Begriff ist grundlegend für das deutsche Verständnis des NCSL-Prinzips, da demnach „nur fest umrissene Verbrechentypen unter die Strafdrohungen fallen“ können.757 Laut Beling soll der Umriss der Verbrechentypen nur durch die „positivrechtlich angegebenen Tatbestände“ enumerativ erschöpfend festgelegt werden. Formell betrachtet, ist ein Verbrechen bzw. eine Straftat folglich nur der Tatbestand, an den die Strafe als Rechtsfolge geknüpft ist.758 Beling hielt weiter fest, dass es sich hierbei um einen Versuch handele, die „strafbare Handlung“ von der „strafwürdigen Handlung“ zu unterscheiden.759 Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass sich das Erfordernis der Tatbestandsmäßigkeit laut Beling weder aus dem Analogieverbot noch aus dem Gewohnheitsrechtsverbot ergibt.760 Er gab damit zu, dass ein Verbrechenstypus sowohl durch den Analogieschluss als auch durch das Gewohnheitsrecht umrissen werden könne. Ihm zufolge verbietet das StGB dies jedoch gerade, weil es „einen besonders hohen Grad von Tipizität anstrebte, um aller Rechtsunsicherheit vorzubeugen“.761

III. Mögliche historische Gründe für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Rückwirkungsverbots im englischen und im deutschen Strafrecht Das Rückwirkungsverbot als Komponente des NCSL-Prinzips (principle of legality – Gesetzlichkeitsprinzip) ist derzeit sowohl im englischen als auch im deutschen Strafrecht explizit vorgesehen. In beiden Rechtssystemen besteht das Wesen des NCSL-Prinzips aus dem Schutz des Vertrauens der Bürger in die Vorhersehbarkeit staatlicher Handlungen (sog. Vertrauensschutz). Es ist ferner ein grundlegendes Element gegen willkürliche Strafverfolgung. Der Staat muss seine Bürger darüber informieren, unter welchen Bedingungen eine Strafe verhängt wird (fair warning). Das Rückwirkungsverbot als Auswirkung des NCSL-Prinzips wirkt insofern in den betrachteten Rechtsordnungen als eine legitimierende Voraussetzung des Straf­rechts. Dieses Verständnis ging aus dem rationalistischen Individualismus des 17. und 18. Jahrhunderts hervor. Sowohl in England als auch in Deutschland verbreitete sich damals allmählich die Auffassung, dass der Mensch ein rationales Wesen ist, das Gesetze vernünftig befolgen kann und somit in der Lage ist, freie Entscheidungen für oder gegen das Recht zu treffen. Gerade dies bildete die Grundlage der Kritik an der rückwirkenden Festlegung der Strafbarkeit, die z. B. in England von Hobbes und Bentham vertreten wurde. Darauf stützte 756 Vgl. Beling, S. 21; der Begriff des Straftatbestandes „wird aus ihnen, den Inbegriffen der Merkmale der einzelnen Verbrechensarttypen, mittels Abstraktion gewonnen“, ebd., S. 111. 757 Ebd., S. 21. 758 Vgl. von Liszt, Lehrbuch (1932), S. 180. 759 Aus diese Weise lehnte Beling die Idee von „delicta juris naturalis“ ab, Beling, S. 21. 760 Ebd., S. 22–23. 761 Ebd., S. 23.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

auch Feuerbach seine Formulierung des NCSL-Prinzips. Aus dieser Vorstellung des Menschen ergeben sich auch die Forderungen nach der Eindeutigkeit und Systematisierung des Rechts. Nur eine kohärente und damit berechenbare Rechtsordnung könne demnach durch die Vernunft verstanden werden. Der rationalistische Individualismus der Aufklärung bildet somit in England und in Deutschland den gemeinsamen Ausgangspunkt für die heutige Begründung des NCSL-Prinzips.762 Wie bereits erwähnt, hat das Rückwirkungsverbot in den beiden verglichenen Rechtsordnungen zwei gemeinsame Probleme zu bewältigen gehabt. Einerseits erfordert die Notwendigkeit zur Anpassung des Rechts an neue soziale Bedingungen gelegentlich die Bestrafung von Taten, die nicht im Voraus als Straftaten (explizit) festgeschrieben waren. Andererseits sollen besonders schwerwiegende Taten oder schwere Menschenrechtsverletzungen nicht ungesühnt bleiben. Allerdings haben die in der vorliegenden Arbeit betrachteten Rechtsordnungen unterschiedlich auf diese Probleme reagiert. Deshalb hat das Rückwirkungsverbot nicht den gleichen Umfang in beiden Rechtssystemen. Im englischen Strafrecht kann von einer flexibleren Auffassung des Rückwirkungsverbots gesprochen werden, weil Richter einen gewissen Entscheidungsspielraum haben, innerhalb dessen sie die Strafbarkeit einer begangenen Tat bestimmen können, ohne im gleichen Umfang, wie dies in Deutschland der Fall ist, an die Gesetzgebung gebunden zu sein. Dagegen gilt im deutschen Strafrecht aufgrund des Prinzips der Gesetzesbindung eine striktere Auffassung des Rückwirkungsverbots. Dieser Unterschied ergibt sich vor allem aus dem englischen Verständnis der Rechtsordnung, das wesentlich flexibler ist als das deutsche. Drei Aspekte erlauben es, dies zu veranschaulichen: die von Richtern bei der Entwicklung des englischen Rechts eingenommene Rolle; der Einfluss von nichtlegalistischen Auffassungen auf das englische Strafrecht; und die doctrine of precedent als Mechanismus, der zur Gewährleistung von Rechtssicherheit dient, ohne hierbei den Entscheidungsspielraum der Richter grundsätzlich zu beschränken. In England haben Richter eine besondere Rolle bei der Entwicklung und Vereinheitlichung der Rechtsordnung gespielt. Das Common Law entwickelte sich nach dem normannischen Eroberungszug im 12. Jahrhundert als Versuch, die in England geltenden lokalen Sitten bzw. Gebräuche und das Lehnsrecht durch richterliche Entscheidungen zu vereinheitlichen. Dieser Tatsache ist es geschuldet, dass die Rechtsprechung im Mittelalter eine zentrale Rolle bei der Konsolidierung des englischen Rechtssystems spielte. Darüber hinaus wurde die politische Rolle der Richter im englischen Kontext wegen ihres Widerstands gegen den Autoritarismus, zumindest der Widerstand der sog. common law courts, positiv betrachtet. Ein gutes Beispiel hierfür ist Cokes Eingreifen in die Auseinandersetzung zwischen dem König und dem Parlament Anfang des 17. Jahrhunderts. Dies kann erklären, warum der Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts in England nicht 762 Siehe in Bezug auf die Idee der Rechtssicherheit durch generelle Gesetze Goetzeler, ZStW 1951, 83 (83–84).

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zum Vorrang des geschriebenen Rechts führte und weshalb die Idee des Gesetzgebers als einziger Entität, die das Vernunftrecht begründen könne, im englischen Recht nicht angenommen wurde. Glenn behauptet diesbezüglich: „The English judiciary […] were never seen as part of a hostile and distant autocracy“.763 Im Gegensatz zu England erfolgte in Deutschland die Vereinheitlichung des Rechts als Voraussetzung der Konzentration der politischen Macht im Wesentlichen durch das geschriebene Recht. Dies geschah seit der Friedensbewegung des 11. und 12. Jahrhunderts. Die sog. Carolina bildet ein wichtiges Beispiel dafür. Dieser Aspekt des deutschen Strafrechts zeigte sich erneut in den aufgeklärten Kodifikationsarbeiten des 18. Jahrhunderts und in den Strafgesetzbüchern des 19. Jahrhunderts. Die Kodifikation des Rechts war somit ein wesentliches Instrument für die Konsolidierung der politischen Macht während des Entstehungsprozesses von Nationalstaaten. Dies war sowohl im Rahmen des aufgeklärten Absolutismus als auch bei der Vereinigung Deutschlands Ende des 19.  Jahrhunderts der Fall.764 Darüber hinaus wurde das englische Strafrecht nicht so stark wie das deutsche Strafrecht von legalistischen Auffassungen geprägt. Weder Coke, der einen auf dem traditionellen Common Law basierenden Standpunkt vertrat, noch der eine naturrechtliche Ansicht vertretende Blackstone erklärten die Gesetzgebung zur Hauptrechtsquelle. Zudem zeigt die Verwendung von Begriffen wie offences mala in se, aber auch die Existenz der sog. declaratory theory, dass das englische Rechtssystem für gewisse durch Richter vorgenommene übergesetzliche (moralische)  Bewertungen relativ offen gewesen ist. Deswegen ist die Ablehnung der rückwirkenden Kriminalisierung vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des englischen Strafrechts im Hinblick auf die statutory construction stärker ausgeprägt als im Bereich des Common Law. Blackstones Auffassung aus dem 18. Jahrhundert illustriert genau diesen Punkt. Im Gegensatz dazu förderten in Deutschland die aufgeklärten Vorstellungen der Rechtsordnung als eines kodifizierten Systems den Vorrang des geschriebenen Rechts und damit die Beschränkung der richterlichen Befugnisse. In diesem Zusammenhang ist z. B. der Einfluss Montesquieus zu nennen. Ferner trug die von Feuerbach dargestellte Begründung des Gesetzlichkeitsprinzips wesentlich zu dieser Entwicklung bei. Seiner Theorie des psychologischen Zwangs zufolge kann die erforderliche Gewissheit über das Recht nur durch die Verknüpfung 763

Vgl. Glenn, Legal Traditions, S. 252; Peristeridou, S. 70. In diesem Sinne äußern sich auch Merryman und Pérez-Perdomo: „The indigenous common law of England […] was not rejected in the interest of statism, nationalism […] and sovereignty […] On the contrary, the common law of England was a positive force in the emergence of England as a nation-state […] On the Continent, where it was thought necessary to reject the jus commune, it was natural that new legal systems were codified; in England, where it was thought necessary to retain the common law, no need for codification was felt“, Merryman/ Pérez-Perdomo, S. 22. 764

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

der rechtlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen in einem Gesetz gewährleistet werden. Das Ideal der umfassenden Kodifizierung des Rechts und die Idee, dass Rechtssicherheit ausschließlich durch das Gesetz gewährleistet werden könne, bildeten die Grundlage des Gesetzlichkeitsprinzips im Sinne der Gesetzesbindung. Im Unterschied dazu hatten in England ähnliche Auffassungen, wie diejenigen von Hobbes und Bentham, nicht den gleichen Einfluss. Bei der Entwicklung des englischen Strafrechts setzte sich vielmehr die sich aus einem Zusammenwirken historischer und naturrechtlicher, theologisch gefärbter Ansätze ergebende aktive Rolle der Richter durch. Die Reflexion über die Rückwirkung stellte in beiden Kontexten eine Suche nach Rechtssicherheit und Gewissheit bzgl. der staatlichen Handlungen dar. Das NCSL-Prinzip, insbesondere in Form des Rückwirkungsverbots, erfüllt in beiden Rechtssystemen die gleiche Funktion: staatliche Eingriffe in individuelle Rechte durch Strafen berechenbar zu machen. Allerdings wird das Erfordernis nach Gewissheit (certainty) in beiden Rechtsordnungen unterschiedlich gewichtet. Im englischen Strafrecht scheint einfacher anerkannt zu werden, dass Gewissheit und damit Rechtssicherheit Grenzen haben. Zum einen weist jegliche Sprache inhärente Grenzen auf, die eine absolute Eindeutigkeit unmöglich machen, und zum anderen kann die Rechtssicherheit mit anderen Werten kollidieren. Genau dieses Problem wurde in den sog. Mauerschützenfällen behandelt, was jedoch eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Strafrechtsordnung darstellt. Das deutsche Strafrecht geht im Gegenteil dazu und als Ergebnis u. a. des Einflusses der französischen Revolution von der Gewissheit bzw. Rechtssicherheit als höchstem Gut aus, das durch die Kodifikation des Strafrechts und die Unterwerfung der Richter unter das geschriebene Recht verwirklicht werden soll.765 Trotzdem ist das sich aus dieser Konzeption der Rechtssicherheit und der Rechtsquellen ergebende und im deutschen Strafrecht anerkannte Verständnis des Rückwirkungsverbots mit einem formellen Ansatz verbunden, der einen zusätzlichen Akteur neben dem Gesetzgeber und dem Richter voraussetzt. Im deutschen Rechtssystem stellt das geschriebene Recht nicht den einzigen normativen Referenzpunkt zur Entscheidung eines Falls dar. Vielmehr spielt zudem auch ein Komplex an Begriffen, die als Kriterien der Richtigkeit einer richterlichen Entscheidung dienen, eine zentrale Rolle. Die wissenschaftliche Analyse des Rechts durch Abstraktionen und Klassifikationen, die im Wesentlichen von Rechtsgelehrten und nicht vom Gesetzgeber oder von Richtern durchgeführt wird, begann im 12. Jahrhundert mit der „Entdeckung“ des Corpus Iuris Civilis, der Bearbeitung des Kirchenrechts sowie der Rezeption des römischen Rechts. Sie dient in der deutschen Rechtstradition nach wie vor als grundlegendes Element zur Bestimmung des Inhalts des geltenden Rechts. Das Ergebnis der Rechtswissenschaft bildet in der deutschen Rechtstradition nach den Worten Bermans eine Art „meta-law“.766 765

Vgl. auch Merryman/Pérez-Perdomo, S. 48 ff. Vgl. Berman, S. 8.

766

D. Grundsätzliche Aspekte des NCSL-Prinzips

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Deswegen besteht das Recht in diesem Zusammenhang nicht nur aus „legal institutions, legal commands, legal decision, and the like“, sondern auch aus „what legal scholars […] say about those legal institutions, commands and decisions“.767 In der englischen Rechtstradition sind dagegen die sich aus den vorherigen Entscheidungen ergebenden Normen das Kriterium zur Bestimmung dafür, ob das geltende Recht im konkreten Fall richtig angewendet wurde oder aber eine neue, vielleicht sogar falsche Regel. Die systematische Bearbeitung von Begriffen erfüllt somit in der deutschen Rechtstradition die gleiche Funktion wie die doctrine of precedent in der englischen Rechtstradition, nämlich die Berechenbarkeit der Rechtsordnung zu gewährleisten. Sie sind in diesem Sinne funktionelle Gegenstücke. Jeder dieser Mechanismen führt allerdings zu einem unterschiedlichen Grad an Flexibilität des Rechts. Dieser Umstand hat auch zu unterschiedlichen Auffassungen bzgl. des Rückwirkungsverbots und des NCSL-Prinzips in den ver­ glichenen Rechtsordnungen geführt.

D. Grundsätzliche Aspekte des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips und das Rückwirkungsverbot: Ausgangspunkte zur Analyse des NCSL-Prinzips im Kontext des Völkerstrafrechts Als Ergebnis dieses Kapitels können einige grundsätzliche Aspekte des NCSLPrinzips festgehalten werden, die als Ausgangspunkte zur Untersuchung dieses Grundsatzes im Rahmen des Völkerstrafrechts dienen sollen. Durch den Vergleich des englischen und deutschen Strafrechts wurde hier gezeigt, dass derselbe Begriff bzw. dieselbe Idee sich in unterschiedlichen Kontexten auf verschiedene Weisen konkretisieren kann und dass hierbei mehrere Faktoren ausschlaggebend sind. Man kann bzgl. des englischen und des deutschen Strafrechts sogar von zwei unterschiedlichen Modellen des Rückwirkungsverbots und daher des NCSL-Prinzips sprechen. Einerseits liegt im englischen Strafrecht ein flexibles Verständnis bzw. eine flexible Konzeption vor, die von vier Merkmalen geprägt ist: die Anerkennung der Anpassungsfähigkeit als Grundwert der Rechtsordnung; die aktive Rolle, die Richter im Bezug auf diese Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung spielen; die über die Rechtssicherheit hinausgehende Anerkennung weiterer Interessen und die damit einhergehende Flexibilisierung der Anhaltspunkte, die es erlauben, das Bestehen eines strafbewehrten Verbots zu bejahen; sowie die Offenheit gegenüber moralischen Erwägungen im Rahmen der richterlichen Argumentation. All dies führt ferner zu einer relativen Unabhängigkeit der Richter gegenüber dem geschriebenen Recht. Im deutschen Strafrecht besteht hingegen eine strikte Konzeption, die sich aus vier Aspekten dieser Rechtsordnung ergibt: die relativ passive bzw. konservative Rolle der Richter bzgl. der Anpassung des Straf 767

Ebd.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

rechts; die Anerkennung der Gesetzgebung als einziger Rechtsquelle, durch die strafbewehrte Verbote festgelegt werden dürfen; die Notwendigkeit einer expliziten Verknüpfung zwischen verbotener Handlung und Strafe im geschriebenen Recht, um das Bestehen eines strafbewehrten Verbots bejahen zu können; und der angebliche Ausschluss moralischer Erwägungen im Rahmen der richterlichen Argumentation. Entscheidend für dieses Verständnis ist also das Prinzip der Gesetzesbindung der Richter. Wenn man solche Modelle bzw. Verständnisse des NCSLPrinzips als zwei Extreme in einer Pluralität von Alternativen versteht, kann man mehrere Fragen im Hinblick auf das Völkerstrafrecht stellen: Wo genau ist in diesem Spektrum das Verständnis des NCSL-Prinzips im Rahmen des Völkerstrafrechts zu verorten? Stellt die Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht eine unabhängige dritte Möglichkeit zwischen beiden Extremen dar oder ähnelt sie einem der beiden Modelle mehr als dem anderen? Diese Fragen sollen in den nächsten Kapiteln der vorliegenden Arbeit beantwortet werden. In diesem Zusammenhang kann bereits gesagt werden, dass es möglich ist, einen gemeinsamen Kern des NCSL-Prinzips zu identifizieren. Hier muss jedoch zunächst klargestellt werden, dass das NCSL-Prinzip nicht zwingend (begrifflich) mit der Idee von Demokratie oder Gewaltenteilung einhergeht. Es darf nicht vergessen werden, dass in Deutschland das NCSL-Prinzip in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus entstand. Vorstellbar ist nämlich z. B., dass ein Monarch, der zugleich Gesetzgeber und Richter ist, nur die von ihm im Voraus erlassenen und kodifizierten Normen strikt anwendet, so dass keine Rückwirkung oder analoge Gesetzanwendung erfolgt und die Bürger nur gemäß eindeutigen und geschriebenen Regelungen bestraft werden. In dieser hypothetischen Situation hätten die Bürger „absolute“ Sicherheit bzw. Gewissheit darüber, dass ihre Freiheit nicht gefährdet ist, solange sie die vom Machthaber festgesetzten, womöglich aber absurden und willkürlichen Normen beachten. Zwar können die Unterprinzipien des NCSLPrinzips, wie z. B. das Rückwirkungs- oder Analogieverbot, in einer solchen Situation je nach dem Willen des Monarchen jederzeit missachtet werden, aber das Beispiel zeigt, dass ein demokratisches System keine logisch notwendige Voraussetzung für ihr Bestehen bildet. Trotzdem kann die These aufgestellt werden, dass sich das NCSL-Prinzip und die Gewaltenteilung wechselseitig verstärken können; das Analogie- sowie das Gewohnheitsverbot sind insofern Ergebnisse der Bestrebungen, die Gewaltenteilung zu sichern. Es ist jedenfalls zu betonen, dass das NCSL-Prinzip die Gewaltenteilung nicht unbedingt voraussetzt. In diesem Sinne stellt die Tatsache, dass eine Rechtsordnung, wie z. B. das Völker(straf-)recht, nicht immer das Ergebnis eines demokratischen Prozesses ist, etwa einer Art parlamentarischer Tätigkeit, kein Hindernis für die Geltung des NCSL-Prinzips dar.768 768 Gallant zufolge fördere das NCSL-Prinzip, insbesondere das Prinzip von lex scripta, die Gewaltenteilung (Gallant, S. 24–25); siehe dazu hinsichtlich des Völkerrechts Kreß, in: Max Planck Encyclopedia, Absatz 5, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law: epil/9780199231690/law-9780199231690-e854?prd=EPIL (zuletzt aufgerufen am 21.03.2017); im deutschen Kontext wird z. B. von Roxin auch behauptet, dass Demokratie und Gewaltenteilung

D. Grundsätzliche Aspekte des NCSL-Prinzips

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Ferner sind weder das Bestehen eines zentralisierten Gesetzgebers noch das Vorliegen eines Strafgesetzbuchs notwendige Bedingungen für das NCSL-Prinzip. Denn es kann auch im Rahmen des Richterrechts gelten und beachtet werden. Folglich bilden die vier Unterprinzipien, die sich der „deutschen“ Auffassung zufolge aus dem NCSL-Prinzip ergeben, eine Konsequenz der Art und Weise, in der das Rechtsquellensystem in der kontinentaleuropäischen Tradition entstanden ist. Dies verhindert aber nicht die Anerkennung eines anderen Inhalts oder Anwendungsbereichs für diese Unterprinzipien oder die Formulierung anderer Mechanismen zur Sicherung des NCSL-Prinzips. Dies kann je nach dem Rechtsquellensystem der jeweiligen Rechtsordnung erfolgen. Die doctrine of precedent im Rahmen des Common Law im englischen Strafrecht stellt gerade ein gutes Beispiel dafür dar. Dementsprechend verhindern auf internationaler Ebene weder das Fehlen eines Gesetzgebers noch der Umstand, dass Rechtsquellen wie das Völkergewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze und sogar das Richterrecht eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Völkerstrafrechts gespielt haben, von vornherein die Achtung des NCSL-Prinzips in diesem Kontext. Die Bestrafung von Handlungen zu vermeiden, die im Voraus bzw. zum Zeitpunkt der Tatbegehung in einem Gemeinwesen nicht als strafbar galten, stellt also das generelle Ziel des NCSL-Prinzips dar. Ein Mindestmaß an Sicherheit bzw. „Gewissheit“ über die Ausübung der Strafgewalt muss somit gewährleistet werden. Dies bildet gerade den Kern des NCSL-Prinzips. Um diesen Kern konkretisieren zu können, müssen jedoch einige weitere Erwägungen dargelegt werden. Nach dem Vergleich des englischen und deutschen Strafrechts kann festgehalten werden, dass eine Bestrafung ohne vorher bestehende Rechtsgrundlage im Prinzip in zwei Formen erfolgen kann. Der Gesetzgeber kann die Strafbarkeit einer Handlung durch das Erlassen eines rückwirkenden Gesetzes bestimmen (erste Möglichkeit). Alternativ kann ein Richter hinsichtlich eines konkreten Falles ohne Grundlage im zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltenden geschriebenen Recht oder Richterrecht entscheiden, dass die jeweilige Handlung strafbar war (zweite Möglichkeit). Insofern kann von legislativer Rückwirkung bzw. retro­activity oder von richterlicher Rückwirkung bzw. retroactivity gesprochen werden. Es gibt aber auch noch zwei andere Möglichkeiten: die Bestrafung einer Handlung aufgrund einer scheinbaren Ermächtigung im zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltenden Recht – „scheinbar“ deshalb, weil das geltende Recht mehrdeutig war und sich der Richter für eine überraschende oder unplausible Auslegung entschied (dritte Möglichkeit) oder weil der Richter eine über den eindeutigen Wortlaut der Norm hinausgehende Interpretation wählte (vierte Möglichkeit). Gewiss enthalten die letzallein das Verbot des Gewohnheitsrechts, das Analogieverbot und das Bestimmtheitsgebot begründen könnten, nicht aber das Rückwirkungsverbot, denn die Rückwirkung verletze weder die Gesetzesbindung des Richters, noch den Vorrang der Gesetzgebung, Roxin, § 5 Rn. 20–21; vgl. auch Arajärvi, S. 126: „No straightforward analogy can be drawn between the role of the courts as (quasi-)legislator in the international sphere and the notion of separation of power in a nation-state. This is not necessarily a problematic issue“; siehe auch Peristeridou, S. 85.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

ten beiden Möglichkeiten zusätzliche Elemente gegenüber den ersten beiden, wie z. B. das Problem der Auslegungsbefugnis des Richters oder die Zulässigkeit der Analogie. Dennoch handelt es sich auch in diesen beiden Fällen um die Bestrafung einer Handlung, die zum Zeitpunkt der Tatbegehung nach der jeweiligen Rechtsordnung nicht eindeutig als Delikt betrachtet war.769 Somit geht es auch in diesen beiden Fällen genauso wie in den beiden ersten Varianten um die Anwendung neuer Kriterien hinsichtlich vergangener Ereignisse. Deshalb kann gesagt werden, dass das Phänomen der Rückwirkung nicht nur eine Möglichkeit unter mehreren darstellt, sondern vielmehr das grundlegende Szenario bildet, die das NCSL-Prinzip verhindern will. Wie im vorliegenden Kapitel veranschaulicht wurde, sind im englischen Kontext die ersten beiden Möglichkeiten als Fälle des ex post facto law diskutiert worden, da ein strafbewehrtes Verbot bis vor Kurzem noch sowohl durch geschriebenes Recht als auch durch Richterecht festgelegt werden konnte. Ferner wird in diesem Zusammenhang das Problem der Auslegung des geschriebenen Rechts unter dem Begriff der „strict construction“ behandelt, durch den versucht wird, die nur unter dem Deckmantel des geltenden Rechts begründeten Verurteilungen zu verhindern. Allerdings schließt dieses Konzept nicht die richterliche Ausdehnung der strafbewehrten Verbote „on a case by cace basis“ aus. Des Weiteren verlangt die fairness (fair warning) im Rahmen des sog. principle of maximum certainty eine eindeutige Formulierung des Rechts im Allgemeinen, d. h. sowohl des statute law als auch des Common Law. Im deutschen Kontext wird die erste Möglichkeit, also das Erlassen eines rückwirkenden Gesetzes, im Lichte des Rückwirkungsverbots thematisiert, wohingegen die dritte Variante, d. h. die Bestrafung einer Handlung aufgrund einer scheinbaren Ermächtigung im zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltenden Recht, und die vierte, d. h. die auf einer weiten Auslegung des Wortlauts des Gesetzes beruhende Bestrafung, im Zusammenhang mit dem Bestimmtheitsgebot und dem Analogieverbot besprochen werden. Aber im Unterschied zum englischen Strafrecht ist die zweite Möglichkeit, d. h. der Fall, in dem ein Richter ohne Grundlage in dem zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltenden Gesetzesrecht oder Richterrecht entscheidet, nicht immer als rückwirkende Anwendung neuen Rechts verstanden, zumindest nicht nach der herrschenden Meinung. Im deutschen Strafrecht darf allein der Gesetzgeber in Übereinstimmung mit dem deutschen Rechtsquellensystem abstrakt über die Strafbarkeit einer Handlung entscheiden. Aus diesem Grund beschränkt sich die Diskussion hinsichtlich des NCSL-Prinzips, sofern es 769 In diesem Sinne behauptet Horder, dass es einen engen Zusammenhang zwischen dem „non-retroactivity principle“ und dem „principle of maximun certainty“ gibt, er behauptet insofern: „A vague law may in practice operate retroactively, since no one is quite sure whether given conduct is within or outside the rule“, Hoder, S. 85; siehe auch Ashworth, Principles, S. 64–65; in Bezug auf Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut siehe Grover, in: The Crime, S. 377 und 379: „The imperative to interpret crimes in the Rome Statute in a manner that is favourable to the person […] is yet another device to avoid retroactive lawmaking“.

D. Grundsätzliche Aspekte des NCSL-Prinzips

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um Richter geht, auf den Grad der zu gewährleistenden Gesetzesbindung, auf ihre Auslegungsbefugnisse und auf das Analogieverbot. In diesem Kontext dient die Strafrechtsdogmatik durch die Begriffsbildung zur Sicherung der Legalität. Die wissenschaftliche Betrachtung des Rechts erweist sich als wesentliches „Werkzeug“ zur Feststellung des geltenden Rechts und somit zur Kontrolle der Legalität der richterlichen Entscheidungen. Etwas Ähnliches geschieht mit dem Bestimmtheitsgebot: Diese Anforderung richtet sich an den Gesetzgeber und ergibt sich aus den Ideen der Kodifikation und des Straftatbestandes, selbst wenn im deutschen Rechtssystem niemand daran zweifelt, dass die Begründung der richterlichen Entscheidungen und die von den Richtern vorgenommene Auslegung des geschriebenen Rechts auch nachvollziehbar sein muss. Deswegen spricht z. B. das BVerfG von einem „Präzisierungsgebot“. Hinsichtlich des Gewohnheitsrechts muss aber gesagt werden, dass dieses nicht unmittelbar die Anwendung neuen Rechts auf Ereignisse der Vergangenheit verhindern soll, wie das Rückwirkungsverbot, das Bestimmtheitsgebot und sogar das Analogieverbot. Es spiegelt vielmehr die Hierarchie der Rechtsquellen im deutschen Strafrecht wider und versucht, diese zu sichern. Wenn die gemeinsamen Punkte des NCSL-Prinzips in beiden Rechtsordnungen betrachtet werden, kann festgestellt werden, dass sich der Kern des NCSL-Prinzips, d. h. die Gewährleistung eines Mindestmaßes an Sicherheit bzw. „Gewissheit“ bzgl. der Ausübung der Strafgewalt, durch zwei Elemente konkretisiert: das Rückwirkungsverbot im weiteren Sinne und das Erfordernis von Eindeutigkeit bei der Gestaltung des Rechts.770 Mit dem Rückwirkungsverbot im weiteren Sinne ist die prohibition of ex post facto law im Allgemeinen gemeint, d. h. die Anwendung des Rückwirkungsverbots sowohl auf die Gesetzgebung als auch auf das Richterrecht, je nach dem Rechtsquellensystem der jeweiligen Rechtsordnung. Auf die gleiche Weise muss das Erfordernis der Eindeutigkeit als Auswirkung des NCSL-Prinzips sowohl für das geschriebene Recht als auch für die Entwicklung des Strafrechts durch Rechtsprechung gelten. Die Geltung des Analogieverbots als Auswirkung des NCSL-Prinzips und seine Grenzen hängen dagegen von der in jedem Kontext akzeptierten Rolle der Richter ab, während das Verbot des Gewohnheitsrechts von der Hierarchie der Rechtsquellen abhängig ist, sofern eine solche in der jeweiligen Rechtsordnung besteht. Im Völkerstrafrecht muss also ein Mindestmaß an Sicherheit über die Richtung, in der die Strafgewalt ausgeübt wird, gewährleistet werden, um von einer Geltung des NCSL-Prinzips sprechen zu können. Dies muss hinsichtlich des geschriebenen Rechts oder in Bezug auf das Richterrecht zumindest durch das Rückwirkungsverbot und durch das Erfordernis eines Mindestmaßes an Eindeutigkeit in seiner Gestaltung geschaffen werden. Wie soll dann konkret bestimmt werden, ob eine Handlung zum Zeitpunkt der Tatbegehung bereits strafbar war? Welche Anhaltspunkte sollen berücksichtigt 770 Siehe insofern auch Ferdinandusse, S. 223: „The demands of specificity and non-retroactivity make up the core of the principle of legality“.

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1. Kap.: Vergleichende Untersuchung des Rückwirkungsverbots 

werden, um das Bestehen eines strafbewehrten Verbots festzustellen? Durch welche spezifischen Mechanismen sollen Bestrafungen verhindert werden, die keine Grundlage im bereits geltenden Recht haben? Sollen strukturelle Erfordernisse, wie z. B. eine Art Gewaltenteilung, oder gewisse argumentative Anforderungen an die Richter gestellt werden? Falls dies bejaht wird, stellt sich die Anschlussfrage, welche Anforderungen dies sein sollen. Soll beispielsweise eine bestimmte Form der dogmatischen bzw. „wissenschaftlichen“ Argumentation oder eine auf frühere Rechtsprechung bezogene Begründung der richterlichen Entscheidungen erforderlich sein? Die Antworten auf alle diese Fragen bilden kontingente Elemente des NCSL-Prinzips, die in jeder Rechtsordnung, damit auch im Völkerstrafrecht, von verschiedenen Elementen abhängig sind. Diesbezüglich können als Ergebnis des im vorliegenden Kapitel dargestellten Vergleichs drei Aspekte erwähnt werden, die sich gegenseitig beeinflussen und die in Bezug auf das Völkerstrafrecht thematisiert werden sollen, um die Konzeption des NCSL-Prinzips in diesem Kontext rekonstruieren zu können. Als erster und zugleich allgemeinster Aspekt ist die Rolle der Strafgewalt in ihrem spezifischen rechtlichen Kontext zu nennen. Die Strafgewalt kann beispielsweise als Mittel zur Konzentration der politischen Macht ausgeübt werden oder zur Bestätigung bzw. Durchsetzung bestimmter moralischer Werte dienen. Auf die Strafgewalt kann ferner sowohl im Kontext der Begründung einer neuen Ordnung als auch im Zusammenhang mit einem bereits entwickelten Rechtssystem zurückgegriffen werden. Diese Möglichkeiten beeinflussen die Konzeption und die Grenzen des NCSL-Prinzips in einem bestimmten Kontext. Als zweiter Aspekt ist, wie bereits gesagt, auf das Rechtsquellensystem hinzuweisen. Dabei müssen zum einen die von jeder Rechtsquelle bei der Gestaltung und Entwicklung des Rechts gespielte Rolle und zum anderen das Verhältnis und die Hierarchie unter den Rechtsquellen betrachtet werden. Schließlich müssen die einflussreichsten rechtstheoretischen Ansätze berücksichtigt werden, die die entsprechende Rechtsordnung geprägt haben, wobei der herrschende Rechtsbegriff, das in diesem Kontext anerkannte Verhältnis zwischen Recht und Moral sowie die Einschätzung der Rechtssicherheit als Wert, dessen Verwirklichung die Rechtsordnung anstreben soll, ermittelt werden müssen.

Zweites Kapitel2

Rückwirkung und die internationalen Tribunale im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg: Grundlagen einer allgemeinen Konzeption des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht

Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht Wie bereits gesagt, wird in der vorliegenden Arbeit davon ausgegangen, dass das Völkerstrafrecht seit seiner Entstehung in einem Spannungsverhältnis zum NCSL-Prinzip steht. Dies ist insbesondere in Bezug auf die Definitionen und Konkretisierungen der internationalen Verbrechen der Fall. Deswegen soll im vorliegenden Kapitel gezeigt werden, wie die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg eingerichteten Tribunale, bei denen es sich um die ersten überhaupt je eingerichteten internationalen Straftribunale handelt, dieses Problem gehandhabt haben. Die Diskussionen über das NCSL-Prinzip, die im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher sowie in einigen der sog. Nachfolgeprozesse und im Tokioter Prozess stattfanden, sollen hier analysiert werden. Dafür wird eine induktive Urteilsanalyse durchgeführt, mithilfe derer festgestellt werden soll, wie sich die drei am Ende des letzten Kapitels erwähnten Aspekte, also die Rolle der Strafgewalt, die Konzeption des Rechtsquellensystems und der herrschende Rechtsbegriff, in den analysierten Entscheidungen auf die Handhabung des NCSLPrinzips auf völkerrechtlicher Ebene auswirkten. Dadurch wird ermöglicht, die Grundlagen für eine allgemeine Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht zu ermitteln. Auf diese Weise werden zugleich die ersten Elemente erörtert, die ein Mindestmaß an Sicherheit bzw. Gewissheit hinsichtlich der Ausübung der Strafgewalt im Völkerstrafrecht gewährleisten sollen. In diesem Kapitel wird hingegen nicht beabsichtigt, festzustellen, ob die Schlussfolgerungen der an dieser Stelle kommentierten richterlichen Entscheidungen richtig oder falsch sind. Vielmehr dient das vorliegende Kapitel der Ermittlung der in diesen Entscheidungen reflektierten Konzeptionen der Legalität. Demnach interessieren weder die Widersprüche, die in einigen internationalen Urteilen der Nachkriegszeit zu finden sind, noch die Frage, ob die Bestrafung des Angriffskriegs oder der Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den Nürnberger IMG tatsächlich rückwirkend war. Vielmehr werden die Argumente analysiert, die bei der Diskussion des NCSL-Prinzips vorgebracht wurden. Durch die Betrachtung dieser Argumente können unterschiedliche Vorstellungen über das Recht im Allgemeinen und über das Völkerrecht im Besonderen ermittelt werden, die dann wiederum zu unterschiedlichen Auffassungen und Konzeptionen des NCSL-Prinzips führen. In dieser Forschungsarbeit wird ausdrücklich davon ausgegangen,

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

dass die Grundlagen für eine allgemeine Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht bereits von diesen Argumenten und Auffassungen ausgehend abstrahiert werden können. Wie im vierten Kapitel erklärt wird, bilden diese Grundlagen den Ausgangspunkt einer Rechtstradition, die durch die anschließende Entwicklung des Völkerrechts entstand und als Nürnberger Rechtstradition bezeichnet werden kann.1

A. Vorbemerkung: erster (gescheiterter) Versuch   Der erste Versuch, Kriegsverbrecher durch einen internationalen Gerichtshof abzuurteilen, erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser scheiterte, als der deutsche Kaiser, Wilhelm II., Asyl in Holland erhielt.2 Trotzdem müssen an dieser Stelle einige Ausführungen über diesen Versuch gemacht werden, um die Bedeutung der nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichteten Straftribunale für die Entwicklung des Völker(straf)rechts und die in diesem Kontext erfolgten Diskussionen über den vermeintlichen Verstoß gegen das NCSL-Prinzip verstehen zu können.3 Beim Ende des Ersten Weltkriegs wurde bereits anerkannt, dass ein Soldat entweder von seinem eigenen Staat oder im Falle der Gefangennahme vom Feind bestraft werden durfte, falls er gegen das Kriegsrecht verstoßen hatte.4 Die Grundannahme dahinter besagte, dass der Krieg gewisse Handlungen wie z. B. Mord oder Sachbeschädigung impliziere, die in Friedenszeiten zwar Straftaten darstellen, aber im Kontext eines Krieges rechtmäßig seien, sofern sie in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht durchgeführt würden.5 Die Aburteilung von Kriegsverbrechen im engeren Sinne nach dem Ersten Weltkrieg führte zu keiner Debatte bzgl. des NCSL-Prinzips, weil zu jener Zeit bereits diese Möglichkeit in den nationalen Rechtsordnungen, z. B. in Militärhandbüchern, bestand.6 Anders stellte sich die Situation jedoch bzgl. der Aburteilung des deutschen Kaisers dar. Zum einen war es wegen des Souveränitätsprinzips sehr umstritten, ob Staatsoberhäupter auf völkerrechtlicher Ebene überhaupt individuell strafrecht­ 1

Ähnlich auch van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119 (133): „[I]n many ways, the two Tribunals [der Nürnberger IMG und das IMTFO] set the terms for future adjudications of NCSL before modem ICL tribunals“; siehe zur Ähnlichkeit des Nürnberger IMG zu den Adhoc-Straftribunalen in Bezug auf das NCSL-Prinzip auch Lamb, in: The Rome Statute, S. 742. 2 Für den Versailler Vertrag und die Schwierigkeiten hinsichtlich der Durchsetzung dieser Normen nach dem Ersten Weltkrieg siehe Jung, Susanne, S. 140 ff.; dazu und zu den sog. Leipziger Prozessen siehe Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 25 ff. 3 Ausführlich zu den nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten Diskussionen siehe Garner, James, Am. J. Int’l L. 1920, 70. 4 Ebd., S. 72. 5 Ebd., S. 73. 6 Als Beispiele erwähnt Garner das French Code of Military Justice, die American Rules of Land Warfare von 1914, das British Manual of Military Law und den „deutschen Kriegsbrauch im Landkriege“, ebd., S. 73–75.

A. Vorbemerkung  

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lich zur Verantwortung gezogen werden konnten,7 selbst wenn es sich um Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges, d. h. Kriegsverbrechen in engerem Sinne, handelte.8 Zum anderen lag keine eindeutige Rechtsgrundlage für die Aburteilung des ehemaligen deutschen Kaisers hinsichtlich der gegen ihn erhobenen Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Kriegsausbruch vor. Art. 227 des Versailler Vertrags, der die Aburteilung des deutschen Kaisers vorsah, sprach lediglich von einer „Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge“. Der Grund, um den Kaiser vor Gericht bringen zu wollen, erschien deswegen eher moralischer als rechtlicher Natur.9 Gerade aufgrund des Mangels einer Rechtsgrundlage hatte die am 25.01.1919 von den Staatenvertretern der Alliierten und assoziierten Mächte im Rahmen der Pariser Vorfriedenskonferenz eingesetzte Kommission empfohlen, dass die Verantwortung des ehemaligen deutschen Kaisers bzgl. des Kriegsausbruchs nicht im Rahmen eines Strafverfahrens behandelt werden sollte.10 Dieser Kommission zufolge stellte zudem ein Angriffskrieg keinen Verstoß gegen das Völkerrecht dar.11 Letztendlich empfahl die Kommission jedoch die Aburteilung Wilhelms II. nur wegen der Verletzung der „laws and principles of humanity“, obwohl dies sogar innerhalb der Kommission selbst als problematisch empfunden wurde. Die Delegierten der Vereinigten Staaten führten z. B. aus, dass die Aburteilung Wilhelms II. wegen der von seinen Streitkräften begangenen Kriegsverbrechen im engeren Sinne12 ebenso wie der Vorwurf der Verletzung der „laws and principles of humanity“ rückwirkend und deswegen unzulässig sei.13 Der Vorwurf der Verletzung der „laws and principles of humanity“ wurde ohnehin nicht im Versailler Vertrag vorgesehen. 7

Ebd., S. 91 ff. Vgl. Lansing, Am. J. Int’l L. 1919, 631 (644). 9 Ebd.; laut Art. 227 des Versailler Vertrags sollten die alliierten und assoziierten Mächte Wilhelm II. „wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage“ stellen, vgl. Ahlbrecht, S. 37; siehe UNWCC, History, S. 239 ff. 10 Diese Kommission wurde in der Pariser Vorfriedenskonferenz zur Ermittlung möglicher Verantwortlichkeiten wegen und während des Krieges eingesetzt, dazu UNWCC, History, S. 236 ff.; siehe auch Borgwardt, A New Deal, S. 214 ff.; siehe den Bericht der Kommission vom 29.03.1919 (Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalities) in: Am. J. Int’l L. 1920, 95. 11 Commission, Am. J. Int’l L. 1920, 95 (118–120). 12 Die Vertreter der Vereinigten Staaten verfassten ein Memorandum mit einigen Vorbehalten (Annex II). Demnach entsprach die Aburteilung des ehemaligen Kaisers nicht der damaligen Staatenpraxis. Insofern behaupteten sie, dass dieser Vorgang eine Verletzung des Rückwirkungsverbots als eines allgemeinen Grundsatzes des Strafrechts bildete, ebd., S. 135, 144 und 147. 13 Das von den Vertretern der Vereinigten Staaten verfasste Memorandum lautete: „A judicial tribunal only deals with existing law and only administers existing law, leaving to another forum infractions of the moral law and actions contrary to the laws and principles of humanity. A further objection lies in the fact that the laws and principles of humanity are not certain, varying with time, place, and circumstance, and according, it may be, to the conscience of the individual judge. There is no fixed and universal standard of humanity“, ebd., S. 144. 8

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

Dies änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur weil der Angriffskrieg und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit dann als internationale Verbrechen anerkannt wurden, sondern auch weil sich die Akzeptanz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Staatsoberhäuptern auf internationaler Ebene in den sich anschließenden Prozessen durchsetzte. Deswegen kann behauptet werden, dass die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg durchgeführten internationalen Strafprozesse einen Wendepunkt in der Entwicklung des Völkerrechts bilden. Daraus ergeben sich die Schwierigkeiten, die diese Prozesse für das NCSL-Prinzip darstellen. Die Bestrafung der im Laufe des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen zeigt, dass das NCSL-Prinzip unter gewissen Umständen Grenzen haben kann, zumindest im Lichte der kontinentaleuropäischen Tradition. Die Schwere bzw. die moralische Vorwerfbarkeit der Taten, d. h. die angebliche Offensichtlichkeit des Unrechts, erlaubte es damals im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, im Prozess vor dem Internationalen Militärtribunal für den Fernen Osten (IMTFO) und in den Prozessen gemäß dem Kontrollratsgesetz Nr. 10, die Strafbarkeit der Handlungen auf internationaler Ebene anzunehmen und auf diese Weise das Völkerstrafrecht weiterzuentwickeln. Dies fand gerade zu einer Zeit statt, in der die internationale Strafbarkeit der Handlungen nach dem gültigen Völkerrecht höchst umstritten war.

B. Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher Die Notwendigkeit der Bestrafung der NS-Kriegsverbrecher wurde bereits am 13.01.1942 in der sog. Declaration of St. James durch die Vertreter von neun der von NS-Deutschland besetzen Ländern geäußert.14 Ferner förderte die Arbeit der 1942 zur Untersuchung von Kriegsverbrechen errichteten United Nations War Crimes Commission (UNWCC) die Idee, dass die Taten der Nationalsozialisten durch ein Gericht abgeurteilt werden mussten.15 Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Sowjetunion unterzeichneten außerdem als Ergebnis der Moskauer Konferenz am 30.10.1943 eine Deklaration über deutsche Grausamkeiten im besetzten Europa.16 Demnach sollten die Kriegsverbrecher, die an einem be 14

Hierbei handelt es sich um Belgien, die Tschechoslowakei, Frankreich, Griechenland, Holland, Jugoslawien, Luxemburg, Norwegen und Polen; dazu ausführlich Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 39 ff.; Ahlbrecht, S. 63; siehe auch UNWCC, History, S. 87 ff. 15 „Die Kommission wurde in London als ein Gremium von vierzehn Mitgliedern gegründet und setze sich aus den neu Exilregierungen, dem Vereinigten Königreich, den USA, China, Australien und Indien zusammen“, Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S.  42; dazu auch Ahlbrecht, S. 63; zur Schaffung, den Zielen und der Struktur der UNWCC siehe UNWCC, History, S. 2–3 und 109 ff. 16 Vgl. Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 42–43; siehe dazu UNWCC, History, S. 1, 107–108.

B. Der Nürnberger Prozess  

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stimmten Ort Straftaten begangen hatten, vom jeweiligen Staat verfolgt werden, während die Straftäter, deren Straftaten mit keinem bestimmten geografischen Ort in Verbindung standen, entsprechend der gemeinsamen Entscheidung der unterzeichnenden Regierungen zu bestrafen waren.17 Schließlich schlossen die vier Siegermächte am 08.08.1945 das sog. Londoner Abkommen, in dem die Errichtung eines internationalen Militärgerichtshofs zur Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher vorgesehen wurde.18 Durch das Londoner Abkommen wurde das Statut des IMG (sog. Londoner Charta bzw. LC) festgelegt. Laut Werle kann es als die „Geburtsurkunde“ des Völkerstrafrechts bezeichnet werden.19 Obwohl Franklin Delano Roosevelt einigen Autoren zufolge im September 1944 und damit fast ein Jahr nach der Moskauer Konferenz den Vorschlag­ Winston Churchills zur Hinrichtung der Kriegsverbrecher im Schnellverfahren annahm,20 wurde bereits zu diesem Zeitpunkt die Grundlage eines Strafverfahrens innerhalb der amerikanischen Regierung, insbesondere im Kriegsministerium, erarbeitet.21 Der amerikanische Präsident Harry Truman erklärte dann aber kurz nach Roosevelts Tod am 12.04.1945, dass er gegen die Hinrichtung war und die Errichtung eines internationalen Gerichthofs zur Aburteilung der Kriegsverbrecher befürwortete.22 Die Vereinigten Staaten übernahmen also die Führung bei der Planung des IMG.23 Robert H. Jackson, Richter am Obersten Gericht der Vereinigten Staaten, wurde zum Vertreter der USA bei den Verhandlungen zur Errichtung des IMG berufen und spielte hierbei eine entscheidende Rolle; später wurde er zum amerikanischen Hauptankläger vor dem Nürnberger IMG ernannt.24 Die LC 17

Vgl. Ahlbrecht, S. 63; Woetzel, S. 4–5; Borgwardt, A New Deal, S. 218 ff. Ursprünglich wurden 23 Personen in diesem Prozess angeklagt, von denen 19 verurteilt und drei freigesprochen wurden; eine beging Selbstmord, vgl. Ambos, Treatise, Vol. I, S. 4. 19 Vgl. Werle/Jeßberger, S. 7; siehe auch Luban, in: The Philosophy, S. 573. 20 Churchill und Roosevelt trafen sich im September 1944 in Quebec. Dort präsentierte Churchill ein Memorandum, in dem er vorschlug, die auf einer zuvor erstellten Liste stehenden Kriegsverbrecher nach der Feststellung ihrer Identität und auf der Grundlage einer politischen Entscheidung hinzurichten. Nach diesem Treffen beriet Churchill auch mit Stalin hierüber in Moskau; aber Stalin lehnte diesen Plan ab. Sogar die Konferenz von Jalta im Februar führte zu keiner Einigung, dazu ausführlich Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 47; siehe auch Gallant, S. 73 ff.; siehe auch Borgwardt, A New Deal, S. 207. 21 Der frühesten Entwurf eines Strafverfahrens gegen die Kriegsverbrecher scheint der Vorschlag von Oberst Murray Bernays zu sein; er schlug in seinem Memorandum vom 15.09.1944 als Grundlage einer zukünftigen Anklage den Begriff bzw. Tatbestand der Verschwörung vor und empfahl als Strategie zur Aburteilung der Angehörigen der NS-Organisationen, die Organisationen selbst unter Anklage zu stellen, dazu ausführlich Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 52 ff.; siehe hinsichtlich der Diskussionen, die vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs innerhalb der amerikanischen Regierung bzgl. der Behandlung der NS-Führer geführt wurden, und die verschiedenen diesbezüglichen Pläne Borgwardt, A New Deal, S. 205 ff. 22 Die Britische Regierung teilte am 03.05.1945 mit, dass sie ihre Position im Hinblick auf die Hauptkriegsverbrecher geändert hatte, Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 49. 23 Vgl. Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 54 ff.; Ahlbrecht, S. 63; Borgwardt, A New Deal, S. 233. 24 Dazu ausführlich Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 62 ff., 73–74, 77 ff., 731–732. 18

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

basierte sogar auf Vorschlägen aus Jacksons vorläufigem Bericht für Präsident Truman vom 06.06.1945.25 Böhm und Huhle zufolge ist Jackson im historischen Gedächtnis die prägende Figur dieses Prozesses.26 Drei zentrale Themen waren jedenfalls im Rahmen der Londoner Konferenz heftig umstritten, nämlich die Strafbarkeit des Angriffskrieges nach dem Völkerrecht, der Umfang der Anklage wegen Verschwörung und die völkerrechtliche Rechtsgrundlage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.27 Diese Diskussionen waren maßgeblich von der tiefen Empörung geprägt, die die Taten der National­ sozialisten verursachten. Sie wiederholten sich während des Prozesses, der 20.11.1945 begann, und spiegelten sich auch im Urteil des IMG vom 01.10.1946 (sog. Nürnberger Urteil) wider.

I. Der Internationale Militärgerichtshof als Gerechtigkeits- und Gnadenakt Der Nürnberger Prozess war von Anfang durch eine stark moralische Konnotation geprägt. Dies wird an seiner eminent politischen Dimension sichtbar: Der Prozess fand in einem Kontext statt, in dem versucht wurde, eine neue Weltordnung zu begründen. Diese Ordnung sollte auf multilateralen Institutionen wie den Vereinten Nationen (VN) beruhen und eine auf dem Grundsatz der rule of law basierende, „universelle“ (internationale) Moral fördern, die den Krieg als legitime staatliche Handlungsweise ablehnt.28 In diesem Zusammenhang wurde der Nationalsozialismus als die „stolz verkündete Verachtung der freiheitlichen, humanitären und internationalistischen Ideale, zu denen die meisten Nationalstaaten zumindest ein Lippenbekenntnis ablegten“, betrachtet.29 Dagegen bildeten die LC und der IMG zusammen mit den VN die Grundpfeiler einer rechtlich geordneten internationalen Gemeinschaft, deren friedliche und humanitäre Prinzipien sogar durch Strafmaßnahmen durchgesetzt werden sollte.30 Die ideologischen Wurzeln eines 25 Ebd., S. 21, 75–76, Taylor hebt den tiefen Eindruck hervor, den dieser Bericht in der Öffentlichkeit hinterließ. 26 Vgl. Böhm/Huhle, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 21. 27 Dazu ausführlich Borgwardt, A New Deal, S. 197, 224–225; siehe auch Borgwardt, Berkeley J. Int’l L. 2005, 401 (436); die Strafbarkeit des Angriffskriegs und der Gräueltaten, die ein Staat gegen seine eigenen Bürger begeht, wurde auch von der UNWCC diskutiert, ohne dass ein Kompromiss gefunden werden konnte, vgl. Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S.  45–46; hinsichtlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit siehe auch Segesser, in: NMT, S. 591; siehe auch Douglas, in: NMT, S. 723, laut Douglas wurde bei der Londoner Konferenz davon ausgegangen, dass weder die Verbrechen gegen den Frieden, noch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Nürnberg als Straftaten anerkannt waren. 28 Vgl. Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S 411–412; siehe auch Kraus, Kontrollratsgesetz Nr. 10, S. 70; ausführlich hierzu Borgwardt, A New Deal, S. 4 ff. und 204. 29 Vgl. Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 36. 30 Ebd., S. 60–61.

B. Der Nürnberger Prozess  

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solchen Projekts können, wie auch Kopelman31 und Borgwart32 aufgezeigt haben, bereits in der von Roosevelt und Churchill unterzeichneten Atlantik-Charta vom 12.08.1941 gefunden werden.33 Borgwardt drückt es wie folgt aus: „It [the Atlantic Charter] prefigured the rule-of-law orientation of the Nuremberg Charter, the collective security articulated in the United Nations Charter, and even the free-trade ideology of the Bretton Woods charters […] The policy architecture of the United Nations, the IMF [International Monetary Fund] and World Bank, and the Nuremberg trials was designed both to manage the transition from war to peace and to shape the postwar world“.34

Im Vorwort einer Sammlung der von Robert H. Jackson vor dem IMG gehaltenen Reden deutete Radbruch 1946 insofern an, dass der Nürnberger Prozess eine doppelte Bedeutung gehabt habe: Einerseits sei er, politisch gesehen, die Gelegenheit des deutschen Volkes gewesen, vor die „schmerzende, aber heilende Wahrheit“ gestellt zu werden.35 Andererseits habe er, rechtlich betrachtet, einen wichtigen Schritt im Völkerrecht dargestellt, solange „nicht nur der Besiegte vor einem Gerichte der Sieger, sondern bei gleicher Schuld auch Mächtige unter dem Richterspruch der doch noch mächtigeren Gesamtheit der Nationen sich werden verantworten müssen“.36 Die Empörung über die Taten und ihre moralische Verwerflichkeit, die durch den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher geäußert werden sollten, spiegelten sich schon in den Eröffnungsplädoyers (opening statements) wider. Bereits im ersten Eröffnungsplädoyer des amerikanischen Hauptanklägers Robert H.  Jackson wurde die Errichtung des IMG als eine Bemühung der vier Besatzungsmächte zur Bewältigung der „größten Drohung dieser Zeit“, d. h. des Angriffskriegs, bezeichnet.37 Um den Prozess zu rechtfertigen, bezog sich Jackson auf die „Vernunft der Menschheit“38 und betonte, dass die Taten der Angeklagten ein Übel darstellten, das die gesamte Welt betreffe.39 Anhand dieser Rede kann eine ganz bestimmte Vorstellung über den Sinn und Zweck des Prozesses ausgemacht werden, die dem IMG einen Charakter jenseits der normalen nationalen Ausübung der Strafgewalt gibt. Für die Ankläger symbolisierte der Prozess den Kampf des Guten gegen das Böse um das Überleben der Zivilisation.

31

Vgl. Kopelman, N. Y. U. J. Int’l L. & Pol. 1990–1991, 373 (382). Vgl. Borgwardt, A New Deal, S. 1 ff., 142 ff. (zur Gründung der VN), 196 ff. (zum Nürnberger IMG); siehe auch Borgwardt, Berkeley J. Int’l L. 2005, 401. 33 Siehe für eine ausführliche Darstellung das Buch „Die Atlantik-Charter“ von Gottfried Zieger. 34 Borgwardt, A New Deal, S. 5–8. 35 Radbruch, in: Staat, S. 5 36 Ebd., S. 5–6. 37 Vgl. Jackson, in: Staat, S. 9. 38 Ebd.; in der englischen Originalversion bezieht sich Robert H. Jackson auf „the common sense of mankind“, siehe Jackson, Opening, in: The Nürnberg Case, S. 31. 39 Jackson, in: Staat, S.  9; siehe dazu Böhm/Huhle, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 36. 32

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

In der Anklage wurde insofern der Nationalsozialismus als ein Rückfall in die Barbarei bzw. als ein Bruch mit der menschlichen Zivilisation bezeichnet.40 In diesem Sinne äußerte sich Jackson schon gegenüber Präsident Truman in seinem bereits erwähnten Bericht. In diesem warnte Jackson vor den praktischen und theoretischen Schwierigkeiten bzgl. der Definierbarkeit und Beweisbarkeit der Straftaten und empfahl, die Anklage auf solche Umstände zu beschränken, die „das amerikanische Gewissen“ besonders empörten.41 In diesem Kontext behauptete Jackson: „I think also that through these trials we should be able to establish that a process of retribution by law awaits those who in the future similarly attack civilization“.42 Wie auch Jackson selbst in seinem Eröffnungsplädoyer sagte, war die Bestrafung der Angeklagten deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie lebendige Symbole von Rassenhass, Terrorismus, Gewalt und von der Arroganz und der Grausamkeit der Macht darstellten.43 In diesem Zusammenhang wurde auch von einem Verstoß gegen die „Würden und Freiheiten, die wir als natürliche und unveräußerliche Rechte jedes Menschen erachten“,44 gesprochen. Wie der sowjetische Hauptankläger Roman Andreyevich Rudenko in seinem Eröffnungsplädoyer ausführte, musste sich die Gerechtigkeit zum ersten Mal in der Geschichte mit „Verbrechen solchen Ausmaßes, die derart schwere Folgen nach sich gezogen haben“, auseinandersetzen.45 Dem sowjetischen Hauptankläger zufolge standen vor dem IMG zudem erstmals in der Geschichte Verbrecher, „die sich in den Besitz eines ganzes Staates gesetzt und den Staat selbst zum Werkzeug ihrer ungeheuerlichen Verbrechen gemacht haben“.46 In diesem Sinne äußerte sich auch der britische Hauptankläger Hartley Shawcross in seiner letzten Rede vor dem IMG: „Dieser Prozeß muß zu einem Markstein in der Geschichte der Zivilisation werden, indem er nicht nur für diese schuldigen Menschen die Vergeltung bringt und nicht nur betont, daß Recht schließlich über das Böse triumphiert, sondern auch, daß der einfache Mann auf dieser Welt […] nunmehr fest entschlossen ist, das Individuum höher zu stellen als den Staat“.47

Jacksons Argumentation sowie Rudenkos und Shawcrosses Behauptungen lassen den Schluss zu, dass der erste erfolgreiche Versuch zur Bestrafung interna 40 In diesem Sinne äußert sich Gemählich in Bezug auf das Eröffnungsplädoyer des französischen Hauptanklägers de Menthon, siehe Gemählich, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 137, 157–158. 41 Jackson, Report, in: The Nürnberg Case, S. 10. 42 Ebd., S. 11. 43 In diesem Sinne behauptete Jackson: „Die Zivilisation kann keine Nachsicht zeigen für diese Kräfte der menschlichen Gesellschaft; sie gewönnen nur von neuem Macht, wenn wir mit den Männern, in denen Gewalten lauernd und unsichtbar noch am Leben sind, zweideutig oder unentschieden verführen“, Jackson, in: Staat, S. 10. 44 Ebd. 45 Rudenko, in: Die Gerechtigkeit, S. 3. 46 Ebd.; für das Eröffnungsplädoyer des sowjetischen Hauptanklägers Roman Rudenko siehe Antipow, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 227 ff. 47 Shawcross, in: Der Prozess, Band XIX, S. 593; für das Abschlussplädoyer von Hartley Shawcross siehe Huhle, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 329 ff.

B. Der Nürnberger Prozess  

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tionaler Straftaten durch ein internationales Tribunal weit davon entfernt ist, auf einem positivistischen Verständnis des Rechts zu beruhen, in dem das NCSL-Prinzip strikt begriffen wird. In diesem Kontext sind zwei Aspekte für das Verständnis des IMG von zentraler Bedeutung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die Alliierten einerseits drei Möglichkeiten zur Handhabung der Hauptkriegsverbrecher: Die NS-Verbrecher konnten freigelassen, sie konnten alle hingerichtet oder vor Gericht gestellt und nach rechtsstaatlichen Kriterien abgeurteilt werden.48 Die letzte Möglichkeit stellte die „gerechteste“ Lösung dar, weil auf diese Weise die Opfer des Nationalsozialismus geehrt werden konnten, ohne das Ganze als bloße Gewalt gegen die führenden Nationalsozialisten erscheinen zu lassen und ohne den Anschein von Willkür zu erwecken, wie es bei einer einfachen Hinrichtung der Fall gewesen wäre.49 Die einfache Freilassung der Hauptkriegsverbrecher hätte hingegen die zivilen und militärischen Opfer in Vergessenheit geraten lassen. Die Entscheidung zur Errichtung eines internationalen Tribunals drückte somit Vertrauen auf das Recht als Friedensordnung aus. In diesem Sinne äußerte sich Jackson auch im Jahre 1941 vor der American Bar Association: „The triumph of the law is not in always ending conflicts rightly, but in ending them peaceably. And we may be certain that we do less injustice by the worst processes of the law than would be done by the best use of violence“.50

Andererseits war die Errichtung des IMG ein Versuch zur Konsolidierung der rule of law in den internationalen Beziehungen. Zu diesem Zweck sollte die Idee rechtlich verantwortlicher Regierungen verwirklicht werden. Denn die Taten der NS-Machthaber, vor allem die Verschwörung und der Angriffskrieg, führten zu einer Lage der Rechtlosigkeit (international lawlessness) auf internationaler Ebene.51 Daher war die Bestrafung der das Völkerrecht verletzenden Handlungen erforderlich. Dies war insbesondere auch ein entscheidendes Anliegen der amerikanischen Delegation bei der Errichtung des IMG: „We do not accept the paradox that legal responsibility should be the least where power is the greatest. We stand on the principle of responsible government declared three centuries ago to King James by Lord Chief Justice Coke, who proclaimed that even a King is still ‚under God and the law‘“.52

Der Prozess wurde daher zugleich als Gerechtigkeits- und Gnadenakt verstanden.53 Die Missachtung des Rechts, die die Angeklagten durch ihre Handlungen ausgedrückt hatten, musste durch ihre rechtliche Aburteilung kompensiert werden. Darüber hinaus hätten sie ohne das Gerichtsverfahren keine Chance gehabt, 48

Vgl. Borgwardt, A New Deal, S. 211. Vgl. Jackson, Report, in: The Nürnberg Case, S.  8; hinsichtlich der kriegsbegleitenden Diskussion über die amerikanische Haltung in Bezug auf Deutschland nach dem Kriegsende siehe Jung, Susanne, S. 9 ff. 50 Jackson, in: Perspectives, S. 10. 51 Vgl. Jackson, Opening, in: The Nürnberg Case, S. 92. 52 Jackson, Report, in: The Nürnberg Case, S. 8; siehe auch Jackson, in: Perspectives, S. 11. 53 Vgl. Böhm/Huhle, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 37. 49

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

für ihr Leben zu plädieren.54 Mit dem IMG wollten die Alliierten eigentlich zeigen, dass sie auf der Seite des Rechts standen.55 Gleichzeitig beanspruchten sie hierdurch eine moralische Überlegenheit für sich. Die Aburteilung der Kriegsverbrecher wurde demnach trotz ihres neuen Charakters nicht nur durch den Sieg gerechtfertigt, sondern diente zugleich dem Erhalt der Gerechtigkeit.56 Deswegen stellte die Wiederherstellung der Herrschaft und Bedeutung des Rechts in der „Welt“ das ethische und rechtspolitische Kernanliegen in Jacksons Eröffnungsrede dar.57 Er betonte darin, dass sein Begriff von Verbrechen sich nicht auf technische oder zufällige Verstöße gegen völkerrechtliche Verträge beziehe, sondern vielmehr Handlungen meine, die sowohl ein rechtliches als auch ein moralisches Unrecht umfassten.58 Jackson zufolge standen die Angeklagten nicht vor dem IMG, weil sie aus menschlicher Schwäche gehandelt, also das getan hätten, was jeder andere unter den gleichen Umständen auch getan hätte, sondern sie würden wegen ihres abnormalen und unmenschlichen Verhaltens vor dem IMG stehen.59 Die Taten der Nationalsozialisten waren auch auf internationaler Ebene relevant, weil sie einen Angriff auf den Weltfrieden darstellten. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte es sich bei solchen Handlungen lediglich um eine interne Angelegenheit gehandelt.60 Der Angriffskrieg und die Verschwörung zu seiner Vorbereitung stellten insofern den deutlichsten Ausdruck der Bösartigkeit der Nationalsozialisten dar. Dieser Anschlag auf den Frieden der Welt umfasste zudem eine Vielzahl an abscheulichen Verbrechen. Aus diesem Grund betrachteten die Hauptankläger den Angriffskrieg als solchen samt seiner Vorbereitung als verbrecherisch.61 Diese Annahme, dass es Handlungen gäbe, die bereits allein wegen ihres grausamen Charakters Straftaten darstellen, beeinflusste auch die im Urteil darge 54 Jackson äußerte sich insofern wie folgt: „If these men are the first war leaders of a de­ feated nation to be prosecuted in the name of law, they are also the first to be given a chance to plead for their lives in the name of the law“, Jackson, Opening, in: The Nürnberg Case, S. 34; die deutsche Fassung lautet: „Nüchtern betrachtet, ist das Statut dieses Gerichtshofs, der ihnen Gehör schenkt, gleichzeitig die Quelle ihrer einzigen Hoffnung“, Jackson, in: Staat, S. 13. 55 So auch Shawcross, in: Der Prozess, Band XIX, S. 484; siehe insofern Duff, in: The Philosophy, S. 602 ff., Duff stellt die Anwendung der Idee von hostis humani generis auf internationale Verbrecher in Frage und behauptet in diesem Sinne: „[W]e respond to his wrongdoing, however terrible and ‚inhuman‘ it was, not by simply destroying him, but by trying to bring him to answer for it. International criminal trials […] express an aspiration to do justice not only to the victims of the crimes with which they are to deal, but also to the perpetrators of those crimes“, S. 604. 56 Vgl. Cassese, in: The Rome Statute, S. 6; siehe auch Mettraux, in: Routledge Handbook, S. 5; Douglas, in: NMT, S. 724. 57 Siehe insofern Böhm/Huhle, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 57. 58 Jackson, in: Staat, S. 13. 59 Ebd., S. 14. 60 Ebd., S. 15. 61 Jackson bezog sich auf „Handlungen, die ihrem Wesen nach verbrecherisch sind“, ebd., S. 58; in ähnlichem Sinne äußerte sich der französische Hauptankläger François de Menthon: Demnach „stellt jeder Rückgriff auf den Krieg einen Rückgriff auf Mittel dar, die an sich verbrecherisch sind“, de Menthon, in: Gerechtigkeit, S. 19.

B. Der Nürnberger Prozess  

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legte Argumentation des Tribunals bzgl. des NCSL-Prinzips und des auf den Fall anzuwendenden Rechts. Dieser Gedanke wird insbesondere in der folgenden Passage des Urteils deutlich: „Der Krieg ist seinem Wesen nach ein Übel. Seine Auswirkungen sind nicht allein auf die kriegführenden Staaten beschränkt, sondern treffen die ganze Welt. Die Entfesselung eines Angriffskrieges ist daher nicht nur ein internationales Verbrechen; es ist das größte internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft“.62

Deswegen meinte der IMG in Bezug auf eine mögliche Verletzung des NCSLPrinzips durch die Bestrafung des Angriffskriegs, dass es nicht ungerecht sei, einen solchen Krieg zu bestrafen; ganz im Gegenteil wäre es vielmehr ungerecht, eine solche Tat ungeahndet zu lassen.63

II. Das Recht der Londoner Charta und die Verbrechen gegen den Frieden Die Straftaten, für die der IMG zuständig war, wurden in Art. 6 LC definiert. Laut Art. 6 (a) handelte es sich bei den folgenden Taten um Verbrechen gegen den Frieden: „Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Führung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge, Vereinbarungen oder Zusicherungen oder Teilnahme an einem gemeinsamen Plan oder einer gemeinsamen Verschwörung zur Ausführung einer der vorgenannten Handlungen“.64

Die Erwägungen des IMG hinsichtlich des NCSL-Prinzips bezogen sich gerade auf diese Straftaten und nicht auf die Kriegsverbrechen oder die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Allerdings wies die LC keine besondere Bestimmung in Bezug auf das NCSL-Prinzip auf. In dieser Hinsicht war ihr Text vielmehr offen für verschiedene Interpretationen. Dies war eine Folge der Londoner Verhandlungen über die Errichtung des IMG.65 Die amerikanischen, britischen und sowjetischen Delegationen vertraten damals die Ansicht, dass sie für die Bestimmung der Straftatbestände zuständig seien.66 Die sowjetische Delegation ging sogar so 62

Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 39. Siehe insofern auch die UNWCC, History, S. 1. Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 86. 64 Ebd., S. 21. 65 Für die Diskussion im Rahmen der Londoner Konferenz in Bezug auf die Strafbarkeit des Angriffskrieges und der Verschwörung siehe Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S.  88 ff. und 99–100, laut Taylor war die Verschwörung ein typischer Begriff des angloamerikanischen Rechtssystems, der für die Vertreter der kontinental-europäischen Rechtssysteme ein gewisses Problem darstellte; einige Abschnitte der Diskussion zwischen den Vertretern der Alliierten können im Werk von August von Knieriem aus dem Jahre 1953 gefunden werden, von Knieriem, S. 27 ff.; dazu auch Gallant, S. 76 ff. 66 Gallant, S. 78–80. 63

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

weit zu behaupten, dass die Regierungen der Alliierten die Befugnis dazu hätten, die Zuständigkeit des Tribunals ohne Rücksicht auf das bestehende Völkerrecht zu regeln.67 Aus diesem Grund müsse das in der Charta vorgeschriebene Recht bindend sein und dürfe vom Tribunal nicht in Frage gestellt werden.68 Im Gegensatz dazu schlug der französische Vertreter André Gros vor, dass das Tribunal die Möglichkeit haben müsse, das zum Zeitpunkt der Handlungen geltende Recht zu ermitteln, damit das NCSL-Prinzip beachtet werden könne.69 Infolgedessen solle die Charta keine genauen Definitionen der Straftatbestände enthalten. Zudem war für Gros die Bestrafung wegen Verbrechen gegen den Frieden rückwirkend und stellte somit einen Verstoß gegen das NCSL-Prinzip dar.70 Am Ende wurde die LC als Kompromiss zwischen verschiedenen Auffassungen, die als naturrechtliche und positivistische Rechtsansätzen gekennzeichnet werden können, angenommen, wobei moralische Wertvorstellungen über den gerechten und ungerechten Krieg auf eine pragmatische Weise mit den auf völkerrechtlichen Verträgen basierenden Definitionen von Kriegsverbrechen vermengt wurden.71 Das Zusammenwirken bzw. die Spannung zwischen verschiedenen rechtstheoretischen Ansichten kann nicht nur bei den Verhandlungen der Londoner Konferenz, in der das Statut des IMG angenommen wurde, und in der LC selbst gesehen werden. Auch im Rahmen der im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher stattgefundenen Diskussion über die Strafbarkeit des Angriffskrieges trafen unterschiedliche Rechtsperspektiven aufeinander und vermischten sich. In diesem Kontext wurden wieder naturrechtliche Argumente, pragmatische Erwägungen ebenso wie positivistische Gesichtspunkte erörtert. Dies zeigt sich deutlich an den Argumenten, die während des Prozesses dargelegt wurden, und an der Begründung des Urteils des IMG. Die Verteidigung stellte wegen des angeblich rückwirkenden Charakters die Legitimität des Art. 6 (a) in Frage.72 Die Verteidiger führten aus, dass die LC das erste Dokument in der Geschichte sei, welches die Strafbarkeit der Verbrechen gegen den Frieden vorsehe, und dass dies nur geschehen sei, um die NS-Führer zu bestrafen.73 Somit wandten die Verteidiger im Prozess ein, dass die LC das NCSL 67

Ebd. Ebd. 69 Ebd., S. 81 ff. 70 Ebd.; dazu auch Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 88–89; Jung, Susanne, S. 138; diese Auffassung wurde jedoch von der französischen Delegation während des Nürnberger Prozesses nicht vertreten, dazu Gemählich, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 141–142. 71 Vgl. Borgwardt, A New Deal, S. 212–213, 239. 72 Die Verteidiger legten am 19.11.1945 einen Schriftsatz vor, in dem sie den Gerichtshof um die Einholung von Gutachten anerkannter Völkerrechtsgelehrter bzgl. der rechtlichen Grundlagen des Prozesses baten. Ein Grund dafür war u. a. der angeblich rückwirkende Charakter der Verbrechen gegen den Frieden (Art. 6 (a) LC), siehe „Eingabe der Gesamtverteidigung“, in: Der Prozess, Band I, S. 186 ff.; dazu und zur Rede von Hermann Jahrreiß vor dem IMG siehe Huhle, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 336 ff. 73 Dazu auch Gallant, S. 93. 68

B. Der Nürnberger Prozess  

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Prinzip verletze, da sie die rückwirkende Strafbarkeit des Krieges begründe. Das Argument der Verteidiger wurde im Urteil auf folgende Weise zusammengefasst: „Es ist angeführt worden, daß eine Bestrafung ex post facto dem Recht aller zivilisierten Nationen zuwiderläuft, daß seitens keiner souveränen Macht Angriffskriege zu jener Zeit, als die angeblich verbrecherischen Handlungen begangen wurden, als Verbrechen erklärt worden waren, daß keine Rechtssatzung den Begriff des Angriffskrieges bestimmt hatte, daß keine Ahndung für ihre Begehung festgelegt worden und daß kein Gerichtshof geschaffen worden war, um die Übertreter abzuurteilen und zu bestrafen“.74

Die diesbezügliche Argumentation des Tribunals wies zwei Aspekte auf.75 Zunächst wurde im Urteil ausgeführt, dass die in die Zuständigkeit des Tribunals fallenden Straftaten bereits in der LC festgelegt worden seien und dass diese Definitionen für das Tribunal bindend seien.76 Zugleich wurde aber auch gesagt, dass die LC lediglich das zur Zeit ihrer Schaffung geltende Völkerrecht wiedergebe, d. h. dass sie kein neues Recht schaffe.77 In diesem Sinne äußerte sich auch der Generalsekretär der VN 1949: „[T]he Charter has then  a double foundation in international law. Firstly, it was created by the signatory Powers in the exercise of their competence under international law; and secondly, the Charter does not, as to its contents, deviate from the law of nations, it merely gives expression to already existing international law“.78

Diese doppelte Begründung zeigt Gallant zufolge die Bemühung des Tribunals, um den Mangel eines Kompromisses im Rahmen der Londoner Konferenz bzgl. des Wesens der LC selbst und des Problems der Legalität zu überwinden.79 Eine solche Argumentationsweise scheint jedoch widersprüchlich zu sein. Durch das erste Argument lehnte der IMG die Geltung des NCSL-Prinzips im Rahmen des Nürnberger Prozesses ab.80 Der IMG hielt fest, dass die Schaffung der LC eine Ausübung souveräner gesetzgebender Gewalt seitens der Alliierten darstelle.81 Diese souveräne Befugnis der Alliierten ergebe sich aus der bedingungslosen Kapi­tulation Deutschlands.82 Dem Tribunal zufolge stellte das NCSL-Prinzip 74

Das Urteil von Nürnberg 1946, S.  85; siehe dazu Tomuschat, J.  Int’l  Crim.  Just. 2006, 830 (832), für Tomuschat war unzweifelhaft, dass die Strafbarkeit des Krieges nicht die klassischen Voraussetzungen des Völkergewohnheit­srechts (Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung) erfüllte. 75 Vgl. Gallant, S. 111 ff.; siehe auch Boot, S. 189; Weigend, J. Int’l Crim. Just. 2012, 41 (46–47). 76 Das Urteil lautet: „Das Recht des Status ist maßgebend und für den Gerichtshof bindend“, Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 84. 77 Ebd., S. 84–85. 78 VN, The Charter and Judgment (Doc. A/CN.4/5), S. 38. 79 Vgl. Gallant, S. 112 und 125. 80 Vgl. Jung, Susanne, S. 149; zu den Unterschieden im Bezug auf dieses Argument zwischen der englischen, russischen und französischen Fassung des Urteils siehe Acquaviva, J. Int’l Crim. Just. 2011, 881. 81 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 84. 82 Ebd.

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

also nur einen Gerechtigkeitsgrundsatz dar, der jedoch nicht die Souveränität über das besetzte Gebiet beschränkte.83 Diese Argumentation befand sich im Einklang mit der Auffassung des sowjetischen Hauptanklägers Rudenko, wonach das NCSL-Prinzip keine Bedeutung für den IMG habe, da alle Vorschriften der LC für diesen bindend seien.84 Für den sowjetischen Ankläger stellten Verträge bzw. Abkommen zwischen den Staaten, wie das Londoner Abkommen von 1945, die grundlegende Quelle des Rechts auf internationaler Ebene dar.85 Der zweite Argumentationsstrang des IMG umfasste eine Reihe von Aspekten, mithilfe derer das Tribunal zeigen wollte, dass die LC das NCSL-Prinzip nicht verletze. Demnach sei der Angriffskrieg bereits bei Kriegsbeginn, also mit dem Überfall auf Polen (01.09.1939), bereits nach dem geltenden Völkerrecht rechtswidrig und strafbar gewesen.86 Als Beweis der Rechtswidrigkeit wurden mehrere internationale Abkommen zitiert, die Deutschland durch die Aggression gegen Polen und andere Länder verletzt habe.87 In diesem Zusammenhang ist insbesondere der Briand-Kellogg-Pakt (BKP) bzw. der Pariser Vertrag von 1928 zu nennen. Dieses Übereinkommen war für 63 Staaten bindend, darunter auch Deutschland, Italien und Japan.88 Gemäß Art. 1 BKP erklärten die vertragschließenden Parteien, „dass sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten“.89 In diesem Sinne wurde erklärt, dass die NS-Machthaber gewusst haben müssten, dass ein ohne Kriegserklärung durchgeführter Angriff eine Verletzung des Völkerrechts darstelle. Der IMG befasste sich dann mit der rechtlichen Wirkung der Verletzung dieser Vorschrift und kam, wie bereits gesagt, nicht nur zu der Schlussfolgerung, dass der Krieg entsprechend dem BKP bereits im Jahre 1939 eine rechtswidrige Handlung dargestellt habe, sondern auch 83

In diesem Sinne behauptete das Tribunal, „daß der Rechtssatz nullum crimen sine lege keine Beschränkung der Souveränität darstellt, sondern ganz allgemein ein Grundsatz der Gerechtigkeit ist“, ebd., S. 86. 84 Vgl. Rudenko, in: Die Gerechtigkeit, S. 5–6. 85 Ebd., S. 6. 86 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 86. 87 Der IMG wies u. a. auf die Verletzung des Haager Abkommens von 1899, des Abkommens zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten von 1907 und seines Zusatz­protokolls über die Eröffnung von Feindseligkeiten hin. In diesen Abkommen wurde eine Pflicht zur Kriegserklärung vorgesehen, insbesondere in Art. 1 des Zusatzprotokolls. Der IMG erwähnte auch einige von Deutschland abgeschlossene Garantie-, Schieds- und gegenseitige Nichtangriffsverträge, wie z. B. den im Jahre 1925 mit Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien abgeschlossenen Vertrag von Locarno oder die im Jahre 1939 mit Dänemark und der Sowjetunion unterzeichneten Nichtangriffsverträge. Der Vertrag von Versailles war auch von Bedeutung, insbesondere die Verletzung einiger Bestimmungen wie z. B. der Art. 42 und 44 über die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes oder des Art. 80 über die österreichische Unabhängigkeit. Siehe ebd., S. 81 ff. 88 Der BKP wurde am 27.08.1928 u. a. von Deutschland, den Vereinigten Staaten, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Japan und Polen unterzeichnet, ebd., S. 83–84. 89 Ebd., S.  87; siehe Kreß, The Crime, in: The Crime, S.  3: „[T]he Kellog-Briand Pact­ marked the end of a ius ad bellum as a concept of positive international law“.

B. Der Nürnberger Prozess  

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dass sich diejenigen, die einen Krieg beginnen, strafbar machen würden. Auf diese Weise setzte der IMG anscheinend das Verbot einer Handlung mit ihrer Strafbarkeit gleich.90 Dadurch interpretierte der IMG einen völkerrechtlichen Vertrag, der sich ursprünglich nur auf ein staatliches Verhalten bezog, als einen völkerrechtlichen Vertrag um, der durch die Kriminalisierung bestimmter Handlungen auch das Verhalten von Individuen regelte.91 Der IMG führte hierzu aus: „Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß der feierliche Verzicht auf den Krieg als Werkzeug nationaler Politik notwendigerweise bedeutet, daß solch ein Krieg völkerrechtwidrig ist und daß diejenigen, die einen solchen Krieg mit all seinen unvermeidbaren und schrecklichen Folgen planen und führen, dadurch ein Verbrechen begehen“.92

Es muss aber festgehalten werden, dass die im BKP festgeschriebene Rechtswidrigkeit des Angriffskriegs nicht allein bzw. nicht die einzige Rechtsgrundlage der Strafbarkeit der in der LC vorgesehenen Verbrechen gegen den Frieden war. Im Nürnberger Urteil wurden auch mehrere zusätzliche Gründe genannt, um die Strafbarkeit des Angriffskrieges zu bejahen. Zunächst ist zu erwähnen, dass nach dem IMG das Fehlen einer Norm, die explizit die Strafbarkeit des Angriffskrieges vorsieht, kein Problem darstellt. Dies geschah eigentlich auch mit Blick auf die Kriegsverbrechen.93 Der IMG führte nämlich insofern aus, dass die Haager Konvention IV von 1907 über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs verschiedene Handlungen verbiete, wie z. B. die unmenschliche Behandlung von Gefangenen oder die Verwendung giftiger Gase, nicht aber explizit vorschreibe, dass diese Handlungen Straftaten seien. Trotzdem würden Verstöße gegen diese Normen seit Langem durch Militärgerichtshöfe bestraft.94 Der IMG war demnach der Ansicht, dass der Angriffskrieg ebenso rechtswidrig sei wie Verstöße gegen die Haager Konvention. Der Unterschied liege nur darin, dass der Angriffskrieg eine schwerwiegendere Tat darstelle als die Verletzung einer spezifischen Bestimmung dieser Konvention.95 90 Vgl. Tomuschat, J. Int’l Crim. Just. 2006, 830 (833); siehe auch Werle/Jeßberger, S. 689– 690, laut Werle und Jeßberger stellte die Bestrafung der Verbrechen gegen den Frieden keinen Verstoß gegen das NCSL-Prinzip dar, obwohl sie rückwirkend war; Ahlbrecht, S. 83–84, für Ahlbrecht ist jegliche Beschränkung des NCSL-Prinzips abzulehnen. Demnach habe die Bestrafung wegen Verbrechen gegen den Frieden das NCSL-Prinzip verletzt; Cassese, Cassese’s, S. 25, 30, Cassese zufolge war diese Argumentation „highly questionable“ und der IMG wendete ex post facto law an; siehe dazu auch UNWCC, History, S. 17, 58–59, 244–246. 91 Siehe insofern van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119 (127). 92 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 87; auch der britische Ankläger vertrat diese Ansicht. In seinem letzten Plädoyer sagte er: „Ich trage vor, daß er die Einleitung eines Krieges unter Verletzung des Vertrags zur rechtwidrigen Handlung machte, und daß es keinen Unterschied zwischen Rechtswidrigkeit und verbrecherischem Charakter bei einem Rechtsbruch gibt, der den Tod von Millionen und einen unmittelbaren Angriff auf die letzten Grundlagen der Zivilisation bedeutete“, Shawcross, in: Der Prozess, Band XIX, S. 513; in diesem Sinne auch François de Menthon, de Menthon, in: Gerechtigkeit, S. 20. 93 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 88. 94 Ebd. 95 Ebd.; kritisch dazu Weigend, J. Int’l Crim. Just. 2012, 41 (47–48).

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

In diesem Kontext ist es interessant, die Begründung des amerikanischen Hauptanklägers zur Kriminalisierung des Angriffskrieges und dem BKP mit derjenigen des IMG zu vergleichen. Jackson betonte den verbrecherischen Charakter des Angriffskrieges an sich. Er kritisierte die im 18. und 19. Jahrhundert verbreitete Annahme, dass der Krieg eine (rechtlich gesehen) neutrale Handlung darstelle.96 Für Jackson verlangte die „common sense of men“ die Ablehnung unzivilisierter Kriege, d. h. der Angriffskriege.97 Deshalb behauptete er in seinem Eröffnungsplädoyer, dass im Anschluss an den Ersten Weltkrieg ein Prozess zur Wiederherstellung des Prinzips begonnen habe, dem zufolge es ungerechte und somit rechtswidrige Kriege gäbe (ius ad bellum). Dieses Verständnis beruhte auf den Lehren des frühen Christentums und des Rechtsgelehrten Hugo Grotius.98 Jackson zufolge waren Vorschriften wie diejenigen des BKP Spuren bzw. Ausdrücke dieses Prozesses.99 Im Unterschied dazu beschränkte sich die Argumentation des IMG auf die Erwähnung internationaler Abkommen und weiterer Dokumente. Der Ansatz des IMG scheint daher formalistischer zu sein. Die im Urteil dargelegte Begründung der Strafbarkeit des Angriffskrieges beruhte jedoch u. a. auch auf einer „erweiterten“ Interpretation des BKP. Wie bereits gezeigt wurde, bezeichnete der IMG den Angriffskrieg als „das größte internationale Verbrechen“. Denn er sei bereits seinem Wesen nach eine schlechte Sache. Trotzdem erkannte der IMG einen inhärenten verbrecherischen Charakter des Angriffskrieges nicht ausdrücklich an. Deswegen versuchte er konkrete Anhaltspunkte im Völkerrecht zu ermitteln, um seine Auslegung zu unterstützen. Aus diesem Grund bezog sich der IMG im Urteil nicht nur auf den BKP, sondern auch auf den Versailler Vertrag.100 Außerdem erwähnte er den Entwurf eines Vertrags des Völkerbundes (VB) über gegenseitige

96 Vgl. Jackson, in: Staat, S. 57; dazu Borgwardt, A New Deal, S. 214 und Borgwardt, Berkeley J. Int’l L. 2005, 401 (428). 97 Vgl. Jackson, Opening, in: The Nürnberg Case, S. 83; in der deutschen Übersetzung heißt es: „der gesunde Menschenverstand“, Jackson, in: Staat, S. 57. 98 Ebd.; auch der britische Hauptankläger bezog sich in seinem ersten Plädoyer auf die Lehre des gerechten Kriegs und auf Hugo Grotius, siehe Shawcross, in: Nürnberg, S. 10; zum BKP und zur Wiederkehr der Idee der traditionellen bellum iustum-Lehre in der Zwischenkriegszeit siehe Jensen, S. 263 ff.; zum Angriffskrieg und der Lehre des gerechten Krieges siehe May, in: The Crime, S. 273 ff. (in Bezug auf Grotius siehe S. 276–278). 99 Vgl. Jackson, in: Staat, S. 57; für den Zusammenhang zwischen Angriffskrieg als internationalem Verbrechen und der Theorie des gerechten Krieges siehe auch UNWCC, History, S. 16, 232–233. 100 Art.  227 des Versailler Vertrags sah die Einsetzung eines besonderen Gerichtshofs vor, der aus Vertretern der fünf Alliierten und Assoziierten Mächte bestand, die im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland gekämpft hatten, und der den deutschen Kaiser verurteilen sollte; das Ziel dieses Prozess war „den feierlichen Verpflichtungen und internationalen Verbindlichkeiten ebenso wie dem internationalen Sittengesetze Achtung zu verschaffen“, Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 90; kritisch bzgl. dieses Arguments und dieses Verweises auf den BKP Weigend, J. Int’l Crim. Just. 2012, 41 (48–49).

B. Der Nürnberger Prozess  

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Hilfeleistung und das Völkerbundsprotokoll von 1924 für die friedliche Beilegung internationaler Streitfälle (Genfer Protokoll), das allerdings nicht ratifiziert worden war.101 Zwar enthielten die letzten beiden Dokumente Vorschriften, in denen der Angriffskrieg als internationales Verbrechen gekennzeichnet wurde,102 sie hatten aber keine Rechtskraft. Nichtsdestoweniger diente der Verweis auf solche Dokumente als Beweis für eine Tendenz zur Kriminalisierung des Angriffskrieges im Völkerrecht103 und zugleich als Anhaltspunkt bzw. Vorgeschichte für die Auslegung des BKP. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Jackson seine Argumentation auch anhand einer Analogie zwischen dem Völkerrecht und der Entwicklung des Common Law aufbaute.104 In seinem Plädoyer hob er hervor, dass das Völkerrecht sich nur durch richterliche Entscheidungen entwickeln könne, selbst wenn dies zu Lasten der Angeklagten geschehe.105 Die Entwicklung des Völkerrechts durch Richterrecht wurde aber von Jackson nicht nur aus pragmatischen Gründen gerechtfertigt, sondern auch aus moralischen Erwägungen: Dass das Recht sich nur durch ein Opfer moralisch unschuldiger Menschen entwickeln dürfe, aber niemals zu Lasten moralisch schuldiger Menschen, war für Jackson inakzeptabel.106 Diese Meinung wurde auch vom britischen Ankläger Shawcross vertreten. Ihm zufolge schuf die LC zwar kein neues Recht, aber hätte sie dies getan, wäre dies eine „wünschenswerte und segensreiche Neuerung, die ganz und gar mit der Gerechtigkeit übereinstimmt“.107 Der Verweis auf das Common Law erlaubte Jackson, zwei Punkte hervorzuheben: zum einen die Notwendigkeit das Völkerrecht als eine dynamische Rechtsordnung zu konzipieren, die mithilfe richterlicher Entscheidungen auf neue Situationen reagieren kann, und zum anderen

101 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 89; beide Dokumente wurden im Kontext der Diskus­ sionen zur Abrüstung entworfen, sie wurden aber nicht ratifiziert, weil einige Staaten, wie z. B. England, bezweifelten, dass Völkerrechtsverträge wie diese wirklich zukünftige Kriege verhindern könnten, UNWCC, History, S. 54–56. 102 Die Präambel des Völkerbundsprotokolls von 1924 sagt z. B., dass der Angriffskrieg eine Verletzung der Einheit der Mitglieder darstelle und ein internationales Verbrechen sei. Auch Art. 1 des Entwurfs des Vertrags des VB über gegenseitige Hilfeleistung lautet entsprechend, siehe Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 89. 103 In diesem Sinne behauptete die UNWCC 1948: „As always when there have been murde­ rous and destructive wars, there has been since 1919 a great world movement to abolish war or, if that is impossible, to deminish its possibility“, UNWCC, History, S. 9; siehe auch ebd., S. 180 ff.; der IMG bezog sich für den Nachweis des Bestehens von Völkergewohnheitsrecht bzgl. der Kriminalisierung des Angriffskrieges auch auf die Deklaration der sechsten Pan­ amerikanischen Konferenz von 1928, siehe Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 90. 104 Vgl. Jackson, in: Staat, S. 59. 105 Robert H. Jackson sagte hierzu: „Das Völkerrecht muß sich, soll es sich überhaupt entwickeln, wie das gemeine Recht von Fall zu Fall entwickeln, und zwar schreitet es immer auf Kosten derer fort, die es verkannt und ihren Irrtum dann zu spät bemerkt haben“, ebd. 106 Ebd. 107 Shawcross, in: Nürnberg, S. 18.

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

die Idee, dass Regierungen bzw. Machthaber dem (Völker-)Recht unterworfen sind, d. h. dass das Recht eine effektive Grenze der politischen Macht bilden soll.108 Obwohl sich der IMG nicht direkt auf das Common Law bezog, vertrat auch er eine pragmatische Ansicht des Rechts, die zum selben Ergebnis wie die Argumentation von Jackson führte. Die folgenden Ausführungen des IMG zum BKP sind insofern bezeichnend: „Wenn man die Worte des Paktes auslegt, muß man sich bewußt bleiben, daß Völkerrecht nicht das Ergebnis einer internationalen Gesetzgebung ist, und daß zwischenstaatliche Abkommen, wie der Pakt von Paris, sich mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen beschäftigen müssen und nicht mit verwaltungstechnischen Ver­fahrensregeln. Kriegsrecht leitet sich nicht nur von Verträgen ab, sondern von den Gebräuchen und Gewohnheiten der Staaten, die allmählich allgemeine Anerkennung gefunden haben, und von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die von Juristen ausgear­beitet und von Militärgerichtshöfen angewendet werden. Dieses Recht ist kein starres, sondern folgt durch ständige Angleichung den Notwendigkeiten einer sich wandelnden Welt“.109

Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass sich aus der Argumentation der Ankläger und aus der Begründung des Urteils drei Ideen ergeben, die für die weitere Entwicklung des Völkerstrafrechts von zentraler Bedeutung waren und die deshalb hier hervorgehoben werden sollen. Strafrechtliche Konsequenzen für eine Verletzung vertraglicher Pflichten können erstens bereits aufgrund einer „Tendenz“ im Völkerrecht begründet werden. Zweitens muss somit die Strafbarkeit einer bestimmten Handlung nicht explizit durch eine formelle Rechtsgrundlage im Voraus bestimmt werden. Das Verbot der Handlung wurde immerhin in diesem Fall durch das geschriebene Recht begründet, nämlich durch den BKP. Daraus könnte man schließen, dass das Verbot der Handlung im Völkerstrafrecht einer Basis im positiven Völkerrecht bedarf. Drittens ist der Vertrauensschutz schwächer ausgeprägt, wenn es um internationale Verbrechen geht. Denn die Grausamkeit bestimmter Handlungen erlaubt die Schlussfolgerung, dass diese strafbar sind. Deshalb hätten die NS-Machthaber wissen müssen, dass ihre Handlungen, insbesondere die Verbrechen gegen den Frieden, internationale Verbrechen darstellen.110 108 Der Verweis auf die Common Law-Tradition ist auch im bereits zitierten Text von Jackson aus dem Jahr 1941 zu finden: „We have never been able to accept as an ultimate principle the doctrine that, in vital matters of war and peace, each sovereign power must be free of all restraint except the will and conscience of its transitory rulers. Long ago English lawyers rejected lawlessness as prerogative of the Crown […] Our Anglo-American philosophy of political organization denies the concept of arbitrary and unlimited power in any governing body“, Jackson, in: Perspectives, S. 12. 109 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 88. 110 Ambos fasst die Auffassung des IMG hinsichtlich des NCSL-Prinzips, insbesondere in Sinne des Rückwirkungsverbots, anhand von zwei Aspekten zusammen: Das NCSL-Prinzip diene in erster Linie als subjektiver Vertrauenstatbestand für solche Angeklagte, denen eine Kenntnis der Strafbarkeit ihrer Handlungen nicht nachgewiesen oder ein Kennenmüssen nicht vorgeworfen werden könne. In objektiver Hinsicht reiche ein Rechtsgrundsatz, die das betreffende

B. Der Nürnberger Prozess  

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III. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Art. 6 (b) und (c) der LC definiert die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit:111 „(b)  Kriegsverbrechen: nämlich Verletzungen des Kriegsrechts und der Kriegsgebräuche. Solche Verletzungen umfassen, ohne jedoch darauf beschränkt zu sein, Ermordung, Mißhandlung oder Verschleppung der entweder aus einem besetzten Gebiet stammenden oder dort befindlichen Zivilbevölkerung zur Zwangsarbeit oder zu irgendeinem anderen Zwecke, Ermordung oder Mißhandlung von Kriegsgefangenen oder Personen auf hoher See, Tötung von Geiseln, Raub öffentlichen oder privaten Eigentums, mutwillige Zerstörung von Städten oder jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung.“ „(c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit: nämlich Ermordung, Ausrottung, Versklavung, Verschleppung oder andere an der Zivilbevölkerung vor Begin oder während des Krieges begangene unmenschliche Handlungen; oder Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen in Ausführung eines Verbre­chens, für das der Gerichtshof zuständig ist, unabhängig davon, ob die Handlungen gegen das Recht des Landes, in dem sie begangen wurde, verstießen oder nicht.“

Im Prozess wurde von den Verteidigern nicht bestritten, dass diese Handlungen bereits zum Zeitpunkt der Tatbegehung Straftaten im Sinne des Völkerrechtes darstellten. Trotzdem ist die Betrachtung einiger der von der Anklage vorgebrachten Argumente und einiger Erwägungen des IMG hinsichtlich dieser beiden Fallgruppen nützlich, um das Zusammenwirken verschiedener Rechtsansichten bzgl. der Konzeption der Legalität im Nürnberger Prozess zu verstehen. Hinsichtlich der Kriegsverbrechen ging der IMG auf zwei der von den Verteidigern vorgebrachten Einwände ein. Die strafrechtliche Verantwortung der Nationalsozialisten beruhe u. a. auf der Haager Konvention IV von 1907 über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs und auf der Genfer Konvention (GK) von 1929 über die Behandlung von Kriegsgefangenen.112 Gemäß Art.  2 der Haager Konvention fanden die Bestimmungen dieses Abkommens nur dann Anwendung, wenn alle kriegsführenden Parteien zugleich Parteien des Abkommens waren (general participation clause). Da mehrere am Krieg beteiligte Staaten dieser Verhalten unter Strafe stelle, als Bezugspunkt für das Rückwirkungsverbot. Dieser Referenzpunkt könne sich auch aus dem Gewohnheitsrecht bzw. aus naturrechtlichen Prinzipien ergeben, Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 112; Schabas zufolge zeigen die Erwägungen des IMG einerseits, dass die Richter eine gewisse Rückwirkung bzgl. der Strafbarkeit des Angriffskrieges anerkannten, andererseits aber auch dass sie den NCSL-Grundsatz als ein relatives Prinzip auffassten, d. h. als ein Prinzip, das unter gewissen Umständen Ausnahmen zulässt, vgl.­ Schabas, Unimaginable, S. 49. 111 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 133. 112 Hinsichtlich der Strafbarkeit der Kriegsverbrechen behauptete der IMG: „Daß Verletzungen dieser Bestimmungen Verbrechen darstellen, für die die schuldigen Einzelpersonen strafbar waren, ist so allgemein anerkannt, daß darüber eine Erörterung nicht mehr zu­gelassen werden kann“, Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 133.

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

Konvention nicht beigetreten waren, wurde im Prozess von den Verteidigern eingewandt, dass dieses Abkommen nicht anwendbar sei. Der IMG führte jedoch aus, dass die in die Haager Konvention aufgenommenen Bestimmungen 1939 bereits von „allen zivilisierten Nationen anerkannt und als Zusammenstellung der Kriegsgesetze und -gebräuche betrachtet“113 worden seien. Diese Normen wären deshalb bei Kriegsbeginn schon Völkergewohnheitsrecht gewesen und hätten deshalb allgemeine Geltung gehabt, unabhängig davon, ob die am Krieg beteiligten Saaten die Konvention unterzeichnet gehabt hätten oder nicht. Die Verteidiger behaupteten ferner, dass Deutschland in vielen der während des Krieges besetzen Gebiete nicht an das Landkriegsrecht gebunden gewesen sei, weil diese Länder ins Deutsche Reich eingegliedert worden seien (sog. doctrine of subjugation). Deutschland habe somit die Befugnis gehabt, diese Länder als Bestandteile des Reiches zu behandeln.114 Da diese Eingliederungen aber gerade das Ergebnis einer Straftat, also des Angriffskrieges waren, lehnte der IMG diese Begründung ab. Die doctrine of subjugation fand laut IMG keine Anwendung auf die nach dem 01.09.1939 besetzen Gebiete.115 Im Zusammenhang mit den Kriegsverbrechen wurden im Urteil auch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit behandelt. Obwohl das vorherige Bestehen einer Rechtsgrundlage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit fragwürdig erschien,116 erörterten die Verteidiger des Nürnberger Prozesses, wie bereits gesagt, dieses Thema nicht.117 Hier sind allerdings zwei Probleme in Bezug auf das NCSLPrinzip und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erwähnen. Zum einen wurde nicht eindeutig geklärt, aus welcher Rechtsquelle sich die Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ergab.118 Zum anderen erfasste die Kategorie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch die Misshandlung der eigenen, nämlich der deutschen Bevölkerung, was nach dem damaligen Völkerrecht keine internationale Angelegenheit darstellte.119 Diese Probleme waren den Vertretern der Alliierten während der Londoner Konferenz bewusst. Gerade deshalb wurde

113

Ebd., S. 134. Ebd. 115 Ebd., S. 135. 116 Dazu ausführlich Bassiouni, Crimes, S. 296 ff.; siehe auch Mettraux, in: Routledge Handbook, S. 7; Werle/Jeßberger, S. 12; Cassese, Cassese’s, S. 86 ff.; Ahlbrecht, S. 88, Ahlbrecht zufolge verletze die Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit das Rückwirkungsverbot; für die Diskussionen vor der Verabschiedung der LC innerhalb der UNWCC siehe UNWCC, History, S. 174 ff. 117 Siehe dazu Gallant, S. 104 ff. 118 Dieses Problem blieb in der Anklageschrift ungelöst. In diesem Dokument wurde nur gesagt, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit Verletzungen „internationaler Konventionen, internationaler Strafgesetze und der allgemeinen Grundsätze des Strafrechts“ darstellten, ohne die konkreten Rechtsgrundlage, mit Ausnahme der Haager Konvention, zu erwähnen, vgl. Anklageschrift des IMG, in: Der Prozess, Band I, S. 70 ff. 119 Vgl. Boot, S. 195; Schwelb, Brit. Y. B. Int’l L. 1946, 178 (206). 114

B. Der Nürnberger Prozess  

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der Ausdruck „in Ausführung eines Verbrechens, für das der Gerichtshof zuständig ist“ in Art. 6 (c) der LC aufgenommen.120 Demnach waren die Verbrechen gegen die Menschlichkeit akzessorisch.121 Sie konnten somit nur abgeurteilt werden, sofern sie bei Ausführung eines anderen Verbrechens begangen wurden, für das der Gerichtshof zuständig war. Folglich war eine Verbindung zwischen den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und dem Krieg zwingend erforderlich. Dies erschwerte es, gewisse vor Kriegsbeginn begangene Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen. Dementsprechend konnten mangels Verbindung zum Krieg weder die Verfolgung der Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft seit 1933 in Deutschland noch die Unterdrückung politischer Gegner unter den Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit subsumiert werden. Um die Strafbarkeit wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründen zu können, bezog sich Jackson auf das Konzept von „Verschwörung“.122 Als Grundlage für die Anklage wurde daher ausgeführt, dass die Täter einen komplexen Plan zur Eroberung Europas und zum Bruch des Weltfriedens gefasst und verfolgt hätten.123 Alles, was sie spätestens seit der Machtergreifung im Jahre 1933 getan hätten, habe der Kriegsvorbereitung gedient und sei deswegen strafbar.124 Jackson versuchte auf diese Weise eine generelle Verbindung zwischen den Gräueltaten der Nationalsozialisten und dem Krieg als größtes internationales Verbrechen zu bilden, unabhängig davon, ob die Taten vor oder nach Kriegsbeginn begangen wurden und ob sie lediglich die deutsche Bevölkerung betrafen.125 Hinter dieser Vorstellung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit stand ein weites Verständnis der Kriegsverbrechen, das von der in die Präambeln der Haager Konventionen über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs von 1899 und 1907 aufgenommenen Martens’schen Klausel ausging.126 Somit rührte das Verständnis der Verbrechen gegen 120

Vgl. Gallant, S. 85 ff. Vgl. Boot, S. 195. 122 In der Anklageschrift sprach man von einem gemeinsamen Plan bzw. einer Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, gegen das Kriegsrecht und gegen die Humanität. In diesem Zusammenhang bezog sich die Anklageschrift auf die NS-Partei als „Mittelpunkt des gemeinsames Planes“, Anklageschrift des IMG, in: Der Prozess, Band I, S. 31. 123 Vgl. Jackson, in: Staat, S. 16. 124 Ebd., S. 17 ff. 125 Ebd., S. 21 ff.; siehe auch Böhm/Huhle, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 44 ff. sowie Huhle, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 334–335 (bzgl. der Schlussrede von Shawcross). 126 Die sog. Martens’sche Klausel ist im achten Absatz der Präambel der Haager Konvention von 1907 zu finden: „Until  a more complete code of the laws of war has been issued, the High Contracting Parties deem it expedient to declare that, in cases not included in the Regulations adopted by them, the inhabitants and the belligerents remain under the protection and the rule of the principles of the law of nations, as they result from the usages established among civilized peoples, from the laws of humanity, and the dictates of the public conscience“, verfügbar auf der Website des Internationalen Komitees des Roten Kreuz unter: http://www.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/Article.xsp?action=openDocument&documentId=BD4 121

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

die Menschlichkeit aus einer expansiven Interpretation der Kriegsverbrechen her, die auf die Martens’sche Klausel gestützt wurde.127 In diesem Sinne äußerte sich Jackson bzgl. der nationalsozialistischen Herrschaft und der Politik der NSMachthaber gegenüber den eigenen Bürgern: „This was not the legitimate activity of a state within its own boundaries, but was prepara­ tory to the launching of an international course of aggression and was with the evil intention, openly expressed by the Nazis, of capturing the form of the German state as an instrumentality for spreading their rule to other countries. Our people felt that these were the deepest offenses against that International Law described in the Fourth Hague Convention of 1907 as including the ‚laws of humanity and the dictates of the public conscience‘“.128

Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verstießen somit gegen die „laws of humanity and the dictates of the public conscience“. Deshalb und vor dem Hintergrund, dass solche Verbrechen sich vor allem auf „kaltblütige Massenhinrichtungen zahlloser Menschen“129 bezogen, stellte ihre Strafbarkeit Jackson zufolge keine Überraschung dar. Deswegen fragt er in seinem ersten Plädoyer ironisch: „Sind diese Männer überrascht, daß Mord als ein Verbrechen angesehen wird?“130 Die Martens’sche Klausel wurde aber im Prozess nicht als einzige Begründung für die Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeführt. Der britische und der französische Hauptankläger trugen darüber hinaus weitere Argumente vor. Für den britischen Hauptankläger Shawcross waren die Taten bzgl. der deutschen Bevölkerung auf internationaler Ebene als Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur deshalb strafbar, weil sie zur Vorbereitung des Krieges dienten,131 sondern auch, weil ihm zufolge die Kategorie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ Handlungen erfasste, die in allen Ländern als Straftaten betrachtet werden, wie z. B. Mord, Ausrottung oder Versklavung.132 Gallant bezeichnet dieses Argument als die retroactive-re-characterization-Theorie, der zufolge die Verbrechen gegen die Menschlichkeit lediglich eine neue Deutung „allgemeiner“ Straftaten seien.133 Dies hätte laut Shawcross zwei Folgen. Zum einen würde die Tatsache, dass die Handlungen nach deutschem Recht erlaubt waren, die interna8EA8AD56596A3C12563CD0051653F (zuletzt aufgerufen am 29.04.2014); zur Entstehung der Martens’sche Klausel siehe Schircks, S.  17 ff.; zur Herleitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus der Martens’schen Klausel siehe ebd., S.  37 ff.; hinsichtlich der Martens’sche Klausel behauptete die UNWCC 1948: „[Die Klausel] was intended to serve as a general rule of conduct in all cases not covered by the rules adopted by the Contracting Parties […] unforeseen cases should not, in default of written agreement, be left to the arbitrary opinion of military commanders“, UNWCC, History, S. 25. 127 Siehe dazu Borgwardt, A New Deal, S. 226–227 und Borgwardt, Berkeley J. Int’l L. 2005, 401 (438 ff.). 128 Jackson, Report, in: The Nürnberg Case, S. 8. 129 Jackson, in: Staat, S. 56. 130 Ebd. 131 Shawcross, in: Der Prozess, Band XIX, S. 525. 132 Ebd., S. 526. 133 Vgl. Gallant, S. 97.

B. Der Nürnberger Prozess  

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tionale Strafbarkeit der Handlungen in Übereinstimmung mit Art. 6 (c) LC nicht ausschließen.134 Insofern stellte der Nürnberger Prozess eine Warnung für zukünftige Diktatoren dar. Denn durch einen Eingriff in die Unverletzlichkeit des Individuums in ihren Ländern verletzen sie zugleich auch „das Völkerrecht der Menschheit“.135 Zum anderen konnten die Angeklagten nicht vortragen, dass die Strafbarkeit solcher Taten auf neuem Recht beruhe.136 Der französische Hauptankläger de Menthon versuchte seinerseits den Begriff der Menschlichkeit zu definieren, um zu erklären, warum die Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Kapitalverbrechen „gegen die menschlichen Gewissen“137 darstellen. Er definierte den Ausdruck „Menschlichkeit“ als „die Gesamtheit der Fähigkeiten, deren Ausübung und Entwicklung den eigentlichen Sinn des menschlichen Lebens bilden“.138 Für de Menthon spiegeln sich solche Fähigkeiten in der Ordnung des menschlichen Lebens in einer menschlichen Gesellschaft wider und setzen eine Reihe von Möglichkeiten voraus, die z. B. durch die Meinungs-, Glaubens- und Pressefreiheit verwirklicht werden können.139 Die Angeklagten hätten einen „systematischen Korruptions- und Perversionskampf“ gegen diese „menschlichen Bedingungen [und] gegen die öffentlichen und privaten Rechte der menschlichen Person“140 geführt und auf diese Weise die „Natur des Menschen“ verletzt.141 Ein zentraler Punkt der Auffassung de Menthons war die Möglichkeit den Begriff der „Natur des Menschen“ in zwei sich ergänzende Elemente zu teilen, ein individuelles und ein kollektives: „[e]inerseits die Würde der menschlichen Persönlichkeit, und zwar bei jedem einzelnen gesondert betrachtet; und andererseits das Dauernde der menschlichen Persönlichkeit im Lichte der gesamten Menschheit“.142 Vor diesem Hintergrund behauptete der französische Hauptankläger, dass die Nationalsozialisten Verbrechen gegen die Menschlichkeit „mit Bezug auf alle Menschen“ begangen hätten.143 Diese Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit reicht weiter als die vom IMG vertretene Auffassung. Denn sie umfasst beispielsweise auch das Verbot der französischen Sprache in den dem Deutschen Reich eingegliederten Gebieten und die Einschränkung von Grundrechten wie der Presse- oder der Versammlungsfreiheit.144 Allerdings bezog sich de Menthon vornehmlich auf die in den besetzten Ländern gegen die Zivilbevölkerung begangenen Taten. Außerdem berief er sich am Ende seiner Darstellung auch auf die Haager Konvention IV von 1907 über die Gesetze und Gebräuche 134

Shawcross, in: Der Prozess, Band XIX, S. 526. Ebd., S. 527. 136 Ebd., S. 528. 137 De Menthon, in: Gerechtigkeit, S. 37. 138 Ebd., S. 36. 139 Ebd. 140 Ebd. 141 Ebd., S. 95. 142 Hier bezog sich de Menthon auf den Begriff der Menschenwürde von Kant, ebd., S. 37. 143 Ebd., S. 36. 144 Siehe insofern Gemählich, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 151–152, 154. 135

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

des Landkriegs, und vermischte dadurch auch die Konzepte von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.145 Im Urteil lehnte der IMG die Verbindung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Krieg ab, die in der Anklage durch die Verwendung des Begriffs der Verschwörung vorgeschlagen worden war. Der IMG beschränkte den Vorwurf wegen der Verschwörung auf die Verbrechen gegen den Frieden, weil sich Art. 6 (a) LC, in dem die Verschwörung erwähnt wurde, nur auf diese Delikte bezog: „Teilnahme an einem gemeinsamen Plan oder einer gemeinsamen Verschwörung zur Ausführung einer der vorgenannten Handlungen“.146 In diesem Sinne wurde im Urteil erklärt, dass die LC die Verschwörung nicht als selbstständige Straftat vorsehe.147 Allerdings beantwortete der IMG nicht die Frage, ob die Verbrechen gegen die Menschlichkeit bereits vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) oder vor Kriegsbeginn nach dem Völkerrecht strafbar waren oder nicht.148 Der IMG behauptete in seinem Urteil nur, dass er an die in der LC vorgeschriebenen Definitionen von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gebunden sei.149 Hinsichtlich der Begründung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezog sich der IMG weder auf das Völkergewohnheitsrecht noch auf völkerrechtliche Verträge, wie er es in Bezug auf die Kriegsverbrechen tat. Des Weiteren fehlte im Urteil nicht nur die rechtliche Grundlage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch eine begriffliche Erklärung darüber, was abgesehen von den bereits in Art. 6 (c) LC erwähnten Handlungen hierunter zu verstehen war. Sowohl in den Abschnitten des Urteils, in denen die Fakten beschrieben wurden,150 als auch in der Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit jedes Angeklagten wurden die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zusammen mit den Kriegsverbrechen behandelt, ohne ihre wesentlichen Merkmale zu definieren oder ihre Rechtsgrundlage zu präzisieren.151 Die einzige Klarstellung im Urteil bzgl. der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist die Aussage, dass nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen werden konnte, dass die vor 1939 begangenen Taten bei der Ausführung von oder in 145 In diesem Sinne sagte de Menthon: „Der Kampf der Nazis gegen die menschlichen Daseinsbedingungen vervollständigt die Gesamtheit des tragischen und gräßlichen Kriegsverbrechertums Nazideutschlands“, de Menthon, in: Gerechtigkeit, S. 40–41. 146 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 96. 147 Ebd. 148 Vgl. Gallant, S. 120; Boot, S. 195. 149 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 133. 150 Die folgende Taten wurden im Urteil dargestellt, ohne zu präzisieren, ob sie Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen: Ermordung und Misshandlung von Kriegsgefangenen, Ermordung und Misshandlung der Zivilbevölkerung, Plünderung öffentlichen und privaten Eigentums, Zwangsarbeit und Judenverfolgung, ebd., S. 98 ff. 151 Ebd., S. 171 ff.; zur diesbezüglichen Kritik am Nürnberger Urteil siehe Gemählich, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 153.

B. Der Nürnberger Prozess  

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Verbindung mit einem Verbrechen gegen den Frieden oder Kriegsverbrechen verübt worden sind.152 Deshalb könne der IMG nicht akzeptieren, dass es sich bei ihnen im Allgemeinen um Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der LC handele.153 Die UNWCC interpretierte diese Schlussfolgerung des IMG wie folgt: „This does not imply that no crime committed prior to 1st September, 1939, can be considered as a crime against humanity […] Although in theory it remains irrelevant whether a crime against humanity was committed before or during the war, in practice it is difficult to establish a connection between what is alleged to be a crime against humanity and a crime within the jurisdiction of the tribunal if the act was committed before the war“.154

Die Erwägungen des IMG hinsichtlich der Verbindung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Krieg können entweder als das Bemühen angesehen werden, das NCSL-Prinzip nicht zu verletzen, oder als Annahmen, die vom Prinzip der Staatssouveränität motiviert waren. Denn ein selbstständiges Konzept der Verbrechen gegen die Menschlichkeit könnte als eine Einmischung in innere Angelegenheiten (angeblich) ohne internationale Relevanz betrachtet werden, wie z. B. die Behandlung der eigenen Bevölkerung in Friedenszeiten.155 Im Unterschied dazu erklärte der IMG bzgl. der nach Kriegsbeginn begangenen Taten, dass diese als Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafbar gewesen seien, weil sie entweder zugleich Kriegsverbrechen darstellen würden oder „doch alle in Ausführung eines Angriffskrieges oder im Zusammenhang mit einem Angriffskrieg begangen“ worden seien.156 Hinsichtlich der ersten Möglichkeit stellt demnach das Kriegsrecht, z. B. die Haager Konvention IV von 1907, die Rechtsgrundlage der Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, während für die zweite Alternative das Verbot des Angriffskrieges, z. B. durch den BKP, eine Art „mittelbare“ Rechtsgrundlage bietet. Daher ergibt sich in diesem Fall die Völkerrechtswidrigkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus der Rechtswidrigkeit des Krieges. Der IMG nahm ohnehin bzgl. der nach Kriegsausbruch be-

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Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 135. Ebd.; in der Anklageschrift wurde von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesprochen, die vor und während des Krieges begangen wurden. In diesem Kontext wurden beispielsweise die Einrichtung der Konzentrationslager Dachau (1933) und Buchenwald (1934) und die seit 1933 stattgefundene Judenverfolgung erwähnt, siehe Anklageschrift des IMG, in: Der Prozess, Band I, S. 71–72; der sowjetische Hauptankläger sprach sogar von der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit der Gründung der NSDAP, Rudenko, in: Die Gerechtigkeit, S. 61. 154 UNWCC, History, S.  195; siehe dazu auch VN, The Charter and Judgment (Doc. A/ CN.4/5), S. 71–72 und YILC 1949, Vol. I, S. 200–203. 155 Vgl. van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119 (130); siehe auch Borgwardt, A New Deal, S. 229–230: „There was no principle available that could capture the crimes of Kristallnacht in Germany and yet spare from legal scrutiny the lynching of thousands of African-Americans in the American South“. 156 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 135–136; dazu ausführlich Schwelb, Brit. Y. B. Int’l L. 1946, 178 (205). 153

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gangenen Taten eine allgemeine Verbindung der relavanten Handlungen mit dem Krieg an.157 Diese zwei Argumentationsstränge bzgl. der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zeigen sich deutlich in den Fällen von Julius Streicher und Baldur von Schirach.158 In diesen Fällen kann auch eine gewisse Ambivalenz und Lückenhaftigkeit in der Begründung des Nürnberger Urteils gesehen werden. Julius Streicher wurde vorgeworfen, 25 Jahre lang Theorien des Antisemitismus vertreten wie verbreitet und die Judenvernichtung durch die Wochenschrift „Der Stürmer“ gefördert zu haben.159 Um seine Verurteilung zu begründen, erwog der IMG zwar eine Vielzahl an Taten, die laut dem IMG selbst nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen waren, weil sie vor Kriegsbeginn stattfanden, stützte dann aber die eigentliche Verurteilung lediglich auf die Auswirkungen dieser Taten auf die Juden im Osten nach dem Angriff auf Polen.160 Insofern behauptete der IMG, dass diese Taten in Verbindung mit den in den besetzten Gebieten begangenen Kriegsverbrechen gestanden hätten.161 Allerdings versäumte es der IMG, eine konkrete Verbindung der Taten zu den Ereignissen im Osten zu begründen bzw. zu beweisen.162 Vielmehr begnügte sich der IMG damit, in einem vorherigen Abschnitt des Urteils die Misshandlung der Zivilbevölkerung und die Verfolgung der Juden, z. B. durch die Einrichtung der Ghettos und Konzentrationslager,163 in den besetzten Gebieten im Osten sowohl als Kriegsverbrechen als auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bezeichnen.164 Diese Ambivalenz in der Argumentation zeigt die Schwierigkeit, die der IMG beim Umgang mit solchen Taten hatte, die zwar grausam, aber nach dem geltenden Völkerrecht eigentlich nicht ohne Weiteres strafbar waren. Einerseits konnte der IMG die Judenvernichtung und die in diesem Kontext durchgeführte rassistische Kampagne nicht ignorieren. Andererseits musste die Verurteilung mit der Auslegung der LC konsistent sein, die der IMG selbst im Rest des Urteils vertrat. Baldur von Schirach wurde aufgrund seiner Tätigkeiten als Gauleiter von Wien wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, insbesondere wegen der

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Vgl. UNWCC, History, S. 195. Von den 23 Angeklagten wurden 22 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, siehe Ambos, Treatise, Vol. I, S. 5; zur Verurteilung Streichers und von Schirachs siehe Schwelb, Brit. Y. B. Int’l L. 1946, 178 (205). 159 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 206 ff. 160 Ebd., S. 208. 161 Der IMG hielt fest: „Streichers Aufreizung zum Mord und zur Ausrottung, die zu einem Zeitpunkt erging, als die Juden im Osten unter den fürchterlichsten Bedingungen umgebracht wurden, stellt eine klare Verfolgung aus politischen und rassischen Gründen in Verbindung mit solchen Kriegsverbrechen wie sie im Statut festgelegt sind, und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar“, ebd., S. 209. 162 Vgl. Cassese, Cassese’s, S. 88. 163 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 108 ff. 164 Ebd., S. 96 ff., 119 ff. und 125 ff. 158

B. Der Nürnberger Prozess  

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Deportation und Verfolgung von Juden.165 In diesem Fall konnten die Taten allerdings nicht zugleich Kriegsverbrechen darstellen, weil Deutschland keinen Krieg gegen Österreich geführt hatte. Denn die Besetzung Österreichs am 12.03.1938 erfolgte vor Kriegsbeginn.166 Deshalb konnte die für eine Aburteilung erforderliche Verbindung zwischen den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einem Verbrechen, „für das der Gerichtshof zuständig war“, in diesem Fall nur dadurch hergestellt werden, dass Österreich „in Verfolgung eines gemeinsames Angriffsplanes“167 besetzt wurde, d. h. dass diese Besetzung Bestandteil der Verschwörung war. Die Besetzung Österreichs stellte somit ein Verbrechen im Sinne der LC dar, sodass die in diesem Gebiet begangenen Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft werden konnten.168 Die Verurteilungen dieser beiden Angeklagten sind allerdings problematisch, weil keiner von ihnen wegen Verbrechen gegen den Frieden oder wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurde. Obwohl eine Verurteilung wegen Verschwörung (Anklagepunkt 1) und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Anklagepunkt 4) zwar von den Hauptanklägern in der Anklage verlangt worden war,169 wurden sie nur wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Diese Tatsache kann als das Fehlen der notwendigen Verbindung zwischen den Taten und einem anderen Verbrechen, „für das der Gerichtshof zuständig war“, verstanden werden.170 Dies hieße aber, dass die für die Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen der LC notwendige Verknüpfung entgegen der Argumentation des IMG in diesen konkreten Fällen eigentlich nicht vorgelegen hätte. Dies wirft aber wieder die Frage nach der Rechtsgrundlage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf. Es lässt sich in diesem Zusammenhang sogar argumentieren, dass die Legalität der Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Fall Baldur von Schirach problematischer war als im Fall Julius Streicher. Denn die Rechtsgrundlage der Kriegsverbrechen scheint präziser zu sein als diejenige der Verbrechen gegen den Frieden.171 Im Fall von Baldur von Schirach wurde sogar keine vor oder während des Krieges geltende Rechtsgrundlage angeführt, sodass behauptet werden könnte, dass allein die LC in diesem Fall die Rechtsgrundlage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit war.172 Die Positionen im Rahmen der hier dargestellten Diskussion über die Rechtsgrundlage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit können in drei Gruppen ein 165

Ebd., S. 229. Dazu ausführlich ebd., S. 46 ff. 167 Ebd., S. 231. 168 Ebd., S. 232. 169 Ebd., S. 205 und 229. 170 Boot führt hierzu aber aus: „With regard to Article 6(c), this clarifies that the requirement, that crimes against humanity be connected with crimes against peace or war crimes, can exist even when the crime against peace or war crimen was committed by another person“, Boot, S. 196. 171 Siehe dazu Gallant, S. 121 ff. 172 Ebd., S. 122. 166

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

geteilt werden. Die erste Ansicht ist die sich am Naturrecht orientierende Position von Jackson, der zufolge die Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen die „laws of humanity and the dictates of the public conscience“ verstoßen, und von de Menthon, der davon ausgeht, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit Kapitalverbrechen gegen die „menschlichen Gewissen“ bzw. gegen die „Natur des Menschen“ darstellen würden. Als zweite Meinung wird die sog. retroactivere-characterization-Theorie vertreten, der zufolge eine Handlung, die nach einer bestimmten Rechtsordnung strafbar ist, sowohl unter einer anderen Bezeichnung als auch in einer anderen Rechtsordnung bestraft werden darf, solange eine für den Angeklagten bindende Rechtsnorm zum Zeitpunkt der Tatbegehung gültig gewesen wäre. Hierzu zählen die Auffassung von Shawcross, der meint, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit jedenfalls Straftaten nach den nationalen Rechtsordnungen seien, und die Auffassung des IMG, der zufolge die Verbrechen gegen die Menschlichkeit immerhin Kriegsverbrechen darstellen.173 Die dritte Position ist ein formalistisches Verständnis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welches auch in der Argumentation des IMG, z. B. bzgl. Baldur von Schirach, impliziert sein könnte: Die rechtliche Grundlage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei das internationale Abkommen, in dem sie explizit definiert sind, d. h. in diesem Fall die LC als Ausübung souveräner, gesetzgebender Gewalt. Folgt man der dritten Auffassung, muss man anerkennen, dass die Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Nürnberger Prozess rückwirkenden Charakter hatte.174 Dies wäre aber nur dann kein Verstoß gegen das NCSLPrinzip, wenn akzeptiert würde, dass dieses Prinzip in diesem Kontext nicht gültig war,175 weil es damals lediglich einen „Gerechtigkeitsgrundsatz“ ohne rechtliche Auswirkung darstellte. Im Unterschied dazu ergibt sich aus den ersten beiden Ansichten eine andere Schlussfolgerung. Nach diesen beiden Auffassungen galt das NCSL-Prinzip nicht nur, es wurde im Prozess auch nicht verletzt. Dies folgt aus einem „eingeschränkten“ bzw. flexiblen Verständnis dieses Prinzips: Es sei nur in Grenzfällen anzuwenden, d. h. in solchen Fällen, in denen sich die Strafbarkeit einer Handlung nicht bereits aus ihrem Wesen ergebe und sie deshalb im Voraus anzukündigen sei.176 Insofern behauptet Tomuschat: „Nullum crimen seeks to protect legitimate confidence“.177 Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien somit legitimerweise strafbar, weil der Unrechtsgehalt der entsprechenden Taten tief im Geist aller Menschen verwurzelt sei.178 Denn laut Tomuschat konnte es keinen Zweifel daran geben, dass alle von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit er-

173

Ebd., S. 97 und 123. Ebd., S. 125–126. 175 In diesem Sinne auch Cassese, Cassese’s, S. 88. 176 Vgl. Tomuschat, J. Int’l Crim. Just. 2006, 830 (835: „the proper role of the nullum crimen principle“). 177 Ebd. 178 Ebd. 174

C. Kontrollratsgesetz Nr. 10  

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fassten Taten nicht nur moralisch verwerflich waren, sondern aufgrund ihres abscheulichen Charakters zugleich auch strafbar.179 Das hinter Art.  6 (c)  LC stehende flexible Verständnis des NCSL-Prinzips wird insbesondere auch durch die Verwendung des Ausdrucks „oder andere […] unmenschliche Handlungen“ deutlich. Demnach ist die in der Vorschrift aufgeführte Liste an Handlungen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, nicht abschließend; genauso wenig ist es diejenige bzgl. der Kriegsverbrechen in Art. 6 (b): „Solche Verletzungen umfassen, ohne jedoch darauf beschränken zu sein“.180 Daher führte die UNWCC 1948 bzgl. des Art. 6 (c) LC aus, dass er „serves to c­ over cases not covered by norms forming part of the traditional ‚laws and c­ ustoms of war‘ [and] is a kind of clausula generalis, the purpose of which is to make sure that inhumane acts violating general principles of the laws of all civilised nations committed in connection with war should not go unpunished“.181

C. Kontrollratsgesetz Nr. 10: Juristen- und Einsatzgruppenprozesse Das Kontrollratsgesetz (KRG) Nr.  10 wurde am 20.12.1945 erlassen, um die Bestimmungen der Moskauer Deklaration vom 30.10.1943 und des Londoner Abkommens vom 08.08.1945 umzusetzen.182 Dieses Gesetz sollte in Deutschland eine einheitliche Rechtsgrundlage zur Aburteilung von Kriegsverbrechern und anderer Missetäter dieser Art schaffen, mit Ausnahme der Fälle, die vom IMG abgeurteilt wurden.183 Das KRG Nr. 10 entsprach weitestgehend und in allen wesentlichen Punkten der LC.184 In der amerikanischen Besatzungszone wurden zwölf sog. Nachfolgeprozesse auf Grundlage des KRG Nr. 10 durchgeführt. Diese Prozesse fanden vor Militärtribunalen statt, die sich aus amerikanischen Richtern zusammensetzten.185 In den Nachfolgeprozessen wurden ursprünglich 185 Personen 179

Ebd. Vgl. UNWCC, History, S. 194. 181 Ebd., S. 202. 182 Dazu ausführlich Taylor, Final Report, S. 6–9; für die deutsche Fassung des KRG Nr. 10 siehe Taylor, Kriegsverbrechen, S. 145 ff. 183 Ebd. 184 Vgl. von Knieriem, S. 12; einige Unterschiede bestanden auch zwischen dem KRG Nr. 10 und der LC: Art. II Abs. 1 (a) KRG Nr. 10 über Verbrechen gegen den Frieden enthielt z. B. den Ausdruck „Das Unternehmen des Einfalls in andere Länder“ (Initiation of invasions of other countries), welcher in Art. 6 (a) LC nicht zu finden ist (dazu Taylor, Final Report, S. 8); andererseits enthielt Art. II Abs. 1 (c) KRG Nr. 10 den bzgl. der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Art. 6 (c) LC enthaltenen Ausdruck „in Ausführung eines Verbrechens, für das der Gerichtshof zuständig ist“ nicht (dazu Schwelb, Brit. Y. B.  Int’l  L. 1946, 178 (217 ff.) und UNWCC, History, S. 212–214). 185 In den anderen Besatzungszonen wurde das KRG Nr. 10 von deutschen Gerichten angewendet, siehe dazu UNWCC, History, S. 214–215; Gallant, S. 135; Boot, S. 202; Douglas, in: NMT, S. 740 ff. 180

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

angeklagt, wobei letztlich aber nur über 177 verhandelt wurden. Denn vier Angeklagte begingen Selbstmord, und vier weitere erschienen krankheitsbedingt nicht vor Gericht.186 Jeder der zwölf Prozesse widmete sich einer bestimmten Personengruppe, damit sie thematisch abgegrenzt werden konnten.187 Die Angeklagten der zwölf Prozesse können in fünf Kategorien unterteilt werden: Fachmänner (ÄrzteProzess und Juristen-Prozess), SS und Polizei (Pohl-Prozess, RUSHA-Prozess und Einsatzgruppen-Prozess), Industrielle und Bankiers (Flick-Prozess, Krupp-Prozess und IG-Farben-Prozess), militärische Führer (Geißel-Prozess und OKW-Prozess) sowie Minister und Regierungsfunktionäre (Milch-Prozess und MinisterienProzess).188 Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren die zentralen Delikte, über die in diesen Prozessen verhandelt wurde.189 Es muss in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen werden, dass diese Tribunale trotz der Besetzung mit amerikanischen Richtern keinen internationalen Charakter in engerem Sinne aufwiesen. Sie waren vielmehr Besatzungsgerichte.190 Das KRG Nr. 10 selbst stellte Besatzungsrecht dar, wenngleich es auch in materieller Hinsicht die wichtigsten Bestimmungen der LC übernahm. Nichtsdestoweniger bilden das KRG Nr. 10 und die entsprechende Rechtsprechung der Tribunale hierzu wichtige Meilensteine bei der Entwicklung des Völkerstrafrechts, insbesondere im Hinblick auf den Entstehungsprozess des Völkergewohnheitsrechts in diesem Rechtsgebiet.191 Vor dem Hintergrund dieser Prozesse können ferner einige theoretische Fragen hinsichtlich der Grundlage des Völkerstrafrechts gestellt werden: Welchen Charakter weisen die Statute der internationalen Tribunale im Hinblick auf die Straftatbestände auf; sind sie konstitutiv oder lediglich deklaratorisch? Welche Rolle ist den Richtern im Rahmen des Völkerstrafrechts zuzuschreiben? Worin besteht die Rechtsgrundlage der internationalen Strafbarkeit, wenn die entsprechenden Taten lediglich die eigene Bevölkerung betreffen, d. h. wenn die zu beurteilenden Handlungen keinen unmittelbaren zwischenstaatlichen Bezug aufweisen? Worauf begründet sich die Strafbarkeit auf internationaler Ebene, wenn die Täter nach dem nationalen Recht rechtmäßig gehandelt haben? Diese Fragen betreffen das Verständnis des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht, weshalb einige der in den Nachfolgeprozessen diesbezüglich vorgetragenen Argumente betrachtet werden sollen. 186 Diese Militärtribunale wurden für die Aburteilung von Tätern in Führungspositionen eingerichtet; es handelte sich nicht um Massenprozesse gegen SS-Offiziere oder Mitglieder der NSDAP, Taylor, Kriegsverbrechen, S. 50. 187 Ebd., S. 52. 188 Ebd. 189 Für die Anklagepunkte in den Nachfolgeprozessen siehe Segesser, in: NMT, S. 594 ff. 190 Vgl. UNWCC, History, S. 214. 191 Vgl. Werle/Jeßberger, S. 89; siehe auch JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1999, Para. 288 ff.; JStGH, Prosecutor v. Anto Furundžija, 1998, Para.  190 ff.; siehe auch YILC 1950, Vol.  II, S. 266, 269, 274–275; siehe dazu Kreß, ZStW 1999, 597 (604), in Bezug auf den ErdemovicFall des IStGJ behauptet Kreß, dass die Rechtsprechung der Nachfolgeprozesse für die Völkerrechtsquellen hinsichtlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze von Relevanz sei.

C. Kontrollratsgesetz Nr. 10  

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Dazu sollen die Erwägungen der Tribunale im Rahmen des sog. Juristen-Prozesses und des Einsatz­gruppenprozesses untersucht werden, weil gerade in den Urteilen dieser Prozesse die relevanteste und ausführlichste Auseinandersetzung mit dem NCSL-Prinzip erfolgt. Verweise auf andere Fälle erfolgen in den Fußnoten, sofern dies nötig ist.192

I. Auffassungen zum nullum-crimen-sine-lege-Prinzip Die Tribunale im Juristen- und im Einsatzgruppenprozess vertraten in wesentlichen Punkten übereinstimmende Ansichten. Beide Tribunale behaupteten, dass das anzuwendende Recht trotz mangelnder Kodifikation bereits vor den betreffen­ den Taten gegolten habe und dass dementsprechend das KRG Nr.  10 im Allgemeinen nur einen deklaratorischen Charakter habe. Die Aufgabe der Richter sei es somit lediglich, dieses Recht zu ermitteln. Hier ist der Einfluss der CommonLaw-Tradition spürbar. Aus diesem Ansatz folgt ein subjektives bzw. moralisiertes Verständnis des NCSL-Prinzips, dem zufolge Ausdrücke wie „moral sense of mankind“ und „common heritage of civilized people“ relevante Elemente zur Bestimmung der Legalität einer Verurteilung bilden. Wie auch Wilke erklärt, gab gerade dieser Rückgriff auf Begriffe wie „Zivilisation“ den Nürnberger Nachfolgeprozessen eine starke moralische Konnotation.193 Diese Kategorien legitimierten argumentativ gesehen die Anwendung bestimmter, rückwirkend erscheinender Normen wie diejenigen des KRG Nr. 10.194 1. Juristen-Prozess Der vom 05.03. bis zum 04.12.1947 vor dem III. Militärtribunal verhandelte sog. Juristen-Prozess erfolgte zur Aburteilung des Missbrauches der deutschen Rechtspflege während der nationalsozialistischen Herrschaft.195 Zu den Angeklagten zählten u. a. Franz Schlegelberger, Staatssekretär des Reichsjustizministeriums, und Ernst Lautz, Oberreichsanwalt.196 Die Anklage enthielt in diesem Fall vier Tatvorwürfe, nämlich (i) die Teilnahme an einem gemeinsamen Plan und einer 192 Für eine Zusammenfassung der Erwägungen über das NCSL-Prinzip verschiedener Tribunale, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschäftigten, siehe UNWCC, Law Reports, Vol. XV, S. 166 ff.; dazu auch Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 112–115. 193 Laut Wilke waren Begriffe wie Zivilisation und Menschlichkeit in den Nürnberger Prozessen keine leeren Floskeln, sondern wirkliche Rechtskategorien mit kolonialpolitischem Hintergrund, die eine globale Hierarchie rechtfertigten, vgl. Wilke, in: NMT, S. 290 ff. 194 Ebd., S. 308 und 312 ff. 195 Siehe Görtemaker/Safferling, S. 44 ff.; Taylor, Kriegsverbrechen, S. 61 ff. 196 Auf der Anklagebank saßen Richter, Staatsanwälte und Beamte des Reichsjustizministeriums; zehn Personen wurden in diesem Prozess verurteilt und vier freigesprochen, siehe ebd., S. 162; Görtemaker/Safferling, S. 45.

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

Verschwörung, (ii) Kriegsverbrechen, (iii) Verbrechen gegen die Menschlichkeit und (iv) die Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Vereinigung.197 Der erste Anklagepunkt bezog sich auf die Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und umfasste prinzipiell Taten ab 1933 und damit noch vor Kriegsbeginn,198 wobei von den Straftatbeständen der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit selbst dann aber nur die Taten ab 1939 erfasst wurden.199 Die Anklagepunkte zwei und drei beruhten vor allem auf der strafrechtlichen Verfolgung von Juden und politischen Gegnern sowohl in den besetzten Gebieten als auch in Deutschland selbst. Der Hauptanklagepunkt war das Zurückgreifen auf das Rechtssystem, „utilizing the emptied forms of legal process“, zum Zwecke der Verfolgung, Versklavung und massenhaften Vernichtung.200 Das Tribunal beschäftigte sich hauptsächlich in einem bestimmten Abschnitt des Urteils mit dem NCSL-Prinzip (the ex post facto principle), wobei aber auch in anderen Teilen des Urteils relevante Erwägungen diesbezüglich angestellt wurden. Auch diese sind für das Verständnis dieses Tribunals bzgl. des NCSL-Prinzips relevant. Die Argumentation des Tribunals weist zwei Stränge auf, die aus einer gewissen Perspektive widersprüchlich zu sein scheinen.201 In erster Linie führte das Tribunal aus, dass das KRG Nr.  10 auf der souveränen Befugnis der Alliierten fuße. Daher könne das in dieser Regelung vorgeschriebene Recht vom Tribunal nicht in Frage gestellt werden.202 In dieser Hinsicht folgte das Tribunal der Argumentation des IMG bzgl. der LC im Nürnberger Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher.203 Aber im Unterschied zum IMG betonte das Tribunal ausdrücklich, dass das KRG Nr. 10 nicht nur einige Elemente des geltenden Völkerrechts kodifiziere, sondern dass es zugleich hinsichtlich anderer Aspekte auch neues Recht schaffe.204 Wie bereits erklärt wurde, versuchte hingegen der IMG gerade zu zeigen, dass durch die LC kein neues Recht geschaffen werde. Rechtsgrundlage für die erstmals im KRG Nr. 10 geregelten Themen sei das Gesetz selbst, da es eine Ausübung souveräner Befugnisse der Alliierten darstelle.205 197

Vgl. Trials of War Criminals, Vol. 3, S. 17 ff. Ebd. 199 Ebd., S. 19 und 23. 200 Telford Taylor, Hauptankläger der sog. Nachfolgeprozesse, führte in seinem Eröffnungsplädoyer aus: „In summary, the defendants are charged with judicial murder and other atrocities which they committed by destroying law and justice in Germany“, ebd., S.  32; siehe dazu Görte­maker/Safferling, S. 48–51. 201 Vgl. Douglas, in: NMT, S. 731. 202 Trials of War Criminals, Vol. 3, S. 965 203 Ebd. 204 Allerdings führte das Tribunal nicht näher aus, welche Bestimmungen des KRG Nr. 10 neu seien, ebd., S. 966; Laut v. Knieriem führte das KRG Nr. 10 in vier Bereichen neues Recht ein: die Strafbarkeit des Angriffskrieges, neue Teilnahmeformen, den Straftatbestand der Verschwörung und den Ausschluss des Handelns auf Befehl als Rechtsfertigungsgrund, vgl. von Knieriem, S. 26. 205 Vgl. Trials of War Criminals, Vol. 3, S. 966. 198

C. Kontrollratsgesetz Nr. 10  

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Das Tribunal stellte als zweiten Teil seiner Argumentation weiter fest, dass das KRG Nr. 10 einen doppelten Charakter habe. Einerseits sei das KRG Nr. 10 mate­ rielles Recht – substantive legislation, wobei es gewisse Straftatbestände definiere und die Strafbarkeit dieser Taten vorschreibe.206 Andererseits habe dieses Gesetz eine prozessuale Konnotation, da es die Regeln zur Durchsetzung dieser Normen in Deutschland festlege.207 In diesem Sinne ermächtige das KRG Nr. 10 die Tribunale dazu, internationale bzw. in der „zivilisierten Welt“ gültige Normen anzuwenden.208 In diesem Zusammenhang sei zwischen dem „Common International Law“ und den Maßnahmen zu seiner Verwirklichung zu unterscheiden.209 Das Common International Law sei universell und habe somit allgemeine Geltung sowie Vorrang vor nationalen Rechtsordnungen, wohingegen die Maßnahmen zu seiner Verwirklichung relativ und kontextabhängig seien.210 Das KRG Nr.10 stelle in seiner materiellen Dimension eine Anerkennung des Common International Law dar und schreibe zugleich die notwendigen Maßnahmen zur Durchsetzung dieses höheren Rechts in einem Land ohne fähige nationale Regierung vor.211 Der in diesem Kontext verwendete Ausdruck „Common International Law“ darf nicht unterschätzt werden. Denn daraus ergibt sich, dass das Völkerrecht für das Tribunal die gleichen Eigenschaften wie das Common Law aufweist. Auf diese Weise werden dem Völkerrecht zentrale Konzepte und Verständnisse der Common-Law-Tradition zugeschrieben. Damit wird z. B. zum Ausdruck gebracht, dass sich das Völkerrecht wie das Common Law durch richterliche Entscheidungen weiterentwickele und dass es sich um ein Recht handele, das jenseits der politischen Macht des Staates liege. Dahinter steht der Gedanke der sog. declaratory theory: Richter erfinden das Recht nicht, sondern finden es vielmehr. Damit ließe sich das Völkerrecht, wie das Common Law, mithilfe richterlicher Entscheidungen aus nicht kodifizierten Prinzipien und Praktiken herleiten,212 die nicht zur Disposition eines Machthabers stehen würden. Die Rechtsprechung diene insofern als Instrument zur Ermittlung dieses zwar nicht geschriebenen, aber bereits (vorher) geltenden Rechts. In diesem Kontext erlangen die Konzepte von natural rigths und natural duties im Sinne von Blackstone, die eine Anwendung des Rückwirkungs 206

Ebd., S. 964. Ebd., S. 966. 208 Ebd. 209 Ebd., S. 969. 210 Ebd. 211 Ebd., S. 970–971; auch im OKW-Prozess wurde ein Unterschied zwischen der Kriminalisierung einer Handlung und der Errichtung eines Tribunals gemacht, siehe hierzu Trials of War Criminals, Vol. 11, S. 480. 212 Im Geißel-Prozess wurde auch auf die nicht geschriebenen Elemente des Völkerrechts hingewiesen und auf diese Weise seine Flexibilität hervorgehoben: „The codification of principles is a helpful means of simplification, but it must not be treated as adding rigidity where resiliency is essential. To place the principles of international law in a formalistic strait-jacket would ultimately destroy any effectiveness that it has acquired“, Trials of War Criminals, Vol. 11, S. 1235. 207

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verbots und damit des NCSL-Prinzips im Zusammenhang mit den sog. offenses mala in se ausschließen bzw. relativieren,213 Bedeutung für das Völkerstrafrecht. Hierbei ist zu bedenken, dass der Verweis des Tribunals auf das Common Law kein Zufall war. Ganz im Gegenteil stellt dies gerade die Grundlage für die Behauptung dar, dass das KRG Nr.  10 das NCSL-Prinzip nicht verletze. Insofern sind zwei Erwägungen des Tribunals zu berücksichtigen. Das Tribunal betonte in seinen Ausführungen zum NCSL-Prinzip die zentrale Rolle der Richter internationaler Tribunale bei der Bestimmung von Kriegsverbrechen und sprach sich somit (implizit) gerade für die declaratory theory aus: „By way of illustration, we observe that C. C. Law 10, article II, paragraph 1 (b), ‚War Crimes‘, has by reference incorporated the rules by which war crimes are to be identified. In all such cases it remains only for the tribunal, after the manner of the common law, to determine the content of those rules under the impact of changing conditions“.214

Danach behauptete das Tribunal, dass die ex post facto rule weder eine rechtliche noch eine moralische Beschränkung für die Aburteilung in diesem Prozess bilde.215 Dem Tribunal zufolge war das NCSL-Prinzip auf nationaler Ebene lediglich auf das geschriebene Recht (statutes) anzuwenden, nicht aber auf die Entscheidungen der common law courts.216 Selbstverständlich bezog sich das Tribunal hier auf die zur Common-Law-Tradition gehörenden Rechtsordnungen. Da das Völkerrecht nicht durch statutes geschaffen werde, wurde es vom Tribunal mit dem Common Law gleichgesetzt. Somit könne das NCSL-Prinzip auch nicht auf eine „common law decision“ eines internationalen Tribunals Anwendung finden: „Even in the domestic field the prohibition of the rule does not apply to the decisions of common law courts, though the question at issue be novel. International law is not the product of statute […] It would be sheer absurdity to suggest that the ex post facto rule, as known to constitutional states, could be applied to a treaty, a custom, or a common law decision of an international tribunal, or to the international acquiescence which follows the event“.217

Vor diesem Hintergrund verstand das Tribunal, genauso wie der Nürnberger IMG, das NCSL-Prinzip im Rahmen des Völkerrechts als einen Gerechtigkeitsgrundsatz. In der Betrachtungsweise des Tribunals wird also eine subjektive Konzeption des NCSL-Prinzips mit einem moralisierten Verständnis des Rechts verknüpft: Wichtiger als das Vorliegen einer konkreten Rechtsgrundlage, in der die Strafbarkeit der Tat vorgesehen werde, sei die Kenntnis des Angeklagten, dass er verurteilt werden kann. Dazu äußerte sich das Tribunal wie folgt: „As applied in the field of international law that principle requires proof before conviction that the accused knew or should have known that in matters of international concern he was

213

Siehe oben, erstes Kapitel, C. I. 4. Vgl. Trials of War Criminals, Vol. 3, S. 974. 215 Ebd. 216 Ebd. 217 Ebd., S. 974–975. 214

C. Kontrollratsgesetz Nr. 10  

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guilty of participation in a nationally organized system of injustice and persecution shocking to the moral sense of mankind, and that he knew or should have known that he would be subject to punishment if caught“.218

2. Einsatzgruppen-Prozess In diesem Prozess wurden die Taten der sog. Einsatzgruppen abgeurteilt. Dies waren Gruppen, die aus Mitgliedern der SS, SD, Gestapo und anderer Polizei­ einheiten bestanden.219 Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die Wehrmacht zu begleiten und die politische Sicherheit in den im Osten von Deutschland besetzten Gebieten zu gewährleisten.220 Hierbei wurden Tausende von Menschen getötet, darunter Juden, Sinti und Roma und andere Gruppen, die als „minderwertig“ oder „politisch unerwünscht“ galten.221 Der Prozess fand vor dem II. Militärtribunal statt, begann am 29.09.1947 und endete am 13.02.1948.222 Im Urteil finden sich einige Überlegungen in Bezug auf das vom Tribunal anzuwendende Recht,223 insbesondere auch zum NCSL-Prinzip. Das Tribunal behauptete zunächst, dass seine sachliche Zuständigkeit auf dem vor dem Krieg geltenden Völkerrecht beruhe.224 Das KRG Nr. 10 schaffe nur das Tribunal, nicht aber das Recht, auf dessen Grundlage die Angeklagten abgeurteilt würden.225 Das KRG Nr.  10 sei lediglich eine Kodifikation bzw. Systematisierung vorliegender völkerrechtlicher Grundsätze, Normen und Gebräuche.226 Diese Normen und Gebräuche wurden vom Tribunal im Rahmen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit als das gemeinsame Erbe zivilisierter Menschen („common heritage of civilized people“) bezeichnet. In Bezug auf die Kriegsverbrechen 218

Ebd., S. 977–978. Vgl. Trials of War, Vol. 4, S. 15. 220 Vgl. Taylor, Kriegsverbrechen, S.  73–74; siehe auch Trials of War Criminals, Vol.  4, S. 119 ff. 221 Vgl. Trials of War Criminals, Vol. 4, S. 15 und 141 ff. 222 24 Personen wurden im Einsatzgruppen-Prozess angeklagt, von denen 22 verurteilt wurden, vgl. Taylor, Kriegsverbrechen, S.  164–164; siehe auch Trials of War Criminals, Vol.  4, S. 13–14 und 509 ff. 223 Siehe Trials of War Criminals, Vol. 4, S. 453 ff. 224 Ebd., S. 454; in diesem Sinne äußerten sich auch die Tribunale in anderen Prozessen, z. B. im Flick-Prozess. Hier betonte das Tribunal, dass die Kodifikation in der Common-Law-Tradition keine wesentliche Voraussetzung der Geltung des Rechts sei, Trials of War Criminals, Vol. 6, S. 1189; zum Krupp-Prozess siehe auch Trials of War Criminals, Vol. 9 – Part 2, S. 1331; im OKW-Prozess erkannte das Tribunal die Bedeutung des NCSL-Prinzips und des Grundsatzes der strict construction des geschriebenen Rechts an, Trials of War Criminals, Vol. 11, S. 470 und 483; im Geißel-Prozess meinte das Tribunal, dass die LC und das KRG Nr. 10 lediglich Bestimmungen der Haager Konventionen von 1907 bestätigten, Trials of War Criminals, Vol. 11, S. 1238–1239; zum Ministerien-Prozess siehe Trials of War Criminals, Vol. 14, S. 318 ff. 225 Trials of War Criminals, Vol. 4, S. 454. 226 In diesem Sinne wurde im Urteil gesagt: „Control Council Law No. 10 is but the codification and systemization of already existing legal principles, rules, and customs“, ebd., S. 458. 219

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

führte das Tribunal lediglich aus, dass diese durch völkerrechtliche Verträge anerkannt worden seien und seit Jahrzehnten geltendes Völkerrecht bildeten.227 Das Tribunal erkannte in diesem Zusammenhang an, dass das NCSL-Prinzip wesentlicher Bestandteil einer jeden „zivilisierten“ Rechtsordnung sei,228 wobei es jedoch darauf hinwies, dass sich die Achtung des NCSL-Prinzips nicht nur auf das geschriebene Recht, sondern auch auf das Gewohnheitsrecht und das Common Law beziehen könne.229 Es reiche also, wenn die Handlung nach irgendeiner dieser Rechtsquellen strafbar sei.230 Hier ist der Einfluss der Common-Law-Tradition nicht so deutlich sichtbar wie im Juristen-Prozess. Er kann aber daran gesehen werden, dass das Tribunal das Common Law im Sinne des Richterrechts zu den Rechtsquellen des Völkerrechts zählt. Des Weiteren bezog sich das Tribunal auf die Erwägungen des IMG über den dynamischen Charakter des Völkerrechts, um die Bedeutung des NCSL-Prinzip in diesem Bereich hervorzuheben. Dafür zitierte das Tribunal das Nürnberger Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher: „International Law […] is not static, but by continual adaptation follows the needs of a changing world“.231 Sodann wird die internationale Strafbarkeit der in das KRG Nr. 10 aufgenommenen Straftaten mithilfe einer wichtigen Erwägung hergeleitet: Die sachliche Zuständigkeit des Tribunals beruhe nicht nur auf völkerrechtlichen Verträgen, sondern auch auf dem Kriegsrecht, das sich aus der allgemeinen Anerkennung der Staaten ergebe.232 Da die Angeklagten in diesem Prozess im Wesentlichen wegen Mord angeklagt würden und das Kriegsrecht universell das absichtliche Töten von Nichtkombattanten verbiete, könne nicht behauptet werden, dass ihre Bestrafung rückwirkend sei. Durch diese Argumentation griff auch dieses Tribunal die von Gallant vertretene retroactive-re-characterization-Theorie auf, der zufolge eine Handlung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft werden dürfe, sofern ihre Strafbarkeit in einer anderen Rechtsordnung bzw. in einem anderen Rechtsbereich im Voraus vorgesehen, auch unter anderer Bezeichnung, und eine zu dieser Rechtsordnung gehörende und für den Angeklagte bindende Rechtsnorm zum Zeitpunkt der Tatbegehung gültig gewesen wäre.233 Insofern führte das Tribunal 227

Ebd. Das Tribunal führt hierzu aus: „It is indeed fundamental in every system of civilized juris­ prudence that no one may be punished for an act which was not prohibited at the time of its commission“, ebd. 229 Ebd. 230 Ebd.; ähnlich äußert sich auch das Tribunal des Geißel-Prozesses: „It is not essential that a crime be specifically defined and charged in accordance with a particular ordinance, statute, or treaty if it is made  a crime by international convention, recognized customs and usages of war, or the general principles of criminal justice […]“, Trials of War Criminals, Vol. 11, S. 1239. 231 Trials of War Criminals, Vol. 4, S. 458. 232 Ebd., S. 459. 233 Gallant führt dazu aus: „Retroactive re-characterization has appeared in the rhetoric of international tribunals and Control Council No. 10 Courts in two contexts. One is the transformation of some war crimes […] into a subset of the new class on international crimes called 228

C. Kontrollratsgesetz Nr. 10  

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aus: „[B]ut it cannot be said that prior to Control Council Law No. 10, there existed no law against murder. The killing of a human being has always been a potential crime which called for explanation“.234

II. Begründung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit Die im Juristen- und im Einsatzgruppenprozess erörterten Erwägungen über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit offenbaren zugleich ein Verständnis des NCSL-Prinzips, welches eine vorherige explizite Strafandrohung im Rahmen einer formellen Rechtsgrundlage nicht als zwingend erforderlich ansieht. 1. Juristen-Prozess Obwohl das NCSL-Prinzip im Juristen-Urteil im Kontext der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht diskutiert wurde, sind die Erwägungen des Tribunals hinsichtlich dieser Straftaten trotzdem von Bedeutung. Auch die Art und Weise, in der dieses Tribunal die Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründet, offenbart eine moralisierte Vorstellung des Rechts, wonach das NCSLPrinzip nicht strikt verstanden wird. Dies wird u. a. daran deutlich, dass sich für das Tribunal die Anerkennung der Verfolgung der eigenen Bürger aus politischen oder rassischen Gründen als internationales Verbrechen aus der „moral pressure of public opinion“ ergab.235 Des Weiteren mussten diese Gräueltaten dem Tribunal zufolge wegen ihrer scope and malevolence als Verstöße gegen das Völkerrecht klassifiziert werden.236 Sie würden aufgrund ihrer Ausdehnung sogar dann den Weltfrieden beeinträchtigen, wenn sie nur innerhalb eines Staats erfolgten und nur die Bevölkerung dieses Staats betreffen würden. Ein wichtiger Punkt zur Veranschaulichung der Konzeption der Legalität, die die Entwicklung des Völkerstrafrechts geprägt hat, ist die vom Tribunal vorgenommene Bewertung des nationalen Rechts. In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte hervorzuheben. Als Erstes ist zu betonen, dass das Tribunal die Rechtmäßigkeit des Handelns nach nationalem Recht als Rechtfertigungsgrund ablehnte.237 Denn dem Tribunal zufolge genießt das Völkerrecht Vorrang vor dem

crimes against humanity […] The other is the recognition of acts as customary international crimes that may not have been so when committed but that were criminal either as treaty ­crimes or crimes under national law at the time committed“, Gallant, S. 130. 234 Trials of War Criminals, Vol. 4, S. 459. 235 Vgl. Trials of War Criminals, Vol. 3, S. 979. 236 Ebd., S. 982. 237 Ebd., S. 984.

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

deutschen Recht.238 In diesem Kontext argumentierte das Tribunal, dass das natio­ nalsozialistische Recht selbst Teil der in diesem Fall vorgeworfenen Straftaten gewesen sei. Es ginge in diesem Fall gerade um die Perversion der Rechtsordnung.239 Außerdem behauptete das Tribunal, dass die Teilnahme des Staats ein wesentliches Element der Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstelle. Deshalb wäre es widersprüchlich, die Geltung bzw. Verbindlichkeit des Rechts anzuerkennen, das gerade die Gräueltaten der Nationalsozialisten förderte.240 Darüber hinaus muss als zweites wesentliches Element der Entscheidung die Erwähnung der Reform des § 2 RStGB vom 28.06.1935 genannt werden. Wie bereits ausgeführt wurde,241 schufen die Nationalsozialisten durch diese Reform das NCSL-Prinzip ab und erlaubten eine Bestrafung durch Analogie. Denn durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches wurden Bestrafungen nach „dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden“ ermöglicht. Im Urteil des Juristen-Prozesses wertete das Tribunal diese Reform als einen der Schritte zur Verschärfung des Strafrechts und zur Schaffung eines vagen Straftatbestandsbegriffs. Dem Tribunal zufolge gehörte diese Reform zu einem Prozess, in dessen Rahmen das Recht als Bezugspunkt richterlicher Entscheidungen durch die nationalsozialistische Ideologie ersetzt wurde.242 Dabei ist bemerkenswert, dass der Kern des Vorwurfes nicht die Abschaffung des NCSLPrinzips an sich war. Es darf hierbei allerdings nicht vergessen werden, dass die Geltung des NCSL-Prinzips zu dieser Zeit auch in England ein sehr umstrittenes Thema war243 und dass dieses Prinzip im Juristen-Prozess selbst nach dem Verständnis der Common-Law-Tradition und zudem in einer eingeschränkten Weise verstanden wurde. Daher ist davon auszugehen, dass der Kern des Vorwurfs hauptsächlich die Unterwerfung der Justiz unter eine Ideologie war, die gewissen, im Völkerrecht verkörperten Werten und der Geltung des Völkerrechts selbst zuwider lief. Das nationalsozialistische Recht wurde also im Juristen-Prozess als Infragestellen zivilisierter Staatlichkeit gewertet.244 Wilke drückt das wie folgt aus: „Wenn das deutsche Recht seiner Substanz beraubt worden war, so sollte das Recht der Nürnberger Tribunale […] die leere Form wieder mit dem entsprechenden Inhalt füllen“.245 Somit kann behauptet werden, dass das NCSL-Prinzip in diesem Kontext keinen Selbstzweck darstellte, sondern seine rechtliche und moralische Bedeutung vielmehr von den Werten bzw. der Ideologie abhing, die durch seine Durch 238

Ebd. Ebd. 240 Ebd. 241 Siehe oben, erstes Kapitel, B. II. 1. 242 „In place of the control of law there was substituted the control of National Socialist ideology as a guide to judicial action“, Trials of War Criminals, Vol. 3, S. 993. 243 Siehe oben, erstes Kapitel, B. I. 2.  244 Vgl. Wilke, in: NMT, S. 306–307. 245 Ebd. 239

C. Kontrollratsgesetz Nr. 10  

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setzung oder durch seine Beschränkung verwirklicht werden sollten. Ein striktes Verständnis des NCSL-Prinzips ist demnach dann abzulehnen, wenn dies die Bestrafung der Vertreter eines autoritären Regimes verhindern würde; ebenso ist aber auch eine eingeschränkte bzw. flexible Konzeption des Prinzips dort zu verneinen, wo dies eine verbrecherische Ideologie unterstützten würde. Hinter diesem Verständnis des NCSL-Prinzips steht ein materieller Rechtsbegriff, wonach das Recht kein einfaches Normensystem ist, unabhängig von seinem Inhalt, sondern ein Normensystem, in dem individuelle Rechte und Freiheiten geachtet werden müssen. Nichts anderes ergibt sich aus der Gegenüberstellung von Recht und nationalsozialistischer Ideologie, die das Tribunal im Juristen-Prozess vornahm.246 2. Einsatzgruppen-Prozess Auch die im Einsatzgruppen-Prozess erfolgten Erörterungen über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind an dieser Stelle zu thematisieren. Die vom II. Militärtribunal in diesem Prozess dargelegte Auffassung kann als eine Kombination aus der retroactive-re-characterization-Theorie und einem naturrechtlichen Konzept gesehen werden. Dem Tribunal zufolge war der Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gegensatz zum Begriff der Kriegsverbrechen eine neue Konstruktion innerhalb des Völkerrechts, obgleich die entsprechenden Taten seit jeher begangen worden seien.247 Das Konzept der Menschlichkeit habe bis zum Zweiten Weltkrieg lediglich eine moralische Dimension gehabt und erst danach rechtliche Bedeutung erlangt.248 Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit würden die Annahme des law of humanity voraussetzen, dessen Ziel der Schutz der Menschlichkeit nicht nur während Kriegszeiten sei.249 Deshalb würden die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur ein Verbrechen gegen ein bestimmtes Land darstellen, sondern vielmehr die Menschheit als Ganzes beeinträchtigen.250 Das Tribunal erkannte zunächst an, dass Mord, Folter, Versklavung und ähnliche Straftaten bisher lediglich eine Angelegenheit der einzelnen Nationen gewe 246

In diesem Sinne auch Douglas, in: NMT, S. 734; siehe auch Minear, S. 16–17. Vgl. Trials of War Criminals, Vol. 4, S. 497. 248 Ebd. 249 Ebd.; im Ärzte-Prozess bezieht sich das Tribunal auch auf the laws of humanity und zitiert die Martens’sche Klausel: „Manifestly inhuman experiments under such conditions are contrary to ‚the principles of the law of nations as they result from the usages established among civilized peoples, from the law of humanity, and from the dictates of the public conscience‘“, Trials of War Criminals, Vol. 2, S. 183; dazu Schircks, S. 45. 250 In diesem Sinne stand im Urteil: „Humanity is the sovereignty which has been offended and a tribunal is convoked to determine why. This is not a new concept in the realm of ­morals, but it is an innovation in the empire of the law. Thus a lamp has been lighted in the dark and tene­brous atmosphere of the fields of the innocent dead“, Trials of War Criminals, Vol.  4, S. 497. 247

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

sen seien, behauptete dann aber, dass solche Taten nunmehr in die Zuständigkeit der „family of nations“ fielen. Das Tribunal sagte hierzu: „Thus murder becomes no less murder because directed against a whole race instead of a single person“.251 Allerdings wirft dies einige Fragen auf: Warum geschieht dies, d. h., auf welcher Grundlage beruht eine solche Änderung? Warum darf eine Tat, nur weil sie „jedenfalls“ einen Mord darstellt, in einer anderen Rechtsordnung und zudem unter anderer Bezeichnung „rückwirkend“ bestraft werden? Hier kommt die naturrechtliche Perspektive als Rechtfertigung der internationalen Strafbarkeit ins Spiel. Diese Taten würden alle Menschen, also die Menschheit als Ganzes (die menschliche Rasse), beeinträchtigen; „[h]umanity is man itself“, sagte das Tribunal dazu.252 Deswegen kenne auch der Schutz in diesem Fall keine geografischen Grenzen.253 Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit würden insofern unveräußerliche und fundamentale Rechte verletzen.254 Die naturrechtliche Perspektive des Tribunals wird anhand einer im Urteil zitierten Erwägung eines Beraters des Vatikans noch deutlicher: „The essential and inalienable rights of man cannot vary in time and space. They cannot be interpreted and limited by the social conscience of a people or a particular epoch for they are essentially immutable and eternal. Any injury […] done with the intention of extermination, mutilation, or enslavement, against the live freedom of opinion […] the moral or physical integrity of the family […] or the dignity of the human being, by reason of his opinion, his race, caste, family or profession, is a crime against humanity“.255

Vor diesem Hintergrund kam das Tribunal zu zwei Schlussfolgerungen: Zum einen dürfe eine Handlung selbst dann als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft werden, wenn sie keine Verbindung mit einem Krieg aufweise. Aus diesem Grund verlange Art. II (c) KRG Nr. 10 hinsichtlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht mehr dieses Element. Denn diese könnten bzgl. jeder Person und zu jeder Zeit begangen werden.256 Zum anderen habe das KRG Nr. 10 keinen neuen Straftatbestand geschaffen, auch wenn der Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstmals in den Nürnberger Prozessen verwendet worden sei.257 Das Tribunal behauptete diesbezüglich: „Where law exists a court will rise“.258 251

Ebd. Ebd. 253 Ebd. 254 Ebd. 255 Ebd. 256 Ebd., S.  499; im Unterschied dazu behauptete das Tribunal im Flick-Prozess, dass das KRG Nr. 10 nur auf Handlungen, die in Verbindung mit dem Krieg standen, d. h. auf Handlungen, die nach dem 01.09.1939 begangen wurden, angewendet werden dürfe; dem Tribunal zufolge spielte es keine Rolle, dass Art. II (c) KRG Nr. 10 den Ausdruck „in Ausführung eines Verbre­chens, für das der Gerichtshof zuständig ist“ nicht enthielt, weil die LC als Bestandteil des KRG Nr. 10 zu verstehen war (Art. I KRG Nr. 10), vgl. Trials of War Criminals, Vol. 6, S. 1212–1213; siehe auch UNWCC, Law Reports, Vol. XV, S. 136–137 und Douglas, in: NMT, S. 728 ff. 257 Vgl. Trials of War Criminals, Vol. 4, S. 497. 258 Ebd. 252

D. Der Tokioter Prozess   

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Diese Erwägungen entsprechen einer Auffassung, der zufolge die internationale Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem Wert der Existenz der menschlichen Gruppen selbst beruht. Von daher seien massenhafte Verletzungen der dem Menschen inhärenten Rechte auch ohne eine vorherige, explizite und geschriebene Rechtsgrundlage zu bestrafen, da sie an sich strafwürdig und strafbar seien. Des Weiteren wäre eine wiederholte Praxis oder die Akzeptanz mehrerer Staaten zur Bestrafung solcher Grausamkeiten nicht einmal erforderlich. Dies hätte zumindest keinen konstitutiven Charakter.

D. Der Tokioter Prozess Am 19.01.1946 wurde das IMTFO durch einen Erlass des Oberbefehlshabers der Alliierten Douglas MacArthur eingesetzt und das anzuwendende Recht im IMTFO-Statut festgelegt.259 Rechtsgrundlagen dieses Aktes waren die Kairoer Erklärung vom 01.12.1943, die Potsdamer Erklärung vom 26.07.1945 und die Kapitulationserklärung Japans vom 02.09.1945.260 Der sog. Tokioter Prozess wurde gegen die politische und militärische Führungsriege Japans durchgeführt.261 Die Anklageschrift wurde am 29.04.1946 beim IMTFO eingereicht und erstreckte sich auf Taten, die zwischen dem 01.01.1928 und dem 02.09.1945 begangen worden waren.262 Der Prozess begann am 03.05.1946 und endete am 12.11.1948.263 28 Japaner wurden angeklagt, 25 von ihnen verurteilt, zwei starben während des Prozesses, und ein Angeklagter erschien wegen Krankheit nicht vor dem Tribunal.264 Das IMTFO wurde genauso wie der IMG von Nürnberg unter zwei Prämissen eingerichtet, nämlich unter der Annahme der Rechtswidrigkeit des Angriffskrieges und der individuellen strafrechtlichen Verantwortung für staatliches Handeln.265 Wie bereits gesagt, stellten diese beiden Annahmen Teil einer politischen Bestrebung zur Schaffung einer neuen Weltordnung dar, in der die Rolle des Krieges

259

Vgl. Proclamation by the Supreme Commander for the Allied Powers, in: Documents on the Tokyo, S. 5–6; siehe auch Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 131. 260 Die Kairoer Erklärung wurde von den Vereinigten Staaten, Großbritannien und China unterzeichnet; die Potsdamer Erklärung wurde ebenfalls von diesen drei Staaten gefertigt. Allerdings schloss sich später auch die Sowjetunion an. Die unterzeichnenden Staaten erklärten in der Potsdamer Erklärung: „We do not intend that Japanese people shall be enslaved as a race or destroyed as a nation, but stern justice shall be meted out to all war criminals“, Potsdam Declaration, in: Documents on the Tokyo, S. 1–2; siehe Japanese Instrument of Surrender, in: Documents on the Tokyo, S. 3–4; siehe dazu IMTFO-Judgment, in: Documents, S. 71–73; Kopelman, N. Y. U. J. Int’l L. & Pol. 1990–1991, 373 (381); Boister/Cryer, S. 20 ff.; Hisakazu, in: Beyond, S. 5 ff. 261 Vgl. Werle/Jeßberger, S. 13. 262 Vgl. IMTFO-Judgment, in: Documents, S. 73. 263 Vgl. Boot, S. 197. 264 Vgl. IMTFO-Judgment, in: Documents, S. 75 und 598 ff. 265 Vgl. Kopelman, N. Y. U. J. Int’l L. & Pol. 1990–1991, 373 (373).

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

beschränkt sein sollte.266 Eine solche Weltordnung sollte eine friedliche Koexistenz der Staaten gewährleisten. Als ihr Garant sollten die Siegermächte dienen, insbesondere die Vereinigten Staaten und Großbritannien.267 Dies führte sowohl zu einem beträchtlichen Misstrauen gegenüber dem Prozess als auch zum Einwand der Siegerjustiz.268 Der IMTFO kann jedoch auch als Ausdruck einer Art von „Opfer­justiz“ gewertet werden.269 Denn immerhin waren elf der von der Aggres­ sions- und Expansionspolitik Japans betroffenen Länder vertreten: Australien, Kanada, China, Frankreich, die Niederlande, Neuseeland, die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Indien und die Philippinen.270 Das IMTFO-Statut war nahezu identisch mit der LC. Auch enthielt das IMTFOStatut Vorschriften bzgl. der Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.271 Des Weiteren beinhaltete es genauso wenig wie die LC eine Bestimmung zum NCSL-Prinzip. Dementsprechend sagte dieses Statut auch nichts darüber aus, ob es konstitutiv oder deklaratorisch war. Folglich wurde nicht präzisiert, ob das IMTFO-Statut die sachliche Zuständigkeit des Tribunals ohne Rücksicht auf das geltende Völkerrecht festlegte und das Tribunal dazu ermächtigte, das anzuwendende Recht selbst festzulegen.272 Zudem behandelte das IMTFO das NCSL-Prinzip nicht ausführlich. Das Tribunal begnügte sich vielmehr damit, im Wesentlichen den entsprechenden Ausführungen des IMG im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zuzustimmen. Allerdings sind die von den Richtern in ihren separate und dissenting opinions dargelegten Erwägungen zu berücksichtigen. Denn sie bezeugen nicht nur das Fehlen eines Konsenses innerhalb des Tribunals in Bezug auf das NCSLPrinzip, sondern zeigen auch die Verbindung zwischen rechtstheoretischen Ansätzen und den von den Richtern vertretenen Auffassungen zu diesem Thema auf. Dabei ist auch zu bedenken, dass dieser Prozess sehr emotional geführt wurde, 266

Ebd., S. 396 ff. und 401 ff. Ebd., S. 404 ff.; Borgwardt, A New Deal, S. 164; siehe auch Zieger, S. 42, 80. 268 Vgl. Minear, S. 19, 34 ff. und 175 ff., im Kapitel III thematisiert Minear die Kernprobleme des Tokioter Prozesses aus rechtlicher Sicht und zeigt die Schwierigkeiten seiner rechtlichen Rechtfertigung auf (er kommt zum Ergebnis, dass der Stand des Völkerrechts im besten Fall ungewiss – uncertain – war); für die japanischen Haltungen zu den Tokioter Prozessen siehe Futamura, in: Beyond S. 36 ff. 269 Siehe dazu Totani, S. 12–13; Hisakazu, in: Beyond, S. 3. 270 Hisakazu, in: Beyond, S. 6–7. 271 Vgl. Art. 6 LC mit Art. 5 IMTFO-Statut; der Ausdruck „declared or undeclared“ fand sich nicht in der Angriffskriegsdefinition der LC; laut der UNWCC wurde dieser Ausdruck in das IMTFO-Statut aufgenommen, um klarzustellen, dass eine Kriegserklärung den aggressiven und deshalb verbrecherischen Charakter eines Krieges nicht auszuschließen vermag; auf jeden Fall stellt dies keinen relevanten Unterschied zwischen beiden Normen dar, vgl. UNWCC, History, S. 258; im Bezug auf die Kriegsverbrechen listete die LC mehrere Handlungen als Beispiele auf, während das IMTFO-Statut dies nicht tut; beide Bestimmungen haben aber die gleiche Bedeutung, vgl. VN, The Charter and Judgment (Doc. A/CN.4/5), S. 81–83; siehe auch Schwelb, Brit. Y. B. Int’l L. 1946, 178 (215 ff.); UNWCC, History, S. 205. 272 Vgl. Gallant, S. 141. 267

D. Der Tokioter Prozess   

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vielleicht sogar emotionaler als der Nürnberger Prozess, und dass einige der vom Ankläger vorgetragenen Argumente keine einhellige Zustimmung in einem pluralistischen Gericht finden konnten.

I. Die Anklage: Der Krieg und der Kampf um die „Zivilisation“ Im Eröffnungsplädoyer (opening statement) von Joseph B. Keenan (Chief of Council of the prosecution) spielte wieder der Begriff der Zivilisation eine zentrale Rolle. Er vertrat eine naturrechtliche Begründung des Völkerrechts273 und stellte eine idealisierte Vorstellung von Zivilisation und Krieg als Gegenbegriffe vor. Aus diesem Grund definierte Keenan den Prozess vor dem IMTFO auf die folgende Weise: „This is no ordinary trial, for here we are waging a part of the determined battle of civilization to preserve the entire world from destruction“.274 Der Angriff auf demokratische Staaten und der Versuch, ihre wesentlichen Grundlagen, die „freedom and respect for human personality“, zu zerstören, dienten somit als Begründung für den Prozess.275 Keenans eigener Aussage zufolge war es sein Hauptziel, zukünftige Kriege zu verhindern. Denn aufgrund der technischen Entwicklung im Rahmen des Zweiten Weltkriegs könne es in Zukunft nur noch totale Kriege geben, also Kriege ohne territoriale Grenzen.276 Nach der Vorstellung der Anklage erschien somit die Errichtung des IMTFO als der Höhepunkt moderner und zivilisierter Ideale von Kultur und Toleranz.277 Vor diesem Hintergrund behauptete Keenan, dass die Charta des IMTFO kein neues Recht schaffe. Es handele sich vielmehr um Taten, deren Rechtswidrigkeit wegen ihrer Schwere bereits seit Langem im Geist und öffentlichen Gewissen der Welt anerkannt sei.278 Für Keenen war der zentrale Punkt, dass die Anerkennung der Rechtswidrigkeit und daher auch der Strafbarkeit dieser Handlungen im Rahmen 273 Die naturrechtliche Rechtfertigung des IMTFO wurde von Judith Shklar heftig kritisiert; ihr zufolge war dieses Verständnis des Prozesses eine ideologische Denkweise, die zur Bewahrung des Status quo der damaligen internationalen Beziehungen, d. h. des Kolonialismus, führte; laut Shklar war damals in Japan anders als in den westlichen Staaten nicht die Ideologie des Legalismus zum Verständnis des Staates, des Rechts und der Gerechtigkeit herangezogen; ferner gab es kein dem westlichen Model entsprechendes politisches System, das wiederhergestellt werden konnte wie in Deutschland; im Wesentlichen fehlte somit der von den naturrechtlichen Theorien vorausgesetzte moralische Konsens, vgl. Shklar, 179 ff.; für eine Kritik der Analyse von Shklar siehe Boister/Cryer, S. 276–277 und 294 ff., ihnen zufolge unterschätzt Shklar den Einfluss, den die westliche legalistische Tradition und die jüdisch-christliche Moral bereits damals auf Japan hatten. 274 Opening Statement by Joseph B Keenan, in: Trial of Japanese, S. 1. 275 Ebd., S. 2. 276 Ebd. 277 Ebd., S. 5. 278 Keenan verwendete folgende Formulierung: „in the mind and public conscience of the world“, ebd., S. 6.

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

des Völkerrechts ein Ergebnis des Diktates der Menschlichkeit und der Anforde­ rungen der Zivilisation darstelle. Die konkrete Form dieser Anerkennung war hingegen kein entscheidender Aspekt: „However, by whatever form this state of international law was established or however it became crystallized, it was with the full realization that the dictates of humanity and the requirements of civilization demanded that these offenses be recognized as such and placed beyond the pale of civilized conduct“.279

Hinsichtlich der Verbrechen gegen den Frieden und der Kriegsverbrechen stützte der Ankläger die strafrechtliche Verantwortung der Angeklagten vornehmlich auf die Verletzung völkerrechtlicher Verträge und Konventionen, wie z. B. bzgl. der Verbrechen gegen den Frieden auf die Haager Konvention III von 1907 über die Eröffnung der Feindseligkeiten, das Genfer Protokoll von 1924 und den BKP,280 und bzgl. der Kriegsverbrechen auf die Haager Konvention IV von 1907 über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs.281 Es ist allerdings zu beachten, dass Keenan in seinem Eröffnungsplädoyer keine bestimmte Rechtsgrundlage mit Hinblick auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nannte.282 Es erfolgte auch keine Erklärung bzgl. des Begriffs der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Des Weiteren wurden in der Anklageschrift die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zusammen mit den Kriegsverbrechen aufgelistet, ohne zu erklären, warum die entsprechenden Handlungen unter beide Begriffe subsumiert werden konnten.283 Interessanterweise wurde aber Mord – neben den Verbrechen gegen den Frieden, den Kriegsverbrechen und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit – als selbstständiger Anklagepunkt aufgeführt.284 Der Ankläger rechtfertigte dies damit, dass Mord eine Folge aller dieser verbrecherischen Kategorien darstelle.285 Dementsprechend seien die als Mord gekennzeichneten Taten sowohl nach dem Völkerrecht als auch nach dem nationalen Recht zu bestrafen.286 In diesem Zusammenhang bezog sich Keenan auf die Ermordung von Zivilisten und nicht mehr kampffähiger Kombattanten.287 Für ihn waren diese Taten nicht nur deshalb strafbar, weil sie gegen das Kriegsrecht verstießen, sondern auch weil sie im Kontext eines illegalen Krieges erfolgten.288 Es kann also davon ausgegangen werden, dass

279

Ebd. Ebd., S 14. 281 Ebd., S.  18–19; die vollständige Liste der Völkerrechtsverträge und Abkommen, deren Verletzung den Angeklagten vorgeworfen wurde, kann in der Anklageschrift (Appendix B und D) gefunden werden, vgl. Indictment, in: Trial of Japanese, S. 77 ff. und 90 ff. 282 Vgl. Opening Statement by Joseph B Keenan, in: Trial of Japanese, S. 19. 283 Vgl. Indictment, in: Trial of Japanese, S. 60–62. 284 Ebd., S. 56. 285 Vgl. Opening Statement by Joseph B Keenan, in: Trial of Japanese, S. 19. 286 Ebd. 287 Ebd. 288 Ebd. 280

D. Der Tokioter Prozess   

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dieses Argument Bestandteil einer Strategie zur Umgehung des Problems bzgl. der Legalität der Anklage war. Die grundsätzliche Strafbarkeit eines Mordes stand für Keenan außer Frage. Im Rahmen des Völkerrechts könne eine Tötung allerdings dann gerechtfertigt sein, sofern sie als Folge eines in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht durchgeführten Krieges erfolge. Dies umfasse sowohl das ius in bello (Recht im Krieg) als auch das jus ad bellum (Recht zum Krieg). Die Ermordung von Zivilisten hingegen stelle sowohl im Lichte der Kriegsverbrechen als auch der Verbrechen gegen den Frieden eine strafbare Handlung dar. Die Tatsache, dass diese Taten – allerdings ohne Nennung einer konkreten Rechtsgrundlage – dann auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit klassifiziert wurden, scheint in diesem Kontext jedoch keine Relevanz zu haben. Diese Argumentation folgt erneut der retroactive-re-characterization-Theorie: Es ist demnach unerheblich, ob eine Tat unter einem neuen Straftatbestand bestraft wird, wie z. B. den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, solange sie bereits unter einen anderen Straftatbestand subsumiert werden konnte, wie z. B. die Kriegsverbrechen oder die Verbrechen gegen den Frieden. Zum Schluss seiner Rede erkannte Keenan allerdings auch an, dass das Völkerrecht eine unvollkommene Rechtsordnung sei und dass kein Präzedenzfall bzgl. der Aburteilung von Straftaten durch ein internationales Tribunal bestehe.289 Allerdings verteidigte er die Durchführung des Prozesses mithilfe zweier Argumente. Aus einer pragmatischen Perspektive behauptete er dramatisch, dass, falls die Sieger des Krieges nichts zur Verhinderung eines neuen Konflikts unternehmen würden, im Laufe zukünftiger Konflikte sogar die gesamte Welt zerstört werden könne.290 Aus einer naturrechtlichen Perspektive argumentierte er ferner, dass das erste Gesetz der Natur der Selbstschutz sei und die im IMTFO vertretenen Staaten durch seine Errichtung nichts anderes getan hätten, als diesem Grundsatz Rechnung zu tragen.291 Es handelte sich Keenan zufolge um einen Versuch, vernünftig auf den Wahnsinn zu reagieren.292

II. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip in der Mehrheitsentscheidung Die Verteidigung trug in diesem Prozess einige Einwände in Bezug auf die Zuständigkeit des IMTFO vor.293 Dabei wurden vier mit Blick auf das NCSL-Prinzip relevante Argumente vorgebracht: Erstens hätten die unter dem Kommando 289

Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. 291 Ebd., S. 32. 292 Ebd., S. 32. 293 Vgl. IMTFO-Judgment, in: Documents, S. 75. 290

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

des Oberbefehlshabers MacArthur – Supreme Commander – handelnden Alliierten keine Befugnis dazu gehabt, die Verbrechen gegen den Frieden in das Statut des Tribunals aufzunehmen. Zweitens stelle der Angriffskrieg nicht per se eine rechtwidrige Handlung dar. Insbesondere werde er nicht durch den BKP kriminalisiert. Drittens stelle der Krieg ein staatliches Handeln dar, sodass keine individuelle strafrechtliche Verantwortung begründet werden könne. Viertens seien die Bestimmungen der Charta rückwirkendes Recht und deshalb rechtswidrig.294 Der IMTFO lehnte alle Argumente ab und folgte in dieser Hinsicht dem Nürnberger Urteil.295 Darüber hinaus vertrat der IMTFO im Unterschied zum Ankläger einen positivistischen Ansatz, in dem der abstrakte Begriff der Zivilisation als Grundlage für die Verurteilung des Angriffskrieges durch einen Verweis auf die von Japan unterzeichneten Abkommen ersetzt wurde. Demnach ergab sich die strafrechtliche Verantwortung der japanischen Führer nicht aus der Verletzung ideeller, westlicher Werte, sondern aus der Nichterfüllung der von Japan freiwillig anerkannten völkerrechtlichen Verpflichtungen.296 Das IMTFO behauptete genauso wie der IMG von Nürnberg, dass die Charta für ihn bindend sei und dass sie die Grenzen seiner Zuständigkeit definiere.297 Das IMTFO versuchte allerdings die Ambivalenz des Nürnberger Urteils zu überwinden.298 In diesem Zusammenhang erklärte das IMTFO, dass die Anerkennung des bindenden Charakters seines Statuts nicht bedeute, dass die Alliierten internationale Tribunale jenseits oder außerhalb der Grenzen des geltenden Völkerrechts errichten könnten: „The foregoing expression of opinion is not to be taken as supporting the view […] that the Allied Powers or any victor nations have the right under international law in providing for the trial and punishment of war criminals to enact or promulgate laws or vest in the tribunals powers in conflict with recognised international law […] In the exercise of their right to create tribunals for such a purpose and in conferring powers upon such tribunals belligerent powers may act only within the limits of international law“.299

Allerdings berief sich das IMTFO auch auf die folgenden Schlussfolgerungen des IMG von Nürnberg: Die LC und damit auch das Statut des IMTFO bildeten den Ausdruck des im Moment ihrer Schaffung geltenden Völkerrechts; der BKP erkläre den Angriffskrieg zu einer rechtswidrigen Handlung, und u. a. daraus ergebe sich ihre Strafbarkeit; das NCSL-Prinzip sei lediglich ein Gerechtigkeitsgrundsatz, der die Souveränität der Alliierten nicht beschränke; die Angeklagten hätten wissen müssen, dass ein Angriff auf andere Länder, der sich im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verträgen befand, rechtswidrig war.300 In Übereinstimmung 294

Ebd., S. 80. Vgl. Boister/Cryer, S. 278. 296 Ebd., S. 279. 297 Vgl. IMTFO-Judgment, in: Documents, S. 79. 298 Vgl. Gallant, S. 142. 299 Vgl. IMTFO-Judgment, in: Documents, S. 79. 300 Ebd., S. 80–81. 295

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mit dem Nürnberger IMG führte das IMTFO aus, dass die Bestrafung der Ange­ klagten kein Unrecht darstelle und dass es viel ungerechter gewesen wäre, sie straffrei zu lassen.301 Das IMTFO stellte keine weiteren Erwägungen bzgl. des NCSLPrinzips an, um neue Debatten darüber zu verhindern: „In view of the fact that in all material respects the Charters of this Tribunal and the Nuremberg Tribunal are identical, this Tribunal prefers to express its unqualified adherence to the relevant opinions of the Nuremberg Tribunal rather than by reasoning the matters a new in somewhat different language to open the door to controversy by way of conflicting interpretations of the two statements of opinions“.302

III. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und das Fehlen eines Konsenses innerhalb des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten Das Urteil des IMTFO erging nicht einstimmig. Fünf Richter äußerten separate, concurring bzw. dissenting opinions. Dabei war das NCSL-Prinzip ein sehr umstrittenes Thema. Jeder dieser fünf Richter erörterte das Problem der Rechtsgrundlage der in Frage stehenden Straftatbestände. Hier ist zu betonen, dass allen Auffassungen ein mehr oder weniger expliziter rechtstheoretischer Ansatz zugrunde liegt. Deshalb kann die Verbindung zwischen Rechtstheorie und dem NCSL-Prinzip durch die Betrachtung dieser Erwägungen ermittelt werden. Vier der separate opinions befürworteten trotz der Bedenken hinsichtlich der Verletzung des NCSL-Prinzips die Aburteilung gemäß dem IMTFO-Statut. Lediglich eine der fünf separate opinions stellte die Legitimation des IMTFO-Statuts u. a. wegen seines rückwirkenden Charakters in Frage. 1. Das Naturrecht als Grundlage des Völkerrechts Sowohl in der Separate Opinion des Präsidenten des Tribunals William Flood Webb (Australien) als auch in der Dissenting Opinion des Richters Henri Bernard (Frankreich) wird ein naturrechtlicher Ansatz vertreten. Diesen Auffassungen zufolge stellte das IMTFO-Statut kein rückwirkendes Recht dar, da sich die Strafbarkeit der Taten, für die das IMTFO zuständig sei, nicht aus einer Entscheidung der Alliierten oder des Oberbefehlshabers MacArthur ergeben würde, sondern unmittelbar aus einem immerhin bestehenden Naturrecht. Präsident Webb stimmte der Mehrheitsentscheidung insofern zu, weil das IMTFO-Statut für das IMTFO bindend sei.303 Er meinte allerdings, dass die Straf 301

Ebd., S. 81. Ebd., S. 81. 303 Vgl. Separate Opinion of William Flood Webb, in: Documents, S. 632. 302

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barkeit des Angriffskrieges im Völkerrecht spätestens seit 1925 anerkannt sei.304 Als Beweis führte er an, dass sowohl die Völkerbundversammlung 1925 und 1927 als auch die sechste Panamerikanische Konferenz von 1928 den Angriffskrieg zu einer internationalen Straftat erklärt hätten.305 Außerdem trug er vor, dass sich die Strafbarkeit des Angriffskrieges aus dem Text des BKP ergebe.306 Für Präsident Webb verstieß das IMTFO-Statut somit weder gegen das Völkerrecht noch gegen das Naturrecht, sondern diente vielmehr ihrer Durchsetzung.307 Ein interessanter Punkt ist hier, dass Webb das Völkerrecht und das Naturrecht gleichzusetzen scheint. Präsident Webb erklärte allerdings nicht, was genau in diesem Kontext unter Naturrecht zu verstehen sei und wie das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Naturrecht aussehe. Allerdings bezog er sich bei seinen späteren Ausführungen zur Existenz des Völkerrechts auf den vom englischen Jurist Frederick Pollock 1902 veröffentlichten Aufsatz „The Sources of International Law“308, in dem die Entwicklung des Völkerrechts zusammengefasst und dieses als Bestandteil bzw. Bereich des Naturrechts dargestellt wird. Es muss betont werden, dass nach dieser Auffassung die Grenzen zwischen (Völker-)Recht und eine internationale Moral zu verschwimmen scheinen: „Sir Frederick Pollok also said that modern International Law came and was received in the name of the law of nature to which both spiritual and temporal rulers had long professed allegiance; but suggested that this law of nature was nothing but another name for the general principles of morality: universal reason as manifested in the consent of reasonable man“.309

Wie bereits gesagt, vertrat auch Richter Bernard einen naturrechtlichen Ansatz. Trotzdem interpretierte er das IMTFO-Statut anders als die Richter in der Mehrheitsentscheidung und auch als Präsident Webb in seiner Separate Opinion. Richter Bernard vertrat die Ansicht, dass das IMTFO-Statut dem IMTFO nur ermöglichen solle, festzustellen, ob bestimmte Handlungen Straftaten darstellen würden oder nicht.310 Er hob ferner hervor, dass dies keine allgemeine Entscheidung über den strafrechtlichen Charakter dieser Handlungen darstelle, weil weder die ­Alliierten noch der Oberbefehlshaber MacArthur die Befugnis zur Recht 304

Ebd., S. 633. Ebd. 306 Ebd. 307 Ebd., S. 634. 308 Pollok erklärt insofern: „[T]he Law of Nature presented itself as a rule of human conduct independent of positive enactment and even of special divine revelation, and binding always and everywhere in virtue of its intrinsic reasonableness“, Pollok, LQR 1902, 418 (421); siehe dazu auch die Aufsätze „The History of the Law of Nature: A Preliminary Study“ und „The History of the Law of Nature: A Preliminary Study. Second Article“ von Pollok, in denen er die Idee der „law of nature“ als „an ultimate principle of fitness with regard to the nature of man as a rational and social being, which is, or ought to be, the justification of every form of positive law“ vertrat, Pollok, Colum. L. Rev. 1901, 11 (11) und Pollok, Colum. L. Rev. 1902, 131. 309 Vgl. Separate Opinion of William Flood Webb, in: Documents, S. 636; siehe dazu Boister/ Cryer, S. 280–281. 310 Vgl. Dissenting Judgment of the Member from France, in: Documents, S. 665. 305

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setzung hätten.311 Die Errichtung des IMTFO sei daher nicht mit der abstrakten und vor dem relevanten Sachverhalt getroffenen Entscheidung eines Gesetzgebers zu vergleichen.312 Aus diesem Grund sei es auch Aufgabe des IMTFO zu analysieren, ob bereits begangene Taten, wie die Aggressionen Japans gegen andere Länder im pazifischen Raum, eine Bestrafung verdienten.313 Vor diesem Hintergrund behauptete Richter Bernard, dass Art. 5 IMTFO-Statut die Definitionen der Verbrechen nicht enthalte314 und berief sich auf das Naturrecht, um seine Auffassung zu begründen: „There is no doubt in my mind that such a war is and always has been a crime in the eyes of reason and universal conscience,-expressions of natural law upon which an international tribunal can and must base itself to judge the conduct of the accused tendered to it“.315

Gerade weil Richter Bernard eine Rechtsgrundlage für die Strafbarkeit des Angriffskrieges im Naturrecht sah, lehnte er den rückwirkenden Charakter des IMTFO-Statuts und somit eine Verletzung des NCSL-Prinzips ab.316 Interessanter­ weise stellte für ihn hingegen die Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrages keine Straftat dar.317 Deshalb könne die Strafbarkeit des Angriffskrieges nicht mit einer Verletzung des BKP begründet werden.318 Er erklärte ferner, dass die internationale Verantwortung des Staates, d. h. die kollektive Verantwortung, nicht zur Ablehnung der sich aus dem Naturrecht ergebenden individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit herangezogen werden könne.319 Es darf nicht übersehen werden, dass Richter Bernard zwischen Völkerrecht und Naturrecht unterscheidet und die Strafbarkeit des Angriffskrieges gerade im Naturrecht und nicht im Völkerrecht begründet sieht. Bernard zufolge beschränkt sich das Völkerrecht auf die zwischenstaatlichen Beziehungen, bestimmt die Rechte und Pflichten der Staaten und ergibt sich aus Praktiken und Konventionen bzw. völkerrechtlichen Verträgen, wohingegen sich das Naturrecht jenseits der Staaten erstreckt und zugleich die Beziehung der Individuen erfasst.320 Durch diese Begründung musste er sich nicht mit den relevanten völkerrechtlichen Ver 311

Ebd. Ebd., S. 668. 313 In diesem Sinne behauptete Richter Bernard: „Under these conditions the Tribunal has the right to examine the facts submitted to it with due regard to all the qualifications recognized possible by the conscience and universal reason; it is its duty to examine those of them that entail the most severe sanctions“, ebd. 314 Richter Bernard führte hierzu aus: „[N]owhere do the authors of the Charter express their determination to make crimes of certain facts or to give definition to certain crimes“, ebd., S. 669. 315 Ebd., S. 670. 316 Ebd. Die Befugnis der Alliierten zur Errichtung des IMTFO beruhte Bernard zufolge auf dem Naturrecht. Siehe dazu Foui-Sang, in: Beyond, S. 94 und 98. 317 Ebd., S. 97. 318 Vgl. Minear, S. 53. 319 Vgl. Dissenting Judgment of the Member from France, in: Documents, S. 670. 320 Ebd., S. 674. 312

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trägen, wie z. B. mit dem BKP, auseinandersetzen und keine bestimmte Rechtsgrundlage für die Strafbarkeit nachweisen.321 2. Pragmatische Ablehnung des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips In der Concurring Opinion des Richters Delfin Jaranilla (die Philippinen) wurde das Problem des NCSL-Prinzips zwar kurz, aber dafür explizit behandelt. Richter Jaranilla verzichtete auf eine Analyse des geltenden Völkerrechts und damit der Völkerrechtsquellen, die eine Rechtsgrundlage für die Aburteilung der japanischen Angeklagten hätten bieten können. Stattdessen argumentierte er, dass das NCSL-Prinzip im Völkerrecht nicht angewendet werden solle, weil die Aburteilung der japanischen Kriegsverbrecher immerhin notwendig sei.322 Es kann daher behauptet werden, dass Richter Jaranilla die Anwendbarkeit des NCSLPrinzips im Völkerrecht aus pragmatischen Gründen ablehnte.323 Laut Jaranilla war das NCSL-Prinzip ein allgemeiner Grundsatz des nationalen Rechts, fand aber wegen der Besonderheiten des Völkerrechts in diesem Bereich keine Anwendung.324 Jaranilla stützte diese Behauptung auf drei Erwägungen: Erstens seien die Angeklagten „Bürger“ der Welt und als solche dem Völkerrecht unterworfen, selbst wenn das nationale Recht dem Völkerrecht widerspreche.325 Zweitens seien die von den Angeklagten begangenen Verstöße gegen das Völkerrecht nicht vorhersehbar gewesen, sodass die Fortdauer der internationalen Gemeinschaft eine gewisse Flexibilität erfordere.326 Drittens stelle ihre Aburteilung auch für die Angeklagten selbst keine Überraschung dar, da die Alliierten sie vor und während des Krieges bereits vor einer möglichen Strafbarkeit gewarnt hätten. Gerade deshalb habe Japan auch in der Kapitulationserklärung anerkannt, dass sie vor Gericht gestellt werden könnten.327 Aus diesen Gründen schloss Jaranilla seine Erwägungen über das NCSL-Prinzip einfach wie folgt: „The Allied Powers had made their position clear. Japan and her leaders accepted their terms. The defense of ex post facto law is, in this case, unsustainable“.328

321 In diesem Sinne sagte Richter Bernard in Bezug auf das Naturrecht: „If opinions differ as to its nature, its existence is not seriously contested or contestable and the declaration of this existence is sufficient for our purpose“, ebd.; siehe dazu Boister/Cryer, S. 281. 322 Vgl. Concurring Opinion of the Member from the Philippines, in: Documents, S. 651. 323 Ebd. 324 Ebd. 325 Ebd. 326 Ebd., S. 652. 327 Ebd. 328 Ebd.

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3. Positivistischer Ansatz und politische Rechtfertigung der Rückwirkung Der niederländische Richter Bernard Rölling führte in seiner Dissenting­ Opinion eine komplexe Analyse durch, die aus zwei Teilen bestand. Zum einem betrachtete er das positive Völkerrecht. Er versuchte, zuerst zu veranschaulichen, inwieweit das IMTFO durch das IMTFO-Statut gebunden war. Dann analysierte er den Stand des Völkerrechts in der Zwischenkriegszeit, um festzustellen, ob der Angriffskrieg bereits damals strafbar war. Daher kann sein Ansatz als positivistisch bezeichnet werden. Denn er berief sich nicht auf moralische Werturteile oder auf Überlegungen bzgl. der Gerechtigkeit, sondern beschränkte sich auf die Untersuchung internationaler Abkommen, Pakte und Erklärungen.329 Zum anderen argumentierte Richter Rölling, dass politische Straftaten, ähnlich wie in den nationalen Rechtsordnungen, auch im Rahmen des Völkerrechts begangen werden könnten und dass der Angriffskrieg gerade ein politisches Verbrechen darstellen würde. Richter Rölling zog also einen Unterschied zwischen vile crimes und politischen Verbrechen, wobei er unter vile act solche Hand­lungen verstand, die gegen die Rechtsordnung verstoßen würden und die zu ihrer Aufrechterhaltung bestraft werden müssten. Er nahm zwar an, dass die Kategorie der Verbrechen gegen den Frieden rückwirkend geschaffen worden sei, rechtfertigte aber trotzdem die Aburteilung der japanischen Kriegsverbrecher, da er das NCSL-Prinzip als politischen Grundsatz verstand. Rölling führt hierzu aus, dass der Angriffskrieg 1945 tatsächlich mit der LC kriminalisiert worden sei, weil man festgestellt habe, dass die NS-Kriegsverbrecher und die Japaner gefährlich für den Weltfrieden seien. Es handele sich aber beim Angriffskrieg um eine politische Straftat und nicht um ein vile crime. Die politische Entscheidung, die Kriegsverbrecher zu verurteilen, könne somit trotz ihres rückwirkenden Charakters einen ebenfalls politischen Grundsatz wie das NCSL-Prinzip nicht verletzen. Richter Rölling stimmte der Mehrheitsentscheidung dahingehend zu, dass das IMTFO-Statut für den IMTFO bindend sei. Er schränkte die Aussage aber insofern ein, indem er erklärte, dass eine Bestrafung jenseits des IMTFO-Statuts nicht statthaft sei.330 Ihm zufolge dürfte das IMTFO jedoch das Statut nicht anwenden, wenn es gegen das geltende Völkerrecht verstieße.331 Deshalb kritisierte er die sich seiner Meinung nach aus der Mehrheitsentscheidung ergebende Schlussfolgerung, der zufolge das IMTFO kein Recht habe, darüber zu urteilen, ob die Alliierten bzw. der Oberbefehlshaber MacArthur durch die Schaffung des IMTFO-Statuts ihre Befugnisse überschritten hätten.332 Auf diese Weise könne das IMTFO 329

Vgl. Boister/Cryer, S. 283. Vgl. Opinion of the Member for the Netherlands, in: Documents, S. 680. 331 Ebd. 332 Ebd., S. 681. 330

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seine Aufgabe nicht erfüllen, der Gerechtigkeit zur Geltung zu verhelfen, da dieser nicht einmal die Gerechtigkeit des von ihm anzuwendenden Rechts überprüfen könnte.333 Laut Rölling durfte die Strafbarkeit einer Handlung im Völkerrecht nicht allein auf der Entscheidung der Siegermächte beruhen.334 Diese Länder dürften lediglich entscheiden, dass ein bestimmtes Tribunal für die Aburteilung einer nach dem Völkerrecht strafbaren Handlung zuständig sei.335 In diesem Kontext analysierte Richter Rölling, ob die Verbrechen gegen den Frieden ein vile act nach dem geltenden Völkerrecht darstellten.336 Ihm zufolge war es bis zur Verabschiedung des BKP ein sich aus ihrer Souveränität ergebendes Recht der Staaten, Kriege zu führen.337 Demnach musste nur noch geklärt werden, ob sich zwischen den beiden Weltkriegen hieran etwas geändert hatte. Laut Richter Rölling wurde der Angriffskrieg erst Ende 1943 zu einer internationalen Straftat erklärt und 1945 als solche in die LC aufgenommen. Die vom Nürnberger IMG und vom IMTFO als Beweis für eine Tendenz zur Kriminalisierung des Angriffskrieges im Völkerrecht vorgetragenen Aspekte wurden von Rölling lediglich als gescheiterte Versuche bewertet. Er bezog sich dann auf den Versailler Vertrag und behauptete, dass der Versuch, Kaiser Wilhelm II. nach dem Ersten Weltkrieg abzuurteilen, keine Rechtsgrundlage gehabt hätte. Es habe sich lediglich um politische und moralische Vorwürfe gehandelt.338 Hinsichtlich des Vertrages des VB über gegenseitige Hilfeleistung und des Genfer Protokolls von 1924 begnügte sich Rölling mit dem Hinweis, dass beide keine Rechtskraft hätten und deshalb bedeutungslos seien.339 Darüber hinaus bezog sich Rölling auf die am 24.09.1927 verabschiedete Resolution der Generalversammlung des VB zum Verbot des Angriffskrieges und auf die sechste Panamerikanische Konferenz von 1928. In Bezug auf die Resolution von 1927 sagte Rölling, die in der Generalversammlung des VB stattgefundene Diskussion beweise, dass die Bedeutung der Resolution eher moralisch als rechtlich sei.340 Hinsichtlich der Panamerikanischen Konferenz behauptete er, dass die amerikanischen Staaten insbesondere mit Blick auf die Fälle, in denen es nur um interne Angelegenheiten gehe oder ihre Souveränität betroffen sei, keinen Konsens bzgl. des Aufgebens des Krieges gefunden hätten.341 Auch Röllings Erwägungen hinsichtlich des BKP verdienen besondere Aufmerksamkeit. Obwohl Richter Rölling anerkannte, dass durch diesen Pakt tatsächlich der Krieg zu einer rechtswidrigen Tat erklärt worden sei und der BKP eine Änderung des Völkerrechts darstellen würde, argumentierte er, dass der Pakt aber 333

Ebd. Ebd., S. 682. 335 Ebd.; siehe dazu Cryer, J. Int’l Crim. Just. 2010, 1109 (1110). 336 Vgl. Opinion of the Member for the Netherlands, in: Documents, S. 684. 337 Ebd. 338 Ebd., S. 685. 339 Ebd., S. 685–686. 340 Ebd., S. 687 ff. 341 Ebd. 334

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trotz dieser Rechtswidrigkeit nicht zugleich auch eine Strafbarkeit des Angriffskrieges vorgeschrieben habe.342 Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, um darauf schließen zu können, dass es die Absicht des BKP sei, die Strafbarkeit des Angriffskriegs als vile act und die individuelle strafrechtliche Verantwortung auf internationaler Ebene zu begründen.343 Außerdem führte Rölling auch aus, dass nach dem Verständnis der unterzeichnenden Staaten der BKP eindeutig keine Selbstverteidigung verbiete, sondern sie sich vielmehr das Recht vorbehielten, in bestimmten Fällen legitimerweise auf den Krieg zurückgreifen zu können.344 Eine Strafbarkeit des Angriffskrieges konnte Rölling zufolge daher weder aus dem Wortlaut des BKP noch aus der Absicht der beitretenden Staaten gefolgert werden.345 Ein weiterer wichtiger Aspekt in Röllings Analyse sind seine Erörterungen über das Völkergewohnheitsrecht. Rölling kritisierte die Argumentation des Nürnberger IMG und meinte, dass die gescheiterten Versuche zur Kriminalisierung des Angriffskrieges und der BKP gerade nicht als Beweis für die Kriminalisierung des Angriffskrieges durch das Völkergewohnheitsrecht gewertet werden könnten.346 Denn das Völkergewohnheitsrecht liege nach dem traditionellen Begriff nur vor,347 falls es eine als verbindlich anerkannte und wiederholte Praxis in Bezug auf die Art und Weise gebe, in der Staaten miteinander interagierten. Eine solche Praxis ließe sich vor dem Zweiten Weltkrieg aber gerade bzgl. der Bestrafung des Angriffskrieges nicht beweisen.348 Nach Röllings Auffassung stand damit eindeutig fest, dass die Strafbarkeit des Angriffskrieges erst in der LC vorgesehen wurde, d. h. nach der Begehung der zu bestrafenden Taten. Er argumentierte dann aber, dass diese Tatsache kein Hindernis für die Aburteilung der japanischen Kriegsverbrecher darstelle, da das NCSL-Prinzip lediglich politischen Charakter habe und deshalb unbeachtet bleiben dürfe. Wäre das NCSL-Prinzip, wie vom Nürnberger IMG vertreten, hingegen ein Gerechtigkeitsgrundsatz, dürfte laut Rölling der IMTFO keinen Angeklag 342 In diesem Sinne äußerte das IMTFO: „The Pact of Paris […] appears to be the only real basis for a different conception with regard to the jus ad bellum. It is questionable, however, whether it did in fact bring about such a change that aggressive war became a vile crime“, ebd., S. 691; siehe dazu Cryer, J. Int’l Crim. Just. 2010, 1109 (1115). 343 Vgl. Opinion of the Member for the Netherlands, in: Documents, S. 692. Für die Gegenposition siehe UNWCC, History, S. 58–59, 78. 344 Vgl. Opinion of the Member for the Netherlands, in: Documents, S. 693. 345 Ebd., S. 695. 346 Ebd. 347 Für den traditionellen Begriff des Völkergewohnheitsrechts siehe Arajärvi, S. 8 ff., 16 ff.; siehe auch Thirlway, S. 56–57, 63; Pellet, in: The Statute of the International Court, Rn. 211 ff.; dieser Begriff kann sowohl in Art.  38 Abs.  2 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofs (StIGH) als auch in Art. 38 Abs. 1 (b) des IGH-Statuts gefunden werden: „International custom, as evidence of a general practice accepted as law“; siehe auch IGH, North Sea Continental Shelf Cases, 1969, Para. 77: „Not only must the acts concerned amount to a settled practice, but they must also be such, or be carried out in such a way, as to be evidence of a belief that this practice is rendered obligatory by the existence of a rule of law requiring it“. 348 Vgl. Opinion of the Member for the Netherlands, in: Documents, S. 696.

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ten wegen Verbrechen gegen den Frieden verurteilen, da dies keine gerechte Entscheidung wäre.349 Das NCSL-Prinzip habe vielmehr einen politischen Charakter und gelte als solches nur, wenn es explizit vorgeschrieben worden sei.350 Ziel dieses Prinzips sei es nämlich, Bürger vor einer möglichen Willkür der Gerichte oder des Gesetzgebers zu schützen.351 Deswegen sei es als Ausdruck politischer Weisheit zu begreifen. Allerdings gelte es nicht uneingeschränkt; insbesondere gelte es nicht im Kontext eines für die Freiheit geführten Krieges,352 in dessen Folge die Siegermächte die Befugnis zur Sicherung der neuen Ordnung hätten und hierzu u. a. die Aggressoren festnehmen dürften.353 In diesem Kontext seien die Verbrechen gegen den Frieden als politische Straftaten zu verstehen. Dementsprechend sei der entscheidende Gesichtspunkt für ihre Bestrafung die Gefährlichkeit der Angeklagten, nicht ihre Schuld. Zwar sei der Straftatbestand der Verbrechen gegen den Frieden erst 1945 geschaffen worden, ihre Bestrafung verletze somit aber weder das Völkerrecht noch das NCSL-Prinzip.354 4. Positivistische und realistische Kritik am Internationalen Militärtribunal für den Fernen Osten Richter Radhabinod Pal aus Indien vertrat, ähnlich wie Richter Rölling, einen positivistischen Ansatz. Bei der Analyse der Völkerrechtsquellen beschränkte er sich auf die Untersuchung des positiven Völkerrechts.355 Aber im Unterschied zum niederländischen Richter nahm Pal eine kritische Haltung gegenüber dem IMTFO ein. Er betrachtete die Errichtung und die Tätigkeit des IMTFO mit großer Skepsis. Die Aburteilung der japanischen Kriegsverbrecher erschien ihm angesichts der Kolonialisierungspolitik westlicher Staaten und ihrer Taten während des Krieges, wie z. B. des Abwurfs der Atombombe, heuchlerisch.356 In seiner Dissenting­ Opinion sprach er sich deshalb dafür aus, alle Angeklagten freizusprechen.357 349

Ebd., S. 700. Ebd. 351 Ebd. 352 Ebd. 353 Ebd., S. 700–701; dazu Cryer, J. Int’l Crim. Just. 2010, 1109 (1116). 354 Vgl. Opinion of the Member for the Netherlands, in: Documents, S. 702. 355 Laut Kopelman kann die von Pal vertretene Auffassung auf drei Weisen interpretiert werden: (i) Sie könnte rechtspositivistisch sein und somit konservativ im Bezug auf Veränderungen im Völkerrecht; (ii) sie könnte als Vorläufer der postkolonialistischen Ansätze im Völkerrecht betrachtet werden; (iii) oder als die Auffassung des Bürgers eines Landes, das von der japani­ schen Politik nicht besonders betroffen war, vgl. Kopelman, N. Y. U. J. Int’l L. & Pol. ­1990–19 91, 373 (375 ff., 411 ff., 418 ff. und 423 ff.); insofern auch Boister/Cryer, S. 285–291. 356 Trotzdem erkannte er die Bedeutung der Untersuchung von Kriegsverbrechen im engeren Sinne an, vgl. Takeshi, in: Beyond, S. 129. 357 Am Ende seiner Dissenting Opinion behauptet Pal: „I would hold that each and every one of the accused must be found not guilty of each and every one of the charges in the indictment and should be acquitted of all those charges“, Dissenting Opinion of the Member from India, in: Documents, S. 1422. 350

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Pals Auffassung verdient besondere Aufmerksamkeit. Denn in seinen Erwägun­ gen thematisiert er zentrale Probleme des Völkerstrafrechts, die bis heute ungelöst sind. Er weist nicht nur darauf hin, wie schwierig es ist, die Existenz einer bestimmten völkergewohnheitsrechtlichen Norm nachzuweisen, sondern auch auf die Probleme, die sich daraus ergeben, dass das Völkerrecht im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik steht.358 In Bezug auf das NCSL-Prinzip stellte sich Pal drei Fragen, die seiner Meinung nach zur Feststellung der Legitimität des Prozesses gegen die japanischen Kriegsverbrecher beantwortet werden mussten: erstens, ob das IMTFO-Statut die Rechtsgrundlage für die Strafbarkeit der Verbrechen gegen den Frieden darstelle; zweitens, ob die Siegermächte die Befugnis zum Erlass des IMTFO-Statuts gehabt hätten; drittens, ob das IMTFO diese Befugnis der Siegermächte in Frage stellen dürfe.359 Pals diesbezügliche Ansichten stimmten in wesentlichen Punkten mit der Auffassung Röllings überein. Pal war aber ferner der Meinung, dass das IMTFOStatut die Rechtsgrundlage für die Strafbarkeit der Verbrechen gegen den Frieden nicht darstellen könne, da weder die Siegermächte noch Oberbefehlshaber MacArthur die Befugnis dazu gehabt hätten, eine Handlung auf internationaler Ebene unter Strafe zu stellen.360 Des Weiteren müsse das IMTFO gemäß dem vor dem Krieg geltenden Völkerrecht entscheiden. Alles andere wäre kein Ausdruck von Gerechtigkeit, sondern lediglich von Macht.361 Pal betonte in diesem Kontext, dass das IMTFO in keinem Vakuum geschaffen worden sei, sondern im Rahmen des Völkerrechts, welches somit nicht nur die Rechte und Befugnisse der Alliierten als Siegermächte begründe, sondern auch die Grenzen dieser Befugnisse.362 Von daher dürften sie das von dem Tribunal anzuwendende Recht nicht schaffen, um eine besiegte Nation zu verurteilen.363 358

Laut Takeshi betonte Pal die in einem Strafprozess erforderliche Unterscheidung zwischen Recht und Politik und kritisierte den Einfluss von Staatsmännern auf das IMTFO, Takeshi, in: Beyond, S. 128; Pals Hauptargument befasste sich vor allem mit der fehlenden Unparteilichkeit des IMTFO und auf das Fehlen moralischer Autorität der Siegermächte zur Aburteilung der Angeklagte (gerade diese Probleme werden auch heute noch im Zusammenhang mit internationalen Straftribunalen diskutiert); zum Spannungsfeld zwischen Gerechtigkeit und Politik im Rahmen der Ad-hoc-Straftribunale und des IStGH siehe Beigbeder, S. 71–84, 91–106 und 209–243 ff.; siehe auch Schabas, Kein Frieden, S. 11–44, Schabas thematisiert auf diesen Seiten insbesondere den politischen Charakter des IStGH und seine Selektivität hinsichtlich der verhandelten Fälle; in Bezug auf die sich aus der Stellungnahme der Afrikanischen Union hinsichtlich der Haftbefehle gegen Al-Bashir und Gaddafi ergebenden Probleme siehe Lubbe, in: Challenges, S. 179 ff. 359 Vgl. Dissenting Opinion of the Member from India, in: Documents, S. 825. 360 Diese Schlussfolgerung beruhe auf dem Wortlaut und dem Zweck des Art. 5 IMTFO-Statut: „The article in its plain terms purports only to provide for ‚jurisdiction over persons and offences‘ […] The intention, in my opinion is not to enact that these acts do constitute crimes but that the crimes, if any, in respect to these acts, would be triable by the tribunal“; außerdem bezog sich Pal auf die Moskauer Deklaration, in der Pal zufolge nur die Kriegsverbrecher im engeren Sinne erwähnt wurden, ebd., S. 825–827. 361 Ebd. 362 Ebd., S. 939. 363 Ebd.

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Nach diesen Erörterungen analysierte Pal sodann, ob irgendeine Völkerrechtsquelle den Straftatbestand der Verbrechen gegen den Frieden vorsah. Mithilfe eines realistischen Ansatzes betrachtete er auch das tatsächliche Verhalten der Staaten und kam zu der Schlussfolgerung, dass der Krieg – und damit auch der Angriffskrieg – gemäß dem bindenden Völkerrecht vor dem Zweiten Weltkrieg nicht als rechtswidrige Handlung betrachtet worden sei, nicht einmal im BKP. Pals diesbezügliche Hauptargumente können in drei Kategorien unterteilt werden. Zunächst bezog er sich auf die Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen, mithilfe derer seit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher die Strafbarkeit des Angriffskrieges begründet wurde. Ein solcher Unterschied habe bis dahin im Rahmen der internationalen Beziehungen keine Rolle gespielt.364 Pal betonte zudem, dass gewisse westliche Staaten durch die bewaffneten Aktionen in der östlichen Hemisphäre auch ihre eigenen Interessen verfolgt hätten und dass diese Angriffe auch nicht gerechtfertigt gewesen seien, ohne notwendigerweise strafbar zu seien.365 Danach beurteilte Pal die Bedeutung des BKP für das Völkerrecht. Aufgrund des Verhandlungsprozesses des BKP könne behauptet werden, dass die Verfasser lediglich eine „Pflicht“ begründen wollten, deren Erfüllung allein vom Willen des handelnden Staates abhänge.366 Aus diesem Grund könne der BKP nicht als Recht im engeren Sinne berücksichtigt werden. Pals Vorstellung vom Recht setzte eine „neutrale“ Autorität voraus, die notfalls in der Lage sein muss, das geltende Recht, wenn nötig mit Gewalt, durchzusetzen.367 Daher könne eine Verletzung des BKP keine internationale Straftat bilden.368 Der BKP stelle somit auch keine Änderung des Völkerrechts dar, weshalb der Krieg noch in der Zwischenkriegszeit ein souveränes Recht der Staaten gewesen sei.369 Im dritten Teil seiner Argumentation befasste sich Pal mit den im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg vertretenen Auffassungen bzgl. des NCSL-Prinzips mit dem Ziel, diese zu widerlegen. Als Erstes widmete er sich der Idee, dass der Angriffskrieg nach dem Völkergewohnheitsrecht strafbar sei. Pal vertrat insofern die 364

Ebd., S. 840. Ebd.; zur Kritik Pals in Bezug auf die Theorie des gerechten Kriegs siehe Kopelman, N. Y. U. J. Int’l L. & Pol. 1990–1991, 373 (406–408), laut Kopelman versuchte Pal durch seine Kritik zu zeigen, dass die Anerkennung der Theorie des gerechten Krieges zur Ablehnung des sog. ius in bello und daher zur Eskalation in zukünftigen Kriegen führen würde; insofern behauptet auch Borgwardt: „[T]he revival of the just war framework suggested another […] corollary: that victims of ‚illegal‘ aggressions could now be presumed to have virtually unlimited rights, including the right to resort to atomic weapons“, Borgwardt, A New Deal, S. 217. 366 Vgl. Dissenting Opinion of the Member from India, in: Documents, S. 848. 367 Pal meinte dazu: „A rule of law, once created, must be binding on the states independently of their will, though the creation of the rule was dependent on its voluntary acceptance by them“, ebd. 368 Ebd., S. 853. 369 Ebd., S. 859; siehe dazu Kopelman, N. Y. U. J. Int’l L. & Pol. 1990–1991, 373 (410–412). 365

D. Der Tokioter Prozess   

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Auffassung, dass zur Feststellung des Völkergewohnheitsrechts nicht einfach auf Äußerungen von Diplomaten zurückgegriffen werden dürfe, sondern vielmehr die tatsächliche Praxis der Staaten der richtige Anhaltspunkt zur Ermittlung des Völkergewohnheitsrechtes sei.370 Und die Staatenpraxis zeige, dass nach wie vor die Staatssouveränität und die tatsächliche Macht der Staaten die Grundlage der „internationalen Gemeinschaft“ bildeten.371 Pal kritisierte in diesem Zusammenhang die hinter der Rechtfertigung des Nürnberger IMG und des IMTFO stehende Vorstellung einer „internationaler Gemeinschaft“, da dort keine echte Gemeinschaft im rechtlichen Sinne bestehen könne, wo die Unabhängigkeit der Staaten allein durch ihre eigene Macht bzw. ihre Selbstverteidigungsfähigkeit gewährleistet werden könne.372 Die Staatenpraxis, auch nach dem BKP, beweise insofern, dass die Staaten immer noch eine Neigung zum Krieg hätten. Deshalb schloss Pal ironisch: „[O]nly a lost war is a crime“.373 Zweitens stellte Pal die Behauptung in Frage, der zufolge im Völkerrecht eine schrittweise Entwicklung zur Kriminalisierung des (Angriffs-)Krieges zu sehen sei. Für ihn zeigte das Völkerrecht in diesem Hinblick überhaupt keine Entwicklung. Nicht nur der Versailler Vertrag enthalte keine explizite Bestimmung über die Strafbarkeit des Angriffskrieges, auch der VB sei nicht mehr als eine Gruppe von Staaten gewesen, die sich zu koordinieren versucht hätten, ohne auf ihre Souveränität und die Verfolgung ihrer eigenen Interessen zu verzichten.374 An dieser Stelle wird Pals Skepsis wieder sehr deutlich. Das Konzept der Menschlichkeit als Grundlage einer sog. „internationalen Gemeinschaft“ war für Pal aufgrund der Kolonialisierungspolitik westlicher Staaten sehr problematisch: „[I]f we take the fact that there is still continued domination of one nation by another, that servitude of nation still prevailed unrevealed and that domination of one nation by another continued to be regarded by the so-called international community only as  a domestic question for the master nation, I cannot see how such a community can even pretend that its basis is humanity“.375

Ferner fragte er sich, wie eine gemeinsame Vorstellung von Menschlichkeit bestehen könne, wenn eine so destruktive Waffe wie die Atombombe verwendet worden sei.376 Vor diesem Hintergrund betonte er, dass ein internationaler Strafprozess nicht zur Befriedung der internationalen Beziehungen beitragen könne, wenn die Durchsetzbarkeit des Völkerrechts vom Ergebnis eines Krieges abhängig sei.377 370

Vgl. Dissenting Opinion of the Member from India, in: Documents, S. 861. Ebd. 372 Ebd., S. 862. 373 Ebd., S. 863. 374 Ebd., S. 864–866. 375 Ebd., S. 867. 376 Ebd., S. 867–868. 377 Ebd., S. 871, laut Pal waren gerade nicht nur Japan, sondern auch die Alliierten für den Kriegsausbruch verantwortlich; zur Ansicht Pals über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs siehe Takeshi, in: Beyond, S. 132 ff. 371

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

Zum Schluss führte er in diesem Kontext aus, dass eine Gruppe von Staaten allein weder festlegen könne, was das internationale Gemeinwohl erfordere, noch einseitig den Schutz des „Naturrechts“ zur Notwendigkeit für den Erhalt des internationalen Gemeinwohls erklären könne.378 Das Konzept eines internationalen Gemeinwohls setze vielmehr einen Konsens aller Staaten über die Unterwerfung aller internationalen Beziehungen unter das Völkerrecht voraus. Nur so könne eine echte Rechtsgemeinschaft bestehen. Laut Pal bestand ein solcher Konsens aber weder vor noch nach dem Zweiten Weltkrieg.379

E. Ergebnis: Grundlagen einer allgemeinen Konzeption des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht Wie bereits in der Einleitung dieses Kapitels gesagt, offenbaren die Diskussionen über das NCSL-Prinzip im Rahmen der nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg und Tokio erfolgten Prozesse unterschiedliche Vorstellungen über das Recht im Allgemeinen und über das Völkerrecht im Besonderen, die zu unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich des NCSL-Prinzips führen. Die Grundlagen für eine generelle Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht können gerade aus diesen Argumenten und Auffassungen abstrahiert werden. Somit kann von einer Nürnberger Rechtstradition gesprochen werden, worauf im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit näher eingegangen wird.380 Dafür sollen, wie bereits am Ende des ersten Kapitels erwähnt, insbesondere drei Aspekte berücksichtigt werden: die Rolle der Strafgewalt, der herrschende Rechtsbegriff und die Konzeption der Rechtsquellen. Als Ergebnis des vorliegenden Kapitels können also die folgenden Erwägungen festgehalten werden, die sich wiederum in zwei Gruppen einteilen lassen. Die erste Gruppe umfasst die Erwägungen, die sich auf das Verständnis des Völkerstrafrechts im Allgemeinen beziehen; sie befassen sich mit Themen wie der Rolle der Strafgewalt auf internationaler Ebene oder der moralischen und politischen Konnotation des Völkerstrafrechts. Erwägungen, die spezifische Aspekte des Völkerstrafrechts wie seine Quellen, die völkerrechtliche Norm und den Kriminalisierungsvorgang auf internationaler Ebene thematisieren, bilden die zweite Gruppe.

378

Vgl. Dissenting Opinion of the Member from India, in: Documents, S. 871. Ebd., S. 873; für Pals Kritik an der am Naturrecht orientierten Rechtfertigung des Tokioter Prozesses siehe Shklar, S. 186–187, laut Shklar vertrat Pal die Ansicht, dass das naturrechtliche Argument nur zu einer Bewahrung des Status quo führen würde. 380 Wie Ferdinandusse behauptet, abgesehen von den Diskussionen über die Verletzung des NCSL-Prinzips, die diese Verurteilungen verursachten, erkannten sie einen minimalen Kern dieses Prinzips an. Insofern schreibt er: „[I]t seems more accurate to say that these prosecutions reflect a recognition of at least a minimal core of the principle, rather than not at all“, Ferdinandusse, S. 224. 379

E. Ergebnis  

191

Hinsichtlich der ersten Gruppe ist zunächst zu berücksichtigen, dass sich die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten Strafprozesse gegen die Kriegsverbrecher wesentlich von der nationalen Strafverfolgung unterschieden, die im Rahmen einer bestehenden Rechtsordnung erfolgte. Denn sie dienten zur Begründung einer neuen (internationalen) Rechtsordnung. Die Siegermächte begründeten diese Prozesse mit der Behauptung, dass in der Zwischenkriegszeit ein moralischer und politischer Konsens hinsichtlich der Strafbarkeit des Angriffskrieges erreicht worden sei. Dieser Konsens beruhe auf drei Pfeilern: (i) auf der Ablehnung des (Angriffs-)Krieges als einer legitimen Staatspolitik, (ii) der auf der Leitidee der „Menschlichkeit“ beruhenden Notwendigkeit eines Mindestmaßes an Achtung der Rechte der eigenen Bevölkerung und (iii) auf der Annahme, dass die internationalen Beziehungen dem Recht untergeordnet werden und somit Staatsoberhäupter auf internationaler Ebene individuelle strafrechtliche Verantwortung tragen sollten. Die Diskussionen über das NCSL-Prinzip im Rahmen des Völkerstrafrechts fanden in diesem Kontext statt. Dabei ist jedoch zu betonen, dass die Alliierten hinsichtlich der Erforderlichkeit der Achtung von Rechten der eigenen Bevölkerung zurückhaltend waren. Denn durch ein entsprechendes Erfordernis konnte auch ihre eigene Souveränität im Rahmen interner Konflikte in Frage gestellt werden. Zum anderen war es schwieriger, im damals geltenden Völkerrecht Anhaltspunkte für die Bestrafung solcher Handlungen zu finden, die nur die eigene Bevölkerung betrafen. Dies kann die vergleichsweise oberflächliche Argumentation im Hinblick auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zumindest in den Nürnberger und Tokioter Urteilen, erklären. Wie bereits gezeigt, konzentrierte sich die Diskussion hinsichtlich des NCSLPrinzips in Nürnberg und Tokio vielmehr vornehmlich auf die Verbrechen gegen den Frieden. Es scheint daher ganz so, als ob zur Zeit des Zweiten Weltkriegs nur die Kriegsverbrechen unzweifelhaft Bestandteil des Völkerrechts waren.381 Die moralische und politische Konnotation, die die Aburteilung der Kriegsverbrecher von Anfang an hatte, kann anhand der Anklagen der Nürnberger und Tokioter Prozesse deutlich gesehen werden. Sowohl Robert H. Jackson (Nürnberg) als auch Joseph B. Keenan (Tokio) bezogen sich auf die Vernunft der Menschheit, um die entsprechenden Prozesse zu rechtfertigen. Sie stellten die Aburteilung der Kriegsverbrecher als einen Kampf des Guten gegen das Böse um das Überleben der Zivilisation dar. Der sowjetische Hauptankläger im Nürnberger Prozess, Roman Rudenko, hob seinerseits hervor, dass die Nationalsozialisten einen ganzen Staat zur Begehung ungeheuerlicher Verbrechen instrumentalisiert hätten. Auch der britische Hauptankläger, Hartley Shawcross, betonte insofern, dass der Nürnberger Prozess zeigen solle, dass das Recht über das Unrecht triumphieren könne und dass das Individuum über den Staat zu stellen sei.

381

Vgl. Minear, S. 62; insofern auch UNWCC, History, S. 231–232.

192

2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

Die Argumentation der Ankläger dieser Prozesse zeigt damit eindeutig, dass dieser erste erfolgreiche Versuch zur Bestrafung internationaler Verbrechen durch internationale Tribunale weit davon entfernt war, auf einem positivistischen Verständnis des Rechts zu fußen, nach dem das NCSL-Prinzip strikt verstanden wird. Die Entscheidung zur Aburteilung der Kriegsverbrecher drückte folglich das Vertrauen auf das Recht als Friedensordnung aus, die der Verwirklichung bestimmter Werte dienen sollte. Infolgedessen wurde die Aburteilung der Kriegsverbrecher gleichzeitig als Gerechtigkeits- und als Gnadenakt verstanden: Die von den angeklagten NS-Machthabern und den japanischen Kriegsverbrechern zum Ausdruck gebrachte Missachtung des Rechts müsse mittels ihrer rechtlichen Aburteilung kompensiert werden. Ohne diese Strafprozesse hätten sie keine Chance, für ihr Leben zu plädieren. Mithilfe dieser Prozesse wollten die Alliierten insofern zeigen, dass sie auf der Seite des Rechts stünden. Folglich beanspruchten sie auch die moralische Überlegenheit für sich. Die Strafverfolgung wurde deshalb nicht nur durch den Sieg gerechtfertigt, sondern auch durch die Idee der Gerechtigkeit, der die internationale Strafjustiz zur Durchsetzung verhelfen sollte. Es handelte sich aber nicht um ein legalistisches Verständnis von Gerechtigkeit, wonach eine rechtliche Entscheidung gerecht ist, solange sie aufgrund klarer und vorher geltender Regeln getroffen wird. Kelsen zufolge wird die Gerechtigkeit in diesem Sinne allein durch die Übereinstimmung der jeweiligen Entscheidung mit dem geltenden Recht definiert, unabhängig vom Inhalt der angewendeten Rechtsnormen.382 Im Rahmen der Aburteilungen der Kriegsverbrecher mussten jedoch auch weitere, mit der Rechtssicherheit als Grundwert des Rechts konkurrierende Werte, vor allem die Achtung wesentlicher Rechte des Individuums und die Friedlichkeit der zwischenstaatlichen Beziehungen, berücksichtigt werden. In diesem Kontext ist daher mit dem Begriff der Gerechtigkeit gerade die Verwirklichung bzw. Durchsetzung dieser Werte gemeint. Die von den Alliierten beanspruchte moralische Überlegenheit erlaubte es ihnen, die sich aus dem NCSL-Prinzip ergebenden Einwände durch naturrechtliche Argu­mente zurückzuweisen. Dies kann z. B. in der Argumentation von Jackson vor dem Nürnberger IMG oder in den separate opinions der Richter Webb und 382 Laut Kelsen kann die Gerechtigkeit nicht rational bewiesen werden und deshalb nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis sein. Daher liegt die Bestimmung der Gerechtigkeit innerhalb einer positiven Rechtsordnung außerhalb der Möglichkeiten der Rechtswissenschaft. Kelsen versteht beispielsweise unter sozialer Gerechtigkeit die kollektive Erfüllung bestimmter Bedürfnisse: „[J]ustice is social happiness“, Kelsen, Harv. L. Rev. 1941–1942, 44 (45). In diesem Zusammenhang seien vielmehr Emotionen und politische Überzeugungen, d. h. subjektive Behauptungen, relevant. Gerechtigkeit im legalistischen Sinne bedeutet also die Anwendung von Rechtsnormen. Aus diese Weise sind Gerechtigkeit und Legalität gleichgesetzt: „‚[J]ustice‘ in this sense means legality; it is ‚just‘ for a general rule to be actually applied in all cases where, according to its content, this rule should be applied […] without regard to the value of the general rule itself“, ebd., S. 49; siehe auch Kelsen, General Theory, S. 5 ff. und Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 26; zur Gerechtigkeit im legalistischen Sinne siehe auch Shklar, S. 74 und 113 ff.

E. Ergebnis  

193

Bernard im Rahmen des IMTFO gesehen werden. Im Rahmen dieser Argumentationen spielten die Ideen vom gerechten Krieg (in Bezug auf die Verbrechen gegen den Frieden) und von laws of humanity, also die sog. Martens’sche Klausel (in Bezug auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit),383 eine bedeutsame Rolle. In diesem Zusammenhang erscheinen der Weltfrieden und die „Menschlichkeit“ als Schutzobjekte des Völkerstrafrechts. Darüber hinaus zeigen die Argumente bzgl. des NCSL-Prinzips und der Befugnisse der Tribunale, die im vorliegenden Kapitel zusammengefasst wurden, dass sich die internationale Strafbarkeit nicht aus den Statuten dieser Tribunale ergibt.384 Wenn dies der Fall wäre, wären diese Verurteilungen wegen der Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit offensichtlich retroaktiv. Die Anerkennung dieser Hypothese würde die Ablehnung des NCSLPrinzips im Rahmen des Völkerstrafrechts aus positivistischen, politischen oder pragmatischen Gründen bedeuten, sofern man die Legitimität der Aburteilung der Kriegsverbrecher nicht in Frage stellen wollte. Entsprechend argumentierten die Richter Jaranilla und Rölling im Rahmen des IMTFO. Diese Auffassung konnte aber unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg plausibel vertreten werden, da das NCSL-Prinzip damals im positiven Völkerrecht nicht geregelt war. Wie im vierten Kapitel gezeigt wird, änderte sich diese Situation allerdings kurz danach mit der Entwicklung der Menschenrechte auf völkerrechtlicher Ebene. Die Prozesse der Nachkriegszeit zeigen aber deutlich, dass auf völkerrechtlicher Ebene zwischen der Errichtung eines Tribunals samt seiner Zuständigkeitsbestimmung in materiellrechtlicher Hinsicht einerseits und der Schaffung des anzuwendenden Rechts andererseits zu unterscheiden ist.385 Denn während das NCSL-Prinzip selbst bei der rückwirkenden Errichtung eines Tribunals keine Rolle spielt, gilt für das anzuwendende Recht, dass dieses im Voraus bestehen muss. Natürlich dürfen Statute, die die Zuständigkeit der Tribunale festlegen, das geltende Völkerrecht widerspiegeln bzw. systematisieren und sogar einige Definitionen aufnehmen bzw. vorschlagen. Sie müssen aber im Rahmen von Ad-hoc-Tribunalen wie dem Nürnberger IMG oder dem IMTFO ihren deklarativen Charakter beibehalten. 383

Siehe Cassese, EJIL 2000, 188, er bezeichnet die Martens’sche Klausel als „an ingeniuos blend of natural law and positivism“ (S. 189). Ihm zufolge war diese Klausel jedoch ein diplomatischer Kompromiss der Haager Friedenskonferenz von 1899 (S. 198 ff.); es sei damals aber nicht versucht worden, die „laws of humanity“ oder „the dictates of the public conscience“ als Völkerrechtsquellen festzulegen (S. 193 ff., 211). Trotzdem könne die Klausel als Kriterium zur Auslegung der Normen des humanitären Völkerrechts herangezogen werden (S. 212 ff.). Cassese nimmt insofern an, dass die Klausel das Verständnis der Völkerrechtsquellen insbesondere bzgl. der Voraussetzungen des Völkergewohnheitsrechts beeinflusst hat: „[A] rguably, the Martens Clause operates within the existing system of international sources but, in the limited area of humanitarian law, loosens the requirements prescribed for usus, while at the same time elevating opinion (iuris or necessitatis) to a rank higher than that normally admitted“, S. 214; siehe insofern auch Meron, Am. J. Int’l L. 2000, 78 (88); Schircks, S. 168. 384 Ähnlich in Bezug auf den Nürnberger IMG auch Zahar/Sluiter, S. 80. 385 Vgl. insofern Meron, Am. J. Int’l L. 1995, 554 (561); Gallant, S. 318–319.

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

Hinsichtlich der zweiten Gruppe muss hier daran erinnert werden, dass sich die konkreten Elemente zum Aufbau des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht vor allem aus den Diskussionen über die Strafbarkeit des Angriffskrieges und über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit ergeben. Deswegen sollen die wichtigsten Punkte beider Diskussionen zuerst getrennt dargestellt werden. Anschließend wird versucht eine Synthese zu erarbeiten. Aus der Diskussion über die Verbrechen gegen den Frieden entwickelten sich somit drei Ideen, die wesentlich für die weitere Entwicklung des Völkerstrafrechts und für die Frage nach seinen Rechtsquellen gewesen sind. Als Erstes ist festzuhalten, dass auf völkerrechtlicher Ebene straf­rechtliche Konsequenzen wegen der Verletzung der sich aus völkerrechtlichen Verträgen ergebenden Pflichten bereits durch das Bestehen einer „Tendenz“ begründet werden können. Darüber hinaus muss zweitens die Strafbarkeit einer bestimmten Handlung nicht explizit durch eine formelle Rechtsquelle im Voraus bestimmt werden. Das Verbot der Handlung wurde immerhin in diesem Fall durch das geschriebene Recht begründet, nämlich durch den BKP. Daraus könnte man schließen, dass das Verbot der Handlung im Völkerstrafrecht einer Basis im positiven Völkerrecht bedarf. Drittens ist der Vertrauensschutz schwächer ausgeprägt, wenn es um internationale Verbrechen geht. Denn die Grausamkeit bestimmter Handlungen erlaubt die Schlussfolgerung, dass diese strafbar sind. Wie später noch ausführlicher erklärt wird, bilden diese drei Ideen den Ausgangspunkt für die Bestimmung eines Mindeststandards bzgl. der Legalität im Völkerstrafrecht. Im Hinblick auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit muss darauf hin­ gewiesen werden, dass zwei sich ergänzende argumentative Strategien angewendet wurden. Dies erlaubt es auch, die Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht und den hiervon vorausgesetzten Rechtsbegriff zu präzisieren. Zuerst ist die von Gallant erörterte retroactive-re-characterization-Theorie zu erwähnen. Danach darf eine Handlung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft werden, wenn ihre Strafbarkeit bereits in einer anderen Rechtsordnung bzw. in einem anderen Rechtsbereich im Voraus vorgesehen wurde, solange eine für den Angeklagte bindende Rechtsnorm zum Zeitpunkt der Tatbegehung gültig gewesen wäre, selbst wenn eine andere Bezeichnung für die jeweilige Straftat verwendet wird. Diese Auffassung kann in der Argumentation von Hartley Shawcross gesehen werden sowie in den Urteilen des Nürnberger IMG und des Einsatzgruppen-Prozesses. Zweitens muss der auch in der Argumentation des französischen Hauptanklägers de Menthon und in den Erwägungen der Tribunale im Einsatzgruppen-Prozess sowie im Juristen-Prozess erfolgte Verweis auf den Begriff der „Menschlichkeit“ betont werden. Es geht hierbei um die Annahme, dass internationale Straftaten, insbesondere die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein bestimmtes Merkmal bzw. einen besonderen Aspekt aller Menschen verletzen. Vor diesem Hintergrund wurde behauptet, dass ihre Begehung nicht nur die durch die Taten unmittelbar betroffene Bevölkerung, sondern die ganze Menschheit betreffe, und dass ihre Strafverfolgung deshalb keine geografischen Grenzen kennen

E. Ergebnis  

195

dürfe. Somit dürften massenhafte Verletzungen der dem Menschen inhärenten Rechte auch ohne eine vorherige explizite und geschriebene Rechtsgrundlage, in der ihre Strafbarkeit festgeschrieben wurde, bestraft werden, da sie von sich aus strafbar seien. Darüber hinaus sei weder eine konsistente wiederholte Praxis der Staaten, noch ihre einstimmige bzw. mehrheitliche Akzeptanz zur Bestrafung solcher Grausamkeiten erforderlich. Zumindest habe dies keinen konstitutiven Charakter. Die sich stellende Frage lautet: Wie (oder wann) lässt sich dann überhaupt das Bestehen einer völkerstrafrechtlichen Norm verifizieren? Um diese Frage beantworten zu können, muss eine Synthese zwischen den Erwägungen konstruiert werden, die in den (internationalen) Strafprozessen der Nachkriegszeit sowohl bzgl. des Angriffskrieges als auch hinsichtlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angestellt wurden. Der Ausgangspunkt ist damit die Unterscheidung zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm.386 Eine strafrechtliche Norm besteht aus zwei Elementen, nämlich einem Verbot und einer Sanktionsandrohung. Strafrechtlich gesehen sind beide Aspekte notwendig, da sie verschiedene Aufgaben erfüllen. Das Verbot weist darauf hin, welche Handlung oder Unterlassung rechtlich verboten ist, wohingegen die Sanktionsandrohung klarstellt, dass die Begehung der verbotenen Tat bestraft wird.387 Beide Aspekte können sich in derselben rechtlichen Bestimmung bzw. Vorschrift befinden, wie dies vom Straftatbestandsbegriff vorausgesetzt wird,388 müssen es aber nicht. Aus den (internationalen) Strafprozessen der Nachkriegszeit ergibt sich also, dass gerade im Völkerstrafrecht das Verbot und die Strafbarkeit einer Handlung als zwei getrennte Aspekte betrachtet werden müssen. Aus den Diskussionen, die 386 Zum Unterschied zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm siehe Kindhäuser, § 2 Rn. 2–5; siehe auch Freund, § 1 Rn. 12 („Strafrecht als sekundäre Normenordnung“), § 1 Rn. 20; bzgl. des Völkerstrafrechts siehe Bock, ZIS 2017 410 (410). Diese Unterscheidung kann auf Bindings Unterscheidung zwischen Norm und Strafgesetz zurückgeführt werden. Danach liegen die Strafgesetze den Normen zugrunde. Der Verbrecher handele im Einklang mit der sich im ersten Teil des Strafgesetzes befindenden Beschreibung der Tat und dadurch übertrete er die jeweilige zugrunde liegende Norm. Die Normen sind somit mittels Abstraktion aus dem ersten Teil der Strafgesetze abzuleiten. Die Sanktionsandrohung ist also kein Bestandteil der Norm (Binding, Handbuch, S. 155–164; Binding, Die Normen, S. 3 ff. und 23 ff.). Dies bedeutet, dass die Rechtswidrigkeit der Handlung unabhängig der Strafandrohung sei; Kaufmann behauptete insofern: „Die Strafgesetze legen also fest, welches Delikt strafbar ist und wie die Strafe zu bemessen ist“, Kaufmann, Armin, S. 15. Der Unterschied zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm als ein charakteristisches Element des Völkerstrafrechts wurde bereits 1971 von Claude Lombois anerkannt (vgl. Lombois, S. 50 ff.). Allerdings ist auch die Meinung vertreten worden, der zufolge das Verbot einer Handlung allein im Kontext des Völkerrechts ihre Strafbarkeit implizieren kann, siehe z. B. Bantekas, International, S. 12: „[T]he prohibition of certain conduct by treaty or custom always entails criminal liability under international law“. Dies entspricht aber nicht der Argumentationsweise internationaler Straftribunale, wie im vorliegenden Kapitel in Bezug auf die Strafprozesse der Nachkriegszeit gezeigt wurde (siehe dazu auch das vierte Kapitel der vorliegenden Arbeit). 387 Vgl. Lombois, S. 51. 388 Siehe oben, erstes Kapitel, C. II. 5.

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2. Kap.: Grundlagen einer Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht

in diesen Prozessen stattfanden, folgt, dass im Lichte des NCSL-Prinzips für jeden dieser beiden Aspekte ein eigener Standard gilt. Wie bereits erwähnt, ist es möglich zu behaupten, dass das Verbot der Handlung in einer vor der Begehung der Tat geltenden positiven Völkerrechtsquelle begründet sein muss. Dies ergibt sich etwa aus den Diskussionen hinsichtlich des BKP und der Strafbarkeit des Angriffskrieges sowie aus dem Verweis auf die Haager Abkommen zur Begründung der Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Martens’sche Klausel. Im Unterschied dazu kann, wie hier vorgeschlagen wurde, die Strafbarkeit durch eine „Tendenz“ begründet werden.389 Diese „Tendenz“ beziehe sich nicht nur auf die Staatenpraxis im Rahmen der internationalen Beziehungen, wie etwa offizielle Aussagen, zwischenstaatliche Verhandlungen, Entwürfe internationaler Abkommen oder Deklarationen, sondern könne sogar durch die innerstaatliche Praxis begründet werden, wie z. B. durch die nationale Gesetzgebung oder Rechtsprechung.390 Das Erfordernis einer solchen „Tendenz“ soll ein Mindestmaß an Sicherheit hinsichtlich der Möglichkeit einer Aburteilung gewährleisten.391 Aus der Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit folgt, dass die völkerstrafrechtliche Norm fragmentiert sein kann. Es kann also notwendig sein, die Norm durch die Interpretation verschiedener Rechtsquellen, wie z. B. der völkerrechtlichen Verträge und des Völkergewohn­heitsrechts, aus unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Rechtsgebieten des Völkerrechts (wie z. B. das humanitäre Völkerrecht) zu rekonstruieren. Das Phänomen der Interlegalität kann somit sogar bei der Geburt des Völkerstrafrechts gefunden werden.392 Wie auch Bassiouni vertritt, muss man deshalb im Kontext des Völkerstrafrechts vielleicht eher von nullum crimen sine jure als von nullum crimen sine lege sprechen.393 Die im vorliegenden Kapitel dargelegten Erwägungen erlauben also den Schluss, dass die Kriminalisierung einer Handlung auf internationaler Ebene nicht in 389 Der Terminus „Tendenz“ wurde im Kontext des völkerrechtlichen NCSL-Prinzips auch von Shahabuddeen verwendet, aber im Sinne einer schrittweisen Entwicklung des Rechts durch Gerichte. Deshalb spricht er von „judicial tendency“, wenn er sich auf die Vorhersehbarkeit einer solchen Entwicklung bezieht, siehe Shahabuddeen, J. Int’l Crim. Just. 2004, 1007 (1016). 390 Laut Lombois ist zumindest in Bezug auf das Verhaltensgebot eine geschriebene Norm notwendig, obwohl es auch aus dem Völkergewohnheitsrecht stammen könne; im Unterschied dazu behauptet er hinsichtlich der Sanktionsandrohung, dass sie weder eines Textes noch einer „Gewohnheit“ bedürfe, insofern hält er fest: „Mais pour que la coutume puisse donner naissance à la norme de répression, il faudrait une coutume de la transgression […] Autrement dit, la coutume, en matière pénale, est purement négative […] Et c’est précisément en cela que la norme de répression ne répondrait pas au principe de légalité. Et elle ne peut pas y répondre. Tel est le sens du particularisme de la legalité internationale“, Lombois, S. 51–52; im Gegensatz dazu wird in der vorliegenden Arbeit die Meinung vertreten, dass zur Annahme der Strafbarkeit zumindest gewisse Anhaltspunkte im bei der Begehung der Tat geltenden Völkerrecht vorhanden sein müssen. 391 An dieser Stelle stellt sich eine weitere Frage: Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem hier vorgeschlagenen Konzept von „Tendenz“ und den Völkerrechtsquellen, wie z. B. dem traditionellen Begriff des Völkergewohnheits­rechts? Dies soll später beantwortet werden. 392 Zur Interlegalität im Völkerrecht siehe Fischer-Lescano/Teubner, S. 34 ff. 393 Vgl. Bassiouni, Crimes, S. 305–306.

E. Ergebnis  

197

einem bestimmten Moment erfolgen muss. Es kann sich vielmehr auch um einen schrittweisen Vorgang handeln, bei dem verschiedene Elemente zusammen­wirken. Aus dem Fehlen eines festen Verfahrens zur Rechtserzeugung folgt ein „Defizit“ an Formalität,394 das jedoch durch die vom Völkerstrafrecht beanspruchte moralische Überlegenheit kompensiert werde. Je informeller der Kriminalisierungsvorgang im Völkerstrafrecht sei, desto höher müsse die moralische Vorwerfbarkeit der Tat und offensichtlicher die Notwendigkeit ihrer Bestrafung sein. Diese Behauptung ist ohnehin problematisch, weil sie von der Existenz eines (mehr oder weniger) stabilen moralischen Konsens ausgeht. Ein solcher Konsens ist nicht stets einfach zu beweisen, und die Staatenpraxis ist nicht immer konsistent mit ihm, wie Richter Pal in seiner Dissenting Opinion zeigte. Aus den (internationalen) Strafprozessen der Nachkriegszeit ergibt sich also ein subjektives und moralisiertes Verständnis des NCSL-Prinzips, wobei Ausdrücke wie „moral sense of mankind“ oder „common heritage of civilized people“ wichtige Bezugspunkte zur Feststellung der Legalität einer Aburteilung bilden können. Demnach war es wichtiger, dass der Angeklagte wusste, dass er für seine Taten bestraft werden könnte, als dass eine konkrete Rechtsgrundlage existierte, in der die Strafbarkeit der Tat explizit vorgesehen war.395 Des Weiteren ist davon auszugehen, dass das NCSL-Prinzip im Rahmen des Völkerstrafrechts keinen Selbstzweck darstellt, sondern seine rechtliche und moralische Bedeutung von den Werten bzw. Ideologien abhängt, die durch seine Achtung oder Beschränkung in einem bestimmten Kontext verwirklicht werden sollen. Ein striktes Verständnis des NCSL-Prinzips ist demnach dann abzulehnen, wenn dies die Bestrafung der Vertreter eines autoritären, verbrecherischen Regimes verhindern würde; ebenso ist aber auch eine eingeschränkte bzw. flexible Konzeption des Prinzips dort zu verneinen, wo dies eine verbrecherische Ideologie unterstürzen würde. Hinter diesem Verständnis des NCSL-Prinzips steht ein materieller Rechtsbegriff, dem zufolge das Recht kein einfaches Normensystem ist, unabhängig von seinem Inhalt, sondern ein Normensystem, in dem individuelle Rechte und Freiheiten geachtet werden müssen und in dem die Rechtssicherheit allein nicht den wichtigsten Wert der Rechtsordnung darstellt.

394

In diesem Sinne kann die von Ambos erwähnte „Entformalisierung“ bzw. „normative Aufladung“ des NCSL-Prinzips verstanden werden, siehe Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 42. 395 Das folgende Zitat der UNWCC erlaubt es, diesen Punkt zu bestätigen: „What is quite clear is that, when they [die Nazis] started the war they were or should have been fully aware that they were committing a crime […] they could not have failed to realized the enormity of their purpose and acts […] Even if I were wrong […] all that was lacking was some precise enunciation of positive law and punishment […] the definition of a clear and atrocious moral offence as being also an offence of positive law can be lawfully made by the competent court or legislature“, UNWCC, History, S. 19.

Drittes Kapitel3

Rezeption der im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg festgelegten Grundlagen: die theoretischen Prämissen der Entwicklung des Völkerstrafrechts und das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher stellte den Ausgangspunkt eines wichtigen Wandlungsprozesses im Völkerrecht dar. Die Vorstellung des Völkerrechts als zwischen souveränen Staaten geltende Koordinationsordnung, dessen Zentrum der Staat als unabhängige politische Entität war,1 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine Konzeption des Völkerrechts ersetzt, der zufolge die Aufgabe des Völkerrechts auch und vor allem im Schutz des Individuums besteht, wenn nötig vor der staatlichen Macht.2 Diese Wandlung, die als „the human rights turn in international law“ bezeichnet worden ist,3 steht in engem Zusammenhang mit der Erkenntnis, dass sich die Legitimation bzw. Verbindlichkeit des Rechts aus der Achtung eines ethischen Minimums ergibt. Dabei spielte die Entwicklung der internationalen Menschenrechte, wo das NCSL-Prinzip mit gewissen Grenzen vorgesehen und angewendet worden ist, auch eine wesentliche Rolle.4 Um eine allgemeine Konzeption des NCSL-Prinzips im Rahmen des Völkerstrafrechts feststellen zu können, sollen vor diesem Hintergrund die theoretischen Prämissen, die hinter einer solchen Konzeption stehen bzw. die theoretischen Wurzeln des Völkerstrafrechts, identifiziert werden.

1

Das folgende Zitat von Jellinek verdeutlicht diesen Punkt: „Der wesentliche Unterschied des Völkerrechts von dem Staatsrechte liegt darin, daß in jenem keine Verhältnisse der Überund Unterordnung reguliert werden, es vielmehr ein Recht zwischen Koordinierten ist. Und zwar sind die das Völkerrecht setzenden Autoritäten und zugleich die von ihm verpflichteten Subjekte die Staaten selbst“, Jellinek, Allgemeine, S. 376; das Völkerrecht ist Jellinek zufolge ein „anarchisches Recht“, ebd., S. 379. 2 Laut Schöbener und Knauff wandelte sich das Völkerrecht nach 1945 von einer Koordinations- zu einer Kooperationsordnung; dies sei insbesondere durch die Gründung der VN geschehen; in diesem Kontext weise das Völkerrecht gewisse „verfassungsrechtliche“ Eigenheiten auf, nämlich die Friedenssicherung und den Schutz der Menschenrechte, vgl. Schöbener/ Knauff, § 7 Rn. 29 ff. 3 Vgl. Cogan, Harv. Int’l L. J. 2011, 321 (333 ff.); skeptisch dazu Grewe, Epochen, S. 749 ff.; siehe auch insofern JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 97: „[P]articularly after the adoption of the Universal Declaration of Human Rights in 1948 […] A Statesovereignty-oriented approach has been gradually supplanted by a human-being-oriented approach“. 4 Dazu unten, viertes Kapitel, A.

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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Das Ziel dieses Kapitels ist also die Rekonstruktion der in der Nachkriegszeit stattgefundenen Debatten und vorgetragenen Argumente bzgl. der Rückwirkung und des NCSL-Prinzips und damit das Herausarbeiten der theoretischen Prämissen, die der Entwicklung des Völkerstrafrechts zugrunde liegen. Auf diese Weise sollen die bereits als Ergebnis des zweiten Kapitels erarbeiteten Grundlagen für eine allgemeine Konzeption des NCSL-Prinzips im Rahmen des Völkerstrafrechts theoretisch ergänzt und zugleich mit einer theoretischen Konzeptualisierung des Völkerstrafrechts verknüpft werden. Es darf somit behauptet werden, dass das vorliegende Kapitel sich vor allem mit zwei der drei am Ende des ersten Kapitels erwähnten Aspekte beschäftigt, die auch hinsichtlich des Völkerstrafrechts thematisiert werden sollen, um die Konzeption des NCSL-Prinzips in dieser Rechtsordnung rekonstruieren zu können: die Rolle der Strafgewalt (auf internationaler Ebene) und der in diesem Kontext einflussreichste Rechtsbegriff. Die im vorliegenden Kapitel erörterten rechtstheoretischen Erwägungen dienen hierbei allerdings nicht der Lösung komplexer rechtstheoretischer bzw. philosophischer Fragen, wie z. B. dem Zusammenhang zwischen Recht und Moral. Dies würde eine spezifische rechtstheoretische Forschung verlangen, die außerhalb der Grenzen dieser Arbeit läge. Trotzdem wird insofern auf diese Themen eingegangen, soweit dies mit Blick auf das allgemeine Ziel der vorliegenden Arbeit, d. h. die Festlegung eines Mindeststandards für das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht, nötig ist.

A.Spannung zwischen theoretischen Ansätzen in der Diskussion der Nachkriegszeit: Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht Im Allgemeinen kann festgehalten werden, dass die Anerkennung der individuellen strafrechtlichen Verantwortung jenseits der staatlichen Souveränität, d. h. auf der Grundlage des Völkerrechts, selbst für die Fälle, in denen die Strafbarkeit nicht im Voraus in einer formellen Norm kodifiziert worden war, eine der wichtigsten Neuerungen der Strafprozesse der Nachkriegszeit, insbesondere des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, darstellt.5 Die Probleme, die sich hieraus aufgrund des NCSL-Prinzips ergeben, wurden damals mithilfe zweier argumentativer Strategien umgangen. Einerseits wurde vertreten, dass die völkerrechtliche Strafbarkeit, zumindest in gewissem Masse, rückwirkend sein dürfe. Demnach wurde akzeptiert, dass das NCSL-Prinzip unter bestimmten Umständen nicht zu beachten sei bzw. dass es einige Ausnahmen zulasse. Für diese Ansicht wurden politische und pragmatische Argumente vorgetragen. In diesem Sinne können Richter Röllings Dissenting Opinion und Richter Jaranillas Concurring Opinion gesehen werden. Insbesondere wurde vertreten, dass das Völkerstrafrecht sich durch richterliche Entscheidungen weiterentwickeln solle, wenn sich neue Si 5

Vgl. Schabas, Unimaginable, S. 53.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

tuationen ergeben würden, die die Anwendung neuer rechtlicher Kriterien erforderlich machen, und dass die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher notwendig sei, um z. B. zukünftige Angriffskriege zu verhindern. Andererseits sind die Auffassungen zu nennen, die nachzuweisen versuchten, dass eine Rechtsgrundlage für die Strafbarkeit bereits vor dem Krieg bestanden habe. Diese bezogen sich sowohl auf naturrechtliche Konzepte als auch auf Anhaltspunkte, die ihrer Meinung nach eine Strafbarkeit infolge des Völkergewohnheitsrechts belegten. Dieser Ansatz schloss eine Verletzung des NCSL-Prinzips deshalb aus, weil die Verurteilungen schon keinen rückwirkenden Charakter gehabt hätten. Insofern sind etwa die Urteile der Juristen- und Einsatzgruppenprozesse, Präsident Webbs Separate Opinion und Richter Bernards Dissenting Opinion zu sehen.6 Es muss allerdings auch darauf hingewiesen werden, dass diese beiden argumentativen Strategien oft parallel vertreten wurden, z. B. im Nürnberger Urteil oder bei der Argumentation der Hauptankläger im Nürnberger und im Tokioter Prozess. Die im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit dargestellten Auffassungen stützen sich auf verschiedene theoretische Ansätze, die in der damaligen Fachliteratur über das Rückwirkungsverbot und hinsichtlich der im Kontext der internationalen Sraftribunale möglichen Verletzung des NCSL-Prinzips vertreten wurden. Um die theoretischen Wurzeln des Völkerstrafrechts zu ermitteln, ist die Rekonstruktion dieser Debatte sinnvoll. Auf diese Weise sollen zwei Aspekte erklärt werden, die eng miteinander verbunden sind und die die Handhabung der Rückwirkung durch die internationalen Straftribunale bestimmt haben. Zum einen sind es die Konzeptionen des Völkerrechts, die sowohl hinter den kritischen als auch hinter den rechtfertigenden Analysen dieser Prozesse standen. Zum anderen sind dies die rechtstheoretischen Ansichten bzgl. des Verhältnisses zwischen Recht und Moral, die dieser Entwicklung des Völkerstrafrechts zugrunde lagen.

I. Die Diskussion der Nachkriegszeit als Kontext der Begegnung zweier Rechtstraditionen In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen in den angloamerikanischen und deutschen Rechtskreisen mehrere Aufsätze und Bücher, die sich der Aburteilung der Kriegsverbrecher widmeten. Einige Autoren stellten die völkerrechtliche Strafbarkeit der in diesen Strafprozessen zugerechneten Taten in Frage, während andere Autoren die Aburteilungen rechtfertigten. In diesen Debatten wurden das Problem der rückwirkenden Bestrafung internationaler Verbrechen und die sich daraus ergebende mögliche Verletzung des NCSL-Prinzips thematisiert. Die damals vertretenen Positionen waren sehr eng mit bestimmten theoretischen Ansichten über das Recht im Allgemeinen und über das Völkerrecht im 6 Schabas bezeichnet diese beiden argumentativen Strategien metaphorisch als „big bang theory“ und „steady state theory“, ebd., S. 53 ff.

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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Besonderen verbunden. Die Rekonstruktion dieser theoretischen Spannungen erlaubt es, die theoretischen Prämissen zu ermitteln, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Begründung der Bestrafung massenhaften Unrechts und der Strafverfolgung von Kriegsverbrecher dienten. Die Relevanz dieser Prämissen beschränkt sich nicht auf die damals durchgeführten internationalen Strafprozesse. Sie erlauben es vielmehr auch, den Kriminalisierungsprozess hinsichtlich der internationalen Verbrechen und daher die weitere Entwicklung des Völkerstrafrechts zu verstehen. Es wird hier davon ausgegangen, dass das Verständnis der hinter der Entwicklung des Völkerstrafrechts stehenden theoretischen Prämissen notwendig ist, um die Handhabung der Rückwirkung durch die internationalen Straftribunale begreifen zu können und auf diese Weise eine allgemeine Konzeption des NCSLPrinzips im Rahmen des Völkerstrafrechts herauszuarbeiten. Als Ausgangpunkt sind zwei Unterschiede zwischen dem angloamerikanischen und dem deutschen Rechtsverständnis zu erwähnen, die laut Burchard die unterschiedliche Würdigung des Nürnberger Urteils in beiden Kontexten erklären können. Der erste Unterschied bezieht sich auf die in jedem Kontext angewendeten Begrifflichkeiten. In der angloamerikanischen Rechtstradition werde üblicherweise bei der Analyse des NCSL-Prinzips der Ausdruck „law“ bzw. „jus“ verwendet, der neben dem geschriebenen Recht auch nicht positivierte Prinzipien umfasse;7 während sich das NCSL-Prinzip im deutschen Kontext auf den Begriff des „Gesetzes“ bzw. „lex“ beziehe und damit nur auf geschriebenes Recht.8 Das angloamerikanische Rechtsverständnis neige somit eher dazu, rechtliche und moralische Aspekte zu verbinden.9 Als zweiter Unterschied zwischen den Rechtstraditionen sei es im angloamerika­nischen Rechtsbereich deshalb einfacher, die Strafbarkeit einer Handlung aus ihrer Rechtswidrigkeit herzuleiten;10 wohingegen die verbotene Handlung nach dem deutschen Rechtsverständnis gesetzlich und ausdrücklich unter Strafe gestellt sein müsse, damit sie strafbar sein könne. Dies kann insbesondere auch an Feuerbachs Formulierung des NCSL-Prinzips und Bellings Erfordernis der Tatbestandsmäßigkeit gesehen werden.11 Diese Überlegungen sind im Allgemeinen zutreffend. Trotzdem waren die in jedem Rechtskreis ausgetragenen Debatten viel komplexer. Insbesondere kann auch innerhalb jedes Rechtskreises der Einfluss verschiedener theoretischer Ansichten gefunden werden.12 Deswegen ist eine nähere Betrachtung dieser Debatten erforderlich, damit die gemeinsamen Punkte der in beiden Kontexten erfolgten Begründungen der internationalen Strafprozesse gegen die Kriegsverbrecher ermittelt werden können. 7 Vgl. Burchard, J. Int’l Crim. Just. 2006, 800 (827); Peristeridou, S. 72–73; siehe oben, erstes Kapitel, C. I. 4. 8 Vgl. Burchard, J. Int’l Crim. Just. 2006, 800 (827); siehe oben, erstes Kapitel, C. II. 3., 4. und 5. 9 Vgl. Burchard, J. Int’l Crim. Just. 2006, 800 (827). 10 Ebd. 11 Ebd., S. 828. 12 Siehe oben, erstes Kapitel, C.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

II. Die Diskussion im Common-Law-Rechtskreis In der wissenschaftlichen Literatur des Common-Law-Rechtskreises wurden in der Nachkriegszeit verschiedene Aspekte der Strafprozesse gegen die Kriegsverbrecher diskutiert. Dabei wurde gefragt, ob das NCSL-Prinzip in diesen Prozessen beachtet wurde. Insbesondere wurde das Problem der Rückwirkung einiger Bestimmungen der LC thematisiert, vornehmlich von Art. 6 (a) und (c), Art. 7 und Art.  8.13 Die folgende Darstellung fokussiert sich insbesondere auf die Argumente bzgl. der möglichen Rückwirkung von Art. 6 (a) und (c). Denn dies erlaubt es, die Frage nach dem Kriminalisierungsvorgang bestimmter Handlungen im Völkerstrafrecht zu beantworten und die Elemente einer allgemeinen Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht zu konkretisieren und theoretisch zu begründen. Zunächst muss beachtet werden, dass die von jedem Autor vertretene rechtstheoretische Ansicht über das Völkerrecht den entscheidenden Aspekt für die Bewertung der Prozesse sowie für die Auffassungen über das NCSL-Prinzip darstellt.14 Infolgedessen können im Rahmen der Diskussion drei verschiedene theoretische Auffassungen identifiziert werden: Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht. Dabei stellten die positivistischen Ansätze einerseits und eine Kombination aus pragmatischen Argumenten und am Naturrecht orientierten Auffassungen andererseits die wichtigsten Gegenpositionen dieser Debatte dar.15 1. Die positivistischen Auffassungen Die hier als positivistisch beschriebenen Auffassungen gingen von zwei theoretischen Ausgangspunkten aus. Zum einen beruhten sie auf John Austins These, der zufolge das Recht im eigentlichen Sinne sich aus dem Willen einer souveränen politischen Autorität ergebe und insofern die Rechtsnorm einen Befehl – a command  – darstelle.16 Zum anderen gingen sie von einem Souveränitätsbegriff im 13 Wie bereits erwähnt, behandeln Art. 6 (a) und (c) die Verbrechen gegen den Frieden und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Art. 7 sieht die strafrechtliche Verantwortung von Staatsoberhäuptern vor und Art. 8 lehnt das Handeln auf Befehl als Rechtsfertigungsgrund ab. 14 Vgl. Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1948, 405 (405); Bosch, S. 40–41. 15 Vgl. Bosch, S. 40–41. 16 Vgl. Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1948, 405 (405); Bosch, S. 42; siehe Austin, S. 18 („The matter of jurisprudence is positive law: law, simply and strictly so called: or law set by political superiors to political inferiors“) und S. 29 („[A] law is a command which obliges a person or persons to a course of conduct“); laut Austin ist das Völkerrecht also kein „law properly so called“, es stelle lediglich „positive morality“ dar, d. h. „merely opinions or sentiments held or felt by men in regard to human conduct“, ebd., S. 109, 112, 123 ff.; für eine kritische Betrachtung der Analytical Jurisprudence von John Austin siehe Kelsen, Harv. L. Rev. 1941–1942, 44 (bzgl. des Normbegriffs siehe S.  54 ff., hinsichtlich des Staatsbegriffs siehe S. 65–66 und mit Blick auf den Völkerrechtsbegriff S. 66 ff.); siehe dazu auch Radbruch, LQR 1936, 530, Radbruch stellt die Schwächen und Stärken von Austins Theorie im Kontext der angelsächsischen und amerikanischen Rechtstheorie dar; siehe auch Hart, The Concept, Kapitel II, III and IV.

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Sinne von Georg Jellinek aus, dem zufolge die Souveränität als Möglichkeit staatlicher Selbstbeschränkung die Basis der völkerrechtlichen Verpflichtung des Staates darstelle.17 Die hier betrachteten positivistischen Ansätze lehnten deshalb alle Erwägungen ab, die einen apriorischen Charakter hatten, und hielten eine methodologisch strikte Trennung des Rechts von der Moral und vom gesellschaftlichem Kontext für möglich.18 Das positive (geltende)  Recht sei somit ein selbstständiges Studienobjekt. Des Weiteren könne das Recht nur vom Staat festgelegt werden, und daher habe die Rechtsordnung unabhängig von ihrem moralischen Wert und ihrer praktischen Wirkung normative Kraft.19 In diesem Kontext erscheint der Staat als einziges Völkerrechtssubjekt.20 Auf internationaler Ebene würden insofern lediglich die von Staaten ausdrücklich oder zumindest mit klarer, stillschweigender Einwilligung akzeptierten Verpflichtungen gelten.21 Diese Verpflichtungen würden dann, wie bereits gesagt, als Selbstbeschränkungen der Souveränität wirken. Sie müssten daher so restriktiv wie möglich ausgelegt werden, weil es nicht legitim sei, Selbstbeschränkungen der Souveränität zu vermuten oder aus abstrakten Prinzipien herzuleiten.22 Die positivistischen Auffassungen gingen ferner von einer induktiven Methode zur Analyse des Völkerrechts aus,23 nicht aus einer deduktiven Methode.24 Die Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft bestehe somit in der Systematisierung des existierenden Rechtsmaterials, um das geltende Völkerrecht durch Verallgemeinerungen aus den zerstreuten völkerrechtlichen Verträgen und der Staatenpraxis zu abstrahieren.25 Das Völkergewohnheitsrecht müsse somit strikt festgestellt und dürfe nicht durch einen „willkürlichen“ Verweis auf allgemeine Grundsätze 17 Vgl. Pauly, in: Die Lehre, S. XI; Jellinek führt hierzu aus: „Auch im Vertrage bleibt der Staat nur seinem Willen unterworfen, er selbst ist es, der sich bindet […] wie überhaupt alle völkerrechtlihen Beschränkungen des Staatswillens für ihn nur gelten, insofern und weil er sie gewollt hat“, Jellinek, Die Lehre, S. 23; siehe auch ebd., S. 34: „Souveränität ist […] die Eigenschaft eines Staates, kraft welcher er nur durch eigenen Willen rechtlich gebunden werden kann“; zur Selbstverpflichtungslehre und zu anderen Staatswillenstheorien siehe Ipsen, in: Völkerrecht, § 1 Rn. 20 ff.; kritisch dazu Hart, The Concept, S. 320–326. 18 Vgl. Morgenthau, Am. J. Int’l L. 1940, 260 (261). 19 Morgenthau bezeichnete diese positivistischen Ansätze als legalism, étatist, monism und agnosticism, ebd. 20 Vgl. Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1948, 405 (405). 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Schwarzenberger behauptete, die Rechtslehre solle im Allgemeinen drei Aufgaben erfüllen: die Analyse und Systematisierung des zur Verfügung stehenden Rechtsmaterials, die Bestimmung der Funktionalität der Rechtsordnung und das Vorschlagen eines besseren Rechts. Jede von diesen Tätigkeiten verlange eine bestimmte Methode. Die Induktive Methode bilde den geeigneten Weg zur Erfüllung der ersten Aufgabe, vgl. Schwarzenberger, Harv.  L.  Rev. 1946–1947, 539 (539). 24 Zur Rolle der deduktiven Methode im 17.  und 18.  Jahrhundert siehe ebd., S.  540 ff., Schwarzenberger führt hierzu aus: „[T]here was at that time a real necessity for the deductive treatment of international law“, ebd., S. 541. 25 Ebd., S. 549 ff.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

ersetzt werden.26 Vor diesem Hintergrund nahmen die Vertreter positivistischer Auffassungen eine kritische Haltung gegenüber dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher ein und stellten zwei wichtige Fragen: Worauf beruhte die Zuständigkeit des IMG hinsichtlich deutscher Politiker und Offiziere? In diesem Zusammenhang betonten sie, dass Deutschland der Errichtung des IMG nicht zugestimmt habe. Wie konnte das in die LC inkorporierte Recht für die Angeklagte bindend sein, wenn es erst 1945 in die LC explizit aufgenommen wurde?27 Die positivistische Betrachtungsweise hinsichtlich der Aburteilung der Kriegsverbrecher wurde in mehreren Aufsätzen vertreten, die während der Nachkriegszeit veröffentlicht wurden.28 Die Strafbarkeit der Kriegsverbrechen wurde von diesen Autoren nicht in Frage gestellt.29 Vielmehr nahmen Autoren wie Schwarzenberger, Finch oder Schick eine kritische Haltung bzgl. der Verbrechen gegen den Frieden ein, in der der positivistische Ansatz deutlich gesehen werden kann. Diesbezüglich sind mehrere Argumente zu erwähnen, die vor allem auf die Analyse des positiven Völkerrechts und der Staatenpraxis gerichtet waren. Schwarzenberger kritisierte beispielsweise das a minore ad majorem Argument des Nürnberger IMG, nach dem die Strafbarkeit des Angriffskrieges mit der Strafbarkeit der Verletzung der Haager Konvention IV von 1907 über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs begründet wurde. Der Angriffskrieg stellte nach Auffassung des IMG eine schwerere Tat als die Kriegsverbrechen im engeren Sinne dar. Schwarzenberger hielt dazu fest, dass die Haager Konvention unter der Annahme unterzeichnet worden sei, dass der Krieg und damit der Angriffskrieg rechtmäßig sei, und dass das Argument des IMG deshalb die entscheidende Rolle übersehe, die der Krieg im vergangenen Jahrhundert in der internationalen Politik souveräner Staaten gespielt habe.30 Darüber hinaus wurde vorgetragen, wie dies bereits von Rölling und Pal im Rahmen des Tokioter Prozesses getan worden war, dass der vom Nürnberger IMG zitierte Vertrag des VB über gegenseitige Hilfeleistung und das Genfer Protokoll von 1924 keine bindende Kraft hätten und somit kein geltendes Völkerrecht darstellen würden.31 Ferner wurde die Kriminalisierung des Angriffskrieges durch den BKP abgelehnt, da dieser Begriff im Vertrag

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Ebd. Vgl. Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1948, 405 (406–407). 28 Die folgenden Aufsätzen müssen erwähnt werden: „The Judgment of Nuremberg“ (Schwarzenberger, Tul.  L.  Rev. 1946–1947, 329), „The Nuremberg Trial and International Law“ (Finch, Am. J. Int’l L. 1947, 20), „The Nuremberg Trial and the International Law of the Future“ (Schick, Am. J. Int’l L. 1947, 770), „Justice at Nuremberg“ (Radin, Foreign Aff. 1945–1946, 369) und „Crimes against Humanity“ (Schwelb, Brit. Y. B. Int’l L. 1946, 178). 29 Vgl. Schwarzenberger, Tul. L. Rev. 1946–1947, 329 (331); Finch, Am. J. Int’l L. 1947, 20 (20–21); Radin, Foreign Aff. 1945–1946, 369 (371). 30 Vgl. Schwarzenberger, Tul. L. Rev. 1946–1947, 329 (345). 31 Ebd., S. 345–346; Finch, Am. J. Int’l L. 1947, 20 (26): „But unratified protocols cannot be cited to show acceptance of their provisions“; Schick, Am. J. Int’l L. 1947, 770 (784). 27

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nicht einmal definiert worden sei.32 Schließlich betonten diese Autoren das Verhalten einiger Länder vor dem Krieg und insbesondere die Haltung der Alliierten angesichts der Expansionspolitik Deutschlands während der nationalsozialistischen Herrschaft. Vor diesem Hintergrund betonten sie, dass der Angriffskrieg gerade nicht als internationale Straftat gewertet worden sei, und lehnten die Existenz von Staatenpraxis zu diesem Punkt ab.33 Vielmehr warfen sie den Alliierten eine Doppelmoral vor.34 Diese Autoren behaupteten in diesem Zusammenhang, dass die LC die Verbrechen gegen den Frieden rückwirkend schaffe.35 Trotzdem kritisierten sie nicht die Verletzung des NCSL-Prinzips und die daraus resultierende Ungerechtigkeit an sich. Sie befürchteten die möglichen Auswirkungen des Nürnberger Urteils – als Präzedenzfall – auf die internationalen Beziehungen und die möglichen Missverständnisse, die es verursachen könnte.36 In diesem Sinne hob beispielsweise Schwarzenberger hervor, dass die Handlungen Deutschlands und Japans einen klaren Angriff gegen alle religiösen, moralischen und rechtlichen Werte der zivilisierten Welt darstellen würden und sie deshalb politisch behandelt werden müssten und nicht unter der Fassade eines Strafprozesses.37 Ein wichtiger Punkt dieser Auffassungen war die Annahme, dass Recht und Politik zwei unterschiedliche Bereiche bilden würden, die getrennt zu betrachten seien. Der Krieg gehöre zum Bereich der Politik und lasse sich als komplexes Phänomen nicht rechtlich definieren.38 Ferner sei die Anerkennung der Neutralität des Krieges als politische Handlung eine Voraussetzung der Unabhängigkeit der Staaten. Die vom IMG vertretene Lehre des gerechten Kriegs erlaube einseitige und willkürliche Interventionen in einen Staat, da es keine neutrale Autorität gebe, die die Gerechtigkeit eines Krieges unparteiisch beurteilen könne. Der Nürnberger Prozess beweise nur, dass die Sieger ohne Weiteres ihre Gegner verurteilen könnten.39 Aus diesen Gründen wurde eine grundlegende Skepsis bzgl. der möglichen Entwicklung eines Völkerstraf 32 Vgl. Schwarzenberger, Tul. L. Rev. 1946–1947, 329 (346); Finch, Am. J. Int’l L. 1947, 20 (26); Schick, Am. J. Int’l L. 1947, 770 (784); Radin, Foreign Aff. 1945–1946, 369 (380). 33 Schwarzenberger erwähnt z. B. die geheimen deutsch-sowjetischen Protokolle vom 23.08.1939 und vom 28.09.1939 sowie die sowjetische Besetzung der östlichen Teile Polens, Schwarzenberger, Tul. L. Rev. 1946–1947, 329 (347); Finch bezieht sich beispielsweise auf die Anerkennung der deutschen Annexion Österreichs durch einige Alliierte, Finch, Am. J. Int’l L. 1947, 20 (26); in diesem Sinne fragt sich Radin: „Did the United States, did Great Britain, France and Russia become accessories after the fact in these crimes when they declined to treat them as crimes and continued‘ close relations both with the nations that had committed them and the persons who had instigated them?“, Radin, Foreign Aff. 1945–1946, 369 (381). 34 Diese Autoren kritisierten, dass die Alliierten die Fakten falsch präsentieren würden, damit sie ihre Theorien anwenden könnten, vgl. Bosch, S. 45. 35 Vgl. Schwarzenberger, Tul. L. Rev. 1946–1947, 329 (348 ff.); Finch, Am. J. Int’l L. 1947, 20 (34); Schick, Am. J. Int’l L. 1947, 770 (782); Radin, Foreign Aff. 1945–1946, 369 (380). 36 Vgl. Bosch, S. 47 ff. 37 Vgl. Schwarzenberger, Tul. L. Rev. 1946–1947, 329 (351, 358–359). 38 Vgl. Bosch, S. 47 ff. 39 Vgl. Schick, Am. J. Int’l L. 1947, 770 (771–773).

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

rechts geäußert. Die Ausübung der Strafgewalt dürfe demnach lediglich in einer bereits bestehenden Rechtsordnung erfolgen.40 Das Fehlen einer politischen und neutralen Autorität verhindere es, von einem echten Strafrecht mit einem minimalen Grad an Abschreckungseffekt auf internationaler Ebene zu sprechen.41 Diese Autoren forderten somit eine zukünftige, unparteiische Anwendung der in Nürnberg und Tokio festgelegten „Präzedenzfälle“ seitens der neu gegründeten VN, falls ein tatsächlicher Fortschritt im Völkerrecht erzielt werden solle.42 Im Unterschied zu den Verbrechen gegen den Frieden entsprachen die in diesen Aufsätzen dargelegten Auffassungen bzgl. der Verbrechen gegen die Menschlichkeit jedoch nicht immer einer positivistischen Sichtweise des Rechts. Finch erkannte z. B. bei seiner Rechtfertigung der Bestrafung dieser Taten an, dass die Achtung gewisser Grundsätze entscheidend für die Verbindlichkeit des Rechts sei. Deshalb lehnte er, wie das Tribunal im Juristen-Prozess, den bindenden Charakter des nationalsozialistischen Rechts ab.43 Auch Radin scheint sich in diesem Zusammenhang vom positivistischen Ansatz abzuwenden. Ihm zufolge war der Ausdruck „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ lediglich ein neuer Begriff, mit dem auf das Ausmaß der Taten hingewiesen werden sollte, deren Strafbarkeit aber seit jeher anerkannt gewesen sei.44 Es ist ferner bemerkenswert, dass der angeblichen rückwirkende Charakter von Art. 6 (c) LC und von Art. II Abs. 1 (c) KRG Nr. 10 in Egon Schwelbs Aufsatz nicht thematisiert wurde, obwohl es sich hierbei wohl um den ersten Aufsatz handelte, der die Verbrechen gegen die Menschlichkeit systematisch und dogmatisch aufarbeitete, und den offenen Charakter der „Definitionen“ sowohl der LC als auch des KRG Nr. 10 anerkannte.45 Nur zwei der an dieser Stelle erwähnten fünf Autoren meinten, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie die Verbrechen gegen den Frieden eine rückwirkende Neuerung der LC darstellten.46 Als Grund hierfür kann die von diesen Grausamkeiten verursachte Empörung gesehen werden. Dies zeigt aber, wie schwer es positivistischen Ansätzen fällt, der Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu erklären.

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Vgl. Schwarzenberger, Tul. L. Rev. 1946–1947, 329 (335 ff.). Vgl. Finch, Am. J. Int’l L. 1947, 20 (35). 42 Vgl. Schick, Am. J. Int’l L. 1947, 770 (771 ff.). 43 Die Alliierten sollten in diesem Fall das nationale Recht nicht respektieren, weil es „repugnant to their principles of law, justice, and individual rights“ war, vgl. Finch, Am. J. Int’l L. 1947, 20 (22). 44 Radins Auffassung entspricht der retroactive-re-characterization-Theorie, siehe Radin, Foreign Aff. 1945–1946, 369 (372). 45 Vgl. Schwelb, Brit. Y. B. Int’l L. 1946, 178 (191 ff.). 46 Vgl. Schwarzenberger, Tul. L. Rev. 1946–1947, 329 (353 ff.); Schick, Am. J. Int’l L. 1947, 770 (785). 41

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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2. Die Schwächen der positivistischen Ansätze und die am Naturrecht orientierten Auffassungen Bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auf die mangelnde Fähigkeit strikter rechtspositivistischer Ansätze hingewiesen, neue Phänomene im Völkerrecht zu erklären.47 Tatsächlich stellt die Systematisierung und die Erläuterung des geltenden Rechtsmaterials eine der wichtigsten Aufgaben der Rechtswissenschaft dar. Diese Aufgabe muss allerdings auf eine Weise verwirklicht werden, in der alle Rechtsphänomene erklärt werden können.48 Dementsprechend müssen dort, wo sich neue Phänomene zeigen, neue begriffliche Kategorien entwickelt werden. Sie dürfen nicht ohne Weiteres ausgeklammert werden.49 Dies war gerade die Schwäche der positivistischen Ansätze auf völkerrechtlicher Ebene: Im Rahmen der Nürnberger und Tokioter Prozesse musste die individuelle strafrechtliche Verantwortung auf völkerrechtlicher Ebene theoretisch erklärt und begründet werden,50 wozu die rechtspositivistischen Ansätze außerstande waren. Die mangelnde Fähigkeit der hier kommentierten positivistischen Auffassungen, bestimmte Phänomene zu erklären, wird zudem an zwei grundsätzlichen Aspekten deutlich. Zum einen können sie die Existenz und die allgemeine Geltung des Völkergewohnheitsrechts nicht erklären, da nach diesen Ansichten alle Rechtsnormen durch einen Verkündungsakt erlassen werden müssen und das Völkerrecht eine Selbstbeschränkung der Souveränität bildet.51 Das Völkergewohnheitsrecht wird gerade nicht formell erlassen.52 Nach dem traditionellen Begriff entsteht dieses vielmehr durch eine wiederholte Praxis der Völkerrechtssubjekte, vor allem der Staaten, und eine entsprechende Rechtsüberzeugung (sog. opinio iuris sive necessitatis). Diese Ansichten können außerdem nicht erklären, warum das Völkergewohnheitsrecht auch für solche Staaten bindend ist, die an seinem Entstehungsprozess nicht teilgenommen haben.53 Zum anderen verhindert die methodologische Trennung des Rechts von anderen normativen Bereichen, den engen

47 Vgl. Morgenthau, Am. J. Int’l L. 1940, 260 (265 ff.): „The failure of the post-World War science of international law is not due to personal or accidental circumstances; it grows out of the very assumptions and methods which have led juridic positivism to defeat in the domestic field“. 48 Vgl. Verdross, Am. J. Int’l L. 1949, 435 (436). 49 Ebd., S. 438. 50 Siehe z. B. den von Verdross vorgeschlagenen Unterschied zwischen aktiven und passiven Subjekten des Völkerrechts, ebd., S. 439. 51 Vgl. Morgenthau, Am. J. Int’l L. 1940, 260 (265–266, 272–273); siehe dazu Hall, EJIL 2011, 269. 52 Vgl. Hobe, S. 209 (das Völkergewohnheitsrecht ist „weder durch einen Gesetzgeber noch durch ausdrückliche Vereinbarung zwischen den Völkerrechtssubjekten gesetztes Recht“). 53 Insofern siehe z. B. von Heinegg, in: Völkerrecht, § 17 Rn.  10, 13, 25; auch Thirlway weist auf das Problem dieser Konzeption hin, siehe Thirlway, S. 54; vgl. auch Morgenthau, Am. J. Int’l L. 1940, 260 (273) und Hall, EJIL 2011, 269 (286 ff.).

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Zusammenhang zwischen Recht und Moral zu betrachten.54 Diese positivistischen Ansätze übersehen die Tatsache, dass sich Recht und Moral gegenseitig ergänzen. Das Völkerrecht neigt insofern dazu, gewisse moralische Grundsätze widerzuspiegeln, ohne dass diese Grundsätze kodifiziert sein müssen, um rechtlich relevant zu sein.55 Dies muss anerkannt werden, wenn das Völkerrecht, insbesondere das Völkerstrafrecht, und seine Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden werden sollen. Daher kann behauptet werden, dass die zur Analyse der internationalen Aburteilung der Kriegsverbrecher herangezogene positivistische Ansicht zu einem statischen Verständnis des Rechts führt. Aus diesem Grund wurden die positivistischen Ansätze kritisiert, die den rückwirkenden Charakter der LC zu beweisen versuchten.56 Angesichts der sich aufgrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs dem Völkerrecht stellenden Herausforderungen entwickelten sich andere Auffassungen, die auf andere rechtstheoretische Grundlagen gestützt wurden als den Positivismus und die die Anpassungsfähigkeit, die das Völkerrecht haben solle, betonten. Gerade dies bezeichnet Bosch als die „pragmatic-natural-law coalition“.57 Der Pragmatismus und die naturrechtlichen Ansätze schließen sich im Prinzip gegenseitig aus. Denn während der Pragmatismus von einer relativistischen Sicht der „Wahrheit“ ausgeht, vertreten die naturrechtlichen Ansätze die Existenz bestimmter, absoluter Prinzipien. Als Pragmatismus wird in diesem Kontext die intellektuelle Haltung verstanden, die vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere unter dem Einfluss von William James und John Dewey das amerikanische Denken prägte.58 In der pragmatischen Denkweise spielt das instrumentale Verständnis der „Wahrheit“ eine entscheidende Rolle: Demnach

54 Zur Trennung von Recht und Moral im Allgemeinen siehe Shklar, S. 42 ff. und S. 62: „In view of these considerations it seems impossible to treat law and morals as separate psychological blocks. As part of a single cultural pattern they resemble each other far too much […] With all this in mind it would be best to stop classifying law and morals as blocks and to treat them instead as a continuum“; in Bezug auf das Völkerrecht siehe Morgenthau, Am. J. Int’l L. 1940, 260 (268–269). 55 Ebd.; Hall, EJIL 2011, 269 (292 ff.); der Schnittpunkt zwischen Völkerrecht und Moral kann anhand der Debatte um die Rechtsnatur des zwingenden Völkerrechts – ius cogens – veranschaulicht werden, siehe dazu Kadelbach, S. 130 ff.; siehe auch O’Connell, in: The Role of Ethics, S. 78 ff. („Jus Cogens norms are moral or ethical norms in nature“, ebd., S. 97). 56 Siehe z. B. Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1948, 405 (407). 57 Vgl. Bosch, S. 41. 58 William James definierte den Pragmatismus als eine Methode, nach der jeder Begriff im Lichte seiner praktischen Auswirkungen gedeutet werden müsse. Insofern fragte James: „What difference would it practically make to any one if this notion rather than that notion were true?“. Der Ausgangspunkt des Pragmatismus kann somit mithilfe der folgenden Behauptung erfasst werden: „If no practical difference whatever can be traced, then the alternatives mean practically the same thing, and all dispute is idle“, James, Pragmatism, S. 45; siehe dazu Commager, S. 91 ff.; Palmer, Notre Dame Lawyer 1947–1948, 313 (321) und Bosch, S. 53.

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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ist etwas wahr, wenn es nützlich ist.59 Dementsprechend existiere keine absolute Wahrheit, sodass die „Wahrheit“ nicht zu finden, sondern zu konstruieren sei.60 Sie sei somit kontingent; verschiedene „Wahrheiten“ könnten also miteinander ausgetauscht werden, je nach ihrer Funktionalität mit Blick auf die in jenem Moment vorherrschenden Bedingungen.61 Die „Wahrheit“ sei daher etwas Empirisches, das sich aus der Erfahrung ergebe.62 Sie sei daher im Wesentlichen ein Willensakt,63 und ihre Gültigkeit hänge von ihrer Zweckmäßigkeit ab.64 Im Bereich des Rechts fand der Pragmatismus insbesondere in den Auffassungen von Roscoe Pound und Oliver Wendell Holmes Resonanz.65 Die Werke von Holmes und Pound bildeten in den Vereinigten Staaten die wichtigsten Meilensteine der sog. sociological jurisprudence und beeinflussten das amerikanische Rechtsdenken nachhaltig.66 Sie kritisierten das auf naturrechtlichen Theorien und historischen Ansichten beruhende statische Verständnis des Rechts, das die Vereinigten Staaten von England geerbt hätten,67 und befürworteten die Anerkennung einen Zusammenhang zwischen dem Recht und der Befriedigung sozialer Bedürfnisse. Laut Pound muss das Rechtssystem als eine Bemühung zur s­ocial engineering

59 In seinem Buch „Pragmatism“ stellte James die Korrespondenztheorie der „Wahrheit“ in Frage und nahm einen instrumentalen Wahrheitsbegriff auf, wonach der entscheidende Aspekt der „Wahrheit“ ihre „power to work“ oder ihre „workableness“ sei. Theorien sind demnach James zufolge keine statischen Antworten auf Enigmen, sondern flexible Instrumente, James, Pragmatism, S.  53; James erklärte auf folgende Weise den instrumentalen Wahrheitsbegriff: „Any idea upon which we can ride […] any idea that will carry us prosperously from any one part of our experience to any other part, linking things satisfactorily, working securely, simplifying, saving labor; its true for just so much, true in so far forth, true instrumentally“, James, Pragmatism, S. 58; siehe auch James, The Meaning, S. XXXV und 217 ff.; siehe dazu Hingst, in: William James, S. 133 ff. 60 Laut James stellt die Wahrheit kein inneres Merkmal eines Objekts dar; die Wahrheit sei eher das Ergebnis eines Verifikationsverfahrens einer Idee, James, Pragmatism, S. 201, 218; siehe auch Commager, S. 93 und Hingst, in: William James, S. 137. 61 Wie auch Hingst erklärt, sind dem Pragmatismus zufolge wahre Gedanken genauso wie Theorien Instrumente, die keinem Selbstzweck, sondern der Befriedigung von Lebensbedürfnissen dienen, Hingst, in: William James, S. 137; insofern betonte James: „‚The true‘, to put it very briefly, is only the expedient in the way of our thinking, just as ‚the right‘ is only the expidient in the way of our behaving“, James, Pragmatism, S. 222; siehe auch Palmer, Notre Dame Lawyer 1947–1948, 313 (318) und Hingst, in: William James, S. 138. 62 Vgl. James, The Meaning, S. XXXVIII. 63 Vgl. Palmer, Notre Dame Lawyer 1947–1948, 313 (318). 64 Vgl. Commager, S. 93. 65 Ebd., S. 380, 385. 66 In Bezug auf Roscoe Pound behauptet Commager: „The impact of sociological jurisprudence was immediate and far reaching and, it should be added, triumphant“, ebd., S. 380; in gleicher Weise sagt er hinsichtlich Holmes: „His reputation as a heretic was buried beneath the triumph of his own heresies. And the greatest of his heresies, in time, the very core of judicial orthodoxy: pragmatism“, ebd., S. 385. 67 Der Einfluss naturrechtlicher Theorien und der sog. historical jurisprudence auf das amerikanische Recht wird auch von Commager dargestellt, ebd., S. 359 ff.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

betrachtet werden und folglich der Verbesserung der Gesellschaft dienen.68 Die Wahrheit im Kontext des Rechts sei daher relativ und aus der Erfahrung zu konstruieren.69 In diesem Sinne sei das Recht als eine Sozialwissenschaft zu begreifen, in der die Funktionalität des Rechts wichtiger sei als seine Übereinstimmung mit abstrakten Begriffen.70 Somit müsse das Recht entsprechend dem Grad der Verwirklichung seiner Zwecke beurteilt werden. Der Wert des Rechts hänge folglich vor allem von der Befriedigung tatsächlicher, gegenwärtiger, menschlicher und sozialer Bedürfnisse ab.71 Auch Holmes hob hervor, dass das Recht im Lichte seiner Auswirkungen verstanden werden müsse.72 Der Gedanke, dass das Recht lediglich ein Produkt der Vernunft und der Logik sei, müsse folglich überwunden werden,73 und es müsse anerkannt werden, dass z. B. in der Rechtsanwendung auch die Zweckmäßigkeit des Rechts einen maßgeblichen Aspekt darstelle (wenngleich unbewusst).74 In diesem Sinne müsse das Recht als dynamisches System konzipiert werden, das fähig sein soll, auf gegenwärtige Bedingungen zu reagieren. Vor dem Hinter­ grund dieser theoretischen Elemente können die Argumente Jacksons und sogar die Auffassung des IMG besser nachvollzogen werden. Der Zweite Weltkrieg 68 Pound betonte, dass das Rechtssystem keine bloße Gegebenheit sei, es nicht einfach da sei; das Rechtssystem sei ein Konstrukt; Pound griff in diesem Kontext auf eine Analogie zum Engineering zurück, um die Komplexität des Rechts und die Notwendigkeit zu akzentuieren, über seine Effektivität nachzudenken: „The engineer is judged by what he does. His work is judged by its adequacy to the purposes for which it is done, not by its conformity to some ideal form of a traditional plan. We are beginning, in contrast with the last century, to think of jurist and judge and lawmaker in the same way“, Pound, Interpretations, S. 152. 69 Vgl. Commager, S. 379. 70 Das Recht ist laut Pound mehr als eine Ansammlung von Normen: „It has rules and principles and conceptions and standards for conduct and for decision, but it has also doctrines and modes of professional thought and professional rules of art by which the precepts for conduct and decision are applied and developed and given effect“, Pound, Interpretations, S. 156. Dementsprechend müsse die Rechtsordnung nicht nur von innen, wie es das Ergebnis einer logischen Deduktion wäre, sondern auch von außen, d. h. in seinem sozialen Kontext, betrachtet warden. Insofern sei die Feststellung seiner sozialen Auswirkungen wesentlich, vgl. Pound, The Spirit, S. 212–213, er versteht die Rechtswissenschaft nicht als eine selbständige Wissenschaft, sondern als eine Sozialwissenschaft, die mit den anderen Sozialwissenschaften zusammen betrachtet werden müsse, siehe Pound, Interpretations, S. 45, 74, 158. 71 Vgl. Pound, Interpretations, S. 156. 72 Vgl. Commager, S. 385; im Aufsatz „The Path of the Law“ schlug Holmes ein businesslike understanding des Rechts vor, wonach man sich auf die materiellen Folgen der Rechtsanwendung fokussieren müsse, um das Recht begreifen zu können; in diesem Zusammenhang behauptete er: „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law“, Holmes, Harv. L. Rev. 1897, 457 (458, 461). 73 Vgl. Holmes, Harv. L. Rev. 1897, 457 (465). 74 Die pragmatische Prägung der Auffassung von Holmes kann im folgenden Zitat deutlich erkannt werden: „[T]he judges themselves have failed adequately to recognize their duty of weighing considerations of social advantage. The duty is inevitable, and the result of the often proclaimed judicial aversion to deal with such considerations is simply to leave the very ground and foundation of judgments inarticulate, and often unconscious“, ebd., S. 467.

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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stellte für das Völkerrecht eine große Herausforderung dar, die seine Effektivität als Friedensordnung auf den Prüfstand stellte. Deswegen waren neue Konzepte und Institutionen erforderlich: Angesichts der von NS-Deutschland gegen andere europäische Länder verübten Angriffe und der massenhaften Gewalt gegen die Zivilbevölkerung mussten veraltete Prinzipien verworfen werden, wie z. B. die rechtliche Neutralität des Krieges oder die Lehre der Staatsakte,75 um eine Wiederholung solcher Taten zu verhindern. Bei pragmatischer Betrachtung des Rechts war die Ausübung von Strafgewalt auf internationaler Ebene als Werkzeug zur Veränderung bzw. Stärkung der internationalen Ordnung akzeptabel. Zugleich war dies auch ein Schritt zur Durchsetzung des Völkerrechts. Nach diesem Verständnis hatte eine rückwirkende Rechtserzeugung nicht zwingend eine negative Konnotation. Ein entsprechendes Vorgehen konnte sogar als notwendig erachtet werden, um für die Zukunft neue Prinzipien und Institutionen zu etablieren bzw. zu verstärken.76 Die naturrechtlichen Elemente der Analysen der Aburteilungen der Kriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich in zwei Kategorien gliedern. Einerseits wurde im Kontext der Diskussion über die Verbrechen gegen den Frieden auf die Lehre des gerechten Krieges von Hugo Grotius verwiesen,77 und andererseits wurde teilweise in Bezug auf die Verbrechen gegen den Frieden, aber vor allem hinsichtlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf den in der Common-Law-Tradition verwendeten Begriff der Delikte mala in se zurückgegriffen, insbesondere wie er von William Blackstone dargestellt wurde. Da William Blackstones Auffassung bereits im ersten Kapitel thematisiert wurde,78 soll an dieser Stelle nur kurz auf einige zentrale Elemente der Lehre des gerechten Krieges von Grotius eingegangen werden. In diesem Zusammenhang sei noch darauf hingewiesen, dass sich drei der zur Rechtfertigung der Aburteilung der Kriegsverbrecher vorgebrachten Argumente auf die Auffassung von Grotius stützen. Bei dem ersten Argument handelt es sich um die Annahme, dass Recht und Krieg nicht zwei gegensätzliche Phänomene darstellen würden.79 Das zweite Argument beruht auf der Ansicht, dass die Souveränität rechtliche Grenzen zu achten habe, die sich aus dem Völkerrecht ergeben würden. Das dritte, auf Grotius Lehre gestützte Argument ist die Behauptung, dass eine souveräne Macht nur unter gewissen Umständen einen Krieg 75

Vgl. Bosch, S. 59; insofern auch UNWCC, History, S. 263. Vgl. Bosch, S. 59. 77 1946 behauptete Lee: „Since the world war, and more than ever today, the Grotian conception of international law has re-emerged into the light. The Nuremberg Trial is a testimony to its cogency“, Lee, R. W., LQR 1946, 53 (57). 78 Siehe oben, erstes Kapitel, C. I. 4. 79 Im Vorwort seines Werkes „De Jure Belli ac Pacis“ führt Grotius aus, dass die Annahme eines Antagonismus zwischen Recht und Krieg ein häufig anzutreffender Fehler sei: „Nothing is more common than the assertion of antagonism between law and arms […] this very serious error must be briefly refuted“, Grotius, S. 1. 76

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

(rechtmäßig) führen dürfe. Grotius analysierte die Rechtmäßigkeit bzw. Gerechtigkeit des Krieges im Lichte des Naturrechts.80 Er behauptete, dass das oberste Prinzip der Natur, d. h. die Selbsterhaltung, einem Krieg nicht entgegenstehe, sofern dessen Zweck die Verteidigung des Lebens oder der körperlichen Integrität sei.81 Die Selbsterhaltung ist in diesem Kontext jedoch nicht in einem rein individualistischen oder egoistischen Sinne zu verstehen, da sie laut Grotius mit dem sozialen Zusammenleben verbunden ist.82 Vor dem Hintergrund dieser Prämisse spricht Grotius vom Recht zugleich als einem Komplex an Rechten, aber auch als Pflicht zu tun, was richtig ist.83 Insofern diene das Recht der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung.84 Dies umfasse nicht nur die nationale, sondern auch die internationale Ordnung. Denn die unvermeidbare Neigung des Menschen zum Zusammenleben stelle die Grundlage für die Existenz des Rechts auf allen Ebenen dar. Diese Neigung erlaube es, von einer „internationalen Gemeinschaft“ zu sprechen.85 Dementsprechend sei die im Konflikt mit der sozialen Ordnung stehende Gewalt, also diejenige Gewalt, die die Rechte anderer Individuen verletze, der Vernunft nach verboten und widerspreche dem Naturrecht.86 Daraus folgt für Grotius, dass ein Krieg nur dann rechtmäßig bzw. gerecht sein könne, wenn er der Selbstverteidigung, der Durchsetzung einer Pflicht oder der Bestrafung eines vorherigen Verbrechens diene.87 In diesen Fällen erscheine der Krieg als Mittel zur Wiederherstellung der internationalen oder nationalen Ordnung, d. h. des Friedens.88 Hingegen würden Kriege, die allein egoistischen Motiven wie z. B. der territorialen

80 Die Begriffe „Recht“ und „Gerechtigkeit“ scheinen im ersten Buch der „De Jure Belli ac Pacis“ synonym verwendet zu werden: „For law, in our use of the term, here means nothing else than what is just, and that, too, rather in  a negative than in an affirmative sense, that being lawful which is not unjust“, ebd., S. 24. Grotius unterscheidet zwischen dem Naturecht und dem „Willensrecht“. Das Naturrecht sei ein Diktat der Vernunft. Grotius weist darauf hin, dass eine Handlung naturgemäß eine Untat darstellen oder eine moralische Notwendigkeit sein könne und sie deshalb naturgemäß verboten oder geboten sei. Das Naturrecht sei unveränderlich. Das „Willensrecht“, d. h. das von jemandem geschaffene Recht, unterteile sich wiederum in göttliches und menschliches Recht. Als menschliches Recht seien das nationale Recht und das Recht der Völker zu unterscheiden, ebd., S. 28–32; für die Auffassung von Grotius und zur Entwicklung der Lehre des gerechten Krieges in der westeuropäischen Tradition siehe O’Connell, International Law, S. 118–123; siehe dazu auch Jensen, S. 211 ff. 81 Vgl. Grotius, S. 35. 82 Hier ist der anthropologische Ausgangspunkt von Grotius zu berücksichtigen. Der Mensch sei durch einen unvermeidbaren Wunsch gekennzeichnet, in einer friedlichen und nach seiner Intelligenz organisierten Gesellschaft zu leben. Dieser Wunsch ergebe sich nicht nur aus dem Streben nach dem eigenen Wohl, sondern auch aus dem Streben nach dem Wohl anderer Individuen derselben Art, siehe ebd., S. 2; siehe dazu Welzel, Naturrecht, S. 125–126. 83 Vgl. Grotius, S. 24–28. 84 Ebd., S. 3–4. 85 Vgl. Lee, Steven, S. 56. 86 Grotius, S. 36. 87 Zum Krieg zur Verteidigung des Lebens siehe ebd., S. 82; zum Krieg als Bestrafung siehe ebd., S. 284 ff. 88 Dazu ausführlich von Elbe, Am. J. Int’l L. 1939, 665 (668).

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Expansion dienen würden, eine Untat darstellen.89 Aus der Auffassungs Grotius zum gerechten Krieg ergibt sich ferner, dass diese Prinzipien eine unüberwindliche Grenze der Souveränität bilden, sogar wenn keine diesbezügliche staatliche Willensäußerung besteht.90 Die naturrechtlichen Ansätze gehen also von der Existenz einer absoluten, ewigen und unveränderlichen Wahrheit aus.91 Im Gegensatz dazu schließt die pragmatische Lehre, der zufolge die Wahrheit lediglich als „Werkzeug“ zur Anpassung der Menschen an die Umgebung und zur Veränderung der Umgebung selbst dienen soll, jede Form metaphysischer Spekulation aus.92 Trotzdem boten die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und die Aburteilung der Kriegsverbrecher interessanterweise eine geeignete Gelegenheit für das Zusammenspiel beider Ansichten, da sie auch wesentliche Elemente teilen. Beide sehen im tatsächlichen Schutz des Individuums das eigentliche Ziel des Rechts, beide erkennen etwas jenseits des geschriebenen Rechts an und befürworten deshalb eine aktive Rolle des Richters, und beide lehnen die Staatssouveränität sowie die staatliche Willensäußerung als die maßgeblichen Werte der internationalen Beziehungen ab.93 Die Kombination pragmatischer und naturrechtlicher Argumente kann in einigen unmittelbar nach dem Krieg veröffentlichten Aufsätzen deutlich gesehen werden.94 Die Vertreter der pragmatischen und naturrechtlichen Ansätze meinten, dass das Völkerrecht nicht nur auf dem staatlichen Willen beruhen könne, da es auch die Anerkennung bindender Gerechtigkeitsprinzipien voraussetze.95 Die Anerkennung solcher Prinzipien sei zugleich eine kreative Tätigkeit, da sie sich als Rechtsquelle erweisen würden und erlaubten, die notwendigen Institutionen zu ihrer Durchsetzung einzurichten.96 Quincy Wright wies gerade darauf hin, dass dies 89

Ebd. Im ersten Buch der „De Jure Belli ac Pacis“ heißt es: „I am not now speaking of the obser­ vance of the law of nature and of divine law, or of the law of nations; observance of these is bind­ing upon all kings, even though they have made no promise“, Grotius, S. 59. 91 Vgl. Palmer, Notre Dame Lawyer 1947–1948, 313 (338). 92 Ebd., S. 319. 93 Vgl. Bosch, S. 54–56. 94 Siehe folgende Aufsätze: „Legal Positivism and the Nuremberg Judgment“ (Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1948, 405) und „The Law of the Nuremberg Trial“ (Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1947, 38), „War Crimes under International Law“ (Wright, LQR 1946, 40), „The Nuremberg Trial: Landmark in Law“ (Stimson, Foreign Aff. 1946–1947, 179), „The Legality of the Nuremberg Trials“ (Goodhart, in: Perspectives, S. 626 ff.) und „The Nuernberg Trial and Aggressive War“ (Glueck, Harv. L. Rev. 1945–1946, 396). Gluecks Auffassung enthält historische, positivistische und naturrechtliche Elemente. Deswegen kann gesagt werden, dass er in diesem Aufsatz im gewissen Sinne eine „gemäßigte“ naturrechtliche Position vertritt, siehe z. B. die Analyse des BKP (S. 408 ff.) und die Erwägungen in Bezug auf das NCSLPrinzip (S. 438–439); auch Joseph Berry Keenan und Brendan Francis Browns Buch „Crimes against International Law“ ist in diesem Zusammenhang anzuführen. 95 Vgl. Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1948, 405 (408). 96 Diese Behauptung spiegelt sowohl ein pragmatisches als auch ein naturrechtliches Verständnis des Rechts wider, siehe ebd. 90

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

eine zentrale Annahme zur Schaffung der LC gewesen sei, die nicht übersehen werden dürfe.97 Außerdem führten diese Autoren weiter aus, dass die dem Völkerrecht zugrunde liegenden Prinzipien dem entsprechen würden, was im 17. Jahrhundert als Naturrecht betrachtet worden sei,98 und sie nicht mit dem Willen der Sieger des Krieges gleichgesetzt werden dürften. Ganz im Gegenteil würden sie sich vielmehr aus der international vorherrschenden Meinung ergeben.99 Demnach solle gerade das Völkerrecht den Anhaltspunkt zur Feststellung der Gültigkeit oder Nichtigkeit bestimmter Staatshandlungen bilden.100 Mithilfe dieser Argumentation versuchten die Autoren u. a. den Einwand zu widerlegen, dass die Kriegsverbrecher gemäß ihrer nationalen Rechtsordnung rechtmäßig gehandelt hätten. Des Weiteren akzeptierten diese Autoren zwar, dass es zur Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs auf internationaler Ebene keine zentrale Autorität mit Rechtserzeugungsbefugnissen gegeben habe. Sie führten aber aus, dass eine entsprechende Autorität, anders als auf nationaler Ebene, nicht zwingend notwendig sei.101 Aus diesem Grund müsse das Völkerrecht als das Recht der internationalen Gemeinschaft als Ganzes begriffen werden, d. h. als der aus allen unabhängigen Staaten bestehenden Gemeinschaft.102 Damit dies möglich sein könne, müsse die Souveränität eines jeden Staates durch die Souveränität der anderen Staaten begrenzt werden.103 Des Weiteren stelle auch der generelle Sinn für Gut und Böse bzw. der Gerechtigkeitsinstinkt neben dem Gewohnheitsrecht eine Rechtsquelle des Völkerrechts dar.104 Basierend auf Grotius betonte Quincy Wright genau in diesem Sinne, dass das Völkerrecht fähig sein müsse, sich durch rationale Deduktion aus den von ihm verfolgten Grundsätzen zu entwickeln.105 Daraus folge, dass gewisse Verhaltensnormen auch ohne die Existenz zentralisierter gesetzgebender, richterlicher und vollziehender Organe gelten könnten106 und dass die gegen diese Normen verstoßenden Handlungen auch ohne Kodifikation internationale Straftaten darstellen würden,107 wenn sie die Fundamente der internationalen Gemeinschaft verletzten.108 97

Ebd. Ebd., S. 407. 99 Ebd., S. 408. 100 Ebd. 101 Trotzdem bezeichnet Wright das Völkerrecht gerade wegen dieses Umstandes als unvollständig, siehe Wright, LQR 1946, 40 (40–41). 102 Ebd. 103 Ebd. 104 Ebd. 105 Laut Wright wurden sowohl der StIGH als auch der IGH unter dieser Prämisse gegründet, siehe Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1948, 405 (408). 106 Vgl. Wright, LQR 1946, 40 (40–41). 107 In diesem Sinne äußerte sich Quincy Wright in Bezug auf Grotius: „The concept of offenses against the law of nations (delicti juris gentium) was recognized by the classical text writers on international law“, Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1947, 38 (55–56). 108 Vgl. Wright, LQR 1946, 40 (48). 98

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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Henry Stimson, Kriegsminister der Vereinigten Staaten zwischen 1940 und 1945, behauptete beispielsweise diesbezüglich, dass das Völkerrecht nichts anders sei als der schrittweise Ausdruck (case by base) der moralischen Urteile der­ „civilized world“.109 Dabei ist bemerkenswert, dass das Völkergewohnheitsrecht in diesem Zusammenhang in einer ganz besonderen Weise verstanden wurde. Dies erfolgte insbesondere im Rahmen der Diskussion um den Angriffskrieg. In den pragmatischen und naturrechtlichen Ansätzen wurde betont, dass der Erste Weltkrieg aufgrund der damaligen technologischen Entwicklung und der Zerstörungskraft der neuen Waffen eine neue Regulierung des Krieges erforderlich gemacht habe. Insofern hätten alte Rechtskategorien aufgegeben werden müssen. Die in der Zwischenkriegszeit erfolgten Fortschritte, wie z. B. der Entwurf des Vertrages des VB über gegenseitige Hilfeleistung, das Genfer Protokoll von 1924 und der BKP selbst, hätten gerade diesem Ziel gedient.110 Zwar sei die Entwicklung unvollendet geblieben, die Richtung dieses Fortschrittes sei aber unzweifelhaft.111 Die Vertreter dieser Auffassungen ersetzen somit aufgrund einer moralisierten Vorstellung des Völkerrechts das strikte Verständnis des Völkergewohnheitsrechts, nach dem die Elemente der Staatenpraxis und der Rechtsüberzeugung vollständig bewiesen werden müssen, durch ein flexibleres Konzept. Folglich schließen sie die sich ergebenden Lücken bzw. Zweifel hinsichtlich der Existenz von Völkergewohnheitsrecht durch die Deduktion aus Prinzipien und moralischen Wertungen. Wie bereits am Ende des zweiten Kapitels in Bezug auf die Rechtsprechung hinsichtlich der Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs hingewiesen wurde, reiche es zur Begründung des Völkergewohnheitsrechts somit, wenn eine Tendenz zur Kriminalisierung einer Handlung bewiesen werden könne. Es muss in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass das Völkergewohnheitsrecht laut diesen Ansätzen keinen konstitutiven Charakter hat. Dies ergibt sich aus dem naturrechtlichen Einfluss. Vielmehr scheint es sogar so, als ob die Begriffe „Völkergewohnheitsrecht“ und „Gerechtigkeitsprinzipien“ bzw., um es in den Worten des Art. 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (IGHStatut) zu formulieren, „allgemeine Rechtsgrundsätze“ synonym verwendet werden, weil der Zusammenhang zwischen beiden Kategorien und ihre Grenzen nicht eindeutig veranschaulicht werden.112 Jedenfalls kann davon ausgegangen 109 Insofern hob Stimson hervor: „We can understand the law of Nuremberg only if we see it for what it is – a great new case in the book of international law, and not a formal enforcement of codified statutes“, Stimson, Foreign Aff. 1946–1947, 179 (180). 110 Ebd., S. 182. 111 Ebd. 112 Ein gutes Beispiel hierfür ist das folgende Zitat von Keenan, dem Chief of Council for the United States at the Tokyo War Crimes Trial, und Brown, dem Juridical Consultant at the Tokyo Trial: „Traditional international law is the product of the application of old, established, moral principles to new environmental factors and circumstances by judicial minds, and of customary recognition and practice“, Keenan/Brown, S. 73; der enge Zusammenhang zwischen Prinzipien und Völkergewohnheitsrecht kann auch in Gluecks Aufsatz gesehen werden, in dem er die allgemeine Geltung des Völkergewohnheitsrechts erklärt. Laut Glueck hat das

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

werden, dass das Völkergewohnheitsrecht und die Gerechtigkeitsprinzipien diesen Autoren zufolge keine strikt voneinander getrennten Rechtsquellen darstellen. Gewisse Gerechtigkeitsprinzipien bzw. „allgemeine Rechtsgrundsätze“ seien nämlich mehr als nur subsidiäre Rechtsquellen, auf die nur dann zurückgegriffen werden dürfe, wenn das Völkergewohnheitsrecht sich als lückenhaft erweise. Diese Prinzipien seien vielmehr die Grundlage der allgemeinen Geltung des Völkergewohnheitsrechts.113 Das Bestehen der Staatenpraxis und der Rechtsüberzeugung stelle somit nur einen Beweis für die Anerkennung der eigentlichen Rechtsquelle des Völkerrechts dar, d. h. des allgemeinen Gerechtigkeitssinnes.114 Eine entgegenstehende Staatenpraxis könne deswegen die Existenz einer bestimmten völkerrechtlichen Norm nicht negieren, falls sich die entsprechende Regel bereits aus diesen Prinzipien ergebe. Dieser Gedanke ist direkt mit dem naturrechtlichen Verständnis des NCSLPrinzips im Völkerrecht verknüpft. Insofern unterschieden Keenan und Brown zwischen einer verfassungsrechtlichen (nationalen) und einer naturrechtlichen Dimension des NCSL-Prinzips.115 Nach der ersten dürfe keine Handlung bestraft werden, wenn ihre Strafbarkeit nicht vorher im geschriebenen Recht vorgesehen gewesen sei.116 Dies stelle ein Verbot für den Gesetzgeber dar, das Richter kontrollieren sollten.117 Das Ziel dieses Verbots sei der Schutz der Bürger vor einer sich aus einem „unmoralischen“ Verständnis des Rechts ergebenden staatlichen Willkür.118 So sei das NCSL-Prinzip z. B. in der Verfassung der Vereinigten Staaten festgeschrieben.119 Dieses Verständnis des NCSL-Prinzips galt nach Keenan

Völkergewohnheitsrecht dann allgemeine Geltung, wenn es sich aus der Überzeugung und Praxis der „wichtigsten“ Staaten der Welt ergibt. In diesem Fall könne eine Zustimmung der anderen Staaten vermutet werden. Diese Auffassung setzt eindeutig eine Hierarchie unter (zivilisierten und nichtzivilisierten) Staaten voraus. Trotzdem wird in diesem Text keine Begründung für eine entsprechende Hierarchie geliefert. Der Autor verweist nur auf Pollok, der, wie schon erwähnt, ein naturrechtliches Konzept des Völkerrechts vertrat, siehe Glueck, Harv.  L.  Rev. 1945–1946, 396 (412–414); die Verbindung zwischen Völkergewohnheitsrecht und Vernunft im Rahmen einer naturrechtlichen Perspektive des Rechts kann auch im Aufsatz von Pollok „The History of the Law of Nature: A Preliminary Study. Second Article“ gesehen werden, Pollok, Colum. L. Rev. 1902, 131 (132). 113 In diesem Sinne bezieht sich Hall auf die „foundational and pre-positive nature“ der allgemeinen Rechtsgrundsätze, vgl. Hall, EJIL 2011, 269 (292 ff.). 114 Sogar die Verbindlichkeit des völkerrechtlichen Vertragsrechts gehe aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen hervor. Völkerrechtsverträge hätten ihre bindende Wirkung nicht aufgrund des Willens der Vertragsstaaten, sondern aufgrund des sich aus der Vernunft ergebenden Prinzips der pacta sunt servanda. Dies bilde die naturrechtliche Grundlage des völkerrechtlichen Vertragsrechts, siehe ebd., S. 284 ff. 115 Keenan und Brown sprachen von „constitutional phase of ex post facto principle“ und „natural law phase of ex post facto principle“, Keenan/Brown, S. 47–48. 116 Ebd., S. 47. 117 Ebd. 118 Ebd., S. 51. 119 Ebd., S. 47.

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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und Brown aber gerade nicht im Völkerrecht, weil das Prinzip nirgends niedergeschrieben worden sei und weil es in der internationalen Gemeinschaft keinen (potentiell willkürlichen) Gesetzgeber und keine Verfassung gebe.120 Im Völkerrecht gelte folglich das NCSL-Prinzip in seiner naturrechtlichen Dimension. Danach dürfe eine Handlung nicht bestraft werden, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Begehung weder im geschriebenen Recht als Straftat definiert werde, noch das allgemeine und objektive Verständnis von Gut und Böse verletze.121 Dieses Verständnis des NCSL-Prinzips setzt allerdings die Annahme voraus, dass eine objektive Werteordnung bestehe, was aber gerade eine der Prämissen der naturrechtlichen Ansätze ist. Das Völkerrecht als Ausdruck einer solchen objektiven Werteordnung verpflichte gerade nicht nur die Staaten, sondern auch die Individuen.122 An dieser Stelle kommt wieder das Konzept der Straftaten mala in se ins Spiel, also solcher Taten, die von sich aus schon schlecht und damit strafbar sind. Hier kann u. a. der Einfluss der Lehre Blackstones deutlich gesehen werden.123 Nach den naturrechtlichen Ansichten stellen die Verbrechen gegen den Frieden und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit Straftaten mala in se dar.124 Sie seien nicht deshalb zu bestrafen, weil eine politische Autorität über ihre Strafbarkeit entschieden hätte, sondern weil sie die innere, natürliche Neigung zum Zusammenleben und das Wesen des Menschen verletzen würden. Die Angriffspolitik der Angeklagten habe eine Missachtung der wesentlichen, zur Existenz des Völkerrechts erforderlichen Voraussetzungen dargestellt, nämlich die Anerkennung der Souveränität anderer Staaten und die Achtung des Prinzips „pacta sunt servanda“,125 wohingegen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit die wesentlichen Rechte der Menschen in einer so existenziellen Weise verletzt hätten, dass sie auch die Existenz der internationalen Gemeinschaft in Gefahr gebracht hätten.126 Die Bestrafung der Straftaten mala in se verstoße nicht gegen das NCSL-Prinzip, da dies keine Anwendung neuen Rechts sei. Laut diesen Autoren sind zwei Erwägungen in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Erstens sei es etwas an 120

Ebd., S. 47. Ebd., S. 48. 122 Ebd., S. 72. 123 In einigen dieser Ansätze wurde behauptet, dass das Völkerrecht dem Rechtsverständnis der Common-Law-Tradition entspreche, vgl. Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1947, 38 (58); Stimson, Foreign Aff. 1946–1947, 179 (185); Glueck, Harv. L. Rev. 1945–1946, 396 (416–418). 124 Vgl. Wright, Quincy, Am. J. Int’l L. 1947, 38 (61–66); Wright, LQR 1946, 40 (47–49), Lord Wright befürwortete in Bezug auf den Angriffskrieg dieselben Argumente wie das Gericht im Nürnberger Urteil: „war as a thing evil in itself“ und „to initiate a war of aggression is thus not only a crime, but the chief of war crimes“; siehe auch Keenan/Brown, S. 73 und 113 ff. 125 Insofern wies Goodhart darauf hin, dass den NS-Machthabern nicht nur die Verletzung des BKP vorgeworfen wurde, sondern auch die Missachtung mehrerer internationaler Abkommen, die von Deutschland bereits in der Absicht ihrer Verletzung unterzeichnet worden seien, vgl. Goodhart, in: Perspectives, S. 634. 126 Ebd., S. 635 ff. 121

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

deres, eine Handlung zu verbieten oder unter Strafe zu stellen, als die Institutionen einzurichten, die lediglich bereits geltende Verbotsnormen durchsetzen sollen.127 Zweitens spiele das NCSL-Prinzip lediglich in den Fällen eine Rolle, in denen man sich vernünftigerweise – with good faith – fragen könne, ob eine Handlung rechtmäßig oder rechtswidrig sei. In solchen Fällen sei das geschriebene Recht für die Rechtssicherheit notwendig. Gehe es aber nicht um solche Grenzfälle, müsse die Strafbarkeit nicht vorgeschrieben sein, um die entsprechenden Handlungen bestrafen zu können.128 Die LC, das KRG Nr. 10 und das IMTFO-Statut seien insofern nur Konkretisierungen des bei Begehung der bestraften Handlungen geltenden Völkerrechts, auch wenn dieses lediglich in Form von nicht kodifizierten generellen Prinzipien bestanden habe. Die Tribunale seien folglich nur zu seiner Durchsetzung geschaffen worden. Außerdem hätten die Angeklagten in diesen Prozessen nicht with good faith vorbringen können, dass sie im Glauben gehandelt hätten, ihr Verhalten sei rechtmäßig gewesen, da sie durch ihre Taten die Geltung des Völkerrechts selbst in Frage gestellt hätten.129 Zwischen den pragmatischen und naturrechtlichen Ansichten scheint allerdings ein gewisser Widerspruch bzgl. der Rückwirkung und damit hinsichtlich des NCSL-Prinzips vorzuliegen. Wie bereits gesagt, ist die Rückwirkung nach der pragmatischen Ansicht in gewissen Fällen wünschenswert, um wichtige Ziele zu erreichen, wie z. B. im Nürnberger Prozess.130 Aus naturrechtlicher Sicht liegt in diesen Fällen hingegen bereits kein rückwirkendes Recht vor, weil die Taten bereits nach geltenden Prinzipien verboten und zu bestrafen seien. Die naturrechtliche Argumentation zielte jedoch vornehmlich auf die Feststellung der Grundlagen des Völkerrechts als Basis für die internationale Strafbarkeit ab. Hierzu zählt etwa die naturrechtliche Argumentation, der zufolge das Verbot des Angriffskrieges eine Voraussetzung für die Existenz einer internationalen Gemeinschaft darstelle. Mithilfe der pragmatischen Argumente wurde dagegen versucht, die Bedingungen zur Durchsetzung dieser Prinzipien zu schaffen. In diesem Zusammenhang können beispielsweise die pragmatischen Argumente zugunsten der Errichtung der internationalen Tribunale und für die Notwendigkeit der Bestrafung des Angriffskrieges genannt werden. In diesem Sinne ergänzen sich Pragmatismus und Naturrecht. Es ging also um die Berufung auf alte Ideen durch neue (pragmatische) Argumente, um diese Grundsätze durch neue Institutionen durchsetzen zu können. Lord Wrights Zitat fasst dies sehr gut zusammen: „The pressure of necessity stimulates the impact of natural law and of moral ideas and converts them into rules of law […] The experience of two great world wars within a quarter of a century cannot fail to have deep repercussions on the senses of the people and their 127

Ebd., S. 631. Vgl. Stimson, Foreign Aff. 1946–1947, 179 (183). 129 Ebd. 130 Goodhart behauptete z. B., dass es in Bezug auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine gewisse Rückwirkung gebe, die allerdings notwendig sei, vgl. Goodhart, in: Perspectives, S. 635–636. 128

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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demand for an International Law which reflects international justice. I am convinced that International Law has progressed, as it is bound to progress if it is to be a living and operative force in these days of widening sense of humanity“.131

III. Die Diskussion im deutschen Rechtskreis Im deutschen Rechtskreis wurden das Rückwirkungsverbot und das NCSLPrinzip nach dem Zweiten Weltkrieg und bis Anfang der fünfziger Jahre im Rahmen von drei verschiedenen Problemen thematisiert.132 Diese Diskussion fand somit auf drei Ebenen statt. Einige Abhandlungen widmeten sich der Analyse des Nürnberger Urteils. Andere gingen hingegen auf das KRG Nr. 10 ein und erörterten, ob dessen Regelungen das vor dem Krieg geltende Völkerrecht widerspiegelte. Andere Abhandlungen, insbesondere solche, die im Zeitraum zwischen 1946 und 1950 verfasst wurden, analysierten das KRG Nr. 10 vor dem Hintergrund des deutschen Rechts; sie betrachteten das KRG Nr. 10 als Besatzungsrecht und erörterten, inwiefern es im Einklang mit dem vor der nationalsozialistischen Herrschaft geltenden nationalen Recht war, oder ob es nicht doch vielmehr neues Recht darstellte. Die Berücksichtigung der auf allen drei Ebenen dargelegten Erwägungen ist für die Ermittlung der theoretischen Prämissen relevant, die zur Rechtfertigung bzw. zur Kritik an der Aburteilung der Kriegsverbrecher dienten. 1. Die Abhandlungen über das Nürnberger Urteil Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg thematisierten mehrere Abhandlungen im deutschen Rechtskreis das Nürnberger Urteil.133 Mit Ausnahme von Lüders134 vertraten alle die hier zitierten Autoren eine sehr kritische Haltung in Bezug auf

131

Wright, LQR 1946, 40 (51). Für eine ausführliche Erörterung zur Rezeption des Nürnberger Urteils in der deutschen wissenschaftlichen Literatur siehe Burchard, J. Int’l Crim. Just. 2006, 800 (800 ff.) und Jung, Susanne, S.  150 ff., beide halten fest, dass die Diskussion über das NCSL-Prinzip und den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Deutschland erst ab den Fünfzigerjahren an Bedeutung gewann; siehe auch Burchhard, S. 810 ff., dieser vergleicht die Rezeption vor dem Hintergrund der politischen Situation in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. 133 Wie z. B. „Strafbarkeit über Angehörige des Feindstaats“ (Lüders, Süddt. JZ 1946, 216), „Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und das Völkerrecht“ (Ehard, Süddt. JZ 1948, 353), „Über das Völkerrecht des Nürnberger Prozesses“ (Grewe, in: Nürnberg, S. 7 ff.) und Hans-Heinrich Jeschecks Buch „Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht“. 134 Lüders, Süddt. JZ 1946, 216 (217): „Jedenfalls bedeutet die unmittelbare Wirksamkeit des Völkerrechts auf den Einzelmenschen einen begrüßenswerten Einbruch in die Souveränität der Einzelstaaten. Nur durch Abbau dieser Souveränität kann eine kollektive Gesamtordnung geschaffen werden […]“. 132

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

die Aburteilung der Kriegsverbrecher auf Grundlage des Völkerrechts. Ehard, Grewe und Jescheck trugen generelle Einwände vor, die unmittelbar die Grundlagen des IMG betrafen. Ehard führte beispielsweise an, dass die LC neues rückwirkendes Recht sei, weil sie zum ersten Mal eine individuelle strafrechtliche Verantwortung auf völkerrechtlicher Ebene begründet habe.135 Der Ausgangspunkt dieser Auffassung war, dass die Völkerrechtsdelikte der vor dem Krieg zumindest in Deutschland herrschenden Meinung zufolge nur von Staaten, nicht aber von Einzelpersonen begangen werden konnten.136 In gleicher Weise betonte Grewe die Widersprüche bei der Begründung der völkerrechtlichen Gerichtsbarkeit im Nürnberger Prozess. Denn nach der LC und dem Eröffnungsplädoyer ergebe sich die Zuständigkeit des IMG unmittelbar aus dem Völkerrecht, während der IMG selbst behauptet habe, dass diese auf den von den Alliierten als Besatzungsmächten ausgeübten deutschen Hoheitsbefugnissen beruhe.137 In diesem Sinne äußerte sich auch Jescheck, als er behauptete, dass die LC nicht als Völkerrecht hätte angewendet werden dürfen, da die Ausübung einer internationaler Gerichtsbarkeit einen so erheblichen Eingriff in die Staatssouveränität darstelle, dass sie nur durch einen völkerrechtlichen Vertrag und nur mit Blick auf die Vertragsstaaten erfolgen dürfe.138 Die LC sei aber ohne Deutschlands Zustimmung verabschiedet worden, sodass sie für Deutschland kein bindendes Völkerrecht darstellen könne.139 Diese Autoren trugen hinsichtlich jeder der einzelnen, in die LC inkorporierte internationalen Verbrechen unterschiedliche Argumente vor. Ehard, Grewe und Jescheck stimmten dahingehend überein, dass die Verbrechen gegen den Frieden rückwirkendes Recht und somit einen erheblichen Verstoß gegen das NCSL-Prinzip darstellen würden. Alle drei lehnten die Existenz eines entsprechenden Völkergewohnheitsrechtes ab. Sie wiederholten die von anderen Autoren vorgetragenen und in der vorliegenden Arbeit bereits erwähnten Argumente bzgl. des Genfer Protokolls von 1924 sowie der Deklaration der sechsten Panamerikanischen Konferenz.140 Es ist ferner bemerkenswert, dass nach ihrer Auffassung das NCSL-

135

Vgl. z. B. Ehard, Süddt. JZ 1948, 353 (364–365). Als Argument bezog man sich auf Art. 3 Abs. 2 des IV. Haager Abkommens von 1907: „Die Kriegspartei, welche die Bestimmungen der bezeichneten Ordnung verletzen sollte, ist gegebenen Falles zum Schadenersatze verpflichtet. Sie ist für alle Handlungen verantwortlich, die von den zu ihrer bewaffneten Macht gehörenden Personen begangen werden“, Lüders, Süddt. JZ 1946, 216 (216–217). 137 Vgl. Grewe, in: Nürnberg, S. 22–24. 138 Vgl. Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 149–151. 139 Ebd., S. 177: „Es würde das Ende der Völkerrechtsordnung bedeuten, wenn der Sieger in einem Kriege berechtigt wäre, dem Besiegten nach seinem Ermessen und ohne dessen Mitwirkung völkerrechtliche Verpflichtungen aufzuerlegen“. 140 Diese Dokumente stellen kein allgemein geltendes Völkerrecht dar; es gab weder die für die Strafbarkeit des Angriffskrieges erforderliche Rechtsüberzeugung, noch die entsprechende Staatenpraxis, siehe Ehard, Süddt. JZ 1948, 353 (363–364); Grewe, in: Nürnberg, S. 38; ausführlich Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 68 ff. 136

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Prinzip nicht nur erfordert, dass eine Handlung als rechtswidrig erklärt wird, sondern die entsprechende Norm auch eine explizite Strafandrohung enthalten muss.141 Derjenige, der eine gewisse Handlung vornehme, müsse wissen können, welche Rechtsfolgen diese habe.142 Dafür müssten die Verhaltensregeln schon vorher feststehen, und die Rechtsfolgen müssten eindeutig und unmissverständlich voraussehbar sein.143 Aus diesem Grund kritisierten diese drei Autoren insbesondere die angebliche Gleichsetzung von Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit in Bezug auf den BKP. Sie trugen vor, dass der BKP gerade keinen Straftatbestand des Angriffskrieges enthalte.144 Der Begriff des Angriffskrieges wurde hier nicht einmal definiert.145 Der Angriffskrieg wurde im BKP nicht unter Strafe gestellt, sondern im Abkommen wurde nur der Verlust der sich aus dem Pakt ergebenden Vorteile als (kollektive) Sanktion für die Staaten vorgesehen.146 Grewe und Jescheck scheinen sich auch im Hinblick auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit einig zu sein.147 Beide Autoren behaupteten, dass die Strafbarkeit dieser Verbrechen keine Grundlage im Völkerrecht gehabt hätte und deswegen Art. 6 (c) LC rückwirkendes Recht dargestellt habe.148 Die Idee, die Einhaltung der Menschenrechte durch das Völkerrecht zu gewährleisten, existierte laut Jescheck spätestens seit 1864. Der Begriff der humanitären Intervention und die sog. Martens’sche Klausel seien gerade Ausdrücke dieser Idee. Allerdings sei keiner dieser Begriffe bisher als Rechtsgrundlage für eine individuelle strafrechtliche Verantwortung angeführt worden.149 Obwohl die Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch einige Handlungen umfasse, die bereits nach nationalem Recht Straftaten darstellen würden, wie z. B. Mord oder Freiheitsberaubung, erstrecke sie sich aber auch auf Handlungen, wie z. B. die Verfolgung aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen, die im Rahmen des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrechen zum ersten Mal als strafbar erachtet worden seien. Deswegen hätte nicht gesagt werden dürfen, dass die Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein allgemeiner Rechtsgrundsatz

141

Vgl. Ehard, Süddt. JZ 1948, 353 (362). Ebd. 143 Ebd. 144 Jescheck akzeptierte allerdings, dass es nach dem geltenden Völkerrecht verboten gewesen sei, andere Staaten anzugreifen, sofern es sich um keine Selbstverteidigung handelte, vgl. Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 179. 145 Vgl. Ehard, Süddt. JZ 1948, 353 (362); Grewe, in: Nürnberg, S. 39–40. 146 Vgl. Ehard, Süddt. JZ 1948, 353 (363); Grewe, in: Nürnberg, S. 41–42; Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 179. 147 Ehards Aufsatz widmete sich nur der Analyse der Verbrechen gegen den Frieden. 148 Vgl. Grewe, in: Nürnberg, S. 25 ff.; Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 182 ff. 149 Vgl. Grewe, in: Nürnberg, S. 27–28; Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 183–184 ff., genauso wie im Hinblick auf die Kriegsverbrechen akzeptierte Jescheck, dass die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichneten Handlungen völkerrechtlich verboten waren. Er verneinte aber ihre völkerrechtliche Strafbarkeit. 142

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

gewesen sei.150 Grewe betonte zudem, dass im Völkerrecht vielmehr das Nichteinmischungsprinzip als Gewährleistung der Unabhängigkeit der Staaten gegolten habe.151 Es muss darauf hingewiesen werden, dass Grewe zwar auf völkerrechtlicher Ebene eine strikte Auffassung bzgl. des NCSL-Prinzips vertrat, auf nationaler Ebene hingegen durchaus eine Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit akzeptierte. Für Grewe musste der IMG als Besatzungsgericht betrachtet werden.152 Demnach seien im Prozess gegen die Kriegsverbrecher lediglich während der nationalsozialistischen Herrschaft geschaffene Rechtfertigungsgründe aufgehoben worden. Denn viele der Taten, die unter die Verbrechen gegen die Menschlichkeit subsumiert worden seien, wären bereits nach dem deutschen Strafrecht strafbar gewesen.153 Das NCSL-Prinzip stehe einer solchen Rückwirkung allerdings nicht entgegen, weil es nach Grewe nicht im Sinne „eines dogmatischen Gesetzespositivismus zur Verabsolutierung der formalen Legalität“ verstanden werden durfte.154 Hinsichtlich der Kriegsverbrechen bestand dagegen keine Einigkeit. Diesbezüglich unterschied Grewe zwischen staatlich autorisierten Kriegsrechtsverletzungen, zu denen er die Mehrheit der Handlungen zählte, von denen in Nürnberg die Rede war, und den Kriegsrechtsverletzungen, die aus eigenem Antrieb begangen wurden.155 Die erste Kategorie an Verletzungen könne nur den Staaten zugerechnet werden, weil es im Völkerrecht keine Norm gebe, die der Einzelperson eine unmittelbare Deliktsfähigkeit zuspreche.156 Für die Aburteilung der Taten der zweiten Kategorie sei der eigene Staat zuständig, und das nationale Recht sei anzuwenden.157 Das Nürnberger Urteil stelle also eine radikale Veränderung der bisherigen Rechtslage dar, ohne hierfür eine überzeugende Begründung liefern zu können.158 Diese Position stand im Widerspruch zu Jeschecks Auffassung, wonach die Strafbarkeit der Kriegsverbrechen sich aus einer von Grotius, Moser und Vattel begründeten völkerrechtlichen Tradition ergab, die juristisch außer Frage stehe.159

150

Vgl. Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 183–184 ff. Vgl. Grewe, in: Nürnberg, S. 28–29. 152 Ebd., S. 30. 153 Ebd., S. 31. 154 Ebd., S. 32. 155 Ebd., S. 19 ff. 156 Ebd. 157 Ebd. 158 Ebd. 159 Laut Jescheck lag das juristische Problem der Kriegsverbrechen nicht darin, „ob sie überhaupt nach Völkerrecht strafbar [waren], sondern in welchen Grenzen die Verletzung des Kriegsvölkerrechts ein Kriegsverbrechen darstellt[e]“, Jescheck, Verantwortlichkeit, S. 181. 151

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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2. Die Abhandlungen über das Kontrollratsgesetz Nr. 10 im Rahmen des damaligen Völkerrechts Wie bereits erwähnt, wurden das Rückwirkungsverbot und das NCSL-Prinzip auch im Zusammenhang mit dem KRG Nr. 10 analysiert. Auch in diesem Kontext befassten sich einige Abhandlungen mit der Frage, ob dieses Gesetz das vor dem Krieg geltende Völkerrecht widerspiegelte. Insbesondere der Kommentar zum KRG Nr. 10160 von Herbert Kraus und August von Knieriems Buch „Nürnberg: Rechtliche und menschliche Probleme“161 sind hier zu nennen. Kraus nahm in seinem Werk an, dass mehrere neue Regelungen auf eine rückwirkende Weise in die LC aufgenommen worden seien, kritisiert dies aber nicht. Sein Kommentar ist vielmehr deskriptiv. Allerdings berührt er einen wichtigen Punkt: Die vom IMG vertretene Auffassung, der zufolge das Völkerrecht nicht nur Pflichten und Rechte für souveräne Staaten, sondern auch für Einzelpersonen vorsehe, impliziere die Ablehnung der sog. dualistischen Theorien bzgl. des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und nationalem Recht. Kraus schreibt hierzu: „Dieser Satz, der eine energische und weitgehende Absage an die bisher herrschende dualistische (sogenannte klassische) Konstruktion des Verhältnisses von Völkerrecht zu Landesrecht darstellt, ist vielleicht die wichtigste These des gesamten Urteils; die, wenn sie sich allgemein verwirklicht, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch für die internationale Ordnung von unabsehbarer Bedeutung ist und vom Völkerrecht zum Weltrecht führt“.162

Von Knieriem, der die Aburteilung der Kriegsverbrecher auf Grundlage des Völkerrechts heftig kritisierte, ging gerade von einer dualistischen Ansicht aus. Diese beruhte vor allem auf der von Heinrich Triepel in seinem Buch „Völkerrecht und Landesrecht“ entwickelten Lehre.163 Laut Triepel sind Völkerrecht und Landesrecht verschiedene Rechtsordnungen: „[S]ie sind zwei Kreise, die sich höchstens berühren, niemals schneiden“.164 Dieser Auffassung zufolge müssen Völkerrecht und Landesrecht in doppelter Hinsicht als Gegensätze betrachtet werden. Zum einen würden sie zwei verschiedene Lebensverhältnisse regeln, und zum anderen würden sie sich aus unterschiedlichen Rechtsquellen ergeben.165 Unter Landesrecht sei demnach das Recht zu verstehen, das sein Dasein einem Staat verdanke. In diesem Sinne sei das Landesrecht staatliches Recht.166 Im Gegensatz dazu ergebe sich das Völkerrecht aus dem gemeinsamen Willen mehrerer Staaten.167 160

Kraus, Kontrollratgesetz Nr. 10. Dieses Buch erschien im Jahr 1953. 162 Kraus, Kontrollratgesetz Nr. 10., S. 41. 163 Vgl. von Knieriem, S. 36 ff.; dieses 1899 erschienene Buch gilt als theoretische Grundlage des Dualismus, vgl. Fassbender/Aust, in: Basistexte, S. 26. 164 Triepel, S. 111; die dualistische Ansicht wurde auch von Dionisio Anzilotti, Richter am StIGH, vertreten, siehe Anzilotti, S. 36 ff.; siehe auch Oppenheim, S. 25–29. 165 Vgl. Triepel, S. 9. 166 Ebd. 167 Triepel lehnt Ausdrücke wie „Rechtsüberzeugung“ oder „Rechtsbewusstsein“ als Völkerrechtsquellen ab, siehe ebd., S. 30. Er geht davon aus, dass das Recht das Produkt eines Willens 161

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Das Völkerrecht regele „die Beziehungen des Staates als Totalität zu seinesgleichen“,168 und somit sei das Verhältnis zwischen Staat und Individuum für das Völkerrecht unzugänglich.169 Aus dieser Abgrenzung zwischen Völkerrecht und Landesrecht ergebe sich dann, dass zur Rezeption bzw. Transformation des Völkerrechts ein Umsetzungsakt seitens des jeweiligen Staates erforderlich sei, damit eine völkerrechtliche Norm innerstaatliche Wirkung entfalten könne.170 In diesem Fall handele es sich um den Erlass neuen Rechts.171 Folglich könne die Schaffung einer völkerrechtlichen Norm niemals das Erfordernis zum Erlassen einer landesrechtlichen Regelung ersetzen.172 Daraus folge, dass sich die Individuen lediglich in der Sphäre des Landesrechts bewegen würden, da das Völkerrecht sie nicht betreffen würde.173 Die Einzelperson müsse also stets nur ihr Landesrecht einhalten. Triepel behauptet hierzu: „[Die Einzelperson] ist weder verbunden noch befugt, sich um die Ueber­ einstimmung des Landesrechts mit dem Völkerrecht zu kümmern“.174 Von daher sei das völkerrechtswidrige nationale Recht für die Individuen genauso bindend wie das völkerrechtskonforme nationale Recht.175 Vor diesem Hintergrund versuchte von Knieriem zu beweisen, dass die Staatenpraxis vor und während des Krieges der dualistischen Theorie entsprach. Er bezog sich u. a. auf die Rechtsordnungen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschlands während der Weimarer Republik.176 Ihm zufolge bestanden in allen diesen Staaten Regelungen, die völkerrechtliche Rechtssätze in nationales Recht transformierten.177 Aus diesem Grund sei: Recht im objektiven Sinne sei der Inbegriff einzelner Rechtssätze; ein Rechtssatz sei dann „der zum Zwecke der Abgrenzung menschlicher Willenssphären erklärte Inhalt eines Willens“, ebd., S. 28. Insofern sagt Triepel, dass „nur ein zu einer Willenseinheit durch Willenseinigung zusammengeflossener Gemeinwillen mehrere oder vieler Staaten […] die Quelle von Völkerrecht sein“ könne, ebd., S. 32; Mittel zur Entstehung des staatlichen Willens seien die Verträge, die die Staaten miteinander abschließen würden, ebd., S. 33. 168 Ebd., S. 121. 169 Ebd. 170 Ebd., S. 112. 171 Ebd. 172 Ebd. 173 Vgl. von Knieriem, S. 42. 174 Triepel, S. 261. 175 Ebd. 176 Vgl. von Knieriem, S. 44 ff. 177 Er zitierte beispielsweise Art. 4 der Weimarer Verfassung als eine Norm, die das Völkerrecht in Landesrecht transformiere: „Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts“; Art. VI 2 der amerikanischen Verfassung wurde auch zitiert, nach dieser Norm sei das Landesrecht explizit vorrangig vor dem Völkerrecht, ebd., S. 46–49; von Knieriem stellte also fest, „daß in allen Rechtsordnungen, die überhaupt Völkerrecht in Landesrecht transformieren, zu der Zeit der Begehung der den Nürnberger Angeklagten vorgeworfenen Handlungen dem Landesrecht der Vorrang vor dem Völkerrecht zuerkannt wurde“, laut Knieriem hatte sich dieser Zustand Anfang der 1950er Jahre nicht geändert, ebd., S. 50.

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behauptete von Knieriem, dass die monistische Theorie, der zufolge das Völkerrecht und das nationale Recht eine einzige Ordnung bilden würden, schlicht nicht der Wirklichkeit des Völkerrechts entspräche.178 Ein weiteres von Knieriem zur Verteidigung der dualistischen Perspektive als Basis der Bewertung der völkerrechtlichen Aburteilung von Kriegsverbrechern dargestelltes Argument ist hervorzuheben. Von Knieriem bezog sich auf den Zusammenhang zwischen „Schutz“ und „Gehorsam“ als Grundlage für die Anerkennung des Rechts (protego ergo obligo).179 Er meinte, dass das Völkerrecht keinen Gehorsam verlangen könne, solange es nicht in der Lage sei, die ihm gehorchende Person vor der Bestrafung durch den Staat zu schützen.180 In diesem Kontext wies er darauf hin, dass die internationalen Institutionen von der Unterstützung einzelner Großmächte abhängig und sie ohne diese Unterstützung völlig machtlos seien. Deshalb könne der von der LC und dem KRG Nr. 10 implizierte Vorrang des Völkerrechts vor dem nationalen Recht nur für kleine Staaten gelten, was wiederum nichts mehr „mit Recht überhaupt und mit Völkerrecht im Besonderen […] zu tun hätte“.181 Es muss an dieser Stelle betont werden, dass die Anerkennung der dualistischen Theorie zur Ablehnung des Völkerstrafrechts als Ganzes führt. Von Knieriems Auffassung stellt ein gutes Beispiel hierfür dar. Denn falls es im Völkerrecht keine Normen geben würde, die die Individuen unmittelbar binden würden, könnten nur Staaten völkerrechtlich verantwortlich sein. Deshalb behauptete er, dass zur Zeit des Zweiten Weltkriegs kein Völkerstrafrecht im engeren Sinne existiert habe und insofern sowohl die LC als auch das KRG Nr. 10 rückwirkendes neues Recht seien.182 Deswegen akzeptierte von Knieriem nicht einmal die internationale Strafbarkeit der Kriegsverbrechen. Weder die Haager Konvention IV von 1907 über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, noch die GK von 1929 über die Behandlung von Kriegsgefangenen habe bindende Wirkung für den Einzelnen.183 3. Die Abhandlungen über das Kontrollratsgesetz Nr. 10 als Besatzungsrecht Mehrere der Abhandlungen, die zwischen 1946 und 1950 im deutschen Rechtskreis erschienen und sich mit der Aburteilung der Kriegsverbrecher beschäftigten, widmeten sich der Analyse des KRG Nr. 10 und betrachteten es, wie bereits gesagt, als Besatzungsrecht.184 In diesem Zusammenhang war die relevante Frage 178

Ebd., S. 52. Ebd., S. 56. 180 Ebd. 181 Ebd. 182 Ebd., S. 13–14, 19–20. 183 Ebd., S. 64 ff. 184 Die folgenden 1947 in der Süddeutschen Juristen-Zeitung veröffentlichten Aufsätze sind hier zu erwähnen: „Zur Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 durch deutsche Gerichte“ 179

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

bzgl. des NCSL-Prinzips, ob die Anwendung des KRG Nr. 10 als nationales Recht zur rückwirkenden Bestrafung von Taten führte, die bei Tatbegehung nach deutschem Recht nicht strafbar waren.185 Dieses Problem stellte sich, weil Art.  III Abs. 1 (d) KRG Nr. 10 vorsah, dass die Besatzungsbehörde für die Aburteilung der von deutschen Staatsbürgern gegen andere deutsche Staatsbürger bzw. Staatenlose begangenen Straftaten deutsche Gerichte für zuständig erklären konnten. Dies geschah vornehmlich in der französischen und britischen Besatzungszone.186 Diese Debatte betraf insbesondere die Anwendung des Art. II Abs. 1 (c) KRG Nr. 10 über Verbrechen gegen die Menschlichkeit, da die Bestimmungen bzgl. der Kriegsverbrechen nur Anwendung fanden, wenn Kombattanten oder Zivilisten anderer Staaten verletzt wurden, und die Verbrechen gegen den Frieden einen Angriff gegen eine andere Nation voraussetzten.187 Durch die Betrachtung der in diesen Aufsätzen vorgetragenen Argumente können erneut zwei wichtige Aspekte gesehen werden. Erstens ist dies der entscheidende Zusammenhang zwischen rechtstheoretischen Standpunkten und den unterschiedlichen Auffassungen zum NCSL-Prinzip. Jede Meinung zum NCSLPrinzip im Allgemeinen sowie jede Bewertung über die mögliche Rückwirkung insbesondere im Rahmen von Gräueltaten und massenhafter Gewalt beruhen auf einem bestimmten Verständnis des Rechts und auf einer bestimmten Art und Weise, das Verhältnis von Recht und Moral zu verstehen. Zweitens scheinen die Auffassungen zum NCSL-Prinzip flexibler zu sein, wenn es um die Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht, als im Fall von Verbrechen gegen den Frieden. In der im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg erfolgten Diskussion im deutschen Rechtskreis wurden die moralischen bzw. am Naturrecht orientierten Argumente gerade in Bezug auf die innerstaatliche Bestrafung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgetragen. Drei Positionen wurden in der Diskussion um die Anwendung des KRG Nr. 10 als Besatzungsrecht vertreten. Zuerst soll Hodenbergs Auffassung erörtert werden, der für die Achtung des NCSL-Prinzips in seiner traditionellen Form plädierte. (Hodenberg, Süddt. JZ 1947, 113), „Die Bestrafung von Humanitätsverbrechen und der Grundsatz ‚nullum crimen sine lege‘“ (Wimmer, Süddt.  JZ 1947, 123), „Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (Radbruch, Süddt. JZ 1947, 131) und „Zur Frage der strafrechtlichen Verantwortung der Richter für die Anwendung naturrechtswidriger Gesetze“ (Coing, Süddt. JZ 1947, 61); auch der in der Deutschen Rechts-Zeitschrift veröffentlichte Aufsatz „Die Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 durch die deutschen Gerichte“ (Güde, DRZ 1947, 111) ist an dieser Stelle relevant. 185 Hodenberg führte hierzu aus: „Die grundsätzliche Frage, die sich aus dem Ineinandergreifen des KontrG 10 und des deutschen Rechts ergibt, ist aber die, ob eine Tat auch dann, wenn sie nach deutschem Strafrecht zur Zeit der Begehung nicht strafbar war, nunmehr unmittelbar auf Grund des KontrG 10 bestraft werden kann“, Hodenberg, Süddt. JZ 1947, 113 (116). 186 Vgl. Hodenberg, Süddt. JZ 1947, 113 (113); Wimmer, Süddt. JZ 1947, 123 (123); Güde, DRZ 1947, 111 (111). 187 Verbrechen gegen den Frieden und Kriegsverbrechen konnten schon ihrer Definition nach nicht von Deutschen gegen Deutsche begangen werden, ebd., S. 112.

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Hodenberg betonte, dass das Dritte Reich den deutschen Rechtsstaat zerstört habe: „Alles wurde den politischen Zwecken des Nationalsozialismus untergeordnet, auch die Rechtspflege. Dieses war zu einem Instrument der Politik geworden“.188 Dies habe das Rechtsbewusstsein und das Vertrauen in die deutsche Rechtspflege erschüttert. Hodenberg wies deswegen darauf hin, dass, falls der Rechtsstaat in Deutschland überhaupt wiederhergestellt werden sollte, wesentliche Grundsätze wie das NCSL-Prinzip wieder anerkannt und beachtet werden müssten.189 Hodenberg hob somit die Rolle des NCSL-Prinzips hervor, die dieses seit Anfang des 19. Jahrhunderts für die Rechtssicherheit mit Blick auf den Schutz des Individuums gegen staatliche Willkür gespielt hatte.190 Das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28.06.1935, wodurch eine Bestrafung nach dem „Grundgedanken“ eines Strafgesetzes und nach „gesundem Volksempfinden“ ermöglicht worden war, habe diese sich sogar in der Weimarer Verfassung widerspiegelnde Tradition während der nationalsozialistischen Herrschaft unterbrochen.191 Allerdings wurden alle Gesetze außer Kraft gesetzt, die nach Auffassung der Alliierten das nationalsozialistische Gedankengut enthielten. Die auf einer Analogie bzw. auf dem „gesunden Volksempfinden“ beruhende Bestrafung wurde somit von den Alliierten unter Androhung der Todesstrafe verboten.192 Laut Hodenberg konnte es unter diesen Umständen nicht sein, dass Grundsätze wie das NCSL-Prinzip, deren Befolgung gerade von der Militärregierung wieder angeordnet und deren Beachtung für deutsche Richter wieder verpflichtend gemacht worden war, nunmehr von den deutschen Gerichten wieder außer Acht gelassen werden sollten.193 Hodenberg wies also darauf hin, dass der Verweis auf eine Art „höhere Gerechtigkeit“ als Rechtfertigung für die Missachtung des NCSL-Prinzips im Kontext der Strafprozesse wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ähnlich wie der nationalsozialistische Verweis auf das „gesunde Volksempfinden“ sei.194 Daraus ergab sich für ihn ein tiefes Misstrauen gegenüber allen Auffassungen, die moralischen Erwägungen irgendeine rechtliche Relevanz zusprachen. Da lediglich nach der Verwirklichung der eigenen Vorstellung von Gerechtigkeit gestrebt werden könne, sei die objektive Gerechtigkeit ein unerreichbares Ideal.195 Insofern dürfe nur die auf objektivem Recht basierende Rechtssicherheit von Bedeutung sein. Alles 188

Vgl. Hodenberg, Süddt. JZ 1947, 113 (113). Ebd. 190 Ebd., S. 118. 191 Ebd., S. 119; siehe auch oben, erstes Kapitel, B. II. 1. 192 Hodenberg bezog sich auf Art. 4 und 6 des Militärregierungsgesetzes Nr. 1 (20.05.1945), Hodenberg, Süddt. JZ 1947, 113 (119). 193 Ebd., S. 119–120. 194 Ebd., S. 120; z. B. Carl Schmitt kritisierte unter Verweis auf die Idee von „Gerechtigkeit“ die „leere Gesetzlichkeit“, um die Entscheidungen Adolf Hitlers zu rechtfertigen. Schmitt bezog sich insofern auf „den Gegensatz eines substanzhaften, von Sittlichkeit und Gerechtigkeit nicht abgetrennten Rechts zu der leeren Gesetzlichkeit einer unwahren Neutralität“, Schmitt, DJZ 1934, 945 (945). 195 Vgl. Hodenberg, Süddt. JZ 1947, 113 (120). 189

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

andere stelle nur die Anwendung eines nachträglichen und willkürlichen „gesunden Rechtsgefühls“ des Richters dar.196 Im Gegensatz zu Hodenberg vertraten Wimmer, Radbruch und Güde den Standpunkt, dass die Grundlage der innerstaatlichen Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Verwirklichung besonderer Werte und in der Durchsetzung besonderer Rechte bestehe, auch wenn der Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit selbst ein neues Konstrukt darstelle. Daher sei eine gewisse Flexibilität des NCSL-Prinzips in diesem Bereich anzunehmen. Wimmer thematisierte auch die von den Nationalsozialisten vorgenommene Änderung des § 2 RStGB. In diesem Zusammenhang behauptete er, dass der reformierte § 2 RStGB keine ethisch gebundene Norm darstelle, sondern vielmehr besage, dass der Richter über das Strafgesetz hinaus verurteilen und hierzu auf die sog. „völkische Sittenordnung“ zurückgreifen dürfe, mit der „eine ethikfreie, wandelbare Nützlichkeitsordnung“ gemeint sei.197 Deshalb könne dies nicht mit der Bestrafung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit verglichen werden. In diesem Argument zeigt sich erneut eine zentrale Idee, die in der vorliegenden Arbeit bereits in Bezug auf die Nachfolgeprozesse dargestellt wurde und deren Betrachtung für das Verständnis des NCSL-Prinzips im Kontext der internationalen Verbrechen maßgeblich ist. Es handelt sich um die Idee, dass die rechtliche und moralische Bedeutung des NCSL-Prinzips von den Werten bzw. der Ideologie abhing, die durch seine Durchsetzung oder Beschränkung verwirklicht werden sollten. Wimmer behauptete insofern: „dass der Richter an das bei Begehung der Tat geltende Strafgesetz streng gebunden sei, ist an sich ethisch indifferent“,198 ebenso wie die freie richterliche Rechtschöpfung. „Beides kann ethisch positiv werden, wenn es für das ethische Gemeinschaftsleben nützlich ist“.199 Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit würden sich dann in einem Spannungsverhältnis befinden, das je nach den gegebenen Umständen gelöst werden müsse.200 Gerade bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit handele es sich um eine besagte Ausnahmesituation, in der das NCSL-Prinzip, wenn nötig, außer Kraft gesetzt werden müsse. Die Bestrafung solcher Untaten stellt laut Wimmer eine ethische Pflicht dar, die mit dem deutschen Strafrecht, wie es vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten existierte, nicht in vollem Umfang erfüllt werden könne.201 Wimmer, Radbruch und Güde waren sich dahingehend einig, dass der Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie er in der LC und im KRG Nr. 10 definiert wurde, wesentliche neue Elemente aufwies, obwohl er auch einige bereits als strafbar anerkannte Handlungen umfasste. 196

Ebd., S. 120. Vgl. Wimmer, Süddt. JZ 1947, 123 (126). 198 Ebd., S. 128. 199 Ebd. 200 Ebd. 201 Ebd., S. 129. 197

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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Die Unmenschlichkeit, d. h. „die absichtliche Schädigung oder Zerstörung von Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“, stellte laut Wimmer den von den nationalsozialistischen Untaten eingeschlossenen (neuen) Unrechtsgehalt dar.202 Radbruch erwähnte seinerseits auch in diesem Sinne drei von der Humanität als Rechtsbegriff umschlossene Elemente: Bildung, Menschenfreundlichkeit und Menschenwürde.203 Die von den Nationalsozialisten begangenen Taten müssten als Verletzung dieser drei Elemente der Menschlichkeit betrachtet werden. Daher seien sie ohne Rücksicht auf die Nationalität der Opfer als Verbrechen gegen die ganze Menschheit aufzufassen, und folglich müsste ein eigenständiger neuer Tatbestand in ihnen erblickt werden.204 Auch Güde versuchte aufzuzeigen, welche Aspekte der Verbrechen gegen die Menschlichkeit neu waren. Dafür gliederte er die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in drei Gruppen: gebräuchliche Deliktsbezeichnungen wie Mord, Freiheitsberaubung und Vergewaltigung; Massenverbrechen wie Ausrottung, Versklavung und Zwangsverschleppung; Verfolgung aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen.205 Die Taten der ersten Gruppe würden eine Art „gemeinmenschliches Strafrecht“ bzw. „quasi ein natürliches Strafrecht“ darstellen, und somit seien sie nichts Neues,206 wohingegen die Delikte der zweiten und dritten Gruppe neue Aspekte enthalten würden. Die Massenverbrechen hätten wegen ihrer Quantität einen besonderen Unrechtsgehalt, der durch eine Behandlung der Einzeldelikte nicht erfasst werden könne. Hier „handelte [es] sich um das Problem des Übergangs der Quantität in die andere Qualität“.207 Darüber hinaus habe die Sraftaten, die als Verfolgung bezeichnet werden konnten, eine durch die Staatsgewalt zugefügte, erhebliche Verletzung natürlicher und unveräußerlicher Rechte,

202 Ebd., S.  130; die zu diesem Zeitpunkt im deutschen Strafrecht existierenden Einzeltatbestände vielen nur teilweise direkt unter den Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder aber in ihrer Kombination; der Ausdruck Verbrechen gegen die Menschlichkeit ergabe somit einen neuen kriminologischen Gehalt, siehe ebd. 203 Radbruch erklärte diese drei Begriffe auf folgende Weise: „Eine unschätzbare Wortdeutung in den Noctes Atticae des Aulus Gellius (XIII 16) zeigt, daß sich nach Cicero die vulgäre Wortbedeutung von dem Begriff der Bildung‚ dem, was die Griechen paideia nennen, die Römer aber Erziehung und Unterricht in den Künsten und Wissenschaften‘ verschoben hatte zu dem, ‚was von den Griechen philantropia genannt wird und die Umgänglichkeit und das Wohlwollen gegenüber allen Menschen insgemein bezeichnet‘. Als zu Beginn der Neuzeit die Geister sich wieder der Antike zuwandten, trat bei den Humanisten der Bildungsgedanke in den Begriff der Humanität erneut in den Vordergrund. Auch der Neuhumanismus unserer Klassiker sieht den Kern der Humanität in der antiken Bildung, betont aber zugleich […] die praktische Seite des Humanitätsbegriff: die Menschenfreundlichkeit […] Endlich sieht Kant in der Humanität vornehmlich die Achtung der Menschenwürde, die es gebietet, ihn zu einem bloßen Mittel für fremde Zwecke herabzuwürdigen“, Radbruch, Süddt. JZ 1947, 131 (131–132). 204 Ebd., S. 133. 205 Vgl. Güde, DRZ 1947, 111 (113). 206 Ebd., S. 114. 207 Ebd.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

also der Menschenrechte, dargestellt, die bisher in diesem Umfang im positiven Recht nicht unter Strafe gestellt gewesen sei.208 Vor diesem Hintergrund hoben sowohl Radbruch als auch Güde hervor, dass die Bestimmungen der LC und des KRG Nr. 10, in denen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert wurden, keine Straftatbestände im traditionellen Sinne seien, sie mithin nicht dem Begriff des Straftatbestandes im deutschen Rechtskreis entsprechen würden.209 Es wurde im vorliegenden Abschnitt bereits gezeigt, dass Autoren wie Ehard, Grewe und Jescheck die Bestrafung des Angriffskrieges kritisierten, weil bei Tatbegehung kein entsprechender Straftatbestand im Völkerrecht existiert habe. Radbruchs und Güdes Erwägungen erweisen sich deshalb als wichtige Anhaltspunkte, um das NCSL-Prinzip im Rahmen des Völkerstrafrechts zu verstehen. „Echte“ Straftatbestände sind in einem rechtlichen Kontext nicht zu erwarten, der eine sehr tiefe politische und moralische Konnotation hat und dessen Quellensystem nicht demjenigen der kodifizierten Rechtsordnungen entspricht. Gerade aus diesem Grund argumentierte Radbruch, dass Art. 6 (c) LC und Art. II Abs. 1 (c) KRG Nr. 10 keinen Straftatbestand enthalten würden, sondern vielmehr einen „Gesichtspunkt“, unter dem die Rechtsprechung einen entsprechenden Tatbestand allmählich erarbeiten könne, oder einen Rahmen der erst durch richterliche Präjudizen ausgefüllt werden müsse.210 In diesem Sinne betonte auch Güde, dass es sich bei diesen „Tatbeständen“, sofern man überhaupt von solchen sprechen könne, eher um die Veranschaulichung des Unrechtstypus, der Angriffsrichtung und des spezifischen Unrechtsgehaltes handele als um die genaue Beschreibung der unter Strafe gestellten Handlungen.211 Deshalb seien sie gerade so aufgebaut, dass zunächst eine generelle Überschrift erscheine, der eine Aufzählung bestimmter Handlungen mit der Erklärung folge, dass die Aufzählung nur beispielhaft und deshalb nicht abschließend sei.212 Deshalb behauptete Güde: „Alle Handlungen, […] über die dieses an Beispielen verdeutlichte Unwerturteil gefällt werden kann, fallen unter die Strafdrohung“.213 Durch diese Auffassung wird die richterliche Bindung an das positive Recht gelockert, woraus sich ein weiter richterlicher Spielraum ergeben kann. Es ist auch unzweifelhaft, dass hier die Möglichkeit geschaffen wurde, moralische Erwägungen zur „Füllung“ der „Lücken“ des positiven Rechts heranzuziehen, was zu einem Risiko der willkürlichen Bestrafung führt. Aber es muss auch anerkannt werden, dass Wimmer, Radbruch und Güde in ihren Aufsätzen die tatsächlich hinter der LC und dem KRG Nr. 10 stehenden Gedanken erkennen und herausarbeiten. In diesem Sinne muss betont werden, dass diese Regelungen in ihrem Kontext gewür-

208

Ebd., S. 115. Siehe oben, drittes Kapitel, A. III. 3. 210 Vgl. Radbruch, Süddt. JZ 1947, 131 (133). 211 Vgl. Güde, DRZ 1947, 111 (113). 212 Ebd. 213 Ebd. 209

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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digt werden müssen. Folglich dürfen Bestimmungen, die dem deutschen Verständnis des Straftatbestandes nicht entsprechen, nicht so bewertet werden, als wären sie als Straftatbestände konzipiert worden. Daraus folgt, dass eine Konzeption des NCSL-Prinzips, welche das Bestehen von Straftatbeständen voraussetzt, nicht als Maßstab für Normen angewendet werden darf, die von Anfang an nicht als Straftatbestände im „üblichen“ Sinne entworfen wurden. Es handelt sich hierbei nicht um die unkritische Rechtfertigung einer bestimmten Rechtslage, sondern um ein näheres Verständnis des analysierten rechtlichen Phänomens.214 Insofern ist auch zu betonen, dass sowohl Radbruch als auch Güde die Gefahr erkannten, die von ihren Thesen für die Rechtssicherheit ausging. Sie versuchten allerdings dieses Problem zu umgehen, ohne das Wesen der von ihnen analysierten Bestimmungen und ihren Kontext außer Acht zu lassen. Deshalb betonte Radbruch, dass eine solche „Durchbrechung“ des NCSL-Prinzips eine Ausnahme bleiben müsse,215 und Güde meinte, dass Begriffe wie „Menschlichkeit“, die den Unrechtstypus der internationalen Verbrechen ausdrücken würden, restriktiv auszulegen seien.216 Zwischen Hodenbergs Auffassung einerseits und den Ansichten von Wimmer, Radbruch und Güde andererseits liegt der von Coing vertretene Standpunkt. Obwohl er eine Auffassung vertrat, die entscheidend für die Entwicklung des Völkerstrafrechts war und im Allgemeinen Radbruchs theoretischem Ausganspunkt entsprach, kam er zu einer anderen Schlussfolgerung als Wimmer, Radbruch und Güde. Coing ging von der Annahme aus, dass das Recht der Verwirklichung zweier Ziele diene: „der Sicherung der sozialen Ordnung und der Verwirklichung der Gerechtigkeit“.217 Das Recht sichere den sozialen Frieden „nicht allein als Zwangsordnung, sondern eben dadurch, daß es eine gerechte, innerlich gerechtfertigte und deshalb auch in einem höheren ethischen Sinn Frieden stiftende Ordnung schafft“.218 Gerade weil das Recht gerecht sei, sichere es Frieden und Ordnung.219 Das Recht als Machtordnung müsse inhaltlich folglich durch Werte wie Gerechtigkeit, Zuverlässigkeit und Treue bestimmt sein.220 Die Autorität des Rechts sei somit nicht nur politisch, sondern auch moralisch begründet.221

214 In diesem Sinne meinte Radbruch: „Diese Überlegung kann nun auch dazu dienen, die viel angefochtene Rückwirkung der Strafbestimmungen des Nürnberger Statuts und des Gesetz Nr. 10 verständlich zu machen“, Radbruch, Süddt. JZ 1947, 131 (134). 215 Laut Radbruch habe das KRG Nr. 10 anscheinend rückwirkenden Effekt, aber es sei in Wirklichkeit um die Anwendung des bereits gegoltenen Naturrechts bzw. des übergesetzlichen Rechts gegangen, siehe ebd., S. 135; er betont aber, dass diese Überlegungen nur hinsichtlich der einzigartigen Erfahrung der zwölf NS-Jahre gelten würden, die als dämonisch bzw. apokalyptisch zu kennzeichnen seien, ebd., S. 136. 216 Aus diesem Grund schloss Güde beispielsweise die Fälle der Denunzianten von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus, vgl. Güde, DRZ 1947, 111 (115 ff.). 217 Coing, Süddt. JZ 1947, 61 (61). 218 Ebd. 219 Ebd. 220 Ebd. 221 Ebd.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Eine Rechtsordnung wie diejenige des NS-Staates, die einen bestimmten Teil der Bevölkerung zu vernichten versucht, verliert laut Coing ihre sittliche Würde. Sie habe keine moralische Autorität mehr.222 Eine solche Rechtsordnung erweise sich lediglich als bloße Zwangsordnung des Staates. Sie könne zwar immer noch positives Recht sein, stelle aber ein der sittlichen Natur des Rechtes widersprechendes, d. h. naturrechtswidriges Recht dar.223 In diesem Kontext wies Coing allerdings darauf hin, dass das NCSL-Prinzip auch einen Fundamentalsatz der Gerechtigkeit enthalte, der der Macht des Gesetzgebers im Interesse der Freiheit Grenzen setze.224 Deswegen dürfe die Strafgewalt nur zum Schutz der staatlichen Friedensordnung eingesetzt werden, nicht aber der Sittlichkeit selbst.225 Genauso wie Hodenberg betonte also Coing, dass der Niedergang der deutschen Strafrechtpflege gerade mit der Aufhebung des NCSL-Prinzips im Interesse der sog. „materiel­len Gerechtigkeit“ begonnen habe.226 Vor diesem Hintergrund behauptete er hinsichtlich der möglichen strafrechtlichen Haltung gewisser deutscher Richter, die während der nationalsozialistischen Herrschaft „naturrechtwidrige“ Gesetze angewendet hätten, dass nicht einmal eine solche Situation eine rückwirkende Bestrafung begründen könne.227

IV. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der in beiden Rechtskreisen erfolgten Diskussionen über das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip Die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg sowohl im Common-Law- als auch im deutschen Rechtskreis erfolgten Debatten über die Aburteilung der Kriegsverbrecher weisen einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf, die kurz zusammengefasst werden sollen, um die theoretischen Wurzeln des Völkerstrafrechts ermitteln zu können. Zuerst muss darauf hingewiesen werden, dass in beiden Kontexten auf positivistischen Ansätzen beruhende Kritiken geäußert wurden. Allerdings waren die theoretischen Ausgangspunkte dieser Kritiken unterschiedlich. Deshalb hatten sie verschiedene Ausmaße und fokussierten sich teilweise auf unterschiedliche Aspekte. Die positivistische Kritik im Common-Law-Rechtskreis ging von zwei theoretischen Säulen aus: von Austins Positivismus und von Jellineks Souveränitätsund Völkerrechtsbegriff, d. h. von der Selbstverpflichtungslehre. Vor diesem Hintergrund nahm sie u. a. an, dass der Staat das einzige Völkerrechtssubjekt sei, und

222

Ebd. Ebd. 224 Ebd., S. 63. 225 Ebd. 226 Ebd. 227 Ebd. 223

A. Rechtspositivismus, Pragmatismus und Naturrecht

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beschränkte ihre Analyse auf die Betrachtung des positiven Völkerrechts und der Staatenpraxis. Diese Kritik bezog sich insbesondere auf die Strafbarkeit der Verbrechen gegen den Frieden und betonte, dass die LC diesbezüglich neues rückwirkendes Recht geschaffen habe. Sie konzentrierte sich jedoch mehr auf das Problem der zukünftigen unparteiischen Anwendung dieses neuen Rechts als auf die Verletzung des NCSL-Prinzips an sich. Interessanterweise war die im CommonLaw-Rechtskreis vorgetragene Kritik am Nürnberger Urteil weniger ausgeprägt mit Blick auf die Verurteilung wegen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Einige Autoren, wie z. B. Finch und Radin, scheinen sich in dieser Hinsicht von der positivistischen Ansicht zu lösen. Der Grund hierfür war wohl die von diesen Grausamkeiten ausgelöste Empörung. Die im deutschen Rechtskreis zu beobachtende positivistische Kritik stützte sich eher auf Triepels dualistische Theorie über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht. Ferner ging sie von einer Vorstellung des NCSL-Prinzips aus, der zufolge eine Handlung nicht nur verboten sei, sondern auch explizit unter Strafe gestellt werden müsse, damit sie strafbar sein könne. Aus diesem Grund kritisieren sie den rückwirkenden Charakter der LC und des KRG Nr. 10 nicht nur im Hinblick auf die Verbrechen gegen den Frieden, sondern auch in Bezug auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Einige deutsche Autoren, wie etwa Grewe und von Knieriem, waren sogar der Meinung, dass auch die internationale Strafbarkeit der Kriegsverbrechen das NCSL-Prinzip verletze. Es kann daher behauptet werden, dass die Verletzung des NCSL-Prinzips im deutschen Raum heftiger kritisiert wurde als im Common-Law-Rechtskreis. Nach den in Deutschland vertretenen Ansichten betraf die Verletzung des NCSL-Prinzips unmittelbar die Legitimation der Strafprozesse, weil sie unter diesen Umständen als eine willkürliche Ausübung von Strafgewalt erschienen. Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde im CommonLaw-Rechtskreis allerdings auch mit naturrechtlichen und pragmatischen Argumenten verteidigt. In diesem Kontext hatten die Theorie von Grotius über den gerechten Krieg und sein Begriff des Völkerrechts eine besondere Bedeutung. Außerdem spielte der in der Common-Law-Rechtstradition entwickelte Begriff der Delikte mala in se eine maßgebliche Rolle. Demnach stellte die Idee, dass die Staatssouveränität gewisse sich aus moralischen Prinzipien ableitende und sich im Völkerrecht widerspiegelnde Grenzen habe, die Grundlage des Nürnberger Prozesses dar. Diese Prinzipien seien auch für Individuen bindend. Zudem setzten ihre Verwirklichung und Durchsetzung ein anpassungsfähiges Konzept des Rechts voraus, das durch pragmatische Erwägungen begründet wurde. Vor diesem Hintergrund ersetzten diese Autoren das strikte Verständnis des Völkergewohnheitsrechts, dem zufolge die Elemente der Staatenpraxis und der Rechtsüberzeugung vollständig bewiesen werden müssen, durch ein flexibleres Konzept, nach dem die sich ergebenden Lücken bzw. Zweifel hinsichtlich der Existenz von Völkergewohnheitsrecht durch die Deduktion aus Prinzipien und moralischen Wertungen gefüllt werden dürfen.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Im Unterschied dazu wurden naturrechtliche Argumente in Bezug auf das NCSL-Prinzip im deutschen Rechtskreis vornehmlich im Rahmen der Analyse des KRG Nr. 10 vorgetragen, das als Besatzungsrecht betrachtet wurde. Deswegen machten die deutschen Autoren, die eine naturrechtliche Auffassung vertraten, keine Ausführungen zu naturrechtlichen Aspekten auf völkerrechtlicher Ebene, sondern stellten allgemeine Erwägungen zum Rechtsbegriff an, durch die das Problem des von den Nationalsozialisten erlassenen, extrem ungerechten positiven Rechts gelöst werden sollte. In diesem Zusammenhang wurden andere als pragmatische Argumente vorgebracht, mit denen die Einrichtung neuer Institutionen gerechtfertigt werden sollte. So wurde etwa behauptet, dass es sich hierbei um die „Wiederherstellung“ des Rechts als „gerechter“ Ordnung handele. Es muss insofern betont werden, dass Auffassungen, die einen engen Zusammenhang von Recht und Moral in dem Sinne anerkennen, dass moralische Werturteile in der richterlichen Rechtsfindung eine Rolle spielen dürften, und zu einem flexiblen Konzept des NCSL-Prinzips führen, in Anbetracht der von den NS-Tätern begangenen Grausamkeiten in beiden Kontexten vertreten wurden. Dies zeigt also den engen Zusammenhang zwischen naturrechtlichen Ansätzen und der Veränderung bzw. Schaffung des Rechts, auf den bereits von Pound hinsichtlich des aufgeklärten Naturrechts hingewiesen wurde und der sich aus einer idealisierten Vorstellung der gesellschaftlichen Ordnung ergibt.228

B. Die Idee der Legalitätund die theoretischen Prämissen zur Entwicklung des Völkerstrafrechts  Aus den theoretischen Spannungen, die im vorherigen Abschnitt dargestellt wurden, können die theoretischen Prämissen abstrahiert werden, die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg zur Rationalisierung der völkerrechtlichen Bestrafung massenhafter Gräueltaten beitrugen. Wie bereits gesagt, beschränkt sich die Relevanz dieser Prämissen jedoch nicht nur auf die damals durchgeführten internationalen Strafprozesse. Sie erlauben es vielmehr auch, den Entstehungsprozess internationaler Verbrechen im Allgemeinen und daher die weitere Entwicklung des Völkerstrafrechts zu verstehen. An dieser Stelle sollen nunmehr vornehmlich zwei Aspekte betrachtet werden: die Konzeption des Völkerrechts und die verschiedenen Verhältnisse zwischen Recht und Moral, die der Entwicklung des Völkerstrafrechts zugrunde liegen. Dabei muss daran erinnert werden, dass diese zwei Aspekte die Handhabung des Rückwirkungsverbots durch die internationa 228 Wie Pound es ausdrückte: „Primarily the theory of natural law as a juristic doctrine was a theorie of making law“, vgl. Pound, Interpretations, S. 5, ihm zufolge bildet das Naturrecht „a fiction of a superior body of legal principle, existing in reason, of which the actual body of law is but an imperfect reflection and by which, therefore, the actual law may be corrected and supplemented“, ebd., S. 133.

B. Die Idee der Legalität  

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len Straftribunale bestimmt haben. Diese zwei Aspekte sind, wie bereits gesagt, eng miteinander verbunden. Die Prämissen können auf folgende Weise formuliert werden: Das Völkerrecht und das nationale Recht dürfen nicht als zwei getrennte Rechtsordnungen betrachtet werden. Zumindest aus der Perspektive des Völkerstrafrechts muss anerkannt werden, dass sie in gewissem Sinne verbunden sind und dass das Völkerrecht den Vorrang vor dem nationalen Recht besitzt.229 Geklärt werden muss dann nur noch, in welchem Sinne das Völkerrecht Vorrang vor dem nationalen Recht hat. Um diese Frage beantworten zu können, muss die Idee betrachtet werden, der zufolge das Recht ein Mindestmaß an ethischen Anforderungen erfüllen muss. Das Völkerrecht, insbesondere die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht, verkörpert also das ethische Minimum, das vom nationalen Recht beachtet werden muss, damit seine Legitimität, d. h. seine Verbindlichkeit, im Rahmen des Völkerrechts anerkannt werden kann. Somit kann behauptet werden, dass der Vorrang des Völkerrechts nicht auf formale Aspekte beschränkt werden darf. Vielmehr ist das Primat des Völkerrechts auch in materieller Hinsicht anzuerkennen. Auf diese Prämisse muss an dieser Stelle näher eingegangen werden, weil das Konzept der Legalität und damit das NCSL-Prinzip erst vor diesem Hintergrund ihren Platz im Völkerstrafrecht finden und ihre Konturen erlangen.

I. Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht und die rückwirkende Anwendung völkerstrafrechtlicher Normen Um zu verstehen, wie das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht gehandhabt worden ist, müssen die Entwicklung des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg und die ihm in diesem Kontext gegenüber den Staaten zugedachte Rolle betrachtet werden. Das Problem der Rückwirkung im Rahmen des Völkerstrafrechts kann sich nicht nur in Bezug auf das zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltende Völkerrecht, sondern auch im Hinblick auf das bestehende nationale Strafrecht stellen. Für das Individuum ist im Übrigen die Frage viel wichtiger, ob die ihm vorgeworfene Handlung überhaupt rechtlich verboten und strafbar war, als die Frage, ob die Strafandrohung durch eine internationale oder eine nationale Norm erfolgt. Das Problem der Rückwirkung im Völkerstrafrecht verschärft sich somit, wenn das Völkerrecht zum Zeitpunkt der Tatbegehung die Handlung nicht eindeutig verbot bzw. nicht explizit unter Strafe stellte und zudem das geltende nationale Recht die Tat erlaubte oder sogar förderte. 229

Für eine differenzierende, monistische Ansicht des Völkerrechts, der zufolge das Völkerrecht zwar grundsätzlich Vorrang gegenüber dem nationalem Recht genießt, aber Individuen nur ausnahmsweise verpflichtet, wie z. B. im Kontext des Völkerstrafrechts, siehe Dahm, Völkerrecht, Band I, S. 53–57, 416–419; und Dahm, Völkerrecht, Band III, S. 285–287, 295 ff.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Die Aburteilung der Kriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg ereignete sich gerade in diesem Spannungsfeld.230 Denn Art. 6 (c) LC, Art. II Abs. 1 (c) KRG Nr. 10 und Art. 5 (c) IMTFO-Statut erklärten die Verbrechen gegen die Menschlichkeit unabhängig davon für strafbar, ob die Handlung gegen das Recht des Tatortstaates verstieß oder nicht. Zudem schlossen Art. 7 und 8 LC, Art. II Abs. 4 (a) und (b) KRG Nr. 10 sowie Art. 6 IMTFO-Statut die amtliche Stellung eines Angeklagten und das Handeln auf Befehl als Strafausschließungsgründe aus.231 Die folgende Aussage des IMG ist insofern aufschlussreich: „Es ist ja gerade der Wesenskern des Statuts, daß Einzelpersonen internationale Pflichten haben, die über die nationalen Verpflichtungen hinausgehen, die ihnen durch den Gehorsam zum Einzelstaat auferlegt sind. Derjenige, der das Kriegsrecht verletzt, kann nicht Straffreiheit erlangen, weil er auf Grund der Staatshoheit handelte, wenn der Staat Handlungen gutheißt, die sich außerhalb der Schranken des Völkerrechts bewegen“.232

Auch der dritte Grundsatz der 1950 von der ILC aufgenommenen Nürnberger Prinzipien besagt in diesem Sinne: „The fact that internal law does not impose a penalty for an act which constitutes a crime under international law does not relieve the person who committed the act from responsibility under international law“.233 Die ILC erklärt im Kommentar dazu, dass dieses Prinzip auf alle internationalen Verbrechen anzuwenden ist, obwohl es in der LC nur für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit explizit niedergeschrieben wurde.234 Dies bildet gerade einen geeigneten Ausgangspunkt zur Konzeptualisierung des Völkerstrafrechts und des NCSL-Prinzips. Eine Bestrafung auf Grundlage des Völkerrechts kann somit in doppelter Hinsicht rückwirkend sein. Zum einen können mit dem Erlass von Normen, wie z. B. Art. 6 LC, vorher im Kontext des Völkerrechts nicht geregelte Sachverhalte rückwirkend unter Strafe gestellt werden, und zum anderen kann sich eine rückwirkende Strafbarkeit durch die Nichtanerkennung nationaler Vorschriften ergeben. 230

Siehe dazu UNWCC, Law Reports, Vol. V, S. 22 ff., und Vol. XI, S. 50. Gemäß der LC und dem KRG Nr.10 konnte nur das Handeln auf Befehl als Strafmilderungsgrund berücksichtigt werden (Art. 8 LC und Art. II Abs. 4 (b) KRG Nr. 10). Im Unterschied dazu erkannte das IMTFO-Statut neben dem Handeln auf Befehl auch die amtliche Stellung eines Angeklagten als möglichen Strafmilderungsgrund an (Art. 6 IMTFO-Statut). In diesem Sinne ist auch Art. 33 IStGH-Statut zu erwähnen, wonach die Tatsache, dass das Verbrechen auf Anordnung einer Regierung oder eines militärischen oder zivilen Vorgesetzten begangen wurde, enthebt den Täter nicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, es sei denn: a) der Täter war gesetzlich verpflichtet, den Anordnungen Folge zu leisten; b) der Täter wusste nicht, dass die Anordnung rechtswidrig ist; und c) die Anordnung war nicht offensichtlich rechtswidrig. Laut Art. 33 Abs. 2 IStGH-Statut sind die Anordnungen zur Begehung von Völkermord oder von Verbrechen gegen die Menschlichkeit offensichtlich rechtswidrig. 232 Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 92. 233 Siehe YILC 1950, Vol. II, S. 374. 234 Ebd., S.  375; es muss jedoch erwähnt werden, dass im Rahmen der VN keine Einigkeit über dieses Prinzip bestand, siehe dazu die von den Delegationen der Generalversammlung (Sixth Committee) vorgelegten Kommentare zu den Nürnberger Prinzipien in YILC 1951, Vol. II, S. 49–51. 231

B. Die Idee der Legalität  

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Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass das Individuum, zumindest im Prinzip, sein Verhalten zunächst einmal an den innerstaatlichen Normen orientieren muss. Dies führt aber zu einer Reihe von Fragen, die beantwortet werden müssen, um die Strafbarkeit auf völkerrechtlicher Ebene begründen zu können: Warum darf das Völkerstrafrecht das nationale Recht außer Acht lassen? Aus welchem Grund darf jemand auf völkerrechtlicher Ebene bestraft werden, der nach der innerstaatlichen Rechtordnung rechtmäßig gehandelt hat? Die Antworten auf diese Fragen erlauben es, gewisse Ideen zu konkretisieren, die der Entwicklung des Völkerstrafrechts zugrunde liegen und die das Verständnis des NCSL-Prinzips in diesem Bereich geprägt haben. Wie bereits erwähnt, führt die dualistische Ansicht bzgl. des Völkerrechts zur Leugnung des Völkerstrafrechts. Nach dieser Lehre sind das Völkerrecht und das nationale Recht zwei parallele und voneinander getrennte Rechtsordnungen, die verschiedene Adressaten haben. Das Völkerrecht richte sich nur an die Staaten, und dementsprechend seien Individuen lediglich dem nationalen Recht verpflichtet. Einzelpersonen könnten somit nur im Kontext des nationalen Rechts verantwortlich sein. Es ist zu betonen, dass das Völkerrecht vor diesem Hintergrund keine individuelle strafrechtliche Verantwortung begründen kann, da eine internationale Strafbarkeit die Anerkennung der Individuen als unmittelbare Völkerrechtssubjekte voraussetzt, d. h. als unmittelbare Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten.235 Das dualistische Konstrukt, eindeutig gekennzeichnet durch einen Etatismus, lehnt diese Möglichkeit ab und vertritt eine unabdingbare Unterwerfung des Individuums unter das staatliche Recht.236 Diesem zufolge ist das In 235 Dass nur Staaten Völkerrechtssubjekte seien, wurde auch von den Verteidigern im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vorgebracht, siehe VN, The Charter and Judgment (Doc. A/CN.4/5), S. 39–40; siehe ausführlich zur Rechtspersönlichkeit des Individuums im Völkerrecht das Buch „Jensetis der Menschenrechte“ von Anne Peters, sie rekonstruiert die Diskussion zwischen Dualismus und Monismus, um zu zeigen, dass die Idee des Individuums als Völkerrechtssubjekt von der dualistischen Lehre abgelehnt wird. Laut Peters ist die Idee des Individuums als Völkerrechtssubjekt nicht nur mit der monistischen Sichtweise, sondern auch mit dem naturrechtlichen Ansatz verknüpft. Sie versucht jedoch zu zeigen, dass die Rechtspersönlichkeit des Individuums außerhalb dieser Dichotomie zu begründen ist, ­Peters, Jenseits, S.  1 ff., 46 ff.; insbesondere zur völkerstrafrechtlichen Verantwortung siehe ebd., S.  105 ff.; zum Individuum als „passivem“ Völkerrechtssubjekt im Rahmen der Menschenrechte und des Völkerstrafrechts siehe Paulus, Die internationale Gemeinschaft, S. 233 ff. 236 Peters, Jenseits, S. 8–10, 48; dazu äußerte sich Triepel wie folgt: „Der Einzelne ist vom Standpunkte einer die Staaten als solche verbindenden Rechtsgemeinschaft unfähig, Träger eigener, von der Rechtsordnung dieser Gemeinschaft ausgehenden Rechte und Pflichten zu sein“, Triepel, Völkerrecht, S. 20; in diesem Sinne äußerten sich auch Anzilotti, S. 96–99 und Oppenheim, S. 341 ff.; Triepels folgendes Zitat erlaubt es ferner zu erkennen, weshalb seine dualistische Auffassung unvereinbar mit der Entwicklung des Völkerstrafrechts ist: „die Ausübung eines Amtes kann ‚rechtmässig‘ sein […], auch wenn sich der Ausübende mit dem Völkerrechte in Widerspruch befindet […] Ihre Rechte und Pflichten bemessen sich lediglich nach Landesrecht. Sie [die Träger staatlicher Aemter] sind zur Vornahme aller Handlungen befugt und verpflichtet, die das staatliche Recht ihnen gestattet und vorschreibt, gleichviel wie sich dies Recht dem Völkerrechte gegenüber verhält“, Triepel, S. 261–263.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

dividuum bestenfalls als Gegenstand des Völkerrechts zu betrachten.237 Danach sei ausgeschlossen, dass Völkerrecht und nationales Recht „einmal denselben Thatbestand normieren wollten“, weil sie vielmehr verschiedene Lebensverhältnisse regeln würden.238 Deswegen sei ein Normenkonflikt zwischen Völkerrecht und nationalem Recht schlicht nicht möglich.239 Die Begründung der Strafbarkeit auf Grundlage des Völkerrecht setzt somit die Ablehnung der dualistischen Lehre voraus. Denn sie führt als Ergebnis zu zwei verschiedenen Verhaltensstandards, auch im Sinne einer doppelten Moral: ein Standard für den Staat und ein anderer für das Individuum.240 In diesem Sinne äußerte sich 1950 auch die ILC: „The principle that  a person who has committed an international crime is responsible therefore and liable to punishment under international law, independently of the provisions of internal law, implies what is commonly called the ‚supremacy‘ of international law over national law“.241

Des Weiteren muss begründet werden, weshalb die innerstaatliche Rechtmäßigkeit einer Handlung vom Völkerstrafrecht außer Acht gelassen werden darf. Die Unabhängigkeit beider Rechtsordnungen anzuerkennen, scheint nicht dazu ge­ eignet zu sein, dieses Problem zu lösen. Denn hierdurch wird die Existenz zweier gegensätzlicher Verhaltensnormen anerkannt, die für das Individuum gleichzeitig gültig wären und die es beide zur gleichen Zeit beachten müsste. Ein strafrechtlicher Vorwurf kann unter diesen Umständen durch kaum etwas anderes als den Ungehorsam selbst gegenüber einer politischen Macht begründet werden. Dies kann höchstens eine ausreichende Rechtfertigung zur Ausübung staatlicher Strafgewalt sein, je nach dem Grad der Demokratie bzw. des Autoritarismus eines Staates. Aber im Kontext des Völkerrechts, wie es sich insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, erfordert die Strafbarkeit eine weitreichendere Begründung als den reinen Ungehorsam. Deshalb muss eine gewisse Verbindung zwischen Völkerrecht und nationalem Recht anerkannt werden, um die Verhaltensnormen koordinieren zu können, die die Individuen betreffen und die für die völkerstrafrechtliche Verantwortung relevant sind, und um eine plausible Grundlage für die Entstehung der Idee zu schaffen, dass internationale Verbrechen tatsächlich bestehen. Insofern lässt sich festhalten, dass sich eine solche Verbindung nicht nur auf formale Aspekte beschränken darf, sondern mehr umfassen muss. Die Anerkennung einer materiellen Bindung erweist sich insofern als erforderliches

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Triepel, S. 21; Oppenheim, S. 344. Triepel, S. 254. 239 Ebd.; in diesem Sinne behauptete Anzilotti: „Von Konflikten zwischen Völkerrecht und Landesrecht zu sprechen, ist ebenso falsch wie die Annahme der Möglichkeit von Konflikten zwischen den Gesetzen verschiedener Staaten“, Anzilotti, S. 42. 240 Vgl. Lauterpacht, International Law, S. 6–9, 46. 241 YILC 1950, Vol. II, S. 375. 238

B. Die Idee der Legalität  

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Element des Völkerstrafrechts, wobei das Völkerrecht und das nationale Recht gewisse Prinzipien und Werte teilen müssen.242

II. Kelsens Analyse der Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher: Die Schwierigkeiten der formellen Theorien über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht zur Begründung internationaler Strafbarkeit Die Analyse von Hans Kelsens Auffassung über die Rückwirkung und die Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit im Lichte seiner vor dem Krieg dargestellten Rechtstheorie stellt einen guten Ausgangspunkt dar, um die Schwierigkeiten der formellen Theorien über das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht hinsichtlich der Begründung der internationalen Strafbarkeit zu erläutern. Obwohl Kelsens Theorie einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung des Völkerrechts als Friedensordnung vor den nationalistischen Strömungen in der Zwischenkriegszeit darstellte,243 zeigten sich ihre Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg, als es um die Aburteilung der Kriegsverbrecher ging. Um dies zu veranschaulichen, sollen drei von Kelsen zwischen 1943 und 1947 veröffentlichten Aufsätze berücksichtigt werden.244 Zunächst sind jedoch einige Aspekte der Erstausgabe von Kelsens „Reiner Rechtslehre“ kurz zusammenzufassen. 1. Kelsens „Reine Rechtslehre“ und das Völkerrecht als koordinierende Rechtordnung Kelsen versucht eine von „fremden“ Elementen befreite, allgemeine (wissenschaftliche)  Theorie des Rechts zu entwickeln. Er bezeichnet sie als „reine Rechtslehre“. Dementsprechend soll sie sich strikt von den Naturwissenschaften, den Sozialwissenschaften, der Politik und der Religion abgrenzen.245 Die Rechts­

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Für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Prinzipien und Werten siehe Alexy, Theorie, S. 125 ff., laut Alexy kann ebenso wie von einer Prinzipienkollision und einer Abwägung zwischen Prinzipien von einer Wertekollision und einer Abwägung zwischen Werten gesprochen werden. Ferner korrespondiere die graduelle Erfüllung von Prinzipien mit der graduellen Realisierung von Werten. Genau genommen bezieht sich Alexy auf Werte als „Kriterien der Bewertung“ und gleichzeitig auf Prinzipien als „Bewertungskriterien, zwischen denen abgewogen werden muß“. Prinzipien und Werte würden sich dann nur wegen ihres einerseits deontologischen und andererseits axiologischen Charakters unterscheiden. 243 Vgl. von Bernstorff/Dunlap, S. 2 ff. 244 Siehe die folgenden Aufsätze: „Collective and Individual Responsability in International Law“ (Kelsen, Cal. L. Rev. 1943, 530), „The Rule against Ex Post Facto Laws and the Prosecution of the Axis War Criminals“ (Kelsen, Judge Advoc. J. 1945, 8) und „Will the Judgment in the Nuremberg Trial Constitute a Precedent in International Law?“ (Kelsen, ILQ 1947, 153). 245 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 15 ff.; dazu auch Rüthers et al., S. 295.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

wissenschaft als „reine Wissenschaft“ soll sich laut Kelsen allein mit rechtlichen Geboten, nicht hingegen mit dem tatsächlichen Verhalten der Menschen beschäftigen. In diesem Sinne sei sie somit eine Normwissenschaft und ihr Gegenstand ein Komplex von Normen.246 Als „Theorie der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis“ diene die „reine Rechtslehre“ nicht der Bestimmung des Inhalts einer bestimmten Rechtsordnung. Dies sei vielmehr Aufgabe der dogmatischen Rechtswissenschaft. Stattdessen befasse sie sich mit der logischen Struktur von Rechtsnormen im Allgemeinen.247 Die von Kelsen angenommene Grundthese ist folglich eine „vollkommene Disparität von Sein und Sollen“.248 Sein Ausgangspunkt, mithilfe dessen er die methodische Selbständigkeit der Rechtswissenschaft begründet, ist die Unterscheidung zwischen Seinsurteilen und Sollensurteilen. Demnach darf „das ‚Sollen‘ […] weder auf ein ‚Wollen‘ desjenigen, der die Norm setzt, zurückgeführt werden […], noch auf ein Verhalten desjenigen, der soll“.249 Das Entstehen einer objektiven Rechtsnorm verlange somit eine andere, objektiv höherrangigere Rechtsnorm, die „dem subjektiven Willensakt als bloß faktischer und kausalgesetzlich bestimmter Tatsache objektive Normativität und damit objektive Geltung verleiht“.250 In diesem Sinne fungiere die Rechtsnorm als Deutungsschema.251 Das Recht bilde somit eine hierarchische Normenordnung, deren Geltung sich aus einer rein formalen, überpositiven, bloß gedachten, „transzendental-logischen“ Grundnorm ableite.252 Diese Grundnorm ermögliche dann als gemeinsame Quelle die Einheit aller Normen, die zu einer Rechtsordnung gehören würden.253 In der „Reinen Rechtslehre“ stellt Kelsen auch seine Auffassung über das Völkerrecht dar.254 Zwei wichtige Punkte sollen hier betrachtet werden: Zum einen Kelsens Verständnis bzgl. der Rolle, die das Völkerrecht gegenüber dem nationalen Recht spielt. Zum anderen seine Ansicht hinsichtlich des bindenden und durchsetzbaren Charakters des Völkerrechts. Kelsens methodologischem Standpunkt zufolge setzt eine wissenschaftliche Betrachtungsweise des Rechts dessen

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Vgl. Larenz, S. 70. Ebd., S. 70. 248 Ebd., S. 70–72; Kelsen, Hauptprobleme, S. 7. 249 Vgl. Larenz, S.  71; für Kelsens kantianische philosophische Grundlage siehe Kunz, N. Y. U. L. Q. Rev. 1933–1934, 370 (372). 250 Von der Pfordten, Rechtsethik, S. 151. 251 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 18–19. 252 Vgl. von der Pfordten, Rechtsethik, S. 152; siehe auch Kunz, N. Y. U. L. Q. Rev. ­1933–1934, 370 (385 ff.). 253 Zur Funktion der Grundnorm siehe Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 73–72; zum Inhalt der Grundnorm siehe ebd., S. 78; zur Grundnorm im historischen Sinne, d. h. als erste Verfassung, siehe Kelsen, General Theory, S. 110 ff.; kritisch dazu von der Pfordten, Rechtsethik, S. 158 ff. und Raz, Am. J. Juris. 1974, 94. 254 Die Frage hinsichtlich der Rolle des Völkerrechts im Bezug auf die staatlichen Rechtsordnungen wurde von Kelsen vor der Veröffentlichung der Erstauflage der „Reinen Rechtslehre“ (1934) in „Das Problem der Souveränität“ (Erstauflage 1920, zweite Aufl. 1928) ausführlich behandelt; siehe dazu von Bernstorff/Dunlap, S. 78 ff. 247

B. Die Idee der Legalität  

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globale und umfassende Erfassung voraus.255 Dies spreche gegen die dualistische Ansicht.256 Kelsen widerlegt den gegen die monistische Ansicht formulierten Einwand, dem zufolge sie zu unaufhebbaren Widersprüchen führen würden und, um diese Möglichkeit zu vermeiden, die dualistische Konstruktion befürwortet werden solle. Hiergegen wendet er aber ein, dass, falls diese Behauptung richtig wäre, die nationalen Rechtsordnungen und das Völkerrecht nicht gleichzeitig als gültige Normsysteme betrachtet werden könnten.257 Das Problem der dualistischen Theorie liege also in der (unbewussten) Annahme, dass nur die eigene staatliche Rechtsordnung im vollen und eigentlichen Sinne Recht darstellen könne.258 So verstanden könne das Völkerrecht seine wesentliche Funktion als Gleichordnung der Staaten nicht erfüllen.259 Daher müsse das Völkerrecht als eine über den einzelstaatlichen Rechtsordnungen stehende und koordinierende Rechtordnung betrachtet werden. Die Staaten, d. h. die nationalen Rechtsordnungen, könnten gerade nur deshalb nebeneinander bestehen, weil das Völkerrecht ihre territorialen und temporalen Geltungs­bereiche rechtlich gegeneinander abgrenze.260 Darin bestehe im Wesentlichen das Primat des Völkerrechts über die nationalen Rechtsordnungen. Kelsen erkennt jedoch auch an, dass das Völkerrecht unmittelbar für den materiellen Geltungsbereich des nationalen Rechts von Bedeutung sein kann. Dies erfolge aber insbesondere durch das Völkervertragsrecht, also wenn ein Staat selbst auf seine Regelungszuständigkeit zugunsten des Völkerrechts verzichte.261 Es darf hierbei allerdings nicht übersehen werden, dass laut Kelsen die Übertragung 255

Die erkenntnistheoretische Anforderung besteht nach Kelsen darin, alles Recht in einem System, d. h. von ein und demselben Standpunkt aus, als ein in sich geschlossenes Ganzes zu betrachten, siehe Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 142–143; siehe dazu von Bernstorff/Dunlap, S. 79 ff. 256 Die monistische Lehre sei laut der „Reinen Rechtslehre“ eine logische Konsequenz, siehe Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 144, 147; siehe in diesem Sinne auch Kelsen, General Theory, S. 363. 257 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 147. 258 Ebd., S.  148, insofern behauptet Kelsen, dass die politische Absicht der dualistischen Theorie die Aufrechterhaltung der Vorstellung der absoluten Souveränität des Staats sei, d. h. der Vorstellung, dass der Staat die absolut höchste Rechtsgemeinschaft darstelle. Kelsen betont dann, dass mit dieser Souveränität natürlich nur die des eigenen Staates gemeint sein könne, siehe ebd., S.  150. Kelsen argumentiert also gegen das Souveränitätsdogma als Grundlage des bindenden Charakters des Völkerrechts, denn sie führe als logische Konsequenz zu seiner Leugnung, siehe dazu Kelsen, Das Problem, S. 196 ff.; es darf nicht übersehen werden, dass dies auch eine Konsequenz der monistischen Ansicht ist, die das Primat des nationalen Rechts vertritt. Kelsen behauptet jedenfalls, die Entscheidung zwischen dem Primat des Völkerrechts und dem Primat des nationalen Rechts im Kontext der monistischen Konstruktion sei eher politisch als wissenschaftlich, Kelsen, General Theory, S.  383 ff.; dazu Kunz, N. Y. U. L. Q.  Rev. 1933–1934, 370 (400). 259 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 151; Kelsen, General Theory, S. 349–350. 260 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S.  155 ff.; siehe auch Kelsen, Das Problem, S.  204 ff.; Kelsen sieht in dieser Funktion des Völkerrechts (in der juristischen Hypothese vom Primat des Völkerrechts) den Grundgedanken des Pazifismus, „der auf dem Gebiete der internationalen Politik das Gegenbild des Imperialismus darstellt“, ebd., S. 319; siehe dazu von Bernstorff/ Dunlap, S. 93 ff. 261 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 157.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

der Normativität von einer höheren Norm auf eine niedrigere Norm nicht automatisch mit der Übertragung ihres Inhaltes gleichzusetzen ist und dass die Rechtsnormen ferner nicht allein Kraft ihres Inhaltes gelten. Kelsen führt dazu aus: „Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein, es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, zum Inhalt einer Rechtsnorm zu werden“.262 Dementsprechend bedinge das Völkerrecht als höheres Recht nicht von vornherein den Inhalt des nationalen Rechts. Die völkerrechtlichen Normen seien somit vor allem Kompetenznormen.263 Deswegen kann Kelsens monistische Lehre als eine formelle Theorie bezeichnet werden. Kelsen lehnt ferner die Theorien ab, die besagen, dass die Geltung des Völkerrechts auf dem Willen des Staats beruht. Er betrachtet das Völkerrecht genauso wie das nationale Recht als eine hierarchische Ordnung, die ihre Normativität aus einer obersten Norm ableitet. In diesem Sinne, so Kelsen, stelle das allgemeine Völkergewohnheitsrecht die höchste Stufe dar, während die Entscheidungen der internationalen Tribunale die niedrigste Stufe bilden würden. In der Mitte befinde sich das Völkervertragsrecht.264 Die Grundnorm des Völkerrechts sei Kelsen zufolge die hypothetische Norm, der zufolge sich die Staaten so verhalten müssten, wie sie sich gewöhnlich verhielten.265 Außerdem sei das Völkerrecht, genauso wie auch das nationale Recht, eine Zwangsordnung.266 Kelsen ging allerdings davon aus, dass die Sanktionssysteme im Völkerrecht und im nationalen Recht grundlegend unterschiedlich seien.267 Während auf völkerrechtlicher Ebene Repressalien und der Krieg die klassischen Formen der Sanktionen darstellten, sei im nationalen Recht die Sanktion par excellence die Strafe.268 Deswegen sei die völkerrechtliche Verantwortung im Prinzip kollektiv. Demnach müssten die völkerrechtlichen Sanktionen von der gesamten Bevölkerung eines völkerrechtswidrig handelnden Staats ertragen werden. Die Strafe auf nationaler Ebene betreffe hingegen nur das Individuum, das die nationale Rechtsordnung verletzt habe.269 Gerade aus diesem Grund befinde sich das Völkerrecht in einem primitiveren Entwicklungsstadium als die nationalen Rechtssysteme.270 Dies dürfe aber nicht als Anlass zur Ablehnung des bindenden Charakters des Völkerrechts genommen werden. 262

Ebd., S. 74. Vgl. Kunz, N. Y. U. L. Q. Rev. 1933–1934, 370 (406). 264 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 138–139; siehe dazu Hall, EJIL 2011, 269 (299–300). 265 Kelsen, General Theory, S. 369; kritisch dazu Hart, The Concept, S. 233–234, laut Hart ist eine Grundnorm bzw. eine rule of recognition nicht notwendig, um das Völkerrecht als Recht zu definieren. 266 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 37 ff., 140; Kelsen, General Theory, S. 328 ff.; dazu von Bernstorff/Dunlap, S. 84 ff. 267 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 140–141. 268 Vgl. Kelsen, Cal. L. Rev. 1943, 530 (533–534). 269 Ebd., Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 140–141. 270 Auch der dezentralisierte Charakter der Rechtssetzung und des Vollzugs der völkerrechtlichen Normen erlaube das Völkerrecht als eine primitive Rechtsordnung zu kennzeichnen, siehe ebd. 263

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2. Kelsens Auffassung über das NCSL-Prinzip: Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit Auf Grundlage dieser Annahmen analysierte Kelsen 1943, ob die Mitglieder der Regierungen der Verlierermächte des Zweiten Weltkriegs wegen Verstößen gegen das Völkerrecht abgeurteilt werden durften.271 In diesem Zusammenhang musste sich Kelsen auch mit dem Problem der Rückwirkung und des NCSL-Prinzips im Völkerrecht befassen. Zur Beantwortung dieser Frage behauptete Kelsen zuerst, dass das Völkerrecht für Ausnahmefälle bereits Normen vorgesehen habe, die direkt für Individuen bindend gewesen seien, wie beispielsweise die Normen über Piraterie und Schmuggel. Die völkerrechtliche Verantwortung wegen der Verletzung dieser Normen sei ohne Zweifel individuell gewesen.272 Die Tatsache, dass die Durchsetzung dieser Normen durch nationale Gerichte stattgefunden habe, würde nicht den völkerrechtlichen Charakter des Verbots oder der Sanktion negieren. Vielmehr hätten die Staaten, die eine entsprechende, vom Völkerrecht verbotene Handlung unter Strafe gestellt und die dieses Verbot durch ihre Gerichte durchgesetzt hätten, lediglich als Organe der internationalen Gemeinschaft fungiert.273 Kelsen sah deshalb, im Unterschied zu den Vertretern der dualistischen Theorie, nichts im Wesen des Völkerrechts, das die Schaffung strafrechtlicher Normen verhindern würde.274 Vor diesem Hintergrund bezog sich Kelsen auf die Theorie des gerechten Krieges und behauptete, dass der Angriffskrieg eine vom Völkerrecht verbotene Handlung darstelle.275 Das Verbot des Krieges ergebe sich in diesem Zusammenhang aus der Tatsache, dass der angegriffene Staat bzw. auch dritte Staaten den angreifenden Staat durch Repressalien oder militärische Aktionen, etwa durch den Krieg als Selbstverteidigungsmittel, bestrafen dürften.276 Laut Kelsen setze ein rechtliches Verbot allerdings eine Verbindung zwischen einer Handlung und einer Sanktion in einer – nicht unbedingt geschriebenen – Norm voraus.277 Im Fall des Krieges seien es gerade die traditionellen, kollektiven völkerrechtlichen Sanktionen, die einen Anhaltspunkte für seine Rechtswidrigkeit darstellten. Somit sei der Angriffskrieg bereits 1939 nach dem Völkergewohnheitsrecht verboten gewesen.278 Wird diese Ansicht zugrunde gelegt, stellt sich nur noch ein Problem hinsichtlich

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Vgl. Kelsen, Cal. L. Rev. 1943, 530 (530). Ebd., S. 534 ff.; siehe in diesem Sinne auch Kelsen, General Theory, S. 343 ff. 273 Vgl. Kelsen, Cal. L. Rev. 1943, 530 (535). 274 Ebd.; in der „Reinen Rechtslehre“ verteidigt Kelsen die Ansicht, dass das Individuum sowohl mittelbares als auch unmittelbares Subjekt des Völkerrechts sein könne, vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 141–143. 275 Vgl. Kelsen, Cal. L. Rev. 1943, 530 (531). 276 Ebd., S. 538 ff. 277 Ebd.; siehe auch Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 37 ff. 278 Vgl. Kelsen, Cal. L. Rev. 1943, 530 (538 ff.). 272

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

der Strafbarkeit des Angriffskrieges: Das Völkerrecht sah aufgrund der act-ofstate-Theorie279 keine individuelle strafrechtliche Verantwortung vor.280 Dies konnte laut Kelsen jedoch durch einen unter Beteiligung des angreifenden Staates unterzeichneten völkerrechtlichen Vertrag rückwirkend geändert werden.281 Nur in diesem hypothetischen Sachverhalt dürfe neues Recht in Bezug auf den Angriffskrieg rückwirkend angewandt werden. Dies verstoße gerade nicht gegen das NCSL-Prinzip bzw. gegen das Verbot des ex post facto law. Dafür gebe es zwei Gründe. Erstens behauptete Kelsen, dass es kein Rückwirkungsverbot im Völkergewohnheitsrecht gegeben habe.282 Zweitens sei das Rückwirkungsverbot auf diesen Fall sowieso nicht anwendbar, selbst wenn das NCSL-Prinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Völkerrecht bestanden hätte, da die moralische Grundlage dieses Prinzips durch die rückwirkende Definition des Angriffskriegs als Straftat nicht betroffen worden wäre.283 Dieser zweite Teil der Argumentation Kelsens muss in diesem Kontext betont werden, denn er verdeutlicht die Grenzen der formellen Rechtstheorien im Hinblick auf das Völkerstrafrecht. Kelsen weist mit diesem Argument nämlich darauf hin, dass die Anwendbarkeit und eine mögliche Verletzung des NCSL-Prinzips im Kontext des Völkerrechts im Lichte der betroffenen Werte gewürdigt werden muss. Dafür ist es notwendig, sich zu fragen, welchen Wert das NCSL-Prinzip verkörpert. Kelsen erkannte die „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ allerdings nicht als Völkerrechtsquellen an,284 weshalb nicht

279 Laut Kelsen ist der Krieg ein typisches Beispiel einer act of state, die act-of-state-Theorie stellt für Kelsen ein wesentliches Element des Völkerrechts dar, weil sie unabdingbar für die Unabhängigkeit der Staaten sei. Die Ablehnung einer individuellen völkerrechtlichen Verantwortung der Staatsvertreter sei eine Nebenerscheinung der act-of-state-Theorie. Dazu äußerte sich Kelsen wie folgt: „The collective responsibility of a State for its own acts excludes, according to general international law, the individual responsibility of the person who, as a member of the government, at the command or with the authorization of the government, has performed the act. This is  a consequence of the immunity of the State from the jurisdiction of another State“, ebd., S. 540–541. 280 Ebd., S. 543. 281 Ebd. 282 Ebd. 283 In diesem Sinne äußerte sich Kelsen wie folgt: „Its basis is the moral idea that it is not just to make an individual responsible for an act if he, when performing that act, did not and could not know that his act constituted a wrong. If, however, the act was at the moment of its performance morally, although not legally wrong, a law attaching ex post facto a sanction to the act is retroactive only from a legal, not from a moral point of view. Such a law is not contrary to the moral idea which is at the basis of the principle in question“, ebd., S. 544. 284 Ebd., S. 544: „Some writers, abandoning the positivist view, maintain that not only custom and treaties but also the general principles of law are to be considered as sources of international law. This doctrine is very questionable“; Kelsen behauptete dies in Bezug auf einen Bericht der „Subcommittee on the Trial and Punishment of War Criminals appointed by the House of Delegates of the American Bar Association“ [Am. J. Int’l L. 1943, 663 (665)], in dem auf „[t]he principles of criminal law generally accepted among civilized nations“ als „a proper source of international law“ hingewiesen wurde.

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eindeutig ist, welche Bedeutung diese Überlegungen in seiner Argumentation haben. Es ist jedenfalls hervorzuheben, dass Kelsen hierbei aus moralischen und politischen Prämissen, d. h., auch seiner eigenen Auffassung zufolge, aus subjektiven Werturteilen, rechtliche Folgen ableitet. Dies erkannte Kelsen später auch selbst in seinem 1945 erschienen Buch „General Theory of Law and State“ an, in dem er behauptete, dass die Anerkennung der Theorie des gerechten Krieges tatsächlich eine politische Entscheidung darstelle.285 Er gab insofern zu, dass die Behauptung, dass das Völkerrecht den Krieg nur als Reaktion auf eine völkerrechtswidrige Handlung erlaube, nur eine mögliche, nicht aber die einzige Interpretation darstelle.286 Es lässt sich vor diesem Hintergrund festhalten, dass Kelsen im Hinblick auf die Begründung des völkerrechtlichen Verbotes des Krieges zumindest eine ambivalente Haltung einnahm.287 Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass Kelsen im hier kommentierten Aufsatz von 1943 nicht nur behauptete, dass die rückwirkende Bestrafung des Angriffskrieges moralisch wünschenswert sei. Er meinte vielmehr auch, dass eine verbotene Situation, wie etwa die rückwirkende Anwendung einer Norm, nicht gegen das jeweilige rechtliche Verbot verstoße (in diesem Fall gegen das Rückwirkungsverbot), wenn sich der in Frage stehende Sachverhalt als gerecht erweise. Demnach bestimme in diesem Fall die „Gerechtigkeit“ der Entscheidung die richtige Lösung im rechtlichen Sinne. Deshalb schloss Kelsen seine Überlegungen zum NCSL-Prinzip im 1943 erschienenen Aufsatz mit der folgenden Behauptung: „The treaty[, die die besiegten Länder zu unterschreiben hätten, um den Angriffskrieg rückwirkend bestrafen zu dürfen,] only transforms their moral into legal responsability. The principle forbidding ex post facto laws is  – in all reason  – not applicable to such a treaty“.288 Hierzu ist zu sagen, dass diese Behauptung im Rahmen von Kelsens Analyse mehrdeutig, wenn nicht widersprüchlich ist. Kelsen setzte sich 1945 im Rahmen eines Aufsatzes erneut mit der Frage der Rückwirkung im Völkerrecht auseinander. Dieses Mal ging er etwas fundierter auf das NCSL-Prinzip ein und untersuchte auch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Ausführungen weisen ebenfalls gewisse Widersprüche auf. Bemerkenswerterweise stützt sich Kelsen in seinen Erörterungen über das NCSL-Prinzip auf Blackstone.289 Wie bereits gezeigt, vertrat Blackstone eine naturrechtliche Rechtsauffassung.290 Dies scheint Kelsens positivistischem Ausgangspunkt zu widersprechen. Allerdings kann dies als ein Versuch gedeutet werden, auf sein angelsächsisches Publikum besser einzugehen. Denn schließlich war Blackstone diesem 285

Vgl. Kelsen, General Theory, S. 341. Ebd. 287 Siehe in diesem Sinne Zolo, EJIL 1998, 306 (312); auch Rigaux, EJIL 1998, 325 (341). 288 Vgl. Kelsen, Cal. L. Rev. 1943, 530 (544). 289 Vgl. Kelsen, Judge Advoc. J. 1945, 8 (8). 290 Siehe oben, erstes Kapitel, C. I. 4. 286

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

besser bekannt als beispielsweise Feuerbach. Jedenfalls kann gesehen werden, wie sich Kelsen im Rahmen seiner Argumentation trotz seines positivistischen Hintergrundes Blackstones naturrechtlichen Erwägungen anschließt. Das folgende Zitat verdeutlicht diesen Punkt: „If it is unjust not to attach to a certain act a sanction, if, for instance, a legislator has omitted to provide punishment for the theft of electricity because he did not foresee the possibility of such an act, it is certainly just to enact a law providing such a sanction, even with retroactive force, especially if the act or omission is generally considered as  a violation of morality or another higher rule, although not illegal […] there exists  a clear difference between a retroactive law by which an act ‚indifferent‘ or ‚innocent‘ when it was done, is connected with a punishment, and a retroactive law by which an act which was immoral or otherwise in conflict with a higher norm is made illegal“.291

Kelsen akzeptierte Blackstones Ansicht, der zufolge die rückwirkende Kriminalisierung einer Handlung zu akzeptieren sei, wenn die Handlung die Strafe verdiene. In Bezug auf die Verbrechen gegen den Frieden wiederholte Kelsen sein bereits in seinem Aufsatz von 1943 dargelegtes Argument: Die LC sei nur insofern retroaktiv, als dass sie die individuelle strafrechtliche Verantwortung etabliere. Denn der Angriffskrieg sei bereits bei Kriegsbeginn durch das Völkerrecht verboten gewesen, d. h., der Angriffskrieg sei keine „indifferente“ oder „unschuldige“ Handlung.292 Im Unterschied dazu machte Kelsen keine Ausführungen dazu, ob die Verbrechen gegen die Menschlichkeit bereits durch das Völkerrecht verboten waren oder nicht. Er sagte hierzu lediglich: „[T]hey are certainly open violations of the principles of morality generally recognized by civilized peoples and hence were, at least, morally not innocent or indifferent when they were committed“.293 Das sich hier stellende Problem liegt darin, dass Blackstone die Begriffe „indifferent“ und „unschuldig“ im moralischen Sinne verwendete und dass seiner Auffassung über das NCSL-Prinzip, auf die sich Kelsen bezog, das Konzept der Delikte mala in se zugrunde lag, d. h. die Annahme, dass es gewisse Handlungen gebe, die bereits allein wegen ihrer moralischen Vorwerfbarkeit strafbar seien. Dies steht den Konzepten der Rechtsnorm als Deutungsschema und des Rechts als Zwangsnorm entgegen, wie sie von Kelsen in der „Reinen Rechtslehre“ dargestellt wurden. Danach könne allein eine Rechtsnorm einem Sachverhalt seine rechtliche Bedeutung verleihen.294 Deswegen ergebe sich die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit einer Handlung nicht aus ihr selbst. In diesem Sinne betonte­ Kelsen 1934 in der Erstausgabe der „Reinen Rechtslehre“: „Nicht irgendeine immanente Qualität und auch nicht irgendeine Beziehung zu einer metarechtlichen Norm, einem moralischen, das heißt aber dem positiven Recht transzendenten Wert macht, daß ein bestimmtes menschliches Verhalten als rechtswidrig, als Delikt […] 291

Kelsen, Judge Advoc. J. 1945, 8 (9). Ebd., S. 10. 293 Ebd., S. 10–11. 294 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 19. 292

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zu gelten habe; sondern ausschließlich und allein: daß es im Rechtssatz als Bedingung einer spezifischen Folge gesetzt ist, daß die positive Rechtsordnung auf dieses Verhalten mit einem Zwangsakt reagiert“.295

Kelsen versuchte diesen Widerspruch zu überwinden, indem er behauptete, dass der Angriffskrieg bereits nach dem Völkergewohnheitsrecht verboten gewesen sei und dass er durch die LC nur seinen verbrecherischen Charakter im strafrechtlichen Sinne erlangt habe. In diesem Zusammenhang verwendet er das Konzept der „indifferenten“ bzw. „unschuldigen“ Handlungen im rechtlichen Sinne und nicht, wie Blackstone, im moralischen Sinne, um zu zeigen, dass die LC nicht gänzlich rückwirkend gewesen sei. Allerdings konnte Kelsen dieselbe Argumentation in Bezug auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht anwenden. Es war nämlich nicht möglich zu sagen, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Völkerrecht bereits verboten waren, ohne auf moralische Erwägungen zurückzugreifen. Deswegen stützte Kelsen, in diesem Kontext und im Widerspruch zu seinem rechtstheoretischen Ausgangspunkt, ihre Strafbarkeit auf die „principles of morality generally recognized“. Allerdings versäumt er es, in diesem Zusammenhang explizit die Frage zu beantworten, inwiefern diese Handlungen bei Kriegsbeginn durch das Völkerrecht bereits verboten waren. Seine Ausführungen hinsichtlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschränkten sich lediglich auf ihre moralische Vorwerfbarkeit: Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit würden allgemein anerkannte moralische Prinzipien verletzen, und deswegen sei es im Lichte der Gerechtigkeit wichtiger, entsprechende Unmenschlichkeiten zu bestrafen, als die rückwirkende Anwendung einer Norm zu vermeiden.296 Wenn das von Kelsen vorgebrachte Argument über die Verbrechen gegen den Frieden ernst genommen werden soll, würde dies bedeuten, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit rechtlich nicht verboten waren, weil völkerrechtliche Sanktionen für die Begehung massenhafter, gegen die eigene Bevölkerung gerichteter Gewalt nicht existierten. Daher wäre hier sozusagen ein „höherer“ Grad an Rückwirkung anzunehmen: Die LC hätte nicht nur wie im Fall der Verbrechen gegen den Frieden die Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit festgelegt, sondern auch das Verbot selbst. Diese „stärkere“ Rückwirkung würde eine weiter reichende Begründung erfordern als diejenige, die für den Angriffskrieg gegeben wurde. Letztendlich rechtfertigt Kelsen die Rückwirkung der LC hinsichtlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit aber nur durch ihren „nicht-indifferenten“ Charakter. Trotzdem bezieht er sich nicht auf die rechtliche Indifferenz dieser Handlungen, sondern auf ihre moralische Nichtgleichgültigkeit. Somit scheint Kelsen in Bezug auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit das von Blackstone vertretene Konzept der Delikte mala in se implizit anzuerkennen. Trotzdem lehnte Kelsen 1945, d. h. in demselben Jahr, in dem er diesen Aufsatz veröffentlichte, in der „General Theory of Law and State“ das Konzept der Delikte mala 295

Ebd., S. 37–38. Vgl. Kelsen, Judge Advoc. J. 1945, 8 (11).

296

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

in se explizit ab. Er meint hier, dass der Begriff der Delikte mala in se mit einem positivistischen Ausgangspunkt unvereinbar sei. Genau genommen bezieht sich Kelsen in diesem Kontext auf das NCSL-Prinzip als einen Ausdruck des Rechtspositivismus, der im Gegensatz zum Begriff der Delikte mala in se stehe.297 Dies macht Kelsens Argumentation hinsichtlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch verwirrender. In einem 1947 veröffentlichten Aufsatz wiederholte Kelsen die bereits dargestellten Argumente. Allerdings gibt es zwei neue Punkte, die erwähnenswert sind. Zunächst kritisiert Kelsen die Behauptung des amerikanischen Hauptanklägers im Nürnberger Prozess, der zufolge der Krieg Handlungen impliziere, die an sich strafbar seien, im Krieg aber ihren strafbaren Charakter verlieren würden, sofern der Krieg, in dem sie begangen worden seien, rechtmäßig gewesen sei.298 Laut Kelsen ist es ein Fehler, den strafbaren Charakter, den eine Handlung in einer Rechtsordnung hat, von einer anderen Rechtsordnung abhängig zu machen. Eine Handlung sei im Kontext einer Rechtsordnung nur unter der Voraussetzung rechtswidrig, dass eine zu dieser Rechtsordnung gehörende Norm diese Handlung unter Strafe stelle.299 Somit sei die innerstaatliche Straflosigkeit einer Handlung für ihre internationale Strafbarkeit irrelevant und umgekehrt.300 Diese Auffassung, mit der Kelsen jegliche materielle Verbindung zwischen Völkerrecht und nationalem Recht ablehnt, macht es ihm unmöglich, das sich aus der gleichzeitigen Existenz sich widersprechender und für dasselbe Individuum geltender strafrechtlicher Normen ergebende Problem zu lösen. Sie kann ferner nicht erklären, warum das Völkerrecht auf moralische Erwägungen zurückgreifen darf, um innerstaatlich rechtmäßige Handlungen „rückwirkend“ zu bestrafen (er erkannte die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Völkerrechtsquelle nicht an). Seine monistische Theorie bietet keine Lösung hierfür. Darüber hinaus stellte Kelsen als zweiten wichtigen Punkt in diesem Aufsatz die Frage der Rückwirkung noch deutlicher als ein Problem von Abwägung der dem Rückwirkungsverbot zugrunde liegenden Werte bzw. Prinzipien dar. Es handele sich hierbei um die Abwägung zweier Postulate der Gerechtigkeit: einerseits der rückwirkenden Bestrafung der Kriegsverbrecher, andererseits der Beachtung des NCSL-Prinzips. Kelsen sagte hierzu: „In case two postulates of justice are in conflict with each other, the higher one prevails, and to punish those who were morally responsible for the international crime of the Second World War may certainly be considered as more important than to comply with the rather relative rule against ex post facto law, open to so many exceptions“.301

297

Vgl. Kelsen, General Theory, S. 51–52. Vgl. Kelsen, ILQ 1947, 153 (156). 299 Ebd., S. 157. 300 Ebd. 301 Ebd., S. 165. 298

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Diese Behauptungen, in denen sich Kelsen auf die „Gerechtigkeit“ bezieht, erweisen sich als problematisch, wenn bedacht wird, dass die Gerechtigkeit in Kelsens Theorie ein subjektives Element darstellt, das rational nicht begründet werden könne.302 Daher stellt sich die Frage, ob diese Argumentation rechtlich bzw. wissenschaftlich begründet ist oder ob es sich bei ihr nicht vielmehr nur um eine emotional bzw. politisch motivierte Äußerung handelt. Im Aufsatz von 1947 definiert er das NCSL-Prinzip wie der IMG als eine principle of justice, sodass davon auszugehen ist, dass Kelsen hier nur seine Meinung in Bezug auf eine moralische Frage äußert.303 Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass er 1943 die Auffassung vertrat, dass eine rückwirkende Bestrafung nicht gegen das NCSLPrinzip verstoßen würde, selbst wenn dieses Prinzip im Völkerrecht gültig wäre, weil eine entsprechende Bestrafung gerecht sei. Wie bereits gesagt, leitet Kelsen auf diese Weise aus moralischen und politischen Prämissen, d. h. seiner Theorie zufolge aus subjektiven Werturteilen, rechtliche Folgen ab. Demnach geht Kelsen hier in Widerspruch zu seinem eigenen, in anderen Texten vertretenen Konzept der Gerechtigkeit von einem Gerechtigkeitsbegriff als einem objektiven Maßstab aus.304 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kelsen in den an dieser Stelle kommentierten Aufsätzen versucht, einerseits seiner positivistischen Rechtsauffassung und seiner formell monistischen Betrachtung des Völkerrechts zu folgen, und andererseits zugleich die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher rechtlich zu rechtfertigen. Es ist bemerkenswert, dass Kelsen in seiner Theorie im Allgemeinen die Möglichkeit der individuellen Völkerrechtsverantwortung anerkennt und das Souveränitätsdogma zugunsten eines durchsetzbaren Völkerrechts relativiert. In diesem Sinne war sein Werk ein maßgeblicher Beitrag zur weiteren Entwicklung des Völkerrechts. Trotzdem zeigen sich hierin deutliche Widersprüche. Am Ende lässt er zudem wichtige Fragen unbeantwortet und misst den naturrecht-

302 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 25–29 („Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal“); im Text „Was ist Gerechtigkeit?“ behauptet Kelsen, dass die Gerechtigkeit ein Problem darstelle, wenn sich Interessenkonflikte ergeben würden; ein Interessenkonflikt liege vor, wenn ein Interesse nur auf Kosten eines anderen befriedigt werden könne, d. h., wenn zwei Werte in Gegensatz treten würden und es nicht möglich sei, beide zugleich zu verwirklichen, dazu führt Kelsen aus: „[D]ieses Problem kann nicht mit den Mitteln rationaler Erkenntnis gelöst werden. Die Antwort auf die sich hier ergebene Frage ist stets ein Urteil, das in letzter Linie von emotionalen Faktoren bestimmt wird und daher einen höchst subjektiven Charakter hat. Das heißt, daß es gültig nur ist für das urteilende Subjekt, und in diesem Sinne relativ“, Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 15. 303 Dazu äußerte sich Gattini wie folgt: „In my view, it is through his personal perspective on justice and morality that Kelsen, although critical of the Nuremberg Tribunal, eventually came to terms with international criminal law“, Gattini, J. Int’l Crim. Just. 2004, 795 (797–798). 304 Beispielhaft ist das folgende Zitat über die Verbrechen gegen den Frieden: „Justice required the punishment of these men, in spite of the fact that under postive law they were not punishable at the time they performed the acts made punishable with retroactive force“, Kelsen, ILQ 1947, 153 (165).

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lichen Ansichten Gewicht bei.305 Das folgende Zitat, mit dem Kelsen 1948 nicht nur mit Blick auf das Verbot des Angriffskrieges die enge Verbindung zwischen Völkerrecht und Moral anerkannte, sondern auch den Unterschied zwischen rechtlicher und moralischer Argumentation als irrelevant bezeichnete, ist insofern aufschlussreich: „Even if such justification is of moral rather than strictly legal significance it is of great importance; for, in the last analysis, international morality is the soil which fosters the growth of international law. It is international morality which determines the general direction of the development of international law. Whatever is considered ‚just‘ in the sense of international morality has at least a tendency of becoming international ‚law‘“.306

Die Analyse dieser Aufsätze Kelsens hebt erneut zwei wichtige Elemente hervor: Als Erstes muss, wie bereits erwähnt, die Verbindung zwischen Völkerrecht und nationalem Recht zumindest im Rahmen des Völkerstrafrechts über formelle Aspekte hinausgehen. Zweitens spielten moralische Erwägungen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der internationalen Verbrechen und bei der Argumentation im Rahmen des NCSL-Prinzips. Somit kann festgehalten werden, dass eine Rechtstheorie, die die Berücksichtigung der moralischen Konnotation des Völkerstrafrechts ausschließt, seine Entwicklung weder erklären noch begründen kann.

III. Die Pflicht zum Rechtsgehorsam und der Zusammenhang zwischen Recht, Legalität und Moral im Rahmen des Völkerstrafrechts Die Aburteilung der Kriegsverbrecher im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg und die Strafverfolgung wegen der während der nationalsozialistischen Herrschaft begangenen Grausamkeiten förderten die Diskussion über die Pflicht zum Rechtsgehorsam in Fällen, in denen die Rechtsordnung selbst Missetaten wie massenhafte Angriffe gegen die Zivilbevölkerung oder die Verfolgung aus politischen und rassischen Gründen zu erlauben oder sogar anzuordnen scheint. Im Rahmen des Nürnberger Prozesses und der Nachfolgeprozesse stand außer Frage, dass die Angeklagten die innerstaatliche Rechtmäßigkeit ihrer Handlungen als „Rechtfertigung“ vorbringen würden. Deswegen wurde diese Möglichkeit sowohl in der LC als auch im KRG Nr. 10 und im IMTFO-Statut explizit ausgeschlossen. Dies zeigt, dass das Völkerstrafrecht auf einem komplexen Zusammenhang zwischen Recht, Legalität und Moral beruht, der hier präzisiert werden soll. Die Debatte über die Existenz gewisser Prinzipien bzw. Werte, die als Referenzpunkte für die Kritik an der Rechtsordnung dienen, und ihre Auswirkungen

305

Vgl. Gattini, J. Int’l Crim. Just. 2004, 795 (798–799). Kelsen, Law, S. 37–38.

306

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auf die Geltung des Rechts erhielt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg einen neuen Impuls. Das Auftreten des „Untermenschen“ als „Objekt“, dessen Vernichtung die „Rechtsordnung“ erstreben müsse,307 führte in der Rechtstheorie dazu, dass erneut die Frage nach den moralischen Grundlagen des Rechts gestellt wurde. Dies fiel zeitlich mit der völkerrechtlichen Geburt der Menschenrechte und des Völkerstrafrechts zusammen.308 Denn in diesem Kontext wurde deutlich, was geschehen kann, wenn jeder Sinn von Menschlichkeit bzw. Gerechtigkeit aus einer Rechtsordnung getilgt wird und das Recht zum reinen Instrument einer bestimmten (totalitären) Ideologie umgewandelt wird.309 Es ging folglich um das Problem der Geltung bzw. Anerkennung „rechtlicher“ Normen als Recht, die bestimmten moralischen Anforderungen nicht entsprachen. Dies bringt noch einmal die Debatte zwischen positivistischen und naturrechtlichen, oder vielleicht besser nicht-positivistischen Ansätzen, zum Vorschein. Hier sind einige der wichtigsten Auffassungen kurz anzusprechen, die zu dieser Debatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beitrugen, um die verschiedenen Verständnisse bzgl. des Verhältnisses von Recht und Moral zu verdeutlichen, die der Entwicklung des Völkerstrafrechts zugrunde liegen, und die Rolle zu konkretisieren, die das Konzept der Legalität in diesem Kontext gespielt hat. Die Ausgangspunkte dafür sind also durch die Berücksichtigung der Auffassungen von Radbruch, Hart und Fuller festzulegen. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass es umstritten ist, ob die Dicho­ tomie zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht alle theoretisch denkbaren Verhältnisse zwischen Recht und Moral widerspiegeln kann. In diesem Sinne behauptet z. B. von der Pfordten, dass dieser Gegensatz es nicht erlaube, die Nuancen der verschiedenen Theorien zu erkennen.310 Er schlägt deshalb vier Relationsmöglichkeiten zwischen positivem Recht und seiner ethischen Rechtfertigung, je nachdem, ob eine solche Rechtfertigung des Rechts möglich und/oder notwendig sei. Nach von der Pfordten kann eine rechtsethische Rechtfertigung des Rechts angesehen werden als: faktisch und/oder normativ unmöglich (rechtsethischer Nihilismus); zwar faktisch und normativ möglich, aber zu eliminieren oder zu minimieren und damit nicht wirklich (rechtsethischer Reduktionismus); faktisch und normativ möglich und wirklich und damit rechtsethisch wirkungsvoll, aber nicht notwendig in einem begrifflichen oder ontischen Sinne (rechtsethischer Norma-

307 Siehe dazu Rüthers et al., S. 339 ff.; zur rechtlichen Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben siehe Azzola, in: Recht, S. 104 ff. 308 Insofern behaupten Rüthers, Fischer und Birk: „Die Analyse der Zusammenhänge von Recht und Moral wird so zur Eingangspforte für die Wiederkehr eines auf Erfahrung gestützten, historisch ausgebildeten Naturrechts entwickelter Zivilgesellschaften“, Rüthers et  al., S. 299. 309 Siehe dazu ebd., S. 339 ff. 310 Von der Pfordten, Rechtsethik, S. 108 ff.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

tivismus); faktisch und normativ möglich, wirklich sowie begrifflich und ontisch notwendiger Teil des Rechts (rechtsethischer Essentialismus).311 Es muss des weiteren darauf hingewiesen werden, dass die hier als positivistisch gekennzeichneten Auffassungen, unbeschadet der unterschiedlichen Varianten innerhalb des „Rechtspositivismus“, die sog. Trennungsthese vertreten. Nach dieser These gibt es keinen begrifflich notwendigen Zusammenhang zwischen Recht und Moral, d. h. „zwischen dem, was das Recht gebietet, und dem, was die Gerechtigkeit fordert“.312 Allerdings lehnen sie es nicht ab, dass eine moralische Rechtfertigung des Rechts möglich und sinnvoll ist. Die in diesem Abschnitt untersuchten nicht-positivistischen bzw. naturrechtlichen Ansichten vertreten im Gegenteil hierzu die sog. Verbindungsthese. Danach sei der Rechtsbegriff so zu definieren, „dass er [neben der sozialen Wirksamkeit und der ordnungsgemäßen Gesetztheit] moralische Elemente enthält“.313 Die an dieser Stelle zu thematisierende Debatte fokussiert sich also auf diesen Unterschied. Somit kann sie als eine Debatte zwischen rechtsethischem Normativismus und rechtsethischem Essentialismus begriffen werden. Im Zentrum dieser Diskussion steht jedenfalls die Frage nach der Existenz eines „Unverfügbaren“ im Recht.314 1. Radbruch und die Spannung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit Der vielleicht einflussreichste Versuch der Nachkriegsziet, die Verbindungsthese zu begründen, war wohl die von Gustav Radbruch 1946 in seinem Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ dargelegte Auffassung. Es geht in diesem Text um die Analyse der NS-Gesetze als Fälle gesetzlichen Unrechts,

311 Ebd., S. 120 ff.; als Vertreter jeder der vier Relationsmöglichkeiten erwähnt von der Pfordten die folgenden theoretischen Strömungen bzw. Autoren: den skandinavischen Rechtsrealismus und die autopoietische Systemtheorie für den rechtsethischen Nihilismus (ebd., S. 123 ff.); Kelsens Reine Rechtslehre und Carl Schmitts politischen Dezisionismus als Beispiele des rechtsethischen Reduktionismus (ebd., S. 149 ff.); Harts gemäßigten Rechtspositivismus und Radbruchs relativistischen Rechtsidealismus für den rechtsethischen Normativismus, (ebd., S.  177 ff.); und die Haltung des klassischen Naturrechts, die Radbruch’sche Formel und die Auffassungen von Lon Fuller, Ronald Dworking und Robert Alexy als Beispiele des rechtsethischen Essentialismus, (ebd., S. 191 ff.). 312 Vgl. Alexy, Begriff, S. 15; siehe auch Hart, The Concept, S. 185. 313 Vgl. Alexy, Begriff, S. 17. 314 Vgl. Kaufmann, Arthur, in: Einführung, S.  81 ff.; die von Hans Welzen vorgeschlagene Idee der sachlogischen Strukturen kann auch in diesem Sinne verstanden werden, siehe den 1953 veröffentlichten Aufsatz „Naturrecht und Rechtspositivismus“, Welzel, in: Abhandlungen, S. 283 ff.; die Grundlagen seiner Auffassung fanden sich bereits in seiner Habilitationsschrift „Naturalismus und Wertphilosophie“, Welzel, in: ebd, S. 78–79, 104–105; für einen Überblick über die Entwicklung der Rechtstheorie in der zweiten Hälften der 20. Jahrhunderts in Deutschland siehe Dreier, in: Integratives Verstehen, S. 215 ff.

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d. h. als Fälle, in denen das Unrecht als Recht „verkleidet“ wurde.315 Radbruch argumentiert hier gegen den „Rechtspositivismus“.316 Ihm zufolge machte der Rechtspositivismus „mit seiner Überzeugung ‚Gesetz ist Gesetz‘ den deutschen Juristenstand wehrlos gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts“.317 Aus positivistischer Sicht, so Radbruch, ergibt sich die Geltung eines Gesetzes allein aus seiner Macht, sich durchzusetzen. Nach Radbruch stellt dies keine überzeugende Begründung für die Geltung des Rechts dar. Denn „auf Macht läßt sich vielleicht ein Müssen, aber niemals ein Sollen und Gelten gründen“.318 Deshalb gelte das Recht vielmehr aufgrund eines Wertes, der ihm innewohne. Dieser Wert sei die Rechtssicherheit, die zumindest durch die Existenz des Rechts, selbst wenn es ungerecht sei, geschaffen werde.319 Radbruch weist jedoch darauf hin, dass die Rechtssicherheit weder der einzige noch stets der entscheidende Wert sei, zu dessen Verwirklichung das Recht diene. Neben der Rechtssicherheit spielen auch die Zweckmäßigkeit und die Gerechtigkeit eine Rolle.320 Da die Rechtssicherheit zugleich eine Anforderung der Zweckmäßigkeit und der Gerechtigkeit sei, nehme sie eine Mittelstellung zwischen beiden Werten ein: Weder die Zweckmäßigkeit noch die Gerechtigkeit allein dürften 315 Radbruch bezieht sich hier beispielsweise auf die Gesetze, die die Überführung des Eigentums der Juden an den Staat vorsahen, sowie diejenigen, die zu unmenschlichen Richtersprüchen führten, z. B. durch den Missbrauch der Todesstrafe. Radbruchs Ausgangspunkt stellen hier einige richterliche Verurteilungen der Nachkriegszeit dar, die das Naturrecht anwandten, um die rechtliche Geltung dieser Normen abzulehnen, vgl. Radbruch, Süddt.  JZ 1946, 105 (105–107); zur Wiederkehr des Naturrechts in der Nachkriegszeit in Deutschland siehe Kaufmann, Arthur, in: Einführung, S. 81 ff. und Rüthers et al., S. 266. 316 Radbruchs Auffassung kann als ein Versuch verstanden werden, einen dritten Weg zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht zu finden, Kaufmann, Arthur, in: Einführung, S. 89; es ist aber umstritten, ob er vor dem Krieg positivistische Ansichten vertrat, siehe dazu Tjong, ARSP 1970, 245; aber die Hauptelemente der von Radbruch nach dem Krieg vertretenen Auffassung sind bereits in seinem vor dem Krieg veröffentlichten Werk zu finden, in diesem Sinne siehe Dreier/Paulson, in: Gustav Radbruch, S.  247 ff.; jedenfalls ist die hier zusammengefasste Auffassung als eine Art rechtsethischer Essentialismus zu werten, vgl. von der Pfordten, Rechtsethik, S. 195 ff., laut von der Pfordten ist die vor dem Krieg von Radbruch vertretene Auffassung als eine Art rechtsethischer Normativismus einzustufen, ebd., S. 184. 317 Vgl. Radbruch, Süddt. JZ 1946, 105 (107); diese These ist jedoch kritisiert worden und gilt zurzeit als überwunden, weil der Positivismus nicht die herrschende Rechtsauffassung des „deutschen Juristenstandes“ zur Weimarer Zeit war, dazu Walther, in: Recht, S. 323; siehe auch Rüthers et al., S. 300–301. 318 Vgl. Radbruch, Süddt. JZ 1946, 105 (107). 319 Ebd. 320 Zur Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit als Komponenten der Idee des Rechts siehe Radbruch, Vorschule, S. 24 ff., laut Radbruch ergänzen sich diese drei Werte und befinden sich gleichzeitig in ständiger Spannung: Die Gerechtigkeit erlange ihre materielle Dimension, indem sie mit der Zweckmäßigkeit des Rechts ergänzt werde, ebd., S. 26–27; ähnlich Goetzeler, ZStW 1951, 83 (86): „Rechtssicherheit ist viel, aber sie ist nicht alles“) und S. 91 („‚Die Praktikabilität‘ hat ihren Rang in der praktischen Rechtsanwendung ebenso wie die Rechtssicherheit, aber nicht an erster Stelle. Dieser Platz gebührt vielmehr der Gerechtigkeitsidee, die über allem Rechte thront“).

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entscheiden, was Recht sei.321 Aus diesem Grund bezeichnet Radbruch die Konflikte zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, d. h. „zwischen einem inhaltlich anfechtbaren, aber positiven Gesetz und zwischen einem gerechten, aber nicht in Gesetzesform gegossenen Recht“,322 als Konflikte der Gerechtigkeit mit sich selbst. Es seien letztendlich Konflikte zwischen „scheinbarer und wirklicher Gerechtigkeit“.323 Um diese Konflikte lösen zu können, schlägt Radbruch die folgende (berühmte) Formel vor: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“.324

Wie Vest erklärt, versucht Radbruch damit unter dem Eindruck des Terrors des Nationalsozialismus, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit miteinander zu versöhnen: Im Zweifelsfall „hat die Gerechtigkeit hinter die Rechtsicherheit zurückzutreten“.325 Trotzdem sei in ganz singulären Ausnahmefällen, wenn die Ungerechtigkeit eines Erlasses ein extremes Ausmaß erreiche, seine Rechtsgeltung zu verneinen. Dies wird üblicherweise als Unerträglichkeitsthese bezeichnet.326 Aber Radbruch geht noch einen Schritt weiter: „[W]o Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur“.327

Wenn Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt werde, d. h. wenn der Wille zur Gerechtigkeit nicht einmal im Gesetz enthalten sei,328 fehle ihm von vornherein der Rechtscharakter, es bilde folglich Nicht-Recht – sog. Verleugnungsthese.329 Nach dieser Ansicht stellt die Gleichheit den Kern der Gerechtigkeit dar. Damit ist aber keine leere bzw. formelle Aussage gemeint, nach der der Maßstab der gleichen oder ungleichen Behandlung sogar die Zugehörigkeit zu einer Rasse sein kann,330 sondern ein materieller Wesensgehalt, demgemäß die Gerechtigkeit einen ganz bestimmten Inhalt haben muss. Dieser Inhalt bezieht sich auf die Menschenrechte als 321

Radbruch behauptet z. B. im klaren Gegensatz zur NS-Ideologie: „Keineswegs ist Recht alles, das ‚was dem Volke nützt‘, sondern dem Volke nützt letzten Endes nur, was Recht ist, was Rechtssicherheit schafft und Gerechtigkeit erstrebt“, Radbruch, Süddt. JZ 1946, 105 (107). 322 Ebd. 323 Ebd. 324 Ebd. 325 Vgl. Vest, Gerechtigkeit, S. 38–39. 326 Ebd.; siehe dazu von der Pfordten, Rechtsethik, S. 197–198. 327 Vgl. Radbruch, Süddt. JZ 1946, 105 (107). 328 Vgl. Tjong, ARSP 1970, 245 (247). 329 Vest, Gerechtigkeit, S. 39–40; siehe dazu von der Pfordten, Rechtsethik, S. 198. 330 Im nationalsozialistischen Recht bildete die Zugehörigkeit zur „germanischen Rasse“ die Voraussetzung für die Anerkennung vollumfänglicher staatsbürgerlicher Rechte, vgl. Azzola, in: Recht, S. 104.

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unverfügbares Minimum,331 das für alle Menschen allein aufgrund ihres Menschseins gelten müsse.332 In diesem Kontext behauptet Radbruch: „[W]enn die Ermordung politischer Gegner geehrt, der Mord am Andersrassigen geboten, die gleiche Tat gegen die eigenen Gesinnungsgenossen aber mit den grausamsten, entehrenden Strafen geahndet wird, so ist das weder Gerechtigkeit noch Recht“.333 Die nachträgliche „Legalisierung“ des sog. „Röhm-Schlags“, der Ende Juni/Anfang Juli 1934 erfolgte, und der geheime Führerbefehl zur „Euthanasie“-Aktion seien gute Beispiele für solches Nicht-Recht.334 Die Radbruch’sche Formel ist somit direkt mit der Idee der Menschenrechte verknüpft. Der Rechtscharakter fehle all jenen Gesetzen, die Menschen als „Untermenschen“ behandeln und ihnen die Menschenrechte versagen würden.335 Dieser Gedanke stellt die Grundlage der Auffassung Radbruchs hinsichtlich der Aburteilung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und des Rückwirkungsverbotes dar. Wie bereits erwähnt wurde, akzeptierte Radbruch, dass der Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewisse neue Elemente enthielt. Ihm zufolge bedeutete dies jedoch keine eigentliche Rückwirkung, weil die Bestimmungen über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit bereits, „in freilich nicht positiv gefaßter Form[,] gegolten“ hätten, sie als „Naturrecht, Vernunftrecht, kurzum als übergesetzliches Recht“ existiert hätten. Das KRG Nr. 10 sei insofern nur scheinbar neues Recht.336 Die Fundamente der Radbruch’schen Formel sind in Radbruchs Rechtsbegriff und seiner Rechtsidee als zwei verschiedene aber verbundene Elemente zu finden.337 331 Die Menschenrechte stellen laut Radbruch die Grenze des Relativismus und des Gesetzgebers dar, d. h. der Demokratie; diese Annahme vertritt er bereits vor dem Kriegsbeginn in seinem 1934 veröffentlichten Text „Der Relativismus in der Rechtsphilosophie“ und wiederholt sie unmittelbar nach dem Krieg in der „Erneuerung des Rechts“ von 1946, siehe Radbruch, in: Gesamtausgabe, Band III, S. 22 und 80. 332 Laut Radbruch sind die Menschenrechte „absoluter Natur“, Radbruch, Vorschule, S. 29. 333 Die Radbruch’sche Formel wurde auf diese Weise in den „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“ erläutert, vgl. Radbruch, in: Gustav Radbruch Rechtsphilosophie, S. 209–210. 334 Vest, Gerechtigkeit, S. 166–167; siehe die von Carl Schmitt formulierte Rechtfertigung des „Gesetzes über Maßnahmen der Staatsnotwehr“ vom 03.07.1934 in Schmitt, DJZ 1934, 945; der einzige Artikel dieses Gesetzes lautete: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens“. 335 Vgl. Radbruch, Süddt. JZ 1946, 105 (107); die Verbindung der Radbruch’schen Formel mit der Idee der Menschenrechte erscheint auch in den „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“ (siehe Radbruch, in: Gustav Radbruch Rechtsphilosophie, S. 210) und in der „Vorschule der Rechtsphilosophie“ (Radbruch, Vorschule, S. 29). 336 Radbruch, Süddt. JZ 1947, 131 (135). 337 Wie von der Pfordten erklärt, verbindet Radbruch die Frage „Was ist das Recht?“ mit der Frage „Welches Recht ist gerecht?“ in der Frage nach der „Rechtsidee“, vgl. von der Pfordten, Menschenwürde (2006), S. 59 ff.; in Radbruchs Anwendung und Definition des Terminus „Rechtsidee“ kann laut von der Pfordten sowohl der Einfluss des Marburger als auch des Heidelberger Neukantianismus gefunden werden; Radbruch greift zwar auf Rudolf Stammlers – Marburger Neukantianismus – Terminus zurück (ebd., S. 70 ff.), dieser hat bei ihm aber einen

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Nach Radbruch ist das Recht „die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen“.338 In Radbruchs Rechtsphilosophie entspricht die Rechtsidee der Gerechtigkeit.339 Demnach kann Radbruchs Definition des Rechts auch auf folgende Weise gedeutet werden: Recht sei die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen.340 Trotzdem bezog sich Radbruch vor dem Krieg nicht, wie er es nach dem Krieg tat, auf die Gerechtigkeit im Sinne der Menschenrechte, sondern nur im Sinne der „austeilenden Gerechtigkeit“.341 Nichtsdestoweniger ergibt sich daraus eine Rechtsgeltungslehre, die im Sinne der moralischen Verbindlichkeit des Rechts definiert ist. Weder eine rein juristische noch eine rein soziologische Geltungslehre würden daher die Geltung des Rechts als „Sollen“ begründen können.342 Nach Radbruchs Rechtsphilosophie lässt sich das Problem der Rechtsgeltung folglich nur auf der Ebene einer rechtsethischen Geltungslehre lösen.343 Radbruch formuliert im Anschluss an den Krieg die Radbruch’sche Formel gerade aus einer Verknüpfung dieses Gedankens mit dem Konzept der Menschenrechte. Die Rechtssicherheit als Wert, dem das Recht dienen müsse, habe also aus rechtsethischen Gründen den Vorrang. Seine Bedeutung könne aber auch aus rechtsethischen Gründen eingeschränkt werden, wenn die Rechtssicherheit der Gerechtigkeit bzw. den Menschenrechten widerspreche. In seiner „Vorschule zur Rechtsphilosophie“ betont er deshalb erneut: „Rechtssicherheit ist nur ein Wert neben anderen Werten“.344

anderen Inhalt: Für Radbruch konkretisiert sich die „Rechtsidee“ als Gerechtigkeit und Gleichheit, wänrend sie für Stammler die Idee des freien Wollens bedeutet (ebd., 73); wie von der Pfordten des Weiteren behauptet, sei die „Rechtsidee“ in Radbruchs Auffassung ein Mitglied im Reich der Werte – Heidelberger Neukantianismus; auf diese Weise setze Radbruch „Rechtsidee“ und „Rechtswert“ gleich und vereinige beide Schulen (ebd., S. 76). 338 Laut Radbruch ist das Recht ein Kulturbegriff, „d. h. ein Begriff von einer wertbezogenen Wirklichkeit, die den Sinn hat, einem Werte zu dienen“, Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 34; Radbruch leitet den Rechtsbegriff deduktiv aus der Rechtsidee ab und formuliert ihn als „den Inbegriff der generellen Anordnungen für das menschlichen Zusammenlaben“, ebd., S.  38; siehe dazu von der Pfordten, Rechtsethik, S. 182. 339 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 34. 340 Vgl. Dreier/Paulson, in: Gustav Radbruch, S. 243. 341 Radbruch erklärt 1932 in seiner „Rechtsphilosophie“ den Inhalt der Gerechtigkeit unter Bezugnahme auf Aristoteles. Er definiert die „austeilende Gerechtigkeit“ als „die verhältnismäßige Gleichheit in der Behandlung verschiedener Personen“ und behauptet: „In ihr haben wir die Idee der Gerechtigkeit gefunden, auf die der Rechtsbegriff orientiert werden muss“, Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 36. 342 Vgl. Dreier/Paulson, in: Gustav Radbruch, S. 244. 343 Ebd.; in diesem Sinne behauptet Radbruch: „Von rechtlichen Normen, rechtlichem Sollen, rechtlicher Geltung, Rechtspflichten kann erst dann die Rede sein, wenn der rechtliche Imperativ vom Einzelgewissen mit moralischer Verpflichtungskraft ausgestattet wird“, Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 47. 344 Siehe auch Radbruch, Vorschule, S. 37.

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2. Hart und die Relationsmöglichkeiten zwischen Recht und Moral Radbruchs Auffassung blieb nicht unumstritten. Im englischen Sprachraum wurde die Radbruch’sche Formel im Rahmen der Debatte zwischen H. L. A. Hart und Lon Fuller thematisiert. Obwohl nicht alle Aspekte der Auffassungen von Hart und Fuller hier behandelt werden können, ist an dieser Stelle auf einige Punkte einzugehen. Diese Debatte ist hier relevant, da sie dazu beiträgt, die moralische Konnotation des Problems der Achtung des NCSL-Prinzips in Situationen massenhafter Gewalt zu veranschaulichen.345 Bereits in seinem Aufsatz „Positivism and the Separation of Law and Morals“346 stellte Hart einige der wichtigsten Elemente dar, aus denen er seine Theorien ein paar Jahre später in „The Concept of Law“ entwickelte.347 In diesem Aufsatz formuliert Hart erstmals seine Kritik an Radbruch. Hart betrachtet das Recht als eine soziale Tatsache bzw. als ein soziales Konstrukt und geht davon aus, dass das Recht immer etwas Künstliches sei.348 Er trennt einerseits scharf zwischen Recht und Moral, andererseits zeigt er aber auch die Verbindungen zwischen diesen beiden Bereichen als Mechanismen sozialer Kontrolle auf.349 Harts Auffassung über das Verhältnis zwischen Recht und Moral lässt sich also als rechtsethischer Normativismus kennzeichnen. Die Grundlage des Rechts sei in seiner sozialen Dimension zu finden, d. h. weder die Vermutung einer transzendentallogischen Norm (Kelsen) noch die moralische Rechtfertigung des Rechts (Naturrecht) seien für das Verständnis des Rechts als eines sozialen Phänomens notwendig oder geeignet.350 Hart geht außerdem davon aus, dass das Recht aus einem Komplex von Regeln bestehe, die sowohl das Verhalten von Privatpersonen als auch das von Beamten lenken sollen. Die Verbindlichkeit der Rechtsregeln lasse sich in diesem Zusammenhang nur dadurch erklären, dass es neben einem externen auch einen internen Gesichtspunkt gebe.351 Aus dem externen Gesichtspunkt, d. h. aus der Perspektive derjenigen, die sich nicht an die Regeln gebunden fühlten, würden die Regeln nur aufgrund der Strafandrohung für Regelverstöße beachtet werden.352 Aber aus dem internen Gesichtspunkt, d. h. aus der Perspektive derjenigen, die die Regeln verinnerlicht hätten und sie deshalb befolgten, könne die Rolle der Rechtsregeln für das

345

Zu Harts und Fullers Theorien sowie zum NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht siehe auch Arajärvi, S. 124. 346 Hart, Harv. L. Rev. 1957, 593. 347 Die Erstauflage des Buches „The Concept of Law“ erschien im Jahr 1961. 348 Vgl. Green, in: The Concept, S. xvii. 349 Vgl. Hart, Harv. L. Rev. 1957, 593 (594, 598); siehe dazu Pawlik, S. 21 ff. 350 Vgl. Green, in: The Concept, S. xix. 351 Vgl. Hart, The Concept, S. 82 ff. 352 Ebd., S. 89

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Zusammenleben der Mehrheit der Gesellschaft wirklich erkannt werden.353 Die faktische Akzeptanz der Rechtsregeln als Verhaltensstandard und als Verpflichtungen durch die „Mehrheit“ der Gesellschaft, unabhängig von ihrer persönlichen Motivation, sei insofern das Element, das die Existenz der Rechtsregeln als „Sollen“ begründe.354 Darüber hinaus würden die Rechtsregeln nur dann ein Rechtssystem bilden, wenn sie sich in zwei miteinander verbundene Typen einstufen ließen.355 Durch die Regeln des ersten Typs, die als Primärregeln bzw. Verhaltensregeln zu bezeichnen sind, würden Menschen dazu angehalten, gewisse Handlungen zu tun oder zu unterlassen, wohingegen durch die Regeln des zweiten Typs, also die Sekundärregeln, festgestellt werde, wie die Primärregeln zu erkennen, zu ändern und anzuwenden seien.356 Die Sekundärregeln würden somit die Primärregeln ergänzen und dem Recht Bestimmtheit, Dynamik und Wirksamkeit verleihen.357 Hart versteht die Moral einer bestimmten Gesellschaft auch als ein soziales Phänomen, das auch aus einem Komplex von Normen bestehe. Es beziehe sich auf Verhaltensstandards, der eine signifikante Anzahl der Mitglieder der Gesellschaft folgten und deshalb ihr Leben leiteten.358 Rechtliche und moralische Regeln würden sich dahingehend ähneln, dass beide Regelsysteme für verbindlich gehalten, unabhängig von der Zustimmung des durch sie gebundenen Individuums, und durch starken sozialen Konformitätsdruck unterstützt würden.359 Beide Bereiche teilten ferner ein gemeinsames Vokabular und würden sich auf minimale Anforderungen beziehen, die der Befriedung jeder Gesellschaft dienten, wie z. B. das Gewaltverbot gegen Personen und Sachen, um das soziale Zusammenleben zu ermöglichen.360 Trotzdem würden auch einige wesentliche Unterschiede bestehen: Der Inhalt der Regeln sei nicht so wichtig für den Status von Rechtsregeln wie für den Status moralischer Regeln. Demnach könnten Rechtsregeln durch einen Erlass eingeführt, geändert oder abgeschafft werden, während dies bei moralischen Regeln nicht der Fall sei. Ferner setze die rechtliche Verantwortung nicht immer eine absichtliche Handlung voraus, während eine Absicht für die moralische Verantwortung stets erforderlich sei. Zudem seien die typischen Formen des rechtlichen Drucks physische Strafen sowie unangenehme Folgen, wohingegen der typisch 353

Ebd., S. 88–91. Ebd., Hart betont, dass die Möglichkeit der Sanktion bzw. die Tatsache, dass die Regeln von einer politischen Autorität erlassen würden, keine vollständige Erklärung für ihren bindenden Charakter biete. Siehe auch von der Pfordten, Rechtsethik, S. 181. 355 Vgl. Hart, The Concept, S. 91 ff. 356 Ebd. 357 Ebd.; von besonderer Bedeutung ist die sog. Erkenntnisregel, die festlegt, wer für den Erlass der Primärregeln zuständig ist, von der Pfordten, Rechtsethik, S. 181. 358 Die Gerechtigkeit ist laut Hart ein Bestandteil der Moral, der sich in erster Linie nicht mit dem individuellen Verhalten befasse, sondern damit, wie Klassen von Individuen zu behandeln seien, Hart, The Concept, S. 167 ff. 359 Ebd., S. 172. 360 Ebd., S. 172–173. 354

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moralische Druck lediglich aus Appellen bestehe, die moralischen Regeln als etwas Wichtiges von sich aus zu befolgen.361 Vor diesem Hintergrund behauptet Hart mit Nachdruck, dass keine notwendige begriffliche bzw. logische Verbindung zwischen Recht und Moral bestehe. Somit höre eine Regel nicht auf, eine Rechtsregel zu sein, wenn sie bestimmte moralische Anforderungen nicht erfülle. Ebenso wenig sei eine Regel Teil des Rechts, nur weil sie gerecht oder moralisch wünschenswert sei.362 Dies ist gerade sein zentraler Kritikpunkt an Radbruchs Auffassung. In diesem Sinne betont Hart, „Sein“ und „Sollen“ des Rechts seien zu unterscheiden. Dabei ist jedoch bemerkenswert, dass Hart ein Naturrecht mit Minimalgehalt akzeptiert.363 Dies begründet er damit, dass es einen gemeinsamen Kern von Recht und Moral geben müsse, um den Minimalzweck des Überlebens fördern zu können.364 Allerdings sei dies keine ontische oder normative Behauptung über das Recht, es sei vielmehr eine Feststellung, die sich aus empirischen Beobachtungen ergebe.365 Hart behandelt ferner mehrere Relationsmöglichkeiten von Recht und Moral, von denen er drei akzeptiert. Laut Hart spiegelt das Recht sowohl die akzeptierte Sozialmoral als auch moralische Ideale wider. Der Einfluss der Moral auf die Entwicklung des Rechts könne insofern nicht verleugnet werden.366 Des Weiteren müsse anerkannt werden, dass Richter bei der Auslegung des Rechts (Gesetzgebung oder Rechtsprechung) oft zwischen kollidierenden moralischen Werten vermitteln müssten. Denn das Recht weise stets einen gewissen Grad an Unbestimmtheit auf, der sich aus den Grenzen der Sprache ergebe. Außerdem umfasse das geschriebene Recht oft moralische Begriffe, die interpretationsbedürftig seien. Richterliche Entscheidungen würden also nicht aufgrund blinder, mechanischer Deduktionen getroffen, sondern sie würden vielmehr durch die Überzeugungen der Richter bzgl. der Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit der Rechtsregeln bestimmt.367 Darüber hinaus weise das Verhältnis zwischen Recht und Moral eine weitere Dimension auf, nach der ein Mindestmaß an Gerechtigkeit sich im Kern des Rechts befinde. Es handele sich hierbei um die unparteiische Anwendung eindeutiger, allgemeingültiger Regeln, die im Voraus erlassen worden sein müssten. 361

Ebd., S. 173 ff. Vgl. Hart, Harv. L. Rev. 1957, 593 (599). 363 Vgl. Hart, The Concept, S. 193 ff.; siehe auch Hart, Harv. L. Rev. 1957, 593 (621–624); siehe dazu ferner Pawlik, S. 30–35; Hart sprach auch von der Freiheit als einzigem natürlichen Recht: „[T]here is at least one natural right, the equal right of all men to be free“, Hart, The Philosophical Review 1955, 175 (175). 364 Laut Hart haben die Menschen ohne diesen Inhalt keinen Grund dazu, freiwillig irgendwelche Regeln zu befolgen, vgl. Hart, The Concept, S. 193. 365 Hart bezieht sich hier auf sechs Tatsachen: die menschliche Verletzlichkeit, die annäherungsweise Gleichheit der Menschen, den begrenzten Altruismus, die begrenzten Mittel, die begrenzte Verständnisfähigkeit und die begrenzte Willensstärke, siehe ebd., S. 194 ff. 366 Ebd., S. 203–204; auch Hart, Harv. L. Rev. 1957, 593 ( 598); dazu Pawlik, S. 27. 367 Vgl. Hart, The Concept, S. 124 ff., 204–205; siehe auch Hart, Harv. L. Rev. 1957, 593 (598, 606 ff.). 362

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Insofern trage das Recht einen germ of justice in sich.368 Dies beziehe sich auf die Anwendung sämtlicher Regeln, unabhängig davon, ob sie inhaltlich gerecht oder ungerecht seien. Daher gelte diese Minimalform der Gerechtigkeit sogar für die gerechte Anwendung „ungerechter“ Regeln.369 Hart nimmt jedoch nicht an, dass die Autorität des Rechts auf irgendeiner Form von moralischer Verpflichtung zum Rechtsgehorsam beruhe. Die Zwangsgewalt des Rechts setze vielmehr ihrerseits eine anerkannte Autorität voraus. Aber die Dichotomie von rein auf Macht beruhendem Recht und Recht, das als moralisch verpflichtend anerkannt werde, sei unzureichend, um die Normativität des Rechts zu erklären. Laut Hart gibt es viele Menschen, die die Rechtsregeln nicht als moralisch verbindlich betrachten. Genauso gebe es auch viele Menschen, die die Rechtsregeln zwar freiwillig akzeptieren, aber sich nicht als moralisch gebunden betrachten würden.370 Hart lehnt ferner eine begriffliche Verbindung zwischen Recht und Moral als notwendiges Element für eine Kritik am Recht ab. Denn dies setze den Beweis voraus, dass die Moral, die als Referenzpunkt der Kritik am Recht diene, die richtige bzw. wahre Moral sei. Deshalb betont Hart, dass die Geschichte zeige, dass verschiedene Rechtsordnungen neben unterschiedlichsten Moralordnungen bestehen könnten, ohne ihren Status als Recht zu verlieren.371 Eine Rechtsregel verliere somit ihre Gültigkeit nicht, wenn sie bestimmten moralischen Anforderungen nicht entspreche. Hart erkennt an, dass die gegenteilige Meinung, wie sie z. B. von Radbruch vertreten wurde, zwar nützlich sein könne, insbesondere in Situationen, in denen die willkürliche Verletzung von Rechten seitens eines autoritären Regimes nach dessen Sturz durch neue strafrechtliche Normen abzuurteilen sei, wie dies in Deutschland nach dem Krieg geschehen sei.372 Hart meint allerdings, dass es in den von Radbruch diskutierten Fällen besser gewesen wäre, den rückwirkenden Charakter der neuen Strafgesetze anzuerkennen als den rechtlichen Charakter der Gesetze des alten Regimes abzulehnen. Dies wäre nicht nur ehrlicher gewesen, sondern auch zweckmäßiger.373 Laut Hart ist es einfacher zu verstehen, dass ein Gesetz nicht mehr anzuwenden ist, weil es ungerecht sei, als dass ein Gesetz aus diesem Grund kein Gesetz mehr darstelle.374 Die Eindeutigkeit bzw. die Trennung der Begriffe erlaube es, sich den komplexen Zusammenhang zwischen Recht und Moral vor Augen zu führen und die sich aus ungerechten Gesetzen ergebenden moralischen Probleme besser zu formulieren.375 368

Zur Gerechtigkeit im legalistischen Sinne siehe zweites Kapitel Fn. 382. Vgl. Hart, The Concept, S. 159 ff., 206–207; siehe auch Hart, Harv. L. Rev. 1957, 593 (621–624). 370 Vgl. Hart, The Concept, S. 202–203; siehe auch Hart, Harv. L. Rev. 1957, 593 (601–606). 371 Vgl. Hart, The Concept, S. 205–206. 372 Ebd., S. 207 ff. 373 Ebd.; auch Hart, Harv. L. Rev. 1957, 593 (617–620); auch insofern Neumann, in: Transitional, S. 51. 374 Vgl. Hart, The Concept, S. 210–212. 375 Ebd. 369

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3. Fuller, Legalität und die innere Moral des Rechts als morality of duty und als morality of aspiration Fuller versucht in seinem Aufsatz „Positivism and Fidelity to Law – A Replay to Professor Hart“376 und in seinem Buch „The Morality of Law“377 Harts Argumente zu entkräften, und vertritt in diesen Schriften eine Auffassung, die als eine Form des rechtsethischen Essentialismus betrachtet werden kann.378 Laut Fuller ist der von Hart vorgeschlagene Rechtsbegriff unvollständig, weil Harts Perspektive die fidelity to law nicht zu erklären vermag. Die Pflicht zum Rechtsgehorsam könne weder auf einem Befehl (Austin), noch auf der Anerkennung z. B. durch Beamte (Hart) beruhen.379 Wenn die Rechtsnorm einen Anspruch auf Gehorsam habe, müsse sie mehr darstellen.380 Die von Hart vertretene Definition des Rechtssystems als Komplex primärer und sekundärer Regeln könne somit die Realität des Rechts nicht vollständig widerspiegeln, weil Hart nichts über das Wesen der sekundären Regeln sage.381 Laut Fuller stellt der moralische Charakter dieser Regeln ihr Fundament dar, da ihre Wirksamkeit sich von der generellen Überzeugung ableite, dass sie notwendig und richtig seien. Genau hier liege deshalb ein Schnittpunkt zwischen dem „Sein“ und dem „Sollen“ des Rechts vor.382 Fullers Verständnis des Rechts geht von zwei Elementen aus. Erstens ist die Unterscheidung zwischen morality of aspiration und morality of duty zu nennen. Die morality of aspiration beziehe sich auf die vollständigste Verwirklichung des menschlichen Potenzials. Sie umfasse somit die Ideale des guten Lebens und der Exzellenz.383 Im Gegenteil dazu lege die morality of duty einen Ausgangspunkt fest und stelle die für die Schaffung einer organisierten Gesellschaft erforderlichen minimalen Regeln auf.384 Beide stellten verschiedene Stufen der Moral dar. Die morality of aspiration sei die höchste Stufe. Sie weise einen größeren Grad an Unbestimmtheit auf und schreibe eine Belohnung für ihre Befolgung vor, wohingegen die morality of duty konkreter sei, sich auf einer niedrigeren bzw. der ersten Stufe befinde und eine Sanktion im Fall ihrer Nichtbeachtung vorschreibe.385 Es muss betont werden, dass nach Fullers Meinung diese Unterscheidung erlaubt, das Verhältnis zwischen Recht und Moral besser zu verstehen, da nicht alle Aspekte 376

Fuller, Harv. L. Rev. 1957, 630. Die Erstausgabe von „The Morality of Law“ erschien 1964; die zweite Ausgabe wurde 1969 mit einem zusätzlichen Kapitel („A Reply to Critics“) veröffentlicht; siehe auch die von Hart veröffentlichte Rezension zu „The Morality of Law“, Hart, Harv. L. Rev. 1964–1965, 1281. 378 Vgl. von der Pfordten, Rechtsethik, S. 210–211. 379 Vgl. Fuller, Harv. L. Rev. 1957, 630 (632). 380 Ebd., S. 639. 381 Ebd. 382 Ebd.; siehe dazu Doerfer, S. 116 ff. 383 Vgl. Fuller, The Morality, S. 5. 384 Ebd., S. 5–6. 385 Ebd., S. 9 ff., 27 ff. 377

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

des Rechts allein als Bestandteil der morality of duty oder der morality of aspiration betrachtet werden könnten. Laut Fuller ermöglicht es diese Unterscheidung auch, einen Minimalkompromiss darüber zu finden, was schlecht bzw. ungerecht sei, ohne eine eindeutige oder absolute Vorstellung über das Gute und die Gerechtigkeit haben zu müssen. Die zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist jedoch die nach der Grenze zwischen beiden Stufen.386 Zweitens sind die Konzepte von Ordnung und Zweck zu berücksichtigen. Das Konzept der Ordnung hat Fuller zufolge einen bestimmten moralischen Gehalt, weil eine Ordnung immer einem Zweck diene.387 Der Bezug auf eine Rechtsordnung impliziere somit stets die Vorstellung einer funktionalen Ordnung.388 Dies bedeute, dass die Existenz des Rechts eine Ordnung voraussetze, die gewisse Mindestanforderungen erfülle. Vor diesem Hintergrund dürfe das Recht nicht nur als ein Faktum verstanden werden. Es stelle vielmehr eine menschliche Bemühung bzw. ein „Unternehmen“ zur Schaffung einer Mindestordnung dar; seine Existenz lasse in diesem Sinne verschiedene Verwirklichungsgrade zu.389 Das Recht als Ordnung müsse dann gewisse Anforderungen erfüllen, um Recht sein zu können. Dies bezeichnet Fuller als innere Moral des Rechts oder als principles of legality. Die innere Moral des Rechts bestehe aus acht Prinzipien, die einen formellen Charakter hätten: Erstens solle es allgemeine Regeln geben, welche zugleich als allgemeine Standards bei der Entscheidungsfindung dienten. Daneben sei eine Verkündung der Rechtsregeln erforderlich. Ferner dürften sie keinen rückwirkenden Effekt haben. Nach dem vierten Prinzip sollten die Rechtsregeln so klar wie möglich formuliert werden. Zudem dürften sie nicht im Widerspruch zueinander stehen. Das Verbot, Unmögliches zu verlangen, sei ein weiteres Prinzip. Darüber hinaus dürften die Rechtsregeln nicht zu oft geändert werden. Das achte und letzte Prinzip sei dann das Erfordernis einer gewissen Kongruenz zwischen dem Verhalten 386 Ebd., S. 11.; zu den Problemen der Unterscheidung zwischen morality of duty und morality of aspirations siehe Hart, Harv. L. Rev. 1964–1965, 1281 (1282–1284). 387 Vgl. Fuller, Harv.  L.  Rev. 1957, 630 (644 ff.), dies ist vielleicht der problematischste Aspekt der Auffassung Fullers; Hart weist z. B. darauf hin, dass Fuller in diesem Punkt die Moral und die Voraussetzungen der Effizienz irrtümlich verwechsele, siehe Hart, Harv. L. Rev. 1964–1965, 1281 (1286); in diesem Sinne auch Dworkin, U.  Pa.  L.  Rev. 1964–1965, 668 (669–670); siehe die Antwort auf diese Kritik in Fuller, The Morality, S. 200 ff. und Fuller, Vill. L. Rev. 1965, 655. 388 Vgl. Fuller, Harv. L. Rev. 1957, 630 (644 ff.). 389 In „The Morality of Law“ definiert Fuller das Recht als „the enterprise of subjecting human conduct to the governance of rules“, er erklärt, dass diese Ansicht „treats law as an activity and regards a legal system as the product of a sustained purposive effort“, Fuller, The Morality, S. 106; laut Fuller ist die Anerkennung der Unvollkommenheit wesentlich, um die Probleme bei der Schaffung des Rechts richtig zu verstehen, ebd., S. 122–123; siehe auch Fuller, Harv. L. Rev. 1957, 630 (646); Hart kritisiert Fullers Rechtsbegriff, weil ein solches Konzept nicht erlaube, das Recht von anderen normativen Ordnungen zu differenzieren, vgl. Hart, Harv.  L.  Rev. 1964–1965, 1281 (1281); die Behauptung, wonach die Existenz des Rechts verschiedene Verwirklichungsgrade zulassen würde, ist auch von Dworkin, U.  Pa.  L.  Rev. 1964–1965, 668 (678) kritisiert; siehe dazu auch Shklar, S. 108–109.

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der Beamten und dem Gesetz.390 Diese Prinzipien würden kein höheres bzw. übergesetzliches Recht darstellen. Sie seien vielmehr Eigenschaften, die mit dem Kern des Rechts selbst verknüpft seien.391 Fuller stuft jedes dieser Prinzipien teilweise als morality of aspiration und teilweise als morality of duty ein.392 Ihm zufolge gehören diese Prinzipien allerdings in großem Maße in den Bereich der morality of aspiration. Falls keines dieser Prinzipien erfüllt werde, könne daher nicht von Recht gesprochen werden. Aber gleichzeitig stelle die Verwirklichung aller Prinzipien eine Utopie dar (von Fuller als Utopia of legality bezeichnet), weil sich die Prinzipien der inneren Moral des Rechts in einem ständigen Spannungsverhältnis untereinander befänden.393 Diese Spannungen existierten nicht nur zwischen den principles of legality, sondern auch zwischen der inneren und der externen Moral des Rechts. Als externe Moral des Rechts versteht Fuller alle materiellen Werte bzw. Zwecke, die für die Schaffung bzw. Anwendung des Rechts relevant seien. Laut Fuller bedingen sich ferner die innere und die externe Moral des Rechts, was weitere Spannungen in der Rechtsordnung verursachen könne.394 Die Anerkennung des Individuums als freies und rationales Wesen sei eine sich aus der externen Moral des Rechts ergebende Grenze bzw. Voraussetzung der inneren Moral.395 Eine „perfekte“ Rechtsordnung könne somit nicht verwirklicht werden.396 Die innere Moral des Rechts stelle lediglich ein Ideal dar, das die kollektive Bestrebung zur Schaffung des Rechts leiten solle, aber verschiedene Verwirklichungsgrade bzw. Ergebnisse auf diesem Weg zulasse. Fullers Vorstellung des Rechts ist hier also hervorzuheben. Er identifiziert zwei gegensätzliche Ansichten: einerseits die Theorie, dass das Recht ein Produkt ein 390

Vgl. Fuller, The Morality, S. 46 ff. Ebd., S. 96. 392 Ebd., S. 42 ff. 393 Fuller führt dazu aus: „[T]he utopia of legality cannot be viewed as a situation in which each desideratum of the law’s special morality is realized to perfection […] In every human pursuit we shall always encounter the problem of balance at some point as we traverse the long road that leads from the abyss of total failure to the heights of human excellence“, ebd., S. 46; siehe auch Fuller, Harv. L. Rev. 1957, 630 (645); zum „ideal of the rule of law“ siehe auch Endicott, OJLS 1999, 1 (2–4). 394 Vgl. Fuller, The Morality, S. 152 ff.; kritisch dazu Hart, Harv. L. Rev. 1964–1965, 1281 (1287). 395 Fuller geht im Allgemeinen von der Neutralität der inneren Moral des Rechts gegenüber der externen Moral aus. Aber er erkennt an, dass die innere Moral nicht neutral gegenüber dem Menschenbild sein könne: „To embark on the enterprise of subjevting human conduct to the governance of rules involves of necessity a commitment to the view that man is, or can become, a responsible agent, capable of understanding and following rules, and answerable for his defaults“, Fuller, The Morality, S. 162; siehe auch ebd., S. 184 ff. 396 Insofern kann auch Endicott Auffassungs erwähnt werden, der zufolge ein gewisser Grad an Vagheit bei der Formulierung des Rechts die rule of law nicht beeinträchtigt und sogar notwendig ist. Ein gewisser Grad an Vagheit bei der Formulierung des Rechts ist Endicott zufolge nicht vermeindbar und macht die rule of law nicht defizitär, siehe Endicott, OJLS 1999, 1 (4 ff.). 391

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

seitiger Machtausübung darstelle, eine Ansicht, die er dem von Austin bis Hart vertretenen Rechtspositivismus zuschreibt; andererseits das von ihm selbst vertretene Konzept des Rechts als einer zweckgerichteten, wechselseitigen kooperativen Aktivität.397 In diesem Sinne wurde bereits auf das Recht als „menschliche Bemühung“ bzw. als „kollektives Unternehmen“ hingewiesen. Die Schaffung des Rechts ist somit Fuller zufolge ein ständiger Prozess, an dem verschiedene Subjekte teilnehmen würden. Zwei Elemente müssen also in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden: erstens der gegenseitige Charakter des Rechts. Dies bedeute, dass sowohl der Staat als auch die Bürger bei der Konfiguration der Rechtsordnung eine wichtige Rolle spielen würden, da die Bürger nur eine Pflicht zum Rechtsgehorsam hätten, falls der Staat die Anforderungen der inneren Moral des Rechts erfülle.398 Als zweites Element ist die Bedeutung des Zwecks für die Definition des Rechts zu nennen. Danach könne nicht verstanden werden, was das Recht sei, ohne zu betrachten, was mit dem Recht zu erreichen versucht werde.399 Dies zeige gerade wieder die Verbindung zwischen dem „Sein“ und dem „Sollen“ des Rechts.400 Wer das Recht lediglich als das Produkt einer Autorität verstehe, übersehe die Tatsache, dass die Autorität sich aus dem Recht ergebe und dass sich diejenigen selbst, die an der Rechtsordnung als Autoritäten teilnehmen würden, als Bestandteil einer kollektiven Bemühung bzw. einer kollektiven Aktivität betrachteten. Ferner würde hierdurch ignoriert, dass die Art und Weise, in der die Autorität ihre eigene Rolle verstehe, ihre Tätigkeiten im Rahmen der Rechtsordnung bedinge und implizite Grenzen für ihr Verhalten festlege.401 Laut Fuller ist dies ein Fehler der sog. Trennungsthese und deswegen auch der Theorie von Hart.402 Die Anerkennung der Verbindung zwischen „Sein“ und „Sollen“ durch die Idee von „Zweck“ bei der Definition des Rechts stelle ferner den richtigen Ausgangspunkt dafür dar, die Pflicht zum Rechtsgehorsam richtig erfassen zu können. Dies gelte insbesondere im Zusammenhang mit der Rechtsbindung der Richter, weil sie die Verantwortung auch hätten, das Recht mitzugestalten.403 Ihre Entscheidungen sollten auch dazu beitragen, dass das Recht sein könne, was es sein solle.404 Vor diesem Hintergrund behauptet Fuller, dass Radbruch das Problem des NSRechts richtig darlegt habe, da in seiner Auffassung die moralische Dimension

397

Vgl. Fuller, The Morality, S. 145; siehe dazu Doerfer, S. 135 ff. Vgl. Fuller, The Morality, S. 216–219, Fuller kritisiert Harts Erkennungsregel als reine Ermächtigungsregel: Eine in dieser Weise verstandene Regel schaffe keine Pflichten für die Regierung bzw. für den Gesetzgeber und erlaube somit nicht, eine kritische Haltung gegenüber der Autorität zu begründen, ebd., S. 134 ff.; siehe dazu Doerfer, S. 136. 399 Vgl. Fuller, The Morality, S. 145 ff. 400 Siehe dazu Doerfer, S. 140. 401 Vgl. Fuller, The Morality, S. 148–149. 402 Ebd., S. 146 403 Richter teilen mit dem Gesetzgeber die Verantwortung für die Verwirklichung der inneren Moral des Rechts, vgl. Fuller, Harv. L. Rev. 1957, 630 (647); siehe dazu Doerfer, S.141. 404 Vgl. Fuller, Harv. L. Rev. 1957, 630 (647). 398

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der Pflicht zum Rechtsgehorsam zum Ausdruck gekommen sei,405 eine Dimension, die von Hart abgelehnt zu werden scheine. Für Fuller bieten die positivistischen Theorien demnach keine überzeugende Erklärung bzw. Begründung für die Pflicht zum Rechtsgehorsam. Dies führe zu einem Missverständnis bzgl. des Dilemmas, in dem sich die deutschen Richter seit dem Ende des Krieges befänden. Die NS-Gesetze stellten somit nach Harts Auffassung eine Spannung zwischen zwei Pflichten dar: einerseits der Pflicht zur Rechtstreue, die nach der positivistischen Auffassung auch als moralische Pflicht betrachtet werden könnte, ohne dass diese Ansichten eine Begründung hierfür bieten würden; andererseits der moralischen Pflicht das zu tun, was man als richtig erachte.406 Fuller kritisierte gerade diese Unterscheidung, weil der Rechtspositivismus auf diese Weise jegliche Verbindung zwischen der Pflicht zum Rechtsgehorsam und jeder anderen Form der moralischen Pflicht ablehne.407 Die Anerkennung der inneren Moral des Rechts ermögliche es gerade die Verbindung zwischen dem moralischen und dem rechtlichen Charakter der Pflicht zum Rechtsgehorsam zu verstehen. Demzufolge sei es nicht notwendig, wie Radbruch es tue, ein übergesetzliches Recht anzunehmen, um das Problem der Gültigkeit der NS-Gesetze zu lösen, weil diese Gesetze jedenfalls im Widerspruch mit der inneren Moral des Rechts stünden und schon daher kein wirkliches Recht sein könnten.408 Allerdings habe die Wiederherstellung des Rechts und der Gerechtigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland die Erkenntnis vorausgesetzt, dass weder das Recht ohne Gerechtigkeit existieren noch die Gerechtigkeit ohne Ordnung verwirklicht werden könne.409 Die sei zu Recht von Radbruch vestanden worden. Vor diesem Hintergrund akzeptierte Fuller in den von Radbruch als gesetzliches Unrecht klassifizierten Fällen die (zumindest formell) rückwirkende Anwendung von Strafgesetzen.410 405

Ebd., S. 655. Auf folgende Weise sei laut Fuller das Dilemma der deutschen Richter von Hart interpretiert worden: „On the one hand, we have an amoral datum called law, which has the peculiar quality of creating a moral duty to obey it. On the other hand, we have a moral duty to do what we think is right and decent“; infolgedessen führt Fuller aus: „[W]hen we are confronted by a statute we believe to be thoroughly evil, we have to choose between those two duties“. Dies stellt gerade den von Fuller kritisierten und abgelehnten Punkt dar, ebd., S. 656. 407 Der Rechtspositivismus führe zum Ergebnis, dass die Pflicht zum Rechtsgehorsam und die moralische Pflicht nicht versöhnt werden könnten, da beide zu unterschiedlichen Sphären gehören würden, siehe ebd. 408 Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Fuller nicht den rechtlichen Charakter der gesamten NS-Rechtsordnung ablehnt. Er bezieht sich lediglich auf die Gesetze, die die Anforderungen der inneren Moral des Rechts nicht erfüllten, wie z. B. die geheimen Gesetze. Dies sei gerade ein Beispiel dafür, dass die Existenz bzw. die Schaffung des Rechts verschiedene Verwirklichungsgrade zulasse, vgl. ebd., S. 659–660. 409 Ebd., S. 656–657. 410 Füller stellte die Gründe dafür dar: „My reason for this preference is not that this is the most nearly lawful way of making unlawful what was once law. Rather I would see such a statute as a way of symbolizing a sharp break with the past“, ebd., S. 661. 406

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

4. Recht, Legalität und Moral im Rahmen des Völkerstrafrechts Aus den hier zusammengefassten Erwägungen Radbruchs, Harts und Fullers ergeben sich gewisse theoretische Elemente, die für das Verständnis der Entwicklung des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der Art und Weise, in der die Legalität im diesem Kontext konkretisiert worden ist, wichtig sind.411 Es darf hierbei nicht übersehen werden, dass die Sorge darüber, inwieweit das Recht die Willkür der politischen Macht beschränken kann und welche Rolle die Moral im Rahmen dieser Bemühungen spielt, eine zentrale Stelle in dieser Auffassungen einnimmt.412 Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass es bei dieser Debatte nicht nur um philosophische Meinungsverschiedenheiten geht. Sie weist auch eindeutige praktische Elemente auf, die stark vom Eindruck des National­ sozialismus und von den Herausforderungen geprägt sind, die seine Überwindung für die Idee der Legalität darstellte.413 Wie bereits erwähnt, geht Hart in „The Concept of Law“ von verschiedenen Relationsmöglichkeiten zwischen Recht und Moral aus, von denen hier zwei, die im Völkerstrafrecht besonders sichtbar sind, als Ausgangspunkte betont werden sollen. Zum einen ist dies die Neigung des Rechts, die moralischen Ideale einer Gesellschaft widerzuspiegeln. Zum anderen ist hier die Notwendigkeit der Auslegung und Abwägung kollidierender moralischer Werte zu nennen, die ins geschriebene Recht inkorporiert worden sind. Wie bereits in der vorliegenden Arbeit dargelegt wurde, entstand das Völkerstrafrecht als Bestandteil einer Strategie zur Etablierung eines bestimmten politischen und moralischen Projekts: Es dient der Unterwerfung der staatlichen Macht und der internationalen Beziehungen unter die rule of law, d. h. der Etablierung des Völkerrechts als Kooperations- und Friedensordnung und der Durchsetzung externer und interner moralischer Verhaltensstandards für Staaten durch internationale Tribunale. Dies bedeutet, dass das Völkerstrafrecht nicht nur die moralischen Ideale der internationalen Gemeinschaft widerspiegelt. Vielmehr geht der Zusammenhang zwischen ihm und der Moral der internationalen Gemeinschaft noch weiter, da es als Durchsetzungsmechanismus dieser Ideale konzipiert wurde. Deshalb haben einige der für das Völkerstrafrecht relevanten völkerrechtlichen Verträge und Statute mehrere Begriffe aufgenommen, die die moralische Dimension dieses Projekts ausdrücken und einen weiten richterlichen Spielraum ermöglichen. So hat etwa die sog. Martens’sche Klausel Begriffe wie „civilized peoples“, „laws of humanity“ und „public conscience“ verwendet, während die LC sich auf „aggression“, „ill-treatment“ und „inhumane 411

Vgl. Lacey, N. Y. U. L. Rev. 2008, 1059 (1060–1063). Ebd., S. 1080 (in Bezug auf Hart und Fuller). 413 Die Idee der Legalität spielte in diesem Kontext eine zentrale Rolle, Lacey erklärt dazu: „Yet the debate is, as we also saw, located in a very specific context: the postwar struggle to come to terms with the horrific Nazi episode and, in particular, the effort to do so in legal terms that did not reproduce some of the abuses of legality marking the Nazi regime“, ebd. 412

B. Die Idee der Legalität  

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acts“ bezog. Der starke Einfluss einer bestimmten Moral auf die Entwicklung des Völkerstrafrechts kann insofern nicht geleugnet werden. Wie aber bereits gesagt, geht der Zusammenhang zwischen Recht und Moral im Rahmen des Völkerstrafrechts noch weiter und ist in diesem Bereich vielleicht noch tiefer verwurzelt und evidenter als in anderen Rechtsgebieten. Zwei weitere Aspekte sollen dazu dienen, dies näher zu erklären. Zuerst ist die Art und Weise zu nennen, in der die Legalität in diesem Kontext verstanden wird. Zweitens sollen der Anspruch des Völkerstrafrechts gegenüber den staatlichen Rechtsordnungen und seine „Botschaft“ betrachtet werden. Dies soll gerade ermöglichen, den Umfang des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht besser zu erfassen. Der erste Aspekt ist im vorliegenden Abschnitt noch zu analysieren, während der zweite Aspekt im nächsten Abschnitt thematisiert wird. Das Verständnis der Legalität, die die Entstehung des Völkerstrafrechts geprägt hat, kann anhand Fullers Auffassung illustriert werden. In diesem Sinne muss betont werden, wie auch Waldron es tut, dass Fuller in seiner Antwort auf Hart zwei wesentliche Fragen stellt.414 Die erste Frage bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Recht und Legalität: Stellen die sog. principles of legality, zu denen auch das Rückwirkungsverbot zählt, ein wesentliches Element des Rechtsbegriffs dar? Die zweite Frage betrifft den Zusammenhang zwischen Legalität und Moral: Sind die principles of legality an sich moralisch wertvoll? Anders gesagt: Macht die Erfüllung dieser Prinzipien die Rechtsordnung im moralischen Sinne besser? Fuller bejaht beide Fragen und lehnt auf diese Weise die vom Rechtspositivismus vertretene Trennungsthese ab.415 Vor diesem Hintergrund kann also behauptet werden, dass Fullers Beitrag zwei Aspekte umfasst. Er bietet eine differenzierte (nuanced) Konzeptualisierung der Legalität, der zufolge die Legalität verschiedene Verwirklichungsgrade zulässt, und stellt die Grundlage der Verbindung zwischen Legalität und Moral dar, d. h. zwischen Form und Substanz.416 Bezüglich der ersten Frage kann behauptet werden, dass, wenn das Recht als ein Komplex an Normen mit der Fähigkeit zur Steuerung des menschlichen Verhaltens zu verstehen ist, angenommen werden muss, dass das Vorliegen allgemeiner

414

Vgl. Waldron, N. Y. U. L. Rev. 2008, 1135 (1137). Ebd., S.  1140 ff.; laut Dworkin kann Fullers Auffassung die positivistische Trennungsthese nicht widerlegen, weil Fuller über den Zusammenhang zwischen Recht und Moral nur in formallem Sinne spreche, siehe Dworkin, U. Pa. L. Rev. 1964–1965, 668 (673); laut Waldron ist Harts Auffassung in Bezug auf diese zwei Fragen widersprüchlich, weil Hart z. B. in „Positivism and the Separation of Law and Morals“ den moralischen Wert des NCSL-Prinzips und damit der Legalität anerkenne (in diesem Kontext erscheine das NCSL-Prinzip neben der Redeund Pressefreiheit als ein weiteres Element der materiellen Gerechtigkeit) und trotzdem er in der Review von „The Morality of Law“ kritisiere, dass Fuller die principles of legality als eine Art Moral bezeichne, vgl. Waldron, N. Y. U. L. Rev. 2008, 1135 (1147 ff., 1157 ff.). 416 Vgl. Lacey, N. Y. U. L. Rev. 2008, 1059 (1070): „a more nuanced conceptual elaboration of the principle of legality“. 415

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Normen ein wesentliches Element des Rechtsbegriffs darstellt.417 Es muss dann ferner die Möglichkeit bestehen, diese Normen zu kennen und zu begreifen. Denn eine im Voraus nicht bekannte und zu verstehende Norm kann nicht befolgt werden.418 Diese zwei Elemente bilden gerade den Kern der Idee der Legalität. Dies mag als eine Binsenwahrheit erscheinen. Trotzdem muss hier hervorgehoben werden, dass eine Rechtsordnung nicht auf die Legalität verzichtet kann, ohne ihr Wesen zu verlieren. Somit ist die Legalität auch ein essenzieller Bestandteil des Völkerstrafrechts. Dies erklärt ferner den unermüdlichen Versuch der internationalen Straftribunale (siehe etwa die Bemühung und die dahingehende Ambivalenz des IMG),419 nachzuweisen, dass das NCSL-Prinzip nicht verletzt worden sei. Es ging im Rahmen dieser Diskussionen nicht nur um die Widerlegung einer Verteidigungsstrategie der Angeklagten, sondern um die Bekräftigung des Wesens des Völkerstrafrechts als Recht. Ein anderes Problem stellt hingegen die Frage dar, wie und nach welchen Kriterien die gültigen Normen ermittelt werden sollen und ob die völkerstrafrechtlichen Normen kodifiziert sein müssen. Im Hinblick auf die sich aus Fullers Auffassung ergebende zweite Frage, also die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Legalität und Moral, ist ferner anzunehmen, dass die ähnliche Behandlung ähnlicher Fälle nur mithilfe allgemeiner, relativ eindeutiger Normen möglich ist.420 Die Idee der Legalität fördert somit die austeilende Gerechtigkeit, weil sie erlaubt, relativ objektive Maßstäbe zu haben, um ähnliche Fälle auf ähnliche Weise lösen zu können421 und dadurch zu entscheiden, was jedem gemäß der Rechtsordnung gebührt. Insofern erweist sich die Legalität auch als eine Voraussetzung der Gleichheit.422 Dank der Idee der Legalität ist es außerdem möglich, sich verantwortlich zu verhalten, weil im Voraus existierende Normen es auch erlauben, die Konsequenzen der eigenen Handlungen vorauszusehen. Insofern erweist sich die Legalität auch als Voraussetzung der Handlungsfreiheit.423 Auf dieser Grundlage kann daher behauptet werden, dass die Legalität, zumindest im Prinzip, moralisch wertvoll ist.424 Der Satz „Jedem 417

Vgl. Waldron, N. Y. U. L. Rev. 2008, 1135 (1167). Ebd. 419 Siehe oben, zweites Kapitel, Abs. II. 2. 420 Der Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit, Gleichheit und der Existenz allgemeiner Normen kann auch in Radbruchs Rechtsphilosophie gefunden werden, insbesondere wenn er in Bezug auf die Gerechtigkeit behauptet: „Gleichheit ist ihr Wesen, Allgemeinheit ist deshalb ihre Form […] die Gerechtigkeit fordert allgemeine Normen“, Radbruch, Vorschule, S. 25–26; siehe insofern auch Goetzeler, ZStW 1951, 83 (85). 421 Siehe die von Hart im siebten Kapitel von „The Concept of Law“ durchgeführte Analyse der Verbindung von Gerechtigkeit, Moral und Anwendung von Regeln, Hart, The Concept, S. 155 ff., S. 206–207. 422 Ebd., S. 159 ff. 423 Vgl. Fuller, The Morality, S. 53, 59; insofern auch Peristeridou, S. 39. 424 Es kann darüber gestritten werden, ob die Legalität per se moralisch wertvoll ist, wie von Fuller behauptet, oder ob der moralische Wert der Legalität sich aus „echten“ moralischen Werten ergibt, die als Konsequenz ihrer Achtung bzw. Missachtung betroffen sind, vgl. Dworkin, U. Pa. L. Rev. 1964–1965, 668 (674–675). 418

B. Die Idee der Legalität  

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das Seine“ illustriert diesen Punkt: Dank der Legalität ist es möglich zu erkennen, was jedem gebührt ist. Der Zusammenhang zwischen Legalität und Moral offenbart die Verbindung zwischen Recht und Moral.425 Wenn die Legalität an sich moralisch wertvoll ist und zugleich ein essenzieller Bestandteil zur Existenz des Rechts darstellt, verkörpert das Recht somit auch einen moralischen Wert. Der Zusammenhang zwischen Recht und Moral muss jedoch nuanciert werden. Dieser Zusammenhang kann aus einem optimistischen Blickwinkel betrachtet werden, wie Fuller dies tut. Demnach erschwere die Legalität den Missbrauch des Rechts im substanziellen Sinne, obwohl sie ihn nicht völlig verhindern könne. Wird das Ganze hingegen aus einer pessimistischen und zugleich vielleicht auch einer realistischeren Perspektive betrachtet, wie Hart dies tut, führt dies zur Schlussfolgerung, dass die Legalität nur ein Mindestmaß an Gerechtigkeit bei der Anwendung des Rechts erfordere, d. h. dass die Legalität lediglich einen germ of justice habe. Zwei Aspekte der Legalität sind jedenfalls anzuerkennen: Zum einen, dass die Legalität ein nicht vollkommen verwirklichbares, dennoch wesentliches Ideal des Rechts darstellt. Denn wie auch Fuller ausführt, befindet sich die Schaffung absolut eindeutiger Normen jenseits der menschlichen Fähigkeiten.426 Zudem schädigen in einem gewissen Maße rückwirkende Normen nicht zwingend die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit und können sogar unter bestimmten Bedingungen wünschenswert sein. Zum anderen ist anzuerkennen, dass der moralische Wert der Legalität relativ ist.427 Denn allgemeine, eindeutige und im Voraus erlassene Normen können genauso gut als Werkzeug zur Unterdrückung der gesamten bzw. eines Teiles der Bevölkerung 425 Insofern behauptet Shklar: „The pursuit of rules – pre-established, known, and accepted – is the end, moreover, not only of law but of all legalistic morals. It is this common aim that­ makes law and legalistic morality not separate entities but a single continuum. And the name of that continuum is justice“, Shklar, S. 109; die moralische Konnotation der Legalität wurde auch von Hoffe anerkannt, ihm zufolge existiert eine Rechtsmoral, die jede positive Rechtsordnung einem moralischen Anspruch unterwerfe, der sie als legitim oder gerecht auszeichne. Diese Rechtsmoral umfasse drei Stufen: die erste Stufe erfasse das Bestehen des Rechts an sich, was wiederum die private Gewalt verhindern solle („rechtskonstituierende Moral“); die zweite Stufe beziehe sich auf die Anwendung vorher bestehender (und gleicher) Normen auf ähnliche Fälle („rechtsrealisierende Moral“), was sowohl das Gleichheitsgebot als auch das Willkür­ verbot begründe (das NCSL-Prinzip stelle gerade einen Ausdruck dieser Stufe der Rechtsmoral dar); die dritte Stufe sei die Anerkennung der Menschenrechte und Demokratie („rechtsnormierende Moral“). Diesbezüglich weist Höffe darauf hin, dass alle drei Teilstufen ihrerseits in unterschiedlichem Maße verwirklicht sein könnten, siehe Höffe, S. 36–37. 426 In diesem Sinne behauptet auch Hart: „In fact all systems […] compromise between two social needs: the need for certain rules which can, over great areas of conduct, safely be applied by private individuals to themselves […] and the need to leave open, for later settlement by an informed, official choice, issues which can only properly appreciated and settled when they arise in a concrete case“, Hart, The Concept, S. 130; siehe auch Goetzeler, ZStW 1951, 83 (88–89, 94), der Zweifel bzgl. der Anforderungen der Legalität hatte: „[D]ie Rechtssicherheitsfunktion des Gesetzes [ist] trotz genereller Normierung, ja gerade wegen des generellen Charakters des Gesetzes eine höchst fragwürdige Angelegenheit“. 427 Vgl. Waldron, N. Y. U. L. Rev. 2008, 1135 (1165).

270

3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

genutzt werden.428 Dies folgt aus der Erkenntnis, dass auch das Recht an sich moralisch riskant ist.429 Der sich am Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald befindende Satz „Jedem das Seine“ zeigt gerade dies. Diese Erkenntnis findet sich auch in Radbruchs Idee, der zufolge das gesetzliche Unrecht einen Konflikt der Gerechtigkeit mit sich selbst darstellt. Die Annahme, dass die Legalität ein wesentliches Element des Rechts und per se moralisch bedeutsam sei, weil sie immer moralisch positive wie negative Implikationen haben könne, zeigt eine notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral „of a reverse kind“ an.430 Gerade diese Konzeption der Legalität hat es dem Völkerstrafrecht erlaubt, zwei für seine Entwicklung entscheidende Strategien umzusetzen: Erstens ist die Ablehnung der Verbindlichkeit des staatlichen Rechts in Fällen zu nennen, in denen das nationale Recht sich von den dem Völkerstrafrecht zugrunde liegenden Prinzipien bzw. Werten losgelöst hat. Dies wurde durch die Annahme ermöglicht, dass der moralische Wert der Legalität relativ ist. Zweitens handelt es sich um die Erfüllung der Anforderungen des NCSL-Prinzips und somit der Rechtssicherheit durch flexible Standards. Denn die Legalität lässt verschiedene Verwirklichungsgrade zu. Für das Völkerstrafrecht folgt daraus, dass zwar die Legalität grundsätzlich unentbehrlich (im Sinne der genannten „morality of duty“) ist, aber dass die konkreten Anforderungen flexibler (im Sinne der genannten „morality of aspiration“) sein können. 5. Der Anspruch und die Botschaft des Völkerstrafrechts zu den nationalen Rechtsordnungen Vor dem Hintergrund der Hart-Fuller-Debatte können ferner zwei weitere Arten von Verbindungen zwischen Recht und Moral identifiziert werden. Wie Green ausführt, regele das Recht notwendigerweise moralische Aspekte des Zusammenlebens und erhebe daher notwendigerweise moralische Ansprüche.431 Um den Umfang des Zusammenhangs zwischen Recht und Moral im Rahmen des Völkerstrafrechts zu veranschaulichen, müssen daher neben der Art und Weise, in der die Legalität in diesem Kontext verstanden wird, auch der Anspruch des Völkerstrafrechts gegenüber den staatlichen Rechtsordnungen und seine „Botschaft“ berücksichtigt werden. Diese zwei Punkte sind bei der Entwicklung des Völkerstrafrechts von besonderer Bedeutung gewesen und haben auch die Konzeption des NCSLPrinzips im Kontext der internationalen Straftribunale bestimmt. 428 In diesem Sinne warnt Lacey davor, dass die Legalität die politische Macht nicht nur beschränken, sondern auch legitimieren könne, Lacey, N. Y. U. L. Rev. 2008, 1059 (1084). 429 Vgl. Green, N. Y. U. L. Rev. 2008, 1035 (1052 ff.); zur Rechtsanwendung und zur Bedeutung der Richter bei der Verwirklichung der Gerechtigkeit als Zweck des Rechts siehe Goetze­ ler, ZStW 1951, 83 (86). 430 Green, N. Y. U. L. Rev. 2008, 1035 (1054). 431 Ebd., S. 1047 ff.

B. Die Idee der Legalität  

271

Die moralische Konnotation des Völkerstrafrechts kann anhand seines Anwendungsbereichs deutlich gesehen werden. Das Völkerstrafrecht ist eng mit den internationalen Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht verknüpft. Alle drei bilden die Säulen des von Teitel als law of humanity bezeichneten Rechts.432 Dies ergibt sich aus einer Wende im Rahmen der Konzeptualisierung des Völkerrechts, die sich als Auswirkung des Zweiten Weltkriegs vollzog und sich beispielsweise in den Nürnberger und Tokioter Prozessen widerspiegelte.433 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Völkerrecht nicht länger ausschließlich als ein Mechanismus zum Schutz der Staaten auf Grundlage des Prinzips der Souveränität verstanden, sondern auch als ein Mechanismus, der dem Schutz der Individuen auf Grundlage der Idee der Menschlichkeit dienen sollte.434 Das Völkerstrafrecht dient also der Verfolgung von Grausamkeiten, die in Kontexten massenhafter Gewalt stattfinden, in denen Individuen besonders verletztbar sind und ihre unveräußerlichen Rechte missachtet werden. Luban behauptet hierzu: Das Völkerstrafrecht „come into play only in times of cataclysm […] where ordinary criminal law is a product of continuity, pure ICL [International Criminal Law] is a product of discontinuity, of upheaval and political rupture“.435 Das Völkerstrafrecht erweist sich als ein Mechanismus zur Verwirklichung der völkerrechtlichen Regelungen bzgl. besonders relevanter Themen. In diesem Sinne kann behauptet werden, dass das Völkerstrafrecht kein selbstständiges Segment des Völkerrechts ist. Es bezieht sich auf Handlungen, die bereits durch andere Gebiete des Völkerrechts verboten werden, insbesondere durch die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht. Genau genommen überlappen sich die Anwendungsbereiche der internationalen Menschenrechte, des humanitären Völkerrechts und des Völkerstrafrechts in gewissem Maße.436 Es darf insofern nicht übersehen werden, dass sich die den internationalen Straftaten zugrunde liegenden Verbote aus diesen beiden Gebieten des Völkerrechts ergeben. In diesem Sinne wurde bereits am Ende des zweiten Kapitels auf die Interlegalität hingewiesen, die eigentlich ein flexibleres Konzept der Legalität voraussetzt. Im Kontext der Kriegsführung und der Behandlung der eigenen Bevölkerung sollen gerade die wichtigsten moralischen Grenzen der Ausübung politischer Macht mithilfe eines

432

Vgl. Teitel, S. 4; siehe auch oben Einleitung, Fn. 18. Laut Geras war der Nürnberger Prozess ein Versuch, Recht und Gerechtigkeit zusammenzubringen, Geras meint insofern: „This is a vision of legal utopia: utopia, not as some unattainable state of perfection, but as a guiding practical ideal, one requiring that international law […] so far from standing above or apart from the morality of the community it governs, should be shaped by it“, Geras, S. 113. 434 Ebd., S. 75 ff. 435 Luban, in: The Philosophy, S. 574–575; siehe insofern auch Sloane, Stan. J. Int’l L. 2007, 39 (41). 436 Vgl. Juratowitch, Brit. Y. B. Int’l L. 2005, 337 (353), Juratowitch präzisiert aber wie folgt: „[T]he range of conduct covered by international humanitarian law and international criminal law is substantially narrower than that covered by international human rights law“. 433

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

durch die Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht gebildeten Komplexes durchgesetzt werden.437 Die besondere moralische Bedeutung der für das Völkerstrafrecht relevanten Themen kann auch anhand der von May vorgeschlagenen Begründung der internationalen Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesehen werden. Ihm zufolge müssen zwei Voraussetzungen vorliegen, damit eine internationale Strafverfolgung in diesen Fällen legitim sein kann: das security principle und das international harm principle. May verbindet die moralische Rechtfertigung der Staatssouveränität mit der Notwendigkeit einer moralischen Rechtfertigung des Völkerstrafrechts. Auf diese Weise hebt er die besondere moralische Relevanz der internationalen Verbrechen hervor.438 Mays Ausgangspunkt sind die Annahmen, dass die Staatssouveränität eine moralische Grundlage habe und von daher prima facie respektiert werden müsse und dass die völkerrechtliche Strafverfolgung eine Einschränkung der Staatssouveränität darstelle.439 Die Souveränität beruhe auf der Entscheidung einer bestimmten Gemeinschaft, zusammenzuleben und sich politisch zu organisieren, um wesentliche Rechte ihrer Mitglieder, vor allem des Lebens und der körperlichen Integrität, zu schützen.440 Aus dieser Prämisse ergebe sich die Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Staat und dem nationalen Recht.441 Falls der Staat allerdings scheitere und nicht mal mehr ein Mindestmaß an Sicherheit für seine Bürger gewährleisten könne, weil er zu schwach sei oder selbst die Rechte seiner Bürger verletze, verliere er das Privileg der Souveränität.442 In diesen Fällen werde eine Intervention der internationalen Gemeinschaft durch das Völkerstrafrecht legitimiert, um den durch den Staat zu gewährenden Schutz zu bieten (security principle).443 In diesem Sinne können beispielsweise die Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch als die Perversion der Politik verstanden werden, so Luban, da sie die „natürliche“, menschliche Neigung zum Zusammenleben verleugnen.444 437 Zum Völkerstrafrecht als Schutzmechanismus der Menschlichkeit und Garant der internationalen Ordnung sowie hinsichtlich der Auswirkungen, die diese Konzeption des Völkerstrafrechts für das NCSL-Prinzip hat, siehe van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119 (141); zum Verhältnis zwischen Strafbarkeit und Moral anhand des Konzepts der Verbrechen mala in se im Kontext des Völkerstrafrechts siehe ebd., S. 155, laut van Schaack hat u. a. aufgrund dieser beiden Aspekte im Völkerstrafrecht kein strenges Verständnis des NCSL-Prinzips überwogen. 438 Vgl. May, Crimes Against Humanity, S.  3, May schlägt einen minimalistischen naturrechtlichen Ansatz zur Rechtfertigung der Strafbarkeit der internationalen Verbrechen vor. 439 Ebd., S. 8 ff. 440 Ebd., S. 14 ff. 441 Ebd., S. 63 ff.; siehe in diesem Sinne auch Welzels Aufsätze „Naturrecht und Rechtspositivismus“ (Welzel, in: Abhandlungen, S.  286–287) und „Macht und Recht“ (Welzel, in: ebd, S. 292, 295–296: „Protego ergo obligo; weil ich Dich schütze, darum kann ich dir befehlen“). 442 Vgl. May, Crimes Against Humanity, S. 68. 443 Ebd. 444 Luban meint dazu: „To criminalize acts of a government toward groups in its own jurisdiction, and thus to pierce the veil of sovereignty through international criminal law, is tan-

B. Die Idee der Legalität  

273

May weist ferner darauf hin, dass nicht alle Menschenrechtsverletzungen eine Einschränkung der Staatssouveränität begründen könnten.445 Die Verletzung müsse eine besondere Dimension annehmen und somit die Interessen der internationalen Gemeinschaft beeinträchtigen. Dies geschehe, wenn die Menschenrechtsverletzungen das Ergebnis gruppenorientierter Gewalt seien. Folglich müsse die Tat mehrere Menschen be­treffen und von einem Staat oder einer ähnlichen Organisation begangen werden, um auf internationaler Ebene strafbar zu sein.446 Deswegen liegt eine internationale Straftat nur dann vor, wenn die Opfer nicht wegen individueller Charakteristiken angegriffen werden, sondern wegen solcher Eigenschaften, die sie mit anderen Menschen teilen.447 Sie werden viktimisiert, weil sie einer bestimmten Gruppe angehören. Die internationalen Verbrechen stellen somit nicht nur eine individuelle Verletzung der Rechte der Opfer dar, sondern auch eine Nichtanerkennung der Eigenschaft, die sie zu einem Mitglied der jeweiligen Gruppe macht, wie z. B. eine bestimmte Religion, eine Nationalität oder eine Ethnie, und die die Gewalttat motiviert hat (international harm principle).448 In diesem Sinne ist auch behauptet worden, dass die internationalen Verbrechen, insbesondere der Völkermord, im Grunde genommen gewisse Werte verletzten, die für die Existenz und die weitere Entwicklung des Menschen als vernünftigem und politischem Wesen wesentlich seien, vor allem die menschliche, kulturelle, politische, religiöse und ethnische Vielfalt.449 Das Völkerstrafrecht regelt also zusammen mit den internationalen Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht moralische Aspekte des Zusammenlebens, die besonders wichtig sind, nämlich die Grenzen der politischen Macht und das Mindestmaß ihrer erforderlichen moralischen Legitimation auf nationaler Ebene. In Bezug auf diese Aspekte stellt das Völkerstrafrecht nicht nur rechttamount to recognizing that the cancerous, autopolemic character of crimes against humanity represents a perversion of politics, and thus a perversion of the political animal“, Luban, Yale J. Int’l L. 2004, 85 (117). 445 Vgl. May, Crimes Against Humanity, S. 71. 446 Ebd., S. 80 ff. 447 Ebd., S. 83. 448 In diesem Sinne behauptet May: „The Key component of this harm principle is that  a person be treated in a way that is individuality-denying“, ebd., 86; kritisch dazu Geras, S. 87, 93–94, 131 ff., laut Geras sind die beiden von May vorgeschlagenen Prinzipien widersprüchlich: „The problem arises becouse May’s second principle actually subverts part of what the first principle was supposed to defend“, S. 137. 449 Dies ist einer der Punkte, die Luban im Rahmen seiner Analyse der Beiträge Hannah Arendts zur Theorie des Völkerstrafrechts betont, siehe Luban, Int’l Crim. L. Rev. 2011, 621 (630 ff.); insofern bezieht sich Arendt auf das Völkermord als „an attack upon human diversity as such“, Arendt, Eichmann, S. 268–269. Trotzdem sei Arendt zufolge das „einzige“ Menschenrecht das „Recht, einer politisch organisierten Gemeinschaft zuzugehören“ und dieses sei das „einzige Recht, das von einer Gemeinschaft der Nationen, und nur von ihr, garantiert werden kann“, Arendt, Die Wandlung 1949, 754 (760 und 770); siehe auch Lemkin, S. 79: „Genocide is directed against the national group as an entity, and the actions involved are directed against individuals, not in their individual capacity, but as members of the national group“.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

liche, sondern auch moralische Ansprüche.450 Dies wird anhand einer Teilnehmerperspektive im Sinne von Alexy deutlich, d. h. aus der Perspektive derjenigen, die an den Diskussionen über den Inhalt und die Auslegung des Völkerstrafrechts teilnehmen, insbesondere aus der Sicht der internationalen Straftribunale.451 In diesem Sinne ist daran zu erinnern, was Fuller gesagt hatte: Das „Sein“ des Rechts könne ohne Betrachtung der Vorstellung über das „Sollen“ des Rechts derjenigen, die an seiner Entwicklung beteiligt seien, nicht verstanden werden. Das Völkerstrafrecht, wie das Recht im Allgemeinen, hat also den Anspruch, kategorische Gründe zum Handeln zu schaffen.452 Dies impliziert sowohl die Behandlung seiner Adressaten unter der Annahme, dass sie moralisch verpflichtet seien, ihm zu gehorchen, als auch den Anspruch, eine legitime Autorität zur Schaffung von Pflichten zu sein.453 Das Recht im Allgemeinen und das Völkerstrafrecht im Besonderen projizieren somit ein Selbstbild einer moralisch legitimen Autorität.454 Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass internationale Straftribunale wie der Nürnberger IMG und der IMTFO unter der Prämisse entschieden, dass das Völkerstrafrecht einen ethischen und rechtlichen Mindeststandard für die Legitimität der staatlichen Macht darstelle.455 Die Pflicht, die (staatliche) Machtausübung am Völkerrecht zu orientieren, erschien ihnen sowohl als moralische als auch als rechtliche Verpflichtung. Zugleich erhoben diese internationalen Straftribunale den Anspruch, diejenigen zu sein, die diese ethischen und rechtlichen Standards richtig auslegen. In diesem Sinne kann behauptet werden, dass sie eine sowohl für Individuen als auch für staatliche und ähnliche Organisationen bestimmte moralische und rechtliche Wahrheit ausdrücken wollten. Darin besteht gerade die Partikularität des Völkerstrafrechts. Luban erklärt diesen Punkt wie folgt: 450

Dies ist laut Green einer der notwendigen Relationsmöglichkeiten zwischen Recht und Moral: „Necessarily, law makes moral claims of its subject“, Green, N. Y. U. L.  Rev. 2008, 1035 (1048); auch Borgwardts Behauptung in Bezug auf die Nürnberger Prozesse, nach der „Nuremberg was an attempt to express moralistic ideas in a legalistic manner“, ist insofern zu erwähnen, Borgwardt, A New Deal, S. 238. 451 Alexy führt hierzu aus: „Die Teilnehmerperspektive nimmt ein, wer in einem Rechtssystem an einer Argumentation darüber teilnimmt, was in diesem Rechtssystem geboten, verboten und erlaubt ist […] Im Zentrum der Teilnehmerperspektive steht der Richter“, Alexy, Begriff, S. 47. 452 Siehe in diesem Sinne hinsichtlich des Rechts im Allgemeinen Green, N. Y. U. L.  Rev. 2008, 1035 (1049). 453 Ebd. 454 Ebd. 455 Von Bogdandy und Venzke haben eine „multifunktionale“ Betrachtungsweise der internationalen Gerichte vorgeschlagen; sie behaupten, dass die internationalen Gerichte u. a. neben der Funktion der „Generierung und Stabilisierung normativer Erwartungen“ auch eine Kontroll- und Legitimationsfunktion in Bezug auf die Machtausübung der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft erfüllten; dies geschehe insbesondere im Rahmen der Menschenrechtstribunale; es könne also behauptet werden, dass die von den internationalen Straftribunalen verwirklichte Aufgabe auch aus dieser Perspektive zu begreifen sei, vgl. von Bogdandy/Venzke, S. 13 ff., 16–29, 65 ff.

B. Die Idee der Legalität  

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„[T]he most promising justification for international tribunals is their role in norm projection: trials are expressive acts broadcasting the news that mass atrocities are, in fact, heinous crimes and not merely politics by other means […] ICL’s moral truth is the criminality of political violence against the innocent, even when your side hates the innocent as an enemy“.456

Dieser besondere Anspruch des Völkerstrafrechts auf Richtigkeit457 gegenüber den Staaten stellt die Grundlage dafür dar, um von den Individuen Gehorsam zu verlangen und die völkerrechtliche Geltung staatlicher Normen, wenn nötig, zu leugnen.458 In diesem Sinne wirken die den internationalen Menschenrechten, dem humanitären Völkerrecht und dem Völkerstrafrecht zugrunde liegenden Prinzipien als Konkretisierung der Radbruch’schen Formel.459 Die völkerrechtlichen Normen, die die internationalen Verbrechen verbieten und als strafbar erklären, sind diesem Ansatz zufolge das unverfügbare Mindestmaß für staatliches Recht. Dies geht über das von Hart akzeptierte Naturrecht mit Minimalgehalt hinaus.460 Aus dieser Tatsache ergeben sich allerdings weitere wichtige Konsequenzen für das Völkerstrafrecht, insbesondere im Hinblick auf das NCSL-Prinzip.

IV. Der internationale Menschenrechtsschutz als ideologische Grundlage des Völkerstrafrechts Der Anspruch des Völkerrechts, den ethisch-rechtlichen Mindeststandard für nationale Rechtsordnungen zu verkörpern, konkretisiert sich in der Idee des internationalen Menschenrechtsschutzes. Diese kann als ideologisches Fundament des Völkerstrafrechts bezeichnet werden. Mit „ideologisch“ ist in diesem Kontext die bewusste oder unbewusste politische Entscheidung zur Priorisierung bestimmter Interessen und Werte als praktische Leitideen gemeint.461 Das Völkerstrafrecht, wie es sich tatsächlich entwickelt hat, erhält somit seinen normativen Sinn aus drei wesentlichen Elementen, die vom internationalen Menschenrechtsschutz er-

456 Luban, in: The Philosophy, S.  576–577; siehe kritisch dazu Duff, in: The Philosophy, S. 589 ff., laut Duff müssen Strafprozesse nicht als Ausdruck einer Norm (one-way activity), sondern als Kommunikation (two-way activity) betrachtet werden. 457 Der Ausdruck „Anspruch auf Richtigkeit“ wurde von Alexy vorgeschlagen, um den Zusammenhang zwischen Recht und Moral zu veranschaulichen, siehe Alexy, Begriff, S. 64 ff., 129 ff. 458 Dies ist auch als Ergebnis der Idee, der zufolge die Achtung der Menschenrechte eine Bedingung der Legitimität der staatlichen Machtausübung bildet (siehe Ambos, OJLS 2013, 1 (19); Buchanan, S. 73, 81, 90, 259, 261 ff.), zu verstehen. 459 Vgl. Vest, 7, S. 171, 186; siehe insofern hinsichtlich der internationalen Menschenrechte die folgenden Entscheidungen des BGH in Bezug auf die Mauerschützenfälle: BGH, Urteil vom 03.11.1992, in: BGHSt 39, 1 (16–17) und BGH, Urteil vom 26.07.1994, in: BGHSt 40, 241 (244). 460 Siehe oben, drittes Kapitel, B. III. 2. 461 Vgl. Shklar, S. 4.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

fasst werden. Erstens ist die Anerkennung „natürlicher“ und somit vorstaatlicher Rechte des Individuums zu erwähnen, die sich, zweitens, aus einer bestimmten Qualität des Menschen ergeben würden, d. h. aus der Menschenwürde. Das dritte Element ist die Annahme, dass tatsächlich eine internationale Gemeinschaft, die die Verantwortung zur Durchsetzung dieser Rechte notfalls mit den Mitteln der Strafgewalt trage,462 als politisches Substrat des Völkerrechts bestehe. Genau in diesem Sinne schlägt beispielsweise Ambos als ethische und normative Grundlage des Völkerstrafrechts sowohl die Menschenwürde als subjektives Element als auch die Idee einer internationalen, auf bestimmten Werten basierenden Gemeinschaft als kollektives Element vor.463 Es ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass die Konzepte der Menschenrechte, der Menschenwürde und der internationalen Gemeinschaft nicht nur aus einer (heutigen) theoretischen Perspektive das Völkerstrafrecht zu begründen vermögen. Auch bei einer historischen Betrachtung kann behauptet werden, dass diese drei Begriffe seit der Geburt des Völkerstrafrechts in seinem Kern zu finden sind. Daher soll an dieser Stelle kurz erörtert werden, wie sie in diesen Jahren definiert und begründet wurden, um die theore­tischen Wurzeln des Völkerstrafrechts sachgerecht ermitteln zu können. 1. Lauterpacht, das Völkerrecht als geeignete Bühne zum Schutz inhärenter Rechte des Individuums und die Entstehung des Völkerstrafrechts Das Völkerstrafrecht und die internationalen Menschenrechte stellen zwei Ergebnisse derselben Entwicklung im Kontext des Völkerrechts dar. Diese Bereiche haben sich zusammen bzw. parallel entwickelt und gehen von derselben Prämisse aus, d. h. von der Notwendigkeit, das Individuum gegenüber der staatlichen Macht zu schützen.464 Sie haben sich ferner in Bezug auf wichtige Aspekte gegenseitig beeinflusst.465 Das Völkerstrafrecht widmet sich der Verfolgung schwerer, systematischer Menschenrechtsverletzungen und versucht damit, einen Präventiveffekt durch die „Bewußtseinsbildung vor allem bei wirklichen oder potentiellen Machthabern, die, wie das Militär, besondere Gelegenheit haben, derartige

462 Wie Ambos vertritt, könne dies sogar durch ein dreistufiges System erfolgen, das aus dem jeweiligen Tatortstaat, einem subsidiären internationalen Strafgerichtshof und dritten Staaten, die universelle Gerichtsbarkeit ausüben würden, bestehen könne, siehe Ambos, OJLS 2013, 1 (6) und Ambos, Internationales Strafrecht, § 5 Rn. 2 – Fußnote 2. 463 In seinem Aufsatz „Punishment without a Sovereign?“ schlägt Ambos insofern die folgende Schlussfolgerung vor: „A supranational ius puniendi can be inferred from a combination of the incipient stages of supranationality of a valued-based world order and the concept of a world society composed of world citizens whose law – the ‚world citizen law‘ (Weltbürgerrecht) – is derived from universal, indivisible and interculturally recognized human rights predicated upon a Kantian concept of human dignity“, Ambos, OJLS 2013, 1 (22). 464 Vgl. Posner, S. 52 ff. 465 Siehe oben Einleitung, Fn. 18.

B. Die Idee der Legalität  

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Verbrechen zu begehen“, zu bewirken.466 In diesem Sinne kann das Völkerstrafrecht als „subsidiärer Schutz von Menschenrechten“ verstanden werden.467 Der enge Zusammenhang zwischen Völkerstrafrecht und Menschenrechten kann ferner insbesondere anhand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesehen werden. Denn diese werden seit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher als „protection of a minimum standard of human rights“ definiert.468 Das Völkerstrafrecht und die internationalen Menschenrechte teilen zudem dieselben ideologischen bzw. theoretischen Wurzeln. Die Unterzeichnung der Atlantik-Charta, die laut Borgwardt zusammen mit der Charta der VN das „ideological context“ der LC bildete,469 kann zugleich als das „inaugural moment for what we now know as the modern doctrine of human rights“470 bezeichnet werden, insbesondere im Licht ihres sechsten Grundsatzes und der in ihm enthaltenen Aussage, „daß alle Menschen in allen Ländern frei von Furcht und Mangel leben können“471 sollten. Obwohl umstritten ist, inwieweit die Atlantik-Charta vom Gedanke der Menschenrechte geprägt wurde,472 sugge 466

Triffterer, Politische Studien 1995, 32 (41); ähnlich Vest, Gerechtigkeit, S.  181 ff.; zur „expressive capacity“ des Völkerstrafrechts als die geeignetste Erklärung der Strafe auf internationaler Ebene und als Basis zum Verständnis des Präventiveffekts im Völkerstrafrecht siehe Sloane, Stan. J. Int’l L. 2007, 39 (44, 70, 75); hinsichtlich der Wirksamkeit der internationalen Straftribunale behauptet er: „Their efficacy depends more on their ability to contribute to the growth and development of national laws, ethical norms, and institutions, as well as to encourage and, at times, compel national criminal justice systems genuinely to investigate and prosecute“, ebd., S. 90. 467 Triffterer, Politische Studien 1995, 32 (40); siehe auch Sloane, Stan. J. Int’l L. 2007, 39 (47): „international criminal prosecutions should be-and should be expected to be-only one component of a broader strategy toward international human rights atrocities“. 468 Schwelb, Brit. Y. B. Int’l L. 1946, 178 (225); siehe insofern auch Goldenberg, W. Ontario L. Rev. 1971, 1: „crime against humanity as the symmetrical correlative of all the major human rights efforts in international law“, S. 14; Luban, Yale J. Int’l L. 2004, 85 (132): „human rights projects such as the eradication of crimes against humanity“; von Sternberg, Brook. J. Int’l L. 1996–1997, 111 (142). 469 Vgl. Borgwardt, A New Deal, S. 236. 470 Ebd., S. 4. 471 Eine deutsche Übersetzung der Atlantik-Charta kann in Zieger, S. 93–95, gefunden werden; die englische Originalfassung lautet: „Sixth, after the final destruction of the Nazi tyranny, they [The President of the United States of America and the Prime Minister, Mr. Churchill, representing His Majesty’s Government in the United Kingdom] hope to see established a peace which will afford to all nations the means of dwelling in safety within their own boundaries, and which will afford assurance that all the men in all lands may live out their lives in freedom from fear and want“, verfügbar unter: http://avalon.law.yale.edu/wwii/atlantic.asp (zuletzt aufgerufen am 21.10.2015). 472 Ein erster, von Churchill vorgeschlagener Entwurf der Atlantik-Charta beinhaltete als dritten Punkt die folgende Aussage: „[S]ie achten das Recht aller Völker, die Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollen. Es ist ihnen einzig daran gelegen, für das Recht der Gedanken- und Redefreiheit einzutreten, ohne die jede darartige Wahl illusorisch wäre“; laut Zieger wurde der zweite Teil, in dem die Gedanken- und Redefreiheit erwähnt worden waren, von Roosevelt abgelehnt, „denn das könnte nur als gegen die Aschenmächte gerichtet verstanden werden“, Zieger, Die Atlantik-Charter, S. 34; daher könnte die Atlantik-Charta kaum „mit Fug

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

riert der Hinweis auf „alle Menschen in allen Ländern“, dass die Menschenrechte durch das Völkerrecht, d. h. jenseits nationaler Grenzen, geregelt werden können und sollen.473 Auch die am 01.01.1942 von 26 Staaten unter der Bezeichnung der „Vereinten Nationen“ unterzeichnete Erklärung, mit der die Grundsätze der Atlantik-Charta anerkannt wurden,474 ist zu nennen. Aber in diesem Sinne soll vor allem die Präambel der am 26.06.1945 verabschiedeten Charta der VN hervorgehoben werden, in der es u. a. heißt: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen fest entschlossen […] unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen“.475

Die Idee, dass das Völkerrecht eine geeignete Bühne zum Menschenrechtsschutz biete, wurde damals vor allem durch naturrechtliche Auffassungen begründet, ähnlich wie es auch mit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher geschah. Die folgende Aussage der UNWCC von 1948 ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: „International law is the product of natural law, that is, has grown and developed from the workings of the moral impulses and needs of mankind by a sort of instinctive growth“.476 Hersch Lauterpachts Werk war insofern besonders bedeutsam, nicht nur weil er Robert Jackson die Aufnahme der Kategorie von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in die LC empfahl477 und zu den und Recht“ zitiert werden, „wenn die Entwicklungslinie des Menschenrechtsgedankens auf internationaler Ebene aufgezeigt werden soll“, ebd., S. 58. Trotzdem vertrat Roosevelt später die Ansicht, wie von Zieger zitiert, dass „sowohl die Glaubensfreiheit als auch die Freiheit der Information […] selbstverständlich von der Charta gedeckt“ seien, ebd., S. 59. 473 Vgl. Borgwardt, A New Deal, S. 4–6: „The Charter call’s for ‚all the men in all the lands‘ […] crystallized an ongoing transformation in the ideas and institutions underlying the modern human rights regime“ S. 5. 474 In diesem Dokument behaupteten die unterzeichnenden Staaten, dass sie davon überzeugt gewesen seien, dass ein vollständiger Sieg über ihre Feinde notwendig gewesen sei, um Leben, Freiheit, Unabhängigkeit und religiöse Freiheit zu verteidigen und die Menschenrechte sowie die Gerechtigkeit sowohl in ihren eigenen als auch in anderen Ländern zu erhalten. Bis zum 01.03.1945 hatten sich 21 weitere Staaten dieser Erklärung angeschlossen, Zieger, S. 41–45, 96–97. 475 Auch Art. 1 Abs. 3 der Charta der VN ist insofern relevant. Hier wird eine internationale Zusammenarbeit zur Förderung der Grundfreiheiten aller Menschen ohne Unterschied ihrer Rasse, ihres Geschlechts, ihrer Sprache oder ihrer Religion vorgesehen. Ebenso relevant ist Art. 55 (c) bzgl. der internationalen Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Laut Lauterpacht ergibt sich aus diesen Vorschriften für die Staaten die rechtliche Verpflichtung, die Menschenrechte zu achten, vgl. Lauterpacht, International Law, S.  145 ff.; Grewe, Epochen, S. 757, war zur Zeit des Kalten Kriegs diesbezüglich skeptisch: „In mehr als drei Jahrzehnten hat sich jedoch gezeigt, daß diese allgemein akzeptierten Formeln für die verschiedenen Mitgliedsstaaten ganz verschiedene Bedeutungsinhalte haben“. 476 UNWCC, History, S. 8. 477 Vgl. Robinson, Jacob, Isr. L. Rev. 1972, 1 (3); siehe auch Geras, S. 12 und Sands, in: An International, S. ix; ausführlich zu Lauterpachts Beitrag zur Entwicklung des Völkerstrafrechts siehe Koskenniemi, J. Int’l Crim. Just. 2004, 810 (insbesondere 811 und 814).

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Reden des britischen Hauptanklägers vor dem Nürnberger IMG beitrug,478 sondern auch weil in seinem Werk die Grundpfeiler des internationalen Menschenrechtsschutzes479 enthalten sind und dort mit der Idee individueller strafrechtlicher Verantwortung auf internationaler Ebene verknüpft werden.   Lauterpacht vertrat seit Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre die Auffassung, dass das Völkerrecht genauso wie alle anderen Rechtsordnungen behandelt und durch (internationale) Tribunale durchgesetzt werden könnte.480 Zudem meinte er, dass das Individuum Völkerrechtssubjekt sein könne, und kritisierte den Begriff der Staatssouveränität, wie er in den positivistischen Ansätzen zum Völkerrecht gedeutet wurde.481 Laut Lauterpacht war dieser Begriff „metaphysical“ und mit einem „arbitrary dogma“ verbunden.482 Darüber hinaus lieferte er 1944 eine ausführliche Begründung über das Recht der Alliierten, die im Kontext des Zweiten Weltkriegs begangenen Kriegsverbrechen zu bestrafen.483 Er artikulierte die naturrechtliche Grundlage des internationalen Menschenrechtsschutzes aber erst in seinen Monografien „An International Bill of the Rights of Man“ und „International Law and Human Rights“.484 Lauterpacht geht davon aus, dass der Schutz der inhärenten Rechte des Individuums nicht der souveränen Macht des Staates anvertraut werden dürfe, falls die 478

Ebd., S. 821 ff.; siehe für Lauterpachts Beitrag auch Huhle, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 357 ff. 479 Vgl. Peters, Jenseits, S. 28 480 Vgl. Lauterpacht, The Function (Erstauflage 1933), S. 66–67 (zum Problem der Lücken in der Rechtsordnung), S. 70 ff. (zu Lücken im Völkerrecht), S. 105 ff. (zu Lücken im Völkerrecht und zur Rolle der internationalen Tribunale), S. 245 ff., 344–347 (zur Anpassung des Völkerrechts – u. a. durch gerichtliche Entscheidungen – an neue Umstände); siehe dazu auch Koskenniemi, J. Int’l Crim. Just. 2004, 810 (812, 816). 481 Vgl. Lauterpacht, Private Law (Erstauflage 1927), S. 51 ff. (zum Dogma der Souveränität), 71 ff. (zu den positivistischen Ansätzen zum Völkerrecht). 482 Ebd., S. 74–80; Koskenniemi wies auf den Widerspruch hin, den die durch die Annahme einer Analogie zwischen Völkerrecht und Zivilrecht ausgedrückte Kritik an der Staatssouveränität impliziere, wenn der Staat auf internationaler Ebene mit dem Individuum gleichgesetzt werde, Koskenniemi, J. Int’l Crim. Just. 2004, 810 (815). 483 Lauterpacht führt hierzu aus: „The maintenance of the authority of the law of nations is inconsistent with the view that it is a system of law whose means of enforcement are confined to pressure of public opinion or pecuniary compensation, and that as it is a law between, but not above sovereign States […] In the existing state of international law it is probably unavoidable that the right of punishing war criminals should be unilaterally assumed by the victor“, Lauterpacht, Brit. Y. B. Int’l L. 1944, 58 (58–59). 484 Gemäß Koskenniemi sind diese beiden Bücher „the the first extended academic discussions of international law and human rights“, Koskenniemi, J.  Int’l  Crim.  Just. 2004, 810 (812–813); „An International Bill of the Rights of Man“ wurde auf Antrag der American Jewish Committee (1942) geschrieben und 1945 veröffentlicht, vgl. Sands, in: An International, S. x., Sands meint insofern: „It provided inspiration for the adoption for the Universal Declaration of Human Rights, adopted four years after Lauterpacht completed his book, and the legally binding European Convention of Human Rights that followed two years later“, ebd., S. vii; das Buch „International Law and Human Rights“ erschien 1950.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

ser effektiv sein soll.485 Es sei deshalb notwendig, eine höhere Rechtsquelle zu finden, deren Einhalten nicht von dem Willen des Staates abhänge.486 Nur im Kontext eines breiter aufgestellten Systems, in dem der Staat weder absolute Macht zur Rechtserzeugung habe, noch einen Selbstzweck darstelle, könne der unantastbare Charakter der inhärenten Menschenrechte einen wirklichen rechtlichen Ausdruck erlangen.487 Erst dann könne sich das Individuum als „ultimate subject of all law“ behaupten.488 Dieses System solle gerade aus einer Kombination aus Naturrecht, welches als innere Grenze jedes vernünftigen Rechts verstanden werden müsse, und Völkerrecht geschaffen werden.489 Das Völkerrecht erscheine somit wegen seines Anspruchs auf Universalität und seines potenziellen Vorrangs gegenüber dem nationalen Recht als das geeignete Rechtsgebiet, um die Menschenrechte vor der Tyrannei des Absolutismus und vor der Willkür der Mehrheit zu schützen.490 In diesem Kontext wird darüber hinaus angenommen, dass die völkerrechtliche Anerkennung der Menschenrechte erforderlich sei, damit das Völkerrecht den internationalen Frieden gewährleisten könne. Auch die Achtung der Menschenrechte auf nationaler Ebene ist laut Lauterpacht eine Voraussetzung des internationalen Friedens.491 Für ihn erfüllt keine Rechtsordnung, weder das nationale Recht noch das Völkerrecht, seine eigentliche Aufgabe, wenn sie die inhärenten Rechte des Individuums nicht schützt.492 Diese Auffassung wurde Lauterpacht zufolge gerade kurz nach dem Zweiten Weltkrieg formell im Völkerrecht anerkannt. Die Charta der VN, die LC, die am 11.12.1946 von der Generalversammlung der VN verabschiedete Resolution 96 (I) über Völkermord und das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung dieses Verbrechens implizierten die Anerkennung des Individuums als Völkerrechtssubjekt, d. h. des Individuums als Träger bestimmter, sich direkt aus dem Völkerrecht ergebender Rechte und Verpflichtungen.493 Insofern müssten auch die 1946 im Rahmen der ersten Sitzung der Generalversammlung der VN angenommenen Resolutionen 3 (I) über die Auslieferung und Bestrafung von Kriegsverbrechern und 95 (I) zur Bestätigung der in der LC anerkannten Völkerrechtsprinzipien erwähnt werden.494 Es geht folglich um die gleichzeitige Anerkennung der Menschenrechte und der internationalen Verbrechen, insbesondere der Verbrechen

485

Vgl. Lauterpacht, An International, S. 27. Ebd. 487 Ebd., S. 28–29. 488 Ebd. 489 Ebd., S. 27–28. 490 Ebd., S. 5. 491 Ebd., S. 6–7. 492 Ebd. 493 Vgl. Lauterpacht, International Law, S. 4, 44. 494 Die während der ersten Sitzung der Generalversammlung der VN angenommenen Resolutionen können unter folgendem Link gefunden werden: http://www.un.org/documents/ga/res/1/ ares1.htm (zuletzt aufgerufen am 27.10.2015). 486

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gegen die Menschlichkeit, als zwei notwendig miteinander verbundene Korollarien derselben Entwicklung innerhalb des Völkerrechts.495 Gemäß Lauterpacht bildet dies das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen drei Ideen: der dem Menschen inhärenten Rechte, des Naturrechts und des Völkerrechts.496 Diese drei Elemente hätten sich im Laufe der Geschichte gegenseitig beeinflusst. Keines von ihnen könne ohne Bezugnahme auf die Entwicklung der anderen beiden richtig verstanden werden.497 Die Verbindung zwischen inhärenten Rechten des Menschen, Naturrecht und Völkerrecht sei in der Vorstellung über die Freiheit des Individuums als vernünftigem Wesen tief verankert. Nach Lauterpacht ist der Mensch immer der Ausgangspunkt und das „irreducible element“ der naturrechtlichen Theorien gewesen.498 Außerdem könnten nur das Völkerrecht und das Naturrecht, indem sie beide die Staatssouveränität beschränkten, die Voraussetzungen der „Individuumssouveränität“ garantieren. Genau genommen spricht Lauterpacht hier von der „indestructible sovereignty of man“.499 Unter „sovereignity of man“ versteht Lauterpacht „the natural law of humanity to develop its capacities to all attainable perfection […] through freedom“.500 Dies sei zudem eine moralische Verpflichtung.501 Insofern betont Lauterpacht, dass die individuelle Freiheit kein Mittel sei, sondern Selbstzweck.502 Somit sei auch der Staat verpflichtet, die individuelle Freiheit zu gewährleisten, während das Völkerrecht seinerseits und als Ergebnis eine doppelte Aufgabe zu bewältigen habe: „making man’s freedom secure from the State and […] rendering the State secure from external danger“.503

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Vgl. Lauterpacht, International Law, S. 35 ff.: „In terms of law, with the conception of crimes against humanity, there must correspond the notion of fundamental human rights recognised by international law and, as a further result, of an international status of the individual […]“, ebd., S. 37. 496 Für Lauterpacht war der Verweis auf das Naturrecht ein Mittel, um die Idee zu vermitteln, dass das Individuum an einer höheren Stelle stehe als der Wille des Staates, und zu zeigen, dass diese Idee in der politischen Tradition des Westens bereits seit langer Zeit vorhanden gewesen sei. Aus diesem Grund behauptet Sands, dass Lauterpacht mit Hinblick auf die Rolle des Naturrechts „ambiguous“ sei, Sands, in: An International, S. xv. Trotzdem darf die Bedeutung naturrechtlicher Auffassungen in Lauterpachts Vorstellung über das Völkerrecht nicht unterschätzt werden. Ein deutliches Beispiel der naturrechtlichen Grundlage seines Ansatzes kann in seinem Beitrag über die „Grotian Tradition in International Law“ gefunden werden, siehe Lauterpacht, Brit. Y. B. Int’l L. 1946, 1.  497 Vgl. Lauterpacht, An International, S. 41 ff.; Lauterpacht, International Law, S. 111 ff., 122–123. 498 Vgl. Lauterpacht, International Law, S. 123. 499 Ebd. 500 Ebd. 501 Ebd. 502 Ebd. 503 Ebd.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

2. Radbruch und die Achtung der Menschenwürde als gemeinsame moralische Grundlage der Menschenrechte und des Völkerstrafrechts Der Begriff der Menschenwürde ist im Laufe der Geschichte des (westlichen) politischen und ethischen Denkens auf unterschiedliche Weise definiert worden.504 Die Idee, der zufolge der Mensch einen inneren Wert habe, gewann jedoch erst im 20. Jahrhundert an rechtlicher Relevanz, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg.505 In den nach 1945 unterzeichneten völkerrechtlichen Verträgen über Menschenrechte wurde gerade auf die Menschenwürde hingewiesen.506 Ein wichtiges Beispiel dafür ist die AEM, in der die Menschenwürde an mehreren Stellen erwähnt wird.507 Gemäß der Präambel muss die „angeborene Würde“ des Menschen als Voraussetzung der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt anerkannt werden. Der AEM zufolge hängt die Existenz der Menschenwürde nicht von ihrer Anerkennung ab.508 Die Würde des Menschen anzuerkennen, sei vielmehr eine Notwendigkeit und eine Pflicht.509 Dies stelle ferner einen Akt des Glaubens dar, wie der fünfte Absatz derselben Präambel und die Präambel der Charta der VN es ausdrücken.510 Der in diesen internationalen Instrumenten erwähnte „Glaube“ an die Menschenwürde äußert darüber hinaus die Annahme einer gewissen Einheit aller Menschen, die sich in dem Konzept der „Menschheit“ bzw. „Menschlichkeit“ widerspiegelt und die sich aus der Tatsache ergibt, dass alle Menschen mit Vernunft und Gewissen begabt seien.511 Es muss jedoch festgehalten werden, dass weder die Charta der VN noch die AEM die „Menschenwürde“ explizit definieren.512 Nichtsdestoweniger diente dieser Begriff in diesem Kontext zur Begründung der Existenz der Menschenrechte 504 Siehe dazu McCrudden, EJIL 2008, 655 (656–663); verschiedene philosophische Texte über die Würde des Menschen können in der von Franz Josef Wetz 2011 herausgegebenen Sammlung „Texte zur Menschenwürde“ gefunden werden; siehe auch von der Pfordten, Menschenwürde (2016), S. 11–53. 505 Vgl. Cogan, Harv. Int’l L. J. 2011, 321 (334); McCrudden, EJIL 2008, 655 (664); Dicke, in: The Concept, S. 112. 506 Siehe z. B. die Präambel und Art.  10 des IPBPR sowie die Präambel und Art.  13 des IPWSKR. 507 Die Würde des Menschen wird in der AEM fünfmal erwähnt: erster Absatz der Präambel („Anerkennung der angeborenen Würde“), fünfter Absatz der Präambel („Glauben […] an die Würde“), Art. 1 („gleich an Würde“), Art. 22 („für seine Würde und die freie Entwicklung“) und Art. 23 („eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz“); siehe dazu von der Pfordten, Menschenwürde (2016), S. 43–45; zur AEM als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus siehe Morsink, Hum. Rts. Q. 1993, 357 (insbesondere mit Bezugnahme auf die Würde des Menschen auf 358, 360, 362, 363, 398). 508 Vgl. Dicke, in: The Concept, S. 114. 509 Ebd. 510 Ebd., S. 115. 511 Ebd., S. 117. 512 Ebd., S. 118.

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und zur Rechtfertigung des Menschenrechtsschutzes.513 Die Menschenwürde stellt hier also einen Kompromiss dar, dass eine „ethical unity of mankind“ trotz aller kulturellen, religiösen und politischen Unterschiede bestehe.514 Der Begriff der „Menschenwürde“ bezeichnet somit die ethische Basis der moralischen und rechtlichen Pflicht, die Menschenrechte zu schützen und zu achten. Ambos meint insofern, dass der Begriff der Menschenwürde „serves as an interface between moral and positive law, preparing the ground for a transition from moral to (subjective) rights“.515 Der Begriff der „Menschenwürde“ kann in diesem Zusammenhang vor dem Hintergrund der kantischen Ethik interpretiert werden. Denn es kann immerhin behauptet werden, dass der in Art. 1 der AEM erfolgende Verweis auf „Vernunft und Gewissen“ der Idee der (ethischen) Autonomie im kantischen Sinne folgt.516 Der Einfluss der kantischen Ethik ist auch in Lauterpachts Auffassung sichtbar. Denn die Behauptung, dass die individuelle Freiheit kein Mittel, sondern Selbstzweck sei, erinnert stark an die zweite Formel des kategorischen Imperativs.517 Insofern kann die von Lauterpacht vorgeschlagene Begründung des internationalen Menschenrechtsschutzes, wenngleich auch nur indirekt, auch auf den Gedanken der Menschenwürde im kantischen Sinne zurückgeführt werden.518 513 Ebd; siehe auch McCrudden, EJIL 2008, 655 (677); siehe skeptisch zur Annahme, dass die Menschenwürde die Grundlage der Menschenrechte darstellt, den Hartogh, in: The Cambridge Handbook, S. 200 ff. („[h]uman dignity is not the ground of human rights. And even as a mere characterization of the ground of human rights it is incomplete“, ebd., S. 206). 514 Vgl. Dicke, in: The Concept, S. 120; siehe auch McCrudden, EJIL 2008, 655 (679 ff.), dieser schlägt drei Elemente als Mindestkern des Menschenwürdebegriffs vor: „every human being possesses an intrinsic worth“, „this intrinsic worth should be recognized and respected by others“ und „recognizing the intrinsic worth of the individual requires that the state should be seen to exist for the sake of the individual human being, and not vice versa“. 515 Vgl. Ambos, OJLS 2013, 1 (14). 516 Vgl. Dicke, in: The Concept, S. 117. 517 Die zweiten Formel des kategorischen Imperativs lautet: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“, Kant, Grundlegung, S. 54–55 (AA IV, S. 429). 518 Wie von der Pfordten erklärt, bezieht sich Kant auf den Begriff der „Würde“ in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ im Zusammenhang mit der dritten Formel des kategorischen Imperativs, nicht im Kontext der zweiten Formel, vgl. von der Pfordten, Menschenwürde (2006), S. 11–13; von der Pfordten, Menschenwürde (2016), S. 32–36. Die dritte Formel lautet: „Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre. Das formale Prinzip dieser Maximen ist: handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetze (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte“, Kant, Grundlegung, S. 66 (AA IV, S. 438). Gerade in diesem Kontext wird die „Würde“ erwähnt: „Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“, ebd., S. 61(AA IV, S. 434). Die „Würde“ erscheint als „Würde des Menschen“ im Zusammenhang mit der zweiten Formel des kategorischen Imperativs im zweiten Teil der „Metaphysik der Sitten“, d. h. in den „Meta­ physischen Anfangsgründen der Tugendlehre“: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen […] bloß als Mittel sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit)“, Kant, Die Metaphysik, S. 211 (AA VI, S. 462).

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Die Verbindung zwischen den Menschenrechten und dem auf der kantischen Ethik basierenden Begriff der Menschenwürde findet sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sogar noch deutlicher in Radbruchs Buch „Vorschule der Rechtsphilosophie“.519 Hier kann auch eine Wechselwirkung zwischen Menschenwürde, Menschenrechten und Völkerstrafrecht gesehen werden, insbesondere mit Blick auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch wenn sich Radbruch vor dem Krieg im Zusammenhang mit dem Naturrecht auf „die Menschenrechte“ bezog,520 legte er erst nach dem Krieg in seiner „Vorschule“ die moralischen Grundlagen der Menschenrechte explizit dar. Im Kapitel über „die Idee des Rechts“, in dem die „Zweckmäßigkeit“ des Rechts als „gesollte Zweck-Idee“ bezeichnet wird,521 behauptet Radbruch, dass die Gewährleistung der „äußeren Freiheit“ des Menschen das Ziel der Menschenrechte sei. Darüber hinaus stellt er fest, dass die „äußere Freiheit“ die Bedingung der „inneren Freiheit“ darstelle. Darin liegt nach Radbruchs Auffassung gerade die moralische Grundlage der Menschenrechte begründet. Das Recht ermögliche bzw. solle gerade durch den Menschenrechtsschutz die ethische Pflichterfüllung ermöglichen: „Das Recht kann ethische Pflichterfüllung nicht erzwingen, wohl aber ermöglichen: das Recht ist die Möglichkeit sittlicher Pflichterfüllung oder mit anderen Worten, dasjenige Maß äußerer Freiheit, ohne das die innere Freiheit der ethischen Entscheidung nicht existieren kann. Jene äußere Freiheit zu garantieren, ist Wesen und Kern der Menschenrechte“.522

Radbruch verbindet also in der Idee der Menschenrechten zwei Begriffe: ein im Prinzip nur moralischer Begriff, d. h. die Menschenwürde verstanden als innere Freiheit bzw. Freiheit des Willens oder Autonomie,523 mit dem Begriff, der Kant

519 Die Erstauflage der „Vorschule der Rechtsphilosophie“ wurde 1947 veröffentlicht. Eine zweite Aufl. erschien 1959. 520 Radbruch bezog sich vor dem Krieg insbesondere in seinem Aufsatz „Der Relativismus in der Rechtsphilosophie“ auf die Menschenrechte, siehe Radbruch, in: Gesamtausgabe, Band III, S. 17 ff.; Radbruch schließt diesen Text mit folgender Aussage ab: „Wir haben aus dem Relativismus selbst absolute Folgerungen abgeleitet, nämlich die überlieferten Forderungen des klassischen Naturrechts: […] Menschenrechte, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Völkersouveränität“, ebd, S. 22. 521 Laut Radbruch ist unter dem „Zweck des Rechts“ keine empirische Zwecksetzung zu verstehen, sondern eine „gesollte Zweck-Idee“; nach Radbruch muss also die Zweckidee des Rechts aus der Ethik herauskristallisiert werden. Deswegen nimmt er auf Kant Bezug, siehe Radbruch, Vorschule, S. 27. 522 Ebd., S. 29. 523 Die „Moralität“ ist Kant zufolge „das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist, zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben“, Kant, Grundlegung, S. 67 (AA IV, S. 439). Die Selbstgesetzgebung, d. h. die Autonomie des Willens, bildet den zentralen Ausgangspunkt „der Normativität der Kantschen Ethik“. In einzelnen Konfliktsituationen führt sie zur Verpflichtung, „die Selbstzweckhaftigkeit des Anderen oder seiner selbst als Teil der Menschheit zu achten“, von der Pfordten, Menschenwürde (2006), S. 20–21. Zur Menschenwürde verstanden als „innere Freiheit“ siehe von der Pfordten, Menschenwürde (2016), 54 ff., von der Pfordten kritisiert die Gleichsetzung der Selbstbestimmung mit der Freiheit, weil die normative Dimension der Menschenwürde (verstanden als Selbstbestimmung)

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zufolge die Scheidelinie zwischen Recht und Moral eingrenzt, d. h. die äußere Freiheit bzw. die Handlungsfreiheit.524 Auf diese Weise erweitert er die Reichweite der Menschenwürde, wie sie im Kontext der dritten Formel des kategorischen Imperativs erscheint (d. h. im Sinne ethischer Selbstgesetzgebung) über den Bereich hinaus, der ihr nach der kantischen Ethik ursprünglich zukommt, d. h. über das Gewissen des Individuums hinaus (ethische Pflichten als Pflichten gegen sich selbst).525 Somit weist Radbruch der Menschenwürde bestimmte, für das Recht relevante Auswirkungen zu. Es ist in diesem Rahmen zu betonen, dass Radbruch bei seinen Erörterungen über Recht und Moral in der „Vorschule“ unter Bezugnahme auf seine eigenen, hier bereits erwähnten Erwägungen bzgl. des Zwecks des Rechts behauptet: „Die Geltung des Rechts ist auf die Moral gegründet, weil der Zweck des Rechts auf ein moralisches Ziel gerichtet ist“.526 Dieses Ziel sei gerade die Autonomie des Menschen, die ohne die Gewährleistung der Menschenrechte nicht bestehen könne. Die Menschenwürde als Ergebnis der inneren Freiheit bzw. der Freiheit des Willens oder Autonomie des Menschen bilde also die moralische Grundlage der Menschenrechte. Aus diesem Grund stelle sie ein konstitutives (moralisch-rechtliches) Element der Geltung des Rechts dar.527 Deshalb wiederholt Radbruch in der „Vorschule“ den Gedanken der sog. Radbruch’schen Formel mit Blick auf den Menschenrechtsschutz: „Die völlige Leugnung der Men-

ausgeblendet werde, „wenn man die Menschenwürde als Willensfreiheit oder innere Freiheit charakterisier“, ebd. S. 55. Von der Pfordten zufolge verweise der Begriff der Freiheit auf ein Faktum, das eine metaphysisch-ontologische Grundlage der Selbstbestimmung sei aber ihre praktisch-normative Dimension nicht umfasse, ebd.; zur „Autonomie“ in der Kantischen Ethik siehe Hill, in: The Cambridge Handbook, S. 217–218. 524 Kant beschränkt den Begriff des Rechts auf „das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander […] Einfluß haben können“, Kant, Die Metaphysik, S. 24 (AA VI, S. 230). In diesem Kontext behauptet Kant: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“, ebd. Es muss darauf hingewiesen werden, dass sich der Begriff der „Freiheit“ in Kants Rechtslehre von demjenigen der kantischen Ethik unterscheidet. Im Hinblick auf das Recht bezieht sich Kant auf die „Freiheit“ im Sinne der „Handlungsfreiheit“, während er im Bereich der Ethik über „Freiheit“ als die Fähigkeit spricht, der Selbstgesetzgeber zu sein, d. h. als die innere Verpflichtung durch das eigene Sittengesetz, vgl. von der Pfordten, Menschenwürde (2006), S. 26. 525 Die Würde des Menschen als „innerer Wert“ ist also eine „idealistisch-analytische Konkretisierung des letzten Grundes der ethischen Verpflichtung“, d. h. der Fähigkeit des Menschen zur Selbstgesetzgebung, ebd., S. 21. 526 Vgl. Radbruch, Vorschule, S. 39. 527 Auch in diesem Sinne antwortete Welzel 1953 auf die Frage, ob es „immanente materiale Prinzipien, die kein staatlicher Befehl verletzen darf, ohne sofort ungültig und unverbindlich zu werden und den Rechtscharakter zu verlieren“, gebe: „Wo also ein staatlicher Befehl die Person zur bloßen Sache degradiert, darin besteht das, was man in modernen Verfassungen als Verletzung der Menschenwürde bezeichnet, da kann er vielleicht noch zwingen […] aber er kann nicht mehr verpflichten“, Welzel, Naturrecht, in: Abhandlungen, S.  286; siehe auch Welzel, Macht, in: ebd, S. 296.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

schenrechte […] ist absolut unrichtiges Recht“.528 Zudem wird vor diesem Hintergrund auch verständlich, weshalb das Recht (als Wirklichkeit) laut Radbruch zugleich die Möglichkeit der Moral als auch der „Unmoral“ erfasst.529 Die Menschenwürde als Element, das von der Idee des internationalen Menschenrechtsschutzes erfasst wird, wurde auch von Radbruch anerkannt, indem er die „Humanität“ als Rechtsbegriff in der „Vorschule“ erklärte. Die Idee der „Humanität“ bzw. „Menschlichkeit530 hebt die Verbindung zwischen Menschenwürde und Völkerstrafrecht am deutlichsten hervor.531 Laut Radbruch muss der Begriff der „Humanität“ auf drei Arten verstanden werden:532 erstens als „Menschenfreundlichkeit“ gegen unmenschliche Grausamkeit; zweitens als „Menschenwürde“ gegen unmenschliche Erniedrigung; und drittens als „Menschenbildung“ gegen unmenschliche Kulturvernichtung.533 Radbruch weist also darauf hin, dass die „Humanität“ an drei Stellen der Rechtsordnung, von denen hier zwei zu betonen sind,534 zu einem Rechtsbegriff geworden sei: in der Menschenrechten „als der Garantie, der zur Pflichterfüllung unerläßlichen äußeren Freiheit und damit der Menschenwürde“, und in den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie in der LC und im KRG Nr. 10 definiert wurden.535 Die Menschenrechte und die Annahme, dass internationale Verbrechen existieren, wie bereits gesagt, als zwei not 528

Vgl. Radbruch, Vorschule, S. 29. Ebd., S. 39; in diesem Sinne wurden die auf der Debatte zwischen Hart und Fuller basierenden Überlegungen von Waldron, Lacey und Green bereits erwähnt, siehe in diesem Kapitel Fn. 427, 428 und 429. 530 Ausdrücke wie „Menschlichkeit“, „Humanität“ und „Menschheit“ sind allerdings mehrdeutig. Insofern ist behauptet worden, dass der Terminus „Menschlichkeit“ (humanity) zwei Bedeutungen impliziere: einerseits den Wert des Menschseins bzw. dessen, was uns zu Menschen macht (humanness/humaneness) und, andererseits, die Gesamtheit der Menschen (human­kind). Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit würden die „Menschlichkeit“ im ersten Sinne verletzen („in the sense of a crime ‚against the human status,‘ or against the very nature of mankind“, Arendt, Eichmann, S. 268) und seien deshalb metaphorisch betrachtet als Verletzung der „Menschheit“ als Ganzes zu sehen, vgl. Schwelb, Brit. Y. B. Int’l L. 1946, 178 (195); Luban, Yale J. Int’l L. 2004, 85 (86 ff.); wie Duff erklärt, kann also die Idee der Menschlichkeit als „a moral community“ verstanden werden und von daher: „A crime against humanity should be one that properly concerns us all, in virtue simply of our shared humanity“, Duff, in: The Philosophy, S. 600; es kann also davon ausgegangen werden, dass Radbruch sich hier auf „Humanität“ als „Menschlichkeit“ im ersten Sinne bezog; siehe insofern auch die von Würtenberger 1948 im Aufsatz „Humanität als Strafrechtswert“ vorgeschlagene Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wonach sie „nur jene Taten, die […] das sittliche Recht der Persönlichkeit, also die Menschenwürde als solche, absprechen“, sind, Würtenberger, Süddt. JZ 1948, 650 (653). 531 Vgl. Würtenberger, Süddt. JZ 1948, 650 (652–653). 532 An dieser Stelle nimmt Radbruch wieder Bezug auf die zweite Formel des kategorischen Imperativs und auf den (kantischen) Begriff der Menschenwürde, Radbruch, Süddt. JZ 1947, 131 (131–132) und Radbruch, Vorschule, S. 98. 533 Siehe Radbruch, Süddt. JZ 1947, 131 (131–132) und Radbruch, Vorschule, S. 98. 534 Radbruch erwähnt als dritte Stelle das nationale Strafrecht, welches in diesem Sinne der Sicherung des Individuums vor der willkürlichen Strafe diene, Radbruch, Vorschule, S. 99. 535 Ebd., S. 98–99. 529

B. Die Idee der Legalität  

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wendig miteinander verknüpfte Korollarien derselben Entwicklung innerhalb des Völkerrechts und als Strategien zur Sicherung der „äußeren Freiheit“ des Menschen, besitzen also im Hintergrund die Anerkennung der Menschenwürde als ethisches Ideal, an deren Achtung das Recht als Wirklichkeit orientiert sein soll. Die Bezugnahme des französischen Hauptanklägers de Menthon vor dem IMG in Nürnberg auf Kant bei der Darstellung des Begriffs von der „Natur des Menschen“ im Rahmen der Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist in diesem Sinne zu verstehen.536 Er bezog sich in diesem Zusammenhang gerade auf die „Würde der menschlichen Persönlichkeit“ und auf die sich daraus ergebende Idee der „Menschheit“ bzw. Menschlichkeit. In diesem Sinne bezeichnete er die Verbrechen gegen die Menschlichkeit als „crime contre la condition humaine“.537 3. Verdross und die internationale Rechts- und Wertegemeinschaft als politisches Substrat des Völker(straf-)rechts Das dritte von der Idee des internationalen Menschenrechtsschutzes erfasste Element ist die Annahme, dass tatsächlich eine internationale Rechts- und Wertegemeinschaft existiere. Dieser Gedanke steht auch hinter den aktuellen verfassungsrechtlichen Ansätzen hinsichtlich des Völkerrechts, denen zufolge u. a. die völkerrechtlichen Normen über Menschenrechte verfassungsrechtliche Funktionen auf globaler Ebene erfüllen sollen.538 Die Idee einer internationalen Rechts- und Wertegemeinschaft ist hilfreich, um die Rolle der internationalen Straftribunale zu verstehen, weil sich das Völkerstrafrecht aus dieser Prämisse herausbildete.539 536 De Menthon meint dazu: „Es handelt sich […] um eine allgemeine Auffassung, die in natürlicher Weise von der Seele aufgenommen wird […] in jüngeren Zeiten hat ihr der große deutsche Philopsoph Kant eine seiner packendsten Formen verliehen, indem er sagte, daß ein menschliches Wesen immer an einem Ziel und niemals an einem Mittel festhalten müsse“, de Menthon, in: Gerechtigkeit, S. 37. 537 Vgl. Gemählich, in: Das Internationale Militärtribunal, S. 151. 538 Für eine Rekonstruktion der Konstitutionalisierungsthese siehe Kleinlein, Konstitutionalisierung, 1. Kapitel („Ein als Werteordnung verstandenes Völkerrecht transzendiert die Koordinationsinteressen der Staaten und ist Ausdruck von Gemeinschaftsinteressen und universell geteilten ethischen Vorstellungen“, S. 94); zur Debatte über „constitutionalism“ im Völkerrecht siehe Fassbender, Colum. J. Transnat’l L. 1998, 529 („I suggest that the Charter [der VN] is the constitution of the international community in its entirety“, S. 532); de Wet, LJIL 2006, 611, sie bezieht sich auf den Terminus „constitution“, „to describe an embryonic constitutional order in which the different national, regional and functional (sectoral) regimes form the building blocks of the international community […] that is underpinned by a core value system“, S. 612; siehe auch Peters, LJIL 2006, 579 (580): „Overall, state constitutions are no longer ‚total constitutions‘. In consequence, we should ask for compensatory constitutionalization on the international plane. Only the various levels of governance, taken together, can provide full constitutional protection“. 539 Vgl. z. B. die folgenden bereits zitierten Aufsätze zum Nürnberger Prozess: Stimson, Foreign Aff. 1946–1947, 179 (185): „The charge of aggressive war is unsound, therefore, only if the community of nations did not believe in 1939 that aggressive war was an offense“; Wright, LQR

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Tomuschat drückt das wie folgt aus: „Nuremberg, together with the UN Charter, marked the inception of the international community as a legal concept that is more than an academic construction“.540 Die internationalen Straftribunale sollen zur weiteren Entwicklung des Völkerrechts und damit sozusagen zur Konsolidierung eines humanitären Gefühls auf internationaler Ebene beigetragen haben, indem sie im Namen der „internationalen Gemeinschaft“ entschieden hätten.541 Die Idee einer „internationalen Gemeinschaft“ ist ferner als Ausgangspunkt zur Legitimation der internationalen Straftribunale vorgeschlagen worden.542 Um die theoretischen Wurzeln des Völkerstrafrechts besser ermitteln zu können, sollen somit hier einige Aspekte dieser Idee zusammengefasst werden, wie sie zur Zeit der Entstehung des Völkerstrafrechts definiert wurde, obwohl natürlich unter dem Ausdruck „internationale Gemeinschaft“ unterschiedliche Konzepte verstanden werden können.543 Einer der bedeutendsten Autoren, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Begriff der „internationalen Gemeinschaft“ bzw. der „Völkerrechtsgemeinschaft“ und ihre Bedeutung für das Völkerrecht systematisch erarbeitete, war Alfred Verdross.544 Wenngleich er die „internationale Gemeinschaft“ zuerst nur im formellen Sinne definierte, deutete er diesen Begriff später, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, auch in einem materiellen Sinne.545 Bereits 1926 stellte Verdross in „Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ diesen Begriff als eines der Elemente seiner monistischen Theorie vor.546 In diesem Kontext hatte die Idee der „Völkerrechtsgemeinschaft“ vor allem einen formellen Charakter, da sie (lediglich) zur logischen Begründung des Primats des Völkerrechts gegenüber

1946, 40 (40): „International law differs from these national systems because there is no central law-making authority. It may thus be described as the law of the international community“; siehe auch Johnson, Int’l & Comp. L. Q. 1955, 445, in Bezug auf die Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind von 1954 behauptete er: „[I]t is the task of international society […] ‚through the progressive development of international law and its codification‘ […] to give rise to a genuine sense of international community“, S. 460; siehe auch Sloane, Stan. J. Int’l L. 2007, 39 (53); Geras, S. 119–121; Lagodny, ZStW 2001, 800 (803). 540 Tomuschat, J. Int’l Crim. Just. 2006, 830 (838). 541 Siehe dazu von Bogdandy/Venzke, S. 65 ff. und 96 ff. 542 Vgl. z. B. Duff, in: The Philosophy, S. 597 ff., er spricht allerdings von „normative community of humanity“ unter Bezugnahme auf den IStGH; siehe auch Ambos, OJLS 2013, 1 (5 ff.); Ambos, Treatise, Vol. I, S. 57–60; Werle/Jeßberger, S. 42–47; Triffterer, Politische Studien 1995, 32 (38); siehe auch die Präambel des IStGH-Statut: „[D]ie schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“. 543 Für die unterschiedlichen Konzepte der „internationalen Gemeinschaft“ siehe Paulus, Die internationale Gemeinschaft, S. 45 ff.; zum Gegensatz zwischen Staatengesellschaft und Weltgemeinschaft siehe ebd., S. 97 ff. 544 Ebd., S. 89, 174 ff. 545 Für die Ausführungen von Verdross zum Naturrecht und seiner Bedeutung für den verfassungsrechtlichen Ansatz hinsichtlich des Völkerrechts siehe Kleinlein, Konstitutionalisierung, S. 191 ff. 546 Verdross, Die Verfassung, S. 34 ff.

B. Die Idee der Legalität  

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dem staatlichen Recht diente.547 Einige Jahre danach (1937) hob Verdross erneut die Idee der „Gemeinschaft“ hervor und behauptete, dass sie zum Verständnis des Völkerrechts notwendig sei, weil die Völkerrechtssubjekte nur durch den Begriff der „Völkerrechtsgemeinschaft“ zu einer Einheit zusammengefasst werden könnten.548 In der zweiten, vollständig überarbeiteten und erweiterten Auflage seiner Abhandlung über das „Völkerrecht“, die 1950 erschien, beschäftigte sich Verdross dann ausführlicher mit diesem Begriff. Hier behauptete Verdross beispielsweise, dass die Eigentümlichkeit des Völkerrechts darin liege, „selbständige Staaten zu einer Rechtsgemeinschaft zu verknüpfen“.549 Gerade in diesem Werk hob Verdross im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg die materielle Dimension der „internationalen Gemeinschaft“ hervor. In der zweiten Auflage des „Völkerrechts“ verknüpft Verdross zwei verschiedene Perspektiven, um den Begriff „internationale Gemeinschaft“ zu erklären. Einerseits bedient er sich hierfür einiger soziologischer Erwägungen bzw. Beobachtungen und andererseits einer auf das „Sollen“ des Völkerrechts gerichteten Überlegung, die er im Rahmen des von ihm als „die Idee des Völkerrechts“ bezeichneten Konzepts darstellt. Laut Verdross hat also das Völkerrecht vier soziologische Grundlagen, die als Gegebenheiten anerkannt werden müssten: Es existieren mehrere Staaten (erste Grundlage),550 die politisch voneinander unabhängig seien (zweite Grundlage),551 aber nicht isoliert nebeneinander bestehen könnten (dritte Grundlage),552 und die zudem übereinstimmende Rechtsvorstellungen hätten (vierte Grundlage).553 Die Staaten bildeten dann eine Rechtsgemeinschaft, wenn sie allgemeinen Normen unterworfen seien. Es gehe aber nicht um Normen, deren Verbindlichkeit allein auf dem Willen der einzelnen Staaten beruhe, sondern um Normen, deren Verbindlichkeit sich aus dem Zusammenwirken der Staaten ergebe.554 Wie Mosler festhielt, sind die Mitglieder der internationalen „Gesell-

547 Laut Verdross sind „Rechtsgemeinschaft“ und „Rechtsordnung“ zwei notwendigerweise verbundene Begriffe: „Jeder Rechtsgemeinschaft entspricht eine bestimmte Rechtsordnung“, Verdross, Die Verfassung, S 4; die Existenz des Völkerrechts führe insofern zur Existenz der Völkerrechtsgemeinschaft, sie sei die „alle positiv-rechtlichen Gemeinschaften überspannende Rechtseinheit, die, gleich einer Kuppel, den ganzen großen Rechtsbau überwölbt“, ebd., S. 9; Verdross stellte weiter fest, dass zwei Staaten niemals als zwei völlig fremde Wesen verkehren könnten. Dafür benötigten sie vielmehr eine ihnen übergeordnete Ordnung. Infolgedessen seien die Staaten keine ursprüngliche Gegebenheit, „sondern die Staatengemeinschaft ist das logische Erste, sie ist die Ganzheit, die sich erst in die Staaten zergliedert“, ebd., S. 39. 548 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1937), S. 48–49. 549 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 8. 550 Ebd., S. 6. 551 Ebd., S. 7–10. 552 Ebd., S. 10–12. 553 Ebd., S. 12–13; drei Jahrzehnte später behauptete Hermann Mosler auch in diesem Sinne: „The prerequisite of an international order has been, and still is today, the coexistence of many organised units which are not subordinate to any superior authority“, Mosler, S. 1. 554 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 59.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

schaft“ diejenigen, die angesichts des Fehlens einer höheren Autorität die für sie verbindlichen Normen und Prinzipien zusammen entwickeln müssten: „It is this basic principle which makes the international society a legal community“.555 Verdross stellte weiter fest, dass sich das Völkerrecht als Recht der internationalen Gemeinschaft nur „auf Grund von gewissen übereinstimmenden Rechtsvorstellungen der verschiedenen Völker [habe] entwickeln“ könne.556 Diese Tatsache weise darauf hin, dass „den psychologischen Verschiedenheiten der Völker eine gemeinsame und allgemeine menschliche Natur zu Grunde liegt“.557 Aus dieser „allgemeinen menschlichen Natur“ würden also bestimmte Werte folgen, die der „bloßen“ Vielzahl an Staaten erlaubten, einen gewissen Zusammenhalt zu entwickeln. Diese Werte spiegelten sich in positiven völkerrechtlichen Normen wider und sollten auch widergespiegelt werden, wie z. B. in der AEM von 1948. Verdross präzisierte die Rolle dieser Werte auf folgende Weise: „Die internationale Gemeinschaft ist daher umso stärker, je mehr gemeinsame Werte allgemein anerkannt werden“.558 Wie bereits gesagt, verknüpft Verdross diese vier Elemente bzw. Tatsachen mit der „Idee des Völkerrechts.559 Die normative Grundlage der sich aus dem Zusammenwirken der Staaten als politisch unabhängigen Gemeinschaften ergebenden Normen beruhe auf dem zu verwirklichenden Wert, vornehmlich auf dem Frieden: „Dieser Wert ist aber das allen Rechtsordnungen gemeinsame Ziel, da es ihre notwendige Aufgabe ist, eine Gruppe von Menschen zu einer Friedensordnung zu verbinden“.560 Die Idee einer internationalen Gemeinschaft führe deshalb zu einer universalistischen Konzeption des Völkerrechts,561 da eine Friedensordnung nur dann vollständig verwirklicht werden könne, wenn sie sich „auf die ganze Menschheit

555 Mosler, S.  16; Verdross erkannte auch einen Unterschied zwischen internationaler Gesellschaft (international society) und internationaler Gemeinschaft (international community) an: Eine „Gemeinschaft“ stelle „eine innere, ursprüngliche, auf ‚Wesenswille‘ beruhende Verbindung dar“, während eine „Gesellschaft“ „nur eine äußere, auf ‚Kürwille‘ beruhende Einheit bildet, bei der sich die Glieder innerlich fremd gegenüberstehen“, Verdross, Völkerrecht (1937), S. 49; siehe dazu auch Johnson, Int’l & Comp. L. Q. 1955, 445 (459–460); zur aktuellen Bedeutung des Begriffs der „international community“ siehe Paulus, in: Routledge Handbook, S. 44 ff.; dazu ausführlich auch Paulus, Die internationale Gemeinschaft, S. 77 ff., 89 ff., 162 ff. 556 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 12. 557 Ebd. 558 Ebd., S. 13. 559 Laut Verdross steht das positive Recht zwar auf dem festen Boden soziologischer Tatsachen, reicht aber bis in „das Reich der Werte“ hinaus, „aus dem es seine verbindliche Kraft herleite“, ebd., S. 13–14; siehe auch Verdross, Die Verfassung, S. 3, 23–24. 560 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 14. 561 Vgl. von Bogdandy/Venzke, S. 67; es muss jedoch gesagt werden, dass hierdurch nicht die Idee eines Weltstaates impliziert wird, denn eine Vielzahl an relativ-souveränen Staaten ist laut Verdross eine Voraussetzung des Völkerrechts, siehe Verdross, Die Verfassung, S. 41; siehe in diesem Sinne auch Fassbender, Colum. J. Transnat’l L. 1998, 529 (558).

B. Die Idee der Legalität  

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erstreckt“.562 In diesem Zusammenhang ergibt auch die Idee des gerechten Krieges Sinn für Verdross.563 Das Gewaltverbot allein genüge allerdings nicht zur Sicherstellung einer Friedensordnung. Darüber hinaus sei auch die Gewährleistung der „menschlichen Grundrechte aller Gemeinschaftsglieder“ erforderlich.564 Daraus ergibt sich ein materieller, von der Gerechtigkeitsidee nicht zu trennender Rechtsbegriff.565 Laut Verdross beruhte die LC566 und somit die Geburt des Völkerstrafrechts gerade auf dieser Idee. Die internationale Gemeinschaft geht also über die bloße Summe ihrer einzelnen Mitglieder hinaus, da sie eine Einheit bildet. Wie Verdross es ausdrückte, beruht diese Einheit auf einem „einheitlichen normativen Bewusstsein der Menschheit“.567 Auch Radbruch führte diese Einheit auf eine „übernationale Gemeinschaftsgesinnung“ zurück.568 Das naturrechtliche Fundament der Idee einer internationalen Gemeinschaft wird hier explizit,569 weil sie nach dieser Auffassung ihre Einheit nicht aus irgendwelchen Normen herleite, sondern aus einem axiologischen Kern, dessen Grundlage in der vernünftigen und sozialen Natur des Menschen zu finden sei.570 Interessanterweise sind effektiver Menschenrechtsschutz

562 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 15; es ist anzumerken, dass sich Verdross an dieser Stelle interessanterweise nicht auf Kant bezieht, sondern auf Cicero, Augustinus und Thomas von Aquin; in der zweiten Aufl. des „Völkerrechts“ erwähnt Verdross Kants Auffassung erst bei der Darstellung der „Idee der zwischenstaatlichen Organisation“, wo er Kants Lehre vom „Ewigen Frieden“ als „den Höhepunkt des organisatorischen Pazifismus“ bezeichnet, ebd., S. 21; siehe Kant, in: Zum ewigen Frieden, S. 159 („Erster Definitivartikel zum ewigen Frieden. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“, AA VIII, S. 349), und S. 164 („Zweiter Definitivartikel zum ewigen Frieden. Das Völkerrecht soll auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein“, AA VIII, S. 354); siehe für eine ausführliche Darstellung der Völkerrechtslehre Kants Kraus, in: Internationale Gegenwartsfragen, S. 158 ff. 563 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 16. 564 Ebd.; hier erscheinen auch die Zusammenarbeit der Staaten und die Gewährleistung sozialer Rechte als weitere notwendige Voraussetzungen des Weltfriedens, ebd., S. 17; in diesem Punkt stimmten Verdross und Lauterpacht überein, die Verbindung zwischen der Achtung der Menschenrechte auf nationaler Ebene und internationalem Frieden war für die Entwicklung des Völkerrechts nach dem Zweiten Weltkrieg von zentraler Bedeutung, die ursprüngliche Idee war, „that governments that are internally oppressive will typically be externally belligerent as well“, Cogan, Harv. Int’l L. J. 2011, 321 (335). 565 Die Ähnlichkeit mit Radbruch ist hier offensichtlich, siehe oben, drittes Kapitel, B. III. 1. 566 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 17. 567 Ebd., S. 12. 568 Für Radbruch ist dies eine Voraussetzung des Weltfriedens, vgl. Radbruch, Vorschule, S. 108–109. 569 Allerdings vertreten die aktuellen verfassungsrechtlichen Ansätze keine naturrechtliche Konzeption, zumindest nicht explizit. Sie gehen vielmehr von den Menschenrechten als positiven völkerrechtlichen Normen aus, vgl. Kleinlein, GoJIL 2012, 385, (397–398). 570 Verdross sah in der Natur des Menschen ein „Normengefüge“ verankert, „[d]aher darf die Gemeinschaftsordnung keinen anderen legitimen Zweck verfolgen, als die Entfaltung der physischen, geistigen und sittlichen Kräfte der Menschen zu fördern“, Verdross, Völkerrecht (1950), S. 28 ff.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

und Naturrecht auch für Verdross, ähnlich wie für Lauterpacht, notwendiger­weise miteinander verbunden.571 Gerade deshalb stelle die internationale Gemeinschaft nicht nur eine Rechts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft dar. Verdross unterschied in diesem Zusammenhang zwischen „primärem Naturrecht“ und „sekundärem Naturrecht“. Das erste umfasse die fundamentalen Prinzipien, „die für den Bestand einer vernünftigen und sittlichen Friedensordnung notwendig sind“, und sei von den Hauptvertretern des Naturrechts „von Aristoteles bis zur Gegenwart“ vertreten worden.572 Das zweite beziehe sich auf die aus diesen Prinzipien hergeleiteten Schlussfolgerungen, die kontextabhängig seien.573 Die Existenz der internationalen Gemeinschaft folge aus den Anforderungen des primären Naturrechts. Nach Verdross sind die Staaten, „die nichts anderes als menschliche Verbände sind“, durch ihre soziale Natur verpflichtet, „sich gegenseitig als Glieder der allgemein-menschlichen Gemeinschaft anzuerkennen und nach der Ordnung dieser Gemeinschaft zu leben“.574 Obwohl Verdross vorher das Prinzip der pacta sunt servanda als Grundnorm des Völkerrechts gewertet hatte,575 bezeichnet er diese Pflicht interessanterweise auch als die Grundnorm des Völkerrechts, weil es ohne sie weder völkerrechtliche Verträge noch Völkergewohnheitsrecht geben könne.576 Diese Grundnorm sei außerdem mithilfe der von der internationalen Gemeinschaft anerkannten Rechtsgrundsätze inhaltlich zu bestimmen.577 Die Idee einer internationalen Rechts- und Wertegemeinschaft setze also das Bestehen von Normen und Prinzipien voraus, deren Verbindlichkeit nicht vom Willen der einzelnen Staaten abhänge.578 Dies bedeutet, dass das Völkerrecht einen Kern haben müsse, über den nicht disponiert werden könne. Daraus folgt, dass das 571

Insofern äußerte sich Verdross in seinem Aufsatz „Die Internationale Anerkennung der Menschenrechte als Voraussetzung des Weltfriedens“: „Wir sehen daraus, daß die Grundrechte mit der naturrechtlichen Begründung stehen und fallen […] Sie sind nur solange gesichert, als anerkannt wird, daß sie aus der richtig verstandenen Natur des Menschen folgen. Wird daher das Naturrecht geleugnet, dann gibt es auch keine Menschenrechte mehr“, Verdross, in: Um die Erklärung, S. 338; zu Lauterpacht siehe oben, drittes Kapitel, B. IV. 1. 572 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 29–30. 573 Ebd.; Verdross erklärte zu Recht, dass jedes „Naturrechtssystem“, das über die Darstellung der allgemeinen Grundsätze hinausgehe, mehr oder weniger subjektiv sei, „da ihre Anwendung auf konkrete Verhältnisse keine Rechenoperation bildet, sondern durch das Wertbewußtsein des Forschers hindurchgeht“. Deshalb behauptet er: „Ein allgemeingültiger Naturrechtscodex ist auch deshalb unmöglich“, ebd. 574 Ebd., S. 30. 575 Vgl. Verdross, Die Verfassung, S. 29 ff. 576 Verdross, Völkerrecht (1950), S. 30–31. 577 Ebd., S. 31, Verdross kritisierte Formulierungen wie diejenigen von Kelsen oder Anzilotti und bezeichnete sie als „vollkommen inhaltsleer“; zur Wandlung des Verständnisses von Verdross hinsichtlich der völkerrechtlichen Grundnorm siehe Kleinlein, Konstitutionalisierung, S. 192–195. 578 Zur Überwindung des „Voluntarismus“ durch die verfassungsrechtliche Ansicht zum Völkerrecht siehe Peters, LJIL 2006, 579 (587 ff.).

B. Die Idee der Legalität  

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Völkerrecht nicht durch eine privatrechtliche Perspektive verstanden werden soll,579 der zufolge souveräne Staaten, wie freie Individuen, immer über ihre Rechte disponieren dürfen.580 Das Völkerrecht habe vielmehr „öffentlich-rechtlichen“ Charakter, da diese Normen der internationalen Gemeinschaft erlauben würden, von einer „Verfassung“ im materiellen Sinne zu sprechen.581 Verdross betrachtete deshalb etwa die Schaffung des VB und vor allem der VN als Verabschiedung von Verfassungsurkunden, die Verfassungen der Völkerrechtsgemeinschaft im formellen Sinne seien.582 Die Existenz von Normen, über die nicht verfügt werden könne, sei außerdem die Grundlage einer internationalen öffentlichen Ordnung – einer ordre public.583 Diese Idee spiegelt sich sowohl in mehreren Entscheidungen des IGH wider584 als auch in gewissen völkerrechtlichen Konzepten. Wichtige Beispiele dafür sind das sog. ius cogens bzw. das zwingende Völkerrecht, das die

579

Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 74. Diese Ansicht wurde auch von Waldron mit dem Argument eines prinzipiellen Unterschieds zwischen individueller Freiheit und staatlicher Souveränität kritisiert: „[A] state’s sovereignty is an artificial construct, not something whose value is to be assumed as a first principle of normative analysis […] Its sovereignty is something made, not assumed, and it is made for the benefit of those whose interests it protects“, Waldron, Harv. J. L. & Pub. Pol’y ­2006–2007, 15 (21); siehe auch Peters, LJIL 2006, 579 (597). 581 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 74; es muss aber beachtet werden, dass Verdross sich mit dem Begriff der „Verfassung“ in „Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ nur auf den allgemeinen Teil des Völkerrechts bezog, d. h. auf „jene Normen, die den Aufbau, die Gliederung und die Zuständigkeitsordnung einer Gemeinschaft zum Gegenstand haben“, Verdross, Die Verfassung, S. v.; siehe zu Alfred Verdross als „founding father of international constitutionalism“ und zum Begriff der „Verfassung“ in seinem Werk Kleinlein, GoJIL 2012, 385; Verdross zufolge hat der Begriff „Verfassung“ jedenfalls im Rahmen des Völkerrechts sowohl eine strukturelle, da sie erlaube, das Völkerrecht als Rechtssystem zu betrachten (ebd., S. 389 ff.), als auch eine materielle Dimension: „[F]or Verdross, the higher rank of international constitutional law can be based on both ‚legal logics‘ and on the commitment of the members of the international community to certain fundamental principles of morality“, ebd., S. 393; siehe auch Fassbender, Colum. J. Transnat’l L. 1998, 529 (541 ff.). 582 Vgl. Verdross, Völkerrecht (1950), S. 74; zur Charta der VN als „Verfassung“ siehe Fassbender, Colum. J. Transnat’l L. 1998, 529 (568 ff.), laut Fassbender haben Normen wie diejenige des IPBPR auch verfassungsrechtlichen Charakter, weil sie die Charta der VN ergänzen würden (ebd., S. 588); zum verfassungsrechtlichen Charakter der Charta der VN und zu den Spannungen zwischen Idealismus (Frieden durch Konsens und Multilateralismus, Selbstbestimmung und Menschenrechte) und Realismus (Großmächte, Prärogative des Sicherheitsrats) siehe Paulus, Die internationale Gemeinschaft, S. 285 ff. 583 Vgl. Mosler, S. 17 ff.; Kleinlein, Konstitutionalisierung, S. 346–348. 584 Siehe folgende Entscheidungen des IGH: Corfu Channel case, 1949, unter Bezugnahme auf „certain general and well-recognized principles, namely: elementary considerations of­ humanity“, S. 22; Reservations to the Convention of Genocide, 1951, mit Verweis auf „principles which are recognized by civilized nations as binding on States, even without any conventional obligation“ und auf „the universal character […] of the condemnation of genocide“, S. 23; Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, 1996, in der in Bezug auf die Grundsätze des humanitären Völkerrechts ausgeführt wurde: „[T]hese fundamental rules are to be observed by all States whether or not they have ratified the conventions that contain them“, Para. 79. 580

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

Vertragsfreiheit der Staaten beschränkt,585 und die Verpflichtungen erga omnes, d. h. Verpflichtungen, die ein Staat gegenüber der internationalen Gemeinschaft als Ganzes hat und von daher „all States can be held to have  a legal interest in their protection“.586 Aus dieser Perspektive kann behauptet werden, wie Verdross es bereits 1929 tat, dass das Völkerrecht genau genommen „kein ‚zwischenstaatliches‘, kein ‚internationales‘, sondern ein überstaatliches, ein übernationales Recht“ sei.587

C. Ergebnis: Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die theoretischen Prämissen der Entwicklung des Völkerstrafrechts In der vorliegenden Arbeit ist die These aufgestellt worden, dass die Entwicklung des Völkerstrafrechts in einem Spannungsverhältnis zum NCSL-Prinzip gestanden hat, insbesondere mit Blick auf die Definition der internationalen Verbrechen. Deswegen wurde im zweiten Kapitel bereits gezeigt, wie die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg eingerichteten Tribunale dieses Problem gehandhabt haben. Die Grundlagen für eine allgemeine Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht wurden aus den in diesen Strafprozessen dargelegten Argumenten 585

Art. 53 WÜRV besagt: „Ein Vertrag ist nichtig, wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf“ (die hier zitierte deutsche Fassung befindet sich unter https://beck-online.beck.de/?vpath=bibdata%2Fges%2FVertrRUebereink %2Fcont%2FVertrRUebereink%2EA53 %2Ehtm (zuletzt aufgerufen am 07.12.2016); in Bezug auf das Bestehen zwingenden Völkerrechts meinte Verdross 1937: „This prohibition, common to the juridical orders of all civilized states, is the consequence of the fact that every juridical order regulates the rational and moral coexistence of the members of a community“, Verdross, Am. J. Int’l L. 1937, 571 (572); siehe auch Verdross, Am. J. Int’l L. 1966, 55 (58): „The criterion for these rules consists in the fact that they do not exist to satisfy the needs of the individual states but the higher interest of the whole international community“; siehe dazu Mosler, S. 19–20; Fassbender, Colum. J. Transnat’l L. 1998, 529 (589 ff.); Thirlway, S. 145 ff. und 160: „Norms of jus cogens are essentially a feature of general customary law“; siehe für eine ausführlichere Darstellung aus heutiger Sicht Paulus, Nordic JIL 2005, 297 und ­Paulus, Die internationale Gemeinschaft, S.  356 ff.; zum verfassungsrechtlichen Charakter des ius­ cogens siehe auch Kleinlein, Konstitutionalisierung, S. 361 ff. 586 Vgl. IGH, Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited, 1970, Para. 33; siehe auch IGH, Legal Consequences of the Construction of  a Wall in the Occupied Palestinian Territory, 2004, Para. 80, 155 und 157; siehe dazu Fassbender, Colum. J. Transnat’l L. 1998, 529 (593 ff.); Paulus, Die internationale Gemeinschaft, S.  301 ff.; etwas skeptisch ist insofern Thirlway, S. 146 ff.; kritisch Linderfalk, Nordic JIL 2011, 1; zum Verhältnis zwischen ius cogens und Verpflichtungen erga omnes siehe de Wet, LJIL 2006, 611 (616); Paulus, Nordic JIL 2005, 297 (307 ff.) und Peters, LJIL 2006, 579 (598 ff.). 587 Verdross, Die Verfassung, S. 40.

C. Ergebnis  

295

abstrahiert. Nunmehr sollen die theoretischen Prämissen analysiert werden, mithilfe derer diese Spannung gelöst wurde bzw. gelöst werden kann. Dies bildet das Ziel des vorliegenden Kapitels. Es wird davon ausgegangen, dass die theoretischen Prämissen für die Entwicklung des Völkerstrafrechts ermittelt werden müssen, um die Art und Weise verstehen zu können, in der das NCSL-Prinzip in diesem Kontext behandelt worden ist. Auf diese Weise soll letztendlich ermöglicht werden, die im zweiten Kapitel vorgeschlagenen Grundlagen zum Verständnis des NCSLPrinzips im Rahmen des Völkerstrafrechts zu ergänzen und zugleich mit den Fundamenten einer theoretischen Konzeptualisierung des Völkerstrafrechts zu artikulieren. In diesem Sinne sind vor allem zwei der drei am Ende des ersten Kapitels der vorliegenden Arbeit erwähnten Aspekte an dieser Stelle zu präzisieren, die thematisiert werden müssen, um die Konzeption des NCSL-Prinzips im Kontext des Völkerstrafrecht rekonstruieren zu können, nämlich die Rolle der Strafgewalt auf internationaler Ebene und der im diesem Kontext einflussreichste Rechtsbegriff. Dafür wurden zunächst die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg im angloamerikanischen und im deutschen Rechtskreis erfolgten Debatten über die Aburteilung der Kriegsverbrecher und die Anwendung rückwirkenden Völkerrechts rekonstruiert. Daraus ergeben sich die ersten Hinweise, welche theoretischen Ansätze zur Begründung des Völkerstrafrechts ungeeignet sind. Es wurde insofern festgestellt, dass die positivistischen Ansätze zum Völkerrecht große Schwierigkeiten bei der Begründung einiger, für die Entwicklung des Völkerstrafrechts zentraler Aspekte haben. Völkerrechtliche Lehren, die das Primat des nationalen Rechts verfechten und die das Völkerrecht als Selbstbeschränkung der Souveränität verstehen, können weder das Völkergewohnheitsrecht als allgemein gültige Völkerrechtsquelle noch die allgemeinen, Kraft ihres moralischen Inhalts rechtlich relevanten Grundsätze anerkennen. Gleichermaßen können die auf der dualistischen Konstruktion basierenden Auffassungen die Existenz derjenigen völkerrechtlicher Normen nicht akzeptieren, die Individuen unmittelbar verpflichten und von daher die individuelle völkerrechtliche Verantwortung begründen. Diese Ansichten machen die Gültigkeit völkerrechtlicher Normen von einem staatlichen Zustimmungsakt abhängig und vertreten außerdem ein striktes Verständnis der Elemente des Völkergewohnheitsrechts, das nicht der Argumentation von Tribunalen wie dem Nürnberger IMG entspricht. Deshalb werteten die erwähnten positivistischen Ansätze wichtige Schritte zur Entwicklung des Völkerstrafrechts im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg als rückwirkende und deswegen illegitime Anwendung neuen Rechts. Durch die Rekonstruktion dieser Debatten konnte aber auch bestimmt werden, welche rechtstheoretischen Strömungen die ersten internationalen Strafprozesse unterstützten. Es handelt sich um eine Mischung pragmatischer und naturrechtlicher Ansichten des Rechts. Vor diesem theoretischen Hintergrund stellt das (Völker-)Recht ein dynamisches System dar, das fähig sein soll, auf neue, gegenwärtige Bedingungen und Bedürfnisse zu reagieren. Aus einer pragmatischen Sicht des Rechts erscheint es nicht merkwürdig, sich der Strafgewalt sowohl als Werk-

296

3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

zeug zur Verstärkung als auch als Instrument zur Veränderung der internationalen Rechtsordnung zu bedienen. Es darf insofern nicht vergessen werden, dass das Völkerstrafrecht im Kontext der Entstehung einer neuen internationalen Ordnung geboren wurde. Die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg durchgeführten internationalen Strafprozesse gegen die Kriegsverbrecher wurden ferner mit der völkerrechtlichen Tradition von Hugo Grotius begründet. Demnach sei zum einen der Krieg keine rechtlich neutrale Situation, und zum anderen habe die Staatssouveränität gewisse, sich aus Prinzipien ableitende Grenzen. Darüber hinaus ist das naturrechtliche Konstrukt der Delikte mala in se zu erwähnen, dem zufolge die Strafbarkeit besonders moralisch verwerflicher Handlungen nicht zwingend im Voraus in einer Rechtsquelle explizit geregelt sein muss. Auch das im zweiten Kapitel erwähnte subjektive und moralisierte Verständnis des NCSL-Prinzips, nach dem die Kenntnis des Angeklagten über eine mögliche Bestrafung wichtiger sei als die Existenz einer konkreten Rechtsgrundlage, in der die Strafbarkeit der Tat explizit geregelt sei, ergibt sich aus diesem theoretischen Kontext. Diese Grundlagen spiegeln sich auch im Verständnis der Völkerrechtsquellen wider. Daraus ergeben sich wichtige Aspekte zur Festlegung eines Mindeststandards bzgl. der Legalität im Völkerstrafrecht. Vor dem Hintergrund der pragmatischen und naturrechtlichen Ansätze wurde die Auffassung vertreten, dass das Völkerrecht nicht zwingend auf dem staatlichen Willen beruhen müsse, da es auch die Anerkennung ungeschriebener Prinzipien als Völkerrechtsquelle voraussetze. Die Anerkennung dieser Prinzipien sei an sich ein kreativer Akt und erlaube es, die notwendigen Institutionen zu ihrer Durchsetzung zu errichten. Daraus folgt, dass gewisse Verhaltensnormen ohne (zentralisierte) gesetzgebende, richterliche und vollziehende Organe existieren und dass die gegen diese Normen verstoßenden Handlungen auch ohne Kodifikation internationale Straftaten darstellen könnten, wenn sie besonders relevante Interessen verletzten. Im Völkerstrafrecht ist somit keine formell erlassene Norm notwendig, die die verbotene Handlung explizit unter Strafe stellt. Dabei ist bemerkenswert, dass das Völkergewohnheitsrecht in diesem Zusammenhang in einer ganz besonderen Weise verstanden wird. Ein striktes Verständnis des Völkergewohnheitsrechts, dem zufolge die Elemente der Staatenpraxis und der Rechtsüberzeugung vollständig bewiesen werden müssen, wird durch eine flexiblere Konzeption ersetzt. Die Lücken bzw. Zweifel hinsichtlich der Existenz von Völkergewohnheitsrecht werden in diesem Kontext durch die Deduktion aus Prinzipien und moralischen Wertungen geschlossen. Wie auch Vest erklärt, muss hier daran erinnert werden, dass Rechtsprinzipien moralische Grundannahmen integrieren und dadurch den Rechtsbegriff moralisch aufladen.588 Demnach könne es für die Existenz von Völkergewohnheitsrecht genügen, dass eine „Tendenz“ bzgl. der Kriminalisierung einer Handlung bewiesen werden könne, worauf bereits

588

Vgl. Vest, Gerechtigkeit, S. 192.

C. Ergebnis  

297

am Ende des zweiten Kapitels hingewiesen wurde. Folglich dürfe eine gewisse Inkonsistenz beispielsweise bzgl. der Staatenpraxis nicht zwingend als Beweis für das Fehlen von Völkergewohnheitsrecht interpretiert werden, wenn eine eindeutige Entwicklung des Völkerrechts zur Bestrafung bestimmter Handlungen auszumachen sei und diese in Übereinstimmung mit allgemeinen Grundsätzen stehen würde.589 Von diesem Ansatz aus ist es auch möglich zu behaupten, dass Vorschriften wie diejenige der LC und des KRG Nr. 10, in denen die zur Zuständigkeit der jeweiligen Tribunale gehörenden Straftaten definiert werden, nicht notwendigerweise als Straftatbestände im traditionellen bzw. „deutschen Sinne“ verstanden werden dürfen.590 Insofern wurde bereits im zweiten Kapitel ausgeführt, dass im Völkerstrafrecht zwischen der Errichtung eines Tribunals samt seiner Zuständigkeitsbestimmung in materiellrechtlicher Hinsicht einerseits und der Schaffung des anzuwendenden Rechts andererseits zu unterscheiden ist.591 Dies sei z. B. hinsichtlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit relevant. Diesbezüglich kann gesagt werden, dass Art. 6 (c) LC und Art. II Abs. 1 (c) KRG Nr. 10 keinen Straf­tatbestand im Sinne einer genauen Beschreibung der verbotenen Handlung enthalten. Wie auch Radbruch meinte, enthalten diese Normen vielmehr einen „Gesichtspunkt“, unter dem die Rechtsprechung einen entsprechenden Tatbestand allmählich erarbeiten könne, oder einen Rahmen der erst durch richterliche Präjudizen ausgefüllt werden müsse. In Übereinstimmung mit Güde muss dann angenommen werden, dass es sich bei diesen „Tatbeständen“ nur um die Verdeutlichung des Unrechtstypus, der Angriffsrichtung und des spezifischen Unrechtsurteils handelte. Deswegen sind sie lediglich mit einer generellen Überschrift betitelt und weisen eine beispielhafte Liste von Handlungen mit der Erklärung auf, dass die Aufzählung nicht vollständig sei. Art. 6 (b) LC enthält z. B. folgende Passage: „Verletzungen des Kriegsrechts und der Kriegsgebräuche. Solche Verletzungen umfassen, ohne jedoch darauf beschränkt zu sein […]“. Art. 6 (c) LC führt etwa aus: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit: nämlich […] oder andere […] unmenschliche Handlungen“. Um das NCSL-Prinzip und die Legalität im Rahmen des Völkerstrafrechts verstehen zu können, muss berücksichtigt werden, dass sich das Problem der Rück 589 Ambos bezeichnet dieses Phänomen als „Kombinationslösung“, wobei allgemeine Rechtsgrundsätze zur Verifikation „noch im Entstehen begriffener und dementsprechend noch nicht gefestigter völkergewohnheitsrechtlicher Regeln herangezogen werden“. Er bezieht sich jedoch auf die Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze sowohl durch den Vergleich der nationalen Rechtsordnungen als auch durch ihre Deduktion durch Werturteile. Jedenfalls erkennt er an, dass dieses Zusammenspiel zwischen Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu ihrer Assimilation führt, vgl. Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 42–43; siehe dazu auch Simma/Paulus, Am. J. Int’l L. 1999, 302 (in Bezug auf den Tadić-Fall des JStGH, S. 310 ff.); Kreß, ZStW 1999, 597 (613 ff., in Bezug auf den Erdemovic-Fall des JStGH). 590 Siehe oben, erstes Kapitel, C. II. 5. 591 Siehe in diesem Sinne auch Peters, Jenseits, S. 109–111.

298

3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

wirkung im Völkerstrafrechts nicht nur im Bezug auf das zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltende Völkerrecht, sondern auch mit Blick auf das geltende nationale Recht stellen kann. Denn wie die Strafprozesse gegen die Kriegsverbrecher im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg zeigen, ist es möglich, dass das nationale Recht die in Frage stehende Handlung erlaubt. Deswegen kann eine Bestrafung auf Grundlage des Völkerrechts in doppelter Hinsicht rückwirkenden Charakter haben. Denn neben der „rückwirkenden“ Kriminalisierung von Handlungen im Kontext des Völkerrechts kommt auch die mögliche rückwirkende Nichtanerkennung der nnationalen Rechtsnormen in Betracht. Die Idee der Legalität im Völkerstrafrechts muss daher nicht nur das hier skizzierte Verständnis der Völkerrechtsquellen untermauern, sondern auch den Anspruch des Völkerstrafrechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen begründen können. Daher kann behauptet werden, dass das Völkerstrafrecht aus zwei Grundideen entstanden ist: zum einen aus der Annahme, dass Völkerrecht und nationales Recht irgendwie verknüpft seien, und zum anderen aus der Ansicht, dass ein komplexer, notwendiger Zusammenhang zwischen Recht und Moral bestehe. Es geht als Ergebnis um ein Amalgam „monistischer“ Theorien des Völkerrechts mit einem Rechtsbegriff, der sich aus der sog. Verbindungsthese ergibt und deswegen als Produkt einer Art rechtsethisches Essentialismus bezeichnet werden kann. Deshalb muss zumindest mit Blick auf das Völkerstrafrecht anerkannt werden, dass Völkerrecht und nationales Recht in gewissem Sinne verknüpft sein müssen und dass das Völkerrecht den Vorrang gegenüber dem nationalen Recht beanspruchen darf. Der Vorrang des Völkerrechts ergibt sich aus der Vorstellung, dass es das ethische Minimum verkörpert, das vom nationalen Recht beachtet werden muss, damit seine Legitimität, d. h. seine Verbindlichkeit, im Rahmen des Völkerrechts akzeptiert werden kann. Gerade in diesem Kontext finden die Legalität und das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht ihren Platz und ihre Konturen. Wie die Analyse der Auffassung Kelsens über die Aburteilung der Kriegsverbrecher gezeigt hat, beschränkt sich die Verbindung zwischen Völkerrecht und nationalem Recht nicht auf formale Aspekte, wenn es um das Völkerstrafrecht geht. Völkerrecht und nationales Recht bilden auch, strukturell gesehen, nicht notwendigerweise ein einziges Rechtssystem im Sinne der monistischen Theorie Kelsens, da sie immerhin unterschiedliche – um es in Harts Worten auszudrücken – Sekundärregeln haben. Allerdings erweist sich die Anerkennung einer materiellen Bindung, nach der das Völkerrecht und das nationale Recht gewisse Prinzipien und Werte teilen,592 als ein erforderliches Element des Völkerstrafrechts. Dies setzt

592 Deshalb kann behauptet werden, dass das Völkerrecht durch regionale und globale Normen über Menschenrechte und das nationale Recht insbesondere mit seinen verfassungsrechtlichen Normen sich gegenseitig ergänzen und zusammen ein „Verfassungskonglomerat“ bilden, siehe insofern de Wet, LJIL 2006, 611 (612). Dies führt zu einer dynamischen Relation zwischen Völkerrecht und nationalem Recht. Trotzdem würden im Falle eines Widerspruchs

C. Ergebnis  

299

einerseits die Anerkennung der moralischen Konnotation der allgemeinen Rechtsgrundsätze und ihrer Folgen für das nationale Recht voraus und andererseits die Ablehnung eines absoluten, ethischen Relativismus. Um die verschiedenen Verhältnisse zwischen Recht und Moral, die der Entwicklung des Völkerstrafrechts zugrunde liegen, und die sich in diesem Kontext entwickelnde Idee der Legalität zu konkretisieren, wurden Radbruchs Auffassung und die sog. Hart-Fuller-Debatte im vorliegenden Kapitel thematisiert. Denn sie haben sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, d. h. unmittelbar nach der Geburt des Völkerstrafrechts, intensiv mit dem Problem der Legalität beschäftigt. Aufgrund der im vorliegenden Kapitel dargestellten Erwägungen lässt sich dann festhalten, dass der Zusammenhang zwischen Recht und Moral im Rahmen des Völkerstrafrechts über die von Hart im Allgemeinen angenommenen Möglichkeiten hinausgeht. Drei Punkte müssen insofern hervorgehoben werden. Erstens wurde das Völkerstrafrecht, wie bereits gesagt, als Bestandteil einer Strategie zur Verwirklichung eines bestimmten politischen und moralischen Projekts entwickelt. Es diente dem Projekt der Unterwerfung der staatlichen Macht und der internationalen Beziehungen unter die rule of law, d. h. der Etablierung des Völkerrechts als Kooperations- und Friedensordnung und der Durchsetzung externer und interner moralischer Verhaltensstandards für Staaten durch internationale Tribunale. Deshalb spiegelt das Völkerstrafrecht nicht nur moralische Ideale wider. Der Zusammenhang zwischen ihm und einer internationalen Moral ist tiefer, da es als Durchsetzungsmechanismus dieser Ideale gedient hat. Zweitens macht der Zusammenhang zwischen Legalität und Moral die notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral deutlich, indem die Legalität, wie auch von Fuller vertreten, ein wesentliches Element der Rechtsordnung bildet. Denn eine Rechtsordnung kann nicht auf die Idee von Legalität verzichten, ohne seine Existenz als Recht zu verwirken. Deswegen kann nicht behauptet werden, dass das NCSL-Prinzip im Rahmen des (Völker-)Strafrechts überhaupt nicht gilt. Die Legalität an sich hat ferner einen moralischen Wert. Denn das Recht erweist sich, wie auch Radbruch, Hart und Fuller meinen, erst durch die Existenz allgemeiner und mehr oder weniger eindeutiger Normen, die ein Mindestmaß an Rechtssicherheit schaffen sollen, als Mechanismus zur Verwirklichung der austeilenden Gerechtigkeit. Die sich aus der Legalität ergebende Rechtssicherheit stellt auch eine Voraussetzung der Gleichheit und der Freiheit in einer Gesellschaft dar. Trotzdem kann die Legalität auch als Werkzeug zur Unterdrückung missbraucht werden, worauf gerade Waldron, Lacey und Green vor dem Hintergrund von Harts Auffassung hinweisen. Insofern kann behauptet werden, dass die Legalität lediglich a priori moralisch wertvoll ist, da ihr moralischer Wert im Konkreten relativ

zwischen nationalen Normen und dem Völkerrecht die völkerrechtlichen Normen, insbesondere die Menschenrechtsnormen, als eine Art „compensatory constitutionalism“ wirken, ­Peters, LJIL 2006, 579 (599, 607).

300

3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

sein kann. Jedenfalls ist mit Green anzunehmen, dass die Legalität immer moralische Implikationen aufweist und deswegen abwägungsfähig ist, was sogar Kelsen trotz seines positivistischen Ausgangspunktes anerkannt hat.593 Aus diesem Grund muss anerkannt werden, dass die durch die Legalität angestrebte Rechtssicherheit, wie auch von Radbruch hervorgehoben, nicht der einzige Wert ist, dessen Verwirklichung das Recht dient, und dass die Rechtssicherheit in extremen Fällen zurückzutreten hat. Neben dem formellen Verständnis der Rechtssicherheit und der austeilenden Gerechtigkeit ergibt sich auch eine mit der Achtung der Menschenrechte, d. h. der jedem Individuum gebührenden Behandlung, verknüpfte materielle Gerechtigkeitskonzeption. Angesichts der potenziellen Konflikte zwischen der Rechtssicherheit und dieser materiellen Gerechtigkeitskonzeption ist im Rahmen des Völkerstrafrechts eine auf Fullers Auffassung basierende differenzierte Konzeptualisierung der Legalität anzunehmen. Dies bedeutet, wie bereits erwähnt, dass auf der Ebene des Völkerstrafrechts ein Mindeststandard erforderlich und somit die Legalität als morality of duty zu werten ist. Dieses darf aber nicht so strikt bzw. formell verstanden werden, wie es in den kodifizierten und wenig flexiblen Rechtssystemen der Fall ist. Somit kann die Legalität auch als morality of aspiration begriffen werden. Eine Art Mittelweg kann anhand der im zweiten Kapitel vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen dem in einer positiven Völkerrechtsquelle zu begründenden Verbot und der Strafbarkeit gefunden werden, die sich bereits aus einer „Tendenz“ ergeben kann, sofern diese eine gewisse Sicherheit hinsichtlich der Möglichkeit einer Aburteilung bietet. Drittens kann die moralische Konnotation des Völkerstrafrechts auch anhand seines Anwendungsbereichs deutlich gesehen werden. Dabei müssen auch der Anspruch des Völkerstrafrechts gegenüber den staatlichen Rechtsordnungen und seine „Botschaft“ berücksichtigt werden. Das Völkerstrafrecht ist eng mit den internationalen Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht verknüpft. Das Völkerstrafrecht ist auf die strafrechtliche Verfolgung von Grausamkeiten gerichtet, die im Kontext massenhafter Gewalt erfolgen. Das Völkerstrafrecht bildet somit kein selbstständiges Segment des Völkerrechts. Denn es bezieht sich auf Handlungen, die bereits durch andere Bereiche des Völkerrechts verboten werden, insbesondere durch die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völker­recht. In diesem Sinne wurde schon am Ende des zweiten Kapitels auf das 593

Es geht hier um die Abwägung des Wertes, welcher der „Legalität“ als Grundidee des Rechts zugrundeliegt. Dieses Konzeption der Legalität erklärt die Existenz flexiblerer Standards zur Bestimmung des geltenden Rechts im Kontext des Völkerstrafrechts, was genau genommen dem Rechtsquellensystem des Völkerrechts entspricht. Dieses Verständnis der Legalität kann im Kontext einer (nationalen) kodifizierten Strafrechtsordnung ausnahmsweise auch die Durchbrechung des Rückwirkungsverbots (als Regel betrachtet) rechtfertigen, wie in Deutschland im Rahmen der Mauerschützenfälle geschehen ist, siehe insofern Vest, Gerechtigkeit, S. 187: „Als solche [d. h. als Regel] ist es [das Rückwirkungsverbot] nur der Ausnahme zugänglich […] nicht aber einer generellen Abwägung“.

C. Ergebnis  

301

Phänomen der Interlegalität hingewiesen, das eine flexiblere Konzeption der Legalität voraussetzt. Daraus ergibt sich eigentlich das, was hier beispielsweise bereits über die Bestimmungen der LC und des KRG Nr. 10 gesagt wurde, nämlich dass es sich bei ihnen um keine Straftatbestände im engeren Sinne handelt. Gerade die wichtigsten rechtlichen und ethischen Grenzen der Ausübung politischer Macht im Kontext der Kriegsführung und der Behandlung der eigenen Bevölkerung sollen mithilfe eines durch die internationalen Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht gebildeten Komplexes durchgesetzt werden.594 Insofern stellt also das Völkerstrafrecht moralische Ansprüche. Es projiziert somit das Selbstbild einer moralisch legitimen Autorität. In diesem Sinne kann behauptet werden, dass internationale Straftribunale wie z. B. der Nürnberger IMG und das IMTFO eine bestimmte, zugleich moralische und rechtliche Wahrheit ausdrücken sollten, die sich sowohl an Individuen als auch an Staaten und weitere Organisationen mit politischer Macht richtete. Dieser – um es in Alexys Worten auszudrücken – besondere Anspruch auf Richtigkeit des Völkerstrafrechts gegenüber den Staaten stellt die Grundlage dafür dar, um von Individuen Gehorsam zu verlangen und die Geltung staatlicher Rechtsnormen, wenn nötig, zu leugnen. Der Anspruch des Völkerrechts, den ethisch-rechtlichen Mindeststandard für die nationalen Rechtsordnungen zu verkörpern, konkretisiert sich in und ergibt sich zugleich aus der Idee des internationalen Menschenrechtsschutzes. Wie bereits gesagt, bildet dies das ideologische Fundament des Völkerstrafrechts. Daraus ergibt sich eine rechtsethische Geltungslehre, die auf Radbruch zurückgeführt werden kann und der zufolge die Achtung gewisser Anforderungen des Völkerrechts eine Bedingung für die Geltung konkreter Rechtsnormen auf nationaler Ebene 594 Diesbezüglich ist Robinsons Kritik zu berücksichtigen. Laut Robinson leidet das Völkerstrafrecht an einer „Identitätskrise“, weil es zugleich als liberales Strafrecht und als Mechanismus zum Menschenrechtsschutz betrachtet worden sei. Aus diesem Grund hätten die internationalen Straftribunale zwar einen liberalen Diskurs gehalten, in dem die Bedeutung des NCSL-Prinzips anerkannt worden sei, in ihren konkreten Entscheidungen aber u. a. aufgrund von Auslegungsmethoden, die dem menschenrechtlichen Ansatz entsprechen würden, dieses Prinzip nicht immer beachtet, siehe Robinson, Darryl, LJIL 2008, 925 (926, 939, 941, ­944–946). Diese Kritik ist wichtig, weil die internationalen Straftribunale tatsächlich in einigen Fällen widersprüchlich gehandelt haben. Sie haben etwa ein striktes Verständnis des NCSLPrinzips in ihren Entscheidungen vertreten, obwohl ein solches Verständnis weder mit der Entwicklung noch mit den Quellen des Völkerstrafrechts vereinbar ist. Trotzdem muss, wie hier bereits behauptet wurde, berücksichtigt werden, dass die Konzeptualisierung des Völkerstrafrechts ohne die Berücksichtigung der Entstehung der internationalen Menschenrechte nicht möglich ist. Dies hätte eine dekontextualisierte Betrachtung des Völkerstrafrechts zur Folge. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass sich das NCSL-Prinzip auf verschiedene Weise konkretisieren kann. Das Verständnis des NCSL-Prinzips der kodifizierten Strafrechtssysteme bildet nicht die einzige Möglichkeit. Das Völkerstrafrecht kann eigentlich seinen eigenen Standard entwickelt. Der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Völkerstrafrecht stellt somit keinen Defekt des Völkerstrafrechts dar. Diese Relation zeigt vielmehr die Komplexität und die Besonderheiten der Ausübung von Strafgewalt auf internationaler Ebene.

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3. Kap.: Rezeption der festgelegten Grundlagen

darstellt, zumindest aus internationaler Sicht. Vor dem Hintergrund des internationalen Menschenrechtsschutzes wird somit die Ausübung der Strafgewalt als Durchsetzungsmechanismus inhärenter und im Völkerrecht positivierter Rechte595 gegenüber der Verwirklichung eines strikten und formellen Ideals von Rechtssicherheit und Legalität priorisiert.596 Zwei ideologische Perspektiven treten dann in ein Spannungsverhältnis: einerseits die „Ideologie des internationalen Menschenrechtsschutzes“ und andererseits die „legalistische Ideologie“. Beide haben ihre eigene Wertehierarchie. In dem auf dem internationalen Menschenrechtsschutz beruhenden Völkerstrafrecht steht nicht die durch die Formalität des Rechts geschaffene Rechtssicherheit allein an erster Stelle. Die Legitimität dieser (bewussten oder unbewussten) Entscheidung beruht auf der Überzeugung, dass der Menschenrechtsschutz eine moralische Pflicht sei597 und dass die Menschenrechte, zumindest in ihrer allgemeinen Formulierung, sowie die Existenz der sich aus ihrer Verletzung ergebenden internationalen Verbrechen den Ausdruck eines auf internationaler Ebene bestehenden moralischen Konsenses darstellten.598 Hier wird es nicht verleugnet, dass der behauptete universelle Charakter (als Konsens) einen der umstrittensten Aspekte des Menschenrechtsdiskurses bildet.599 Es geht vielmehr darum, zu betonen, dass sich 595 In diesem Kontext ist der von Lohmann vorgeschlagene Unterschied zwischen Menschenrechten als moralischen Rechten und Menschenrechten als Rechten im rechtlichen Sinne zu betrachtet (siehe Lohmann, in: Philosophie, S. 62 ff.). Lohmann schlägt dabei eine Theorie der Menschenrechte vor, die drei Ebenen einbezieht: Moral, Recht und Politik (ebd., S. 83 ff.). Danach müssten Menschenrechte zwingend moralische Rechte sein (ebd, S. 89). Aber dies sei alleine keine ausreichende Bedingung, um ein Recht im rechtlichen Sinne sein zu können. Die Menschenrechte müssten deshalb auch sowohl im nationalen Recht als auch im Völkerrecht im Prinzip aus zweckrationalen Gründen (ebd., S. 89 ff.) positiviert und durch demokratische Prozesse in Einzelfällen konkretisiert werden (ebd., S. 92 ff.). 596 In Bezug auf die Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen auf nationaler Ebene in Fällen von Staatkriminalität vergangener Regimen spricht beispielsweise Neumann insofern von einer „Ausnahme von dem rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot“, die dem „‚vorpositiven‘ Status der Menschenrechte“ entsprechen würde, Neumann, in: Transitional, S. 51–52. 597 Die Menschenrechte (als Minimalmoral) haben somit einen „Anspruch auf interkultu­ relle Gültigkeit“, Höffe, S. 8; sie seien Teil einer Rechtsmoral, die als kritische Moral zu verstehen sei, d. h. als „Inbegriff höchster, nicht relativierbarer Verbinlichkeiten“, und im Gegensatz zur Moral im positiven Sinne stehe, d. h. der Moral „als Inbegriff von Ethos, Brauch und Sitte“, ebd., S.  34; siehe auch Lohmann, in: Philosophie, S.  92: „Insofern kann man sagen, daß der moralische Gehalt der Menschenrechte uns moralisch verpflichtet, eine angemessene Positi­vierung vorzunehmen, die den normativen Gehalt der moralisch verstandenen Menschenrechte […] durch geeignete internationale und globale Rechtsinstitutionen zum Ausdruck bringen kann“. 598 Vgl. Paulus, Die internationale Gemeinschaft, S. 254 ff., 260–261; Ambos, GA 2016, 177 (186): „Der praktische Ausdruck solcher gemeinsamer, menschenrechtlich fundierter Wertvorstellungen [im Sinne transnationaler, kollektiver Wertvorstellungen] ist das heutige Völkerstrafrecht“. 599 Deswegen fordert beispielsweise Peters eine „empirisch nachweisbare“ Begründung der Menschenrechte als universellen Wertekonsens, Peters, Jenseits, S. 380; zur Spannung zwischen Menschenrechten einerseits und kultureller und religiöser Identität andererseits, insbesondere

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303

das Völkerstrafrecht gerade auf Grundlage dieser Prämisse entwickelt hat. Jedenfalls, wie Fuller behauptete, ist es einfacher, einen minimalen Kompromiss darüber, was übel oder ungerecht ist, zu erzielen, ohne eine vollständig klare oder absolute Vorstellung über das Gute und die Gerechtigkeit haben zu müssen. Deshalb wurde am Ende des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit die These aufgestellt, dass das „Defizit“ des Völkerstrafrechts an Formalität durch die von ihm beanspruchte moralische Überlegenheit zu kompensieren ist. Gerade in d­ iesem Kontext, in dem das Völkerrecht in den Worten von Verdross als das „überstaatliche“ Recht einer Wertegemeinschaft und die Menschenrechte als „Gemeinschaftswerte bzw. -interessen“600 erscheinen, ist eine strikte Konzeption des NCSL-Prinzips weder notwendig noch wünschenswert.601 Anders ausgedrückt: Ein besonders hoher Grad an Typizität, um aller Rechtsunsicherheit vorzubeugen, wie Beling am Anfang des 20. Jahrhunderts behauptete, um den Begriff von Straftatbestand und seinen Zusammenhang mit dem NCSL-Prinzip zu erklären,602 ist folglich im Kontext des Völkerstrafrechts nicht unbedingt notwendig. Es muss schließlich hervorgehoben werden, wie Radbruch und Güde bereits 1947 in Bezug auf das KRG Nr. 10 betonten, dass sich die hier vertretene Auffassung hinsichtlich des NCSL-Prinzips auf Ausnahmefälle beschränkt. Wenn diese Konzeption des NCSL-Prinzips im Einklang mit einer theoretischen Begründung des Völkerstrafrechts stehen soll, muss das Völkerstrafrecht auch im Wesentlichen als eine Art „Sonderrecht“ begriffen werden. Demnach ist es auf minimale Anforderungen zu beschränken und lediglich in extremen Situationen anzuwenden.603 Insofern ist daran zu erinnern, dass das Völkerstrafrecht in Lubans Worten „a product of discontinuity, of upheaval and political rupture“ ist.604 Es strebt also nicht an, das nationale Recht generell zu ersetzen. Deswegen sollen Begriffe wie „Menschlichkeit“, die den Unrechtstypus der internationalen Verbrechen aus­ drücken, so restriktiv wie möglich ausgelegt werden. in Bezug auf die Ausnutzung des Kulturbegriffs zur Rechtfertigung der Verletzungen von Frauenrechten, siehe Moller-Okin, in: Philosophie, S. 310 ff.; zum Dilemma zwischen dem Universalismus und der sich aus ihr ergebenden Abstraktheit einerseits und dem Partikularismus andererseits im Menschenrechtsdiskurs siehe Shue, in: Philosophie, S. 343 ff., Shue schlägt einen Mittelweg zwischen abstraktem Universalismus und kultureller Besonderheit vor, ebd., S. 367 ff.; zum Relativismus und den Menschenrechten siehe auch Perry, Hum. Rts. Q. 1997, 461. 600 Vgl. Paulus, Die internationale Gemeinschaft, S. 250–251: „deren Umsetzung nicht zugunsten einzelner Mitglieder der Gemeinschaft, sondern zugunsten der Gesamtheit der inter­ nationaler Gemeinschaft geschieht“. 601 Fuller meint dazu: „[W]here law is largely a reflection of extralegal morality, what a­ ppears in form as retrospective legislation, may in substance represent merely the confirmation of views already widely held“, Fuller, The Morality, S.  92; bei Menschenrechten geht es aber nicht nur um „extralegal morality“, sondern um eine positivierte und legitimierende Rechtsmoral. 602 Siehe oben, erstes Kapitel, C. II. 5. 603 Eine ähnliche Ansicht vertritt Sloane, Stan. J. Int’l L. 2007, 39 (55): „[T]he jurisdiction of international tribunals should, in my view, remain the exception“. 604 Siehe oben, drittes Kapitel, B. III. 5.

Viertes Kapitel4

Rückwirkung und die Entwicklung des Völkerstrafrechtswährend und nach dem Kalten Krieg: das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition

Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition Nach den internationalen Strafprozessen, die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg durchgeführt wurden, und während des Kalten Krieges blieb das Völkerstrafrecht insbesondere aufgrund der politischen Situation in jener Zeit in einer Art Stillstand.1 Für ungefähr 40 Jahre wurde kein internationales Strafgericht eingerichtet, obwohl damals zahlreiche internationale Verbrechen begangen wurden. Erst in den neunziger Jahren bekam das Völkerstrafrecht mit der Einrichtung der Ad-hoc-Straftribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda einen neuen Impuls, der letztendlich zur Schaffung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs führte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass keine für das Völkerstrafrecht relevante Entwicklung während des Kalten Krieges stattfand. Ganz im Gegenteil, verschiedene völkerrechtliche Verträge wurden in dieser Zeit unterzeichnet, die zur Konsolidierung des materiellen Völkerstrafrechts beigetragen haben, vor allem im Bereich der internationalen Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts.2 Außerdem fanden in der ILC mehrere Diskussionen statt, die für das gegenwärtige Völkerstrafrecht von besonderer Bedeutung sind. Gerade diese Entwicklung wird im vorliegenden Kapitel berücksichtigt werden. Wie im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit festgestellt wurde, hat das Völkerstrafrecht seit seiner Geburt in einem Spannungsverhältnis zu dem NCSL-Prinzip gestanden. Ähnlich, wie es während der Nürnberger oder Tokioter Prozesse geschah, haben mehrere Debatten über die angebliche Verletzung des NCSL-Prinzips im Kontext der in den neunziger Jahren eingerichteten internationalen Straftribunale stattgefunden, insbesondere in Fällen, die für die Entwicklung des Völkerstrafrechts von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Eine solche Spannung spiegelt das Dilemma zwischen Anpassungsfähigkeit des Rechts und Rechtssicherheit wider. Im Völkerstrafrecht bildet dieses Dilemma einen besonders heiklen 1

Vgl. Werle/Jeßberger, S. 16–18; Ambos, Treatise, Vol. I, S. 10 ff.; Kreß, The Crime, in: The Crime, S. 4–5. 2 Die folgenden Völkerrechtsverträge können als Beispiele erwähnt werden: die Konvention über die Vehrhütung und Bestrafung des Völkermords vom 09. 12. 1948, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEM) vom 10.12.1948, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) vom 10.12.1963, die GK vom 12.08.1949, die beiden Zusatzprotokolle (ZP) vom 08.07.1977 und die VN-Antifolterkonvention vom 10.12.1984.

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Aspekt, der die Weise bedingt hat, in der das NCSL-Prinzip in diesem Kontext konkretisiert worden ist. Denn, wie bereits dargelegt, ist dieses Rechtsgebiet in Situationen massenhafter Gewalt anzuwenden, in denen zahlreiche Gräueltaten begangen werden. Hierbei spielen Rechtsquellen, deren Inhalt schwierig festzustellen ist, eine besondere Rolle, wie das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Im vorliegenden Kapitel wird daher versucht, festzustellen, wie dieses Dilemma in der Entwicklung des Völkerrechts, das nach den Nürnberger und Tokioter Prozessen entstand, gelöst worden ist. Dies wird einerseits durch die Analyse der Aufnahme und Definition des NCSL-Prinzips in die internationalen Menschenrechte und andererseits durch die Diskussion der relevanten Arbeiten der ILC und der Rechtsprechung der „modernen“ internationalen Straftribunale durchgeführt. Hier verdient der letzte der drei am Ende des ersten Kapitels identifizierten und zur Rekonstruktion einer allgemeinen Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht zu thematisierenden Aspekte eine besondere Aufmerksamkeit, d. h. die Handhabung der Rechtsquellen. Die anderen zwei Aspekte, d. h. die Rolle der Strafgewalt und der einflussreichste Rechtsbegriff, wurden bereits im dritten Kapitel analysiert. Es muss hier daran erinnert werden, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs ein besonderes Verständnis des Völkerrechts hervorrief, das die Entwicklung sowohl der internationalen Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts als auch des Völkerstrafrechts erlaubte. Es soll insofern erneut betont werden, dass der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher einen der entscheidenden Ausgangspunkte hierfür bildete. Die Verbindung zwischen dem Nürnberger Prozess und den „modernen“ internationalen Straftribunalen gestattet somit, über die Entstehung einer Rechtstradition auf internationaler Ebene zu sprechen, in der das NCSL-Prinzip in einer spezifischen Weise verstanden worden ist. Dementsprechend kann behauptet werden, dass die Art und Weise, in der die internationalen Straftribunale dieses Prinzip gehandhabt haben, einen hohen Grad an Kontinuität aufweist. Die Behauptung, nach der das Völkerstrafrecht sich von einem Zustand, in dem vor allem Erwägungen über die Gerechtigkeit oder Zweckmäßigkeit der Bestrafung eine maßgebliche Rolle spielten (sog. „doctrine of substantive justice“), zu einer Situation von „strict legality“ bewegt hat,3 kann deswegen in Frage gestellt werden. Die im Nürnberger Prozess festgelegten Grundlagen für eine Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht ist allmählich in der Weise entwickelt und präzisiert worden, wie dies hier veranschaulicht wird. Am Ende muss allerdings die Frage aufgeworfen werden, ob das IStGH-Statut, in welches 3 Siehe insofern Cassese, Cassese’s, S.  24–27, laut Cassese: „The main problem ist that for a long period, and until recently, the doctrine of substantive justice was prevailing in ICL; it is only in recent years that it has been gradually replaced with the doctrine of strict legality, albeit with some importante qualifications“, ebd., S. 24; wenn die Doktrin von „strict legality“ wichtige Einschränkungen bzw. Ausnahmen hat, wie Cassese es akzeptiert, ist eine solche Doktrin jedoch nicht mehr „strict“.

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das NCSL-Prinzip erstmals ins Statut eines internationalen Straftribunals aufgenommen worden ist, sich von der Nürnberger Rechtstradition losgelöst hat, und, wenn diese Frage zu bejahen ist, inwiefern.

A.Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die internationalen Menschenrechte: Kriminalisierung im Völkerrecht und die Nürnberger Klausel Das NCSL-Prinzip wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die internationalen Menschenrechte inkorporiert.4 Die Konturen, die es in diesem Kontext hat, sind seither allmählich in einem langen und gelegentlich widersprüchlichen Prozess definiert worden. Dieser Prozess erlaubt es, dasselbe Paradoxon zu illustrieren, das im Völkerstrafrecht zu finden ist: Das NCSL-Prinzip muss durch seine explizite Anerkennung gesichert werden, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, die durch die willkürliche Ausübung der Strafgewalt begangen werden können. Zugleich müssen gewisse Grenzen oder eine gewisse Flexibilität angenommen werden, um bereits begangene Menschenrechtsverlet­zungen bestrafen zu können und auf diese Weise auch andere Menschenrechte durchzusetzen. Historisch gesehen sollen zwei Faktoren berücksichtigt werden, um dieses Paradoxon zu verstehen.5 Erstens ist die unter der Fassade der Legalität vollzogene Verfolgung politischer Gegner zu nennen, die während der nationalsozialistischen Zeit in Deutschland stattfand.6 Vor diesem Hintergrund erscheint das NCSLPrinzip zurzeit als eine wesentliche Gewährleistung in verschiedenen Menschenrechtsverträgen,7 welche nicht einmal in Notstandsfällen aufgehoben werden darf. Zweitens sind die Schwierigkeiten der Strafverfolgung der Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit und die aus diesem Grund gegen den 4 Dies bildet Cassese zufolge eine der Faktoren, die die Wandlung des Völkerstrafrechts von substantive justice zu strict legality, erklären würde (ebd., S. 26). Die Entwicklung der internationalen Menschenrechte hat tatsächlich die Bedeutung des NCSL-Prinzips für das Völkerstrafrecht bekräftigt. Trotzdem hat diese Entwicklung auch zur Entstehung eines qualifizierten Verständnisses dieses Prinzips beigetragen, das dem Standard von „strict legality“ nicht entspricht (wie Cassese selbst annimmt). 5 Ähnlich Gallant, S. 156. 6 Hier soll an der Reform von § 2 Abs. 2 RStGB, die am 28.06.1935 durchgeführt wurde, erinnert werden, siehe oben, erstes Kapitel, B. II. 1. 7 Es ist insofern behauptet worden, dass das NCSL-Prinzip zurzeit Völkergewohnheitsrecht bilde (siehe insofern Gallant, S. 157; im Rahmen des humanitären Völkerrechts siehe Henckaerts/ Doswald-Beck, S. 371–372), und, dass es ius-cogens-Charaker habe (siehe STL, Interlocutory decision on the applicable law, 2011, Para. 76); siehe auch Arajärvi, S. 127, wobei nicht nur behauptet wird, dass das NCSL-Prinzip Völkergewohnheitsrecht bilde, sondern auch, dass es zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehöre; siehe Meron, Am. J. Int’l L. 1995, 554 (565): „a fundamental principle of criminal justice and a customary, even peremptory, norm of international law“.

A. Kriminalisierung im Völkerrecht und die Nürnberger Klausel

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Nürnberger IMG oder gegen das IMTFO formulierten Kritiken zu erwähnen. Aus diesem Grund wurde die Bestrafung auf Grundlage des Völkerrechts nach dem Krieg explizit erlaubt. In einige Menschenrechtsverträge wurde auch insofern die sog. Nürnberger Klausel eingefügt. Die Analyse der Entwicklung des NCSL-Prinzips in den internationalen Menschenrechten liefert wichtige Hinweise über die Auswirkungen der im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg durchgeführten internationalen Strafprozesse im Hinblick auf das Verständnis der Legalität und des NCSL-Prinzips. Durch diese Analyse kann festgestellt werden, inwieweit die nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegten Grundlagen in der anschließenden Entwicklung des Völkerrechts Resonanz gefunden haben. Nicht alle internationale Menschenrechtsverträge, die sich auf das NCSL-Prinzip beziehen, sollen jedoch an dieser Stelle diskutiert werden.8 Dieser Abschnitt fokussiert sich vor allem auf die Instrumente universellen Menschenrechtsschutzes, d. h. auf die AEM und den IPBPR. Auf regionaler Ebene werden auch als Beispiele die EMRK und die AMRK berücksichtigt. Denn diese zwei regionalen Instrumente sind, zeitlich gesehen, näher am Ende des Zweiten Weltkriegs zu verorten,9 sodass der Einfluss der internationalen Strafprozesse dieser Zeit in seinem Wortlaut deutlich gesehen werden kann. Außerdem ist die im Rahmen dieser Konventionen entwickelte Rechtsprechung hinsichtlich des NCSL-Prinzips und der internationalen Verbrechen, insbesondere diejenige des EGMR,10 breiter und komplexer als im Kontext anderer völkerrechtlicher Verträge.11 Die in diesem Abschnitt zu beantwortende Frage ist folglich, inwieweit die internationalen

8 Die folgenden Völkerrechtsverträge werden nicht thematisiert: die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 (Art. 40 Abs. 2 (a) sieht in Bezug auf die Behandlung des Kindes in Strafrecht und Strafverfahren das NCSL-Prinzip vor), die GK III über die Behandlung der Kriegsgefangenen (das NCSL-Prinzip erscheint in Art. 99, diese Norm bezieht sich auf das Verbot der Handlung, nicht auf ihre Strafbarkeit: „[…] an act which is not forbidden by the law of the Detain­ ing Power or by international law […]“), die GK IV (Art. 65 sieht das Rückwirkungsverbot in Bezug auf von Besetzungsmächten erlassene Strafbestimmungen vor), ZP I [Art. 75 Abs. 4 (c)] und ZP II [Art. 6 Abs. 2 (c)] der GK. 9 Die EMRK und die AMRK wurden jeweils 1950 und 1969 aufgenommen, während die ACMRV erst 1981 verabschiedet wurde; die ACMR erschien zunächst 1994, aber eine überarbeitete und „modernisierte“ Version wurde 2004 aufgenommen, siehe dazu Buergenthal et al., S. 366–370. 10 Siehe insofern Boot, S. 127. 11 Zum NCSL-Prinzip und das islamische Recht siehe Baderin, S.  111–113; siehe auch­ Kamali, S. 179 ff., hier ist das „principle of legality“ in einer breiten Weise verstanden; über das Rückwirkungsverbot siehe ebd., S. 186 ff., wo Kamali drei Formen erwähnt, in denen das NCSL-Prinzip im islamischen Recht konkretisiert werden kann: Erstens sind die Straftaten und die Strafen in Bezug auf „serious crimes“ in der Shariah bestimmt; zweitens, wenn es sich um „trangressions“ oder „ma‘siyah“ handelt, sind nur die Tathandlungen in der Shariah festgelegt, während ein gewisser Ermessensspielraum hinsichtlich der Strafen vorliegt; drittens können in der Shariah nur allgemeine Richtlinien zur Feststellung der verbotenen Handlungen in Bezug auf „offences which violate the public interest“ oder „al-maslahah“ gefunden werden, weil sie als unvorhersehbar gehalten sind, ebd., S. 188–189.

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Menschenrechte und das Völkerstrafrecht hinsichtlich des Verständnisses des NCSL-Prinzips miteinander verbunden sind.

I. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Die am 10.12.1948 durch die Resolution 217 A (III) von der Generalversammlung der VN beschlossene AEM hat rechtlich, moralisch und politisch gesehen eine ganz besondere Bedeutung.12 Fassbender gibt drei Gründe an, um die Wichtigkeit der AEM zu veranschaulichen. Erstens bildet die AEM das erste Dokument, „in dem sich die Vertreter der überwältigenden Mehrheit der Staaten […] auf einen Katalog universeller gültiger Rechte des Individuums verständigt haben“.13 Zweitens ist die AEM zum Fundament und Maßstab des internationalen Menschenrechtsschutzes geworden, denn die universellen und regionalen Menschenrechtsverträge bauen auf der Erklärung auf.14 Drittens hat die AEM zusammen mit der Charta der VN das Völkerrecht „tiefgreifend verändert und auf die Interessen des Individuums hin ausgerichtet“.15 Es kann daher behauptet werden, dass die AEM im Kontext des Völkerrechts den Ausgangspunkt zur Konkretisierung und Formalisierung der Idee von natürlichen Rechten darstellte.16 Sie spiegelt einen gewissen Konsens wider, der sich aus Beiträgen verschiedener Traditionen und kultureller Hintergründe ausgebildet ist.17 Das NCSL-Prinzip als wesentliche Gerechtigkeits- und Freiheitsgarantie hat hier auch einen Platz. Art. 11 Abs. 2 AEM sieht das NCSL-Prinzip wie folgt vor: „Niemand darf wegen einer strafbaren Handlung oder Unterlassung schuldig gesprochen werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach nationalem oder Völkerrecht nicht strafbar war […]“.18 12

Obwohl die rechtliche Bedeutung der AEM in engerem Sinne nicht immer klar gewesen ist. Ursprünglich wurde die AEM als ein Dokument konzipiert, dessen Inhalt lediglich eine Art moralischen Strebens ohne bindende Kraft darstellen würde (siehe insofern Posner, S. 16; dazu auch Fassbender, in: Menschenrechteerklärung, S.  16;). Allerdings ist es behauptet worden, dass sie Empfehlungen im Sinne von Art. 10 und 13 der Charta der VN enthält (ebd., S. 16–17). Die Mitgliedstaaten sind also kraft ihrer Bindung an die Charta dazu verpflichtet, solche „Empfehlungen“ ernsthaft zu berücksichtigen (ebd.). Darüber hinaus, wie Fassbender erklärt, ist die Grundlage der AEM in der Charta der VN explizit, nämlich Art. 1 Abs. 3, 13, 55, 62, 68 und 76. Somit kann gesagt werden, dass die AEM Verpflichtungen, die in der Charta der VN bereits bestehen, konkretisiert (ebd.). Des Weiteren ist zurzeit angenommen, dass mehrere Bestimmungen der AEM, darunter auch die Bestimmung über das NCSL-Prinzip (Gallant, S. 159, 352 ff.) schon Völkergewohnheitsrecht bilden (Henkin et al., S. 216). 13 Vgl. Fassbender, in: Menschenrechteerklärung, S. 1. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 2. 16 Vgl. Henkin et al., S. 153. 17 Vgl. Posner, S. 15; Glendon, Notre Dame L. Rev. 1997–1998, 1153 (1153). 18 Das NCSL-Prinzip erscheint hier nicht allein. Art. 11 Abs. 1 AEM sieht die Unschuldsvermutung vor und der zweite Satz von Art. 11 Abs. 2 bezieht sich auf das nullum poena sine lege; die deutsche hier zitierte Übersetzung der AEM befindet sich in Fassbender, in: Menschenrechteerklärung, S. 55 ff.

A. Kriminalisierung im Völkerrecht und die Nürnberger Klausel

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Wie Gallant behauptet, setze diese Vorschrift nicht voraus, dass die strafrechtlichen Normen durch ein legislatives Organ erlassen werden müssen.19 Laut dieser Bestimmung darf eine Handlung nicht ohne eine vorherige minimale Rechtsgrundlage als strafbar definiert werden. Sie legt jedoch keine Anforderungen an die Kriminalisierung einer Handlung fest.20 Somit darf behauptet werden, dass die AEM sowohl die Common-Law-Tradition als auch die Völkerrechtsquellen respektiert.21 Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass Art. 11 Abs. 2 AEM im Hintergrund eine Verbindung mit dem Nürnberger Urteil hat, die stärker ist, als ihr bloßer Wortlaut erkennen lässt. Dies erklärt warum diese Bestimmung ganz allgemein mit dem Ausdruck „nach nationalem oder Völkerrecht“ verfasst wurde und auch warum sie, als die Generalversammlung sie aufnahm, umstritten war. Die AEM wurde von einem Drafting Committee innerhalb der Menschenrechtskommission vom Wirtschafts- und Sozialrat der VN entworfen.22 Das Drafting Committe bestand ursprünglich aus drei Mitgliedern: Eleanor Roosevelt aus den Vereinigten Staaten als Vorsitzende der Menschenrechtskommission, P. C. Chang aus China als stellvertretender Vorsitzender und Charles Malik aus Libanon als Rapporteur.23 Später wurden auch Vertreter von fünf anderen Staaten im Drafting Committee eingegliedert, nämlich Australien, Chile, Frankreich, die Sowjetunion und das Vereinigte Königreich.24 Die Menschenrechtskommission diskutierte zunächst verschiedene Vorschläge, die das Drafting Committee vorlegte, und beschäftigte sich bis zu einem gewissen Punkt parallel mit den Entwürfen einer Deklaration (zukünftige AEM) und einer Konvention (zukünftige IPBPR).25 Deswegen haben die Bestimmungen über das NCSL-Prinzip in beiden Instrumenten die gleichen Wurzeln, obwohl sie unterschiedlich verfasst sind. In Bezug auf das NCSL-Prinzip kann zuerst gesagt werden, dass das Drafting Committee bei der Formulierung des Prinzips keine bestimmte Rechtsquelle priorisierte. Diesbezüglich wurden vier Möglichkeiten in der ersten Sitzung des Drafting 19

Vgl. Gallant, S. 158. Ebd. 21 Ebd. 22 Die Menschenrechtskommission wurde am 16.02.1946 durch die Resolution  5  (I) im Übereinstimmung mit Art. 68 der Charta der VN vom Wirtschafts- und Sozialrat der VN etabliert und bestand bis zum 27.03.2006. Sie wurde jedoch durch den Menschenrechtsrat ersetzt. Über die Aufgabe dieser Kommission siehe auch die Resolution 9 (II) vom 21.06.1946 des Wirtschafts- und Sozialrats. Der Rat erichtete die Menschenrechtskommission und betraute sie mit der Aufgabe, Vorschläge, Empfehlungen und Berichte über „an international bill of ­human rights“ vorzulegen. Zum Entwurfsprozess der AEM und die Arbeit der Menschenrechtskommission siehe YUN 1948–1949, S. 525–537; Fassbender, in: Menschenrechteerklärung, S. 6–16; bzgl. Art. 11 Abs. 2 siehe auch Gallant, S. 156 ff. und Boot, S. 127 ff. 23 Siehe Doc. E/CN.4/SR.1 (Human Rghts Commission First Session Sumary Record), S. 4; die Dokumente des Entwurfsprozesses der AEM sind unter http://research.un.org/en/undhr verfügbar (zuletzt aufgerufen am 17.06.2016). 24 Siehe Doc. E/383 vom 27.03.1947. 25 Vgl. z. B. Doc. E/CN.4/21 vom 01.07.1947 (Report of the Drafting Committee to the Commission on Human Rights, first session), S. 3. 20

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Committee vorgeschlagen. Nur eine davon bezog sich scheinbar auf das geschriebene Recht.26 Die anderen drei bezogen sich nur im Allgemeinen auf das geltende Recht.27 Als Ergebnis legte das Drafting Committee der Menschenrechtskommission interessanterweise zwei verschiedene Fassungen des NCSL-Prinzips vor. Im Hinblick auf die zukünftige Deklaration wurde folgender Text als Art.  10 vorgeschlagen: „No one can be convicted of crime unless he has violated some law in effect at the time of the act charged as an offence“.28 Im Unterschied dazu wurde die folgende Version für die zukünftige Konvention als Art. 6 vorgelegt: „No person shall be held guilty of any offence on account of acts or omissions which did not constitute such an offence at the time when they were committed“.29 Es könnte behauptet werden, dass die erste Version strikter als die zweite war. Denn der Ausdruck „violated some law in effect“ scheint an das geschriebene Recht gerichtet zu sein. Diese Auslegung könnte mit der Tatsache verstärkt werden, dass dieser Entwurf dem Vorschlag vom französischen Professor René Cassin folgte, dessen französischen Fassung lautete: „violé une loi en vigueur“, d. h., es würde sich auf ein in Kraft getretenes Gesetz beziehen.30 Trotzdem kann man daraus nicht folgern, dass das Drafting Committee absichtlich das NCSL-Prinzip im Sinne von lex scripta für die Deklaration vorschlug. Wenn dies der Fall wäre, würde kein Grund für die im Kontext der Konvention vorgeschlagene Version bestehen. Jedenfalls entschied sich die Menschenrechtskommission für die zweite Version, sowohl für den Entwurf der Deklaration als auch der Konvention. Die Menschenrechtskommission diskutierte vom 02.12.1947 bis 17.12.1947 in ihrer zweiten Sitzung die vom Drafting Committee vorgelegten Vorschläge.31 In diesem Kontext ist hervorzuheben, dass die Vertreter von Belgien und den Philippinen hier vorschlugen, einen zusätzlichen Absatz in Art. 10 des Entwurfs der Deklaration hinzuzufügen. Es handelte sich um die sog. Nürnberger Klausel: „This 26 René Cassin schlug die folgende Bestimmung vor: „No person may be convicted of a crime unless he has violated a law in force at the time of the act charged as an offence“. Die französische Originalfassung lautete: „Nul ne peut être condamné pénalemènt à moins qu’il n’ait violé une loi en vigueur au moment de l’infraction“, ebd., S. 53 und 54 (Anlage D). 27 Die anderen Vorschlägen enthielten generelle Ausdrücke, nämlich: „in conformity with the law“ (vorgeschlagen vom Division of Human Rights of the Secretariat), „which did not constitute such an offence“ (vorgeschlagen vom Vertreter des Vereinigten Königreichs) und „in conformity with law“ (vorgeschlagen vom Vertreter der Vereinigten Staaten), ebd., S. 11 (Anlage A), 34 (Anlage B) und 41 (Anlage C). 28 Ebd., S. 75 (Anlage F). 29 Ebd., S. 83–83 (Anlage G). 30 Vgl. Gallant, S. 164. 31 In dieser Sitzung ernannte die Kommission drei workings groups, um jeweils an der Deklaration, an der Konvention und an den Durchsetzungsmechanismen zu arbeiten. Eleanor Roosevelt und René Cassin dienten jeweils als Vorsitzende und Rapporteur der working group über die Deklaration. Lord Dukeston (Vereinigtes Königreich) und Charles Malik dienten jeweils als Vorsitzende und Rapporteur der working group über die Konvention, siehe Doc. E/600 vom 17.12.1957 (Economic and Social Council, official records, third year: sixth session, supplement no. 1), S. 1–7.

A. Kriminalisierung im Völkerrecht und die Nürnberger Klausel

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provision shall not, however, preclude the trial and conviction of persons who have committed acts which, at the time of their commission, were regarded as criminal by virtue of the general principles of law recognised by civilized nations“.32 Sowohl der philippinische als auch der belgische Vertreter erklärten damals, dass es das Ziel sei, zu verhindern, dass die Legalität der Nürnberger- und Tokioter Urteile aufgrund von Art. 10 in Frage gestellt werden könne.33 Dieser Vorschlag wurde von der Menschenrechtskommission sowohl für die Deklaration als auch für die Konvention aufgenommen.34 Als Ergebnis der zweiten Sitzung legte die Menschenrechtskommission den Entwurf einer Deklaration über Menschenrechte vor, in der das NCSL-Prinzip in Art. 7 zu finden war. Art. 7 Abs. 1 schrieb das NCSL-Prinzip vor, ohne eine spezifische Rechtsquelle zu erwähnen: „No person shall be held guilty of any offence on account of any act or omission which did not constitute such an offence at the time when it was committed“. Art. 7 Abs. 2 enthielt die Nürnberger Klausel.35 Das NCSL-Prinzip und die Nürnberger Klausel erschienen in gleicher Weise auch im Entwurf der Konvention, nämlich in Art. 14 Abs. 1 und 2.36 Die Menschenrechtskommission erhielt mehrere, von verschiedenen Staaten hervorgebrachte Kommentare hinsichtlich der Entwürfe der Deklaration und der Konvention. Die Nürnberger Klausel wurde von drei der vier Staaten kritisiert, die Kommentare zu dem NCSL-Prinzip vorlegten (Brasilien, die Vereinigten Staaten und Ägypten). Bemängelt wurde vor allem, dass sie angeblich das NCSL-Prinzip aufheben würde.37 Trotzdem erschienen das NCSL-Prinzip und die Nürnberger Klausel wieder in der dargestellten Weise im vom Drafting Committee der Menschenrechtskommission erarbeiteten Bericht vom 21.05.1948.38 Dieses Mal wurden das Prinzip und die Klausel jedoch im Entwurf der Deklaration als Art.  8 Abs. 1 und Abs. 2 und im Entwurf der Konvention als Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 eingegliedert. Die Menschenrechtskommission diskutierte vom 24.05.1948 bis 18.06.1948 in ihrer dritten Sitzung diesen Bericht und beschäftigte sich mit jeder Bestimmung des Entwurfs der Deklaration (article by article).39 Sie änderte Art. 8 32

Siehe Doc. E/CN.4/58 (Belgian Amendment to Article 10 of the Declaration). Vgl. Doc. E/CN.4/SR.36 (Commission on Human Rights, second session, summary r­ ecord of the thirty-sixth meeting), S. 11–13; sogar der chinesische Vertreter schlug in Bezug auf die vorgeschlagene Nürnberger Klausel vor, den Satz „constitutes a grave crime against humanity“ einzugliedern (dies wurde aber abgelehnt), ebd., S.  13–14; siehe auch Doc. E/CN.4/SR.37 (Commission on Human Rights, second session, summary record of the hirty-seventh meet­ ing), S. 3. 34 Ebd., S. 4. 35 Siehe Doc. E/600, S. 15. 36 Ebd., S. 27. 37 Siehe Doc. E/CN.4/85 vom 01.05.1948 (Commission on Human Rights, third session, collation of the comments of governments), S. 20 und 76. 38 Siehe Doc. E/CN.4/95 vom 21.05.1948 (Report of the Drafting Committee to the Commission on Human Rights, second session), S. 6 und 29. 39 Siehe Doc. E/800 vom 28.06.1948 (Report of the Third Session of the Commission on­ Human Rights), S. 5. 33

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

bzgl. des NCSL-Prinzips und entfernte die Nürnberger Klausel. Daraus ergab sich der Vorschlag für die Deklaration, den die Menschenrechtskommission dem Wirtschafts- und Sozialrat der VN schließlich vorlegte. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission dem Wirtschafts- und Sozialrat gleichzeitig den Entwurf der Konvention präsentierte. Aus Zeitgründen diskutierte die Kommission diesen Entwurf jedoch nicht.40 Deswegen bekam der Wirtschafts- und Sozialrat zugleich zwei verschiedene Versionen des NCSL-Prinzips. Art. 14 des Entwurfs der Konvention enthielt noch die Nürnberger Klausel.41 Die Version des NCSL-Prinzips, die die Menschrechtskommission präsentierte und mehr oder weniger in gleicher Weise in der AEM zu finden ist, enthält die Nürnberger Klausel nicht. Stattdessen bezieht sie sich lediglich auf „any act or omission which did not constitute an offence, under national or international law“. Dies wurde von einem Unterausschuss der Kommission verfasst.42 In der Diskussion, die diesbezüglich in der Menschenrechtskommission stattfand, schlug der belgische Vertreter vor, den Satz „the general principles of“ vor „international law“ einzugliedern, um die Auslegung dieser Bestimmung nur im Sinne des geschriebenen Völkerrechts zu verhindern.43 Dies wurde vom französischen Vertreter unterstützt.44 Obwohl dieser Vorschlag nicht akzeptiert wurde, wurde aus diesem Grund klargestellt, dass der Ausdruck „under […] international law“ im Sinne von Art. 38 IGH-Statut ausgelegt werden sollte, d. h., dass diese Bestimmung sowohl völkerrechtliche Verträge als auch Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze umfasste.45 Der Wirtschafts- und Sozialrat präsentierte der Generalversammlung der VN den Entwurf der Deklaration über Menschenrechte,46 der zuerst innerhalb des Dritten Ausschusses diskutiert wurde. In diesem Kontext drückte der belgische Vertreter wieder die Sorge aus, dass diese Bestimmung als Fundament für die Kritik am Nürnberger Urteil dienen könne und behauptete, dass es wichtig sei, zu klären, dass sie dem Nürnberger Urteil nicht widerspreche.47 Allerdings behaupteten mehrere Staaten in diesem Zusammenhang, dass die Bestimmung über das NCSLPrinzip weder dem Nürnberger noch dem Tokioter Urteil entgegenstehe.48 Deswe 40

Ebd. Ebd., S. 11 (Deklaration), 27 (Konvention). 42 Dieser Unterausschuss bestand aus den Vertretern von China, Frankreich, Indien, Vereinigtes Königreich und Jugoslawien, siehe Doc. E/CN.4/109 vom 02.06.1948. 43 Siehe Doc. E/CN.4/SR.56 vom 04.06.1948 (Commission on Human Rights, summary­ record of the fifty-sixth meeting), S. 4 44 Ebd. 45 Ebd., S. 6–7. 46 Vgl. Wirtschafts- und Sozialrat der VN, Resolution 151 (VII) vom 26.08.1948. 47 Siehe Doc. A/C.3/SR115 vom 28.10.1948 (General Assembly 3rd session – 3rd Committee, meeting records), S. 266. 48 Wie z. B. Kuba, Australien, die Sowjetunion, Jugoslawien und das Vereinigte Königreich, siehe Doc. A/C.3/SR.116 vom 29.10.1948 (General Assembly 3rd session – 3rd Committee, meeting records), S. 267, 268, 270. 41

A. Kriminalisierung im Völkerrecht und die Nürnberger Klausel

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gen sei es nicht notwendig gewesen, einen expliziten Verweis auf diese Strafprozesse in der Deklaration aufzunehmen. Der französische Vertreter, René Cassin, argumentierte immerhin, dass es sich nicht um eine nachträgliche Legitimation dieser Urteilen handele, sondern um die Bestätigung der Prinzipien, die sich daraus ergäben.49 Die Bestimmung über das NCSL-Prinzip wurde jedenfalls ohne weitere Änderungen im Dritten Ausschuss aufgenommen, obwohl keine Einigkeit über ihren Inhalt bestand. Die Vertreter von Venezuela, Mexiko und Kuba behaupteten beispielsweise, dass sie unter „international law“ nur „positive international law“ verstünden, während der sowjetische Vertreter diesen Ausdruck als „the spirit as well as the letter of international law“ definierte. René Cassin führte auch insofern aus, dass „international law“ seiner Delegation zufolge „positive law, both customary and written“ bedeutete.50 Im Ergebnis wurde die AEM, einschließlich auch Art. 11 Abs. 2 über das NCSL-Prinzip, ohne die Nürnberger Klausel von der Generalversammlung der VN einstimmig aufgenommen.51

II. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte Der IPBPR wurde durch die Resolution 2200A (XXI) (16.12.1966) von der Generalversammlung der VN aufgenommen. Allerdings trat dieser als völkerrechtlicher Vertrag erst ein Jahrzehnt später in Kraft (23.03.1976). Der Pakt hat zurzeit 168 Vertragsstaaten.52 Das NCSL-Prinzip ist in Art. 15 IPBPR definiert und in Art. 4 Abs. 2 IPBPR als eines der Rechte erwähnt, das in Fällen öffentlichen Notstands nicht außer Kraft gesetzt werden darf. Art. 15 Abs. 1 besagt in einer der AEM sehr ähnlichen Weise, dass niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden darf, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war.53 Im Unterschied zur AEM befindet sich jedoch in Art. 15 Abs. 2 IPBPR auch die sog. Nürnberger Klausel, mit folgender Formulierung: „Dieser Artikel schließt die Verurteilung oder Bestrafung einer Person wegen einer Handlung oder Unterlassung nicht aus, die im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von der Völkergemeinschaft anerkannten allgemeinen

49

Ebd., S. 271. Ebd., S. 274–275. 51 YUN 1948–1949, S 534–535; die AEM wurde mit 48 Stimmen aufgenommen. Allerdings mit acht Stimmenthaltungen: Belarus, der Tschechoslowakei, Polen, Saudi-Arabien, Südafrika, die Sowjetunion, der Ukraine und Jugoslawien, vgl. Glendon, Notre Dame L. Rev. 1997–1998, 1153 (1162). 52 Siehe die Webseite vom Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights unter http://indicators.ohchr.org/ (zuletzt aufgerufen am 28.06.2016). 53 Art. 15 Abs. 1 IPBPR sieht auch das Prinzip nullum poena sine lege und die Anwendbarkeit des milderen Rechts vor. 50

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Rechtsgrundsätzen strafbar war“.54 Die Verbindung mit dem Nürnberger Urteil ist somit im IPBPR explizit. Trotzdem ist umstritten, was genau mit dieser Klausel gemeint ist, vor allem, weil Art. 15 sich im ersten Absatz auch auf das Völkerrecht bezieht (genauso wie die AEM). Aus diesem Grund ist es auch für das Verständnis dieser Norm notwendig, einige Aspekte ihres Entwurfsprozesses kurz zu thematisieren.55 Es muss hier daran erinnert werden, dass die Menschenrechtskommission dem Wirtschafts- und Sozialrat am 28.06.1948 als Ergebnis ihrer dritten Sitzung einen Entwurf einer Konvention über Menschenrechte zusammen mit dem Entwurf der AEM vorlegte.56 Art. 14 Abs. 1 des Entwurfs der Konvention (zukünftiger Art. 15 IPBPR), in welchem das NCSL-Prinzip vorgesehen war, erwähnte das Völkerrecht nicht,57 während Art. 14 Abs. 2 jedoch die Nürnberger Klausel vorsah. Wie oben erwähnt, war dieser Entwurf aus Zeitgründen von der Menschenrechtskommission nicht diskutiert worden. Die Kommission diskutierte ihn erst 1949 in ihrer fünften Sitzung, nachdem die Generalversammlung der VN die AEM beschlossen hatte. Während dieser Sitzung schlug der Vertreter der Vereinigten Staaten eine Bestimmung über das NCSL-Prinzip vor, deren Wortlaut das Rückwirkungsverbot auf das geschriebene nationale Recht beschränkte.58 Die Absicht dahinter war, die Anwendung des Rückwirkungsverbots auf die Rechtsprechung auszuschließen.59 Dies wurde jedoch von einigen Mitgliedern der Kommission kritisiert, vor allem von René Cassin, der im Gegensatz dazu empfahl, den gleichen Wortlaut von Art. 11 Abs. 2 AEM, in dem das Völkerrecht als legitime Grundlage einer Verurteilung explizit erwähnt wird, im IPBPR aufzunehmen.60 Zugleich wurden erneut Bedenken in Bezug auf die Nürnberger Klausel geäußert, insbesondere, dass sie zu unbestimmt sei und deshalb eine strafrechtliche Verurteilung nicht begrün-

54 Siehe die deutsche Fassung unter http://www.zivilpakt.de/ (zuletzt aufgerufen am 28.06.2016). 55 Siehe dazu Gallant, S. 178 ff.; Boot, S. 131 ff. 56 Siehe Doc. E/800 vom 28.06.1948; die Dokumente des Entwurfsprozesses vom IPBPR können in der Webseite der Universität von Virginia (University of Virginia School of Law) eingesehen werden: http://hr-travaux.law.virginia.edu/international-conventions/internationalcovenant-civil-and-political-rights-iccpr (zuletzt aufgerufen am 28.06.2016); auch in Bossuyt (Hrsg.), Guide. 57 Nach dieser Bestimmung: „No one shall be held guilty of any offence […] which did not constitute such an offence at the time when it was committed“, Doc. E/800, S. 27. 58 Der Vorschlag der Vereinigten Staaten lautete: „No State shall enact any penal laws making punishable any act or omission which did not constitute  a penal offense at the time it was committed“, siehe Doc. E/CN.4/170 vom 06.05.1949, S. 27; siehe auch Doc. E/CN.4/253 vom 24.05.1949, S. 3, mit den verschiedenen Vorschlägen, die während der fünften Sitzung der Menschenrechtskommission in Bezug auf Art. 13, 14 und 15 Entwurf von 1948 gemacht wurden. 59 Vgl. Doc. E/CN.4/SR 112, S. 4 (Commission on Human Rights, Fifth Session, Summary Record of the Hundred and Twelfth Meeting, 3 June 1949). 60 Ebd., S. 8; siehe auch Doc. E/CN.4/228 und Doc. E/CN.4/253, S. 3.

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den könne.61 Infolgedessen wurde die Nürnberger Klausel abgelehnt und Cassins Vorschlag übernommen.62 Aus den Diskussionen der fünften Sitzung der Menschenrechtskommission sind insbesondere die folgenden drei Punkten hervorzuheben, da sie helfen können, den Zusammenhang zwischen den Absätzen 1 und 2 des Art. 15 IPBPR besser zu verstehen. Zuerst ist zu betonen, dass der französische Vertreter, René Cassin, mit dem Ausschluss der Nürnberger Klausel aus dem Pakt nur insoweit einverstanden war, sofern die Kommission den Text von Art. 11 Abs. 2 AEM, der die strafrechtliche Verurteilungen nach dem Völkerrecht explizit erwähnt, aufnimmt.63 Deswegen, zweitens, bezeichnete der Vertreter der Vereinigten Staaten Cassin Vorschlags, d. h. die Aufnahme der Formulierung „under national or international law“, als eine „Fusion“ der zwei ursprünglich von der Menschenrechtskommission vorgelegten Absätze: Art. 14 Abs. 1 des Entwurfs von 1948, wobei das Völkerrecht nicht erwähnt war, und Art. 14 Abs. 2, worin die Nürnberger Klausel erschien.64 Drittens erklärte Cassin als Schlussfolgerung dieser Diskussion, dass der Vorschlag, das Völkerrecht im Rahmen des NCSL-Prinzips explizit zu erwähnen, sowohl im Hinblick auf die Vergangenheit als auch in Bezug auf die Zukunft sinnvoll sei.65 Im Hinblick auf die Vergangenheit solle es bestätigen, dass die Menschenrechtskommission keine Absicht habe, die Legitimität des Nürnberger Urteils zu leugnen. In Bezug auf die Zukunft solle es die Individuen vor der willkürlichen Ausübung von Strafgewalt sogar auf internationaler Ebene schützen. Daraus ergibt sich, dass der Ausdruck „under […] international law“ des Art. 15 Abs. 1 IPBPR und die Nürnberger Klausel sich zumindest teilweise überlappen. Sie wurden mit dem gleichen Ziel konzipiert, obwohl der Ausdruck „under […] international law“ einigen Staaten zufolge konkreter als die Klausel sei.66 Die Menschenrechtskommission erhielt 1950 von verschiedenen Regierungen Kommentare und Vorschläge über den Entwurf des Paktes. Unter anderem schlug das Vereinigte Königreich erneut vor, die Nürnberger Klausel im IPBPR ein­ zugliedern.67 Deshalb diskutierte die Kommission ein weiteres Mal in ihrer sechs 61 Die folgenden Staaten äußerten sich gegen die Aufnahme der Nürnberger Klausel: Ägypten (Doc. E/CN.4/SR 112, S. 2), Indien (ebd., S. 5), Guatemala (ebd.), die Philippinen (ebd.), Uruguay (ebd.) und Libanon (ebd.). Eigentlich waren das Vereinigte Königreich und die Sowjetunion nahezu die einzigen Staaten, die die Nürnberger Klausel in der Menschenrechtskommission nachdrücklich verteidigten (ebd., S. 7 und 10). 62 Ebd., S. 10. 63 Ebd., S. 3. 64 Eleanor Roosevelt, Vertreterin der Vereinigten Staaten, behauptete insofern: „The French amendment suggested a merger of the two paragraphs, using the words of the Declaration [of Human Rights]“, ebd., S. 4. 65 Ebd., S. 8. 66 Nur die Philippinen bezog sich in diesen Diskussionen auf die Nürnberger Klausel als eine Ausnahme des NCSL-Prinzips, ebd., 5.  67 Vgl. Doc. E/CN.4/365 vom 22.03.1950 (Compilation of the Comments of Governments on the Draft International Covenant on Human Rights), S. 42.

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ten Sitzung darüber. Die Meinungen dazu waren weiterhin geteilt. Laut dem Vertreter des Vereinigten Königreichs war es notwendig, im Pakt hervorzuheben, dass Verurteilungen wegen Handlungen, die weder vom Völkerrecht noch vom nationalen Recht explizit verboten waren, zulässig sein könnten, wenn sie „general principles of law recognized implicitly in both national and international legislation“ verletzen.68 Der chilenische Vertreter behauptete in ähnlicher Weise sogar, dass diese Klausel eine Ausnahme bilden würde, in dem Sinne, dass sie die von nationalen Richtern verhängten, aber auf dem Völkerrecht beruhenden Verurteilungen erlauben würde.69 Die Vertreter der Staaten, die die Aufnahme der Nürnberger Klausel kritisierten, behaupteten dagegen vor allem, dass sie überflüssig sei, weil der erste Absatz der Bestimmung über das NCSL-Prinzip sich auf das Völkerrecht beziehe und dies bereits in Übereinstimmung mit Art. 38 Abs. 1 (c) IGH-Statut die von den „Kulturvölkern“ anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze (general principles of law recognized by civilized nations) umfassen würde.70 Eleanor Roosevelt betonte insofern zu Recht, dass es Rechtsgrundsätze außerhalb des nationalen oder des internationalen Rechts nicht gebe.71 Trotzdem stimmte die Kommission dem Vorschlag des Vereinigten Königreichs zu, und auf diese Weise wurde die Nürnberger Klausel im Entwurf des IPBPR wieder eingegliedert.72 Als Ergebnis dieser Entscheidung beinhaltet die Bestimmung über das NCSL-Prinzip zum einen im ersten Absatz den allgemeinen Verweis auf das Völkerrecht, was die drei in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut erwähnten Völkerrechtsquellen umfasst, und zum anderen im zweiten Absatz den Verweis auf eine bestimmte Völkerrechtsquelle, d. h. auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass diese Version der Bestimmung über das NCSL-Prinzip im selben Jahr (1950) ebenfalls im Rahmen der EMRK (Art. 7) aufgenommen wurde. Dies soll später in diesem Abschnitt thematisiert werden. Die Menschenrechtskommission nahm die Diskussion über das NCSL-Prinzip und die Nürnberger Klausel erneut 1952 in ihrer achten Sitzung auf. Obwohl die Debatte über die Nürnberger Klausel auch hier stattfand und mehr oder weniger die gleichen Argumente wiederholt wurden,73 wurde diese Bestimmung im 68

Vgl. Doc. E/CN.4/SR.159 vom 27.04.1950 (Commission on Human Rights, Sixth Session, Summary Record of the Hundred and Fyfty-Ninth Meeting, 19, 04, 1950), S. 12. 69 Ebd., S. 15. 70 Die folgenden Staaten äußerten sich in der sechsten Sitzung der Menschenrechtskommission gegen die Annahme der Nürnberger Klausel: die Vereignigten Staaten, China, Dänemark, Indien, Belgien Uruguay und Australien, ebd., S. 11 ff. 71 Ebd., S. 17. 72 Die folgenden Staaten unterstützten die Annahme der Nürnberger Klausel: Das Vereinigte Königreich, Libanon, Griechenland, Frankreich, Yugoslawien, Chile. Die Nürnberger Klausel wurde mit sieben Stimmen dafür, sechs Stimmen dagegen und zwei Enthaltungen aufgenommen, ebd., S. 11 ff. und 19.  73 Vgl. Doc. 2256 supplement 4 (Commission on Human Rights, Report to the Economic and Social Council on the eighth session of the Commission, held in New York, from 14 April to 14 June 1952), S. 33; für die Diskussionen siehe auch Doc. E/CN.4/SR. 324, S. 4 ff.

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Wesentlichen nicht mehr verändert. Wie bereits erwähnt, nahm die Generalversammlung der VN 1966 den Pakt auf. Die Bestimmung über das NCSL-Prinzip erlangte aber 1952 in der achten Sitzung der Menschenrechtskommission ihre endgültige Gestalt. Der Ausdruck „general principles of law recognized by civilized nations“ wurde in dieser Sitzung durch den Satz „general principles of law recognized by the community of nations“ ersetzt. Denn mehrere Staaten, z. B. die Sowjetunion, Jugoslawien und Chile, hatten zuvor Kritik wegen der diskriminierenden und kolonialistischen Konnotation der ursprünglichen Formulierung geäußert.74 Der neue Satz wurde 1952 vom Vereinigten Königreich und von Frankreich vorgeschlagen. Diese Modifikation änderte jedoch nicht die Bedeutung der Nürnberger Klausel.75 Der Dritte Ausschuss der Generalversammlung der VN diskutierte 1960 über das NCSL-Prinzip und die Nürnberger Klausel. In diesem Kontext wurden auch verschiedene Auffassungen vertreten. In Bezug auf den ersten Absatz schlugen Argentinien und Jemen beispielsweise vor, den Ausdruck „under national or international law“ durch den Ausdruck „under the applicable law“ zu ersetzen.76 Da das Völkerstrafrecht noch nicht vollständig entwickelt sei, könnte der Verweis auf das Völkerrecht verhindern, dass einige Staaten diese Bestimmung akzeptierten.77 Der Satz „under the applicable law“ sollte somit einen umfassenden Ausdruck bilden, der es erlauben würde, sowohl auf der Grundlage des nationalen Rechts als auch des Völkerrechts (wenn nötig) zu bestrafen.78 Argentiniens und Jemens Vorschlag wurde allerdings von Indien, dem Vereinigten Königreich, Pakistan und Holland kritisiert, weil dieser zu vage und deswegen verwirrend sei.79 Diese Staaten behaupteten ferner, dass die Existenz des Völkerstrafrechts zu diesem Zeitpunkt nicht bezweifelt werden könne, obwohl es noch nicht voll entwickelt sei.80 Der Vorschlag wurde also nicht angenommen.81 Der von Argentinien und Jemen vorgeschlagene Ausdruck erscheint allerdings in Art. 9 der AMRK, die im Jahr 1969 unterzeichnet wurde. Die Nürnberger Klausel wurde auch im Kontext des Dritten Ausschusses kritisiert und zugleich unterstützt. Im Wesentlichen wurden die Argumente wiederholt, die in den Diskussionen der Menschenrechtskommission eine Rolle gespielt hatten. Die Kritiker der Klausel hielten beispielsweise weiterhin daran fest, dass der Ausdruck „general principles of 74 Vgl. Doc. E/CN.4/SR.159 vom 27.04.1950 (Commission on Human Rights, Sixth Session, Summary Record of the Hundred and Fyfty-Ninth Meeting, 19, 04, 1950), S. 11 ff. 75 Vgl. Doc. 2256, 2256 supplement 4 (Commission on Human Rights, Report to the Economic and Social Council on the eighth session of the Commission, held in New York, from 14 April to 14 June 1952), S. 33; siehe dazu Gallant, S. 188–189. 76 Siehe Bossuyt (Hrsg.), Guide, S.  325 (Doc. A/C.3/SR.1007, 1008, 1009, 1010, 1011, 1012, 1013, 1014 und A/C.3/SR.290, § 68). 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Ebd.

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law“ zu unbestimmt sei und deswegen keine Bedeutung im rechtlichen Sinne haben könne.82 Die Staaten, die die Aufnahme der Klausel unterstützten, stellten damals eigentlich klar, dass sie nicht nur hinsichtlich der Verurteilungen in der Nachkriegszeit, sondern auch in Bezug auf die Zukunft wichtig sei.83 Wie René Cassin im Rahmen der Diskussionen über die AEM behauptete, handelte es sich nicht nur um die Bestätigung der dem Nürnberger Urteil zugrunde liegenden Prinzipien. Die Nürnberger Klausel sollte auch die Bestrafung solcher Gräueltaten sichern, falls sie erneut begangen würden.84 Die Nürnberger Klausel wurde trotz aller Auseinandersetzung in den IPBPR aufgenommen. Diesbezüglich betont Gallant, dass die stärkste Opposition aus lateinamerikanischen Ländern stamme, deren Strafrechtssysteme unter der Civil-Law-Tradition eingestuft werden können. Im Unterschied dazu stimmte jedoch keines der „common law countries“ dagegen.85

III. Die Europäische Menschenrechtskonvention Das NCSL-Prinzip ist auch in der EMRK vorgesehen, die am 04.11.1950 vom Europarat verabschiedet worden und am 03.09.1953 in Kraft getreten ist. Art. 7 EMRK ist nahezu in Übereinstimmung mit Art. 15 IPBPR verfasst. Im ersten Absatz des Art. 7 EMRK befindet sich unter der Überschrift „keine Strafe ohne Gesetz“86 die allgemeine Formel des NCSL-Prinzips zusammen mit dem Prinzip

82 Wie z. B. Argentinien, Saudi-Arabien, Brasilien und Paraguay (ebd., S. 331); siehe auch Doc. A/4625 vom 08.12.1960 (United Nations General Assembly, Fifteenth Session, Report of the Third Committee), S. 4. 83 Siehe Doc. A/4625 vom 08.12.1960, S. 4. 84 Im Bericht des Dritten Ausschusses wurde auf die folgende Weise das Ziel der Nürnberger Klausel verdeutlicht: „[T]he draft Covenants were intended to be more than merely legal instruments. They were a proclamation of fundamental rights and freedoms and should not simply reflect the present situation but be an instrument of progress. Moreover, retention of paragraph 2 would eliminate any doubts regarding the legality of the judgements rendered by the Nurnberg and the Tokyo tribunals […] The provision of paragraph 2 […] would ensure that if in the future crimes should be perpetrated similar to those punished at Nurnberg, they would be punished in accordance with the same principles“, ebd.; in diesem Sinne äußerten sich auch z. B. Polen, Jugoslavien und Bulgarien (Bossuyt (Hrsg.), Guide, S. 332). 85 Vgl. Gallant, S.  191, auch Saudi-Arabien, Spanien, China, Italien, Japan und Libanon stimmten gegen die Klausel; Marokko, Somalia, der Sudan, die Vereinigte Arabische Republik, Jemen, Afghanistan, Indonesien, der Iran, der Irak, Jordanien und Libyen stimmten dafür. 86 Englische Fassung: „No punishment without law“, spanische Fassung: „No hay pena sin ley“, französische Fassung: „Pas de peine sans loi“, italienische Fassung: „Nulla poena sine lege“; obwohl die deutsche (Gesetz), spanische („ley“), französische („loi“) und italienische Fassung („lege“) der Überschrift sich anscheinend auf geschriebenes Recht bezieht (anders als die englische Fassung), setzt Art. 7 Abs. 1 EMRK das Bestehen einer geschriebenen Norm nicht voraus. Dies ist von der Rechtsprechung der EGMR anerkannt worden, wie es im ersten Kapitel bereits behauptet wurde und im vorliegenden Abschnitt weiter veranschaulicht wird.

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nullum poena sina lege87 und im zweiten Absatz des Art. 7 EMRK erscheint die Nürnberger Klausel.88 Diesbezüglich sollen zwei Aspekte berücksichtigt werden. Zum einen ist der Einfluss der AEM und des IPBPR auf Art. 7 EMRK zu erwähnen. Zum anderen muss der Einfluss des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher auf die Rechtsprechung des EGMR berücksichtigt werden. Im Entwurfsprozess der EMRK wurden sowohl die AEM als auch der damalige Entwurf vom IPBPR berücksichtigt. In den ersten Vorschlägen zu einer europäischen Menschenrechtskonvention, die 1949 innerhalb der Beratenden Versammlung des Europarats gemacht wurden, wurde nur eine generelle Bestimmung als Art. 2 Abs. 3 empfohlen, die zwar auf Art. 11 AEM verweisen, aber das NCSLPrinzip nicht definieren sollte.89 Ein Jahr später wurden zwei weitere Alternativen, in denen das NCSL-Prinzip explizit formuliert wurde, während der ersten Sitzung (02.–08.02.1950) des Expertenausschusses über Menschenrechte des Europarats diskutiert. In diesem Kontext schlug Schweden vor, einen dritten Absatz zu Art. 2 hinzuzufügen, dem zufolge jeder Staat sich das Recht zur Anwendung des jeweiligen nationalen Rechts, das zum Zeitpunkt der Begehung eines Verbrechen gültig gewesen wäre, vorbehalten könne.90 Dieser Vorschlag wurde jedoch zurückgezogen, unter der Voraussetzung, dass im Rahmen der Begründung des Expertenausschusses (Statement of Reasons) erklärt werde, dass die Staaten nicht dazu verpflichtet seien, eine internationale Norm anzuwenden, wenn diese ursprünglich nicht in die nationale Rechtsordnung inkorporiert war.91 Im Unterschied dazu schlug Luxemburg als dritten Absatz des Art. 2 eine Formulierung vor, die sowohl das NCSL-Prinzip, wie es in der AEM vorgesehen ist, als auch die Nürnberger Klausel umfasste.92 Die Intention hierbei war, keine Zweifel an

87 Laut Art.  7 Abs.  1: „Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden“. 88 Laut Art. 7 Abs. 2.: „Dieser Artikel schließt nicht aus, dass jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war“. 89 Siehe „Draft Recomendation presented on the 7th September, 1949 by the Committee on Legal and Administrative Questions to the Consultative Assembly“, in Doc. DH (57) 6 vom 21.05.1957 (European Commission on Human Rights, Preparatory Work on Article 7), S. 2–3, verfügbar unter: http://www.echr.coe.int/Documents/Library_TravPrep_Table_ENG.pdf (zuletzt aufgerufen am 07.07.2016); der Vorschlag lautete: „Article 2. – In this Convention, the Members States shall undertake to ensure to all persons residing within their territories: 3.- Freedom from arbitrary arrest, detention, exile, and other measures, in accordance with Articles 9, 10 and 11 of the United Nations Declaration“. 90 Ebd., S. 4–5. 91 Siehe Report of the Sub-Committee instructed to undertake a preliminary examination of the Amendments moved by members of the Committee of Experts, ebd., S. 6 92 Siehe Amendment proposed by M. Félix Welter, ebd., S. 5–6.

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die Legitimität des Nürnberger Prozesses zu verursachen.93 Deswegen behauptete der Expertenausschuss in seinem Bericht: „With regard to the principle that ­penal laws should not be retrospective […], the Committee stressed that this text did not affect laws passed at the end of the world war to suppress war crimes“.94 Im Ergebnis legte der Expertenausschuss jedoch die Bestimmung über das NCSLPrinzip vor, die mit jener der AEM übereinstimmte und die Nürnberger Klausel nicht enthielt.95 Das Vereinigte Königreich schlug allerdings während der zweiten Sitzung des Expertenausschusses vor (06.–10.03.1950), eine Bestimmung über das NCSLPrinzip als Art. 9 aufzunehmen, das derjenigen des IPBPR entsprach.96 Als Resultat ihrer zweiten Sitzung legte der Expertenausschuss folglich zwei Alternativen vor. Die erste Alternative [Art. 2 Abs. 3 (d)] orientierte sich an der Formulierung der AEM. Die andere (Art. 8) glich derjenigen des IPBPR.97 In der second draft Convention, die später im Rahmen der Konferenz von „Senior ­Officials“ über Menschenrechte aufgenommen wurde (08.–17.06.1950), erschien allerdings nur die zweite Alternative, d. h. das NCSL-Prinzip und die Nürnberger Klausel, wie sie in den IPBPR inkorporiert wurde.98 Dies ist der Text, der vom Ministerkomitee auf seiner fünften Sitzung (07.08.1950) sowie von der Beratenden Versammlung auf ihrer zweiten Sitzung (08.1950) aufgenommen wurde und welcher letztlich in der EMRK zu finden ist.99 Dieser Prozess erlaubt die Behauptung, dass die in Bezug auf die AEM und auf den IPBPR stattgefundenen und im vorliegenden Kapitel bereits dargestellten Diskussionen betrachtet werden müssen, um Art. 7 EMRK verstehen zu können.100 Der Einfluss des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher beschränkt sich nicht nur auf den zweiten Absatz des Art. 7 EMRK. Denn „der Geist von Nürnberg“ ist mehrmals auch in der Rechtsprechung des EGMR über Art. 7 EMRK widergespiegelt worden.101 Der EGMR hat sich mit verschiedenen Aspekten dieser Norm auseinandergesetzt, darunter: die Bedeutung des Wortes „Recht“,

93

Ebd. Vgl. Preliminary draft Report of the Committee of Experts on Human Rights to the Committee of Ministers, ebd., S. 7. 95 Vgl. Preliminary draft Convention for the Maintenance and further realisation of Human Rights and fundamental freedoms, ebd. 96 Vgl. Amendments proposed to the Preliminary draft Convention by the representative of the United Kingdom, ebd., S. 8. 97 Ebd., S. 9. 98 Ebd., S. 11. 99 Ebd., S. 12–13. 100 Vgl. Schabas, The European Convention, S. 353: „[T]he real debate about the text and the relationship between paragraphs 1 and 2 took place in sessions of the United Nations Commission on Human Rights“. 101 Ebd., S. 330, Schabas bezieht sich auf „the spirit of the Nuremberg judges“; siehe auch Schabas, J. Int’l Crim. Just. 2011, 609 (609–610, 615). 94

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der Zusammenhang zwischen Rechtsprechung und NCSL-Prinzip und die Anwendung völkerrechtlicher Normen durch nationale Gerichte. Die Kriterien, die der EGMR bzgl. des NCSL-Prinzips festgelegt hat, können somit in zwei Gruppen gegliedert werden. Zum einen müssen die Kriterien erwähnt werden, die sich auf das NCSL-Prinzip im Allgemeinen beziehen. Zum anderen sind die Kriterien zu thematisieren, die insbesondere mit der Strafverfolgung internationaler Verbrechen auf nationaler Ebene bzw. mit der Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen zu tun haben. In Bezug auf die Kriterien, die sich auf das NCSL-Prinzip im Allgemeinen beziehen, muss zuerst erwähnt werden, dass der EGMR das NCSL-Prinzip als eines der wichtigsten Prinzipien des Rechtsstaats bzw. der rule of law betrachtet. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass das NCSL-Prinzip laut Art. 15 Abs. 2 EMRK nicht einmal in Notstandsfällen außer Kraft gesetzt werden kann.102 Darüber hinaus hat der EGMR anerkannt, dass Art. 7 Abs. 1 EMRK nicht nur die rückwirkende Schaffung strafrechtlicher Normen, sondern auch die Analogie zulasten des Täters verbietet.103 Die strafbaren Handlungen sollen gemäß Art. 7 Abs. 1 EMRK rechtlich und im Voraus bestimmt werden. Der EGMR hat aber auch präzisiert, wie bereits im ersten Kapitel erwähnt,104 dass das Wort „Recht“ in diesem Kontext sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht umfasst, darunter auch die Rechtsprechung.105 Der EGMR hat mehrfach die Rolle der Rechtsprechung im Lichte der Rechtssicherheit und zugleich im Hinblick auf die progressive Entwicklung der Rechtsordnung betont. Der EGMR geht davon aus, dass jede Rechtsordnung in einem gewissen Grad vage bzw. unbestimmt sei, insbesondere wenn es um geschriebene Normen gehe, die nicht kasuistisch, sondern generell und abstrakt verfasst seien.106 Dies sei unvermeidlich und verstoße per se nicht gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK. Die Rechtsprechung solle also den Sinn des geltenden Rechts erläutern und damit zur 102 Vgl. folgende Fälle: EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para. 34; EGMR, Streletz, Kessler and Krenz v. Germany, 2001, Para. 50; EGMR, K.-H. W. v. Germany, 2001, Para. 45; EGMR, Korbely v. Hungary, 2008, Para. 69; EGMR, Ould Dah v. France, 2009; EGMR, Scoppola v. Italy, 2009, Para. 92; EGMR, Šimšić v. Bosnia and Herzegovina, 2012, Para. 22; EGMR, Del Río Prada v. Spain, 2013, Para. 77; EGMR, Vasiliauskas v. Lithuania, 2015, Para. 153. 103 Siehe z. B. EGMR, Kokkinakis v. Greece, 1993, Para. 52; EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para. 35; EGMR, Cantoni v. France, 1996, Para. 29; EGMR, Coëme and others v. Belgium, 2000, Para. 145; EGMR, Achour v. France, 2006, Para. 41; EGMR, Custers, Deveaux and Turk v. Denmark, 2007, Para. 76; siehe dazu Boot, S. 148. 104 Siehe oben, erstes Kapitel, B. I. 4. 105 Siehe z. B. EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para. 35; EGMR, Streletz, Kessler and Krenz v. Germany, 2001, Para. 50; EGMR, K.-H. W. v. Germany, 2001, Para. 45; EGMR, Jorgic v. Germany, 2007, Para. 100; EGMR, Del Río Prada v. Spain, 2013, Para. 115; siehe dazu Boot, S. 145. 106 Vgl. EGMR, Cantoni v. France, 1996, Para.  31; EGMR, Scoppola v. Italy, 2009, Para. 100; EGMR, Camilleri v. Malta, 2013, Para. 36; EGMR, Del Río Prada v. Spain, 2013, Para. 92.

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Rechtssicherheit beitragen.107 Die Rolle der Rechtsprechung erschöpfe sich jedoch nicht nur in dieser Aufgabe. Denn die Rechtsordnung solle auch fähig sein, sich an neue gesellschaftliche Bedingungen anzupassen. Eine statische Rechtsordnung sei daher im Kontext der EMRK nicht wünschenswert.108 Deswegen spiele die Rechtsprechung dabei auch eine wesentliche Rolle. Die Rechtsprechung solle also im Hinblick auf sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen die progressive Fortentwicklung der Rechtsordnung fördern. Somit schließe Art. 7 Abs. 1 EMRK die richterliche Entwicklung des Rechts nicht aus.109 Laut dem EGMR müssen jedoch hinsichtlich der Definition der strafbewehrten Verbote zwei qualitative Voraussetzungen erfüllt werden, um das NCSL-Prinzip nicht zu verletzen: die Strafbarkeit einer Handlung muss zugänglich und vorhersehbar sein („accessible and foreseeable“).110 Wie in der vorliegenden Arbeit bereits erwähnt, besteht zwischen der Rechtssicherheit und der Flexibilität des Rechts bzw. seiner Anpassungsfähigkeit ein fortwährendes Spannungsverhältnis, das auf verschiedene Weisen gelöst werden kann. Der EGMR hat durch seine Entscheidungen über das NCSL-Prinzip dieses Spannungsverhältnis anerkannt. Um es überwinden zu können, hat der EGMR die Kriterien der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit entwickelt. Dazu hat der EGMR jedoch behauptet, dass sie generell und abstrakt nicht definiert werden könnten.111 Es gebe keinen allgemeingültigen Standard. Vielmehr müssten verschiedene Faktoren betrachtet werden, um diese Kriterien von Fall zu Fall konkretisieren zu können. Heranzuziehende Faktoren könnten beispielsweise der Anwendungsbereich der in Frage stehenden Norm, der konkrete normative Kontext und sogar der Beruf des Angeklagten sein.112 Deswegen kann in diesem Kontext auch von einem subjektiven Verständnis des NCSL-Prinzips gesprochen werden, wie es am Ende des zweiten Kapitels in Bezug auf die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg durchgeführten Strafprozesse erwähnt wurde. Der EGMR hat jedenfalls festgestellt, dass die richterliche graduelle Fortentwicklung des Strafrechts Art. 7 Abs. 1 EMRK nicht verletzt, solange eine solche Entwicklung den Kern

107 Siehe z. B. EGMR, Kokkinakis v. Greece, 1993, Para.  40 und 52; EGMR, S.  W. v. The­ United Kingdom, 1995, Para. 35; EGMR, Cantoni v. France, 1996, Para. 29; EGMR, Achour v. France, 2006, Para. 41; EGMR, Ould Dah v. France, 2009; EGMR, Korbely v. Hungary, 2008, Para. 70; EGMR, Kononov v. Latvia, 2010, Para. 185. 108 Vgl. EGMR, Sunday Times v. the United Kingdom, 1979, Para. 49. 109 Vgl. z. B. EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para.  36; EGMR, K.-H. W. v.­ Germany, 2001, Para. 45; EGMR, Jorgic v. Germany, 2007, Para. 101; EGMR, Korbely v. Hungary, 2008, Para. 71; EGMR, Scoppola v. Italy, 2009, Para. 101; siehe dazu Gallant, S. 217 ff. 110 Vgl. EGMR, Sunday Times v. the United Kingdom, 1979, Para. 49; EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para.  35; laut Schabas befindet sich die Idee vom Nürnberger IMT, nach der die Angeklagten „should have known“, hinter den Voraussetzungen von Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit, Schabas, J. Int’l Crim. Just. 2011, 609 (615); dazu auch Juratowitch, Brit. Y. B. Int’l L. 2005, 337 (347 ff.) und Boot, S. 147 ff. 111 Vgl. EGMR, Groppera Radio AG and others v. Switzerland, 1990, Para. 68. 112 Vgl. EGMR, Kononov v. Latvia, 2010, Para. 235;

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des relevanten strafbewehrten Verbots nicht verändert.113 Dies bedeutet, dass die mögliche Richtung der Änderung des Rechts vernünftigerweise vorhersehbar sein soll. Der entscheidende Punkt ist daher, ob die Strafbarkeit der konkreten Handlung im Lichte der bereits vorliegenden Normen überrascht oder nicht. Die Tatsache, dass dies in jedem konkreten Fall nur mittels der Rechtsprechung möglich gewesen ist114 oder dass der Angeklagte technische bzw. professionelle Beratung benötigte, um die verbotene Handlung konkret erkennen zu können,115 steht der Erfüllbarkeit der Voraussetzungen der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit nicht entgegen. Es muss allerdings behauptet werden, dass die Abgrenzung zwischen dieser richterlichen Rechtsfortbildung und der richterlichen Rechtsschöpfung mitunter schwierig ist. Der EGMR hat diese Kriterien in Fällen angewendet, in denen über Verletzungen von Menschenrechten oder die Strafverfolgung internationaler Verbrechen auf nationaler Ebene diskutiert worden ist. Dazu ist zuerst zu sagen, dass der EGMR die Anwendung nationaler nachträglicher Rechtsnormen auf bereits begangene Taten zugelassen hat, sofern diese Bestimmungen sich auf Handlungen beziehen, die zum Zeitpunkt der Tatbegehung internationale Verbrechen darstellten. Die Fälle Kolk and Kislyiy v. Estonia und Kononov v. Latvia bilden hierfür passende Beispiele. In Kolk and Kislyiy v. Estonia wurden die Beschwerdeführer 2003 in erster Instanz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgrund ihrer Teilnahme an der Deportation estnischer Familien verurteilt.116 Die relevanten Taten fanden 1949 während der sowjetischen Besatzung statt. Im estnischen Strafrecht waren die Verbrechen gegen die Menschlichkeit jedoch erst seit 1994 vorgesehen.117 Laut dem EGMR lag in diesem Fall keine Verletzung des Art. 7 Abs. 1 EMRK vor. Denn die Deportation von Zivilisten war bereits in Art. 6 (c) LC als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert gewesen, und dies wurde 1946 von der Generalversammlung der VN durch die Resolution 95 (I) bestätigt.118 Dem EGMR zufolge stellten diese Verurteilungen keine Verletzung des Art. 7 EMRK dar, selbst dann nicht, wenn die Taten zum Zeitpunkt der Begehung nach dem sowjetischen natio-

113

Vgl. z. B. EGMR, S. W. v. The United Kingdom, 1995, Para. 36; EGMR, Streletz, K ­ essler and Krenz v. Germany, 2001, Para.  50; EGMR, Radio France and others v. France, 2004, Para.  20.; EGMR, Korbely v. Hungary, 2008, Para.  71; EGMR, Scoppola v. Italy, 2009, Para. 101; EGMR, Kononov v. Latvia, 2010, Para. 185. 114 Siehe EGMR, G. v. France, 1995; EGMR, Başkaya and Okçuoğlu v. Turkey, 1999, Para. 39–40; siehe dazu Boot, S. 149–151. 115 Vgl. EGMR, Cantoni v. France, 1996, Para. 35; EGMR, Achour v. France, 2006, Para. 54; EGMR, Scoppola v. Italy, 2009, Para. 102; EGMR, Camilleri v. Malta, 2013, Para. 38; Hinsichtlich der Vorhersehbarkeit, der richterlichen Entwicklung des Rechts und des NCSL-Prinzips siehe Shahabuddeen, J. Int’l Crim. Just. 2004, 1007. 116 Vgl. EGMR, Kolk and Kislyiy v. Estonia, 2006; kritisch in Bezug auf die Begründung aber einverstanden mit dem Ergebnis Cassese, J. Int’l Crim. Just. 2006, 410. 117 Vgl. EGMR, Kolk and Kislyiy v. Estonia, 2006. 118 Ebd.

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nalen Recht rechtmäßig waren.119 In Kononov v. Latvia ging es um eine Entscheidung zweiter Instanz, wobei der Beschwerdeführer wegen Kriegsverbrechen aufgrund von Taten verurteilt wurde, die 1944 begangen wurden.120 Allerdings sind die Kriegsverbrechen erst durch eine Reform von 1993 ins nationale Strafrecht inkorporiert worden.121 Der EGMR (Grand Chamber) sah hier keine Verletzung des Art. 7 EMRK, weil die Exekution von Zivilisten bereits nach der Haager Konvention IV von 1907 über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs ein Kriegsverbrechen darstellte.122 Der EGMR hat dieses Kriterium auch in anderen Fällen wiederholt.123 Deswegen kann festgehalten werden, dass es sich um eine konsolidierte bzw. feste Rechtsprechung handelt. In Fällen dieser Art hat der EGMR jedoch betont, dass das relevante Verbrechen nach der Definition ausgelegt werden soll, die zum Zeitpunkt der Tatbegehung bestand.124 Deswegen hat der EGMR die rückwirkende Anwendung nationaler Normen abgelehnt, die sich auf internationale Verbrechen beziehen, wenn die nationalen Normen zusätzliche neue Elemente enthalten. Gerade dies geschah in Vasiliauskas v. Lithuania. Der Beschwerdeführer war 2004 wegen Völkermord aufgrund seiner Teilnahme an der Tötung von zwei mutmaßlichen Partisanen verurteilt worden.125 Die Tötungen wurden 1953 begangen. Der angewendete nationale Straftatbestand des Völkermords wurde aber erst 1998 in das litauische Strafgesetzbuch inkorporiert.126 Das Problem lag darin, dass die nationale Definition für Völkermord auch soziale und politische Gruppen als geschützte Gruppen er 119 Ebd.; laut Cassese kann dies als eine Bestätigung des Primats des Völkerstrafrechts gegenüber dem nationalen Recht verstanden werden, Cassese, J.  Int’l  Crim.  Just. 2006, 410 ­(416–417). 120 Vgl. EGMR, Kononov v. Latvia, 2010, Para. 12 ff., 30 ff.; siehe dazu Mariniello, Nordic JIL 2013, 221 (241 ff.) 121 EGMR, Kononov v. Latvia, 2010, Para. 47. 122 Ebd., Para. 185 ff. 123 In diesem Sinne können auch die folgenden Fälle erwähnt werden: EGMR, Penart v. Estonia, 2006; EGMR, Korbely v. Hungary, 2008; EGMR, Ould Dah v. France, 2009 und EGMR, Šimšić v. Bosnia and Herzegovina, 2012; obwohl der EGMR in Korbely v. Hungary (2008) annahm, dass eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK nicht vorläge, weil die nationalen Tribunale nicht bewiesen, dass die relevanten Handlungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach der 1956 bestehenden Definition bildeten (Para. 81–84), bestätigt diese Entscheidung immerhin die generelle Regel; zu diesem Fall siehe Mariniello, Nordic JIL 2013, 221 (235–236). 124 Trotzdem hat der EGMR nationale Verurteilungen akzeptiert, in denen die Definition von Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf Taten, die während der Nachkriegszeit begangen wurden (z. B. während der fünfziger Jahren), ohne das Element der Verbindung mit einem Krieg („in connection with or in execution of war crimes or crimes against peace“) angewendet worden ist, siehe z. B. EGMR, Kolk and Kislyiy v. Estonia, 2006; kritisch dazu Cassese, J. Int’l Crim. Just. 2006, 410 (413); siehe auch EGMR, Korbely v. Hungary, 2008, Para. 82 [eigentlich fand der EGMR in dieser Entscheidung eine Verletzung von Art. 7 EMRK, diese basierte aber auf anderen Gründen; siehe dazu Schabas, J. Int’l Crim. Just. 2011, 609 (617–618)]. 125 Siehe EGMR, Vasiliauskas v. Lithuania, 2015, Para. 15 ff. und 29 ff., 163 ff.; siehe kritisch dazu Vest, ZIS 2016, 487; auch Ambos, HRLR 2016, 1.  126 Vgl. EGMR, Vasiliauskas v. Lithuania, 2015, Para. 52 und 165.

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wähnte, während sich die völkerrechtliche Definition seit der Völkermordkonvention von 1948 nur auf nationale, ethnische, rassische und religiöse Gruppen beschränkt.127 Laut dem EGMR (Grand Chamber) sollte ferner das Element „ganz oder teilweise zu zerstören“ („in whole or in part“) in diesem Fall eher quantitativ als qualitativ ausgelegt werden. Dieses Element sollte folglich als die Absicht, „a substantial part of the group“ zu zerstören, interpretiert werden, weil die qualitative Interpretation dieses Elements als einen „distinct“ oder „prominent“ Teil der Gruppe erst in den neunziger Jahren entwickelt wurde.128 Die Aburteilung wegen Völkermord aufgrund des Angriffs auf zwei Personen, die Mitglieder einer bestimmten politischen Gruppe waren, ebenso wie die Anwendung der qualitativen Interpretation des Elements „ganz oder teilweise“, bildete somit im Lichte des Art. 7 Abs. 1 EMRK eine rückwirkende unzulässige Anwendung einer nationalen strafrechtlichen Norm.129 Darüber hinaus behauptete der EGMR, dass die Gleichsetzung einer politischen Gruppe, in diesem Fall die Partisanen, mit einer nationalen Gruppe, d. h. mit der litauischen Nation, eine von Art. 7 Abs. 1 EMRK verbotene Analogie darstelle.130 Das Kriterium, dem zufolge die richterliche graduelle Fortentwicklung des Strafrechts Art. 7 Abs. 1 EMRK nicht verletze, solange eine solche Entwicklung den Kern des relevanten strafbewehrten Verbots nicht verändere, ist in der Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf internationale Verbrechen ebenfalls angewendet worden. Dies geschah in Jorgic v. Germany. In diesem Fall behauptete der Beschwerdeführer, dass die deutschen Tribunale eine breite Definition des Völkermords angewendet hätten, der zufolge die Absicht, die Gruppe zu zerstören, nicht im Sinne einer physikalischen oder biologischen Zerstörung interpretiert werden müsse.131 Den deutschen Tribunalen zufolge reichte es aus, wenn die Absicht darauf gerichtet worden sei, die Gruppe als „soziale Einheit in ihrer Besonderheit und Eigenart“ und in „ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl“ zu zerstören.132 Dies würde sich aus einigen Handlungen ergeben, die von der traditionellen Definition des Völkermords umfasst sind und auch im ehemaligen § 220a Abs. 1 StGB erwähnt waren, nämlich die Verhängung von Maßnahmen, die sich auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe sowie auf die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe richten.133 Diese Handlungen würden die physikalische oder biologische Zerstörung der Gruppe nicht voraus­setzen. In diesem Sinne konnten auch weitere Handlungen des „ethnic cleansing“ als Völkermord betrachtet werden. Der EGMR behauptete insofern, dass dies einen 127

Ebd., Para. 170 ff. Ebd., Para. 176 ff. 129 Ebd., Para. 178; siehe dazu Vest, ZIS 2016, 487 (491 ff.); Ambos, HRLR 2016, 1 (3). 130 Vgl. EGMR, Vasiliauskas v. Lithuania, 2015, Para. 179 ff. und 185; dazu Vest, ZIS 2016, 487 (492–493); Ambos, HRLR 2016, 1 (3–4). 131 Siehe EGMR, Jorgic v. Germany, 2007, Para. 92 ff. 132 Ebd., Para. 18. 133 Ebd., Para. 105. 128

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umstrittenen Punkt in der Fachliteratur bilde und die Auslegung der deutschen Richter immerhin eine vorhersehbare und deshalb zulässige systematische Interpretation von § 220a Abs. 1 StGB darstelle, die sogar von der Resolution 47/121 (18.12.1992) der Generalversammlung der VN gestützt werde.134 In Bezug auf die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit hat der EGMR in Fällen von Menschenrechtsverletzungen behauptet, dass diese Voraussetzungen erfüllt seien, wenn es sich um hohe (militärische)  Funktionäre handele, denn sie könnten ihre (angebliche) Ignoranz des Völkerrechts oder sogar des eigenen nationalen Rechts nicht vorbringen (sie hätten dies wissen müssen). Dies war der Fall in Streletz, Kessler and Krenz v. Germany. Hier wurde über die Verurteilung von drei hohen Funktionären der DDR diskutiert, die an der Gestaltung des Grenzregimes teilnahmen und deshalb als verantwortlich für den Schusswaffeneinsatz gegen Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze angesehen wurden.135 Selbst einfache Soldaten könnten nicht argumentieren, dass ihnen nicht bewusst gewesen sei, dass solche Handlungen internationale oder nationale Verbrechen darstellten. In diesem Sinne äußerte sich der EGMR auch in Bezug auf die sog. Mauerschützenfälle in K.-H. W. v. Germany. Laut dem EGMR hätten Soldaten und Polizis­ ten136 im Allgemeinen einen Beruf, von dem eine besondere Sorgepflicht erwartet werde. Diese Pflicht solle herangezogen werden, um die Standards von Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit zu konkretisieren.137 Dabei würde auch die Schwere der Tat sowie die Tatsache, dass es um Handlungen gehe, die durch Menschenrechtsverträge verboten seien, eine besondere Rolle spielen.138 Es muss aber gesagt werden, dass der EGMR dazu neigt, bei der Feststellung der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit objektive und subjektive Elemente zu vermischen.139 Dies macht die Argumentation des EGMR konfus. Es muss also zwischen der Frage nach dem Stand des Völkerrechts oder des nationalen Rechts zu einem bestimmten Zeitpunkt und der Frage nach dem Bewusstsein oder der Kenntnis eines Individuums über den Stand des Völkerrechts oder des nationalen Rechts unterschieden werden. In einigen Entscheidungen trennt der EGMR diese Probleme nicht. Auf diese Weise wird die Analyse der Legalität einer Verurteilung mit der Analyse „dogmatischer“ Aspekte der strafrechtlichen Haftung verwechselt, die eher im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit der Handlung oder der Schuld relevant sind, 134

Ebd., Para. 107 ff. Vgl. EGMR, Streletz, Kessler and Krenz v. Germany, 2001, Para.  103; siehe kritisch dazu Arnold/Karsten/Kreicker, NJ 2001, 561; auch Juratowitch, Brit. Y. B. Int’l L. 2005, 337 (342 ff.); Boot, S. 165. 136 Vgl. EGMR, Šimšić v. Bosnia and Herzegovina, 2012, Para. 24. 137 Vgl. EGMR, K.-H. W. v. Germany, 2001, Para. 73–75; siehe kritisch vor allem in Bezug auf die Verurteilungen gegen die Grenzsoldaten Arnold/Karsten/Kreicker, NJ 2001, 561 (568). 138 Vgl. EGMR, Streletz, Kessler and Krenz v. Germany, 2001, Para. 91, 104–195; EGMR, Šimšić v. Bosnia and Herzegovina, 2012, Para. 24; siehe dazu Mariniello, Nordic JIL 2013, 221 (243); siehe auch Boot, S. 168. 139 Siehe kritisch dazu (bzgl. des Falles Vasiliauskas v. Lithuania des EGMR) Ambos, HRLR 2016, 1 (7–8). 135

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wie z. B. der Irrtum, das Handeln auf Befehl oder der Nötigungsnotstand.140 Deswegen sollten die Zugänglichkeit und die Vorhersehbarkeit vorzugsweise in einer objektiven Weise verstanden werden, um verschiedene Stufen der Analyse differenzieren zu können. Die Frage in Bezug auf das NCSL-Prinzip soll also lauten, ob die Bestrafung nach dem bestehenden Völkerrecht zum Zeitpunkt der Tatbegehung abstrakt vorhersehbar war, unabhängig von den konkreten Umständen, unter denen das jeweilige Individuum handelte. Darüber hinaus hat der EGMR in diesem Kontext die Art und Weise, in der die Rechtsordnung der DDR damals ausgelegt und angewendet wurde, nicht als legitimes Recht anerkannt, weil sie menschenrechtswidrig gewesen sei. Aus diesem Grund wurde die Praxis der DDR-Institutionen und Autoritäten nicht als ein Faktor zur Bestimmung der Vorhersehbarkeit angenommen. Der EGMR akzeptierte nicht, dass die Erwartung, wonach eine solche Praxis bestehen bleibe, von Art. 7 EMRK geschützt sei.141 Dies erlaubt die Behauptung, dass den Entscheidungen des EGMR über das NCSL-Prinzip in Kontexten von Menschenrechtsverletzungen ein materieller Rechtsbegriff zugrunde liegt.142 Zum Schluss ist zu erwähnen, dass der EGMR eine ambivalente Haltung hinsichtlich der Nürnberger Klausel gehabt hat. In einigen Fällen hat der Gerichtshof Art. 7 Abs. 2 EMRK erwähnt, um die Schlussfolgerungen, die aus Art. 7 Abs. 1 EMRK hergeleitet worden sind, zu verstärken.143 In anderen Fällen hat der EGMR schlicht behauptet, dass es nicht notwendig sei, sich auf Art. 7 Abs. 2 EMRK zu beziehen, weil der jeweilige Fall bereits durch Art. 7 Abs. 1 EMRK gelöst worden sei.144 Es ist des Weiteren nicht eindeutig ersichtlich, aufgrund welchen Kriteriums entschieden werden kann, ob die Nürnberger Klausel in Betracht kommt oder nicht. Die zentrale Frage ist demnach, ob sich beide Absätze ergänzen oder gegenseitig ausschließen. Diesbezüglich hat der EGMR jedenfalls klargestellt, dass Art. 7 Abs. 2 EMRK keine Ausnahme zu Art. 7 Abs. 1 bildet.145 Der Gerichtshof hat insofern unter Verweis auf die travaux préparatoires betont, dass die Nürn 140

Siehe z. B. EGMR, K.-H. W. v. Germany, Para. 69 ff.; EGMR, Kononov v. Latvia, Para. 236; EGMR, Vasiliauskas v. Lithuania, 2015, Para. 158. 141 Vgl. EGMR, Streletz, Kessler and Krenz v. Germany, 2001, Para. 72–73, 87–88; EGMR, K.-H. W. v. Germany, 2001, Para. 91; siehe dazu Arnold/Karsten/Kreicker, NJ 2001, 561 (563); Juratowitch, Brit. Y. B. Int’l L. 2005, 337 (344). 142 In Bezug auf die Mauerschützenfälle siehe Arnold/Karsten/Kreicker, NJ 2001, 561 (566, 569: „Der Rechtsbegriff in Art. 7 Abs. 1 EMRK lässt die Anwendung von durch Menschenrechte und Völkerrecht konkretisiertem Naturrecht zu“). 143 Vgl. EGMR, Kolk and Kislyiy v. Estonia, 2006; EGMR, Penart v. Estonia, 2006; siehe dazu Mariniello, Nordic JIL 2013, 221 (229 ff.). 144 Vgl. EGMR, Streletz, Kessler and Krenz v. Germany, 2001, Para. 108; EGMR, K.-H. W. v. Germany, 2001, Para. 114; EGMR, Ould Dah v. France, 2009; EGMR, Kononov v. Latvia, 2010, Para. 246. 145 Vgl. EGMR, Maktouf and Damjanović v.  Bosnia  and  Herzegovina, 2013, Para.  72; EGMR, Vasiliauskas v. Lithuania, 2015, Para. 188–189; zu dieser Entscheidung siehe Damnjanovic, ZIS 2014, 629.

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berger Klausel in die EMRK inkorporiert wurde, um die Zweifel über die Legalität der Strafprozesse der Nachkriegszeit zu vermeiden.146 Es ist ferner gesagt worden, dass beide Paragrafen in ihrem Verhältnis zueinander konsistent interpretiert werden sollten.147 Die Frage, wie genau dies durchzuführen ist, bleibt jedoch in der Rechtsprechung des EGMR offen.

IV. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention Die AMRK wurde 22.11.1969 von der auf Menschenrechte spezialisierten Interamerikanischen Konferenz (Conferencia Especializada Interamericana sobre Derechos Humanos) der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verabschiedet und trat 18.07.1978 in Kraft. Unter der Überschrift „Principio de Legalidad y Retroactividad“148 sieht die AMRK in Art. 9 das NCSL-Prinzip vor. Laut Art. 9 AMRK soll niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zum Begehungszeitpunkt nach dem anwendbaren Recht nicht strafbar war.149 Genauso wie bei dem IPBPR und der EMRK darf diese Gewährleistung nach Art. 27 Abs. 2 AMRK in Notstandsfällen nicht außer Kraft gesetzt werden. Dies zeigt, dass das NCSL-Prinzip auch im Kontext der AMRK eine besondere Bedeutung hat. Trotzdem erwähnt die Definition des NCSL-Prinzips der AMRK im Unterschied zum IPBPR und zur EMRK das Völkerrecht nicht. Sie besagt lediglich: „nach dem anwendbaren Recht“ („según el derecho aplicable“). Diesbezüglich stellt sich die Frage, was genau dieser Ausdruck bedeutet; ist das Völkerrecht davon ausgeschlossen? Um diese Frage zu beantworten, sind einige Aspekte des Entwurfsprozesses der AMRK zu betrachten. Zuerst soll daran erinnert werden, dass der Ausdruck „nach dem anwendbaren Recht“ von Art. 9 AMRK auch 1960 im Rahmen der Diskussionen über den IPBPR vorgeschlagen aber nicht angenommen wurde. Wie bereits erwähnt, schlugen Argentinien und Jemen damals im Dritten Ausschuss der Generalversammlung der VN vor, den Ausdruck „under national or international law“ von Art. 15 Abs. 1 IPBPR durch den Ausdruck „under the applicable law“

146 Vgl. EGMR, Maktouf and Damjanović v.  Bosnia  and  Herzegovina, 2013, Para.  72; EGMR, Vasiliauskas v. Lithuania, 2015, Para. 188–189. 147 Vgl. EGMR, TESS, contre la Lettonie, 2002; EGMR, Maktouf and Damjanović v. Bosnia and Herzegovina, 2013, Para. 72; EGMR, Vasiliauskas v. Lithuania, 2015, Para. 188–189. 148 Die Überschrift der englischen Version lautet: „Freedom from Ex Post Facto Laws“. Verfügbar unter: http://www.oas.org/dil/treaties_B-32_American_Convention_on_Human_Rights. htm (zuletzt aufgerufen am 25.07.2016). 149 Art.  9 AMRK sieht auch zusammen mit dem NCSL-Prinzip das Prinzip nullum poena sine lege vor: „Tampoco se puede imponer pena más grave que la aplicable en el momento de la comisión del delito“. Art. 9 schreibt auch die Anwendbarkeit des milderen Rechts vor: „Si con posterioridad a la comisión del delito la ley dispone la imposición de una pena más leve, el delin­cuente se beneficiará de ello“.

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zu ersetzen. Dies sollte einen umfassenderen Ausdruck bilden, der es erlauben würde, sowohl auf der Grundlage des nationalen Rechts als auch des Völkerrechts zu bestrafen. Wie bereits gesagt, wurde dieser Vorschlag jedoch in diesem Zusammenhang abgelehnt. Der Verweis auf das „anwendbare Recht“ erschien jedoch im Entwurf der AMRK, der von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (IAKMR) vorbereitet und am 02.10.1968 vom Rat der OAS (Consejo de la Organización de los Estados Americanos) als Arbeitspapier aufgenommen wurde.150 Es ist daher möglich zu behaupten, dass dieser Ausdruck in beiden Kontexten den gleichen Sinn hatte. Dies wurde später auf der spezialisierten Interamerikanischen Konferenz bestätigt. Zwei Arbeitskommissionen wurden in der spezialisierten Interamerikanischen Konferenz eingerichtet, um den Entwurf der AMRK zu analysieren. Die Kommission I war für die Kapitel I bis IV des Entwurfs zuständig, in denen die konkreten Rechte und Gewährleistungen definiert waren. Die Kommission II beschäftigte sich mit den Kapiteln V bis XII, wobei die Organe zum Schutz der in der AMRK definierten Rechte entworfen wurden.151 Während der achten Sitzung der Kommission I (13.11.1969) schlug der kolumbianische Delegierte vor, das Völkerrecht in der Bestimmung über das NCSL-Prinzip explizit zu erwähnen, wie in Art. 11 Abs. 2 AEM, Art. 15 Abs. 1 IPBPR und Art. 7 Abs. 1 EMRK.152 Jedoch wandte der Vorsitzende der Kommission ein, dass dies nicht notwendig sei, weil der Verweis auf das „anwendbare Recht“ umfassend genug sei. Der Vorschlag des kolumbianischen Delegierten wurde somit abgelehnt.153 Die Kommission I stimmte der ursprünglichen Fassung über das NCSL-Prinzip als Art. 9 zu, diese wurde am 20.11.1969 ohne weitere Diskussionen auf der zweiten Plenarsitzung der spezialisierten Interamerikanischen Konferenz angenommen.154 Daraus ergibt sich, dass Art. 9 AMRK die Bestrafung sowohl auf der Grundlage des nationalen Rechts als auch des Völkerrechts zulässt.155 Es muss aber gesagt werden, dass der Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (AGMR) sich bisher über die Anwendung völkerstrafrechtlicher Normen auf nationaler Ebene nicht geäußert hat, wie es im Kontext des EGMR geschehen ist.156

150 Laut Art.  8 des Entwurfs der AMRK: „Nadie será condenado por actos u omisiones que en el momento de cometerse no fueran delictivos según el derecho aplicable. Tampoco se impondrá pena más grave que la aplicable en el momento de la comisión del delito“; siehe Resolución aprobada por el Consejo de la OEA en la sesión celebrada el 2 de octubre de 1968, Doc. 5, 22.09.1969, in: Conferencia Especializada Interamericana sobre Derechos Humanos. Actas y Documentos, S. 17. 151 Vgl. Sesiones Plenarias, Acta final y Texto de Convención. Acta de la Sesión Preliminar (resumida), Doc. 20, 07.11.1966, en: ebd., S. 404. 152 Vgl. Acta de la Octava Sesión de la Comisión I, Doc. 48, 15.11.1969, en: ebd., S. 206. 153 Ebd., S. 207. 154 Vgl. Acta de la Segunda Sesion Plenaria (Resumida), Doc. 86, 22.11.1969, en: ebd., S. 443. 155 Vgl. Antkowiak, in: Convención Americana, S. 256; auch Guzmán, in: Sistema, S. ­175–176. 156 Vgl. Antkowiak, in: Convención Americana, S. 261.

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Der AGMR hat sich mehrmals zu Art. 9 AMRK geäußert. Dieser Gerichtshof hat sich aber vor allem auf den Bestimmtheitsgrundsatz konzentriert.157 Es liegen einige Entscheidungen über die rückwirkende Anwendung strafrechtlicher Normen vor, aber dies stellt kein zentrales Problem in der Rechtsprechung des AGMR dar.158 Laut der AGMR bilde das NCSL-Prinzip ein wesentliches Element eines demokratischen Rechtsstaats und solle deshalb von allen Staatsorganen bei der Durchführung ihrer Funktionen beachtet werden, insbesondere wenn es um die Ausübung der Strafgewalt gehe.159 Als Korollar sollten die Straftatbestände so klar wie möglich verfasst werden, d. h., alle Tatbestandsmerkmale jedes Verbrechens und seine Rechtsfolgen sollten im Voraus und ausreichend präzise definiert werden. Dem AGMR zufolge verlangt dies die Anwendung unzweideutiger Termini („es preciso utilizar términos estrictos y unívocos “/„it is necessary to use strict and unequivocal terms“), um die strafbaren Handlungen erkennen zu können und sie von den erlaubten Handlungen zu differenzieren.160 Der AGMR geht folglich davon aus, dass die Vagheit bei der Definition der Straftatbestände zu Zweifeln über ihren Anwendungsbereich führt und die Tür zur Willkür öffnen kann.161 Deswegen hat der AGMR betont, dass Richter strikt an die strafrechtlichen Bestimmungen gebunden seien; sie seien dazu verpflichten, extrem rigoros zu sein. Hierdurch könne sichergestellt werden, dass das Verhalten des Angeklagten einem bestimmten Straftatbestand entspreche und dass kein Verhalten bestraft werde, dessen Strafbarkeit nicht im Voraus festgesetzt worden war.162 Beruhend auf diesen Erwägungen darf behauptet werden, dass die Konzeption des NCSL-Prinzips, die der Rechtsprechung der AGMR zugrunde liegt, strikter als diejenige des EGMR zu sein scheint. Für den EGMR ist es einfacher gewesen, die unvermeidbare Unbestimmtheit der Sprache und damit der Rechtsnormen anzuerkennen und eine gewisse aktive Rolle der Richter sogar in Strafsachen zuzulassen. Die Rechtsprechung des EGMR über das NCSL-Prinzip ist jedoch zum großen Teil aus Fällen entwickelt worden, in denen es um die nationale Straf­verfolgung von Menschenrechtsverletzungen bzw. internationalen Verbrechen geht. Im Gegenteil dazu hat sich der AGMR vor allem in Bezug auf Fälle 157

Siehe dazu ebd., S. 257–259; siehe auch Guzmán, in: Sistema, S. 179 ff. Zum Rückwirkungsverbot siehe AGMR, García Asto y Ramírez Rojas v. Perú, 2005, Para.  191, 205–208 und AGMR, De La Cruz-Flores v. Perú, 2004, Para.  104–109; der Fall Baena Ricardo y otros v. Panamá soll auch erwähnt werden; in diesem Fall erklärte der AGMR, dass das Rückwirkungsverbot im Sinne von Art. 9 AMRK auch in Bezug auf administrative Sanktionen beachtet werden soll, AGMR, Baena Ricardo y otros v. Panamá, 2001, Para. 109; siehe dazu Antkowiak, in: Convención Americana, S. 259. 159 Vgl. AGMR, Baena Ricardo y otros v. Panamá, 2001, Para. 107; AGMR, De La CruzFlores v. Perú, 2004, Para. 80; AGMR, Fermín Ramírez v. Guatemala, 2005, Para. 90; AGMR, García Asto y Ramírez Rojas v. Perú, 2005, Para. 187. 160 Vgl. AGMR, Castillo Petruzzi y otros v. Perú, 1999, Para. 121; AGMR, Cantoral Benavides v. Perú, 2000, Para. 157; AGMR, De La Cruz-Flores v. Perú, 2004, Para. 79; AGMR, Kimel v. Argentina, 2008, Para. 63; AGMR, Usón Ramírez v. Venezuela, 2009, Para. 55. 161 Vgl. AGMR, Castillo Petruzzi y otros v. Perú, 1999, Para. 121; 162 Vgl. AGMR, De La Cruz-Flores v. Perú, 2004, Para. 82. 158

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geäußert, in denen auch weitere von der AMRK geschützte Rechte durch die nationale Strafverfolgung verletzt worden sind. Als Beispiele können die bereits zitierten Fälle Fermín Ramírez v. Guatemala und Usón Ramírez v. Venezuela erwähnt werden. Im ersten Fall erklärte der AGMR, dass eine Strafrechtsnorm, die die „Gefährlichkeit“ des Täters als Grund, um die Todesstrafe zu verhängen, vorsah, Art. 9 AMRK verletze, weil sie keine bestimmte Handlung beschreibe, sondern sich nur auf den Täter beziehe.163 Im zweiten Fall ging es um die Verletzung der Meinungsfreiheit in Verbindung mit dem NCSL-Prinzip u. a. wegen der Anwendung des Straftatbestands „Beleidigung gegen die Nationalen Streitkräfte“ („Injuria contra la Fuerza Armada Nacional“/„Slander against the National ­Armed Forces“), der dem AGMR zufolge gegen das Bestimmtheitsverbot verstieß.164 Dies könnte den Unterschied zwischen den Ansätzen beider Tribunale erklären und die im zweiten und dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit bereits erwähnte These im Kontext des Menschenrechtsschutzes bestätigen, der zufolge die rechtliche und moralische Bedeutung des NCSL-Prinzips und der Rechtssicherheit relativ ist.165 Wie bereits gesagt, wäre ein striktes Verständnis des NCSL-Prinzips, das die Aburteilung z. B. der Vertreter eines autoritären Regimes verhindern würde, wie in den Fällen vom EGMR, abzulehnen. Ebenso wäre eine flexible Konzeption dieses Prinzips abzulehnen, wenn diese die Verletzung weitere Menschenrechte, ggf. durch eine autoritäre Regierung veranlasst, ermöglichen würde, wie in den Fällen vom AGMR.166 Wie bereits behauptet, hat der AGMR bisher keinen Fall der nationalen Strafverfolgung internationaler Verbrechen entschieden, in dem Völkerstrafrechts­ normen anzuwenden gewesen wären. Es ist jedoch zu erwähnen, dass die IAKMR die Pflicht jedes Mitgliedstaats des interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystems hervorgehoben hat, internationale Verbrechen zu ermitteln und zu bestrafen und die notwendige Maßnahmen bzw. Reformen dafür durchzuführen.167 Dies ist vom AGMR in den Fällen La Cantuta v. Perú und Goiburú y otros v. Paraguay bestätigt worden. Laut dem AGMR müssten die Mitgliedsstaaten alle notwendige Maßnahmen treffen, um Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen, „whether 163

Laut dem AGMR sei das Täterstrafrecht menschenrechtswidrig, und deswegen verstoße es gegen die AMRK, vgl. AGMR, Fermín Ramírez v. Guatemala, 2005, Para. 94–98; zu diesem Fall siehe Guzmán, in: Sistema – Tomo II, S. 335 ff. (zum „Widerspruch“ zwischen Gefährlichkeit und NCSL-Prinzip siehe insbesondere S. 351–356). 164 Vgl. AGMR, Usón Ramírez v. Venezuela, 2009, Para. 38, 55, 56; änhlich AGMR, Kimel v. Argentina, 2008, Para. 59–67. 165 Siehe oben, zweites Kapitel, E. und drittes Kapitel, B. III. 4. 166 Folgende Fälle des AGMR sind insofern zu erwähnen: Castillo Petruzzi y otros v. Perú, Cantoral Benavides v. Perú, De La Cruz-Flores v. Perú und García Asto y Ramírez Rojas v. Perú, es geht in diesen Fällen um die umstrittenen Straftatbestände von Terrorismus und Landesverrat, wie sie 1991 im peruanischen StGB und 1992 nach der Auflösung des peruanischen Parlaments vom Präsident Alberto Fujimori durch Verordnungen (Decreto Ley No. 25475 und 25659) definiert wurden; siehe dazu Guzmán, in: Sistema, S. 177 ff. 167 Vgl. Resolución nº 1/03s sobre juzgamiento de crímenes internacionales, 24.10.2003.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

exercising their judicial power to apply their domestic law and International Law to judge and eventually punish those responsible for such events“.168 In den Fällen La Cantuta v. Perú und Almonacid-Arellano stellte der Gerichtshof ferner fest, dass die Staaten sich nicht u. a. auf das Rückwirkungsverbot berufen können, um solche Taten nicht verfolgen zu müssen.169 Trotzdem ist noch unklar, ob der AGMR die rückwirkende Anwendung einer konkreten nationalen Rechtsnorm nach dem Vorbild des EGMR zulassen würde, wenn diese mit dem bei der Begehungszeit bestehenden Völkerrecht übereinstimmt. Eine solche Zulassung würde aber jedenfalls nicht überraschen. Der AGMR hat aber auf dogmatische Argumente zurückgegriffen, um Diskussionen über das NCSL-Prinzip hinsichtlich internationaler Verbrechen zu überwinden. Dies ist insbesondere hinsichtlich des Verschwindenlassens von Personen geschehen. In diesem Zusammenhang ist gesagt worden, dass der Charakter dieses Verbrechens als Dauerdelikt die Anwendung eines nach dem Moment der Durchführung der Tat erlassenen Straftatbestands erlaube, sofern noch unbekannt sei, was mit dem Opfern passiere. Denn in diesen Fällen werde die Straftat noch begangen, solange der rechtswidrige Zustand bestehen bleibe.170 In diesem Sinne ist der Fall Gomes Lund et al. v. Brasil zu erwähnen. Hierbei geht es um das Verschwindenlassen von zweiundsechzig Menschen, das zwischen 1972 und 1974 stattgefunden hat.171 Damals existierte der Straftatbestand des Verschwindenlassens in der brasilianischen Rechtsordnung nicht. Trotzdem hielt der AGMR diesbezüglich fest, dass die aktuelle Strafverfolgung das Rückwirkungsverbot nicht verletze.172 Der AGMR sagte sogar, dass das 1979 erlassene Amnestiegesetz nichtig sei, weil es die Strafverfolgung solcher Taten verhindere und deswegen gegen die AMRK verstoße.173 168

Siehe AGMR, La Cantuta v. Perú, 2006, Para. 160; siehe auch AGMR Goiburú y otros v. Paraguay, 2006, Para. 131–132; AGMR, Velásquez-Rodríguez v. Honduras, 1988, Para. 166; AGMR, Gomes Lund et al. v. Brasil, 2010, Para. 137 ff. 169 AGMR, La Cantuta v. Perú, 2006, Para. 226; AGMR, Almonacid-Arellano et al. v. Chile, 2006, Para. 151 (in diesem letzten Fall äußerte sich der AGMR hinsichtlich der während der Diktatur von Augusto Pinochet begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit); siehe kritisch dazu Malarino, in: Sistema, S. 45–59. 170 Zur völkerrechtlichen Definition des Verschwindenlassens von Personen siehe Ambos/ Böhm, in: Desaparición, S.  218 ff. (zum Verschwindenlassen als Dauerdelikt in der Recht­ sprechung des AGMR siehe S. 236–237); die Auffassung des AGMR ist jedoch kritisiert worden, siehe insofern Guzmán, in: Sistema, S.187–189; Modolell, in: Desaparición, S. 189–193; auch kritisch in Bezug auf die Probleme der nationalen (argentinischen) Strafverfolgung des Verbrechens des Verschwindenlassens von Personen im Lichte des NCSL-Prinzips siehe Malarino, El Crimen, in: Derechos, S. 97 ff.; Malarino, Los Problemas, in: ebd., S. 216. 171 Vgl. AGMR, Gomes Lund et al. v. Brasil, 2010, Para. 85 ff., 121. 172 Ebd., Para. 110, 179; insofern auch AGMR, Radilla-Pacheco v. Mexico, 2009, Para. 239; zum Verschwindenlassen als Dauerdelikt siehe auch AGMR, La Cantuta v. Perú, 2006, Para. 114 und AGMR, Ibsen Cárdenas and Ibsen Peña v. Bolivia, 2010, Para. 67. 173 AGMR, Gomes Lund et  al. v. Brasil, 2010, Para.  171–175; zu Amnestiegesetzen siehe auch AGMR, Barrios Altos v. Perú, 2001, Para. 41 ff. und AGMR, Almonacid-Arellano et al. v. Chile, 2006, Para. 105 ff. und 145; kritisch dazu Malarino, in: Sistema, S. 30–31.

A. Kriminalisierung im Völkerrecht und die Nürnberger Klausel

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V. Ergebnis: Die internationalen Menschenrechte und die Nürnberger Rechtstradition im Völkerstrafrecht Das NCSL-Prinzip hat zweifellos einen wesentlichen Platz in den internationalen Menschenrechten. Dies ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, dass es sowohl in den universellen (Art. 11 Abs. 2 AEM, Art. 15 IPBPR) als auch in den regionalen Instrumenten zum Menschenrechtsschutz (z. B. Art. 7 EMRK und Art. 9 AMRK) vorgesehen ist. Dieses Prinzip bildet auch eine der Gewährleistungen, die nicht einmal in Notstandsfällen außer Kraft gesetzt werden darf (Art. 4 Abs. 2 IPBPR, Art. 15 Abs. 2 EMRK und 27 Abs. 2 AMRK). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine „automatische“ Übertragung einer bestimmten nationalen Konzeption auf das Völkerrecht. Vielmehr haben die internationalen Menschenrechte zur Ent­ stehung eines spezifischen Verständnisses dieses Prinzips beigetragen, abgesehen von den Unterschieden zwischen den regionalen Systemen zum Menschenrechtsschutz. Dieses Verständnis ergibt sich aus der Dynamik und den Zwecken dieses Rechtsgebiets. Das NCSL-Prinzip ist somit in den internationalen Menschenrechten von folgender Spannung bestimmt: Auf der einen Seite besteht die Notwendigkeit, ein Mindestmaß an Rechtssicherheit und Vorsehbarkeit bei der Ausübung des Strafrechts zu gewährleisten. Auf der anderen Seite gibt es das Bedürfnis, andere im Kontext des Völkerrechts relevante Rechte durch das Strafrecht zu bekräftigen. Im Prozess der Entstehung des Verständnisses des NCSL-Prinzips im Völkerrecht hat die Aburteilung internationaler Verbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg eine bedeutsame Rolle gespielt. Die sich aus den Strafprozessen der Nachkriegszeit ergebenden und im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit identifizierten Grundlagen bildeten den Ausgangspunkt sowohl zur Aufnahme des NCSL-Prinzips in den internationalen Menschenrechten überhaupt als auch zu seiner Aufnahme in einer spezifischen Weise. Die Tatsache, dass die AEM, der IPBPR und die EMRK sich explizit auf das Völkerrecht beziehen, wenn sie das NCSL-Prinzip formulieren, bildet eine direkte Konsequenz der Strafprozesse der Nachkriegszeit. Sogar der relativ vage Ausdruck „nach dem anwendbaren Recht“ des Art. 9 AMRK stellt eine Konsequenz dieser Ereignisse dar. Deswegen darf behauptet werden, dass die internationalen Menschenrechte die Ausübung der Strafgewalt auf internationaler Ebene ausdrücklich unterstützen und die Relevanz aller Völkerrechtsquellen anerkennen, ohne eine bestimmte Hierarchie unter ihnen zu etablieren. Dies ergibt sich aus den travaux préparatoires dieser internationalen Instrumente. Der Einfluss der Strafprozesse der Nachkriegszeit auf die internationalen Menschenrechte hinsichtlich des NCSL-Prinzips geht aber noch weiter. Der deutlichste Ausdruck dieses Einflusses ist die Nürnberger Klausel, die ursprünglich während der Diskussionen der AEM vorgeschlagen, aber letztlich „lediglich“ in Art. 15 Abs. 2 des IPBPR und in Art. 7 Abs. 2 der EMRK aufgenommen wurde. Nichtsdestoweniger stellt diese Klausel vielleicht den umstrittensten Aspekt der Formulierung des NCSL-Prinzips in den internationalen Menschenrechten dar.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

In Bezug auf die Nürnberger Klausel werden verschiedene Auffassungen vertreten. Einige behaupten dazu, dass sie eine Ausnahme des NCSL-Prinzips bilde.174 Vor diesem Hintergrund wird auch gesagt, dass diese „Ausnahme“ nur im Hinblick auf die Vergangenheit relevant sei. Denn die Absicht der Klausel würde lediglich darin bestehen, die Strafprozesse der Nachkriegszeit nachträglich zu legitimieren, sodass die Klausel auf gegenwärtige Fälle nicht angewendet werden solle.175 Es ist ebenfalls gesagt, dass die Klausel redundant sei, weil sie den Verweis auf das Völkerrecht wiederhole, der im ersten Absatz der Art. 15 IPBPR und Art. 7 EMRK erscheint.176 Dieser Verweis auf das Völkerrecht solle demnach im Sinne des Art. 38 IGH-Statut verstanden werden, in dem die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Völkerrechtsquelle erwähnt sind. Nach der Betrachtung der Entwurfsprozesse der in diesem Abschnitt analysierten internationalen Instrumente darf jedoch behauptet werden, dass diese Auffassungen nicht überzeugen. Die Nürnberger Klausel bildet keine Ausnahme des NCSL-Prinzips. Außerdem ist diese „Wiederholung“ nur partiell und keineswegs bedeutungslos oder redundant, obwohl es wahr ist, dass sie den Verweis auf das Völkerrecht widerholt, der sich im ersten Absatz des Art. 15 IPBPR und des 7 EMRK befindet. Diesbezüglich sollen mehrere Punkte deutlich gemacht werden. Zuerst ist festzustellen, dass der angebliche Widerspruch zwischen den Absätzen 1 und 2 dieser Normen bzw. die „Wiederholung“ des Verweises auf das Völkerrecht das Ergebnis der Komplexität der Entwurfsprozesse dieser internationalen Instrumente ist. Die Bestimmungen über das NCSL-Prinzip des IPBPR und der EMRK wurden während eines langen Prozesses entworfen, der mehrere Jahre dauerte und an dem verschiedene Organe und Institutionen beteiligt waren. Am Ende wurde ein Text aufgenommen, der in verschiedenen Zeitpunkten und von verschiedenen „Händen“ bearbeitet wurde. Die Tatsache, dass sich der Verweis auf das Völkerrecht und die Nürnberger Klausel in derselben Bestimmung befinden, stellt somit nicht notwendigerweise das Ergebnis einer bewussten Entscheidung oder einer systematischen Reflexion über das NCSL-Prinzip dar. Diese Situation ist eher einem Zufall geschuldet. Deshalb muss man sich nicht wundern, dass der Verweis auf das Völkerrecht und die Nürnberger Klausel ursprünglich das gleiche Ziel hatten und trotzdem beide in dieselbe Norm aufgenommen wurden: mit beiden sollte bestätigt werden, dass die Strafverfolgung auf internationaler Ebene möglich ist und dass alle Völkerrechtsquellen, sogar allgemeine Rechtsgrundsätze, relevant dafür sind. Daraus folgt, dass die Nürnberger Klausel nicht unbedingt eine Ausnahme des NCSL-Prinzips bilden muss. Sie muss auch nicht über den Verweis auf das Völkerrecht des ersten Absatzes des Art. 15 IPBPR oder des Art. 7 EMRK hinausgehen oder sich notwendigerweise auf eine nachträgliche Legitimierung des 174 Siehe insofern Juratowitch, Brit. Y. B. Int’l L. 2005, 337 (341); siehe auch Tomuschat, in: War Crimes, S. 52 und Mariniello, Nordic JIL 2013, 221 (227–228). 175 Dazu Gallant, S. 177; Mariniello, Nordic JIL 2013, 221 (230). 176 Vgl. Boot, S. 140; Joseph/Castan, S. 529; dazu auch Ferdinandusse, S. 233; Juratowitch, Brit. Y. B. Int’l L. 2005, 337 (340); Mariniello, Nordic JIL 2013, 221 (227).

A. Kriminalisierung im Völkerrecht und die Nürnberger Klausel

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Nürnberger Prozesses beschränken. Dieser letzte Aspekt könnte tatsächlich eine konkrete Motivation gewesen sein, um die Klausel aufzunehmen. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass sie nur im Hinblick auf die Vergangenheit von Bedeutung ist und keinen aktuellen normativen Anspruch hat, denn sie ist immerhin eine Rechtsnorm.177 Infolgedessen darf gesagt werden, dass die Nürnberger Klausel den Verweis auf das Völkerrecht des ersten Absatzes des Art. 15 IPBPR und des Art. 7 EMRK tatsächlich wiederholt. Die Frage ist also, ob eine solche Wiederholung notwendig war, d. h., ob sie einen Sinn hat. Laut einigen Autoren stelle die Nürnberger Klausel eine Konkretisierung des generellen Verweises auf das Völkerrecht des ersten Absatzes dar, die sich auf eine der verschiedenen Völkerrechtsquellen beziehe.178 Tatsächlich bezieht sie sich auf die problematischste Völkerrechtsquelle im Lichte des NCSL-Prinzips. Dies scheint nicht redundant zu sein, wenn berücksichtigt wird, dass die Existenz der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Völkerrechtsquelle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umstritten war. In diesem Sinne kann z. B. Kelsens Auffassung erwähnt werden.179 Der Verweis auf das Völkerrecht könnte deswegen auf verschiedene Weisen interpretiert werden, weil unterschiedliche Auffassungen über die Völkerrechtsquellen bei der Zeit der Aufnahme der Klausel vertreten wurden und immer noch existieren. Die Nürnberger Klausel kann daher als eine Art Stellungnahme in Bezug auf diese Debatte interpretiert werden, die klarstellt, dass auch allgemeine Rechtsgrundsätze bei der Strafverfolgung internationaler Verbrechen relevant sind. Die Nürnberger Klausel wiederholt somit den Verweis auf das Völkerrecht des Art. 15 Abs. 1 IPBPR und des Art. 7 Abs. 1 EMRK. Dies ist aber eine partielle Wiederholung, die spezifischer als der Verweis des ersten Absatzes dieser Normen ist. Insofern darf sie vielmehr als eine Klarstellung eines bestimmten umstrittenen Punkts des Ausdrucks „nach […] internationalem Recht“ verstanden werden: Alle in Art. 38 IGH-Statut erwähnten Völkerrechtsquellen sollen auch bei der Strafverfolgung internationaler Verbrechen in Betracht kommen, und dies verletzt das NCSL-Prinzip nicht. Auf diese Weise ergibt die Nürnberger Klausel einen Sinn. Diese Interpretation spiegelt ferner die Debatten der Entwurfsprozesse der AEM, des IPBPR und der EMRK wider. 177 Ähnlich Ferdinandusse, S. 233–234, er führt in Bezug auf die travaux préparatoires vom IPBPR und der EMRK aus: „Art. 15 (2) was indeed inspired by the wish to safeguard the legitimacy of post-WWII prosecutions, but they [the travaux préparatoires] do not warrant the conclusion that the effect of this provision is limited to those proceedings“. 178 Vgl. z. B. Cassese, J. Int’l Crim. Just. 2006, 410 (414–415); Gallant, S. 191 ff. 179 Siehe oben drittes Kapitel, Fn. 284; als Beispiel soll auch erwähnt werden, dass der StIGH 1927 im Lotus-Fall eine voluntaristische Konzeption des Völkerrechts darlegte und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen kaum eine Bedeutung zuschrieb: „[T]he Court considers that the words ‚principles of international law‘, as ordinarily used, can only mean international law as it is applied between all nations belonging to the community of States […] The rules of law binding upon States therefore emanate from their own free will as expressed in conventions or by usages generally accepted as expressing principles of law […]“, StIGH, Lotus-Fall, 1927, S. 16–18; dazu auch Pellet, in: The Statute of the International Court, Rn. 258.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Es muss des Weiteren behauptet werden, dass sowohl eine grammatikalische als auch eine systematische Auslegung der Nürnberger Klausel verhindern, diese als eine Ausnahme des Rückwirkungsverbots zu verstehen. Denn Art. 15 Abs. 2 IPBPR und Art. 7 Abs. 2 EMRK beziehen sich auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zum Zeitpunkt der Tatbegehung. Der Satz „any act or omission which, at the time when it was committed, was criminal according to the general principles of law“ der Nürnberger Klausel schließt die rückwirkende Kriminalisierung aus, was konsistent mit Art. 4 Abs. 2 IPBPR und Art. 15 Abs. 2 EMRK ist, die das Außerkraftsetzen des NCSL-Prinzips verbieten.180 Vielleicht kann davon ausgegangen werden, dass die Nürnberger Klausel eine Ausnahme darstellt. Sie würde allerdings keine Ausnahme des Rückwirkungsverbots bilden, sondern einer strikten Konzeption der Legalität.181 Der entscheidende Punkt ist, ob die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Völkerrechtsquelle im Zusammenhang der Strafverfolgung internationaler Verbrechen anerkannt werden können oder nicht. Diese „Ausnahme“ erlaubt jedenfalls einen spezifischen Standard zur Strafverfolgung auf internationaler Ebene sowie auf nationaler Ebene zu identifiezieren. Insofern wird auch behauptet, dass die Nürnberger Klausel die retroaktive Strafverfolgung auf nationaler Ebene erlaube, solange die relevante Handlung oder Unterlassung zur Zeit ihrer Begehung nach den anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar gewesen sei.182 Dies stimmt mit der Rechtsprechung des EGMR überein. Dieser Auffassung zufolge sei die Nürnberger Klausel darauf gerichtet, das aktuelle nationale Strafrecht mit dem Völkerrecht der Begehungszeit zu koordinieren. Werden die allgemeinen Rechtsgrundsätze als geltendes Völkerrecht akzeptiert und wird davon ausgegangen, dass das Völkerrecht Individuen bindet, darf behauptet werden, dass die nationale Strafverfolgung in diesen Fällen nur „teilweise“ retroaktiv ist. Insofern ist es möglich, von „formeller Rückwirkung“183

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Vgl. Gallant, S. 177–178. Insofern ist es relevant, die folgende, von Gallant in Bezug auf den Entwurfsprozess der Nürnberger Klausel formulierte Behauptung zu betonen: „The concern genuinely seems to have been to preserve the value of the Nuremberg/Tokyo proceedings as substantiv law precedents for the future, not to approve further retroative lawmaking“, Gallant, S. 198; siehe auch Ferdinandusse, S. 228. 182 Vgl. Damnjanovic, ZIS 2014, 629 (636): „Diese Vorschrift sei vor allem auf der völkerstrafrechtlichen Ebene sowie in den Fällen von Bedeutung, in denen das nationale Recht im Hinblick auf bestimmte Straftatbestände Lücken aufweist“; siehe insofern in Bezug auf Osttimor SPSC, Public Prosecutor v. Joao Sarmento Domingos Mendoca, 2003, Para. 20, 29; auch STL, Interlocutory decision on the applicable law, 2011, Para. 133: „[I]nternational criminalisation alone is not sufficient for domestic legal orders to punish that conduct. Nevertheless, Article 15 of the ICCPR allows at the very least that fresh national legislation (or, where admissible, a binding case) defining a crime that was already contemplated in international law may be applied to offences committed before its enactment without breaching the nullum crimen principle“). 183 Insofern äußerte sich Hannah Arendt in Bezug auf die LC und das israelische Nazis und Nazis Collaborators (Punishment) Law von 1950, insbesondere unter Brücksichtigung der Ver 181

A. Kriminalisierung im Völkerrecht und die Nürnberger Klausel

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oder von „scheinbar neuem Recht“ zu sprechen, wie Radbruch in Bezug auf das KRG Nr. 10 und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit behauptete.184 Die angewandte nationale Norm ist in Fällen dieser Art lediglich im formellen Sinne neu, weil ihr Inhalt immerhin bei der Zeit der Tatbegehung geltendes (Völker-)Recht darstellt. Eine Verurteilung ist in diesen Fällen nicht willkürlich. Denn der nationale Richter ist vom zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltenden Völkerrecht (einschließlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze), innerhalb der vom neuen nationalen Recht festgelegten Grenzen, gebunden. Es muss jedoch betont werden, dass allein die moralische Vorwerfbarkeit der Tat für die „rückwirkende“ nationale Bestrafung nicht genügt. Ein gewisser völkerrechtlicher Bezugspunkt ist jedenfalls erforderlich.185 Gerade die Konzeption des NCSL-Prinzips, die die vorliegende Arbeit zu rekonstruieren versucht, kann den Ausgangspunkt bilden, um einen Standard dafür zu definieren. Allerdings bleibt die Frage nach der konkreten Rolle offen, die die allgemeinen Rechtsgrundsätze bei der Begründung einer Verurteilung wegen internationaler Verbrechen spielen sollen.186 Um dies zu beantworten, muss die weitere Entwicklung des Völkerstrafrechts betrachtet werden. Schließlich soll wiederum behauptet werden, dass die Entwicklung des Völkerstrafrechts und der internationalen Menschenrechte hinsichtlich des NCSL-Prinzips untereinander verknüpft sind. Beide Rechtsgebiete haben bei der Bestimmung des Inhalts und der Grenzen, die diese Gewährleistung auf internationaler Ebene hat, miteinander interagiert. Die Grundlagen der Art und Weise, in der dieses Prinzip in den internationalen Menschenrechten verstanden worden ist, wurden in den Strafprozessen der Nachkriegszeit festgelegt. Darüber hinaus hat die internationale Rechtsprechung über Menschenrechte, beispielsweise des EGMR und des AGMR, anschließend die „Botschaft“ von Nürnberg weiter übermittelt: dass eine strikte Konzeption der Legalität Grenzen hat, wenn es um massenhafte Menschenrechtsverletzungen bzw. internationale Verbrechen geht. Wie im nächsten Abschnitt veranschaulicht wird, haben die Ad-hoc- und die gemischten Straf­tribunale diese „Botschaft“ auch gehört. Nicht nur der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, der Tokioter Prozess und die Nachfolgeprozesse werden in der Rechtsprechung dieser Straftribunale in Betracht gezogen, auch die internationalen brechen gegen die Menchlichkeit und des Genozids: „Its retroactivity, one may add, violates only formally, not substantially, the principle nullum crimen, nulla poeana sine lege“, Arendt, Eichmann, S. 254. 184 Siehe oben, drittes Kapitel, A. III. 3. 185 Vgl. Shahabuddeen, J. Int’l Crim. Just. 2004, 1007 (1011). 186 Cassese führt hierzu aus: „[I]t is indeed very difficult for conduct to be internationally criminalized on the sole basis of a general principle of law; such general principles, it is submitted, may rather fulfil the role of filling gaps in the treaty or customary regulation of offences, or the way such offences are prosecuted and punished“, Cassese, J. Int’l Crim. Just. 2006, 410 (416); siehe auch Schabas, The European Convention, S. 352: „[I]n reality ‚general principles‘ is very much of a subsidiary or supplementary source of law“.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Menschenrechte, vor allem die Rechtsprechung vom EGMR, haben in diesem Kontext als Bezugspunkt gedient. Unter Berücksichtigung des auf Glenn und Merryman zurückgehenden Begriffs von Rechtstradition, der im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit dargelegt wurde,187 darf daher behauptet werden, dass eine Art Tradition hinsichtlich des NCSL-Prinzips durch die Interaktion zwischen internationalen Tribunalen, die zu verschiedenen Bereichen des Völkerrechts gehören und in unterschiedlichen Zeitpunkten bestanden haben, im Völkerstrafrecht entstanden ist. Die in Nürnberg festgelegten Grundlagen sind als „voices coming from the past“, in Glenns Worten, von den internationalen Menschenrechten rezipiert worden. In diesem Kontext sind diese Grundlagen wieder interpretiert, angewendet und weiter übermittelt worden.

B. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die Rechtsprechung der Ad-hoc-Straftribunale und des Special Court for Sierra Leone: Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts Weitere internationale Straftribunale nach dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und nach dem Tokioter-Prozess wurden erst im Anschluss an den Kalten Krieg in den neunziger Jahren eingerichtet. Es handelt sich um die sog. Ad-hoc-Straftribunale, die durch Resolutionen des Sicherheitsrats der VN für das ehemalige Jugoslawien (JStGH) und Ruanda (RStGH) jeweils 1993 und 1994 geschaffen wurden. Dies kann eigentlich als die Wiedergeburt des Völkerstrafrechts bezeichnet werden.188 In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wurden auch mehrere Tribunale anderer Art gegründet, die als gemischte Tribunale oder hybrid courts (sie sind teilweise nationale und teilweise internationale Gerichte) bezeichnet werden, wie z. B. der Sondergerichtshof für Sierra Leone bzw. das Special Court for Sierra Leone (SCSL) in 2002, das Sondertribunal für den Libanon (STL) in 2007, die Special Panels for Serious Crimes (SPSC) von Osttimor in 2000, die Außerordentlichen Kammern in Kambodscha zwischen 2001–2003 und sogar die Kosovo Specialist Chambers (KSC) im Jahr 2015.189 Die Ad-hocund die gemischten Tribunale bilden zwei Entwicklungen des Völkerstrafrechts, 187

Siehe oben, erstes Kapitel, A. IV. Vgl. Werle/Jeßberger, S.  18: „Diese Entwicklung führte zu einer Renaissance des von manchen schon totgeglaubten Völkerstrafrechts“; siehe auch Ambos, Treatise, Vol. I, S. 19–23; Milanovic, J. Int’l Crim. Just. 2012, 165 (168). 189 Die gemischten Tribunale sind jedoch im strikten Sinne auch ad hoc eingerichtet worden und „mit einer örtlich und zeitlich begrenzten Zuständigkeit ausgestattet“, Werle/Jeßberger, S. 37; das internationale Element dieser Tribunale kann ihre Rechtsgrundlage, die Staatsangehörigkeit der Richter oder das anwendbare Recht betreffen, ebd.; siehe dazu auch Ambos,­ Treatise, Vol. I, S. 40 ff. 188

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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die in gewissem Maße parallel stattgefunden haben und miteinander verbunden sind, weil die gemischten Tribunale (hinsichtlich einiger Themen) der Rechtsprechung der Straftribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda folgen. In der Rechtsprechung des JStGH und des RStGH wurde das NCSL-Prinzip mehrmals diskutiert. In diesem Zusammenhang sind die internationalen Menschenrechte und insbesondere die Entscheidungen des EGMR über dieses Prinzip von diesen Tribunalen berücksichtigt worden. Diesbezüglich ist auch das SCSL neben den Ad-hoc-Straftribunalen besonders relevant. Deswegen soll an dieser Stelle nicht nur analysiert werden, was von diesen Tribunalen über das NCSLPrinzip gesagt worden ist, sondern auch die Art und Weise, in der sie das anwendbare Recht und dadurch die Definition und die Elemente der konkreten strafbaren Handlungen festgestellt haben. Falls es notwendig sein sollte, wird in den Fußnoten auch auf andere gemischte Tribunale Bezug genommen. Das Ziel ist damit folglich zu erkunden, inwiefern die Grundlagen einer allgemeinen Konzeption des NCSLPrinzips, die im zweiten Kapitel vor dem Hintergrund der Strafprozesse der Nachkriegszeit identifiziert wurden, im Rahmen der Ad-hoc-Straftribunale und des SCSL anerkannt worden sind und wie diese Grundlagen weiter präzisiert werden können. Dafür wird eine induktive Urteilsanalyse durchgeführt, in der insbesondere die Verbindung zwischen dem NCSL-Prinzip und den Völkerrechtsquellen dargestellt wird. Als Ergebnis soll ein Mindeststandard identifiziert werden, der sich aus der seit dem Nürnberger Prozess gegründeten Rechtstradition ergibt und im Lichte des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht beachtet werden sollte.

I. Rückwirkung und die internationalen Ad-hoc-Straftribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda Wie bereits erwähnt, waren der JStGH und der RStGH die ersten internationalen Straftribunale, die nach den internationalen Strafprozessen der Nachkriegszeit (ca. fünfzig Jahre später) eingerichtet wurden. Art. 29 und Kapitel VII der Charta der VN bildeten die Rechtsgrundlage hierfür. Dies bedeutet, dass sie als Nebenorgane des Sicherheitsrats, die allerdings unabhängig sein sollten, und als Maßnahmen gegen die Bedrohung oder den Bruch des Friedens (Kapitel VII) in Bezug auf die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda konzipiert wurden.190 190

Der Generalsekretär der VN empfahl die Einrichtung der Tribunale durch Resolutionen des Sicherheitsrats, weil die Aufnahme einer Resolution der Generalversammlung oder die Unterzeichnung eines völkerrechtlichen Vertrages zu lange gedauert hätte und die Situation im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda dringende Maßnahmen verlangte, Report of the SecretaryGeneral Pursuant to Paragraph 2 of the Security Council Resolution 808 (UN Doc. S/25704, 03.05.1993), Para. 18 ff. und Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph 5 of Security Council Resolution 955 (1994), Para. 6 ff.; laut dem JStGH bildet die Einrichtung des Tribunals eine Maßnahme, um den Weltfrieden bzw. die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen, im Sinne des Art. 41 der Charta der VN, JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 34–36.

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Beide Gerichtshöfe sind Ad-hoc-Tribunale, d. h., sie wurden im Hinblick auf eine bestimmte Situation und für die Aburteilung von bereits begangenen Verbrechen geschaffen. Dieser Umstand stellte eine der größten Schwierigkeiten im Lichte des NCSL-Prinzips dar, genauso wie es schon im Kontext des Nürnberger IMG und des IMTFO der Fall war. Denn sie mussten auch in ihren Entscheidungen und Urteilen in einigen Fällen das zum Zeitpunkt der Tatbegehung gültige Völkerrecht feststellen. Zahar führt hierzu aus: „The founders [der Ad-hoc-Tribunale] placed the judges in the challenging position and somewhat compromising position of having to ‚discover‘ a law, largely unarticulated“.191 Dies erinnert an die in Bezug auf das Common Law in Sinne von Richterrecht zumindest seit Blackstone formulierte declaratory theory.192 Wie bereits in Bezug auf den Nürnberger IMG war der Ausgangspunkt zur Feststellung des geltenden Rechts das jeweilige Statut. Dieses bildet jedoch nicht die eigentliche Rechtsgrundlage der Strafbarkeit der Handlungen und verweist deshalb auf andere Völkerrechtsquellen, die auch interpretiert werden müssen, wenn sie die materielle Zuständigkeit der Ad-hoc-Straftribunale bestimmen.193 Vor diesem Hintergrund bewegten sich beide Gerichtshöfe innerhalb eines gewissen Entscheidungsspielraumes, der die weitere Entwicklung und Konsolidierung des Völkerstrafrechts ermöglichte, aber auch mehrere Diskussionen über die angebliche Verletzung des NCSL-Prinzips verursachte. Obwohl das NCSL-Prinzip in den Statuten der Ad-hoc-Straftribunale nicht explizit vorgesehen war, tauchte die Frage nach der Achtung dieses Grundsatzes, vor allem in Bezug auf das Rückwirkungsverbot, sowohl im Moment der Einrichtung der Tribunale als auch danach während einiger Strafprozesse hinsichtlich verschiedener Zurechnungsfragen und bestimmter strafbarer Handlungen auf. Deswegen ist die relevante Rechtsprechung deieser Tribunale, vor allem des JStGH, hier zu thematisieren. 1. Berichte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen: Anwendung von Normen, die zweifelsfrei Völkergewohnheitsrecht bildeten? Bevor die für die Analyse des NCSL-Prinzips relevante Rechtsprechung thematisiert wird, soll gesagt werden, dass die Achtung dieses Grundsatzes von Anfang an ein wichtiges Thema darstellte. Dies kann in den Berichten des Generalsekretärs der VN gesehen werden, in denen er u. a. die Rechtsgrundlage zur Einrichtung der Tribunale und ihre materielle Zuständigkeit veranschaulicht. Durch die Betrachtung dieser Dokumente wird ferner klar, dass der Ansatz, der zur Festlegung 191

Zahar, in: The Legacy, S. 468. Siehe oben, erstes Kapitel, C. I. 4. 193 Siehe Zahar, in: The Legacy, S. 478: „[T]he ‚Statutes‘ […] are not themselves substantive law […] The ‚Statutes‘ are nothing more than limitations on jurisdiction“; siehe auch Zahar/Sluiter, S. 80–81; zum Entwurf des Statuts der Ad-hoc-Straftribunale siehe Boot, S. 223 ff. 192

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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der materiellen Zuständigkeit jedes Tribunals verfolgt wurde, jeweils unterschiedlich war. Die vom Völkergewohn­heitsrecht im Kontext des JStGH eingenommene Rolle sollte wichtiger als die Rolle sein, die es im Kontext des RStGH besessen haben musste, weil nicht alle in den Konflikt involvierten Staaten im ersten Fall Vertragsparteien der relevanten völkerrechtlichen Verträge waren. Vielleicht ist die Rechtsprechung des JStGH aus diesem Grund umstrittener als die Rechtsprechung des RStGH gewesen. Auf jeden Fall erlauben es beide Ansätze, verschiedene Aspekte bzw. Probleme, die hinsichtlich des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht berücksichtigt werden sollen, zu illustrieren. Der JStGH wurde durch die vom Sicherheitsrat der VN verabschiedeten Resolutionen 808 vom 22.02.1993 und 827 vom 25.05.1993 auf Grundlage des Kapitels VII der Charta der VN eingerichtet.194 Der Generalsekretär der VN wurde durch den zweiten Paragraf der Resolution 808 aufgefordert, einen Bericht über alle Aspekte des neuen Tribunals „at the earliest possible date“ vorzulegen. In dem am 03.05.1993 vorgelegten Bericht äußerte der Generalsekretär die Sorge hinsichtlich der Achtung des NCSL-Prinzips, insbesondere des Rückwirkungsverbots. Der Generalsekretär behauptete insofern, dass der Sicherheitsrat bei der Einrichtung des JStGH nicht beabsichtige, das anzuwendende Recht zu schaffen und dass der JStGH lediglich bestehendes Völkerrecht anwenden solle.195 Der Generalsekretär stellte weiterhin richtigerweise fest, dass das humanitäre Völkerrecht sowohl Völkergewohnheitsrecht als auch Völkervertragsrecht umfasse. Ihm zufolge war nicht sämtliches Völkergewohnheitsrecht positiviert worden, die wichtigsten völkerrechtlichen Verträge waren aber bereits als Völkergewohnheitsrecht anerkannt.196 Um Probleme im Lichte des NCSL-Prinzips zu vermeiden, sollte der JStGH nur diejenigen Normen anwenden, die zweifelsfrei Völkergewohnheitsrecht bildeten.197 Auf diese Weise sollte kein Problem erfolgen, falls nicht alle Staaten, die an dem Konflikt im ehemaligen Jugoslawien beteiligt waren, Vertragsparteien der relevanten völkerrechtlichen Verträge waren.198 Der Generalsekretär erwähnte sodann vier internationale Instrumente, die bereits völkergewohnheitsrechtlichen Charakter haben sollten, nämlich die GK von 1949 zum 194 Diese Resolutionen gehören zu einer Reihe von Resolutionen des Sicherheitsrats über die Situation im ehemaligen Jugoslawien. In einigen von diesen Resolutionen wies der Sicherheitsrat auf den verbrecherischen Charakter der in diesem Konflikt stattgefundenen Verletzungen des Völkerrechts hin, siehe z. B. die Resolution 764 vom 13.07.1992 und die Resolution 771 vom 13.08.1992; durch die Resolution 827 (Paragraf 2) entschied der Sicherheitsrat: „to establish an international tribunal for the sole purpose of prosecuting persons responsible for serious violations of international humanitarian law committed in the territory of the former Yugoslavia between 1 January 1991 and a date to be determined by the Security Council upon the restoration of peace“. 195 Vgl. Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph 2 of the Security Council­ Resolution 808 (UN Doc. S/25704, 03.05.1993), Para. 29. 196 Ebd., Para. 33. 197 Ebd., Para. 34: „[R]ules of international humanitarian law which are beyond any doubt part of customary law“. 198 Ebd.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte, die Haager Konvention IV von 1907 über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, die Genozidkonvention von 1948 und die LC von 1945.199 Die Frage über die Normen, die zweifelsfrei Völkergewohnheitsrecht bildeten, war jedoch nicht immer einfach zu beantworten, wie es im vorliegenden Abschnitt noch gezeigt wird. Die Situation in Bezug auf den RStGH war anderer Art. Hier ging es nicht um einen Konflikt, an dem mehrere Staaten beteiligt waren. Deswegen trat das Problem der Anwendung von Normen, die nicht für alle Länder bindend sind, nicht auf. Es handelte sich um einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt, der in Ruandas Staatsgebiet stattfand. Aus diesem Grund, wie der Generalsekretär in dem am 13.02.1995 und in Einklang mit der Resolution 955200 vom 08.11.1994 vorgelegten Bericht behauptete, habe der Sicherheitsrat explizit die Verletzungen des gemeinsamen Art. 3 GK und des Zusatzprotokolls (ZP) II als Kriegsverbrechen in das RStGH-Statut aufgenommen.201 Dem Generalsekretär zufolge verfolgte damit der Sicherheitsrat einen expansiven Ansatz. Mit den Worten des General­sekretärs gesagt: „[T]he Security Council has elected to take a more expansive approach to the choice of the applicable law than the one underlying the statute of the Yugoslav Tribunal“.202 Der Generalsekretär behauptete, dass der Sicherheitsrat im Unterschied zu dem in Bezug auf den JStGH verfolgten Ansatz hier neues Recht schaffe. Deswegen sagte er in seinem Bericht: „Article 4 of the statute […] for the first time criminalizes common article 3 of the four Geneva Conventions“.203 Der RStGH war also für die während des ruandischen Konflikts begangenen Kriegsverbrechen zuständig, unabhängig davon, ob der gemeinsame Art. 3 GK oder das ZP  II Völkergewohnheitsrecht bildeten oder ob diese Normen nach Völkergewohnheitsrecht die Strafbarkeit der Handlungen implizierten.204 Es ist jedoch zu erwähnen, dass der Umstand, dass weder der gemeinsame Art. 3 GK noch das ZP II Völkergewohnheitsrecht gebildet hätten, aus der Perspektive des NCSL-Prinzips in diesem Kontext nicht problematisch zu sein scheint, weil Ruanda jeweils seit dem 05.05.1964 und seit dem 19.11.1984 Vertragspartei der GK und des ZP 199

Ebd., Para. 35. Vgl. Resolution  955 vom 08. 11.  1994, Paragraf 5; der Sicherheitsrat entschied durch diese Resolution (nach dem von der ruandischen Regierung gestellten Antrag): „[T]o establish an international tribunal for the sole purpose of prosecuting persons responsible for genocide and other serious violations of international humanitarian law committed in the territory of Rwanda and Rwandan citizens responsible for genocide and other such violations committed in the territory of neighbouring States, between 1 January 1994 and 31 December 1994“, ebd., Paragraf 1; der RStGH arbeitete bis zum 31.12.2015, siehe die Legacy website of the International Criminal Tribunal for Rwanda unter http://unictr.unmict.org/ (zuletzt aufgerufen am 06.10.2016). 201 Siehe Art. 4 RStGH-Statut. Vgl. Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph 5 of Security Council Resolution 955 (1994), Para. 11: „Given the nature of the conflict as noninternational in character“). 202 Ebd., Para. 12. 203 Ebd. 204 Ebd. 200

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II war.205 Darüber hinaus sollte der Zweifel über den völkerrechtlichen Charakter der Strafbarkeit der Verletzungen einiger diesen Normen dem Generalsekretär zufolge keine Schwierigkeit darstellen, weil einige solcher Handlungen nach Völkergewohnheitsrecht immerhin als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft werden könnten.206 Der Unterschied bei der Festlegung der materiellen Zuständigkeit der Ad-hocStraftribunale zeigt verschiedene Aspekte, die hinsichtlich des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht berücksichtigt werden müssen. Einerseits verdeutlicht der Fall des JStGH wieder die Bedeutung des Völkergewohnheitsrechts als allgemein geltendes Recht angesichts der Grenzen der völkerrechtlichen Verträge. Die Entscheidung des Sicherheitsrats bei der Festlegung der materiellen Zuständigkeit des JStGH und der Bericht des Generalsekretärs der VN bestätigen ferner die Geltung des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht sowie außerdem das Völkergewohnheitsrecht als einen der Bezugspunkte der Legalität in diesem Kontext. Andererseits zeigt die Aufnahme der Verlet­zungen des gemeinsamen Art. 3 GK oder des ZP  II im RStGH-Statut die Relevanz des Unterschieds zwischen Verbot und Strafbarkeit, um die Entwicklung des Völkerstrafrechts zu verstehen. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass das Völkergewohnheitsrecht bei der Einrichtung der Adhoc-Strafrribunale nicht betrachtet wurde, um ungeschriebene Verhaltensnormen durchzusetzen, ohne das Völkervertragsrecht in Betracht zu ziehen. Es handelte sich somit nicht um eine Entscheidung zwischen ungeschriebenem und geschriebenem Recht, sondern vielmehr um die gegenseitige Ergänzung dieser zwei Dimensionen des Völkerrechts. 2. Anerkennung des NCSL-Prinzips in der Rechtsprechung der internationalen Ad-hoc-Straftribunale: Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit Das NCSL-Prinzip wurde in den Statuten der Ad-hoc-Straftribunale nicht vorgesehen bzw. definiert. Trotzdem haben der JStGH und der RStGH es als eine wesentliche Gewährleistung anerkannt,207 die auch von internationalen Straftribunalen beachtet werden soll.208 In diesem Kontext ist ferner gesagt worden, dass das Rückwirkungsverbot („prohibition against ex post facto criminal laws“) und das Bestimmtheitsgebot („requirement of specificity and the prohibition

205 Siehe die Webseite vom ICRC: https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/vwTreaties 1949.xsp (zuletzt aufgerufen am 06.10.2016). 206 Vgl. Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph 5 of Security Council Resolution 955 (1994), Endnote 8; siehe insofern auch Meron, Am. J. Int’l L. 1995, 554 (561 und 565 ff.). 207 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 402. 208 Vgl. RStGH, Prosecutor v. Édouard Karemera et al., 2004, Para. 39.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

of ambiguity in criminal legislation“) die Säulen des NCSL-Prinzips bilden.209 Diese Tribunale verneinen demnach nicht, dass die strafrechtlichen Normen hinreichende Hinweise dafür bieten sollen, welches Verhalten strafbar ist und welches nicht.210 Es kann allerdings gesagt werden, dass diese Behauptungen lediglich dem Grundgedanken des NCSL-Prinzips im Allgemeinen entsprechen, aber die Frage, wie genau dieser Grundsatz im Völkerstrafrecht zu konkretisieren ist, nicht beantworten. Dafür verbinden die Ad-hoc-Straftribunale zwei weitere Elemente. Zum einen ist das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit zu nennen, wie es vom EGMR entwickelt worden ist. Zum anderen ist die Idee zu erwähnen, der zufolge das NCSL-Prinzip vor dem Hintergrund der Eigenheiten des Völkerstrafrechts definiert werden soll.211 Beide Ad-hoc-Straftribunale haben sich auf die Rechtsprechung des EGMR berufen, um verschiedene Aspekte des NCSL-Prinzips zu konkretisieren bzw. zu definieren. In diesem Kontext ist behauptet worden, dass das NCSL-Prinzip die allmähliche richterliche Entwicklung des Rechts nicht verhindere212 und dass die Tribunale auf die eigene Rechtsprechung berufen können, um einen neuen Fall zu lösen, ohne damit das NCSL-Prinzip zu verletzen.213 Eigentlich akzeptierte die Berufungskammer des JStGH für sich selbst und für die Strafkammern die bindende Kraft ihrer eigenen Entscheidungen, um Sicherheit, Stabilität und Vorhersehbarkeit bei der Feststellung des anwendbaren Rechts zu schaffen.214 Trotzdem muss gesagt werden, dass die Grenzen der Interpretationsbefugnisse der Ad-hoc-Straftribunale nicht immer klar gewesen sind und die diesbezüglich von diesen Tribunalen formulierten Erwägungen ambivalent zu sein scheinen. Dazu behauptete z. B. die Berufungskammer im Fall Hadžihasanović: „[T]he principle of legality prohibits the extension of crimes by analogy to new factual circumstances, albeit the elements of existing crimes may be clarified and interpreted by the courts over

209

Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 402. JStGH, Prosecutor v. Vidoje Blagojević and Dragan Jokić, 2005, Para. 625. 211 Vgl. RStGH, Prosecutor v. Édouard Karemera et  al., 2004, Para.  43; JStGH, Prosecutor v. Hadžihasanović et al., 2002, Para. 62; die gemischten Tribunale z. B. in Osttimor und im Libanon haben auch diesen Ansatz verfolgt, siehe SPSC, Public Prosecutor v. Joao Sarmento­ Domingos Mendoca, 2003, Para. 26 und STL, Interlocutory decision on the applicable law, 2011, Para. 135–136. 212 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Zlatko Aleksovski, 2000, Para. 126–127; JStGH, Prosecutor v. Milan Milutinović et al., 2003, Para. 39 (die Berufungskammer beruht hier auf dem EGMR und zitiert u. a. EGMR, Kokkinakis v. Greece und EGMR, S. W. v. The United Kingdom, siehe Fußnote 93). 213 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Zlatko Aleksovski, 2000, Para. 127. 214 Ebd., Para. 107, 113; in Bezug auf die Rolle der Rechtsprechung der internationalen Straftribunale als Mittel zur Feststellung des Völkergewohnheitsrechts siehe JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 537 ff. und Para. 540: „[P]recedents may constitute evidence of a customary rule in that they are indicative of the existence of opinio iuris sive necessitatis and international practice on a certain matter, or else they may be indicative of the emergence of a general principle of international law“. 210

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time“.215 In einer ähnlichen Weise führte die Berufungskammer im Fall Milutinović aus: „This fundamental principle [does not] preclude the progressive development of the law by the court. But it does prevent a court from creating new law or from interpreting existing law beyond the reasonable limits of acceptable clarificaction“.216 Wie genau kann „the extension of crimes by analogy to new factual circumstances“ oder die Auslegung „beyond the reasonable limits of acceptable clarification“ vom zulässigen „progressive development of the law“ unterschieden werden? Es gibt anscheinend keine absolute oder endgültige Antwort auf diese Frage. Allerdings kann im Allgemeinen im Einklang mit dem EGMR festgehalten werden, dass das NCSL-Prinzip (verstanden als Rückwirkungs- und Bestimmtheitsgebot) nicht verletzt wird, sofern die Strafbarkeit der relevanten Handlungen für die Angeklagten vorhersehbar und zugänglich war. Insofern stellte die Strafkammer II des JStGH fest, dass die Aufmerksamkeit mehr auf die konkreten Handlungen als auf eine bestimmte Rechtsnorm fokussiert werden sollte.217 Die Ad-hoc-Straftribunale haben folglich versucht, das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit zu präzisieren. Diesen Tribunalen zufolge sei der Kriminalisierungsprozess auf internationaler und nationaler Ebene unterschiedlich. Dementsprechend solle das NCSL-Prinzip in jedem dieser Kontexte auf unterschiedliche Weise begriffen werden.218 Somit sollen die folgenden Faktoren gemäß dem durch die Strafkammer des JStGH im Fall Delalić ergangenen Urteil berücksichtigt werden, um das NCSL-Prinzip und damit das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit219 im Kontext des Völkerstrafrechts inhaltlich zu bestimmen: „[T]he nature of international law; the absence of international legislative policies and standards; the ad hoc processes of technical drafting; and the basic assumption that international criminal law norms will be embodied into the national criminal law of the various States“.220 Es reiche also, wenn der Angeklagte in der Lage sein sollte, den verbrecherischen Charakter der Handlung zu würdigen, wie die Berufungskammer im Fall Hadžihasanović behauptete, „in the sense generally understood, without reference to any specific provision“.221

215

Vgl. JStGH, Prosecutor v. Enver Hadžihasanović et al., 2002, Para. 15. Vgl. JStGH, Prosecutor v. Milan Milutinović et al., 2003, Para. 38. 217 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Hadžihasanović et al., 2002, Para. 62: „[T]he emphasis on conduct, rather than on the specific description of the offence in substantive criminal law, is of primary importance“. 218 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 404: „Whereas the criminalisation process in a national criminal justice system depends upon legislation which dictates the time when conduct is prohibited and the content of such prohibition, the international criminal justice system attains the same objective through treaties or conventions, or after  a customary practice of the unilateral enforcement of a prohibition by States“. 219 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Milan Milutinović et al., 2003, Para. 39 (die Berufungskammer bezieht sich an dieser Stelle auf das Urteil des Juristen-Prozesses, wenn sie über die Eigenheiten des Völkerstrafrechts spricht). 220 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 405. 221 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Hadžihasanović et al., 2003, Para. 34. 216

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Darüber hinaus bietet die Berufungskammer im Fall Milutinović einige Bezugspunkte, die hilfreich sind, um die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit festzustellen, d. h. die fair notice über die Kriminalisierung einer Handlung im Völkerrecht bieten können. Dafür kann beispielsweise die nationale Rechtsordnung des Angeklagten in Betracht kommen.222 Dies bildet ein wichtiges, aber kein unentbehrliches Element. Wenn das Verhalten des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tatbegehung in diesem Kontext nicht strafbar war, könne das Völkergewohnheitsrecht genügen, obwohl die Zugänglichkeit unter diesen Umständen nicht so einfach sei, wie es der Fall wäre, wenn ein internationales Strafgesetzbuch bestehen würde.223 Unter Völkergewohnheitsrecht versteht die Berufungskammer in diesem Zusammenhang „a long and consistent stream of judicial decisions, international instruments and domestic legislation“.224 Laut der Berufungskammer spielt auch die Grausamkeit des Verbrechens eine wichtige Rolle, was übrigens an die Idee von Delikten mala in se erinnert, wenngleich die Strafbarkeit der Handlung allein auf diesem Element nicht beruhen dürfe.225 Das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit kann auch mit den vom JStGH im Fall Vasiljević dargelegten Erwägungen über das „Verbrechen“ von „violence to life and person“ illustriert werden.226 Mitar Vasiljević war Mitglied einer paramilitärischen Einheit und nahm an der „ethnischen Säuberung“ teil, die 1992 in der Region von Višegrad in Bosnien und Herzegowina durchgeführt wurde.227 Er wurde u. a. wegen „violence to life and person“ als Verstoß gegen den gemeinsamen Art. 3 GK angeklagt,228 aber die Strafkammer des JStGH lehnte diesen Punkt ab. Das Hauptargument der Strafkammer in diesem Fall war, dass es zum Zeitpunkt der Tatbegehung keine Definition von „violence to life and person“ im Völkergewohnheitsrecht gegeben hatte, obwohl der gemeinsame Art.  3 GK dieses Verbot enthielt.229 Die Strafkammer akzeptierte insbesondere die Behauptung der Strafkammer des Falles Blaškić nicht, der zufolge dieses „Verbrechen“ verschiedene Handlungen wie z. B. Mord, Verstümmelung, grausame Behandlung und Folter umfassen würde,230 weil keine Beweise dafür im Sinne der Staatenpraxis gegeben wurden.231 Laut der Strafkammer des Falles Vasiljević dürften 222

Vgl. JStGH, Prosecutor v. Milan Milutinović et al., 2003, Para. 40. Ebd., Para. 41. 224 Ebd. 225 Ebd., Para. 42; zum Einfluss der Idee von Delikten mala in se auf die Rechtsprechung des JStGH siehe van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119 (155 ff.); siehe auch oben, erstes Kapitel, C. I. 4.  226 Siehe kritisch dazu Cassese, J. Int’l Crim. Just. 2004, 265 (271 ff.), laut Cassese waren die Handlungen als versuchter Mord zu bezeichnen und könnten sowohl als Kriegsverbrechen als auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft werden. 227 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Mitar Vasiljević, 2002, Para. 2–5. 228 Ebd., Para. 9. 229 Ebd., Para. 193. 230 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Tihomir Blaškić, 2000, Para. 182. 231 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Mitar Vasiljević, 2002, Para. 194. 223

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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die Richter nicht durch die Definition eines angeblichen „Verbrechens“ eine Handlung zun ersten Mal zur Straftat erklären, wenngleich das NCSL-Prinzip die richterliche Entwicklung des Rechts nicht verhindere.232 Gewisse Bezugspunkte müssten also im bestehenden Völkerrecht gefunden werden können. Um die Voraussetzungen der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit erfüllen zu können, spricht die Strafkammer in diesem Fall insbesondere von Staatenpraxis im Sinne von nationalen Strafgesetzgebungen. Demnach solle die Handlung von mehreren nationalen Rechtsordnungen kriminalisiert und auf diese Weise als verbotene Handlung erkennbar sein.233 Da solche Bezugspunkte nicht gefunden werden konnten und somit keine Definition von „violence to life and person“ bestand, musste die Strafkammer in diesem Fall beschließen, dass keine Basis für die individuelle strafrechtliche Verantwortung existierte.234 Vor dem Hintergrund der Erwägungen zu Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit, die an dieser Stelle zusammengefasst wurden, können folgende Fragen gestellt werden: Wie sind alle hier erwähnten Elemente bzw. Bezugspunkte, die fair notice über die Kriminalisierung einer Handlung auf internationaler Ebene bieten sollen, in Verbindung zu bringen? Besteht einer Art Hierarchie unter ihnen? Kann eine Handlung lediglich durch Völkergewohnheitsrecht kriminalisiert werden? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen die Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit im Kontext des Völkerrechts betrachtet und geklärt sowie einige Punkte über die Völkerrechtsquellen präzisiert werden. 3. Der Tadić-Test und Kriegsverbrechen in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten: Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit In der am 02.10.1995 im Strafprozess gegen Duško Tadić, einer der Führer der bosnisch-serbischen Partei SDS in der Stadt Kozarak in Bosnien und Herzegowina,235 getroffenen Entscheidung setzte die Berufungskammer des JStGH einige minimale Kriterien (den sog. Tadić-Test) fest, um zu bestimmen, wann eine Handlung völkerstrafrechtlich als Kriegsverbrechen strafbar war, und somit wann das NCSLPrinzip nicht verletzt ist. Diese Kriterien wurden später in anderen Strafprozessen sowohl vom JStGH als auch vom RStGH wiederholt und bildeten den vielleicht bedeutendsten Bezugspunkt in der Rechtsprechung der Ad-hoc-Straftribunale, um den Kriminalisierungsprozess auf internationaler Ebene zu verstehen. Dieser Test kann auch helfen, die am Ende des vorherigen Abschnitts gestellten Fragen zu beantworten. Deswegen soll die Argumentation der Berufungskammer an dieser Stelle rekonstruiert bzw. zusammengefasst werden. 232

Ebd., Para. 196. Ebd., Para. 198–199. 234 Ebd., Para. 203. 235 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1997, Para. 188. 233

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

In der für den vorliegenden Abschnitt relevanten Diskussion ging es vor allem um den Umfang von Art. 3 des JStGH-Statuts, der Verstöße gegen die Gesetze oder Gebräuche des Krieges vorsah, und um die Frage, ob der JStGH für die im Kontext eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts begangenen Verbrechen überhaupt zuständig war. Der Verteidigung zufolge sei der JStGH gemäß Art. 2 und 3 JStGH-Statut lediglich für Kriegsverbrechen zuständig gewesen, die in einem bewaffneten Konflikt mit internationalem Charakter begangen wurden.236 Dies ergäbe sich aus einer grammatikalischen Auslegung des Art. 2 und aus der Klarstellung des Generalsekretärs der VN über Art. 3. Art. 2 bezieht sich ausdrücklich auf „schwere Verletzungen der Genfer Abkommen von 1949“ und laut dem Bericht des Generalsekretärs bildete die Haager Konvention IV von 1907 über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs als Völkergewohnheitsrecht die Grundlage des Art. 3.237 Beide Regelungen seien nur, betonte die Verteidigung, auf internationale bewaffnete Konflikte anwendbar, und somit könnten „Kriegsverbrechen“, die in einem internen Konflikt stattgefunden hatten, vom JStGH nicht verurteilt werden (der Verteidigung zufolge habe Tadić in einem internen bewaffneten Konflikt gehandelt).238 Die Berufungskammer behauptete dagegen, dass die Situation im ehemaligen Jugoslawien Elemente beider Arten von Konflikten habe und dass der Sicherheitsrat sich dieses Umstands bewusst sei.239 Deswegen sei es möglich, mit einer teleologischen Interpretation festzustellen, dass der JStGH eingerichtet wurde, um Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht abzuurteilen, ganz gleich in welchem Kontext sie begangen wurden.240 Anschließend analysierte die Berufungskammer jede dieser Normen getrennt. Nach der Feststellung, dass Art. 2 JStGH-Statut nur in Bezug auf in einem internationalen bewaffneten Konflikt begangene Verbrechen anzuwenden war,241 beschäftigte sich die Berufungskammer mit Art. 3 desselben Statuts. Die diesbezügliche Argumentation der Berufungskammer kann in zwei Schritte unterteilt werden. Zuerst legte sie Art. 3 JStGH-Statut aus und kam zur Schlussfolgerung, dass diese Norm nicht nur Verstöße gegen die Haager Konvention IV, sondern auch alle schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts umfasste, die unter Art. 2 nicht subsumiert werden können, darunter auch die Verletzungen des gemeinsamen Art. 3 der GK und des ZP II.242 Die Berufungskammer des JStGH behauptete: Art. 3 „functions as a residual clause designed to ensure that no serious violation of international humanitarian law is taken away from the jurisdiction

236

Vgl. JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 65. Vgl. Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph 2 of the Security Council Resolution 808 (UN Doc. S/25704, 03.05.1993), Para. 37 (in Bezug auf Art. 2 JStGH-Statut) und Para. 41–44 (in Bezug auf Art. 3 JStGH-Statut). 238 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 65. 239 Ebd., Para. 76–77. 240 Ebd. 241 Ebd., Para. 81–84. 242 Ebd., Para. 87. 237

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of the International Tribunal“.243 Da die in dieser Norm erscheinende Liste von Handlungen nicht abschließend war,244 wurden die Voraussetzungen, die eine Handlung erfüllen muss, um gemäß Art. 3 JStGH-Statut bestraft werden zu können, in einem zweiten Schritt von der Berufungskammer festgelegt. Dies bildet den sog. Tadić-Test, und dieser besteht aus vier Kriterien: „(i) the violation must constitute an infringement of a rule of international humanitarian law; (ii) the rule must be customary in nature or, if it belongs to treaty law, the required conditions must be met […]; (iii) the violation must be ‚serious‘, that is to say, it must constitute  a breach of  a rule protecting important values, and the breach must involve grave consequences for the victim. Thus, for instance, the fact of a combatant simply appropriating a loaf of bread in an occupied village would not amount to a ‚serious violation of international humanitarian law‘ although it may be regarded as falling foul of the basic principle laid down in Article 46, paragraph 1, of the Hague Regulations (and the corresponding rule of customary international law) whereby ‚private property must be respected‘ by any army occupying an enemy territory; (iv) the violation of the rule must entail, under customary or conventional law, the individual criminal responsibility of the person breaching the rule“.245

Daraus folgt zweierlei: Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass es im TadićTest nicht um die Auslegung des JStGH-Statuts, sondern um die Interpretation des zum Zeitpunkt der Tatbegehung gültigen Völkerrechts geht. Die Berufungskammer ging davon aus, dass das Statut das anzuwendende Recht nicht erschuf, wenngleich es die materielle Zuständigkeit des JStGH bestimmte. Zum anderen ergibt sich daraus, dass das Verbot einer Handlung im Völkerrecht mit ihrer Krimina­ lisierung nicht gleichzusetzen ist. Von daher setzt die Festlegung des anzuwendenden Rechts seitens des Tribunals die Anerkennung der Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit voraus.246 Die Berufungskammer nahm an, dass das Verbot einer Handlung und ihre Strafbarkeit im Völkerrecht nicht zugleich und in demselben internationalen Instrument erscheinen müssen. Deshalb bezog sich die Berufungskammer unter Nummer (i) auf die Verletzung einer Norm des humanitären Völkerrechts und erst danach unter Nummer (iv) als andere Voraussetzung auf ihre Strafbarkeit. Auch aus diesem Grund wurden diese zwei Kriterien in der Entscheidung getrennt geprüft, wie hier noch zu sehen sein wird. Die Berufungskammer konzentrierte sich auf die Kriterien (i) und (iv) des Tadić-Tests und stellte insofern zwei Fragen: erstens, ob es gewohnheitsrechtliche Normen gab, die nicht-internationale bewaffnete Konflikte regelten, und zweitens, ob die Verletzung solcher Normen nach Völkergewohnheitsrecht die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit zur Folge hatte. In Bezug auf die erste Frage behauptete die Berufungskammer, dass seit dem spanischen Bürgerkrieg im Völkerrecht eine Tendenz bestehe, gewisse Normen, die im Prinzip auf internationale 243

Ebd., Para. 91. Laut Art. 3 JStGH-Statut: „Such violations shall include, but not be limited to […] “. 245 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 92–94. 246 Van Schaack sieht jedoch im Tadić-Test eine Art Gleichsetzung zwischen Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit, vgl. van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119 (154). 244

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

bewaffnete Konflikte gerichtet sind, auch im Kontext von nicht-internationalen Konflikten anzuwenden.247 Diese Normen schützen die Zivilbevölkerung und regeln sogar einige Mittel und Methoden der Kriegsführung, sie verbieten z. B. den Einsatz chemischer Waffen.248 Die Berufungskammer versuchte also, das Bestehen des Völkergewohnheitsrechts zu beweisen, und stellte damit fest, welche Elemente dafür in Betracht kommen sollten. Es ist hervorzuheben, dass die Staatenpraxis, verstanden als das eigentliche Verhalten der an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Kombattanten, in der Argumentation der Berufungskammer an Bedeutung verliert, „on account of the inherent nature of this subject-matter“.249 Laut der Berufungskammer sollten vielmehr offizielle Aussagen der Staaten, militärische Handbücher und Gerichtsentscheidungen berücksichtigt werden.250 Dies zeigt, dass sich der traditionelle Begriff des Völkergewohnheitsrechts im Kontext des Völkerstrafrechts zu ändern scheint. Die Berufungskammer bezog sich sodann auf Deklarationen bzw. Aussagen von Staaten bzw. Regierungen, bewaffneten Gruppen und internationalen Organisationen hinsichtlich der Achtung des humanitären Völkerrechts in verschiedenen internen Konflikten.251 Darüber hinaus erwähnte sie die Tätigkeit des International Committee of the Red Cross (ICRC) und bezeichnete diese als ein Element der internationalen Praxis.252 Demnach sind nicht nur Staaten am Entstehungsprozess des Völkergewohnheitsrechts beteiligt. Die Berufungskammer griff auch auf die Entscheidung des IGH über Nicaragua zurück, um den völkerrechtlichen Charakter des gemeinsamen Art. 3 GK zu bekräftigen253 und behauptete hinsichtlich des ZP II, dass dieses Instrument 1995 bereits Gewohnheitsrechtsnormen umfasst habe.254 Die Schlussfolgerung der Be 247

Vgl. JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 100. Ebd., Para. 120. 249 Ebd., Para. 99. 250 Ebd.; siehe auch STL, Interlocutory decision on the applicable law, 2011, Para.  87: „[O]ne must look to the behaviour of States, as it takes shape through agreement upon international treaties […] as well as the enactment by States of specific domestic laws and decisions by national courts“. 251 Als Beispiele können hier die 1964 in Bezug auf den Bürgerkrieg, der im Kongo stattfand, vom kongolesischen Premierministers formulierten Deklarationen erwähnt werden (JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 105), ebenso wie die Stellungnahme der Rebellen des FMLN in El Salvador (1988) (ebd., Para. 107), eine Deklaration von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf Liberia (1990) (ebd., Para. 113) sowie die Resolutionen des Sicherheitsrats der VN in Bezug auf Somalia (Resolution 794 vom 03.12.1992 und Resolution 814 vom 26.03.1993) und Georgien (Resolution 993 vom 12.02.1993) (ebd., Para. 114); siehe auch Meron, Am. J. Int’l L. 1996, 238 (239–240), laut Meron: „[I]n Tadić, the courts looked primarily to the opinio juris rather than the practice of states in reaching their conclusions […] In terminology, however, the Tribunal follows the law of war tradition of speaking of custom even when this requires stretching the traditional meaning of customary law“. 252 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 109. 253 Ebd., Para. 102; der IGH bezieht sich auf den gemeinsamen Art. 3 GK als „elementary considerations of humanity“, IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, 1986, Para. 218. 254 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 117. 248

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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rufungskammer ist somit, dass die Voraussetzung Nummer (i) des Tadić-Tests erfüllt sei. Hinsichtlich der Voraussetzung Nummer (iv) des Tadić-Tests bzw. hinsichtlich der von ihr gestellten zweiten Frage nahm die Berufungskammer an, dass der gemeinsame Art. 3 GK die Strafbarkeit der Verletzung ihrer Bestimmungen nicht vorsieht.255 Wie bereits erwähnt, lautet diese Voraussetzung: „the violation of the rule must entail, under customary or conventional law, the individual criminal responsibility“. Beruhend auf dem Nürnberger Urteil erklärte sie jedoch, dass die Strafbarkeit sich sowohl aus Deklarationen von Staaten und internationalen Organisationen als auch aus der nationalen Gerichtspraxis ergeben könne.256 Die Berufungskammer bezog sich jedoch vornehmlich auf nationale Strafgesetzgebungen als Staatenpraxis – darunter auch auf das jugoslawische und bosnische Recht –, in denen Verletzungen des gemeinsamen Art. 3 GK strafbare Handlungen bildeten,257 und auf Resolutionen des Sicherheitsrats der VN als Beweis einer Rechtsüberzeugung, um festzustellen, dass die Verletzungen des gemeinsamen Art. 3 GK nach dem Völkergewohnheitsrecht zum Zeitpunkt der Tatbegehung bereits strafbar waren.258 Dieses Ergebnis wurde ferner durch einige Erwägungen bekräftigt, die die moralische Konnotation des humanitären Völkerrechts betonen und die Schwere seiner Verletzungen hervorheben. In diesem Sinne behauptete die Berufungskammer: „Principles and rules of humanitarian law reflect ‚elementary considerations of humanity‘“.259 Sie führte weiter aus, dass die Idee, der zufolge die schwerwiegenden Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht über interne bewaffnete Konflikte zu bestrafen sind, aus der Sicht der materiellen Gerechtigkeit („from the point of view of substantive justice“) gerechtfertigt sei.260 Zusammengefasst und als Ergebnis der Analyse der Argumentation der Berufungskammer darf also behauptet werden, dass Art. 3 JStGH-Statut Handlungen umfasste, die bereits durch Normen des Völkervertragsrechts, wie der gemeinsame Art. 3 GK und das ZP II, verboten waren. Diese Normen hatten wegen ihres völkergewohnheitsrechtlichen Charakters allgemeine Geltung und die Handlungen, die gegen diese Normen verstoßen, waren auch bereits nach dem Völkergewohnheitsrecht strafbar.261 255

Ebd., Para. 128. Ebd.; siehe auch Bantekas, International, S. 23, laut Bantekas werde das Argument des IMG in Bezug auf das NCSL-Prinzip auf eine ähnliche Weise zum sog. thin ice principle (siehe oben, erstes Kapitel, B. I. 5.), formuliert. Trotzdem behauptet er, dass die Argumentation des JStGH in dieser Hinsicht überzeugender sei, weil sie mehr Unterstützung in nationalen Gesetzgebungen hätte. 257 Die Berufungskammer erwähnt auch militärische Handbücher von Deutschland, Neuseeland, der Vereinigten Staaten und England, JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 131–132. 258 Die einstimmig aufgenommenen Resolutionen des Sicherheitsrats der VN in Bezug auf Somalia sind an dieser Stelle von der Berufungskammer erwähnt, ebd., Para. 133. 259 Ebd., Para. 129. 260 Ebd., Para. 135. 261 Dieses Ergebnis ist als eine Kombination aus dem sich entwickelnden Völkergewohnheitsrecht und bestehenden allgemeinen Grundsätzen bezeichnet worden; dies enthalte ein Element 256

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Der Tadić-Test ist auch in anderen internationalen Strafprozessen angewendet worden. Folgende Entscheidungen sind hier zu erwähnen: das Urteil der Strafkammer I des RStGH gegen Jean-Paul Akayesu (02.09.1998) und das Urteil der Strafkammer I des JStGH gegen Stanislav Galić (05.12.2003).262 Akayesu war zwischen April 1993 und Juni 1994 Bürgermeister der Gemeinde von Taba in Ruanda, in der zumindest 2000 Mitglieder der Ethnie Tutsi während dieser Zeit getötet wurden.263 Ihm wurden vom Ankläger neben Völkermord (Art. 2 RStGH-Statut) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 3 RStGH-Statut) auch Verstöße gegen den gemeinsamen Art.  3 GK und Verletzungen des ZP II vorgeworfen (Art. 4 RStGH-Statut).264 Die Strafkammer des RStGH berief sich in diesem Fall auf die am 02.10.1995 von der Berufungskammer im Tadić-Prozess getroffene Entscheidung, um den Völkergewohnheitscharakter des gemeinsamen Art. 3 GK und des Art. 4 Abs. 2 ZP II über grundlegende Garantien zu bestätigen.265 Obwohl der Ansatz, der vom Generalsekretär der VN in Bezug auf Art. 4 des RStGH-Statuts aufgenommen wurde, suggeriert, dass die Unterscheidung zwischen Verbot und Kriminalisierung im Kontext des RStGH nicht relevant sein sollte,266 hob die Strafkammer des RStGH gerade diesen Unterschied hervor und behauptete: „For the purposes of an international criminal Tribunal […] it is not sufficient merely to affirm that Common Article 3 and parts of Article 4 of Additional Protocol II […] form part of international customary law […] it must also be shown that an individual committing serious violations of these customary norms incurs, as a matter of custom, individual criminal responsibility thereby. Otherwise, it might be argued that these instruments only state norms applicable to States and Parties to a conflict, and that they do not create crimes for which individuals may be tried“.267

Die Strafkammer des RStGH beruht also auf den Erwägungen vom Tadić-Prozess und kommt zum gleichen Ergebnis wie die Berufungskammer, d. h., dass Verstöße gegen den gemeinsamen Art. 3 GK nach dem Völkergewohnheitsrecht strafbar waren.268 von Rechtserzeugung aber auf der Basis vom bestehenden Völkerrecht, insofern siehe Simma/ Paulus, Am.  J.  Int’l  L. 1999, 302 (313); im Unterschied sieht Lamb in dieser Entscheidung einen expansiven Ansatz, der mit dem NCSL-Prinzip kaum vereinbar sei, vgl. Lamb, in: The Rome Statute, S. 743; auch kritisch dazu Zahar, in: The Legacy, S. 478. 262 Siehe auch hinsichtlich des Verbrechens des internationalen Terrorismus STL, Interlocutory decision on the applicable law, 2011, Para. 103: „The Appeals Chamber acknowledges that the existence of a customary rule outlawing terrorism does not automatically mean that terrorism is a criminal offence under international law“; dazu Ambos, LJIL 2011, 655; siehe hinsichtlich drei Voraussetzungen der internationalen Kriminalisierung einer Handlung, ebd., S. 670; zu dieser Entscheidung und skeptisch zur Behauptung, dass der Terrorismus ein „core crime“ bilde, siehe Broomhall, in: The Rome Statute, Rn. 62. 263 Vgl. RStGH, Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, 1998, Para. 6. 264 Ebd. 265 Ebd., Para. 608. 266 Vgl. Zahar/Sluiter, S. 86–87. 267 Vgl. RStGH, Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, 1998, Para. 611. 268 Ebd., Para. 612–615; dieses Ergebnis wurde auch im Urteil des Tadić-Prozesses bestätigt, JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1997, Para. 613.

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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In diesem Urteil wurde des Weiteren auch behauptet, ruandische Staatsangehörige seien sich bewusst gewesen oder hätten sich bewusst sein müssen, dass solche Taten verbrecherisch waren. Diese Schlussfolgerung wurde dadurch bekräftigt, dass sowohl die GK als auch das ZP II als Völkervertragsrecht 1994 für Ruanda bindend waren und die relevanten Taten zu dieser Zeit auch im nationalen Strafrecht strafbare Handlungen bildeten.269 Der Tadić-Test wurde noch deutlicher im Fall Galić angewendet. Der Generalmajor Stanislav Galić war zwei Jahre lang (10.09.1992–10.08.1994), während des Angriffs auf Sarajevo, der Kommandant einer Einheit (Sarajevo Romanija Corps oder „SRK“) der bosnisch-serbischen Armee („VRS“) gewesen und führte in dieser Funktion eine langwierige Kampagne mit Scharfschützen und Beschuss gegen die Zivilbevölkerung.270 Er wurde wegen „unlawfully inflicting terror upon civilians“ und „attacks on civilians“ gemäß Art. 3 JStGH-Statut (Verstöße gegen die Gesetze oder Gebräuche des Krieges) angeklagt, weil er gegen Art. 51 ZP I und Art. 13 ZP II GK verstoßen hatte.271 Da solche Verbrechen in Art. 3 JStGH-Statut nicht erwähnt waren, berief sich die Strafkammer I des JStGH auf den Tadić-Test.272 Laut der Strafkammer I sei die erste Voraussetzung des Tadić-Tests, d. h. „the violation must constitute an infringement of a rule of international humanitarian law“, erfüllt gewesen, weil Art.  51 ZP  I und Art.  13 ZP  II GK Angriffe gegen die Zivilbevölkerung verbieten.273 Auch die zweite Voraussetzung, nach der „the rule must be customary in nature“ oder, wenn es um Völkervertragsrecht geht, „the required conditions must be met“, sei in diesem Fall erfüllt gewesen. Nach der Rechtsprechung des JStGH bildeten diese Normen insofern bereits Völkergewohnheitsrecht.274 Darüber hinaus waren die relevanten Normen für die Konflikt 269

Vgl. RStGH, Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, 1998, Para. 617; es ist jedoch zu erwähnen, dass Akazeyu von Kriegsverbrechen freigesprochen wurde. Er wurde aber wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, ebd., Para. 643–645 ff.; zum NCSL-Prinzip, zur Strafbarkeit der Verstöße gegen den gemeinsamen Art. 3 GK und der Anwendbarkeit dieser Norm (und des ZP II) in Ruanda siehe RStGH, Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, 1999, Para. 157–157; RStGH, Prosecutor v. Rutaganda, 1999, Para. 86–90; RStGH, Prosecutor v. Alfred Musema, 2000, Para. 236–243; der Unterschied zwischen Verbot und Kriminalisierung wurde auch im Fall Vasiljević erwähnt: hier wurde auch betont, dass die Kriminalisierung der Handlung im nationalen Recht des Landes des Angeklagten an sich nicht reichte, um die internationale Kriminalisierung zu bejahen: „[…] it is not sufficient, however, merely to establish that the act in question was illegal under international law […] nor is it enough to establish that the act in question was a crime under the domestic law of the person who committed the act“, JStGH, Prosecutor v. Mitar Vasiljević, 2002, Para. 199. 270 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Stanislav Galić, 2003, Para. 3. 271 Ebd., Para. 12. 272 Ebd., 273 Ebd., Para. 16. 274 Ebd., Para. 19, die Strafkammer zitiert an dieser Stelle u. a. die folgenden Entscheidungen: JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para. 127; JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 521; JStGH, Prosecutor v. Pavle Strugar et al., 2002, Para. 10; JStGH, Prosecutor v. Milan Martić, 1996, Para. 10.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

parteien bindend, weil sie die Anwendung dieser Bestimmungen auf den Konflikt in Jugoslawien durch das am 22.05.1992 unterzeichnete Abkommen anerkannt hatten.275 Gleiches gilt für die dritte Voraussetzung des Tadić-Tests, der zufolge die Verletzung der Norm schwer sein muss: „[I]t must constitute  a breach of  a rule protecting important values“. Denn der Schutz der Zivilbevölkerung bilde ein Kernprinzip des humanitären Völkerrechts.276 Schließlich wurde die vierte Voraussetzung auch bejaht: „[T]he violation of the rule must entail […] the individual criminal responsibility“. Die Strafkammer I zitierte insofern die bereits bestehende Rechtsprechung des JStGH über den gemeinsamen Art. 3 GK.277 Als Beweis der internationalen Strafbarkeit der Angriffe gegen die Zivilbevölkerung berief sie sich auch auf die Tatsache, dass solche Handlungen als eine der schweren Verletzungen des ZP I in Art. 85 Abs. 3 (a) dieses Instruments erwähnt sind.278 Die Strafkammer I bezog sich des Weiteren auf mehrere nationale Strafgesetzgebungen, darunter jugoslawische und bosnische Strafgesetzbücher.279 Im diesem Urteil kann wiederum gesehen werden, dass das internationale Verbot einer Handlung nicht reicht, um von einem internationalen Verbrechen sprechen zu können. Weitere Elemente müssen auch geprüft werden. Sowohl aus Galić als auch aus Tadić und Akayesu ergibt sich, dass Verbot und Strafbarkeit zwei verschiedene Elemente bilden und die Ergebnisse von zwei verschiedenen Prozessen im Völkerrecht darstellen, obwohl sie sich ergänzen bzw. teilweise überlappen können. 4. Verstöße gegen den gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen und die Nürnberger Klausel: moralische Bewertung der relevanten Handlungen Im Urteil des Falles Delalić et al., in dem der JStGH die im Gefangenenlager von Ćelebići begangenen Verbrechen beurteilte, legte die Strafkammer ein weiteres Argument für die Diskussion über den gewohnheitsrechtlichen Charakter des gemeinsamen Art. 3 GK und der individuellen strafrechtlichen Verantwortung dar, die sich aus den Verstößen gegen diese Norm ergibt. Der Strafkammer zufolge mussten zwei zusätzliche Aspekte berücksichtigt werden. Erstens ist die Tatsache zu erwähnen, dass das Strafgesetzbuch der Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien, das im April 1992 auch von Bosnien und Herzegowina aufgenommen wurde, die in diesem Fall relevanten Handlungen unter Strafe stellte, ohne 275

Vgl. JStGH, Prosecutor v. Stanislav Galić, 2003, Para. 25. Ebd., Para. 26. 277 Ebd., Para. 29; diesbezüglich beruft sich die Strafkammer auf die bereits erwähnten Entscheidungen JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1995, Para.  134 und JStGH, Prosecutor v. Pavle­ Strugar et al., 2002, Para. 10. 278 JStGH, Prosecutor v. Stanislav Galić, 2003, Para. 30. 279 Ebd., Para. 31(siehe die Fußnoten 47–50 mit mehr als fünfzehn Beispielen). 276

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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zwischen internationalen und nationalen bewaffneten Konflikten zu unterschieden. Zweitens muss auch der zweite Absatz des Art. 15 IPBPR in Betracht gezogen werden, d. h. die Nürnberger Klausel.280 Der Strafkammer zufolge kann niemand verneinen, dass Handlungen wie z. B. Mord, Folter, Vergewaltigung oder unmenschliche Behandlung nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen „recognised by all legal systems“ verbrecherisch sind.281 Deshalb sei die Nürnberger Klausel in diesem Fall anzuwenden, um feststellen zu können, ob das NCSL-Prinzip verletzt wurde.282 Vor diesem Hintergrund hob die Strafkammer den Zweck des NCSL-Prinzips auf folgende Weise hervor: „The purpose of this principle is to prevent the prosecution and punishment of an individual for acts which he reasonably believed to be lawful at the time of their commission“.283 Darüber hinaus behauptete sie, dass es nicht glaubwürdig sei, dass der Angeklagte die „criminal nature“ der Handlungen nicht habe erkennen können.284 Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass die Strafkammer des JStGH mit diesen Erwägungen bei der Auslegung der Nürnberger Klausel zwei Aspekte verbindet. Einerseits die Idee von common crimes, d. h. Handlungen, die „by all legal systems“ als Straftaten anerkannt sind, und andererseits die Idee von Delikten mala in se, d. h. Handlungen, die von sich aus Verbrechen darstellen. Dies bedeutet, dass die Konzeption der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Art. 15 Abs. 2 IPBPR und des Art. 7 Abs. 2 EMRK nicht nur die vergleichende Erkundigung nationaler Rechtsordnungen voraussetzt. Die Feststellung allgemeiner Rechtsgrundsätze impliziert vielmehr auch die moralische Bewertung der Handlungen. Dies wurde ferner von der Berufungskammer auch im Kontext des Falles Delalić et al. bestätigt. Die Berufungskammer führt hierzu aus: „It is universally acknowledged that the acts enumerated in common Article 3 are wrongful and shock the conscience of civilised people, and thus are, in the language of Article 15(2) of the ICCPR, ‚criminal according to the general principles of law recognised by civilised nations‘“.285 Es lässt sich also festhalten, dass die internationale Strafbarkeit der Verstöße gegen den gemeinsamen Art. 3 GK dem JStGH zufolge sowohl auf dem Völkergewohnheitsrecht als auch auf den allgemeinen Rechtsgrundsätzen beruht. Dies erlaubt es, aufzuzeigen, dass die Trennlinie zwischen beiden Völkerrechtsquellen fließend ist. Die Berücksichtigung nationaler Rechtsordnungen erscheint in Tadić als Element des Völkergewohnheitsrechts, während es in Delalić et al. als Ausgangspunkt zur Feststellung allgemeiner Rechtsgrundsätze erwähnt ist. In Tadić ist ferner die Schwere der Handlung als eine der Voraussetzungen genannt, um die internationale Strafbarkeit festzustellen: „[T]he violation must be ‚serious‘ […]

280

Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 312–313. Ebd., Para. 313. 282 Ebd. 283 Ebd. 284 Ebd. 285 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 2001, Para. 173. 281

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

and the breach must involve grave consequences for the victim“.286 Hier wurde jedoch nicht präzisiert, ob dies im Hinblick auf das Völkergewohnheitsrecht oder in Bezug auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze relevant ist. Aber in Delalić et al. wird klar, dass die Schwere der Handlung einen zu berücksichtigenden Aspekt im Rahmen allgemeiner Rechtsgrundsätze bildet. Jedenfalls stellen die Betrachtung nationaler Rechtsordnungen und die Schwere der Handlung, wie es bereits hinsichtlich des Falles Milutinović erwähnt wurde, zwei relevante Elemente zur Bestimmung der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit dar, unabhängig davon, wie sie innerhalb der Völkerrechtsquellen zuzuordnen sind. Es darf somit gesagt werden, dass die Wechselwirkung zwischen den Elementen, die fair notice über die internationale Strafbarkeit bieten können, im Lichte des NCSL-Prinzips wichtiger als eine strikte Definition bzw. ein strikter Beweis (beispielsweise) der Staatenpraxis oder der Rechtsüberzeugung ist. Die (vielleicht partielle) Überlappung von Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen scheint dann aus dieser Perspektive nicht problematisch zu sein. 5. Völkerrechtsverträge, Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze: Der Schutz des Individuums in Kontexten massenhafter Gewalt als Auslegungskriterium Der JStGH stellte weitere Erwägungen hinsichtlich der Völkerrechtsquellen dar, die im Kontext der vorliegenden Arbeit auch relevant sind. Die Konzeption des NCSL-Prinzips, die sich aus der Rechtsprechung der Ad-hoc-Straftribunale ergibt, ist auch das Ergebnis der Art und Weise, in der die Völkerrechtsquellen in diesem Kontext verstanden wurden. Das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit konkretisiert sich durch die jeweilige Auffassung über die Rechtsquellen. Deswegen sind einige der insbesondere vom JStGH formulierten Reflexionen über die Auslegung internationaler Instrumente sowie über die Elemente des Völkergewohnheitsrechts und die allgemeinen Rechtsgrundsätze an dieser Stelle zusammenzufassen. Diese Erwägungen haben gemeinsam, dass sie von der Absicht inspiriert wurden, den gemeinsamen Kern des Völkerstrafrechts, des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechte operativ zu machen. Wie bereits ausgeführt, bildet gerade der Schutz des Individuums in Kontexten massenhafter Gewalt, in denen es besonders verletzbar ist, diesen Kern.

286 Siehe auch STL, Interlocutory decision on the applicable law, 2011, Para. 91, das STL spricht hier nicht von allgemeinen Rechtsgrundsätzen sondern von Völkergewohnheitsrecht: „Consistent national legislation can be another important source of law indicative of the emergence of a customary rule. […] Thus, for instance, the fact that all States of the world punish murder through their legislation does not entail that murder has become an international crime. To turn into an international crime, a domestic offence needs to be regarded by the world community as an attack on universal values (such as peace or human rights) or on values held to be of paramount importance in that community“; siehe auch ebd., Para 104.

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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Im Urteil des bereits erwähnten Falles des Gefangenenlagers von Ćelebići stellte die Strafkammer des JStGH einige grundlegende Kriterien zur Auslegung von strafrechtlichen Normen fest. Die Strafkammer behauptete hier, dass das NCSL-Prinzip zwei wichtige Folgen habe, nämlich, dass die strafrechtlichen Normen nicht rückwirkend angewendet werden sollten und grundsätzlich restrivtiv ausgelegt werden müssten. Dieser letzte Aspekt wird als Prinzip der strict construc­tion genannt.287 In Bezug auf das Prinzip der strict construction soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass es der Strafkammer zufolge nicht immer zu einer gramatikalisch restriktiven Interpretation führen solle, denn die teleologische Interpretation spiele in diesem Zusammenhang die leitende Rolle. Die Strafkammer präzisierte die Aufgabe der Richter bei der Gesetzesauslegung unter Verweis auf beide Interpretationsmethoden: „[T]he well-recognised paramount duty of the judicial interpreter, or judge, to read into the language of the legislature, honestly and faithfully, its plain and rational meaning and to promote its object“.288 Daraus ergibt sich, dass diese zwei Kriterien sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen sollen. Dies kann auch in der von der Strafkammer gegebenen Erläuterung des Prinzips der strict construction gesehen werden: „The rule of strict construction requires that the language of a particular provision shall be construed such that no cases shall be held to fall within it which do not fall both within the reasonable meaning of its terms and within the spirit and scope of the enactment“.289 Trotzdem spielt die teleologische Auslegung die entscheidende Rolle, wie bereits erwähnt wurde und wie die Strafkammer selbst auch behauptete: „The paramount object in the construction of a criminal provision, or any other statute, is to ascertain the legislative intent“.290 Daraus folgt, dass eine gewissermaßen „extensive“ Interpretation einer strafrechtlichenchen Norm immerhin angenommen werden kann, wenn „the legislative intent“ dafür spricht. Laut der Strafkammer sollen strafrechtliche Normen in der Regel deutlich genug sein, sodass der Zweck der Norm aus ihrem Text hergeleitet werden kann.291 Allerdings erwähnte die Strafkammer drei mögliche Situationen, in welchen das Ergebnis der Auslegung der Norm unterschiedlich sein darf. In der ersten Situation geht es um strafrechtliche Normen, deren Bedeutung relativ klar ist und gewisse Sachverhalte vom „Gesetzgeber“ absichtlich außerhalb ihres Anwendungsbereichs

287

Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 408. Ebd.; siehe auch in Bezug auf die Völkermordkonvention JStGH, Prosecutor v. Goran­ Jelisić, 1999, Para. 61, Uunter Verweis auf Art. 31 (general rules of interpretation) und 32 (supplementary means of interpretation) WÜRV: „In addition to the normal meaning of its provisions, the Trial Chamber also considered the object and purpose of the Convention and could also refer to the preparatory work and circumstances associated with the Convention’s coming into being“; zu Art. 31 und 32 WÜRV siehe jeweils Sorel/Boré, in: The Vienna Conventions, S. 804 ff. und Bouthillier, in: ebd., S. 841 ff. 289 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 410. 290 Ebd., Para. 412. 291 Ebd., Para. 409: „The intention should be manifest“. 288

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

gelassen wurden.292 In solchen Fällen darf der Richter den wörtlichen Sinn der Norm nicht ausdehnen: „In the construction of  a criminal statute no violence must be done to its language to include people within it who do not ordinarily fall within its express language“.293 Im Unterschied dazu, so die Strafkammer, darf der Wortlaut einer Strafrechtsnorm ausgedehnt bzw. ergänzt werden, wenn sie sich als lückenhaft erweist und die Lücken nicht auf die Absicht des Gesetzgebers zurückgeführt werden können.294 Hier darf sich der Richter derjenigen Auslegung bedienen, die am meisten dem Zweck der Norm entspricht. Dies gilt sogar dann, wenn dies über den strikt wörtlichen Sinn der Norm hinausgeht oder sogar wenn der wörtliche Sinn der Norm an sich nicht ganz klar ist: „It would seem, however, that where the omission was accidental, it is usual to supply the missing words to give the legislation the meaning intended“.295 Dies verletzt der Strafkammer zufolge nicht das Prinzip der strict construction, weil das Ergebnis der durchgeführten Auslegung in solchen Fällen den eigentlichen Sinn der Norm widerspiegelt: „The rule of strict construction is not violated by giving the expression its full meaning or the alternative meaning which is more consonant with the legislative intent and best effectuates such intent“.296 Es scheint, dass die Strafkammer durch diese Behauptungen sowohl eine Art Analogie zulässt („to supply the missing words“), als auch einen relativ hohen Grad an Unbestimmtheit der Rechtsnormen akzeptiert („by giving the expression its full meaning or the alternative meaning“). Die dritte Situation liegt vor, wenn der Wortlaut der Rechtsnorm mehrdeutig ist und es vernünftigerweise bezweifelt werden kann, was ihre Bedeutung ist, d. h., wenn der Sinn der Norm nicht einmal mittels des gesetzgeberischen Zweckes festgestellt werden kann. In diesem Fall soll die strafrechtliche Norm als Konsequenz des Prinzips der strict construction zugunsten des Angeklagten ausgelegt werden.297 Diese Kriterien zur Gesetzesauslegung wurden von der Strafkammer des JStGH im Urteil von Ćelebići nicht nur erwähnt, sondern auch angewendet. Dies kann durch die Diskussionen über die Verbrechen von wilful killing and murder (Art. 2 (a) JStGH-Statut) und inhuman treatment (Art. 2 (b) JStGH-Statut) illus 292

Ebd., Para. 410; in Fällen dieser Art liegt keine Lücke vor. Es handelt sich hier um ein „planmäßiges Nichtvorhandensein einer Regelung“ oder um eine „negative Regelung“, die vom Richter respektiert werden muss, vgl. Engisch, S. 241; wie Larenz es behauptet: „Lücke und Schweigen des Gesetzes sind also nicht einfach dasselbe“, Larenz, S. 370. 293 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 410. 294 In diesem Zusammenhang kann man von Lücken im strikten Sinne sprechen; es kann Norm- oder Regelungslücken geben: Normlücken liegen vor, „wenn eine Gesetzesnorm überhaupt nicht angewandt werden kann, ohne daß ihr eine weitere Bestimmung hinzugeführt wird, die das Gesetz vermissen lässt“, Larenz, S. 372; eine Regelungslücke besteht, wenn „eine bestimmte Regelung im ganzen unvollständig“ ist, „d. h. sie enthält keine Regel für eine solche Frage, die nach der zugrunde liegenden Regelungsabsicht einer Regelung bedarf“, ebd. 295 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 412. 296 Ebd. 297 Ebd., Para. 413.

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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triert werden. In diesem Fall wurden den Angeklagten mehrere Verbrechen vorgeworfen, darunter die zwei erwähnten Verbrechen, die in keinem internationalen Instrument definiert waren. Deswegen musste die Strafkammer selbst deren Elemente durch die Auslegung des geltenden Völkerrechts festlegen. Es soll jedoch klar gemacht werden, dass es hier nicht um die Frage der Strafbarkeit der Handlungen ging. Es handelte sich vielmehr um die Feststellung der Elemente bereits bestehender Verbotsnormen. Konkrete Bestimmungen internationaler Verträge, auf die das JStGH-Statut verweist, nicht Gesetze im strikten Sinne oder Straftatbestände, stellten also den Ausgangspunkt dieser Diskussionen dar. Es soll ferner hervorgehoben werden, dass es sich hier nicht um ungeschriebene Verbotsnormen handelte (dies gilt auch für die anderen in diesem Fall vorgeworfenen Verbrechen).298 In Bezug auf wilful killing and murder wurde diskutiert, ob dieses Verbrechen die direkte Absicht zu töten voraussetze (so die Ansicht der Verteidigung), oder ob es auch andere Formen des subjektiven Elements zulasse, wie z. B. recklessness (so die Auffassung des Anklägers).299 Der Ausdruck wilful killing and murder kommt aus Art. 50 GK I, 51 GK II, 130 GK III und 147 GK IV, während der Ausdruck murder aus dem gemeinsamen Art. 3 GK entstammt. Laut der Strafkammer müssten beide Ausdrücke die gleiche Bedeutung haben, weil der Zweck des gemeinsamen Art.  3 GK darin liege, den Schutz des humanitären Völkerrechts auf nicht-internationale bewaffnete Konflikten auszudehnen.300 Die Strafkammer ging ferner davon aus, dass eine bloße grammatikalische Interpretation in diesem Fall irreführend wäre. Deshalb versuchte sie, das Wesen und den Zweck der relevanten Normen festzustellen.301 Dafür bezog sich die Strafkammer auf den ICRCKommentar zum ZP I, insbesondere auf die Kommentare zum Art. 11 (protection of persons) und Art. 85 (repression of breaches of this Protocol). Demnach werde der Begriff der recklesness vom Begriff der wilfulness umfasst. Deswegen unterscheidet sich recklessness von der „ordinary negligence“.302 Die Strafkammer akzeptierte auf diese Weise das Argument des Anklägers.303

298

Wie z. B. die Verbrechen von Folter, Vergewaltigung (als Folter) und wilfully causing great suffering or serious injury to body or health, ebd., Para. 452 ff., 475 ff.; 498 ff. 299 Ebd., Para. 426 ff. 300 Ebd., Para 423: „In this spirit of equality of protection, there can be no reason to attach meaning to the difference of terminology utilised in common article 3 and the articles referring to ‚grave breaches‘ of the Conventions“. 301 Die Strafkammer führte aus: „It is this nature and purpose which primarily guides the Trial Chamber’s consideration of the matter and its examination of the terminology utilised, for a simple semantic approach […] can only lead to confusion“, ebd., Para. 431 und 438. 302 Ebd., Para. 432; siehe Sandoz et al. (Hrsg.), S. 159 (Para. 493) und S. 994 (Para. 3474). 303 Sie behauptete als Ergebnis: „However, this intention may be inferred from the circumstances, whether one approaches the issue from the perspective of the foreseeability of death as a consequence of the acts of the accused, or the taking of an excessive risk which demonstrates recklessness“, JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 437.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Hinsichtlich des Verbrechens des inhuman treatment geschah etwas Ähnliches. Laut der Verteidigung sei dieser Vorwurf zu unbestimmt gewesen und habe deshalb das NCSL-Prinzip verletzt.304 Trotzdem behauptete die Strafkammer, dass das Verbot von inhuman treatment Völkergewohnheitsrecht bilde und in verschiedenen Völkerrechtsverträgen, sowohl im humanitären Völkerrecht als auch in den internationalen Menschenrechten, zu finden sei.305 Das Problem damit war die Konkretisierung der spezifischen Handlungen, die als inhuman treatment gekennzeichnet werden konnten, und nicht die Existenz des Verbots an sich. Laut der Strafkammer war eine allein grammatikalische Interpretation ebenfalls nicht geeignet.306 Deshalb bezog sie sich wieder auf mehrere Normen des humanitären Völkervertragsrechts und auf ihre Kommentare. Als Ergebnis erwähnte sie mehrere Handlungen als Beispiele von inhuman treatment und behauptete, dass es diesbezüglich nicht möglich gewesen sei, erschöpfend zu sein.307 In diesem Sinne können z. B. die Verweise auf den Kommentar zu Art. 147 GK IV (grave breaches) und zu Art. 13 GK III (humane treatment of prisoners) erwähnt werden. Der erste besagt beispielsweise: „Certain measures, for example, which might cut the civilian internees off completely from the outside world […] could conceivably be considered as inhuman treatment“.308 Dem zweiten zufolge umfasst die Pflicht zur menschlichen Behandlung auch „positive obligation of protection“.309 Aus den Überlegungen der Strafkammer des JStGH folgt, dass das NCSL-Prinzip, konkret: das Prinzip der strict construction, im Völkerstrafrecht die Analogie im Allgemeinen nicht ausschließt und, wie gesagt, dass ein relativ hoher Grad an Unbestimmtheit der für das Völkerstrafrecht relevanten völkerrechtlichen Normen anzunehmen ist. Insofern darf behauptet werden, dass es sich in diesem Kontext nicht um Straftatbestände im engeren Sinne handelt, ebenso wenig wie bei der LC oder dem KRG Nr. 10.310 Es geht vielmehr um Normen, z. B. Art. 2 JStGHStatut, die die materielle Zuständigkeit des Tribunals festlegen und dafür Ausdrücke weiterer internationaler Instrumente verwenden, die zum Zeitpunkt der Tatbegehung bereits existierten und strafrechtlich relevante Verbote enthalten, z. B. der GK und der ZP. Eine Art analoge Anwendung von „strafrechtlichen Normen“, ebenso wie eine nicht zugunsten des Angeklagten durchgeführte Interpretation einer mehrdeutigen Norm, wäre dann zulässig, wenn dies vom Zweck der Verbotsnorm geleitet ist. 304

Ebd., Para. 515. Wie z. B. die GK, Art. 5 AEM, Art. 7 IPBPR, Art. 3 EMRK, Art. 5 ACMRV und Art. 5 Abs. 2 AMRK, ebd., Para. 516–517 und Fußnote 522. 306 Ebd., Para. 520. 307 Ebd., Para. 525. 308 Ebd., Para. 521; siehe den ICRC-Kommentar der GK IV unter: https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/INTRO/380 (zuletzt aufgerufen am 26.10.2016) 309 vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 526–527; siehe den ICRC-Kommentar der GK III unter: https://ihl-databases.icrc.org/ihl/INTRO/375 (zuletzt aufgerufen am 6.10.2016). 310 Siehe oben, drittes Kapitel, C. 305

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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Dies erinnert an die von Binding vorgeschlagene Idee des „latenten Rechts“, nach der das Analogieverbot der Anwendung eines nicht positivierten, aber immerhin geltenden Rechts nicht entgegenstehen solle.311 Trotzdem geht es in Fällen wie diesen nicht wirklich um eine Analogie, zumindest nicht um eine Analogie im engeren Sinne. Es handelt sich hier nicht um die Übertragung eines einer Rechtsnorm zugrunde liegenden Prinzips auf einen nicht-geregelten Sachverhalt,312 sondern um die Feststellung des richtigen Anwendungsbereichs der Rechtsnorm durch die Bestimmung der Bedeutung von Ausdrücken wie „wilful“ oder­ „inhuman treatment“. Bei einer Auslegung dieser Art kommt nicht nur der Wortlaut eines geschriebenen Rechtssatzes in Betracht. Solche Ausdrücke können als unbestimmte normative Begriffe313 eingestuft werden, und insbesondere der Ausdruck „inhuman treatment“ scheint ein wertausfüllungsbedürftiger Begriff zu sein.314 Es handelt sich aber nicht um eine „subjektiv-persönliche“ Wertung, wie bei Ermessenklauseln,315 sondern um eine Konkretisierung durch die Berücksichtigung des Völkerrechts als Ganzes, wobei die verschiedenen Völkerrechtsquellen und die dem Völkerrecht zugrunde liegenden Werte einbezogen werden sollen.316 Des Weiteren muss hinsichtlich des Ausdrucks „inhuman treatment“ auch darauf hingewiesen werden, dass es kein Element der Beschreibung einer verbotenen bzw. strafbaren Handlung darstellt. Anders gesagt: Es ist kein Tatbestandsmerkmal im üblichen Sinne. Es stellt vielmehr einen offenen Ausdruck dar, der als Ausgangspunkt der Identifizierung verschiedener verbotener bzw. strafbarer Handlungen dienen soll (unter Berücksichtigung weiterer Faktoren). Dies suggeriert, dass die Auswirkung dieser wertausfüllungsbedürftigen Begriffe auf die Bestimmtheit der für die strafrechtliche Verantwortung relevanten Rechtsnormen im Kontext des Völkerstrafrechts stärker als in anderen Kontexten sein kann. Die Auffassung der Strafkammer des JStGH über Gesetzesauslegung wurde, wie bereits erwähnt, von der Absicht inspiriert, den sich aus der Intersektion zwischen Völkerstrafrecht, humanitärem Völkerrecht und den internationalen Menschenrechten ergebenden Kern operativ zu machen. Dies war auch der Fall mit der Auffassung der JStGH hinsichtlich des Völkergewohnheitsrechts und der all 311 Insofern behauptete Binding: „Die korrekt angewandte Analogie führt stets zur Aufdeckung eines latenten Rechtssatzes, also nie über das Recht hinaus, nie zur Ausfüllung von Lücken des Rechts, wohl aber zu solcher der Gesetze“, Binding, Handbuch, S. 214. 312 Vgl. Larenz, S. 381. 313 Unter normativen Begriffe kann man nach Engisch solche Begriffe verstehen, die stets einer Wertung bedürfen; sie bilden eine Sonderklasse der unbestimmten Begriffe, siehe ­Engisch, S. 197. 314 Damit ist (auch nach Engisch) gemeint, „dass das normative Volumen [dieses Begriffs] von Fall zu Fall durch Wertungen ausgefüllt werden muss“, ebd. 315 Engisch zufolge ermächtigen sie den Rechtsanwender dazu, „die von ihm persönlich für richtig gehaltene Wertung als die verbindliche und ‚richtige‘ anzusehen“, ebd., S. 225. 316 Nach Engisch geht es bei der Konkretisierung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe um „eine Art von ‚Erkenntnis‘, um eine ‚Feststellung‘ dessen, was gilt“, ebd.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

gemeinen Rechtsgrundsätze. In Bezug auf das Völkergewohnheitsrecht ist an dieser Stelle das Urteil des Falles Kupreškić et  al. zu betrachten. Die relevanten Handlungen dieses Falles wurden im Kontext des kroatisch-bosnischen Konflikts und insbesondere in Verbindung mit dem Angriff gegen das bosnische Dorf Ahmići (16.04.1993) durchgeführt.317 Die Strafkammer des JStGH ging in diesem Urteil auf die Frage der Rechtsmäßigkeit der Angriffe gegen Zivilisten318 ein und legte unter Verweis auf die Martens’sche Klausel in diesem Kontext einen Völkergewohnheitsrechtsbegriff dar, nach dem das Element der Rechtsüberzeugung das entscheidende Element zur Entstehung einer Gewohnheitsrechtsnorm sein kann.319 Die Strafkammer bezog sich auf Art. 51 Abs. 6 und 52 Abs. 1 ZP I, in denen die Repressalien jeweils gegen Zivilpersonen und zivile Objekte verboten sind, und stellte die Frage, ob es möglich war, zu behaupten, dass diese Normen irgendwann nach der Verabschiedung des ZP I Gewohnheitsrechtscharakter erlangt hatten, „assuming that they were not declaratory of customary international law“.320 Es wurde von der Strafkammer anerkannt, dass es diesbezüglich keine konsistente Staatenpraxis gab.321 Trotzdem behauptete sie, dies sei ein Bereich, in dem aufgrund der Martens’schen Klausel das Element der Rechtsüberzeugung eine viel wichtigere Rolle als das Element der Staatenpraxis spielen könne.322 Laut der Strafkammer könnten Prinzipien des humanitären Völkerrechts das Ergebnis eines völkergewohnheitsrechtlichen Entstehungsprozesses sein, selbst wenn die Staatenpraxis spärlich oder inkonsistent ist, „as a result of the imperatives of humanity or public conscience“.323 Nachdem die Strafkammer behauptete, dass Repressalien gegen Zivilisten den Menschenrechten entgegenstünden,324 versuchte sie es, das Bestehen der Rechtsüberzeugung über das Verbot von Taten dieser Art als entscheidendes Element des Völkergewohnheitsrechts zu beweisen. Dafür bezog die Strafkammer des JStGH sich auf mehrere Elemente: nationale militärische Handbücher, eine Resolution der Generalversammlung der VN, die Zahl der Vertragsparteien des ZP I, ein Memorandum des ICRC und eine Entscheidung im Fall Martić.325 Es wurde sogar eine Art negative Staatenpraxis erwähnt: „[T]he States that have participated in the numerous international or internal armed conflicts

317

Vgl. JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 38–39. Ebd., Para. 521 ff. 319 Siehe kritisch dazu Zahar, in: The Legacy, S. 483: „[T]o legislate from the bench“). 320 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 527. 321 Ebd. 322 In Worten der Strafkammer: „This is however an area where opinio iuris sive necessitatis may play a much greater role than usus, as a result of the aforementioned Martens Clause“, ebd. 323 Ebd.: „[T]hrough a customary process under the pressure of the demands of humanity or the dictates of public conscience“; Ähnlich IGH, Military and Paramilitary Activities, 1986, Para. 186. 324 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 529. 325 Ebd., Para. 532. 318

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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[…] have normally refrained from claiming that they had a right to visit reprisals upon enemy civilians in the combat area“.326 Die Relevanz der Rechtsüberzeugung über das Verbot der Repressalien gegen Zivilisten, um die Existenz von Völkergewohnheitsrecht anzuerkennen, ergebe sich aus der Tatsache, dass diese Überzeugung die „demands of humanity and the dictates of public conscience“ widerspiegele.327 In diesem Kontext soll die Wirkung der Martens’schen Klausel beim Verständnis der Elemente des Völkergewohnheitsrechts hervorgehoben werden. Diese „ingeniuos blend of natural law and positivism“, wie Cassese sie beschrieben hat (siehe zweites Kapitel Fn. 383), erlaubt es, aufgrund ihres moralischen Wertes (im humanitären Sinne) das Fehlen von oder das Defizit hinsichtlich der Staatenpraxis zu kompensieren. Es ersetzt aber nicht das Völkergewohnheitsrecht an sich, da gewisse Referenzpunkte im Völkerrecht immer noch unentbehrlich sind, um den Gewohnheitscharakter einer Norm zu bejahen.328 Es ist aber bemerkenswert, dass einige der Elemente, die von der Strafkammer als Bezugspunkte zum Beweis der Rechtsüberzeugung in diesem Fall erwähnt wurden, auch bei der Feststellung der Staatenpraxis berücksichtigt werden können. Dies ist der Fall der nationalen militärischen Handbücher und des Memorandums des ICRC. Elemente dieser Art wurden auch im Fall Tadić von der Berufungskammer des JStGH als Staatenpraxis betrachtet. Dies erlaubt es erneut zu betonen, dass die Wechselwirkung zwischen den Elementen, die fair notice über die internationale Kriminalisierung bieten können (in dem an dieser Stelle kommentierten Fall über den gewohnheitsrechtlichen Charakter einer Verbotsnorm), im Kontext des Völkerstrafrechts und im Lichte des NCSL-Prinzips wichtiger ist als eine strikte Definition und Beweis der Staatenpraxis oder der Rechtsüberzeugung, genauso wie dies auch mit der Unterschiedung zwischen Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen geschieht.329 326

Ebd., Para. 533. Ebd.: „[T]he demands of humanity and the dictates of public conscience, as manifested in opinio necessitatis“. 328 In diesem Sinne behauptet die Berufungskammer des JStGH: „The Martens Clause does not […] purport to criminalise any given conduct“, JStGH, Prosecutor v. Enver Hadžihasanović et al., 2002, Para. 83. 329 Zum Gewohnheitsrechtsbegriff besteht keine Einigkeit in der Rechtsprechung des JStGH. Beispielsweise bezieht sich die Strafkammer im Fall Delalić et al. auf „the evolving nature of customary international law“ und bezeichnet das Völkergewohnheitsrecht als ein „fluid and adaptable concept“ (vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 298). Trotzdem folgte die Berufungskammer im Fall Hadžihasanović einem anderen Ansatz. Hier bezieht sich die Berufungskammer auf „the traditional twin requirements (state practice and opinio juris) for the formation of customary international law“ und nimmt einen konservativen Gewohnheitsbegriff an (vgl. JStGH, Prosecutor v. Enver Hadžihasanović et al., 2002, Para. 57). Des Weiteren können militärische Handbücher der Berufungskammer zufolge Beweise über die Rechtsüberzeugung bilden, solange sie durch das nationale Strafrecht (als Staatenpraxis) durchgesetzt werden (ebd., Para. 68–58). Die Berufungskammer behauptet hier auch, dass offizielle Aussagen sowohl als Beweis von Rechtsüberzeugung als auch von Staatenpraxis betrachtet werden könnten (ebd., Para. 63) und dass nationale Gerichtsentscheidungen (genauso wie die nationale Strafgesetzgebung) Staatenpraxis darstellen würden (ebd., Para. 74–75). Wenn man diese Erwägungen 327

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Der JStGH hat sich auch auf den Begriff allgemeiner Rechtsgrundsätze bezogen. Im Hinblick auf den Fall Delalić et al. wurde bereits erwähnt, dass sowohl die Strafkammer als auch die Berufungskammer in Bezug auf die Nürnberger Klausel von Handlungen sprechen, die „by all legal systems“ als Straftaten anerkannt werden und außerdem von sich aus zu bestrafen sind. Hierbei werden die Berücksichtigung der nationalen Strafgesetzgebungen und die moralische Bewertung der relevanten Handlungen miteinander verbunden. Hinsichtlich der Nürnberger Klausel wurde auch gesagt, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze relevant sind, um festzustellen, ob eine Handlung auf internationaler Ebene kriminalisiert worden ist. Die Beantwortung der Frage, welche konkrete Rolle diese Völkerrechtsquelle spielt, ist jedoch weiterhin offen.330 Um dies zu präzisieren, muss zunächst gesagt werden, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des JStGH eine Unterart der breiten Idee allgemeiner Grundsätze darstellt. Die Urteile der Fälle Kupreškić et al. und Furundžija erlauben es, diesen Punkt zu verdeutlichen. Im bereits kommentierten Fall Kupreškić et al., in welchem die Strafkammer des JStGH das Prinzip von Verhältnismäßigkeit im Kontext des humanitären Völkerrechts und das Verbot wahlloser Angriffe gegen die Zivilbevölkerung veranschaulichte, behauptete die Kammer, dass Art. 57 ZP I (über Vorsichtsmaßnahmen beim Angriff) und 58 ZP I (über Vorsichtsmaßnahmen gegen die Wirkungen von Angriffen) einen weiten Ermessensspielraum für die Angreifer lasse.331 D. h., aufgrund des Wortlauts dieser Normen hätten die Angreifer das letzte Wort über die Verhältnismäßigkeit eines von ihnen selbst durchgeführten Angriffs.332 Deshalb stellte die Strafkammer unter Verweis (wieder) auf die Martens’sche Klausel fest, dass „elementary considerations of humanity“ bei der Auslegung vager völkerrechtlicher Normen berücksichtigt werden sollen, da sie „illustrative of a­ general principle of international law“ seien.333 Der Umfang und der Zweck der in Frage stehenden Normen sollten also der Strafkammer zufolge mittels der Martens’schen Klausel festgestellt werden.334 Dies sollte in diesem Fall zu einer restriktiven Interpretation des Ermessensspielraums der Angreifer und zur damit

zusammen mit der Argumentation der Strafkammer z. B. in Tadić und Delalić et al. hinsichtlich des Bestehens von Völkergewohnheitsrecht berücksichtigt, darf man behaupten, dass die Feststellung einer Trennlinie zwischen den beiden Elementen dieser Völkerrechtsquelle tatsächlich problematisch ist. Siehe in Bezug auf dieses Problem im Kontext des IGH Pellet, in: The Statute of the International Court, Rn. 238, Pellet bezieht sich auf „instruments […] capable of evidencing at one and the same time both elements of the customary process“ und bezeichnet sie als „judicial jokers“. 330 Siehe auch oben, viertes Kapitel, A. V. 331 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 524. 332 Ebd. 333 Ebd. 334 Ebd., Para. 523, laut der Strafkammer: „this Clause enjoins, as a minimum, reference to those principles and dictates any time a rule of international humanitarian law is not sufficiently rigorous or precise: in those instances the scope and purport of the rule must be defined with reference to those principles and dictates“.

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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verbundenen Erweiterung des Schutzes der Zivilisten führen.335 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Strafkammer in diesem Kontext von „general principle of inter­national law“ spricht, nicht von „general principles of law recognized by the community of nations“ wie Art. 15 Abs. 2 IPBPR oder von „general principles of law recognized by civilized nations“ wie Art.  7 Abs.  2 EMRK und Art.  38 Abs. 1 (c) IGH-Statut. Der Unterschied zwischen „general principles of international law“ und „gene­ral principles of law recognized by the community of nations“ kann im Urteil des Falles Furundžija noch deutlicher gesehen werden.336 Anto Furundžija war ein Kommandant einer Sondereinheit der Militärpolizei des HVO (Kroa­tischer Verteidigungsrat), der dabei zusah, wie eine muslimische Zivilistin bei einer Vernehmung gezwungen wurde, Oralverkehr auszuüben und nichts dagegen tat.337 Im Urteil dieses Falles wurde von der Strafkammer diskutiert, ob der erzwungene Oralverkehr als ein schwerer sexueller Übergriff („seriuous sexual assault“) oder eher als Vergewaltigung („rape“) eingestuft werden solle. Sowohl „schwere sexuelle Übergriffe“ als auch „Vergewaltigung“ waren zum Zeitpunkt der Tatbe­ gehung explizit oder implizit in mehreren Völkerrechtsverträgen verboten, betonte die Strafkammer, aber keine von diesen Handlungen war hier definiert.338 Darüber hinaus war die gewohnheitsrechtliche Definition von „Vergewaltigung“ der Strafkammer zufolge nicht hilfreich, um diese Frage zu beantworten.339 Aus diesem Grund griff sie auf die Idee allgemeiner Grundsätze zurück. Die Strafkammer versuchte zuerst, dieses Problem durch die Erkundung von „principles of criminal law common to the major legal systems of the world“ zu lösen, was als eine konkretere Form von „general principles of law recognized by the community of nations“ verstanden werden kann. Sie kam jedoch zu der Schlussfolgerung, dass die Disparität der nationalen Strafgesetzgebungen verhinderte, die Existenz eines gemeinsamen Strafrechtsgrundsatzes diesbezüglich bejahen zu können.340 In einigen Ländern wurde der erzwungene Oralverkehr als 335

Ebd. Siehe dazu Bantekas, Int’l Crim. L. Rev. 2006, 121 (126 ff.); siehe auch Cassese, Cassese’s, S. 15. 337 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Anto Furundžija, 1998, Para. 40–41. 338 „Vergewaltigung“ und „schwere sexuelle Übergriffe“ sind in Menschenrechtsverträgen, konkret: in den Bestimmungen über körperliche Unversehrtheit, implizit verboten. Als Beispiele können Art.  7 IPBPR, Art.  4 ACMRV und Art.  5 AMRK erwähnt werden (ebd., Para. 170). Im Bereich des humanitären Völkerrechts sind auch die folgende Normen relevant: Art. 27 GK IV, Art. 76 Abs. 1 ZP I und Art. 4 Abs. 2 (e) ZP II (ebd., Para. 175). 339 Die Strafkammer des JStGH nimmt die vom RStGH dargelegte Definition von „Vergewaltigung“ als Völkergewohnheitsrecht auf: „[R]ape as  a physical invasion of  a sexual nature, committed on a person under circumstances which are coercive“, RStGH, Prosecutor v. JeanPaul Akayesu, 1998, Para. 598; diese Definition wurde auch im Fall Delalić et al. bestätigt, JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 479; siehe auch JStGH, Prosecutor v. Anto Furundžija, 1998, Para. 176. 340 JStGH, Prosecutor v. Anto Furundžija, 1998, Para. 182. 336

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

sexueller Übergriff betrachtet, während Taten dieser Art in anderen Rechtsordnungen als Vergewaltigung angesehen wurden.341 Laut der Strafkammer musste somit die Frage durch Rückgriff auf „general principles of international criminal law“ und subsidiär auf „general principles of international law“ beantwortet werden.342 In diesem Kontext erwähnte die Strafkammer den Schutz der Menschenwürde als raison d’être nicht nur des humanitären Völkerrechts oder der internationalen Menschenrechte, sondern auch des gesamten gegenwärtigen Völkerrechts.343 Dies würde für eine breite Interpretation von „Vergewaltigung“ sprechen, unter der auch der erzwungene Oralverkehr subsumiert werden könnte, denn „oral sex can be just as humiliating and traumatic for a victim as vaginal or anal penetration“.344 Der Schutz der Menschenwürde wurde in diesem Fall als ein allgemeiner Völkerstrafrechts- und (zugleich) Völkerrechtsgrundsatz verstanden, der eine breite Interpretation eines in Völkerrechtsverträgen nicht definierten Verbrechens erlauben kann. Dies verletze nicht das NCSL-Prinzip, sagte die Strafkammer, weil es hier nicht um die nachträgliche Kriminalisierung einer bereits begangenen Tat gehe und darüber hinaus sowohl „Vergewaltigung“ als auch „sexuelle Übergriffe“ immerhin entweder als Kriegsverbrechen oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft werden könnten.345 In der Rechtsprechung des JStGH lassen sich also Verweise auf verschiedene Arten von allgemeinen Grundsätzen finden. Wie die Strafkammer dieses Tribunals im Fall Kupreškić et al. behauptete,346 dürfe man auf „general principles of international criminal law“ zurückgreifen, wenn das Statut des Tribunals nicht klar genug war und das Völkergewohnheitsrecht nicht reichte. Wenn kein Grundsatz in diesem Sinne identifiziert werden konnte, waren die „general principles of criminal law common to the major legal systems of the world“ zu berücksichtigen und wenn das Völkergewohnheitsrechts dennoch mehrdeutig war, sollten „principles of law consonant with the basic requirements of international justice“ in Betracht 341

Ebd. Ebd. 343 Ebd., Para. 183. 344 Ebd., Para. 184. 345 Ebd. 346 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 591; diese Idee von „allgemeinen Grundsätzen“ ist breiter als die Idee von „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“, die in Art.  38 Abs. 1 (c) IGH-Statut erscheint, zumindest wie dieser Ausdruck in der Regel ausgelegt ist; laut Pellet: „This requirement of recognition of the general principles in foro domestico is the criterion which differentiates the principles of Art. 38, Para. 1 (c) from both equitable or moral principles and from the general principles of international law“, Pellet, in: The Statute of the International Court, Rn. 257; nach Thirlway: „The principles contemplated by that text are, or at all events include, those principles without which no legal system can function at all, that are parcel of legal reasoning“, Thirlway, S. 99, als Beispiel erwähnt Thirlway das pactasunt-servanda-Prinzip. Trotzdem behauptet er auch: „None of the principles in this category have, as such, an ethical or moral significance“, ebd., S. 100; hinsichtlich des Unterschieds zwischen „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ im Sinne von Art. 38 Abs. 1 (c) IGH-Statut und „allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts“ siehe von Heinegg, in: Völkerrecht, § 18 Rn. 1. 342

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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gezogen werden.347 Zu diesen drei Arten von Grundsätzen sollten ferner die „general principles of international law“ hinzugefügt werden. Die „general principles of criminal law common to the major legal systems of the world“ müssten durch eine vergleichende Analyse nationaler Rechtsordnungen induziert werden, wie die Strafkammer in Furundžija es versuchte. In einem ähnlichen Sinn bezog sich der JStGH im Fall Delalić et al. auf die Nürnberger Klausel: „criminal according to the general principles of law recognised by civilised nations“, wobei, wie bereits gesagt, auch die moralische Bewertung der relevanten Handlungen eine wichtige Rolle spielt. Im Unterschied dazu würden die „general principles of international criminal law“ und die „general principles of inter­ national law“ sich aber aus der Betrachtung des Völker(straf-)rechts an sich und seiner zugrunde liegenden Werte und Zwecke ergeben. Als Ergebnis sind gewisse ethisch-rechtliche Ideen (z. B. demands of humanity, Schutz von Zivilisten oder Menschenwürde), die sich auf der Basis des nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinenden Verständnisses des Völkerrechts befinden, auf diese Weise in die Argumentation des Tribunals einbezogen worden. Dieses Verständnis des Völkerrechts hat übrigens die Entwicklung sowohl des humanitären Völkerrechts als auch der internationalen Menschenrechte und des Völkerstrafrechts ermöglicht.348 Deshalb geht es bei den „allgemeinen Grundsätzen“ vor allem um eine Interpretation der völkerrechtlichen Normen nach den Grundlagen dieses Rechtsgebiets selbst. Es soll jedenfalls betont werden, dass der Begriff „allgemeine Grundsätze“ im Kontext des JStGH als Mittel zur Interpretation von Verbotsnormen angewendet wurde, die in Völkerrechtsverträge inkorporiert worden sind und Gewohnheitscharakter besitzen. Jedenfalls haben die allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht als einzige Rechtsgrundlage einer Verurteilung Anwendung gefunden. Sie bilden vielmehr eine Art „Richtschnur“, um das Völker(straf-)recht trotz seiner Komplexität zu konkretisieren. Zusammengefasst ist erneut festzuhalten, dass die Auffassung des JStGH über die Völkerrechtsquellen von der Absicht bestimmt wurde, der Mensch in Kontexten massenhafter Gewalt zu schützen. Daraus folgt, dass ein relativ hoher Grad an Unbestimmtheit der für das Völkerstrafrecht relevanten Völkervetragsnormen anzunehmen ist, wobei die teleologische Interpretation die entscheidende Rolle spielt. Hinsichtlich des Völkergewohnheitsrechts soll das Defizit der Staatenpraxis in diesem Kontext durch Bezugspunkte, die die Rechtsüberzeugung beweisen können, kompensiert werden. Die Wechselwirkung zwischen den Elementen, die fair notice über die internationale Kriminalisierung einer Handlung bieten können, ist im Kontext des Völkerstrafrechts und im Lichte des NCSL-Prinzips wichtiger als 347 Hier suggeriert die Strafkammer eine Hierarchie bzw. Reihenfolge zwischen den verschiedenen Arten von Grundsätzen. Dies entspricht aber nicht der von der Strafkammer selbst in anderen Fällen durchgeführten Argumentation, wie z. B. in Furundžija, wobei sie sich zuerst nach „general principles of criminal law common to the major legal systems of the world“ fragt und nur danach von „general principles of international criminal law“ spricht. 348 Siehe oben, drittes Kapitel, B. IV.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

eine strikte Definition und Beweis der Staatenpraxis oder der Rechtsüberzeugung. Darüber hinaus ist ein breites Verständnis der allgemeinen Grundsätze zu berücksichtigen, dem zufolge verschiedene Arten von Prinzipien bei der Auslegung der völkerrechtlichen Normen relevant sind. Diese Prinzipien ermöglichen die Interpretation der völker(straf-)rechtlichen Normen nach eigenen ethisch-rechtlichen Grundlagen und bestimmen in diesem Bereich die Richtung der teleologischen Auslegung. Dies ist der Rahmen, in dem der JStGH über Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit als Kriterium zur Feststellung einer Verletzung des NCSL-Prinzips gesprochen hat.

II. Rückwirkung und das Special Court for Sierra Leone Das SCSL wurde 2002 durch einen internationalen Vertrag zwischen der Regierung von Sierra Leone und den VN eingerichtet349 und arbeitete bis 2013.350 Das SCSL bestand sowohl aus sierra-leonischen als auch aus internationalen Richtern und wandte internationales und nationales Recht an.351 Sein Mandat war, die ab dem 30.11.1996 im Rahmen des Bürgerkriegs von Sierra Leone begangenen Verbrechen abzuurteilen.352 Obwohl das SCSL-Statut keine Norm hinsichtlich des NCSL-Prinzips hat, sind zwei Diskussionen, die vor dem SCSL stattfanden, im Hinblick auf die Rekonstruktion einer Konzeption des NCSL-Prinzips für das Völkerstrafrecht besonders relevant und deswegen an dieser Stelle zusammenzufassen. Es geht um die Diskussion über den Zeitpunkt, in dem die Eingliederung von Kindern unter 15 Jahren in Streitkräfte nach Völkergewohnheitsrecht als Kriegsverbrechen erschien und die Debatte über die Zwangsverheiratung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dadurch ist es möglich, den Einfluss der bereits erwähnten, für eine Konzeptualisierung des NCSL-Prinzips relevanten Rechtsprechung der Ad-hoc-Straftribunale auf die anschließende Entwicklung des 349 Siehe „Agreement between the United Nations and the Government of Sierra Leone on the Establishment of a Special Court for Sierra Leone“ vom 16.01.2002. Verfügbar unter: http:// www.rscsl.org/Documents/scsl-agreement.pdf (zuletzt aufgerufen am 08.11.2016). 350 Nachdem das SCSL seine Arbeit beendete, wurde ein „Residual Special Court“ eingerichtet, siehe Agreement between the United Nations and the Government of Sierra Leone on the Establishment of a Residual Special Court for Sierra Leone vom 20.07.2010, verfügbar unter: http://www.rscsl.org/Documents/RSCSL%20Agreement%20and%20Statute.pdf (zuletzt aufgerufen am 08.11.2016). 351 Zur Ernennung der Richter siehe Art. 2 Agreement (siehe in diesem Kapitel Fn. 349) und Art. 13 SCSL-Statut; zur materiellen Zuständigkeit des SCSL siehe Art. 2 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit), 3 (Verstöße gegen de gemeinsamen Art. 3 GK und gegen den ZP II), 4 (andere schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht) und 5 (Verbrechen nach dem Recht von Sierra Leone) SCSL-Statut. Dies bezüglich behauptete der Generalsekretär der VN: „[T]he Special Court […] is therefore a treaty-based sui generis court of mixed jurisdiction and composition“, siehe Report of the Secretary-General on the establishment of a Special Court for­ Sierra Leone, Para. 9. 352 Siehe Art. 1 SCSL-Statut.

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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Völkerstrafrechts zu illustrieren sowie weitere wichtige Aspekte der Definition internationaler Verbrechen hervorzuheben. 1. Das Verbrechen der Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren: Wieder die Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit Eines der bedeutendsten Verbrechen, das vom SCSL abgeurteilt wurde, war die Zwangsverpflichtung oder Eingliederung von Kindern unter 15 Jahren in Streitkräfte.353 Trotzdem brachte gerade die Anwendung des Art. 4 (c) SCSL-Statut, in dem dieses Verbrechen vorgesehen wurde, eine der interessantesten Diskussionen in Bezug auf das NCSL-Prinzip und den Kriminalisierungsvorgang auf internationaler Ebene mit sich. Denn es war hoch umstritten, seit wann genau diese Handlungen nach Völkergewohnheitsrecht strafbar waren. Um diese Auseinandersetzung verstehen zu können, soll zuerst der am 04.10.2000 vom Generalsekretär der VN vorgelegte Bericht berücksichtigt werden.354 Genauso wie bei dem JStGH spielte die Sorge um die Achtung des NCSL-Prinzips, insbesondere des Rückwirkungsverbots, eine wichtige Rolle im Entwurf des SCSL. Insofern behauptete der Generalsekretär in seinem Bericht, dass alle internationalen Verbrechen, die im Entwurf des SCSL-Statuts erwähnt waren, zum Zeitpunkt der Tatbegehung Völkergewohnheitsrecht bildeten.355 Es wurde allerdings in demselben Bericht erklärt, dass sich die in diesem Dokument vorgeschlagene Bestimmung hinsichtlich der Rekrutierung von Kindern von der Formulierung des Art. 8 Abs. 2 (b) (xxvi) und (e) (vii) des IStGH-Statuts unterschied.356 Das IStGH-Statut wurde am 17.07.1998 im Rahmen der in Rom stattgefundenen internationalen Konferenz aufgenommen, und Art. 8 Abs. 2 (b) (xxvi) und (e) (vii) sieht das Kriegsverbrechen der „Zwangsverpflichtung oder Eingliederung von Kindern“ („conscripting or enlisting“) vor. Dem General­sekretär zufolge war es zweifelhaft, ob das Verbrechen „conscripting or enlisting“ am 30.11.1996 bereits nach Völkergewohnheitsrecht eine strafbare Handlung darstellte.357 Deswegen schlug er ursprünglich für das SCSL-Statut den Ausdruck „Abduction and forced recruitment“ und nicht den gleichen Wortlaut des IStGH-Statuts vor.358 „Abduction and forced recruitment“ hätte nicht nur die formelle Aufnahme des Kindes in die 353 Siehe Dissenting Opinion of Justice Robertson, Para. 2 („The crime […] has never been prosecuted before in an international court […]“) in: SCSL, Prosecutor v. Sam Hinga Norman, 2004. 354 Der Bericht wurde auf Antrag des Sicherheitsrats verfasst (siehe Resolution  1315 vom 14.08.2000, Para. 1, 6–8); hier wurden Vorschläge über die Einrichtung des Tribunals formuliert und als Beilage wurde der Entwurf des Statutes vorgelegt. 355 Vgl. Report of the Secretary-General on the establishment of a Special Court for Sierra Leone, Para. 12. 356 Ebd., Para. 18. 357 Ebd. 358 Ebd. Para. 15 und 18.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Streitkräfte bedeutet, wie „conscripting or enlisting“. Der vom General­sekretär vorgeschlagene Ausdruck würde auch ein Zwangselement enthalten.359 Er wurde jedoch abgelehnt und der Ausdruck des Art.  8 Abs.  2 (b)  (xxvi) und (e)  (vii) IStGH-Statut, d. h. „conscripting or enlisting“, wurde in Art. 4 (c) SCSL-Statut aufgenommen.360 Im Prozess gegen Sam Hinga Norman wurde die Zuständigkeit des SCSL in Bezug auf Art. 4 (c) SCSL-Statut von der Verteidigung in Frage gestellt. Ihr zufolge verstoße diese Norm gegen das Rückwirkungsverbot, weil die „Zwangsverpflichtung oder Eingliederung von Kindern unter 15 Jahren in Streitkräfte oder ihre Verwendung zur aktiven Teilnahme an Feindseligkeiten“ 1996 im Völkerrecht noch nicht kriminalisiert gewesen sei.361 Die Berufungskammer des SCSL nahm also auf der Grundlage des Falles Hadžihasanović das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit auf, um das NCSL-Prinzip zu definieren. Sie zitierte auch die Behauptung der Strafkammer II des JStGH, nach der: „[T]he emphasis on conduct, rather than on the specific description of the offence in substantive criminal law, is of primary importance“.362 Vor diesem Hintergrund lehnte sie das Argument der Verteidigung ab.363 Dafür argumentierte die Berufungskammer in zwei Schritten. Zuerst erklärte sie, warum die Rekrutierung von Kindern bereits 1996 nach dem Völkerrecht rechtswidrig war und warum das Verbot der Rekrutierung von Kindern Völkergewohnheitsrecht bildete. In einem weiteren Schritt fragte sie sich, ob die Verstöße gegen dieses Verbot 1996 auch zur individuellen strafrechtlichen Verantwortung führten. Der Tadić-Test wurde hier als Argumentationsrahmen aufgenommen. Die Berufungskammer versuchte es somit, die vier Voraussetzungen, insbesondere die erste und die vierte, des Tadić-Tests hinsichtlich der „Zwangsverpflichtung oder Eingliederung von Kindern“ zu überprüfen.364 Die Berufungskammer des SCSL bewies mittels der Tatsache der breiten Ratifizierung der relevanten internationalen Instrumente, dass das Verbot der Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren Gewohnheitsrecht bildete. Dies wurde von der Verteidigung nicht diskutiert. In der an dieser Stelle kommentierten Entschei 359

Ebd. Die Aufnahme des Wortlauts des IStGH-Statut wurde vom Präsident des Sicherheitsrats Sergey Lavrov vorgeschlagen, „to ensure that Art. 4(c) conformed ‚to the statement of the law existing in 1996 and as currently accepted by the international community‘“, siehe SCSL, Prosecutor v. Sam Hinga Norman, 2004, Para. 8; siehe auch die vom Richter Robertson formulierte Kritik in seiner Dissenting Opinion, Para. 5: „He provided no actual ‚statement of the law exist­ ing in 1996‘, nor any authority“. 361 Vgl. SCSL, Prosecutor v. Sam Hinga Norman, 2004, Para. 1; siehe die deutsche Übersetzung des SCSL unter: https://www.uni-marburg.de/icwc/dateien/scsl1.pdf (zuletzt aufgerufen am 08.11.2016). 362 Vgl. SCSL, Prosecutor v. Sam Hinga Norman, 2004, Para. 25. 363 Ebd., Para. 54; dies wurde später vom SCSL bestätigt, siehe SCSL, Prosecutor v. Moinina Fofana and Allieu Kondewa, 2007, Para. 88, 182–184; SCSL, Prosecutor v. Alex Tamba Brima et al., 2007, Para. 730–732. 364 Vgl. SCSL, Prosecutor v. Sam Hinga Norman, 2004, Para. 26. 360

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dung wurden die Art. 14, 24 und 51 GK IV erwähnt, die besagen, dass Kinder in bewaffneten Konflikten geschützt werden sollen, sowie Art.  77 Abs.  2 ZP  I, 4 Abs. 3 ZP II und 38 Abs. 3 der VN-Kinderrechtskonvention, in denen die Rekrutierung von Kindern explizit verboten ist.365 Der Berufungskammer zufolge waren somit die Voraussetzungen (i) und (ii) des Tadić-Tests erfüllt.366 In Bezug auf die Voraussetzung (iv), d. h. auf die Kriminalisierung der Handlung durch Völkergewohnheitsrecht, konzentrierte sich die Argumentation der Berufungskammer auf die Erwähnung nationaler Rechtsordnungen als Staatenpraxis, die angeblich 1996 entweder die Rekrutierung von Kindern verboten oder sogar sanktionierten. Allerdings wurden nur zwei Staaten insofern konkret erwähnt, nämlich Irland und Norwegen, in denen die Verletzungen der GK und des ZP II vor 1996 strafbar waren.367 Darüber hinaus bezog sich die Berufungskammer direkt auf das Völkerrecht, aber die meisten Referenzen waren nur nach 1996 zu finden.368 Somit darf gesagt werden, dass die Argumentation bzgl. der Kriminalisierung der Rekrutierung von Kindern, die vermutlich vor 1996 stattfinden sollte, ungenügend zu sein scheint. Gerade dies wurde von Richter Robertson in seinem abweichenden Votum stark kritisiert.369 Laut Robertson könnte die Rekrutierung von Kindern vor der Aufnahme des IStGH-Statut (1998) oder vor seinem Inkrafttreten (2002) kein Kriegsverbrechen bilden, insbesondere in Fällen von nicht-erzwungener Rekrutierung.370 Es gäbe keine hinreichenden Beweise für das Gegenteil.371 Deshalb behauptete er emphatisch: „The fact that [the] conduct would shock or even apall decent people is not enough to make it unlawful in the absence of a prohibition“.372 Trotz der mangelhaften Argumentation ist jedenfalls hervorzuheben, dass die Berufungskammer des SCSL, genauso wie die Ad-hoc-Straftribunale, im Fall Sam Hinga Norman durch die Aufnahme des Tadić-Tests die Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit anerkannte. Das Verbot einer Handlung und ihre 365 Am 30.11.1996 hatten 187 Staaten die GK IV ratifiziert, 137 Staaten waren zu dieser Zeit Vertragsstaaten des ZP II und alle außer sechs Staaten hatten die Kinderrechtskonvention akzeptiert. Auch Sierra Leone war zur relevanten Zeit Vertragsstaat dieser internationalen Instrumente, ebd., Para. 10 ff. 366 Ebd., Para. 27. 367 Ebd., Para. 44; die Berufungskammer erwähnte auch andere Staaten, in denen eine Grenze zum Militärdienst vorliegt. In diesem Kontext erscheinen auch Deutschland und Österreich als Beispiele, wo die Übertretung dieser Grezen sanktioniert wird, ebd., Para. 45; Staaten wie z. B. England, Mauretanien und die Schweiz sind auch erwähnt, aber als Staaten, in denen die Rekrutierung von Kindern aufgrund der bestehenden Kontrollen einfach nicht möglich sein sollte, ebd. 47. 368 Beispielsweise die Diskussionen und die Aufnahme des IStGH-Statuts oder die Fälle Tadić und Akayesu, ebd., Para. 30, 31, 32, 35, 40. 369 Siehe Dissenting Opinion of Justice Robertson, Para. 22, 24. 370 Ebd., Para. 31 371 Ebd., Para. 40–41: „For example, UNICEF could only cite five states which had a specific criminal law against child recruitment prior to July 1998 […] In other words, there was no common state practice of explicitly criminalizing child recruitment prior to the Rome Treaty“. 372 Ebd., Para. 13.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Kriminalisierung stellen insofern zwei Prozesse dar, die zur gleichen Zeit nicht stattfinden müssen, aber notwendig für die internationale individuelle strafrechtliche Verantwortung sind. Auch im vorliegenden Fall ist das Verbot in mehreren Völkerrechtsverträgen zu finden, die als Völkergewohnheitsrecht allgemeine Geltung haben, während die Strafbarkeit, obwohl sie nicht explizit vorgesehen war, das Ergebnis eines Gewohnheitsrechtsprozesses darstellen soll. Wenngleich sich die Berufungskammer auf nationale Gesetzgebungen konzentrierte, akzeptierte sie ferner, beruhend auf dem Tadić-Fall und sogar auf dem Nürnberger Urteil, dass die Kriminalisierung einer Handlung auf internationaler Ebene durch das Zusammenspiel verschiedener Elemente geschehen kann.373 Die Berufungskammer betonte, dass es nicht möglich sei, einen genauen Zeitpunkt zu finden, ab dem eine Handlung im Völkergewohnheitsrecht kriminalisiert worden ist.374 Es handelt sich vielmehr um einen Prozess, in dem die Zahl der teilnehmenden Staaten jedoch bedeutender als seine Dauer sein könne.375 2. Zwangsverheiratung und die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“: Unbestimmtheit bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Neben der bereits zusammengefassten Entscheidung über die Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren bildet das Urteil der Berufungskammer des SCSL im Fall Brima et al. (sog. AFRC-Fall) einen bedeutenden Meilenstein hinsichtlich des NCSL-Prinzips. In diesem Urteil akzeptierte die Berufungskammer die Zwangsverheiratung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, obwohl Art. 2 SCSL-Statut, in dem derartige Verbrechen vorgesehen sind, die Zwangsverheiratung nicht erwähnt. Das Argument des Anklägers, dem zufolge die Zwangsverheiratung unter die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ des Art. 2 (i) SCSL-Statut subsumiert werden dürfe, wurde in diesem Zusammenhang aufgenommen. Die Berufungskammer betonte, dass dies das NCSL-Prinzip nicht verletze. Durch diesen Fall kann deshalb gezeigt werden, dass unbestimmte normative Begriffe, die wertausfüllungsbedürftig sind und eine Bestrafung von in den relevanten Normen nicht explizit erwähnten Handlungen erlauben, auch im Kontext der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gefunden werden können, wie bei den Kriegsverbrechen.376 Im AFRC-Fall wurden Alex Tamba Brima, Brima Bazzy Kamara und Santigie Borbor Kanu, ehemalige Mitglieder des AFRC („Armed Forces Revolutionary Council“), verurteilt. Das AFRC regierte Sierra Leone zwischen Mai 1997 und Februar 1998.377 Sie wurden u. a. aufgrund der systematischen Praxis von Zwangs 373

Vgl. SCSL, Prosecutor v. Sam Hinga Norman, 2004, Para. 37. Ebd., Para 49–50. 375 Ebd. 376 Siehe oben, viertes Kapitel, B. I. 5. 377 Siehe SCSL, Prosecutor v. Alex Tamba Brima et al., 2007, Para. 11–13, 164 ff. 374

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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verheiratungen wegen „anderer unmenschlicher Handlungen“ gemäß Art.  2 (i) SCSL-Statut angeklagt. Die Strafkammer lehnte jedoch in erster Instanz diesen Anklagepunkt ab, weil die Zwangsverheiratungen ihrer Auffassung nach nicht unter Art. 2 (i) als „andere unmenschliche Handlungen“, sondern unter Art. 2 (g) als Verbrechen sexueller Konnotation subsumiert werden sollten.378 Laut der Strafkammer würden diese Handlungen eher dem Verbrechen sexueller Sklaverei entsprechen.379 Dies wurde vom Ankläger in Frage gestellt, und deshalb befasste sich die Berufungskammer in zweiter Instanz mit diesem Problem. Sie stellte fest, dass das Verbrechen der Zwangsverheiratung nicht nur die Vergewaltigung oder den sexuellen Missbrauch der Frauen bzw. Mädchen mit sich bringen könne. Es gehe in diesen Fällen nicht um eine „Eigentumsbeziehung“, sondern um die erzwungene Schaffung einer eheähnlichen Beziehung, in der es sogar gegenseitige „Pflichten“ und „Rechte“ gäbe.380 Die „Ehefrau“ sollte ihrem „Ehemann“ treu sein, sie sollte mit ihm Geschlechtsverkehr haben, Schwangerschaften ertragen, sich um die Kinder kümmern und häusliche Arbeit durchführen. Der „Ehemann“ sollte im Gegenzug seine „Ehefrau“ schützen sowie diese mit Lebensmitteln, Kleidung usw. versorgen.381 Die Opfer der Zwangsverheiratungen litten ferner nicht nur an der Beeinträchtigung ihrer sexuellen Integrität. Sie waren darüber hinaus von Soldaten und Kämpfern entführt und von ihren Familien getrennt worden und mussten mit der Stigmatisierung, im Fall von Sierra Leone als „bush wives“, und der sich daraus ergebenen Ausschließung aus der Gemeinschaft leben.382 Der sexuelle Missbrauch war in diesem Kontext nicht einmal ein wesentliches Element der verbrecherischen Handlung. Aus diesen Gründen behauptete die Berufungskammer, dass die Zwangsverheiratung zusätzliche Elemente beinhalte und deswegen als ein sexuelles Verbrechen nur unzureichend erfasst werden könne.383 Die Zwangs­ verheiratung bildet somit der Berufungskammer zufolge ein eigenständiges Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dies war jedoch nicht das erste Mal, in dem die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ angewendet wurde. Seit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher hat diese Klausel eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Völkerstrafrechts gespielt. Sie ist in die Statuten der verschiedenen internationa-

378 Ebd., Para. 697 ff.: „In light of the exhaustive category of sexual crimes particularised in Article 2(g) of the Statute, the offence of ‚other inhumane acts‘, even though residual, must logically be restrictively interpreted as applying only to acts of a non-sexual nature amounting to an affront to human dignity“. 379 Ebd., Para. 711. 380 Vgl. SCSL, Prosecutor v. Alex Tamba Brima et al., 2008, Para. 190; siehe auch die Separate Concurring Opinion von der Richterin Julia Sebutinde und die Partly Dissenting Opinion von der Richterin Teresa Doherty, in: SCSL, Prosecutor v. Sam Hinga Norman, 2004, S. 574 ff. und 582 ff. 381 Vgl. SCSL, Prosecutor v. Alex Tamba Brima et al., 2008, Para. 190. 382 Ebd., Para. 192–193. 383 Ebd., Para. 195.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

len Straftribunale inkorporiert384 und mehrmals von ihnen angewandt worden. Die Bestrafung biologischer bzw. medizinischer Menschenversuche nach dem Zweiten Weltkrieg laut KRG Nr. 10 im sog. Ärzte-Prozess ist als Beispiel zu erwähnen.385 Aber auch die Ad-hoc-Straftribunale griffen auf diese Klausel zurück. Dadurch kennzeichnete der JStGH mehrere Handlungen, die sich nicht explizit in seinem Statut befanden, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu nennen sind hier z. B. die zwangsweise Überführung der Bevölkerung, die Nötigung zur Prostitution, das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen, der Zwang, bei der Ermordung eines Angehörigen anwesend zu sein, erniedrigende Behandlungen sowie Verstümmelungen.386 Der RStGH hat auch weitere Handlungen durch diese Klausel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft, wie z. B. die sexuelle Gewalt gegen Leichen387 oder der Zwang, sich nackt vor mehreren Personen zu präsentieren.388 Deswegen, behauptete die Berufungskammer des SCSL, dass die Klausel an sich Völkergewohnheitsrecht sei.389 Angesichts all dieser Bestrafungsmöglichkeiten im Lichte des NCSL-Prinzips ist der Frage nachzugehen, wie genau diese Klausel konkretisiert werden kann. Die Ad-hoc-Straftribunale schlugen einige Kriterien vor, auf deren Grundlage später eine präzisiere Definition im Kontext des IStGH-Statuts aufgenommen wurde. Der JStGH behauptete beispielshaft im Fall Kupreškić, dass die Unbestimmtheit der Klausel (Art. 5 (i) JStGH-Statut) anhand der Normen des Völkerrechts der Menschenrechte überwunden werden könne. D. h., wenn eine Handlung laut dem Völkerrecht eine schwere Menschenrechtsverletzung bilde, könne sie nach der Klausel „andere unmenschliche Handlung“ bestraft werden,390 wobei 384 Vgl. Art. 6 (c) IMG-Statut, Art. II Abs. 1 (c) KRG Nr. 10, Art. 5 (c) IMTFO-Statut, Art. 5 (i) JStGH-Statut, Art. 3 (i) RStGH-Statut, Art. 2 (i) SCSL-Statut, Art. 5 Law on the establishment of Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia (ECCC) und (mit zusätzlichen Elementen) Art. 7 Abs. 1 (k) IStGH-Statut. 385 Vgl. Trials of War Criminals, Vol. 2, S. 174–175. 386 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et  al., 2000, Para.  35, 566; JStGH, Prosecutor v.­ Miroslav Kvočka et al., 2001, Para. 208. 387 Siehe RStGH, Prosecutor v. Eliézer Niyitegeka, 2003, Para. 463 ff.: „the Chamber found that on 28 June 1994, near the Technical Training College, the Accused ordered Interahamwe to undress the body of a Tutsi woman, whom he called ‚Inyenzi‘, who had just been shot dead, to fetch and sharpen a piece of wood, which he then instructed them to insert into her genitalia“. 388 Vgl. RStGH, Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, 1998, Para. 688 ff. 389 Vgl. SCSL, Prosecutor v. Alex Tamba Brima et al., 2008, Para. 183. 390 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et  al., 2000, Para.  566: „Less broad parameters for the interpretation of ‚other inhumane acts‘ can instead be identified in international standards on human rights such as those laid down in the Universal Declaration on Human Rights of 1948 and the two United Nations Covenants on Human Rights of 1966“. Dagegen hielt die zweite Strafkammer des JStGH in Bezug auf die zwangsweise Überführung der Bevölkerung im Fall Stakić fest: „[T]his Trial Chamber hesitates to use such human rights instruments automatically as a basis for a norm of criminal law, such as the one set out in Article 5(i) of the Statute“, JStGH, Prosecutor v. Milomir Stakić, 2003, Para. 721. Trotzdem verfolgte die Berufungskammer in diesem Fall den von der Strafkammer vom Kupreškić dargelegten Ansatz, siehe JStGH, Prosecutor v. Milomir Stakić, 2006, Para. 317.

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nicht nur Menschenrechtsverträge, wie z. B. der IPBPR oder die EMRK, sondern auch die relevanten suppression conventions, wie z. B. die VN-Antifolterkonvention, zu berücksichtigen sind.391 Es wurde ferner auf der Grundlage des Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind von 1996392 und dadurch basierend auf Art. 11 (Abs. 1 und 2) und 75 (Abs. 2) ZP I in anderen Fällen festgestellt, dass die Handlungen schwere geistige oder körperliche Leiden verursachen oder einen ernsthaften Angriff auf die Menschenwürde bilden müssen und dass sie dieselbe Ernsthaftigkeit der im jeweiligen Statut explizit erwähnten Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufweisen sollen, um als „andere unmenschliche Handlungen“ bestraft werden zu dürfen.393 Gerade wegen der Schwierigkeiten im Lichte des NCSL-Prinzips wurden in Art. 7 Abs. 1 (k) IStGH-Statut einige Elemente, die den Elementen, die durch die Rechtsprechung der Ad-hoc-Straf­ tribunale festgestellt wurden, ähnlich sind, in den Wortlaut der Klausel eingegliedert. Art. 7 Abs. 1 (k) IStGH-Statut lautet: „[a]ndere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art, mit denen vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden“. Die Elemente des Art.  7 Abs.  1 (k) IStGH-Statut wurden von der Berufungskammer des SCSL im Brima et al. aufgenommen, um die Zwangsverheiratungen unter Art. 2 (i) SCSL-Statut zu subsumieren.394 Jedenfalls ist die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ als eine „generalklauselartige Auffangvorschrift“ konzipiert worden.395 Die Absicht dabei war, dass unvorhersehbare grausame Handlungen nicht ungeahndet bleiben sollten. Insofern äußerte sich der JStGH wie folgt: „The phrase ‚other inhumane acts‘ was deliberately designed as a residual category, as it was felt to be undesirable for this category to be exhaustively enumerated. An exhaustive categorization would merely create opportunities for evasion of the letter of the prohibition“.396 Die Berufungskammer des SCSL berief sich auf diesen Gedanken und zitierte den JStGH.397 Aber sie erklärte auch: „At the same time, care must be taken not to make it too embracing as to make a surplusage of what has been expressly provided for, or to render the crime nebulous and incapable of concrete ascertainment“.398 Es sollte also ein Mittelweg zwischen Anpassungsfähigkeit und Rechtssicherheit bei der Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gefunden

391 Siehe in Bezug auf ernsthafte Formen grausamer oder erniedrigender Behandlungen in diskriminierender Absicht JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 566. 392 Siehe dazu unten, C. V. 393 Vgl. RStGH, Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana, 1999, Para. 151; JStGH, Prosecutor v. Tihomir Blaškić, 2000, Para.  237 ff.; JStGH, Prosecutor v. Miroslav Kvočka et al., 2001, Para. 206 ff. 394 Vgl. SCSL, Prosecutor v. Alex Tamba Brima et al., 2008, Para. 198. 395 Vgl. Werle/Jeßberger, S. 495. 396 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 563. 397 Vgl. SCSL, Prosecutor v. Alex Tamba Brima et al., 2008, Para. 183. 398 Ebd., Para. 185.

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werden,399 wobei das bereits erwähnte Zusammenspiel zwischen den internationalen Menschenrechten, dem humanitären Völkerrecht und dem Völkerstrafrecht unentbehrlich ist. Insofern ist erneut auf die Rechtsprechung des EGMR hinzuweisen, der zufolge die richterliche graduelle Fortentwicklung der strafrechtlichen Normen das NCSL-Prinzip nicht verletzt, solange eine solche Entwicklung den Kern des relevanten Verbrechens nicht verändert.400 Die Diskussion über die Zwangsverheiratung als „andere unmenschliche Handlung“ zeigt jedoch, dass die Abgrenzung zwischen der richterlichen Rechtsfortbildung und der richterlichen Rechtsschöpfung schwierig ist. Aus dieser Perspektive kann ohnehin in Übereinstimmung mit der Berufungskammer des SCSL gesagt werden, dass die Bestrafung der Zwangsverheiratungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit laut Art. 2 (i) SCSL-Statut im Einklang mit dem NCSL-Prinzip war. Im Bürgerkrieg von Sierra Leone erfüllte diese Praxis die Kontextelemente der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, d. h. ein ausgedehnter oder systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung, und umfasste bestimmte Handlungen, die ohne Zweifel internationale Verbrechen bildeten, wie z. B. Versklavung, Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei oder Freiheitsentziehung. Die Subsumtion unter Art. 2 (i) SCSL-Statut aufgrund des Elements der erzwungenen Schaffung einer eheähnlichen Beziehung und der daraus resultierenden Verletzungen der Menschenrechte der Opfer änderte somit den Kern der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht.401 Es soll anerkannt werden, dass die Anwendung der Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ wegen der angeblichen Verletzung des Analogieverbots kritisiert worden ist. In diesem Sinne sprechen Fletcher und Ohlin von einem „legality deficit“ im Völkerstrafrecht und verlangen für dieses Rechtsgebiet dieselben Gewährleistungen, die sich „im nationalen Strafrecht“ aus dem NCSL-Prinzip ergeben.402 Seit der Einleitung der vorliegenden Arbeit ist jedoch gesagt worden, dass eine bestimmte nationale Konzeption des NCSL-Prinzips („die“ nationale Konzeption existiert eigentlich nicht) nicht einfach auf das Völkerstrafrecht übertragen werden kann, da ein solches Vorgehen wesentliche Eigenschaften des Völkerstrafrechts übersehen würde, wie z. B. seine Rechtsquellen und die Rolle, die es gegenüber den nationalen Rechtsordnungen einnehmen soll. Dies würde die Kontextabhängigkeit des Rechts ignorieren. Deswegen ist im Rahmen der vorliegenden 399 Wharton meint dazu: „The existence of the residual crime against humanity of ‚other inhumane acts‘ is an example of the constant tension between the desire for legal certainty and the need for flexibility in the law“, Wharton, Int’l Crim. L. Rev. 2011, 217 (233). 400 Siehe oben, viertes Kapitel, A. III. 401 Hinsichtlich der Übereinstimmung der Bestrafung der Zwangsverheiratung als andere unmenschliche Handlung mit dem NCSL-Prinzip siehe Frulli, J. Int’l Crim. Just. 2008, 1033 (1037 ff.); Wharton, Int’l Crim. L. Rev. 2011, 217 (231): „[R]ecognizing a crime which regularly incorporates already recognized and well-known international crimes but which goes beyond these acts hardly appears unforeseeable or manifestly unjust“. 402 Vgl. Fletcher/Ohlin, J. Int’l Crim. Just. 2005, 539 (551).

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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Arbeit versucht worden, eine Konzeption des NCSL-Prinzips zu rekonstruieren, die den Besonderheiten der Entwicklung des Völkerstrafrechts Rechnung trägt. Vor diesem Hintergrund darf gesagt werden, dass es im Kontext des Völkerstraf­ rechts problematisch ist, von einem Analogieverbot zu sprechen. Obwohl der Sinn und ggf. die Grenzen des Analogieverbots Gegenstand einer selbstständigen Untersuchung sein sollen, sind hier einige Erwägungen diesbezüglich relevant. Das Analogieverbot bezieht sich vor allem auf das Verbot der Lückenausfüllung im Gesetz (sog. Gesetzesanalogie)403 durch einen Analogieschluss. D. h., die Analogie setzt das Bestehen von Lücken voraus. Allerdings kann, wie Larenz erklärt, nur dann von Gesetzeslücken gesprochen werden, wenn das relevante Gesetz „für einen bestimmten Bereich eine einigermaßen vollständige Regelung anstrebt“.404 Es mache also keinen Sinn, dort von Lücken zu sprechen, wo keine Bestrebung nach einer umfassenden Gesamtkodifikation des Rechts vorliege.405 Das Völkerstrafrecht hat sich freilich nicht durch solche Bestrebungen entwickelt (die Frage, ob das IStGH-Statut eine Bestrebung dieser Art darstellt, ist später zu beantworten). Darüber hinaus bilden die Bestimmungen der Statute internationaler Straftribunale über Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie diejenige des JStGH, des RStGH und des SCSL, keine vollständigen Definitionen. Es können insofern zwei „Kodifikationsmethoden“ in diesen Bestimmungen gefunden werden: eine Generalklausel, in welcher sich die Kontextelemente befinden, und die kasuistische Erwähnung von Beispielen.406 Diese Liste von konkreten Handlungen erhebt keinen Anspruch, komplett zu sein. Ganz das Gegenteil. Es ist von vornherein darauf verzichtet worden, eine abschließende Definition zu formulieren. Gerade aus diesem Grund sind am Ende der Handlungsaufzählung unbestimmte normative Begriffe, die wertausfüllungsbedürftig sind, eingegliedert worden, wie etwa die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“. Damit darf das jeweilige internationale Straftribunal durch die Auslegung der Klausel die Aufzählung möglicher Handlungen ergänzen, sofern dies notwendig ist. So ist es beispielshaft im Fall der Zwangsverheiratung geschehen. Es gibt also keine Lücke in den Bestimmungen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in denen die Klausel zu finden ist, wie 403 Laut Engisch geht die Gesetzesanalogie von einem einzelnen Rechtssatz aus und entnimmt aus diesem einen auf ähnliche Fälle anwendbaren Grundgedanken, Engisch, S. 255. 404 Vgl. Larenz, S. 371. 405 Ebd. 406 Siehe dazu Engisch, S. 213 ff., Engisch definiert die kasuistische Methode als die Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands, die besondere Fallgruppen in ihrer spezifischen Eigenart umschreibt (ebd., S. 213). Im Unterschied dazu ist unter Generalklausel „eine solche Tatbestandsfassung, die mit großer Allgemeinheit einen Fallbereich umfasst und der rechtlichen Behandlung zuführt“ zu verstehen (ebd., S. 214). Laut Engisch können beide Methoden miteinander ergänzt werden. Er bezeichnet dies als „exemplifizierende Methode“ (ebd., S. 216). Der Vorteil der Generalklauseln liegt darin, dass sie es ermöglichen, eine „große Gruppe von Sachverhalten lückenlos und anpassungsfähig“ zu regeln, während die Kasuistik immer die Gefahr mit sich bringt, nur vorläufige und fragmentierte Regelungen zu verschaffen (ebd., S. 218).

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

in Art. 2 SCSL-Statut. Denn hier gewährt die Norm selbst und explizit einen gewissen Entscheidungspielraum, um nicht ausdrücklich erwähnte Handlungen zu bestrafen. Etwas Ähnliches geschieht mit dem Verbrechen der Verfolgung nach Art. 5 (h) JStGH-Statut und Art. 2 (h) SCSL-Statut.407 Eine Art analogische Denkweise ist hier jedenfalls relevant. Deswegen spricht man im Kontext der Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ von der Regel ejusdem generis.408 Aber es handelt sich nicht um eine Analogie im Sinne einer Lückenausfüllung. Die Auslegung der Klausel ist komplexer, weil sie auch eine systematische Auslegung voraussetzt, in der das von den internationalen Menschenrechten, dem humanitären Völkerrecht und dem Völkerstrafrecht gebildete Netz zu berücksichtigen ist.409

III. Ergebnis: Die Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit als Basis für einen doppelten Standard hinsichtlich der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit Das NCSL-Prinzip wurde weder in den Statuten der Ad-hoc-Straftribunale noch im SCSL-Statut vorgesehen. Seine Relevanz ist aber sowohl seit dem Moment, in dem diese Tribunale entworfen wurden, als auch in mehreren anderen Fällen akzeptiert worden. Die Anwendbarkeit des NCSL-Prinzips ist von den internationalen Straftribunalen, auf die hier Bezug genommen wurde, nicht in Frage gestellt worden. Insofern kann behauptet werden, dass die umstrittenen Fälle nicht die Ablehnung des NCSL-Prinzips beweisen, sondern seine Schwierigkeiten und Besonderheiten im Völkerstrafrecht zeigen.410 Auf jeden Fall darf aber gesagt werden,

407

Vgl. JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 608 ff.; siehe auch ebd., Para. 615: „In their interpretation of persecution courts have included acts such […] those presently enumerated in Article 5.  […]Persecution can also involve  a variety of other discriminatory acts, involving attacks on political, social, and economic rights“. 408 Laut dem Black’s Law Dictionary ist die Regel ejusdem generis „[a] canon of construc­ tion holding that when a general word or phrase follows a list of specifics, the general word or phrase will be interpreted to include only items of the same class as those listed“, Black’s Law Dictionary, S. 631. 409 Dies geschieht auch in Bezug auf die Verbrechen der „Verfolgung“, vgl. JStGH, Prosecutor v. Kupreškić et al., 2000, Para. 620–621; siehe kritisch dazu Lamb, in: The Rome Statute, S. 745; man kann vielleicht in diesem Zusammenhang auch von „Rechtsanalogie“ sprechen; laut Engisch „geht die Rechtsanalogie‚ ‚von einer Mehrzahl einzelner Rechtsvorschriften‘ aus und ‚entwickelt aus ihnen (durch Induktionsschluss) allgemeinere Prinzipien und wendet diese auf Fälle an, die unter keine der Gesetzesvorschriften fallen‘“, Engisch, S. 255; beispielsweise nimmt Cassese an, dass das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht die Rechtsanalogie nicht ver­ bietet, ihm zufolge umfasst das Analogieverbot im Völkerstrafrecht weder die Regel ejusdem generis noch die analogia juris, Cassese, Cassese’s, S.  34; ähnlich Bantekas, International, S. 26: „This ban on analogies […] does not operates as a ban on construction by means of general principles […]“. 410 Ähnlich Gallant, S. 307; trotzdem ist auch kritisch behauptet worden: „As was the case with the Nuremberg trials […] the nullum crimen principle has not, in practice, served to limit

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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dass der Ansatz der an dieser Stelle erwähnten Tribunale nicht einer strengen bzw. strikten Konzeption des NCSL-Prinzips entspricht.411 Die in diesem Kontext stattgefundenen Diskussionen haben sich ferner auf das Rückwirkungsverbot und das Bestimmtheitsgebot konzentriert, wobei anerkannt worden ist, dass diese Grundsätze die zwei Säulen des NCSL-Prinzips sind. Das NCSL-Prinzip ist hier ferner vor dem Hintergrund der internationalen Menschenrechte interpretiert worden. Dafür hat insbesondere die Rechtsprechung des EGMR eine maßgebliche Rolle gespielt. Es ist beispielsweise im Kontext der Ad-hoc-Straftribunale behauptet worden, dass das NCSL-Prinzip der richterlichen, graduellen Fortentwicklung des Strafrechts nicht entgegenstehe, wenngleich die Grenzen der Interpretationsbefugnisse dieser internationalen Tribunale nicht immer klar gewesen sind. Um das NCSL-Prinzip konkretisieren zu können, verbinden die Ad-hoc- und einige gemischte Straftribunale jedenfalls zwei Elemente.412 Zum einen ist das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit als Bewertungsmaßstab der Legalität zu erwähnen, wie sie vom EGMR entwickelt worden ist. Zum anderen ist auf die Idee hinzuweisen, der zufolge das NCSL-Prinzip vor dem Hintergrund der Eigenheiten des Völkerstrafrechts definiert werden soll. Damit das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit in diesem Zusammenhang verstanden werden kann, soll zuerst wieder darauf hingewiesen werden, dass die Statute dieser Straftribunale nicht die eigentliche materielle Rechtsgrundlage der Strafbarkeit der Handlungen darstellten. Dies geschah auch in Bezug auf den Nürnberger IMG.413 Die Statuten stellten nur die materielle Zuständigkeit der Tribunale fest, und insofern sollten sie das bestehende Völkerrecht widerspiegeln. Deshalb verweisen sie auf andere Völkerrechtsquellen, die auch interpretiert werden müssen. Die Struktur der Bestimmungen über internationale Verbrechen, die sich in den Statuten der Ad-hoc-Straftribunale und des SCSL befinden, führt gerade dazu. Sie bestehen aus einer Generalklausel und einer Handlungsliste.414 Diese Generalklauseln können ausdrücklich auf andere internationale Instrumente bzw. Völkerrechtsquellen verweisen, wie z. B. Art.  2 JStGH-Statut (die GK) und 3 JStGH-Statut (Gesetze und Gebräuche des

the ad hoc Tribunal’ exercise of ist jurisdiction in any meaningful way“, Lamb, in: The Rome Statute, S. 742; auch kritisch Boot, S. 263, 305–308. 411 Van Schaack meint dazu: „[H]owever, they have rejected, or impliedly denied, the absolute positivistic version of the principle in favor of the general applicability of the values underlying the principle“, van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119, S. 141; siehe in diesem Sinne auch Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 370. 412 Nicht nur das SCSL sondern auch das STL und die SPSC in Osttimor haben die Rechtsprechung der Ad-hoc-Straftribunale in dieser Hinsicht verfolgt. 413 Siehe oben, zweites Kapitel, E. 414 Im Unterschied zu den Statuten der Ad-hoc-Straftribunale hatten die Bestimmungen über internationale Verbrechen der LC, des KRG Nr. 10 und des IMTFO-Statuts nur einer Überschrift und die jeweilige Handlungsliste.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Krieges).415 Darüber hinaus sind alle Handlungen, die unter diesen Generalklauseln subsumiert werden können, in der jeweiligen Liste nicht explizit erwähnt. Entweder weil die Bestimmung selbst sagt, dass die Liste nicht vollständig ist (z. B. Art. 3 JStGH: „Such violations shall include, but not be limited to“) oder weil gewisse unbestimmte Begriffe, die wertausfüllungsbedürftig sind und aus anderen internationalen Instrumenten stammen, in die Liste aufgenommen worden sind (z. B. „inhuman treatment“ in Art. 2 (b) JStGH und „other inhumane acts“ in Art. 5 (i) JStGH). Es kann also behauptet werden, dass die Bestimmungen der Statuten, die die materielle Zuständigkeit von Tribunalen wie die Ad-hoc-Straftribunale oder das SCSL festlegen, als eine Art von „Hypertexten“416 anzusehen sind. In diesem Sinne wurde das Phänomen der Interlegalität bereits erwähnt.417 Wie bereits ausgeführt, sind völkerstrafrechtliche Normen somit häufig verstreut und fragmentiert. D. h., in nicht wenigen Fällen müssen sie durch die Interpretation verschiedener Rechtsquellen rekonstruiert werden, die verschiedenen Bereichen des Völkerrechts zugehören, wie z. B. dem humanitären Völkerrecht oder den internationalen Menschenrechten, und mit­einander verbunden sind. In Übereinstimmung mit dem NCSL-Prinzip sollte es möglich sein, gewisse Bezugspunkte im zum Zeitpunkt der Tatbegehung bestehenden Völkerrecht zu finden, um die Voraussetzungen der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit zu erfüllen und damit das NCSL-Prinzip zu beachten. Dafür kommt nicht nur die nationale Rechtsordnung des Angeklagten in Betracht, wobei ohnehin nicht entscheidend ist, dass die relevante Handlung auch nach dem nationalen Recht strafbar ist.418 Andere Elemente wie z. B. nationale Gerichtsentscheidungen, internationale Instrumente und weitere nationale Gesetzgebungen können auch insofern berücksichtigt werden. Diese Elemente sind vor allem unter dem Begriff des Völkergewohnheitsrechts thematisiert worden. Dazu ist es jedoch möglich mehrere Fragen zu stellen: Wie sind die Elemente bzw. Bezugspunkte, die fair notice auf internationaler Ebene bieten sollen, in Verbindung zu bringen? Besteht einer Art Hierarchie unter ihnen? Kann eine Handlung lediglich durch Völkergewohnheitsrecht

415 Art. 2 JStGH-Statut lautet: „The International Tribunal shall have the power to prosecute persons committing or ordering to be committed grave breaches of the Geneva Conventions of 12 August 1949“; nach Art. 3 JStGH: „The International Tribunal shall have the power to prosecute persons violating the laws or customs of war“. 416 Dieser Ausdruck ist von Fischer-Lescano und Teubner angewendet worden, um die Interlegalität im Völkerrecht zu erklären: „Rechtstexte, die als Hypertexte zu lesen sind, d. h. nur in der Verknüpfung mit anderen Texten und Kontexten ‚Sinn‘ ergeben und eine ‚ultimate rule of recognition‘ nicht hervorbringen“, Fischer-Lescano/Teubner, S. 35. 417 Siehe oben, zweites Kapitel, E. 418 Laut Gallant kann die bereits erwähnte re-characterization-Theorie hier gesehen werden, wie sie z. B. im Kontext des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher angewendet wurde (siehe oben, zweites Kapitel, B. III.), siehe Gallant, S. 320–324; nach Gallant: „This argument posits that it is acceptable to change the name of a crime within the international legal system or to take criminal acts from one legal system (applicable to the actor at the time of the crime) into another legal system“, ebd., S. 321.

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

381

kriminalisiert werden? Wie bereits erwähnt, muss, um diese Fragen beantworten zu können, die Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit in Betracht gezogen werden. Diese Unterscheidung ist nicht nur vom JStGH, sondern auch vom RStGH, dem SCSL und sogar dem SGL anerkannt worden, was anhand der Formulierung des sog. Tadić-Tests in der Rechtsprechung des JStGH (Fälle Tadić und Galić) und in seiner anschließenden Aufnahme von anderen Straftribunalen (z. B. in den Fällen Akayesu und Hinga Norman) gesehen werden kann. Es ist daran zu erinnern, dass diese Unterscheidung auch im Nürnberger Urteil und im Urteil des IMTFO zu finden ist.419 Von der Rechtsprechung dieser Tribunale ausgehend ist es also möglich zu behaupten, dass ein doppelter Standard im Hinblick auf das NCSLPrinzip im Völkerstrafrecht entwickelt worden ist. In diesem Sinne wurde bereits in der vorliegenden Arbeit behauptet, dass eine differenzierte Konzeptualisierung der Legalität im Rahmen des Völkerstrafrechts anzunehmen ist,420 wobei ein Mindeststandard, der nicht so strikt und formell sein muss wie in einem kodifizierten Rechtssystem, im Völkerstrafrecht durch die Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit gefunden werden kann. Dieser muss sowohl ein Mindestmaß an Rechtssicherheit gewährleisten, dass die Handlung tatsächlich zum Zeitpunkt der Tatbegehung verboten und strafbar war, als auch einen gewissen Grad an Flexibilität verschaffen, um auf neue Formen massenhafter Gewalt reagieren zu können. Obwohl beide Ziele widersprüchlich zu sein scheinen, kann gerade die sich aus der Differenzierung zwischen Verbot und Strafbarkeit ergebende Entwicklung eines doppelten Standards den Ausgangspunkt bilden, um beide Ziele miteinander zu verbinden. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, einen weniger formellen und deswegen vielleicht niedrigeren Standard für die Strafbarkeit als denjenigen, der für das Verbot vorausgesetzt ist, zu identifizieren. Diesem doppelten Standard entsprechend sind die Bezugspunkte, die notwendig sind, um die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit des Verbots auf internationaler Ebene zu beweisen, abweichend von den Bezugspunkten, die zum Belegen der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit im Hinblick auf die Strafbarkeit erforderlich sind. Hier wird jedenfalls vorgeschlagen, dass beide beachtet werden müssen, um das NCSLPrinzip im Völkerstrafrecht nicht zu verletzen. In Bezug auf das Verbot der Handlung lässt sich de lege ferenda festhalten, dass es in einer positiven Völkerrechtsquelle begründet werden sollte. Anders ausgedrückt: Das Verbot sollte sich aus dem geschriebenen Völkerrecht ergeben. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass alle in der vorliegenden Arbeit diskutierten Fälle gemeinsam haben, dass das Verbot stets einen Anknüpfungspunkt an die zum Zeitpunkt der Tatbegehung bestehenden internationalen Instrumente hatte. Dies geschah im Kontext des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbre-

419

Siehe oben, zweites Kapitel, E. Siehe oben, drittes Kapitel, C.

420

382

4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

cher mit dem Angriffskrieg und dem BKP.421 Aber auch im Rahmen der Ad-hocStraftribunale ist dieselbe Situation zu finden, wie z. B. hinsichtlich der Kriegsverbrechen in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten im Allgemeinen und in Bezug auf konkrete Kriegsverbrechen wie Angriffe gegen Zivilisten, Mord oder unmenschliche Behandlungen und die Diskussionen über den gemeinsamen Art. 3 GK und das ZP II. Darüber hinaus können die Debatten über die Rekrutierung von Kindern und über die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ insofern erwähnt werden, z. B. hinsichtlich des Verschwindenlassens von Personen, ernsthafter Formen grausamer oder erniedrigender Behandlungen und Zwangsverheiratungen. In Bezug auf die Rekrutierung von Kindern waren nicht nur die GK IV und die ZP, sondern auch die VN-Kinderrechtskonvention relevant, während hinsichtlich der „anderen unmenschlichen Handlungen“ auf ZP I und auf verschiedene Menschenrechtsverträge Bezug genommen wurde. Die Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist in dieser Hinsicht der vielleicht umstrittenste Fall,422 aber selbst dabei bildete die Martens’sche Klausel der Haager Konventionen über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs von 1899 und 1907 den Ausgangspunkt einer internationalen Rechtsgrundlage des Verbots der Handlungen. In diesen Beispielen ist das Völkergewohnheitsrecht relevant gewesen (und gelegentlich auch der Begriff von allgemeinen Rechtsgrundsätzen), nicht um das Bestehen des Verbots an sich zu beweisen, sondern um seine allgemeine ­Geltung zu bejahen, falls die relevanten Völkerrechtsverträge auf den Angeklagten nicht anwendbar wären. Insofern ist es möglich zu behaupten, dass das geschriebene Recht wichtiger als das ungeschriebene Recht ist, wenn es um das Verbot der Handlung geht. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass derselbe Präzisionsgrad, der bei echten Straftatbeständen in einigen nationalen Rechtsordnungen gefunden werden kann, freilich in diesem Kontext nicht zu erwarten ist.423 Besonders relevant ist aus diesem Grund sowohl die teleologische Interpretation (mit Hinblick auf humanitäre Ziele, d. h. der Schutz des Individuums in Kontexten massenhafter Gewalt) als auch eine systematische Auslegung, in der das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Arten internationaler Instrumente maßgeblich ist, wie Völkerrechtsverträge zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte, Menschenrechtsverträge und suppression conventions.424 421

Siehe oben, zweites Kapitel, B. II. Siehe oben, zweites Kapitel, B. III. 423 Vgl. Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 371. 424 Siehe z. B. Arajärvi, S. 69–70: „[E]ven if fragmented on some level, different fields of international law do not exist in a vacuum but transport rules and interpretations given to them from other fields“; insofern kann man sich auf die Idee von „relationships of interpretation“ zwischen völkerrechtlichen Normen beziehen, die von der ILC in Bezug auf die Fragmentierung des Völkerrechts vorgeschlagen wurde, laut der ILC: „This is the case where one norm assists in the interpretation of another. A norm may assist in the interpretation of another norm for example as an application, clarification, updating, or modification of the latter. In such situation, both norms are applied in conjunction“, ILC, Fragmentation, S. 7. 422

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

383

Wenn es um die Strafbarkeit einer Handlung auf internationaler Ebene geht, ist ein solcher Anknüpfungspunkt an die zum Zeitpunkt der Tatbegehung bestehenden internationalen Instrumente im Unterschied zum Standard für den Beweis eines Verbots nicht erforderlich. Im Völkerstrafrecht muss die Strafbarkeit einer Handlung nicht im Voraus und explizit in einem internationalen Instrument vorgesehen sein. Denn die Kriminalisierung einer Handlung geschieht auf internationaler Ebene vielmehr durch einen Prozess, in dem verschiedene Elemente bzw. Völkerrechtsquellen ins Spiel kommen.425 Deswegen darf die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit der Strafbarkeit durch die Identifizierung mehrerer Bezugspunkte bewiesen werden. Diese Bezugspunkte müssen als Schritte in Richtung zur Kriminalisierung der Handlung interpretiert werden können. Insofern wurde in der vorliegenden Arbeit bereits auf die Idee von „Tendenz“ hingewiesen.426 Seit dem Nürnberger Prozess ist insofern behauptet worden, dass eine relativ klare Tendenz durch Deklarationen und offizielle Aussagen von Staaten oder internationalen Organisationen oder durch die nationale Gerichtspraxis festzustellen ist. Aus der Rechtsprechung der Ad-hoc-Straftribunale ergibt sich ferner, dass weitere Elemente in diesem Sinne berücksichtigt werden können, wie z. B. nationale Strafgesetzgebungen und Resolutionen des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung der VN. Die Feststellung solcher Bezugspunkte ist vor allem im Zusammenhang mit dem Begriff des Völkergewohnheitsrechts thematisiert worden. Trotzdem sind weder die Trennlinie zwischen Völkergewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen noch die Unterscheidung zwischen Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung als Elemente des Völkergewohnheitsrechts in diesem Kontext immer klar gewesen. Die Mehrdeutigkeit bei der Handhabung nationaler Rechtsordnungen unter den Völkerrechtsquellen illustriert genau diesen Punkt. In diesem Kontext bedeutet Staatenpraxis jedenfalls nicht das eigentliche Verhalten von Kombattanten oder Sicherheitskräften. Als Staatenpraxis ist eher die Anerkennung von Verhaltensstandards durch die internationale Gemeinschaft gemeint. Das Fehlen einer klaren einheitlichen Methode zur Feststellung des Völker­ gewohnheitsrechts ist jedoch kritisiert worden427 und kann sogar als Indiz der Notwendigkeit neuer Definitionen der Völkerrechtsquellen und ihrer Elemente ange 425 Vgl. Meron, Am.  J.  Int’l  L. 1995, 554 (562); Werler und Jeßberger interpretieren die Rechtsprechung der Ad-hoc-Straftribunale auf andere Weise. Ihnen zufolge würde es für diese Tribunale reichen, wenn das Verbot bei der Zeitpunkt der Tatbegehung vorlag; eine Sanktionsnorm wäre somit nicht erforderlich, siehe Werle/Jeßberger, S. 55. 426 Siehe oben, zweites Kapitel, E.; drittes Kapitel, C. 427 Siehe insofern Zahar/Sluiter, S.  92  ff; auch Arajärvi, S.  74 ff.; zu methodologischen Schwächen hinsichtlich der Feststellung allgemeiner Rechtsgrundsätze siehe Bantekas, Int’l Crim. L. Rev. 2006, 121 (127 ff.); laut Meron haben diese internationalen Straftribunale jedoch bei der Feststellung des Völkergewohn­heitsrechts einen konservativen Ansatz aufgenommen, siehe Meron, Am. J. Int’l L. 2005, 817 (821: „Specifically, and with rigor that has increased over the years, the chambers have engaged in a serious search for state practice and opiniojuris“); dazu im Kontext des IGH siehe Pellet, in: The Statute of the International Court, Rn. 211: „somehow mysterious alchemy“.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

sehen werden.428 Allerdings ist zu betonen, dass die Wechselwirkung zwischen den Elementen, die fair notice über die internationale Strafbarkeit bieten können, im Lichte des NCSL-Prinzips wichtiger als eine strikte Definition und Beweis beispielsweise der Staatenpraxis und der Rechtsüberzeugung ist, unabhängig davon, wie diese Elemente innerhalb der Völkerrechtsquellen zuzuordnen sind. Zwischen den Elementen bzw. Bezugspunkten, die die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit internationaler Strafbarkeit beweisen können, besteht folglich keine Hierarchie. Je mehr Bezugspunkte im geltenden Völkerrecht gefunden werden können, desto tragfähiger ist die Schlussfolgerung, der zufolge eine bestimmte Handlung auf internationaler Ebene kriminalisiert worden ist.429 Wenn es sich um den Beweis der internationalen Strafbarkeit einer Handlung gehandelt hat, ist die Argumentation der internationalen Straftribunale jedoch auch von Erwägungen über die Schwere der Taten bekräftigt worden. Die Schwere der Handlungen ist somit auch ein wichtiger Faktor zur Feststellung der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit der internationalen Strafbarkeit gewesen.430 Dies kann anhand von drei Aspekten deutlich gesehen werden. Erstens ist die Flexibilisierung des Elements der Staatenpraxis als Voraussetzung der Existenz des Völkergewohnheitsrechts und die daraus resultierende zunehmende Bedeutung des Elements der Rechtsüberzeugung zu erwähnen. Zweitens ist auf die Rolle hinzuweisen, welche das

428

Vgl. Arajärvi, S. 148 ff., Arajärvi schlägt die Idee von „emerging declarative international law“ vor, um ungeschriebene Rechtsnormen, die noch nicht durch die Staatenpraxis als Völkergewohnheitsrecht bestätigt worden sind, anzuerkennen; zum „declarative international law“ als eine Völkerrechtsquelle, die getrennt von Völkerrechtsverträgen und vom Völkergewohnheitsrecht definiert werden sollte, siehe Chodosh, Tex. Int’l L. J. 1991, 87 (89, 95, 99); zu einem neuen Begriff des Völkergewohnheitsrechts im Allgemeinen siehe Lepard, S. 97 ff., Lepard bezieht sich z. B. auf den Unterschied zwischen Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Grundsätze als „an artificial barrier“, ebd., S. 163; dazu im Kontext des IGH siehe Klabbers, Int’l Legal Theory 2002, 29 (34); zum „traditionellen“ Ansatz des Völkergewohnheitsrechts, der das Element von Staatenpraxis und deswegen eine induktive Methode privilegiert, und zu einem „modernen“ Ansatz, in dem das Element von Rechtsüberzeugung wichtiger ist und der auf einer deduktiven Methode beruht, siehe Roberts, Am. J. Int’l L. 2001, 757 (757–770). 429 Vgl. Meron, Am. J. Int’l L. 2005, 817 (821). 430 Lamb behauptet kritisch dazu: „The dearth of State practice to gruide the ad hoc Tribunals has ensured that the definition of international crimes by the ad hoc Tribunals has had a somewhat emotive, de lege ferenda quality“, Lamb, in: The Rome Statute, S. 746; siehe dazu auch van Schaack, Geo. L. J. 2008–2009, 119 (157): „Courts adjudicating serious violations of ICL thus envision themselves as operating in a realm of greater moral certainty that, it is argued, justifies a less strict application of NCSL“; siehe auch Meron, Am. J. Int’l L. 2005, 817 (831): „the ICTY has likewise declined to engage in an overly formalistic assessment of custom in instances where the criminality of the conduct is obvious (or, to use the Nuremberg terminology, where it is clearly established under the relevant ‚general principles‘ of law)“; siehe auch Roberts, Am. J. Int’l L. 2001, 757 (765): „Since the subject matter of modem customs is not morally neutral […] Moderm custom involves an almost teleological approach, whereby some examples of state practice are used to justify a chosen norm, rather than deriving norms from state practice“; siehe auch Arajärvi, S. 52–53.

B. Rückwirkung und Wiedergeburt des Völkerstrafrechts

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Verständnis der allgemeinen Grundsätze in ihren verschiedenen Formen431 spielt. Gerade dieses Verständnis hat die Interpretation der geschriebenen oder ungeschriebenen völker(straf-)rechtlichen Nor­men nach eigenen ethisch-rechtlichen Grundlagen ermöglicht. Schließlich muss die dritte Voraussetzung des Tadić-Tests in Betracht gezogen werden. Entsprechend dieser Voraussetzung muss die Verletzung einer völkerrechtlichen Norm ernst sein, um eine Strafbarkeit zu begründen: „[T]hat is to say, it must constitute a breach of a rule protecting important values, and the breach must involve grave consequences for the victim“. Der Einfluss moralischer Erwägungen, der in diesen drei Aspekten gesehen werden kann, zeigt gerade, inwiefern das bereits erwähnte „Defizit“ an Formalität432 durch die vom Völkerstrafrecht beanspruchte und sich aus der Idee internationalen Menschenrechtsschutzes433 ergebenden moralischen Überlegenheit kompensiert wird. Eine gewisse Modifikation in Bezug sowohl auf die Entscheidungen, die im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit analysiert wurden, als auch auf die Rechtsprechung des EGMR kann aber im Kontext der Ad-hoc-Straftribunale und des SCSL gefunden werden. Mit Blick auf die Strafprozesse der Nachkriegszeit wurde gesagt, dass sich ein subjektives und moralisiertes Verständnis des NCSL-Prinzips aus diesen Entscheidungen ergibt.434 Danach war es wichtiger, dass der Angeklagte wusste, dass er bestraft werden könnte, als die Existenz einer konkreten Rechtsquelle, in der die Strafbarkeit der Tat explizit vorgesehen gewesen wäre. Es wurde auch behauptet, dass der EGMR dazu neigt, bei der Feststellung der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit objektive und subjektive Elemente miteinander zu verbinden.435 Als Ergebnis von Argumenten dieser Art ist die Analyse der Legalität einer Verurteilung mit der Analyse „dogmatischer“ Aspekte der strafrechtlichen Verantwortung vermischt.436 Im Unterschied dazu sind die Ad-hoc-Straftribunale und das SCSL mehr auf objektive Elemente fokussiert. Wie bereits dargelegt wurde, soll ein objektiver Ansatz hinsichtlich der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit befürwortet werden. Die relevante Frage im Lichte des NCSL-Prinzips lautet demnach nicht, ob es für den Angeklagte im konkreten Fall wirklich möglich war, vorauszusehen, dass er bestraft werden könnte, sondern ob es hinreichende Bezugspunkte im zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltenden Völkerrecht 431 Vier Formen der allgemeinen Grundsätze wurden hier erwähnt: general principles of criminal law common to the major legal systems of the world, general principles of law recognised by civilised nations, general principles of international criminal law und general principles of international law. 432 Siehe oben, zweites Kapitel, E.; drittes Kapitel, C. 433 Siehe oben, drittes Kapitel, B. IV., C. 434 Siehe oben, zweites Kapitel, E. 435 Siehe oben, viertes Kapitel, A. III. 436 Als Beispiel einer solchen Verwirrung kann die folgende, von Bantekas in Bezug auf das Rückwirkungsverbot im Völkerstrafrecht formulierte Behauptung zitiert werden: „The true test in any event is whether the accused would have been able to mount a reasonable mistake of law defense“. Bantekas beruht auf der Rechtsprechung des EGMR, wo derselbe Fehler gemacht wird, siehe Bantekas, International, S. 24.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

gab, die es objektiv betrachtet ermöglichten, zu behaupten, dass die Handlung bereits strafbar war. Die Frage nach dem bestehenden Völkerstrafrecht soll von der Frage nach dem Bewusstsein des Individuums in Bezug auf die Völkerrechtswidrigkeit bzw. die Strafbarkeit der eigenen Handlung getrennt werden. Im Ergebnis kann jedenfalls behaupten werden, dass eine flexible Konzeption des NCSL-Prinzips, die dem Verständnis, das in der englischen Rechtstradition entstanden ist, ähnelt, auch im Völkerstrafrecht vorliegt. Im Kontext des Völkerstrafrechts ist das NCSL-Prinzip auch von den vier hinsichtlich des englischen Strafrechts bereits erwähnten Merkmalen geprägt: die Anerkennung der Anpassungsfähigkeit als Grundwert der Rechtsordnung; die aktive Rolle, die Richter bei der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung spielen; die über die Rechtssicherheit hinausgehende Anerkennung weiterer Interessen und die damit einhergehende Flexibilisierung der Anhaltspunkte, die es erlauben, das Bestehen eines strafbewehrten Verbots zu bejahen; und die Offenheit gegenüber moralischen Erwägungen im Rahmen der richterlichen Argumentation. Die Konzeption des NCSLPrinzips des Völkerstrafrechts ähnelt also der der englischen Rechtstradition; sie sind aber nicht gleich. Die Analyse der Entwicklung des Völkerstrafrechts vom Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher bis zu den Ad-hoc-Straftribunalen gestattet zu behaupten, dass die Diskussionen über das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht vor allem wegen der Bestrafung von Handlungen durch die internationalen Tribunale motiviert worden sind, die angeblich zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht kriminalisiert worden waren. Trotzdem impliziert die Konzeption des NCSL-Prinzips, die aus dieser Entwicklung entstanden ist, nicht die Annahme der Befugnisse internationaler Tribunale zur Schaffung neuer strafbewehrter Verbote, wie eine Art common law offences auf internationaler Ebene. Im Kontext des Völkerstrafrechts geht es vielmehr um die Frage, inwieweit die Entscheidungen internationaler Straftribunale auf dem zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltenden Völkerrecht beruhen. Zwei Faktoren müssen allerdings berücksichtigt werden. Erstens ist zu beachten, wie bereits festgestellt, dass ein „Defizit“ an Formalität im Völkerstrafrecht aus dem Fehlen eines festen Verfahrens zur Rechtserzeugung folgt und deswegen die internationalen strafrechtlichen Normen in diesem Bereich fragmentiert sein können. Zweitens spielen die internationalen Straftribunale aus diesem Grund eine wesentliche Rolle bei der Feststellung des zum Zeitpunkt der Tatbegehung bestehenden Völkerrechts. Daraus folgt, dass die Rechtsprechung allein nicht die Rechtsgrundlage eines strafbewehrten Verbots sein darf, wenngleich sie einen relevanten Aspekt des Kriminalisierungsprozesses auf internationaler Ebene bilden kann.

C. Versuche zur Kodifikation des Völkerstrafrechts

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C. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip in der Arbeit der International Law Commission: Versuche zur Kodifikation des Völkerstrafrechts Die ILC wurde 1947 durch die Resolution 174 (II) der Generalversammlung der VN eingerichtet. Die Förderung der progressiven Entwicklung des Völkerrechts und dessen „Kodifikation“ bilden nach Art. 1 Abs. 1 dieser Resolution ihre Aufgaben.437 Laut Art. 15 bedeutet die Förderung der „progressiven Entwicklung des Völkerrechts“ die Bearbeitung von Entwürfen für Konventionen über Themen, die vom Völkerrecht noch nicht geregelt worden sind, oder über Materien, in welchen das Völkerrecht durch die Staatenpraxis noch nicht genug entwickelt ist.438 Laut dieser Norm ist unter „Kodifikation des Völkerrechts“ die präzisere Formulierung und Systematisierung der völkerrechtlichen Normen zu verstehen, wenn es umfangreiche Staatenpraxis, precedent und Doktrin gibt.439 Die ILC wurde auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 2 der Charta der VN als ständiges Hilfsorgan der Generalversammlung und als Sachverständigenkommission ohne Normsetzungsbefugnis eingerichtet.440 Es muss jedoch gesagt werden, dass die Mitglieder der ILC keine offiziellen Vertreter der Staaten sind und deswegen ihre Arbeiten bzw. Aussagen per se weder als Staatenpraxis noch als opinio juris verstanden werden können.441 Trotzdem bildet die Arbeit der ILC ein wichtiges subsidiäres Mittel zur Interpretation des Völkerrechts und seiner Entwicklung.442 Seit ihrer Einrichtung hat die ILC wesentlich zur Entwicklung des Völkerstrafrechts beigetragen, insbesondere durch die Formulierung der sog. Nürnberger Prinzipien sowie durch die Entwürfe verschiedener Kodizes, nämlich: Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind von 1951/1954, Draft Codes of Crimes against the Peace and Security of Mankind von 1991 und 1996 sowie das Draft Statute for an International Criminal Court von 1994. Diese Arbeiten bilden einen bedeutsamen Teil der „Vorgeschichte“ des IStGH-Statuts. 437 Art. 1 Abs. 1 Resolution 174 (II) von 1947 schreibt vor: „The International Law Commission shall have for its object the promotion of the progressive development of international law and its codification“. 438 Art. 15 der gleichen Resolution definiert die „promotion of the progressive development of international law“ als: „[…] the preparation of draft conventions on subjects which have not yet been regulated by international law or in regard to which the law has not yet been sufficiently developed in the practice of States“. 439 Art. 15 bezieht sich auch auf die „codification of international law“ als „the more precise formulation and systematization of rules of international law in fields where there already has been extensive State practice, precedent and doctrine“. 440 Siehe insofern Ahlbrecht, S. 132; zur Bedeutung und Funktion der ILC siehe Nill-Theobald, ZStW 1996, 229 (232–233). 441 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Mitar Vasiljević, 2002, Para. 200: „[W]hen it comes to sources of international law, Draft Codes of the International Law Commission merely represent a subsidiary means for the determination of rules of law“. 442 Ebd.: „They may reflect legal considerations largely shared by the international community, and they may expertly identify rules of international law“.

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Dabei ist zu bedenken, dass das NCSL-Prinzip seit der Nachkriegszeit in den Diskussionen der ILC berücksichtigt wurde und stets ein umstrittenes Thema dargestellt hat. Darüber hinaus hat die ILC in einigen dieser Entwürfe das NCSL-Prinzip explizit aufgenommen.443 Diese Bestimmungen stellen die ersten Versionen der Normen dar, die das NCSL-Prinzip im IStGH-Statut regeln. Deswegen müssen sie sowie die Debatten, die diesbezüglich stattgefunden haben, an dieser Stelle berücksichtigt werden. Dadurch soll festgestellt werden, inwiefern die LC und das Urteil des IMG die weitere Entwicklung des Völkerstrafrechts geprägt haben und wie das NCSL-Prinzip in diesem Kontext verstanden worden ist. Die Idee dabei ist, die hinter der Arbeit der ILC stehenden Konzeptionen der Legalität zu identifizieren und die Art und Weise festzustellen, in der sich diese Konzeptionen in den von der ILC entworfenen Bestimmungen über das NCSL-Prinzip widergespiegelt haben. Auf diese Weise werden einige Erwägungen über die Bedeutung der Kodifikation für das Völkerstrafrecht und in diesem Kontext für das NCSL-Prinzip dargestellt.

I. Die Nürnberger Prinzipien Die Generalversammlung der VN beauftragte durch die Resolution 177 (II) von 1947 die ILC, die in der LC und im Urteil des Nürnberger IMG anerkannten völkerrechtlichen Prinzipien zu formulieren.444 Es muss daran erinnert werden, dass die Generalversammlung der VN 1946 die Resolution 95 (I) zur Bestätigung (Affirmation) dieser Prinzipien verabschiedet hatte.445 Bei dieser Resolution handelte es sich allerdings um eine allgemeine Aussage und nicht um eine detaillierte Darstellung der Prinzipien. Die von der ILC vorgeschlagene Formulierung der Nürnberger Prinzipien umfasst dagegen sieben Grundsätze.446 Sie sind jedoch kein Ergebnis einer kritischen Analyse bzw. Bewertung der LC oder des Nürnberger Urteils.447 443

Siehe dazu Boot, S. 309 ff. Siehe Resolution 177 (II) von 21.11.1947 der Generalversammlung der VN. 445 Dazu Cassese, Affirmation, S. 1. 446 Prinzip I: Individuelle völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit; Prinzip II: Unabhängigkeit der individuellen völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit vom nationalen Recht; Prinzip III: Irrelevanz der Position als Staatsoberhaupt; Prinzip IV: Ausschließung des Handels auf Befehl als Rechtsfertigung („provided a moral choice was in fact possible“); Prinzip V: Recht auf fair trial; Prinzip VI: die auf internationaler Ebene strafbaren Verbrechen (Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit); Prinzip VII: Strafbarkeit der Beihilfe; siehe YILC 1950, Vol. II, S. 374 ff. 447 Dies bildete während der Vorbereitung der Nürnberger Prinzipien einen sehr umstrittenen Punkt. Die Frage war, ob die ILC die LC und das Nürnberger Urteil im Lichte des bei ihrer Verabschiedung geltenden Völkerrechts bewerten durfte oder ob sie nur auf eine Art von Zusammenfassung der wichtigsten Erwägungen des IMG beschränken sollte, vgl. YILC 1949, Vol. I, S. 130–133; YILC 1950, Vol. I, S. 28–31; YILC 1950, Vol. II, S. 189: „[I]t was not the task of the Commission to examine whether these principles were or were not principles of international law. The Commission had merely to formulate them“. 444

C. Versuche zur Kodifikation des Völkerstrafrechts

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Darüber hinaus wurde die Formulierung von der Generalversammlung der VN weder bestätigt noch formell aufgenommen. Deswegen hat sie von sich aus keinen bindenden Charakter.448 Die Formulierung der ILC wurde im Sechsten Komitee der Generalversammlung der VN diskutiert.449 Verschiedene Auffassungen u. a. über die Völkerrechtspersönlichkeit des Individuums, das Primat des Völkerrechts und die völkerrechtliche Grundlage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden dort geäußert, ohne einen Kompromiss erreichen zu können.450 Deswegen verabschiedete die Generalversammlung am 12.12.1950 die Resolution 488 (V), in der sie die Regierungen der Mitgliedstaaten einlud, ihre Kommentare über die Nürnberger Prinzipien vorzulegen. Die Nürnberger Prinzipien wurden aber nicht weiter bearbeitet.451 Die Nürnberger Prinzipien haben jedenfalls einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Völkerstrafrechts gehabt. Denn all diese Prinzipien sind irgendwie in den Statuten der verschiedenen internationalen Straftribunale, die später eingerichtet worden sind, widergespiegelt.452 Wie Ambos behauptet: „The principles resulting from the practical experience of the IMT were an important substructure for the upcoming development in the field of ICL“.453 Die von der ILC vorgeschlagene Formulierung der Nürnberger Prinzipien zusammen mit der LC, dem KRG Nr.  10 und den Urteilen der Nürnberger Tribunale bilden das sog. Nuremberg Law.454 Diese Formulierung stellt einen wichtigen Schritt in Richtung der Konsolidierung dieser Prinzipien als Völkergewohnheitsrecht dar.455 Das NCSL-Prinzip wird allerdings in den Nürnberger Prinzipien nicht erwähnt. Keines von ihnen ist explizit dem NCSL-Prinzip gewidmet. Dies wurde sogar von einigen Delegationen im Rahmen der Generalversammlung der VN (Sixth Committee) kritisiert.456 Trotzdem sind einige der während der Vorbereitung der Nürnberger Prinzipien gemachten Vorschläge sowie die in diesen Diskussionen dargelegten Erwägungen über die internationale Kriminalisierung einer Handlung hier relevant. Die Betrachtung dieser Aspekte erlaubt es zu behaupten, dass die in Nürnberg in Bezug auf das NCSL-Prinzip festgelegten Grundlagen von der ILC anerkannt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren der ILC die Konzequenzen 448

Vgl. Cassese, Affirmation, S. 2. Siehe dazu Liang, Am. J. Int’l L. 1951, 509. 450 Ebd., S. 519–522. 451 Ebd., 523; siehe auch Cassese, Affirmation, S. 2. 452 Vgl. Cassese, Affirmation, S. 4. 453 Vgl. Ambos, Treatise, Vol. I, S. 9. 454 Ebd. 455 Vgl. Cassese, Affirmation, S.  6–7; zum „Nuremberg Law“ als Völkergewohnheitsrecht siehe EGMR, Kolk and Kislyiy v. Estonia, Decision as to the Admissibility, 17.01.2006, S. 6, 8–9; siehe auch Report of the Secretary-General pursuant to paragraph 2 of Security Council resolution 808 (UN Doc. S/25704, 03.05.1993), Para. 35; JStGH, Prosecutor v. Tadić, 1997, Para. 623. 456 Wie z. B. die Delegationen von Syrien, Argentinien und Pakistan. Vgl. YILC 1951, Vol. II, S. 48–49. 449

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der Verurteilung der Kriegsverbrecher im Hinblick auf das NCSL-Prinzip tatsächlich bewusst. Trotzdem rief die offene Anerkennung dieser Konsequenzen eine gewisse Befürchtung hervor. Das bereits zitierte Dokument „The Charter and Judgment of the Nürnberg­ Tribunal – History and Analysis“ von 1949 muss an dieser Stelle erwähnt werden, um dieses Phänomen zu erklären. Dieses Dokument wurde vom Generalsekretär der VN als Input für die Arbeit der ILC abgegeben.457 In seiner Analyse der LC und des Nürnberger Urteils versuchte der Generalsekretär, die Voraussetzungen, die erfüllt werden sollten, damit eine Handlung ein internationales Verbrechen bilden kann, festzustellen. Er behauptete zuerst, dass weder die LC noch der Nürnberger IMG die internationalen Verbrechen definierten. In die LC wurden, so das Dokument, lediglich „provisions for the punishment of certain crimes or groups of crimes“458 inkorporiert. Dies bestätigt die schon erwähnte These, der zufolge Art. 6 der LC keine Straftatbestände im engeren Sinne enthält. Wie bereits ausgeführt, sind dies keine Bestimmungen, die die exakte Beschreibung einer Handlung (als wesentliche Voraussetzung) mit einer Strafe (als notwendige Rechtsfolge) verbinden. Die eigentliche Rechtsgrundlage der Strafbarkeit dieser Handlungen war nach Auffassung des Generalsekretärs nicht die LC. In diesem Dokument wurden auch, basierend auf dem Nürnberger Urteil, einige Schlussfolgerungen darüber angestellt, was laut dem IMG zur Kriminalisierung einer Handlung auf internationaler Ebene notwendig war. Der Generalsekretär führte dazu aus, dass der IMG, wenn er die internationale Strafbarkeit des Angriffskriegs begründete, die Ideen von Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit nicht gleichsetzte.459 Er bestätigte damit die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit.460 Sodann stellte er fünf Schlussfolgerungen dar, die sich aus der Argumentation des IMG ergeben: Erstens könne eine durch einen Völkerrechtsvertrag verbotene Handlung strafbar sein, sogar wenn das relevante internationale Instrument sie nicht unter Strafe stelle.461 Zweitens sei es nicht erforderlich, dass der jeweilige Völkerrechtsvertrag die Aburteilung der Handlung vorsehe.462 Drittens dürfe keine Gerichtspraxis hinsichtlich der Bestrafung der Handlung bestehen.463 Viertens könnte jedes dieser Kriterien jedoch die internationale Kriminalisierung einer Handlung beweisen.464 Der entscheidende Faktor für die Kriminalisierung einer Handlung auf internationaler Ebene sei aber fünf 457

Vgl. YILC 1950, Vol. II, S. 189. Vgl. VN, The Charter and Judgment (Doc. A/CN.4/5), S. 42–43. 459 Ebd., S. 45. 460 Ebd.: „If, therefore, international crimes were identified with internationally illegal acts, individuals would be subject to punishment for every violation of international law committed by a State“. 461 Ebd., S. 46. 462 Ebd. 463 Ebd. 464 Ebd. 458

C. Versuche zur Kodifikation des Völkerstrafrechts

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tens „[t]he existence of such an intention within the international community“.465 Vor diesem Hintergrund behauptete der Generalsekretär beispielsweise in Bezug auf die Kriegsverbrechen, dass der Katalog der Handlungen, die in Art. 6 (b) LC erscheinen, einen beschränkten Wert habe, denn: „Such  a catalogue […] can always be made obsolete by new developments in the laws and customs of war“.466 Die generelle Definition der Verbrechen, z. B. im Fall der Kriegsverbrechen als „Verletzungen des Kriegsrechts und der Kriegsgebräuche“, bleibe ein „overriding principle“, dessen Inhalt in jedem Moment konkretisiert oder ergänzt werden müsse.467 Es darf also festgestellt werden, dass sich die 1949 vom Generalsekretär der VN dargestellte Interpretation des Nürnberger Urteils in derselben Richtung der Erwägungen befindet, die am Ende des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit gemacht und als Grundlagen einer generellen Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht bezeichnet wurden.468 Die ILC diskutierte während der Vorbereitung der Nürnberger Prinzipien über das NCSL-Prinzip. Hierbei wurde die Analyse des Generalsekretärs berücksichtigt. Während der ersten Sitzung der ILC (17th meeting, 09.05.1949) stellte der Vorsitzende die Frage, ob es möglich sei, aus dem Nürnberger Urteil zu folgern, dass der IMG eine Ausnahme des NCSL-Prinzips akzeptierte.469 Dazu wurde auch diskutiert, ob das NCSL-Prinzip in der Formulierung der Nürnberger Prinzipien überhaupt erscheinen solle. Insofern kam die ILC jedoch zu keinem Ergebnis, soweit es aus dem Yearbook of the International Law Commission (YILC) ersichtlich ist.470 Auf jeden Fall wurde der folgende Absatz im ersten Entwurf der Nürnberger Prinzipien, der von der ILC besprochen wurde, eingegliedert: „1. A violation of international law may constitute an international crime even if no legal instrument characterizes it as such“.471 Dies stimmte mit der Analyse des Generalsekretärs überein. Trotzdem wurde diese Formulierung am Ende nicht aufgenommen. Der Vorsitzende der Kommission behauptete diesbezüglich am 26.05.1949 (28th meeting) lediglich: „[T]he statement […] might be dangerous, as it was of too broad a scope“.472 Auf diese Behauptung antwortete A. E. F. Sandström, einer der Mitglieder der ILC, die diesen Entwurf vorschlugen, anscheinend ohne sich selbst zu erklären, dass dieser Absatz angesichts der ins Auge gefassten neuen Formulierung der Prinzipien nicht mehr notwendig sei.473

465

Ebd. Ebd., S. 62–63. 467 Ebd. 468 Siehe oben, zweites Kapitel, E. 469 Vgl. YILC 1949, Vol. I, S. 133. 470 Ebd. 471 Dieser Entwurf wurde von den folgenden Mitgliedern der ILC vorgeschlagen: J. P. A. François, A. E. F. Sandström und Jean Spiropoulos, vgl. ebd., S.  134; der Entwurf kann auf S. 183 eingesehen werden. 472 Ebd., S. 204. 473 Ebd. 466

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Dies könnte als die Ablehnung der vom Nürnberger IMG aufgenommen Begründung der internationalen Strafbarkeit des Angriffskriegs und daher der Konsequenzen des Nürnberger Urteils für das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht interpretiert werden. Allerdings soll hier auch die Diskussion über den sechsten Absatz des ersten Entwurfs berücksichtigt werden. Am 23.05.1949 (25th meeting) wurde vorgeschlagen, den Satz „subject to the existence of appropriate international agreements“ im sechsten Absatz der Nürnberger Prinzipien einzugliedern.474 Vladimir M. Koretsky, der diesen Vorschlag vorlegte, erklärte, dass das Ziel darin bestehe, das Prinzip der Staatssouveränität zu achten.475 Dies wurde jedoch ebenso abgelehnt. Dafür wurde vorgebracht, dass die Kriminalisierung einer Handlung im Völkerrecht durch verschiedene Rechtsquellen geschehen könne; dass dieser Satz Lücken im Völkerrecht verursachen würde, wenn es sich um Völkerrechtsverträge handele, die die Strafbarkeit einer Handlung nicht explizit vorsehen; und dass dieser Satz dem Nürnberger Urteil entgegenstehe.476 Dies bedeutet, dass die internationale Strafbarkeit einer Handlung laut der ILC nicht in einem Völkerrechtsvertrag explizit vorgesehen sein musste. Wie bereits ausgeführt, bezieht sich die endgültige Formulierung der Nürnberger Prinzipien nicht explizit auf das NCSL-Prinzip. Der Vorsitzende der Völkerrechtskommission deklarierte am 19.06.1950 (49th meeting), dass es zu früh sei, um das NCSL-Prinzip im Völkerrecht aufzunehmen, denn: „The introduction of this principle into international law might hamper its development“.477 Das einzige, was aus dem Wortlaut der Formulierung der Nürnberger Prinzipien der ILC hergeleitet werden kann, ist, dass die „Definitionen“ der internationalen Verbrechen, die in Prinzip VI aufgenommen wurden, genauso offen sind wie derjenige der LC. Die Sätze „Violations of the laws or customs of war which include, but are not limited to“ und „other inhuman acts“ sind insofern zu erwähnen.478 Es lässt sich also festhalten, dass die ILC bei der Formulierung der Nürnberger Prinzipien weder die Erwägungen des IMG hinsichtlich der Strafbarkeit des Angriffskriegs und des NCSL-Prinzips noch die Analyse des Generalsekretärs der VN in Bezug auf die Kriminalisierung von Handlungen auf internationaler Ebene ablehnte. Trotzdem nahm sie bzgl. dieses Themas eine ambivalente Haltung ein.

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Ebd., S. 184–185. Ebd., S. 188. 476 Ebd., S. 188–190. 477 Vgl. YILC 1950, Vol. I, S. 63. 478 Vgl. YILC 1949, Vol. I, S. 197–199. 475

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II. Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind 1951/1954 Durch die Resolution 177 (II) von 1947 beauftragte die Generalversammlung der VN die ILC, einen „draft code of offences against the peace and security of mankind“ vorzubereiten. Die Diskussionen des ersten Entwurfs des Draft Code fanden 1950 parallel zur Formulierung der Nürnberger Prinzipien statt. Die ILC nahm 1951 den Draft Code auf und legte diesen der Generalversammlung der VN vor.479 Trotzdem wurde die Diskussion dieses Vorschlags im Rahmen der Generalversammlung verschoben und 1953 schickte sie den Draft Code zur weiteren Bearbeitung an die ILC zurück.480 Die ILC diskutierte den 1951 aufgenommenen Draft erneut, sie änderte jedoch nur wenige Aspekte. Auf der Grundlage des Draft Code von 1951 nahm die ILC 1954 einen „neuen“ Draft Code auf.481 Diese Initiative scheiterte jedoch in der Generalversammlung der VN aufgrund der Polarisierung der Welt im Kontext des Kalten Krieges.482 Der Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind von 1951/1954 enthält keine Bestimmung über das NCSL-Prinzip. In den Diskussionen über den Draft Code wurde es ferner kaum erwähnt. Es ist möglich zu behaupten, dass die ausdrückliche Erwähnung des NCSL-Prinzips im Draft Code nach der Auffassung der ILC weder notwendig noch zweckmäßig war. Insofern müssen vier Punkte berücksichtigt werden. Das NCSL-Prinzip wurde erstens vor allem erwähnt, wenn diskutiert wurde, ob der Draft Code auch die jeweiligen Strafen der internationalen Verbrechen festlegen solle, was abgelehnt wurde. D. h., es wurde auf das NCSL-Prinzip aber in Verbindung mit dem Prinzip nulla poena sine lege hingewiesen.483 In diesem Kontext wurde 1951 behauptet: „Once the code was adopted the principle of nullum crimen sine lege would be respected“.484 Zweitens ist die Behauptung vom Special Rapporteur der ILC J. Spiropoulos zu nennen, nach der die Ausarbeitung allgemeiner Strafrechtsgrundsätze („general principles of penal law“), darunter z. B. die Zulässigkeit der Unklarheit bzw. Ungewissheit („vagueness, uncertainty“) des Rechts als defenses, Aufgabe der Tribunale 479 Der Text des Draft Code mit Kommentaren befindet sich in „Report of the International Law Commission to the General Assembly“ von 1951, siehe YILC 1951, Vol. II, S. 133 ff. 480 Vgl. YILC 1953, Vol. I, S. 231. 481 Siehe YILC 1954, Vol. I, S. 123–144, 147, 151; siehe dazu Johnson, Int’l & Comp. L. Q. 1955, 445. 482 Der Grund dafür lag darin, dass zuerst eine Einigung über die Definition von „Aggression“ notwendig war. Die Generalversammlung der VN entschied durch die Resolution 895 (IX) von 1954 ein Special Committee einzurichten, das aus 19 Mitgliedsstaaten bestehen sollte. Sie verschob dann die Diskussionen über einen draft code und über die mögliche Etablierung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, „until the Special Committee on the question on defining aggression has submitted its report“, siehe Resolutionen 897 (IX) und 898 (IX) von 1954; dazu Bassiouni, in: International Criminal Law, Vol. III, S. 117–122; Ahlbrecht, S. 137–138; Ambos, Treatise, Vol. I, S. 16. 483 Siehe z. B. YILC 1950, Vol. I, S. 177–178. 484 Vgl. YILC 1951, Vol. I, S. 254.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

sein solle.485 Des Weiteren muss beachtet werden, dass die ILC bei der Ausarbeitung des Draft Code auf den Entwurf seines Durchsetzungsmechanismus verzichtete.486 Die Frage der besseren Instanz zur Anwendung des Draft Code wurde in diesem Zusammenhang nicht diskutiert. Vielleicht wurde das NCSL-Prinzip auch aus diesem Grund hier nicht explizit inkorporiert. Viertens habe der Vorwurf der Rückwirkung in der Zukunft laut Spiropoulos kein Fundament, sogar dann nicht, wenn der Code keine Norm über allgemeine Prinzipien in Bezug auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit umfassen würde und nur auf die Erwähnung von Verbrechen beschränkt wäre.487 Ein „kleiner“ Code sei jedenfalls realistischer, und dies allein habe einen Beitrag im Lichte des NCSL-Prinzips dargestellt.488 Trotzdem ist die Art und Weise hervorzuheben, in der einige Verbrechen hier formuliert sind. In Art. 2 der Fassung des Draft Code von 1954 wurden mehrere Handlungen als internationale Verbrechen erwähnt.489 Die erste bezieht sich auf die Aggression, darunter auch den Angriffskrieg (Absatz 1). Anschließend erscheinen sieben Situationen, die auch als Aggressionsarten verstanden werden können (Absätze 2 bis 9). Danach folgt die Definition des Völkermords als selbstständiges Verbrechen (Absatz 10), die im Wesentlichen der Völkermordkonvention von 1948 folgt. Am Ende befinden sich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. inhuman acts (Absatz 11) und die Kriegsverbrechen (Absatz 12).490 Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Absätze 1, 11 und 12 (in der Fassung von 1951 Absätze 1, 10 und 11) in einer gänzlich offenen Weise verfasst sind. Dies bedeutet, es handelt sich um generelle und abstrakte „Definitionen“, die später von den jeweiligen Richtern konkretisiert werden könnten und sollten. Die offenen „Definitionen“ des Draft Code von 1951/1954 sind das Ergebnis der Weise, in der dieser Entwurf im Zusammenhang mit dem Völkerrecht konzipiert wurde. Sie spiegeln einige Dilemmata wider, in denen die ILC sich bei der Ausarbeitung des Draft Code befand. Insofern muss zuerst erwähnt werden, dass die ILC die Vorbereitung des Draft Code als „progressive Entwicklung des Völkerrechts“ gemäß Art. 15 Resolution 174 (II) von 1947 verstand.491 Die ILC ging also davon aus, dass es sich um Themen handele, die vom Völkerrecht noch nicht geregelt waren, oder um Materien, in welchen das Völkerrecht durch die Staatenpraxis noch nicht weit genug entwickelt war. Darüber hinaus muss beachtet werden, dass es das Ziel der ILC war, einen „realistischen“ Vorschlag vorzulegen, der von 485 Laut Spiropoulos seien diese Prinzipien als „general principles of law“ gemäß Art. 38 IGH-Statut immerhin im Völkerstrafrecht anwendbar, vgl. YILC 1950, Vol. II, S. 275. 486 Vgl. YILC 1951, Vol. II, S. 134. 487 Vgl. YILC 1950, Vol. II, S. 275–276. 488 Ebd. 489 Siehe „Report of the International Law Commission to the General Assembly“ von 1954 (YILC 1954, Vol. II, S. 151 ff.) 490 Der letzte Absatz des Art. 2, d. h. Absatz 13, bezieht sich auf conspiracy, incitement, complicity und attempt. 491 Vgl. YILC 1949, Vol. I, S. 214–216; YILC 1950, Vol. II, S. 257.

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den Mitgliedstaaten der VN akzeptiert werden könnte, statt einen idealen Entwurf zu unterbreiten, den die Generalversammlung ablehnen würde.492 Deswegen wurde seit dem ersten Bericht des Special Rapporteur J. Spiropoulos vorgeschlagen, im Draft Code weder den Terminus „Aggression“ zu definieren noch eine vollständige Liste von Kriegsverbrechen aufzunehmen. Als Crime No. I erschien im Entwurf, den Spiropoulos 1950 in seinem ersten Bericht für die ILC vorschlug, die folgende Bestimmung: „The use of armed force in violation of international law and in particular the waging of aggressive war“.493 Am 27.06.1950 während ihrer zweiten Sitzung (55th meeting) wurde dies von der ILC besprochen. Die Auffassungen dazu waren geteilt. Einige Mitglieder stellten den Ausdruck „in violation of international law“ in Frage und verlangten mehr Präzisierung bei der Definition dieses Verbrechens.494 Das brasilianische Mitglied Gilberto Amado behauptete sogar, dass nur Verbrechen mala prohibita bestünden und deswegen die strafbaren Handlungen so genau wie möglich definiert werden sollten.495 Angesichts dieses Vorwurfs erklärte der Special Rapporteur, dass der Entwurf sich auf das Völkerrecht beziehe, ohne zwischen seinen Quellen zu unterscheiden.496 Dies wurde beispielsweise vom Mexikaner Roberto Córdova unterstützt: „The draft code contained general provisions to be applicable to acts that might be committed in the future […] A situation might arise in which no treaty existed […] The Rapporteur had been very wise in saying ‚in violation of international law‘. That was sufficient definition of a crime“.497

Das Problem mit diesem Verbrechen lag also in der Schwierigkeit es mit genügend Präzision zu definieren, ohne dabei den Anwendungsbereich wesentlich zu reduzieren. Die von der ILC vor dem Hintergrund dieses Dilemmas gefundene Lösung bestand darin, die Fälle, die laut der Charta der VN keine Aggression bilden, in dieser Bestimmung zu erwähnen. Somit wurde der folgende Satz als Ergebnis der Diskussion hinzugefügt: „[F]or purposes other than those of self-defence or execution of a mandate of the United Nations“.498 Im Laufe der Diskussionen wurden dann zusätzliche Elemente bzw. Ausdrücke aufgenommen, die zu einer offenen Formulierung des Verbrechens der Aggression führten. Insofern schlug ein drafting commission innerhalb der ILC in demselben Jahr vor, den Ausdruck „for purposes other than“ durch „for any purpose“ zu ersetzen.499

492

Vgl. YILC 1950, Vol. II, S. 262 ff. Ebd., S. 261. 494 Vgl. YILC 1950, Vol. I, S. 108. 495 Ebd. 496 Ebd., S. 109. 497 Ebd. 498 Ebd., S. 114. 499 Ebd., S. 257–258. 493

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

In diesem Sinne wurde der endgültigen Fassung dieses Verbrechens am 22.06.1951 (109th meeting) während der dritten Sitzung der ILC zugestimmt. Laut Art. 2 Abs. 1 des Draft Code von 1951/1954 bildet ein Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit: „Any act of aggression, including the employment by the authorities of a State of armed force against another State for any purpose other than national or collective self-defence or in pursuance of a decision or recommendation of a competent organ of the United Nations“.500 Der Ausdruck „any act of aggression“ wurde vom Mitglied der Vereinigten Staaten, Manley O. Hudson, empfohlen, denn er war der Ansicht, dass das Wort „aggression“ im Draft Code zu finden sein solle.501 Dieser Ausdruck stellte jedoch auch das Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen den Vertretern zweier Positionen dar. Zum einen bestand die Auffassung, nach der die ILC das Wort „Aggression“ nur allgemein definieren müsse („a general and abstract definition“).502 Zum anderen hielten einige Mitglieder fest, dass es besser sei, auf eine generelle Definition zu verzichten und stattdessen eine geschlossene Liste von Handlungen aufzunehmen, die Fälle von Aggression bildeten.503 Die zweite Möglichkeit wurde am Ende abgelehnt, denn die ILC kam zu der Schlussfolgerung, dass eine solche Liste nicht nur notwendigerweise unvollständig, sondern auch nicht ratsam wäre. Laut der ILC: „[I]t was thought inadvisable unduly to limit the freedom of judgment of the competent organs of the United Nations by a rigid and necessarily incomplete list of acts constituting aggression“.504 In den Diskussionen, die im Jahr 1951 stattfanden, war die wichtigste Frage daher nicht nur, wie „Aggression“ definiert werden sollte, ohne einen zu engen Begriff aufzunehmen, sondern auch, ob sie überhaupt zu definieren sei. Etwas Ähnliches geschah in Bezug auf die Kriegsverbrechen, obwohl dieser Begriff nicht so kontrovers wie derjenige der Aggression war. Bereits in seinem ersten Bericht für die ILC stellte der Special Rapporteur Spiropoulos die Frage, ob der Draft Code entweder eine vollständige Liste von Kriegsverbrechen oder nur eine generelle Definition enthalten solle.505 Das Hauptargument von Spiropoulos, der eine vollständige Liste nicht empfahl, war, dass dies die Zustimmung zum Draft Code seitens der Staaten schwieriger machen könnte.506 Laut Spiropoulos sei die Aufnahme eine offene Definition der Kriegsverbrechen die empfehlenswerteste Möglichkeit gewesen: „[T]o adopt  a general definition of the above crimes, leaving to the judge the task of investigating whether […] he is in 500

Vgl. YILC 1951, Vol. I, S. 230–235. Ebd. 502 In ihrer dritten Sitzung diskutierte die ILC aufgrund der Resolution 378 B (V) der Generalversammlung der VN vom 17.11.1950 über einen allgemeinen Begriff der „Aggression“ im Völkerrecht, ohne ein Ergebnis erreichen zu können. Diese Diskussionen fanden parallel zu den Diskussionen über den Draft Code statt, siehe YILC 1951, Vol. II, S. 131 ff. 503 Ebd. 504 Ebd., S. 132. 505 Vgl. YILC 1950, Vol. II, S. 264. 506 Ebd., S. 266–267. 501

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the presence of ‚war crimes‘“.507 Die ILC entschied am 04.07.1950, keine Liste von Kriegsverbrechen hinzuzufügen.508 Laut Art.  2 (Abs.  11, Draft Code 1951, bzw. Abs. 12, Draft Code 1954) stellten Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit ganz allgemein dar: „Acts in violation of the laws or customs of war“.509 Dazu behauptete die ILC in den Kommentaren zum Draft Code nur, dass eine abschließende Aufzählung von Kriegsverbrechen nicht als praktikabel erachtet wurde.510 Es muss beachtet werden, dass die Bestimmung über Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Unterschied dazu eine Liste von Beispielen enthält, aber der Ausdruck „Inhuman acts such as“ des Art. 2 (Abs. 11, Draft Code 1954) erlaubt es, festzustellen, dass diese Liste ebenfalls nicht abschließend war.511 Darüber wurde in der ILC jedoch nicht diskutiert.512 All dies führt zu zwei wichtigen Punkten. Der Draft Code von 1951/1954 bildete keine Kodifikation im Sinne einer vollständigen bzw. umfassenden Regelung eines bestimmten Rechtsgebiets. Des Weiteren implizierte oder suggerierte er keine Hierarchie in Bezug auf die Völkerrechtsquellen. Durch die Aufnahme des Draft Code behauptete die ILC den Vorrang des geschriebenen Rechts weder vor dem Gewohnheitsrecht nocht vor dem Richterrecht. Der ILC war tatsächlich bewusst, dass sich ihre Aufgabe nicht auf die Wiederholung der LC beschränkte. In diesem Sinne enthält die Ausarbeitung des Draft Code auch die Entwicklung neuer Elemente, aber die ILC hatte keinen Anspruch, eine abschließende Formulierung internationaler Verbrechen anzufertigen. Die Idee war lediglich, ein stärkeres Fundament zur individuellen völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit als das, was bisher bestand, zu schaffen. Dieses Fundament sollte jedoch später unter Berücksichtigung der verschiedenen Völkerrechtsquellen weiterentwickelt und präzisiert werden.

507

Ebd. Vgl. YILC 1950, Vol. I, S. 149–150. 509 Vgl. YILC 1951, Vol. II, S. 136; YILC 1954, Vol. II, S. 152. 510 Vgl. YILC 1951, Vol. II, S. 136. 511 Die Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Draft von 1951 wurde in der Fassung von 1954 verändert; laut Art. 2 Abs. 10 Draft von 1951 bilden Verbrechen gegen die Menschlichkeit: „Inhuman acts by the authorities of a State or by private individuals against any civilian population, such as […] when such acts are committed in execution of or in connexion with other offences defined in this article“ (siehe YILC 1951, Vol. II, S. 136), während Art. 2 Abs. 11 Draft von 1954 lautet: „Inhuman acts such as […] committed […] by the authorities of a State or by private individuals acting at the instigation or with the toleration of such authorities“ (siehe YILC 1954, Vol. II, S. 151–152). 512 Das in 1954 diskutierte Thema in Bezug auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit war die Verbindung dieser Handlungen mit anderen internationalen Verbrechen als notwendiges Element, vgl. YILC 1954, Vol. I, S. 132–136, 142–144, 148. 508

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III. Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind 1991 In Art. 10 des Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind 1991 wurde das NCSL-Prinzip im Sinne des Rückwirkungsverbots zum ersten Mal in eine internationale völkerstrafrechtliche Bestimmung aufgenommen.513 Die Generalversammlung der VN beauftragte mit der Resolution 36/106 vom 10.12.1981 die ILC, die Diskussionen über den Draft Code wiederaufzunehmen.514 Infolgedessen ernannte die ILC 1982 den Senegalesen Doudou Thiam zum Special Rapporteur.515 Die Diskussionen über den Draft Code fanden somit von 1983 (35. Sitzung der ILC) bis 1991 (43. Sitzung der ILC) statt. Die ILC beschäftigte sich 1986 und 1987 in ihren 38. und 39. Sitzungen mit dem NCSL-Prinzip. Der Text des Art. 10, dessen Überschrift Non-retroactivity ist, wurde allerdings 1988 (als vorläufiger Art. 8) „on first reading“ in der 40. Sitzung angenommen.516 Die diesbezüglich geführten Diskussionen sind für die vorliegende Arbeit nicht nur deshalb relevant, weil sie erlauben, diese Bestimmung auszulegen, sondern auch, weil sie die verschiedenen Konzeptionen der Legalität, die sich während der Entwicklung des Völkerstrafrechts in einem Spannungsverhältnis befanden, zeigen und die Interessen bzw. Werte, die sich an solchen Konzeptionen orientieren, verdeutlichen. Bereits in den ersten Diskussionen wurde von den Mitgliedern der ILC auf die Notwendigkeit hingewiesen, allgemeine Strafrechtsgrundsätze (darunter auch das NCSL-Prinzip) in den Draft einzugliedern. Dazu wurde gesagt, dass die Nürnberger Prinzipien I, II, III, IV, V und VII die Grundlage zur Kodifikation dieser Grundsätze bilden könnten.517 Es wurde aber auch anerkannt, dass dies gemäß der Entwicklung des Völkerrechts ergänzt bzw. aktualisiert werden sollte. Das NCSLPrinzip bildete eines der Themen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die internationalen Menschenrechte inkorporiert wurde, und die ILC konnte diese Tatsache nicht übersehen.518 Deswegen schlug der Special Rapporteur 1986 in seinem vierten Bericht als vorläufigen Art. 7 eine spezifische Bestimmung hinsichtlich des Rückwirkungsverbots vor. Dafür bezog er sich zuerst, als Begründung, auf drei Themen: den Inhalt des NCSL-Prinzips, das NCSL-Prinzip im Nürnberger Urteil und die Anerkennung des NCSL-Prinzips in den internationalen Menschenrechten. Diese Erwägungen sollen zunächst kurz zusammengefasst werden, um den Text des vorgeschlagenen Art. 7 verstehen zu können.

513 Zum Draft Code als Kodifikation vom Völkergewohnheitsrechts siehe Tomuschat, in: War Crimes, S. 45 ff. 514 Vgl. YILC 1983, Vol. II (2), S. 12. 515 Vgl. YILC 1982, Vol. II (2), S. 121. 516 Siehe YILC 1988, Vol. II (2), S. 69–70. 517 Vgl. YILC 1985, Vol. II (2), S. 12. 518 Ebd.; siehe insofern auch YILC 1983, Vol. I, S. 19.

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Der Special Rapporteur hielt im vierten Bericht richtigerweise fest, dass der Inhalt des NCSL-Prinzips von den anzuerkennenden Rechtsquellen abhängt. Insofern erklärte er, dass diesbezüglich zwei Möglichkeiten bestünden.519 Tatsächlich kann behauptet werden, dass in der vorliegenden Arbeit auf diese zwei Möglichkeiten bereits hingewiesen wurde.520 Laut dem Special Rapporteur existierte einerseits eine legalistische Konzeption, der zufolge das einzige Recht das geschriebenen Recht sei.521 Danach würde ein auf dem Gewohnheitsrecht basierendes Rechtssystem das NCSL-Prinzip verletzen, weil das Gewohnheitsrecht kein Recht bilden würde, ebenso wenig die allgemeinen Grundsätze.522 Aber der Rechtsbegriff, der als Grundlage zur Bestimmung des Inhalts des NCSL-Prinzips diene, könnte auch in einer breiten Weise verstanden werden. Deswegen akzeptierte der Special Rapporteur unter Verweis auf das Common Law, dass eine flexiblere Konzeption andererseits auch möglich sei.523 Er hob insofern hervor, dass gerade diese flexiblere Konzeption die am besten geeignete Möglichkeit im Hinblick auf den Geist des Völkerrechts und „the techniques for its elaboration“ darstelle.524 Vor diesem Hintergrund behauptete der Special Rapporteur, dass zwei Auffassungen in Bezug auf das Nürnberger Urteil gefunden werden könnten. Diejenige, die die Entscheidung des IMG wegen der behaupteten Verletzung des NCSL-Prinzips in Frage stellt, und diejenige, die die Verletzung des NCSL-Prinzip verneint.525 Doudou Thiam wies also darauf hin, dass das vom IMG angewandte Recht den Verteidigern der zweiten Auffassung zufolge kein neues Recht bilde, obwohl es zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht geschrieben war (zumindest nicht vollständig).526 Darüber hinaus macht er darauf aufmerksam, dass das Problem, das der IMG hinsichtlich des NCSL-Prinzips zu lösen hatte, ein Problem der Gerechtigkeit jenseits der Frage der Anwendbarkeit des geschriebenen Rechts sei. Insofern zitierte er den bereits erwähnten Aufsatz von Kelsen, „Will the judgment in the Nuremberg trial constitute a precedent in international law?“, in dem Kelsen das Problem der Rückwirkung und der Gerechtigkeit als eine Abwägungsfrage darstellte.527 Anschließend verwies er auf Art. 11 Abs. 2 AEM und betonte, dass diese Bestimmung sich auch in der EMRK (Art. 7 Abs. 1) befinde, aber dort um die sog. Nürnberger Klausel (Art. 7 Abs. 2) ergänzt worden sei.528 Der Special Rapporteur kam also zum Ergebnis, dass das NCSL-Prinzip im Völkerrecht zu 519

Vgl. YILC 1986, Vol. II (1), S. 70. Siehe oben, erstes Kapitel, D und drittes Kapitel, A. I. 521 Vgl. YILC 1986, Vol. II (1), S. 70. 522 Ebd. 523 Thiam behauptet insofern: „If the word lex is understood to mean not written law, but droit in the sense of the English word ‚law‘, then the content of the rule will be broader. It will cover not only written law, but also custom and general principles of law“, ebd., S. 71. 524 Ebd. 525 Ebd. 526 Ebd. 527 Ebd.; siehe oben, drittes Kapitel, B. II. 2. 528 Vgl. YILC 1986, Vol. II (1), S. 72. 520

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achten sei, aber das Wort „lex“ bzw. „lege“ dort „in its broadest sense, which includes not only con­ventional law, but also custom and the general principles of law“ verstanden werden musste.529 Nach diesen Erwägungen schlug der Special Rapporteur den vorläufigen Art. 7 vor, der aus zwei Absätzen bestand. Laut Absatz 1 dürfe keine Person wegen Handlungen oder Unterlassungen, die zum Zeitpunkt der Tatbegehung kein Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit bildeten, verurteilt werden.530 Es stellt sich jedoch die Frage, wie man wissen konnte, ob eine Handlung oder eine Unterlassung ein Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit bildete; d. h., was wäre in diesem Kontext der normative Referenzpunkt gewesen, um die Legalität einer Verurteilung festzustellen? Um diese Frage beantworten zu können, muss die 1983 in der ILC stattgefundene Diskussion über den ersten Bericht des Special Rapporteur berücksichtigt werden. Thiam stellte dabei die Frage, ob eine generelle Definition von „Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit“ in den Draft inkorporiert werden solle.531 In diesem Zusammenhang wurde auf die Offensichtlichkeit des Unrechts als Kriterium zur Identifikation dieser Art von Verbrechen hingewiesen.532 Des Weiteren wurde auch behauptet, dass es nicht notwendig sei, im Draft Code eine abschließende Liste der Straftaten zu formulieren, und dass die ILC in diesem Kontext Art. 19 Abs. 2 der 1976 (28. Sitzung der ILC) aufgenommenen Draft articles on State responsibility folgen solle.533 Nach dieser Bestimmung musste eine Handlung zwei Voraussetzungen erfüllen, um als internationales Verbrechen angesehen zu werden: Erstens musste sie ein wesentliches Interesse der internationalen Gemeinschaft verletzen und zweitens von der internationalen Gemeinschaft „as a whole“ als strafbar anerkannt werden.534 Dies zusammen mit den bereits erwähnten Erwägungen des Special Rapporteur über das NCSL-Prinzip erlaubt die Schlussfolgerung,535 dass der Draft Code nicht den normativen Referenzpunkt des Rückwirkungsverbots, wie es hier konzipiert wurde, bilden sollte. Der normative Referenzpunkt, um die Legalität einer Verurteilung festzustellen, wäre trotz der Kodifikation dieser Verbrechen das Völkerrecht im Allgemeinen mit all seinen 529

Ebd. Der vorläufige Art. 7 Abs. 1 besagte: „No person shall be convicted of an act or omission which, at the time of commission, did not constitute an offence against the peace and security of mankind“, ebd., S. 83. 531 Vgl. YILC 1983, Vol. II (1), S. 141–143, 146–149. 532 Vgl. YILC 1985, Vol. II (2), S. 14. 533 Ebd.; siehe auch YILC 1983, Vol. I, S. 29, 37, 41. 534 Vgl. YILC 1976, Vol. II (2), S. 95–96. 535 Obwohl eine generelle Definition der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit in diesem Sinne im 1986 vorgelegten vierten Bericht des Special Rapporteur, in dem der vorläufige Art. 7 vorgeschlagen wurde, nicht mehr zu finden ist. Laut dem Special Rapporteur: „A number of members of the Commission and representatives in the Sixth Committee of the General Assembly did not consider it necessary to include a precise definition of an offence against the peace and security of mankind“, siehe YILC 1986, Vol. II (1), S. 82. 530

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Quellen gewesen (Völkerrechtsverträge, Völkergewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze). Darüber hinaus ist zu beachten, dass der erste Absatz des vorläufigen Art.  7 die Begehung der Tat als zeitlichen Referenzpunkt des Rückwirkungsverbots erwähnt. Dies bedeutet, dass diese Bestimmung keine zeitliche Grenze zur Bestrafung der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit auf der Grundlage des Codes festsetzte. Deswegen würde dieser Code nicht die eigentliche Rechtsgrundlage der Strafbarkeit der Handlungen bilden. Die Schwere der Handlung und die Überzeugung der internationalen Gemeinschaft in Verbindung mit einem breiten Rechtsbegriff waren hier die entscheidenden Faktoren. Die Grundlagen, die in Bezug auf das NCSL-Prinzip in Rahmen der Verurteilungen der Kriegsverbrecher im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg festgelegt wurden,536 fanden im Vorschlag des Special Rapporteur Resonanz. Dies erlaubt ebenso, den zweiten Absatz des vorläufigen Art. 7 zu verstehen. Laut dem zweiten Absatz verhinderte die Bestimmung des ersten Absatzes nicht die Verurteilung wegen Handlungen oder Unterlassungen, die nach den allgemeinen Völkerrechtsgrundsätzen (general principles of international law) strafbar waren.537 Dieser zweite Absatz wurde tatsächlich von der Nürnberger Klausel inspiriert. Er bestätigt somit, dass der Special Rapporteur auf einen Rechtsbegriff fokussiert war, der breiter als die Idee des geschriebenen Rechts ist.538 Der vom Special Rapporteur vorgeschlagene Art. 7 stellte jedoch ein umstrittenes Thema dar. Wie bereits erwähnt, diskutierte die ILC in ihrer 38. und 39. Sitzung 1986 und 1987 über das NCSL-Prinzip und das Rückwirkungsverbot, kam damals jedoch nicht zu einer Einigung. Die während dieser Sitzungen dargelegten Auffassungen der Mitglieder der ILC können allerdings in drei Gruppen eingeordnet werden. Einige Mitglieder akzeptierten im Allgemeinen den ersten Absatz, stellten sich aber dem zweiten Absatz entgegen. Sie lehnten das breite Verständnis des Rechtsbegriffs jenseits des positiven Rechts und, wegen ihrer Vagheit und Mehrdeutigkeit, auch die Idee ab, der zufolge die „Gerechtigkeit“ ein entscheidender Faktor der Legalität sein könne.539 Andere stimmten mit Art. 7 überein, aber empfahlen, den Wortlaut von Art. 15 Abs. 2 IPBPR, d. h. die Nürnberger Klausel, 536

Siehe oben, zweites Kapitel, E. Gemäß dem vorläufigen Art. 7 Abs. 2: „The above provision does not, however, preclude the trial or punishment of a person guilty of an act or omission which, at the time of commission, was criminal according to the general principles of international law“, siehe YILC 1986, Vol. II (1), S. 83. 538 Insofern äußerte sich der Special Rapporteur: „[P]aragraph 2 of article 7 ensures that this rule is not restricted to sources of written law“, ebd. 539 Siehe z. B. die Auffassung vom Japaner Motoo Ogiso in YILC 1986, Vol. I, S. 150, ebenso die Auffassung vom Nigerianer Richard Osuolale A. Akinjide in Bezug auf die Kriegsverbrechen, ebd., S. 162. In den Diskussionen der 39. Sitzung (1987) können auch kritische Stimmen gefunden werden, wie z. B. Alexander Yankov (Bulgarien), Jiuyong Shi (China) und Cesar Sepúlveda Gutiérrez (Mexiko), YILC 1987, Vol. I, S. 28, 33, 38. 537

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in den zweiten Absatz aufzunehmen, um den Draft Code konsistent mit den internationalen Menschenrechten zu formulieren.540 Insofern wurde auch behauptet, dass der Draft Code eine gewisse Flexibilität aufweisen solle.541 Im Unterschied zu den zwei vorherigen Positionen plädierten einige Mitglieder, im Sinne eine Mittelwegs, für die Formulierung des Rückwirkungsverbots in einer weniger kontroversen Fassung, ohne notwendigerweise gegen den ursprünglichen Sinn des vorgeschlagenen Art. 7 zu sein.542 Einige von ihnen schlugen vor, den ersten Absatz zu ändern und das Rückwirkungsverbot auf die Anwendbarkeit des Codes und nicht auf das Völkerrecht im Allgemeinen zu richten. In diesem Sinne behauptete beispielsweise das brasilianische Mitglied der ILC Carlos Calero Rodrigues in der 38. Sitzung (1966th meeting) hinsichtlich der Diskussion über das Rückwirkungsverbot und den Rechtsbegriff: „It would be better not to try to solve that problem in the draft but simply to specify that the code would apply only to offences committed after its entry into force“.543 Die ILC nahm diese Lösung 1988 in der 40. Sitzung an. Basierend auf dieser Diskussion legte ein Drafting Committee am 21.07.1988 (2084th meeting) während der 40. Sitzung der ILC einen neuen Draft vor, in dem eine andere Formulierung des Rückwirkungsverbots zu finden war, die auch zwei Absätze enthielt, dieses Mal als vorläufiger Art. 8. Dem ersten Absatz dieser Bestimmung zufolge durfte niemand wegen Handlungen bestraft werden, die vor dem Inkrafttreten des Codes begangen wurden.544 Diesbezüglich ist es möglich, zwei wichtige Unterschiede zum ursprünglichen Vorschlag des Special Rapporteur zu erwähnen. Zuerst ist zu betonen, dass die verschiedenen Völkerrechtsquellen der neuen Fassung zufolge nicht mehr den normativen Referenzpunkt des Rückwirkungsverbots bildeten.545 Die Entwicklung des Völkerrechts außerhalb des Codes wäre somit (zumindest im Prinzip) irrelevant. Des Weiteren ist eine zeitliche Grenze der Bestrafung von Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit auf der Basis des Codes in dieser Bestimmung zu finden: sein Inkrafttreten.546 Das Rückwirkungsverbot umfasste also in dieser Version 540

Siehe in diesem Sinne die Auffassungen von Jorge E. Illueca (Panama)  und Christian Tomuschat (Bundesrepublik Deutschland), YILC 1986, Vol. I, S. 139, 154. 541 Siehe die Auffassung von Stephen C. Mccaffrey (Vereinigte Staaten), YILC 1986, Vol. I, S. 156; auch Juri G. Barsegov (UdSSR) und Andreas J. Jacovides (Zypern), YILC 1987, Vol. I, S. 14, 22. 542 Beispielshaft Ilueca, siehe YILC 1986, Vol. I, S. 139; auch Francis Mahon Hayes (Irland), Bola Adesumbo Ajibola (Nigeria), YILC 1987, Vol. I, S. 24, 37. 543 Vgl. YILC 1986, Vol. I, S.155; er war allerdings skeptisch in Bezug auf das Nürnberger Urteil und lehnte in der 39. Sitzung den zweiten Absatz ab, siehe YILC 1987, Vol. I, S. 16. 544 Laut dem vorläufigen Art 8.1: „No one shall be convicted under this Code for acts committed before its entry into force“, YILC 1988, Vol. II (2), S. 69. 545 Siehe insofern Tomuschat (Chairman of the Drafting Committee): „[T]he point of re­ ference should be the code itself, rather than crimes against the peace and security of mankind“, YILC 1988, Vol. I, S. 287. 546 In diesem Sine auch Tomuschat: „It had also replaced the reference to the time of commission of the crime by a reference to the time of entry into force of the code“, ebd.

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sowohl einen normativen als auch einen zeitlichen Referenzpunkt. Diese sollten als Grenzen für die Anwendung des Codes dienen. Die ILC präzisierte jedoch in ihrem Bericht für die Generalversammlung der VN, dass sie mit der Beschränkung des Rückwirkungsverbots auf die Bestrafungen „under this Code“ die Möglichkeit der Verurteilungen aufgrund einer anderen Rechtsgrundlage offen lassen wolle und dass solche Fälle im zweiten Absatz geregelt worden seien.547 Laut dem zweiten Absatz des vorläufigen Art.  8 verhinderte das Rückwirkungsverbot, wie es in diesem Kontext vorgesehen war, nicht die Verurteilung von Handlungen, die zum Zeitpunkt der Tatbegehung gemäß dem Völkerrecht oder dem jeweiligen nationalem Recht strafbar waren.548 In diesem zweiten Absatz befand sich nicht der Ausdruck „general principles of international law“, wie im Vorschlag vom Special Rapporteur. Der vorläufige Art. 8 Abs. 2 bezog sich lediglich auf das „international law“ im Allgemeinen, verneinte aber nicht die Relevanz der allgemeinen Rechtsgrundsätze für den Kriminalisierungsprozess auf völkerstrafrechtlicher Ebene. Wie die ILC selbst erklärte, bildete dies nur einen Mittelweg zwischen zwei Zielen. Einerseits wollte sie die Bestrafung von Handlungen, die vor dem Inkrafttreten des Codes begangen wurden, auf Grundlage z. B. eines Völkerrechtsvertrags oder des Völkergewohnheitsrechts nicht ausschließen.549 Andererseits wollte sie nicht die Gelegenheit zur Bestrafung mit einer fraglichen Rechtsgrundlage schaffen.550 Diese zwei Absätze wurden am 21.07.1988 (2084th meeting) während der 40. Sitzung der ILC aufgenommen und erschienen im Draft Code von 1991 als Art. 10.551 Es ist also möglich zu behaupten, dass sie weder eine Ablehnung der nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegten Grundlagen noch eine Abweichung gegenüber der Nürnberger Klausel bildeten. Diese Bestimmung implizierte keine grundsätzliche Veränderung hinsichtlich der Völkerrechtsquellen. Sie ging nicht davon aus, dass nur die Handlungen, die explizit mit einer Sanktionsandrohung in einer geschriebenen Rechtsnorm verbunden waren, strafbar waren, wie es z. B. in der deutschen Rechtstradition der Fall ist.552 In der Tat bedeutete sie nicht die Anerkennung des Vorrangs des geschriebenen Rechts im Kriminalisierungsprozess einer Handlung im Kontext des Völkerrechts. Sie würde nicht einmal die anschließende Entwicklung des Völkerstrafrechts bedingen. Des Weiteren änderte die Aufnahme des Rückwirkungsverbots im Draft Code von 1991 weder die Einschätzung der Rechtssicherheit als abwägungsfähiger Wert noch die auf der Menschenwürde 547

Vgl. YILC 1988, Vol. II (2), S. 70. Gemäß dem vorläufigen Art. 8 Abs. 2: „Nothing in this article shall preclude the trial and punishment of anyone for any act which, at the time when it was committed, was criminal in accordance with international law or domestic law applicable in conformity with international law“, YILC 1988, Vol. II (2), S. 69–70. 549 Ebd., S. 70. 550 Ebd. 551 Vgl. YILC 1988, Vol. I, S. 288; YILC 1991, Vol. II. (2), S. 95. 552 Siehe oben, erstes Kapitel, C. II. 3., 4. und 5. 548

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basierende Konzeption der Gerechtigkeit.553 Sie betrifft ebenso wenig die Rolle des Völkerstrafrechts als Durchsetzungsmechanismus von Menschenrechten gegenüber den nationalen Rechtsordnungen.554 Das Rückwirkungsverbot beschränkt sich hier lediglich darauf, die zeitliche Anwendbarkeit eines spezifischen internationalen Instruments zu begrenzen, das ein bestimmtes Verantwortungsregime etablieren, aber die Ganzheit des Völkerstrafrechts nicht umfassen würde. Die Tatsache, dass die im Draft Code von 1991 erwähnten Verbrechen in einer detaillierten Weise definiert wurden, ändert an den vorherigen Erwägungen nichts. Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass die ILC versuchte, zwei Ansätze bzw. Methoden zur Kodifikation von internationalen Verbrechen miteinander zu verknüpfen. Es handelt sich einerseits um eine deduktive Methode, in der man einen generellen Begriff feststellen muss, um daraus später (z. B. von einem Gericht) die konkret strafbaren Handlungen herzuleiten.555 Andererseits handelt es sich um eine induktive Vorgehensweise, in welcher aus dem positiven Völkerrecht sowie aus der Staatenpraxis und im Allgemeinen aus dem Völkergewohnheitsrechts die strafbaren Handlungen abstrahiert werden, ohne eine exhaustive Liste von Verbrechen formulieren zu müssen. In diesem Fall würde eine Liste nur als Beispiel dienen.556 Die ILC war der Meinung, dass sie durch die Kombination dieser zwei Perspektiven einen Mittelweg zwischen Rechtssicherheit und Anpassungsfähigkeit erreichen könne. Die ILC fragte sich deswegen von Anfang an, ob eine allgemeine Definition des Begriffs „Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit“ im Draft formuliert werden sollte.557 Diese Idee wurde allmählich während der Diskussionen fallengelassen.558 Trotzdem wurde die Frage nach der Methode auch in Bezug auf die Definition jedes Verbrechens gestellt.559 Am Ende versuchte die ILC mehr oder weniger präzise Definitionen aufzunehmen, griff jedoch bei der Formulierung einiger Verbrechen auch auf offene Klauseln zurück. Insofern sind folgende Ausdrücke zu nennen: „any other acts determined by the Security Council as constituting acts of aggression“ (Art. 15 Abs. 4 (h). Aggression), „or any other measures“ (Art. 16 Abs. 2. Threat of aggression) und „acts of inhumanity, cruelty or barbarity directed against the life, dignity or physical or mental integrity of persons [in particular…]“ (Art. 22. Exceptionally 553

Siehe oben, drittes Kapitel, A. III. 3, B. II. 2., B. III. 1., B. IV. 2. und 3., C. Siehe oben, drittes Kapitel, B. III. 5., IV. und C. 555 Vgl. YILC 1983, Vol. II (1), S. 146–149. 556 Ebd. 557 Siehe YILC 1983, Vol. II (1); auch YILC 1983, Vol. I, S. 6, 22, 23, 27, 29, 31, 41. 558 Siehe oben in diesem Kapitel Fn. 535. 559 Vgl. YILC 1983, Vol. II (2), S. 16; YILC 1983, Vol. I, S. 31 (Auffassung des Norwegers Jens Evensen: „The Commission should strive to determine categories of crimes by describing in general terms the main constituent elements thereof, and, in addition, giving examples, an approach already used to some extent in the 1954 draft code. It should, however, be made perfectly clear that those examples did not constitute exhaustive lists“). 554

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serious war crimes).560 Anscheinend kombinierte die ILC in diesen Bestimmungen die an dieser Stelle erwähnten Ansätze, wenngleich die Debatte über die Kodifizierungsmethode in den Diskussionen der ILC nicht gelöst worden zu sein scheint. Bei Betrachtung dieser Bestimmungen zusammen mit Art. 10 über das Rückwirkungsverbot darf jedenfalls darauf geschlossen werden, dass die ILC nicht alle internationalen Verbrechen explizit kodifizieren wollte, nicht einmal alle Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit.561

IV. Draft Statute for an International Criminal Court 1994 Die Generalversammlung der VN beauftragte die ILC, in Verbindung mit den Diskussionen über den Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind auch über eine internationale Strafgerichtsbarkeit nachzudenken562 und zusätzlich ein Statut eines eventuellen internationalen Strafgerichtshofs zu entwerfen.563 Im Bericht über ihre 46. Sitzung legte die ILC 1994 der Generalversammlung ein Draft Statute for an International Criminal Court vor. Hier wurde auch eine Bestimmung über das NCSL-Prinzip (Art. 39) aufgenommen.564 Diese Bestimmung besteht aus zwei Absätzen; jeder von ihnen richtet sich auf eine bestimmte Konstellation, entsprechend dem zugerechneten Verbrechen laut Art. 20 des Draft Statute. Art. 20 des Draft Statute legte die Verbrechen „within the jurisdiction of the Court“ fest. Hier waren die sog. core crimes erwähnt, d. h. die Verbrechen, die ohne Zweifel internationale Verbrechen bilden: Völkermord unter Buchstabe (a), Aggression unter Buchstabe (b), Kriegsverbrechen als „serious violations of the laws and customs applicable in armed conflict“ unter Buchstabe (c) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Buchstabe (d). Dies stellte „a common core of agreement in the Commission“ dar, wie die ILC behauptete.565 Außerdem erwähnte Art. 20 unter Buchstabe (e) die sog. treaty crimes bzw. die in Völkerrechts 560

Der Begriff der „Aggression“, der im Draft Code von 1991 (Art. 15) erscheint, beruht auf der 1974 in der Resolution 3314 der Generalversammlung der VN aufgenommenen Definition. Außerdem soll erwähnt werden, dass die ILC interessanterweise in diesem Draft eine taxative Liste von Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufnahm, obwohl sie in der Vergangenheit in einer offenen Weise formuliert gewesen waren. Eigentlich spricht die ILC im Draft Code von 1991 weder von Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch von „inhuman acts“, wie in den Nürnberger Prinzipien und im Draft Code von 1954, sondern von „Systematic or mass viola­ tions of human rights“ (Art. 21) und getrennt von Apartheid (Art. 20). 561 Der Draft Code 1991 umfasst auch einige Handlungen, die heutzutage nicht als internatio­ nale Verbrechen, zumindest nicht als core crimes, anerkannt sind, wie international terrorism (Art. 24), illicit traffic in narcotic drugs (Art. 25) und wilful and severe damage to the environment (Art. 26). 562 Generalversammlung der VN, Resolutionen 45/51 (28. 11. 1990) und 46/54 (09. 12. 1991). 563 Generalversammlung der VN, Resolutionen 47/33 (25. 11. 1992) und 48/31 (09. 12. 1993). 564 Siehe YILC 1994, Vol. II (2), S. 22 ff., 55. 565 Ebd., S. 38.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

verträgen definierten Verbrechen, wenn sie außerordentlich schwer und deswegen von internationalem Belang sind.566 Ein doppelter Standard wurde hinsichtlich des NCSL-Prinzips in Art. 39 des Draft Statute eingeführt. Laut Art.  39 (a)  sollte ein Angeklagter wegen der in Art.  20 unter den Buchstaben (a)  bis (d)  erwähnten Verbrechen nicht verurteilt werden, es sei denn, die jeweilige Handlung oder Unterlassung bildete zum Zeitpunkt der Tatbegehung nach Völkerrecht ein Verbrechen.567 Laut Art. 39 (b) sollte ein Angeklagter wegen der Verbrechen, auf die Art. 20 (e) sich bezieht, nicht verurteilt werden, es sei denn, der jeweilige Völkerrechtsvertrag war zum Zeitpunkt der Tatbegehung anwendbar auf das Verhalten des Angeklagten.568 Um Art.  39 des Draft Statute von 1994 zu verstehen, sind mehrere Punkte zu berücksichtigen. Erstens soll hervorgehoben werden, dass Art. 39 keine zeitliche Grenze für die Zuständigkeit des eventuellen internationalen Strafgerichtshofs festsetzte. Es handelte sich hier um ein Rückwirkungsverbot, das als zeitlichen Referenzpunkt lediglich den Zeitpunkt der Tatbegehung oder Unterlassung hat. Zweitens soll beachtet werden, dass der wichtigste Unterschied zwischen den Absätzen (a) und (b) des Art. 39 im normativen Referenzpunkt liegt. Während Art. 39 (a) sich auf das Völkerrecht im Allgemeinen bezieht, nimmt Art. 39 (b) Bezug auf den jeweiligen Völkerrechtsvertrag. Im ersten Fall, d. h. in Bezug auf die core ­crimes, wären alle Völkerrechtsquellen, sowohl das Völkergewohnheitsrecht als auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, relevant, um die Legalität einer Verurteilung festzustellen, während nur das geschriebene Völkerrecht im zweiten Fall im Betracht käme.569 Drittens muss betont werden, dass dieser Entwurf keinen „Code“ im Sinne einer Systematisierung bzw. Formulierung bereits geltenden (oder neuen) Rechts bildete. Stattdessen handelte es sich um ein prozessuales Instrument, „an adjectival and procedural instrument“ laut der ILC.570 Deswegen sind die Verbrechen im Draft Statute nicht definiert; dies sollte im Draft Code (jedenfalls nicht exhaustiv) gemacht werden.571 Das Rückwirkungsverbot, wie es in diesem Kontext erschien, hat aber keine prozessuale Konnotation. Denn es begrenzt nicht die zeitliche Zuständigkeit des im Draft vorgesehenen internatio 566

Die relevanten Völkerrechtsverträge befinden sich in der Anlage des Draft Statute; hier sind u. a. die GK von 1949 und das ZP I der GK, sowie die Antifolterkonvention der VN von 1984 und das Übereinkommen der VN gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen von 1988 erwähnt, siehe ebd., S. 67 ff. 567 Laut Art. 39 (a) Draft Statute: „An accused shall not be held guilty: (a) In the case of a prosecution with respect to a crime referred to in article 20, subparagraphs (a) to (d), unless the act or omission in question constituted a crime under international law […]at the time the act or omission occurred“, ebd., S. 55. 568 Laut Art. 39 (b) Draft Statute: „(b) In the case of a prosecution with respect to a crime referred to in article 20, subparagraph (e), unless the treaty in question was applicable to the conduct of the accused; at the time the act or omission occurred“, ebd. 569 Siehe den Kommentar der ILC zu Art. 39, ebd., S. 55–56. 570 Ebd., S. 36, 38. 571 Ebd., S. 38.

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nalen Strafgerichtshofs. Außerdem ist sein normativer Referenzpunkt immer noch das Völkerrecht, nicht das Statute an sich. Daraus folgt, dass Art. 39 nur die Geltung des NCSL-Prinzips als allgemeinen Grundsatz des Völkerstrafrechts bestätigte, ohne das Verständnis der Völkerrechtsquellen, das seit Nürnberg die Entwicklung des Völkerstrafrechts ermöglicht hat, zu verändern. Die Tatsache, dass Art.  39 (wieder) einen Kompromiss zwischen zwei Konzeptionen der Legalität darstellte, spricht auch dafür. Zum einen bestand die Auffassung des Special Rapporteur Doudou Thiam, nach der die materielle Zuständigkeit des entworfenen internationalen Strafgerichtshofs durch alle Völkerrechtsquellen bestimmt werden sollte. Demnach sollte das anwendbare Recht hinsichtlich der Definition der Verbrechen sowohl das geschriebene Recht als auch das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze umfassen.572 Vor diesem Hintergrund muss darauf hingewiesen werden, dass sich keine Bestimmung über das NCSL-Prinzip in den 10. und 11. Berichten des Special Rapporteur befand, in denen er verschiedene Empfehlungen und Vorschläge im Hinblick auf den Entwurf eines internationalen Strafgerichtshofs vorlegte.573 Zum anderen ist die Auffassung der Working Group zu erwähnen, an die die ILC die Bearbeitung des Draft Statute delegierte.574 Die Working Group war der Meinung, dass die materielle Zuständigkeit des internationalen Strafgerichtshofs lediglich auf Verbrechen, die in Völkerrechtsverträgen definiert waren, beschränkt werden müsste, darunter auch der Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind. In diesem Sinne äußerte die Working Group sich in den Empfehlungen, die sie 1992 formulierte.575 Die Working Group erkannte folglich das Primat des geschriebenen Rechts als einzigen Weg zur erforderlichen Rechtssicherheit an. Auch insofern schlugen einige Mitglieder der ILC vor, dass die Verbrechen, für die der Gerichtshof zuständig sein könnte, im Draft Statute definiert werden sollten.576 Die Staaten, die 1993 Kommentare über das Draft Statute vorlegten, befürworteten die Meinung der Working Group.577 572 Vgl. YILC 1992, Vol. II (1), S. 53–56; YILC 1992, Vol. II (2), S. 13–14; YILC 1993, Vol. II (1), S. 115; YILC 1993, Vol. I, S. 6, 24. 573 Die Berichte des Special Rapporteur befinden sich in YILC 1992, Vol. II (1), S. 51 ff. (10. Bericht) und YILC 1993, Vol. II (1), S. 11 ff. (11. Bericht). 574 Hinsichtlich der Einrichtung der Working Group innerhalb der ILC siehe YILC 1992, Vol. II (2), S. 16; YILC 1993, Vol. II (2), S. 20, 100 ff.; YILC 1994, Vol. II (2), S. 25. 575 Vgl. YILC 1992, Vol. II (2), S. 58, 66. 576 Siehe z. B. die Auffassung des französischen Mitglieds Alain Pellet in YILC 1993, Vol. I, S. 18; siehe auch YILC 1992, Vol. II (2), S. 13; YILC 1993, Vol. II (2), S. 17; 577 Siehe die Kommentare der Staaten in YILC 1993, Vol. II (1), S. 125 ff.; es gab allerdings Unterschiede in den Auffassungen der Staaten, beispielsweise stellte Mexiko fest, dass jede Handlung in einer Norm mit der jeweiligen Strafe explizit verknüpft sein sollte, um eine Strafbarkeit zu begründen, d. h., die Tatsache, dass die Handlung in einem völkerrechtlichen Vertrag verboten war, würde nicht als Rechtsgrundlage einer Verurteilung reichen (ebd., S. 138); im Unterschied dazu vertrat Italien die Auffassung, nach der das Verbot in einem völkerrechtlichen Vertrag genug sei; Italien zufolge war es nicht einmal notwendig, eine exhaustive Liste mit den relevanten Völkerrechtsverträgen zu formulieren (ebd., S. 137).

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Die Working Group präsentierte jedoch 1993 in ihrer ersten Fassung des Draft Statute einen Vorschlag, der einen Mittelweg zwischen beiden Positionen bildete. Im zweiten Teil des Draft Statute, in dem die materielle Zuständigkeit und das anwendbare Recht festgelegt werden sollten, wurde eine Liste der in Völkerrechtsverträgen definierten Verbrechen als Art. 22 eingeführt. Der von der ILC entworfene internationale Strafgerichtshof wäre im Pinzip für diese Straftaten zuständig gewesen.578 Darüber hinaus wurde die Zuständigkeit in Bezug auf die in Art. 22 nicht erwähnten Verbrechen in Art. 26 Abs. 1 vorgesehen. Voraussetzung dafür war aber, dass der jeweilige Staat unter Berücksichtigung besonderer Formalitäten seine Zustimmung dafür äußere.579 Dies umfasste laut Art. 26 Abs. 2 (a) „crimes under general international law“ und gemäß Art. 26 Abs. 2 (b) „crimes under national law […] which give effect to provisions of a multilateral treaty“.580 In Übereinstimmung mit diesen Vorschriften wurde auch eine zusätzliche Bestimmung über das NCSL-Prinzip in dieser Fassung des Draft Statute suggeriert. Art. 41 (a) sah drei Konstellationen vor. Erstens sollte der Angeklagte in den Fällen des Art. 22 nicht verurteilt werden, es sei denn, der jeweilige Völkerrechtsvertrag sei zum Zeitpunkt der Tatbegehung bereits in Kraft getreten. In den Fällen des Art. 26 Abs. 2 (a) sollte der Angeklagte nicht verurteilt worden, es sei denn, das Verhalten bildete nach dem zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltenden Völkerrecht ein Verbrechen. Der Angeklagte sollte in den Fällen des Art. 26 Abs. 2 (b) auch nicht verurteilt worden, es sei denn, das Verhalten stellte nach dem relevanten nationalen Recht und in Übereinstimmung mit dem jeweiligen Völkerrechtsvertrag ein Verbrechen dar.581 Diese Formel wurde von der ILC ohnehin nicht angenommen, u. a. weil sie zu kompliziert sei.582 Die ILC gelangte dann nach Diskussionen, die 1994 während ihrer 46. Sitzung stattfanden, zur Schlussfolgerung, dass es notwendig sei, die Frage nach dem anwendbaren Recht von der Frage nach der Abgrenzung der materiellen Zuständigkeit des eventuellen internationalen Strafgerichtshofs zu trennen.583 Laut der ILC war die erste Frage ein rechtliches Problem im materiellen Sinne, während die zweite Frage vor allem prozessualer Natur war.584 Der bereits kommentierte Art. 20, der sich im dritten Teil (Jurisdiction of the Court) des Draft Statute for an International Criminal Court 1994 befand und in dem die „crimes within 578

Vgl. YILC 1993, Vol. II (2), S. 106. Laut Art. 26 Abs. 2 (a) der ersten Fassung des Draft Statute: „The other international crimes referred to in paragraph 1 are: (a) crimes under general international law, that is to say, under a norm of international law accepted and recognized by the international community of States as a whole“, ebd., S. 109. 580 Im ersten Fall z. B. die Vebrechen gegen die Menschlichkeit und im zweiten Fall beispielsweise Drogenhandel und die in den sog. „suppression conventions“ definierten Vebrechen, ebd., S. 110. 581 Ebd., S. 119. 582 Vgl. YILC 1993, Vol. I, S. 179 ff.; YILC 1994, Vol. I, S. 4 ff. 583 Vgl. YILC 1994, Vol. II (2), S. 23. 584 Ebd. 579

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the jurisdiction of the court“ erwähnt, aber nicht definiert waren, antwortete auf die zweite Frage.585 In Bezug auf das anwendbare Recht nahm die ILC im fünften Teil des Draft Statute (über „The Trial“) Art. 33 auf, wobei das Statute selbst, die relevanten Völkerrechtsverträge, die Grundsätze und Regeln generellen Völkerrechts sowie das nationale Recht, „to the extent applicable“, erwähnt waren. Diese Bestimmung bezog sich nicht nur auf die Definition der Verbrechen, sondern auch ganz allgemein auf die Arbeit des Gerichtshofs.586 Dabei wurde ferner keine Hierarchie unter den Rechtsquellen etabliert.587 Die Analyse des Art.  39 zusammen mit Art. 20 und 33, sowie mit der Diskussionen, die von 1992 bis 1994 in der ILC stattfanden, gestattet somit die Folgerung, dass die ILC sich bei der Formulierung des NCSL-Prinzips im Draft Statute von 1994 nicht von den im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg festgelegten Grundlagen loslösen wollte.

V. Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind 1996 Die ILC nahm von 1994 bis 1996 die Diskussionen über den 1991 „on first reading“ angenommenen Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind wieder auf. Als Ergebnis nahm sie 1996 auf ihrer 48. Sitzung „on second reading“ eine neue Version an. Im Allgemeinen darf behauptet werden, dass die ILC bei der Bearbeitung dieses Draft sowohl der LC als auch dem Nürnberger Urteil strikter als bei dem Draft von 1991 folgte. Die ILC richtete sich insbesondere bei der Formulierung der Verbrechen nach den JStGH- und RStGH-Statuten. An dieser Stelle ist insoweit auf drei Aspekte hinzuweisen: die in Art. 1 angenommene Bestimmung über Umfang und Anwendung des Codes; das in Art. 13 aufgeführte Rückwirkungsverbot; und die Definitionen der core crimes, die in Art. 16 (Aggression), 17 (Völkermord), 18 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und 20 (Kriegsverbrechen) vorgesehen waren.588 In Bezug auf den ersten Aspekt ist hervorzuheben, dass die ILC auf die Formulierung einer umfassenden Definition des Begriffs „Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit“ verzichtete, obwohl es sogar in den Diskussionen auf ihrer 48. Sitzung ein umstrittenes Thema bildete. Einigen Mitgliedern zufolge war es notwendig, im Draft Code eine Definition einzugliedern, die als festes und andauerndes Kriterium zur Identifikation der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit dienen sollte, um das NCSL-Prinzip zu 585

Ebd., S. 38. Ebd., S.  51: „[A]rticle 33 applies in relation to all actions taken by the court at any stage“. 587 Ebd. 588 In Art. 19 Draft Code 1996 wurde das Verbrechen „Crimes against United Nations and associated personel“ vorgesehen (siehe YILC 1996, Vol. II (2), S. 50–51). Da dieses Verbrechen kein core crime bildet, ist es hier außer Betracht gelassen worden. 586

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achten.589 Stattdessen nahm die ILC jedoch in Art. 1 Abs. 1 eine generelle Klausel auf, in der lediglich behauptet wurde: „The present Code applies to the crimes against the peace and security of mankind set out in part two“.590 Die ILC führte hierzu aus: „This provision is not intended to suggest that the Code covers exhaustively all crimes against the peace and security of mankind“.591 In den Diskussionen wurde jedenfalls deutlich gemacht, dass die Schwere der Handlungen das entscheidende Kriterium zur Kodifikation der Handlungen gewesen sei592 und dass die ILC einen minimalistischen Ansatz zu verfolgen hatte, dem zufolge sie sich nur auf die Handlungen, deren Charakter als Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit keine große Diskussion seitens der Staaten verursachte, beschränken sollte.593 Darüber hinaus betonte die ILC in Art. 1 Abs. 2 erneut, dass das Völkerrecht bei der Kriminalisierung der Handlungen unabhängig von nationalen Rechtsordnungen sei.594 In diesem Sinne hob die ILC in den Kommentaren zum Draft Code hervor, dass die Strafbarkeit der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit eine direkte Konsequenz des Völkerrechts und damit auch ihrer Quellen darstelle.595 Die ILC ging somit auch davon aus, dass das Völkerrecht, zumindest im Rahmen des Völkerstrafrechts, die Individuen direkt verpflichten könne, ohne der Vermittlung der Staaten zu bedürfen.596 Um diesen Punkt zu illustrieren, erwähnte die ILC die LC, das Nürnberger Urteil, die Nürnberger Prinzipien und sogar den Draft Code von 1954.597 Die ILC schloss sich damit den nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegten Grundlagen an und trug auf diese Weise auch zur Entstehung der Nürnberger Rechtstradition bei. 589 Siehe z. B. die Auffassung von Ahmed Mahiou (Algerien) und Guillaume Pambou-Tchivounda (Gabun), YILC 1995, Vol. I, S. 13 und 23 („The principle of legality made the need for  a general definition, together with  a definition of each crime, indispensable“); insofern auch Alain Pellet (Frankreich), YILC 1996, Vol. I, S. 34. 590 YILC 1996, Vol. II (2), S. 17. 591 Ebd 592 Ebd.; siehe auch YILC 1996, Vol. I, S. 34–35. 593 Siehe „Thirteenth report on the draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, by Mr. Doudou Thiam, Special Rapporteur“; der Special Rapporteur reduzierte in seinem 13. Bericht die Liste der Verbrechen von 12 (Draft Code 1991) auf 6, der Grund dafür waren die Kritiken der Staaten vor allem gegen die folgenden Verbrechen, die in den Draft von 1991 inkorporiert waren: threat of aggression, intervention, colonial domination and other forms of alien domination, and wilful and severe damage to the environment; zwei davon (threat of aggression und intervention) wurden wegen ihrer Unbestimmtheit von verschiedenen Regierungen kritisiert (in YILC 1995, Vol. II (1), S. 35); siehe auch Tomuschats Auffassung in YILC 1995, Vol. I, S. 11–12; In den Diskussionen, die 1995 stattfanden, wurde auch sehr heftig über die Aufnahme mehrerer Handlungen gestritten, die am Ende nicht in den Draft Code 1996 aufgenommen wurden, nämlich intervention, colonial domination, international terrorism und illicit traffic in narcotic drugs (siehe dazu YILC 1995, Vol. I, S. 15, 18, 22, 51–52). 594 Laut Art. 1 Abs. 2 Draft Code 1996: „Crimes against the peace and security of mankind are crimes under international law and punishable as such, whether or not they are punishable under national law“, YILC 1996, Vol. II (2), S. 17. 595 Ebd. 596 Ebd., S. 17–18. 597 Ebd.

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Das Rückwirkungsverbot, der zweite Aspekt, der hier zu berücksichtigen ist, wurde in Art. 13 dieses Draft vorgesehen. Die ILC hielt hier fast an der gleichen Version des Rückwirkungsverbots fest, die sie in Art. 10 des Draft Code von 1991 aufgenommen hatte.598 Deswegen sind die zeitlichen und normativen Referenzpunkte des Rückwirkungsverbots gemäß Art. 13 Abs. 1 Draft Code 1996 auch jeweils das Inkrafttreten und der Code an sich.599 In den Kommentaren zum Draft rechtfertigte die ILC die explizite Aufnahme des Rückwirkungsverbots unter Bezugnahme auf zwei Elemente: die kriminalpolitische Funktion der strafrechtlichen Normen im Sinne von Verhaltenssteuerung und die im Kontext der völkerstrafrechtlichen Verurteilungen erforderliche Gerechtigkeit im Sinne von fair warning.600 In diesem Kontext behauptet die ILC: „This principle would be violated if the Code were to be applied to crimes committed before its entry into force“.601 Es könnte behauptet werden, dass die ILC durch diese Behauptung akzeptierte, dass die Tatsache der Kodifikation dieser Handlungen die Rechtsgrundlage ihrer internationalen Strafbarkeit bilden würde. Die ILC erklärte jedoch in ihrem Kommentar, dass die Strafbarkeit der im Draft Code vorgesehenen Verbrechen auch auf anderen Völkerrechtsquellen beruhe. Dafür gab sie den Völkermord als Beispiel: Jemand, der einen Völkermord vor dem Inkrafttreten des Draft Code begehe, könne nicht auf der Grundlage des Codes bestraft werden, nichts verhindere jedoch eine Verurteilung, die auf der Völkermordkonvention oder auf Völkergewohnheitsrecht basieren würde.602 Genau aus diesem Grund befindet sich dieselbe Bestimmung in Art. 13 Abs. 2 des Draft Code von 1996, die in Art. 10 Abs. 2 des Draft Code von 1991 aufgenommen wurde.603 Dementsprechend stellte Art. 13 des Draft Code von 1996, ebenso wenig wie Art. 10 des Draft Code von 1991, weder eine Änderung im Hinblick auf das Verständnis der Völkerstrafrechtsquellen noch des Völkerrechts selbst dar, das seit dem Zweiten Weltkrieg die Entwicklung des Völkerstrafrechts ermöglicht und die Konzeption der Legalität in diesem Kontext bestimmt hat. Hinsichtlich der Formulierung der Verbrechen im Draft Code sollen einige generelle Erwägungen dargestellt werden. Erstens ist zu erwähnen, dass die ILC 598

In den Kommentaren, die die Staaten 1994 über den Draft Code 1991 formulierten, wurde fast nichts über Art. 10 (Non-retroactivity) gesagt. Nur ein Staat, Paraguay, kritisierte Art. 10 Abs.  2, denn er stelle Paraguay zufolge eine Ausnahme zum NCSL-Prinzip dar (vgl. YILC 1994, Vol. II (1), S. 106). 599 Im gleichen Sinne wie Art. 10 Abs. 1 Draft Code von 1991 besagt Art. 13 Abs. 1 Draft Code 1996: „No one shall be convicted under the present Code for acts committed before its entry into force“, YILC 1996, Vol. II (2), S. 38. 600 Ebd. 601 Ebd., S. 39. 602 Ebd. 603 Laut Art.  13 Abs.  2: „Nothing in this article precludes the trial of anyone for any act which, at the time when it was committed, was criminal in accordance with international law or national law“; die ILC wiederholt diesbezüglich dieselben Erwägungen, die sie im Bericht der 40. Sitzung darstellte, vgl. YILC 1988, Vol. II (2), S. 70.

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bei der Formulierung der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit versuchte, einem Mittelweg zwischen einer strikten und einer flexiblen Konzeption der Legalität zu folgen, um das NCSL-Prinzip zu achten. Dies wurde 1995 von der ILC durch den Verweis auf die Auffassungen einiger Mitglieder in seinem Bericht über die 47. Sitzung behauptet. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Absicht der ILC darin bestand, die Verbrechen so deutlich wie möglich zu formulieren, ohne in allen Fällen exhaustiv zu sein.604 Zweitens waren jedoch nicht alle Mitglieder der ILC mit diesem Ansatz einverstanden, wie z. B. der Japaner Chusei Yamada. Ihm zufolge sollten die Verbrechen so formuliert werden, dass der Code allein ohne Verweis auf andere Völkerrechtsquellen angewendet werden könnte.605 Yamada bezog sich insofern auf die Diskussionen, die während der 49. Sitzung der Generalversammlung der VN im Sixth Committee stattfanden, in denen die Notwendigkeit, die Verbrechen zu definieren und damit das NCSL-Prinzip nicht zu verletzen, betont wurde.606 Er wies auch auf das Dokument A/AC.244/2 der Generalversammlung (1995) hin, in dem die Diskussionen vom „Ad hoc Committee on the Establishment of an International Criminal Court“ zusammengefasst waren und behauptet wurde, dass alle Elemente der Verbrechen, sogar wenn es um ein prozessuales Instrument gehe, im Lichte des NCSL-Prinzip zu spezifizieren seien.607 Drittens nahm die ILC jedenfalls die vier core crimes auf, wie sie auf der 48. Sitzung vom Drafting Committee dargestellt wurden.608 Es handelte sich letztlich um eine relativ detaillierte Fassung. Nichtsdestoweniger stellte dies keine umfassende selbstständige Kodifikation internationaler Verbrechen dar und enthielt immerhin einige offene Klauseln mit gewissen wichtigen, unbestimmten Elementen. In Art. 16 Draft Code 1996 wurde das Verbrechen der Aggression vorgesehen. Die ILC definierte in diesem Zusammenhang den Begriff „Aggression“ nicht. Laut Art. 16 sollte ein Individuum, das „as leader or organizer“ u. a. an einer von

604

Der Bericht über die 47. Sitzung der ILC besagt insofern: „As regards the nature of the definitions of the crimes, several members emphasized the importance of formulating definitions with the necessary precision […] in accordance with the nullum crimen sine lege principle, with a further suggestion to avoid an excessively rigid or flexible interpretation of this principle“, YILC 1995, Vol. II (2), S. 18–19. 605 Vgl. YILC 1995, Vol. I, S. 16. 606 Generalversammlung der VN, Report of the ILC, Doc. A/CN.4/464, 28.12.1994, S. 5–6: „The view was expressed that the Code should be comprehensive and encompass well-understood and legally defined crimes so as to ensure the widest possible acceptability and effectiveness […] Emphasis was placed on the need to define the different categories of the most serious crimes and related penalties to ensure observance of the principle nullum crimen nulla poena sine lege“. 607 Vgl. Doc. A/AC.244/2, 21.04.1995, S. 9. 608 Der Vorschlag des Drafting Committee wurde am 06.06.1996 (2437th meeting) vorgestellt und am 05.07.1996 (2454th meeting) von der ILC aufgenommen (YILC 1996, Vol. I, S. 33–34, 151).

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einem Staat durchgeführten Aggression aktiv teilnimmt,609 wegen des Verbrechens der Aggression bestraft werden. Diese Bestimmung definiert aber nicht den Terminus „Aggression“.610 Im Unterschied zum Draft von 1991 wiederholt die ILC im Draft von 1996 nicht die in der Resolution 3314 (1974) der Generalversammlung angenommene Definition. Deswegen befand sich der Satz „in any other manner inconsistent with the Charter of the United Nations“ nicht im Draft von 1996.611 Der Grund dafür war, dass der Draft Code sich der ILC zufolge lediglich auf Handlungen von Individuen beziehen solle, da er keinen geeigneten Ort bilde, um völkerrechtswidrige Akte der Staaten im Allgemeinen zu definieren.612 Für den Fall des Inkrafttretens dieses Draft wäre es ohnehin notwendig gewesen, nicht nur auf die Resolution 3314, sondern auch auf die LC und auf das Nürnberger Urteil zurückzugreifen, um die Bestimmung über Aggression anzuwenden.613 Das Verbrechen des Völkermords wurde in Art. 17 aufgenommen. Genauso wie im Draft Code von 1991 wurde hier die Definition des Art. II der Völkermordkonvention wiederholt. Denn die Konvention „provides a precise definition of the crime of genocide in terms of the necessary intent and the prohibited acts“, und diese Definition ist ferner weithin akzeptiert.614 Die ILC betonte unter Verweis auf den IGH in den Kommentaren zum Draft Code, dass die der Konvention zugrunde liegenden Prinzipien bindend für die Staaten seien, unabhängig davon, ob sie Vertragsstaaten der Konvention sind oder nicht.615 Damit bestätigt die ILC wiederum, dass der Code an sich nicht die Rechtsgrundlage der Strafbarkeit dieser Handlungen gewesen wäre. Hinsichtlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit muss die Aufnahme der Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ in Art.  18 betont werden.616 Die ILC nahm hier von der Idee der „systematic or mass violations of human rights“, 609 „[O]r orders the planning, preparation, initiation or waging of aggression“, YILC 1996, Vol. II (2), S. 42–43. 610 Vgl. YILC 1996, Vol. I, S. 60. 611 Ebd.; diese Formel befand sich auch im Vorschlag des Special Rapporteur (13. Bericht), der 1995 auf der 47. Sitzung der ILC diskutiert wurde (YILC 1995, Vol. II (1), S. 38). Damals wurde diese Formel wegen ihrer Vagheit kritisiert (YILC 1995, Vol. I, S. 12). Allerdings nicht alle Mitglieder der ILC stimmten dieser Meinung zu, wie z. B. Awn Al-Khasawneh (Jordanien) (ebd., S. 37). 612 Vgl. YILC 1996, Vol.  II (2), S.  43; siehe auch YILC 1996, Vol.  I, S.  61–62, 66: „The CHAIRMAN, speaking as  a member of the Commission, said that article 15 […] related to a crime that the Code did not define, a crime committed by a State, that was defined […] by other instruments“. 613 Laut der ILC: „The Charter and the Judgment of the Nurnberg Tribunal are the main sources of authority with regard to individual criminal responsibility for acts of aggression“, YILC 1996, Vol.  II (2), S.  43, das Mitglied aus Guatemala Francisco Villagrán Kramer kritisierte heftig den von der ILC in Bezug auf Aggression verfolgten Ansatz, siehe YILC 1996, Vol. I, S. 62–63, 67. 614 YILC 1996, Vol. II (2), S. 44. 615 Ebd.; siehe auch IGH, Reservations to the Convention of Genocide, 1951, S. 23. 616 Dazu auch oben, viertes Kapitel, B. II. 2.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

die in Art.  21 Draft Code 1991 erschien, Abstand.617 Im Unterschied dazu hat Art.  18 als Überschrift den Ausdruck „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Anschließend ist eine generelle Definition bzw. Klausel, die die Kontextelemente „committed in a systematic manner“, „or on a large scale“ und „instigated or directed by  a Government or by any organization or group“ enthält, zusammen mit einer nicht exhaustiven Liste von Verbrechen, die nach dem Vorbild der JStGH- und RStGH-Statuten verfasst wurde und als Beispiel dienen sollte, in dieser Bestimmung zu finden.618 Als Buchstabe (k) wurde also die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ am Ende der Liste aufgenommen. Die ILC führte im Bericht über ihre 48. Sitzung aus: „The Commission recognized that it was impossible to establish an exhaustive list of the inhumane acts which might constitute crimes against humanity“.619 Nichtsdestoweniger qualifizierte die ILC die Klausel mit vier Elementen: Erfasst sind danach Handlungen, die (i) die geistige oder (ii) die körperliche Unversehrtheit, (iii) die Gesundheit oder (iv) die Menschenwürde schwer beschädigen.620 Art. 18 (k) erwähnte ferner zwei konkrete Beispiele, um mehr Klarheit zu schaffen,621 nämlich „mutilation“ und „severe bodily harm“. Die Aufnahme der Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ wurde auch kritisiert. Einige Mitglieder der ILC behaupteten sogar, dass Ausdrücke wie z. B. „integrity“ oder „human dignity“ zu unbestimmt für eine strafrechtliche Norm seien.622 Deshalb wurde klargestellt, dass das Drafting Committe sich bei der Aufnahme der Elemente „physical or mental integrity“ und „health“ auf Art.  11 Abs. 1 und 11 Abs. 2 ZP I beziehe und dass diese Norm bei der Auslegung von Art. 18 (k) des Draft Code berücksichtigt werden solle.623 Deswegen wurden die zwei konkreten Beispiele, „mutilation“ und „severe bodily harm“, am Ende der Klausel erwähnt.624 In diesem Sinne könnte man also auch auf Art.  75 Abs.  2 (b) ZP I zurückgreifen, um das Element von „human dignity“ auszulegen.625 Dabei ist aber immerhin zu bedenken, dass sowohl Art. 11 (Abs. 1 und 2) als auch Art. 75 Abs. 2 (b) ZP I ebenfalls relativ unbestimmte Klauseln sind, die eine Vielfalt von 617 Es ist daran zu erinnern, dass sich die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ nicht im Draft Code von 1991 befindet. 618 YILC 1996, Vol. II (2), S. 47. 619 Ebd., S. 50. 620 Laut Art. 18 (k) Draft Code 1996: „A crime against humanity means any of the following acts, when […] Other inhumane acts which severely damage physical or mental integrity, health or human dignity“, ebd., S. 47. 621 Ebd., S. 50. 622 Siehe z. B. die Auffassungen von Mohamed Bennouna (Marokko), Kamil Idris (Sudan), Peter Kabatsi (Uganda) und Patrick Lipton Robinson (Jamaika) in YILC 1996, Vol. I, S. 81–85. 623 Vgl. YILC 1996, Vol.  I, S.  84 (vor allem die Auffassung von Calero Rodrigues); auch der Special Rapporteur Doudou Thiam verteidigte vehement die Aufnahme dieser Version der Klausel, ebd., S. 85. 624 Siehe insofern die Auffassung von Tomuschat, ebd. 625 Gemäß Art. 75 Abs. 2 (b) ZP I: „The following acts are and shall remain prohibited at any time and in any place whatsoever […] Outrages upon personal dignity, in particular humiliating and degrading treatment, enforced prostitution and any form of indecent assault“.

C. Versuche zur Kodifikation des Völkerstrafrechts

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Handlungen umfassen.626 Die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ stellte daher auch im Draft Code von 1996 eine Art „catch-all-Vorschrift“ dar, genauso wie in der LC, im KRG Nr. 10, im IMTFO-Statut sowie in den Statuten des JStGH, des RStGH und des SCSL. Mithilfe dieser Klausel soll der Begriff der Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Rechtsprechung weiter konkretisiert werden, obwohl hier zusätzliche Elemente als Auslegungskriterien dienen. Die Kriegsverbrechen befanden sich in Art.  20. Im Unterschied zu den vorherigen Entwürfen enthält diese Bestimmung eine ausführliche Aufzählung von Handlungen, die auf den JStGH- und RStGH-Statuten beruhen.627 Buchstabe (f) bezog sich sogar ausdrücklich auf Kriegsverbrechen im Kontext bewaffneter Konflikte ohne internationalen Charakter. In Bezug auf die Kriegsverbrechen, wie sie in dieser Bestimmung formuliert wurden, dürfen also zwei Punkte hervorgehoben werden. Erstens wollte die ILC hier auch nicht alle Kriegsverbrechen kodifizieren. In diesem Zusammenhang ist der Unterschied zwischen internationalen Verbrechen als Oberbegriff und Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit relevant. Laut der ILC waren alle Kriegsverbrechen auch internationale Verbrechen, aber nicht alle Kriegsverbrechen zugleich Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit. Deswegen wurde der Ausdruck „when committed in a systematic manner or on a large scale“ als Kontextelement in einer Art Generalklausel für die Kriegsverbrechen in Art. 20 aufgenommen.628 Zweitens wurden einige unbestimmte und wertausfüllungsbedürftige Begriffe in Art. 20 diese Drafts eingegliedert, genauso wie in Art. 18 (k), wie z. B. „inhuman treatment, including biological experiments“ in Art. 20 (a) (ii), oder „[o]utrages upon personal dignity […] in particular humiliating and degrading treatment […] and any form of indecent assault“ in Art. 20 (d) und (f) (v).629 Dies verursachte jedoch innerhalb der ILC keine Debatte im Lichte des NCSL-Prinzips. Diese zwei Punkte bilden aber zusätzliche Gründe, um zu behaupten, dass der Draft Code von 1996 auch keine umfassende Kodifikation der Kriegsverbrechen war.

626 Das ICRC bezieht sich im Kommentar zum ZP I auf eine Vielfalt von Handlungen, um den Inhalt dieser Normen zu veranschaulichen; in Bezug auf Art. 11 Abs. 1 erwähnt das ICRC als Beispiele: „[I]f a wound is allowed to become infected through lack of hygiene or care“ (als Beispiel der Beeinträchtigung der Gesundheit), „the amputation of an arm for no reason“ (als Beispiel der Beeinträchtigung körperlicher Unversehrtheit) und „leaving a person in complete isolation“ oder „brainwashing“ (als Beispiel der Beeinträchtigung von mental health), Sandoz et al. (Hrsg.), S. 152; im Hinblick auf Art. 75 Abs. 2 (b) behauptete das ICRC: „This refers to acts which, without directly causing harm to the integrity and physical and mental wellbeing of persons, are aimed at humiliating and ridiculing them, or even forcing them to perform degrading acts“, ebd., S. 873. 627 Vgl. YILC 1996, Vol. II (2), S. 53–54. 628 Ebd., S. 54. 629 Wenngleich diese Klauseln sich auch auf geschriebenem humanitärem Völkerrecht gründen, sind sie zugleich Völkergewohnheitsrecht, vgl. Rule 90 in Henckaerts/Doswald-Beck, S. 315 ff. (vor allem S. 318–319 hinsichtlich „inhuman trearment“).

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Die Art und Weise, in der die core crimes im Draft Code von 1996 formuliert wurden, bildet also ein weiteres Beispiel des Phänomens der Interlegalität in der Entwicklung des Völkerstrafrechts.630 Keine dieser Bestimmungen war autonom. Sie spiegelten Verbote wider, die sich bereits aus anderen, vorherigen Völkerrechtsquellen ergaben.631 Außerdem wäre es bei Inkrafttreten des Draft Code in mehreren Fällen notwendig gewesen, die Bestimmungen über Aggression, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen durch den Verweis auf andere Völkerrechtsnormen anzuwenden. Diese Bestimmungen konnten somit auch als „Hypertexte“ beschrieben werden, um den Ausdruck von Fischer-Lescano und Teubner erneut anzuwenden.632 Es ist daher wichtig daran zu denken, dass der Code sich immerhin nicht der weiteren Entwicklung des Völkerstrafrechts entgegenstellen konnte. Die „Kodifikation“ des Völkerstrafrechts setzt jedenfalls die Anerkennung seines Zusammenspiels mit anderen Rechtsgebieten voraus. Eine gewisse Flexibilität hinsichtlich der Rechtssicherheit und deshalb auch der Konzeption des NCSL-Prinzips war somit notwendig.

VI. Ergebnis: Die Spannung zwischen Rechtssicherheit und Anpassungsfähigkeit bei der Kodifikation des Völkerstrafrechts Die Diskussionen der ILC offenbaren auch zwei Konzeptionen der Legalität: eine strikte Konzeption, die von dem Primat des geschriebenen Rechts bei dem Kriminalisierungsvorgang ausgeht, und eine flexiblere Konzeption, die die Relevanz verschiedener Rechtsquellen anerkennt, ohne eine bestimmte Hierarchie unter ihnen zu fordern. Die Arbeit der ILC ist jedoch, abgesehen von den Debatten zwischen ihren Mitgliedern und trotz der Kritiken einiger Staaten,633 stärker von der zweiten Auffassung geprägt worden. Dies spiegelt sich nicht nur in der Rolle wider, die die ILC in der Kodifikation des Völkerstrafrechts gesehen hat, sondern 630

Siehe dazu oben, zweites Kapitel, E.; drittes Kapitel, B. III. 5. und C; viertes Kapitel, B. III. Um diesen Punkt weiter zu illustrieren, kann darauf hingewiesen werden, dass die ILC in den Kommentaren zu Art. 18 in Bezug auf jede der als Verbrechen gegen die Menschlichkeit erwähnten Handlungen die relevanten Völkerrechtsverträge über Menschenrechte feststellte, wie z. B. die VN-Antifolterkon­vention, die Anti-Apartheid-Konvention der VN, der IPBPR und sogar die AEM (vgl. YILC 1996, Vol. II (2), S. 48–50). 632 Siehe oben, viertes Kapitel, B. III. 633 Es muss daran erinnert werden, dass die ILC keine Gewissheit hinsichtlich der Implementierungsweise des Draft Code hatte. Sie hat jedenfalls damit gerechnet, dass er durch einen völkerrechtlichen Vertrag von den Staaten aufgenommen werden könnte. Dies bedeutet, im Unterschied zu den JStGH- und RStGH-Statuten und sogar zur LC konnte die Zustimmung der Staaten für das Inkrafttreten des Draft Code und des Draft Statute notwendig sein. Laut Boot bildet dies einen der wichtigsten Gründe, die erklären können, warum die ILC in diesem Zusammenhang spezifische Bestimmungen über das NCSL-Prinzip entwarf (vgl. Boot, S. 309, 348). Es muss allerdings betont werden, dass der „Druck“ der Staaten nicht stark genug war, um die Trennung der ILC von der Nürnberger Tradition zu erreichen. 631

C. Versuche zur Kodifikation des Völkerstrafrechts

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auch in der Weise, in der sie die core crimes in den Drafts formulierte, und in den Bestimmungen, die die ILC hinsichtlich des NCSL-Prinzips entwarf. Bei der Bearbeitung der Draft Codes und des Draft Statute befand sich die ILC in zwei Dilemmata. Einerseits war es Aufgabe der ILC, die Verbrechen so deutlich wie möglich zu formulieren und im Allgemeinen klare Bestimmungen vorzuschlagen, aber andererseits sollte die ILC nicht die weitere Entwicklung des Völkerstrafrechts durch feste Definitionen blockieren. Die ILC musste einen Mittelweg im Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und Anpassungsfähigkeit des Völkerstrafrechts suchen. Gleichzeitig setzte die Klarheit einen gewissen Grad an Präzision bei der Formulierung der Verbrechen voraus. Die ILC wollte jedoch keine Definitionen vorschlagen, die zwar technisch gesehen gut formuliert sein würden, aber auch große Diskussionen seitens der Staaten verursachen könnten. Die Absicht hierbei war, dass die Staaten den Vorschlägen der ILC zustimmen. D. h., die Vorschläge der ILC mussten nicht nur fachlich zutreffend sein, sondern auch pragmatischen und strategischen Gesichtspunkten entsprechen. Dementsprechend waren nicht alle wichtigen Themen des Völkerstrafrechts in den Entwürfen der ILC vorgesehen, nicht einmal alle verbrecherischen Handlungen, und nicht alles, was vorgesehen war, wurde hier definiert. Allerdings ist die ILC im Laufe der Zeit allmählich spezifischer geworden. In Übereinstimmung mit der Entwicklung insbesondere der internationalen Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts konnten die Verbrechen mit jedem Mal ausführlicher formuliert werden. Die ILC versuchte immerhin nicht, eine umfassende Kodifikation zu verfassen. Statt dessen formulierte sie in den Neunzigerjahren u. a. aufgrund des Zustands des Völkerrechts die core crimes in einer Weise, in der die Verbindung des Völkerstrafrechts mit den internationalen Menschenrechten und mit dem humanitären Völkerrecht, d. h. das Phänomen der Interlegalität, anerkannt wurde. Auf diese Weise wäre es jedenfalls möglich gewesen, die verbrecherischen Handlungen durch richterliche Auslegung in Übereinstimmung mit der anschließenden Entwicklung dieser Rechtsgebiete zu aktualisieren, wenn der Draft Code in Kraft getreten wäre. Am Ende suchte die ILC Klarheit, ohne exhaustiv sein zu müssen. Während der Bearbeitung des Draft Codes von 1991 und 1996 sowie des Draft Statute von 1994 wurden einige spezifische Bestimmungen über das NCSL-Prinzip vorgeschlagen, in denen das Rückwirkungsverbot vorgesehen war. Drei Versionen des Rückwirkungsverbots müssen an dieser Stelle erwähnt werden. Erstens: Ein Rückwirkungsverbot, das als normativen Referenzpunkt das Völkerrecht im Allgemeinen hat und insofern die allgemeinen Rechtsgrundsätze explizit erwähnt, während es als zeitlichen Referenzpunkt nur den Zeitpunkt der Tatbegehung berücksichtigt. Dies war der ursprüngliche Vorschlag des Special Rapporteur. Zweitens: Ein Rückwirkungsverbot, das als normativen Referenzpunkt den Code an sich hat und als zeitlichen Referenzpunkt in Sinne einer Grenze seiner zeitlichen Anwendung das Inkrafttreten des Code berücksichtigt, ohne die Verurteilung der core crimes auf der Basis anderer Völkerrechtsquellen zu verhindern. Dies entsprach dem Art. 10 des Draft Code von 1991 und dem Art. 13 des Draft

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Code von 1996. Drittens: Ein Rückwirkungsverbot, das zwischen core crimes und treaty crimes unterscheidet, wobei im ersten Fall alle Völkerrechtsquellen relevant sind, während lediglich das geschriebene Recht, d. h. Völkerrechtsverträge, im zweiten Fall zu berücksichtigen ist. Mit keiner dieser Bestimmungen versuchte die ILC, das Verständnis der Völkerrechtsquellen, die die Entwicklung des Völkerstrafrechts ermöglicht hat, zu verändern oder die Kodifikation als einzigen oder privilegierten Mechanismus zur Kriminalisierung von Handlungen auf völkerrechtlicher Ebene zu errichten. Somit kann auch behauptet werden, dass keine der Bestimmungen über das NCSL-Prinzip, die von der ILC vorgeschlagen wurden, dem sich aus der Differen­zierung zwischen Verbot und Strafbarkeit ergebenden doppelten Standard, der im Abschnitt über die Rechtsprechung der Ad-hocStraftribunale und des SCSL identifiziert wurde, entgegensteht. Der Code hätte den Kriminalisierungsprozess auf internationaler Ebene nicht verändert.634 Tatsächlich wollte die ILC mit dem Code zur Rechtssicherheit im Kontext des Völkerstrafrechts beitragen, ohne dabei das Völkerstrafrecht weniger flexibel zu machen. Die Grundlagen, die in Bezug auf das NCSL-Prinzip im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg und seit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher festgelegt wurden, wurden andauernd in den Diskussionen der ILC berücksichtigt. Eigentlich kann metaphorisch davon gesprochen werden, dass „Nürnberg“ seit den Fünfzigerjahren und sogar während der Sitzungen der Neunzigerjahre in der Arbeit der ILC anwesend war. Die ILC debattierte dazu; sie bezog sich auf die LC und auf das Nürnberger Urteil, um ihre Arbeit hieran zu orientieren. Auf diese Weise trug auch die ILC dazu bei, die Nürnberger Rechtstradition hinsichtlich des NCSL-Prinzips zu konsolidieren.

D. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und die Nürnberger Rechtstradition: Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht? Im IStGH-Statut wurde das NCSL-Prinzip zum ersten Mal in einem S ­ tatut eines internationalen Straftribunals kodifiziert. Das IStGH-Statut wurde am 17.07.1998 von 120 Staaten im Rahmen der in Rom stattgefundenen internationalen Konferenz aufgenommen.635 Am 01.07.2002 trat das IStGH-Statut nach 60 Ra 634

Vgl. Ambos, Der Allgemeine Teil, S. 456–457 (in Bezug auf den Draft Code von 1991) und S. 468 (in Bezug auf den Draft Code von 1996). 635 Die von den VN berufene internationale Konferenz („United Nation Diplomatic Conference of Plenipotentiaries on the Establishment of an International Criminal Court“) fand vom 16.06.1998 bis 17.07.1998 statt. Daran nahmen mehr als 160 Staaten teil, nur sieben dieser Staaten lehnten das IStGH-Statut ab (die Vereinigten Staaten, China, Israel, Irak, Libyen, Jemen und Katar) und 21 Staaten enthielten sich der Stimmabgabe. Außerdem begleiteten 17 zwischenstaatliche Organisationen und über 250 Nichtregierungsorganisationen die Verhandlungen, siehe dazu Werle/Jeßberger, S. 25–28; Ambos, Treatise, Vol.  I, S. 23–25.

D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

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tifizierungen gemäß Art. 126 in Kraft.636 Interessanterweise hat dieses Instrument zwei Normen, die sich auf das NCSL-Prinzip beziehen. Beide müssen berücksichtigt werden, um das NCSL-Prinzip in diesem Kontext verstehen zu können. Zum einen ist Art. 22, der die Überschrift „Nullum crimen sine lege“ trägt, zu erwähnen, und zum anderen muss Art. 24, deren Überschrift „Rückwirkungsverbot ratione personae“ lautet, analysiert werden. Art. 22 hat drei Absätze und regelt verschiedene Aspekte des NCSL-Prinzips. Der erste Absatz enthält eine allgemeine Formulierung, der zufolge eine Person nur dann nach diesem Statut strafrechtlich verantwortlich ist, „wenn das fragliche Verhalten zur Zeit der Tat den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens erfüllt“. Dies wird mit dem Prinzip der strict construction und dem Analogieverbot ergänzt, die im zweiten Absatz vorgesehen sind.637 Der dritte Absatz besagt, dass dieser Artikel nicht bedeutet, „dass ein Verhalten nicht unabhängig von diesem Statut als nach dem Völkerrecht strafbar beurteilt werden kann“. Im Unterschied dazu bezieht sich Art. 24 insbesondere auf das Rückwirkungsverbot und schreibt im ersten Paragraf vor, dass niemand nach dem IStGH-Statut für ein Verhalten, das vor Inkrafttreten des Statuts stattgefunden hat, strafrechtlich verantwortlich ist.638 Vor diesem Hintergrund ist es möglich, sich zu fragen, ob das IStGH-Statut in Bezug auf die Weise, in der das NCSL-Prinzip bisher verstanden worden ist, einen Wendepunkt in der Entwicklung des Völkerstrafrechts darstellt. Anders ausgedrückt: Hat das IStGH-Statut sich hinsichtlich des NCSL-Prinzips von der Nürnberger Rechtstradition losgelöst und wenn ja, inwiefern? Wenn Art. 22 und 24 IStGH-Statut zusammen gelesen werden, muss freilich im Prinzip angenommen werden, dass das geschriebene Recht im Kontext des IStGH eine besondere Rolle spielt. Denn das IStGH-Statut selbst bildet den normativen Referenzpunkt des NCSL-Prinzips, wie es hier definiert ist.639 Außerdem spricht die Aufnahme des Prinzips der strict construction und des Analogieverbots für eine konservativere bzw. striktere Konzeption als diejenige, die seit dem Nürnberger Prozess und durch die internationalen Menschenrechte und die Rechtsprechung der Ad-hoc 636

Zurzeit hat das IStGH-Statut 124 Vertragsstaaten, siehe die Webseite des IStGH unter: https://asp.icc-cpi.int/en_menus/asp/states%20parties/Pages/the%20states%20parties%20to% 20the%20rome%20statute.aspx (zuletzt aufgerufen am 01.12.2016). 637 Laut Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut: „Die Begriffsbestimmung eines Verbrechens ist eng auszulegen und darf nicht durch Analogie erweitert werden. Im Zweifelsfall ist die Begriffsbestimmung zugunsten der Person auszulegen, gegen die sich die Ermittlungen, die Strafverfolgung oder das Urteil richten“. Die an dieser Stelle zitierte deutsche Fassung des IStGH-Statuts befindet sich auf der Webseite der VN unter: http://www.un.org/depts/german/internatrecht/roemstat 1.html (zuletzt aufgerufen am 01.12.2016). 638 Art.  24 Abs.  2 schreibt die Anwendung des milderen Rechts vor: „Ändert sich das auf einen bestimmten Fall anwendbare Recht vor dem Ergehen des rechtskräftigen Urteils, so ist das für die Person, gegen die sich die Ermittlungen, die Strafverfolgung oder das Urteil richten, mildere Recht anzuwenden“. 639 Vgl. Grover, EJIL 2010, 543 (557).

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Straftribunale entwickelt worden ist.640 Infolgedessen ist der doppelte Standard, der in der vorliegenden Arbeit identifiziert wurde,641 im Kontext des IStGH nicht anzuwenden (abgesehen von der Diskussion über die Anwendbarkeit des IStGHStatuts auf Nicht-Vertragsstaaten). Insofern kann auch behauptet werden, dass die in das IStGH-Statut aufgenommene Konzeption des NCSL-Prinzips dem Verständnis der deutschen Rechtstradition näher steht.642 Allerdings können immer noch einige Aspekte im IStGH-Statut gefunden werden, die es erlauben, zu behaupten, dass der in diesem Kontext verfolgte Ansatz die Nürnberger Rechtstradition nicht völlig leugnet. Ein solcher Ansatz hat des Weiteren keinen Anspruch, die seit dem Nürnberger Prozess entwickelte Konzeption des NCSL-Prinzips im Hinblick auf das Völkerstrafrecht im Allgemeinen zu verändern.643 Um dies zu erklären, sollen die Art. 22 und 24 des IStGH-Statuts sowie einige konkrete Probleme, die die Anwendung des IStGH-Statuts im Lichte des NCSL-Prinzips verursachen kann, näher betrachtet werden.

I. Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs: materielle und prozedurale Dimension Um das NCSL-Prinzip, wie es in das IStGH-Statut inkorporiert wurde, und seine mögliche Wirkung auf das Völkerstrafrecht im Allgemeinen zu verstehen, muss beachtet werden, dass die Formulierung des Prinzips in diesem Kontext eng mit den Bestimmungen über die Gerichtsbarkeit bzw. Zuständigkeit des IStGH ver 640 Siehe insofern Sadat, S. 186; die Vorverfahrenskammer I des IStGH hat mit Hinblick auf Art. 22 IStGH-Statut behauptet, dass sie das NCSL-Prinzip nicht verletze, wenn sie die Prinzipien von lex scripta, lex praevia, lex certa und lex stricta beachte. In diesem Kontext hat sie auch klargestellt, dass die Diskussion über das NCSL-Prinzip getrennt vom Problem des Rechtsirrtums stattfinden muss, d. h., dass die Idee von Vorhersehbarkeit im subjektiven Sinne dabei keine Rolle spielt, vgl. IStGH, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, 2007, Para.  301–303; siehe auch insofern Schabas, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 1998, 400 (408). 641 Siehe oben, zweites Kapitel, E.; drittes Kapitel, C. und viertes Kapitel, B. III. 642 Vgl. Ambos, Treatise, Vol. I, S. 90: „Articles 22–4 […] provide a comprehensive conceptualization of nullum crimen, including all four of its elements generally recognized in civil law jurisdictions“; siehe insofern auch Milanovic, J. Int’l Crim. Just. 2012, 165 (169); siehe kritisch dazu Pellet, in: The Rome Statute, S. 1056: „[T]he negotiators have mechanically transposed an internal legal principle to the international sphere“; siehe auch Sadat, S. 184: „[Article 22(2)] is a direct rejection of common law (and Islamic law) practice and a explicit constraint on the power of the Court’s judges to interpret the definitions of crimes within the Statute“. 643 Vgl. Gallant, S. 333, er unterscheidet zwischen dem NCSL-Prinzip im IStGH-Statut und dem NCSL-Prinzip nach Customary International Law. Letzteres sei durch drei Aspekte gekennzeichnet: die Idee von foreseeability, die „re-characterization of crimes“ und die Annahme der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Rechtsquelle, ebd., S. 357 ff.; siehe Broomhall, in: The Rome Statute, Rn. 14, in ähnlicher Weise spricht Broomhall vom NCSL-Prinzip, wie es in Art. 22 IStGH-Statut definiert ist, und vom NCSL-Prinzip „under general international law“.

D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

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knüpft ist.644 Dies verleiht dem NCSL-Prinzip eine doppelte Dimension: materiell und prozedural.645 Das Statut hat in dieser Hinsicht mehrere miteinander verbundenen Normen, d. h., nicht nur die bereits erwähnten Art. 22 und 24 sind mit Hinblick auf das NCSL-Prinzip relevant.646 Art.  22 und 24 wurden als allgemeine Grundsätze konzipiert und befinden sich deshalb im Teil 3 des Statuts, der gerade die Überschrift „allgemeine Grundsätze des Strafrechts“ trägt. Trotzdem sind diese Normen mit verschiedenen Bestimmungen des Teils 2 direkt verbunden, in denen die Gerichtsbarkeit, Zulässigkeit und das anwendbare Recht geregelt sind. Art. 22 Abs. 1 verweist implizit auf Art. 5 („der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegende Verbrechen“) und auf die Definitionen der Verbrechen, die sich in Art. 6 (Völkermord), 7 (Verbrechen gegen Menschlichkeit), 8 (Kriegsverbrechen) und 8  bis (Aggression) befinden. Art.  22 Abs.  3 wiederholt in gewissem Maße Art. 10 (interessanterweise ist dieser Artikel der einzige Artikel des IStGH-Statut, der keine Überschrift hat), und Art. 24 Abs. 1 ist ein direkter Ausdruck von Art. 11 Abs. 1 („Gerichtsbarkeit ratione temporis“). Das NCSL-Prinzip hat also im Kontext des IStGH zugleich mit zwei mit­ einander verknüpften Fragen zu tun. Zum einen ist zu klären, ob die in einem bestimmten Fall relevanten Taten unter die Definitionen der Verbrechen, die sich im IStGH-Statut befinden, subsumiert werden können und von daher in diesem Kontext strafbar sind (materielle Dimension). Zum anderen muss geprüft werden, ob der IStGH sachlich und zeitlich gesehen überhaupt zuständig für die Verhandlung der relevanten Taten ist (prozedurale Dimension), unabhängig davon, ob sie nach dem Völkergewohnheitsrecht verbrecherisch sind. Es ist daher möglich, die Frage zu stellen, ob die Aufnahme des NCSL-Prinzips im IStGH-Statut insbesondere wegen seiner materiellen Dimension das Verständnis des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht geändert hat. Die doppelte Dimension des NCSL-Prinzips, wie es in das IStGH-Statut aufgenommen wurde, spiegelt sich in den Normen wider, in denen es vorgesehen ist, nämlich 644

In der englischen Fassung des IStGH-Statuts: „jurisdiction“. In der spanischen Fassung: „competencia“. Laut Art. 50 IStGH-Statut sind die Amtssprachen des Gerichtshofs Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch. Die deutsche Sprache gehört nicht dazu. Um zumindest zwei authentische Bezugspunkte über den Inhalt des Statuts zu haben, werden sowohl die englische als auch die spanische Fassung neben der deutschen Version in diesem Abschnitt zitiert. Die englische Fassung des IStGH-Statuts kann unter: https://www. icc-cpi.int/nr/rdonlyres/ea9aeff7-5752-4f84-be94-0a655eb30e16/0/rome_statute_english.pdf (zuletzt aufgerufen am 02.12.2016) ausgesehen werden. Für die spanische Fassung siehe: http://www.un.org/spanish/law/icc/statute/spanish/rome_statute(s).pdf (zuletzt aufgerufen am 02.12.2016). 645 Dies ergibt sich auch aus der Tatsache, dass das IStGH-Statut zwei Dimensionen aufweist; das IStGH-Statut kann Milanovic zufolge als „purely jurisdictional in nature“ oder als „substan­tive in nature“ gesehen werden, Milanovic, J. Int’l Crim. Just. 2012, 165 (171–172); zur doppelten Dimension des IStGH-Statut und die Konsequenzen für das NCSL-Prinzip siehe Milanovic, J. Int’l Crim. Just. 2011, 25 (30–38). 646 Vgl. Gallant, S. 343–342.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Art. 22 und 24.647 Art. 22 Abs. 1 verbindet einen normativen mit einem zeitlichen Referenzpunkt. Als normativer Referenzpunkt dient das Statut,648 während der Zeitpunkt der Tatbegehung den zeitlichen Referenzpunkt bildet.649 Im Unterschied dazu verbindet Art. 24 Abs. 1 zwei zeitliche Referenzpunkte: der Zeitpunkt der Tatbegehung und das Inkrafttreten des Statuts.650 Art. 24 Abs. 1 zeigt folglich relativ klar die prozedurale Dimension des NCSL-Prinzips, weil es sich nur auf die rückwirkende Ausübung der Gerichtsbarkeit bezieht und nicht auf die rückwirkende Anwendung neuer strafbewehrter Verbote. Sowohl die materielle als auch die prozedurale Dimension des NCSL-Prinzips sind dagegen in Art. 22 Abs. 1 zu finden. Art. 22 Abs. 1 hat eine doppelte Dimension, weil diese Bestimmung nicht nur mit der Ausübung der Gerichtsbarkeit innerhalb der Grenzen der sachlichen Zuständigkeit des IStGH, sondern auch mit der Anwendung strafbewehrter Verbote, deren Rechtsgrundlage das Statut selbst ist, zu tun hat. Art. 22 Abs. 1 verweist durch den Ausdruck „den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens“651 auf Art.  5 und auf die Definitionen der Verbrechen, die in Art. 6 bis 8 bis aufgenommen wurden. Die für das Verständnis der doppelten Dimension des Art. 22 Abs. 1 wesentliche Frage ist also, welchen Charakter die letztgenannten Bestimmungen haben. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Staaten von Anfang an die Absicht hatten, die Verbrechen, die unter die materielle Zuständigkeit des IStGH fallen, so präzise wie möglich zu definieren. Insofern ist an dieser Stelle daran zu erinnern, dass das 1994 von der ILC vorgeschlagene Draft Statute die Verbrechen „within the jurisdiction of the Court“ nicht definierte (siehe Art. 20 Draft Statute von 1994). Der Grund dafür war laut der ILC, dass dieses Statut vor allem ein prozedurales Instrument war. Die ILC führte hierzu aus: „It is not its function to define new crimes. Nor is it the function of the statute authoritatively to codify crimes under general international law“.652 Einige internationale Verbrechen (nicht alle) sollten außerdem im Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind definiert werden.653 Die Auffassung der ILC wurde von den Staaten in dem von der Generalversammlung der VN eingerichteten ad hoc Committe on the Establishment of an International Criminal 647 In ähnlicher Weise hat Fischer hinsichtlich des Art. 8 IStGH-Statut behauptet: „Commentators have already concluded from the existence of Article 22 Para. 1 and Article 22 Para. 3, that the list in Article 8 is not only of a jurisdictional nature but that it also comprises a criminal law content“, Fischer, in: Brücken, S. 83. 648 In Art. 22 Abs. 1 heißt es: „nach diesem Statut“, „under this Statute“, „de conformidad con el presente Estatuto“. 649 Nach Art. 22 Abs. 1: „zur Zeit der Tat“, „at the time it takes place“, „en el momento en que tiene lugar“. 650 In Art. 24 Abs. 1 steht: „ein Verhalten […], das vor Inkrafttreten des Statuts stattgefunden hat“, „conduct prior to the entry into force of the Statute“, „conducta anterior a su entrada en vigor“. 651 In den englischen und spanischen Fassungen: „a crime within the jurisdiction of the Court“, „un crimen de la competencia de la Corte“. 652 Siehe YILC 1994, Vol. II (2), S. 38. 653 Ebd.

D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

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Court abgelehnt.654 In dem Bericht, den dieser Ausschuss vorlegte, wurde insofern behauptet: „As regards the specification of crimes, the view was expressed that a procedural instrument enumerating rather than defining the crimes would not meet the requirements of the principle of legality (nullum crimen sine lege and nulla poena sine lege) and that the constituent elements of each crime should be specified to avoid any ambiguity and to ensure full respect for the rights of the accused“.655

Diese Meinung wurde nicht nur im Vorbereitungsausschuss (Preparatory Committee),656 dessen endgültigen Entwurf die Basis für die Verhandlungen in Rom bildete,657 sondern auch während der internationalen Konferenz, in der das IStGHStatut aufgenommen wurde, bestätigt.658 Demnach sollten die Verbrechen in Übereinstimmung mit dem NCSL-Prinzip so detailliert wie möglich definiert werden,659 wenngleich das Statut eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs 654 Dieser Ausschuss wurde nach der Resolution  49/53 vom 09.12.1994 eingerichtet, laut Para. 2: „[T]o review the major substantive and administrative issues arising out of the draft statute prepared by the International Law Commission“. 655 Vgl. United Nations, Report of the Ad Hoc Committee on the Establishment of an International Criminal Court [Doc. Supplement No. 22 (A/50/22)], 1995, S. 12. 656 Siehe Report of the Preparatory Committee on the Establishment of an International Criminal Court, Vol. I (Proceedings of the Preparatory Committee during March-April and August 1996) [Doc. Supplement No. 22 (A/51/22)], Para. 52 (obwohl es hier keine Einigung über die Definitionsmethode und den exhaustiven Charakter einer eventuellen Aufzählung strafbarer Handlungen gab, ebd., Para. 54, 55). 657 Der Vorbereitungsausschuss wurde von der Generalversammlung der VN durch die Resolution 50/46 vom 11.12.1995 eingerichtet, nach Para. 2 dieser Resolution: „[W]ith a view to preparing a widely acceptable consolidated text of a convention for an international criminal court as a next step towards consideration by a conference of plenipotentiaries“. Der endgültige Entwurf eines Statuts eines internationalen Strafgerichtshofs, der vom Vorbereitungsausschuss vorgeschlagen wurde, befindet sich in dem am 14.04.1998 vorgelegten Bericht, siehe United Nations Diplomatic Conference of Plenipotentiaries on the Establishment of an International Criminal Court, Official Records, Vol. III (A/CONF.183/13), S. 5 ff. Die Vorschläge über das NCSL-Prinzip befinden sich in Art. 21 (Nullum crimen sine lege) und 22 (Non-retroactivity) dieses Entwurfs. Ein früherer Entwurf kann im „Report of the inter-sessional meeting from 19 to 30 January 1998 in Zutphen, the Netherlands“ (sog. Zutphen Report) gefunden werden. Die Vorschläge über das NCSL-Prinzip befinden sich unter Art. 15 (A) und 16 (A bis) dieses Entwurfs. 658 Siehe insofern die Aussage der Vertreter folgender Staaten: Japan (2nd plenary meeting), Indonesien (3rd plenary meeting), Singapur (4th plenary meeting), Kuba (5th plenary meet­ ing), Uruguay (8th plenary meeting), Bahrain (8th plenary meeting), Mexiko (3rd meeting, Committee of the Whole), Vereinigte Staaten (3rd meeting, Committee of the Whole), Österreich (4th meeting, Committee of the Whole), Dänemark (4th meeting, Committee of the Whole), Kolumbien (27th meeting, Committee of the Whole), United Nations Diplomatic Conference of Plenipotentiaries on the Establishment of an International Criminal Court Rome, Official Records, Vol. II (Doc. A/CONF.183/13), S. 67, 73, 81, 93, 116, 117, 152, 156, 161 und 283; siehe dazu Schabas, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 1998, 400 (406–407); Sadat, S. 264 ff. 659 Pellet kritisiert mit Nachdruck einen solchen Ansatz. Ihm zufolge war es weder notwendig noch zweckmäßig, die Verbrechen in einer so detaillierten Weise zu definieren, vgl. Pellet, in: The Rome Statute, S. 1056–1059.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

sich im Prinzip vornehmlich mit der Einrichtung des Tribunals und der Feststellung der Grenzen seiner Gerichtsbarkeit sowie mit dem jeweiligen Strafprozesses beschäftigen sollte. Nichtsdestoweniger kodifizierten die Staaten, die an der internationalen Konferenz teilnahmen, in dieser Bemühung nicht nur bestehendes Völkerstrafrecht bzw. Völkergewohnheitsrecht. Sie nahmen im IStGH-Statut als internationale Verbrechen auch mehrere Handlungen auf, deren Strafbarkeit nach Völkergewohnheitsrecht zumindest in jener Zeit fragwürdig war.660 In Rom war nicht umstritten, ob die core crimes nach Völkergewohnheitsrecht bereits strafbar waren. Die Diskussionen hatten vor allem mit den Einzeltaten zu tun, die diese Kategorien umfassten.661 Vor diesem Hintergrund ist z. B. in Bezug auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit behauptet worden, dass der völker­gewohnheitsrechtliche Charakter der erzwungenen Schwangerschaft (Art. 7 Abs.  1 (g) IStGH-Statut), der Verfolgung aus Gründen des Geschlechts (Art.  7 Abs. 1 (h) IStGH-Statut) und sogar des zwangsweisen Verschwindenlassens von Personen fragwürdig sei.662 In gleicher Weise ist der völkergewohnheitsrechtliche Charakter von einigen in Art. 8 als Kriegsverbrechen vorgesehenen Verbrechen in Frage gestellt worden, wie z. B. hinsichtlich der Angriffe gegen humanitäre Hilfsund Friedensmissionen (Art. 8 Abs. 2 (b) (iii) IStGH-Statut), des Führens eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen wird (Art. 8 Abs. 2 (b) (iv) IStGH-Statut), oder der Eingliederung von Kindern unter fünfzehn Jahren in die nationalen Streitkräfte (Art. 8 Abs. 2 (b) (xxvi) und (e) (vii) IStGH-Statut).663 Deshalb kann gesagt werden, dass das Statut an sich hinsichtlich Handlungen dieser Art die Rechtsgrundlage ihrer internationalen Strafbarkeit bildet. Sie wurden durch die Aufnahme des IStGH-Statuts auf völkerrechtlicher Ebene kriminalisiert.664 Dies erlaubt zu behaupten, dass sowohl Art. 5 IStGH-Statut als auch Art. 6, 7 und 8 nicht nur die Gerichtsbarkeit des IStGH im materiellen Sinne durch die Aufzählung bereits bestehender internationaler Verbrechen begrenzen. Zumindest in Bezug auf die Punkte, die nicht das Völkergewohnheitsrecht widerspiegeln, bilden diese Normen auch 660

Vgl. Danilenko, Mich. J. Int’l L. 1999–2000, 445 (481); Bock/Preis, JILPAC 2007, 148 (148); Fischer, in: Brücken, S.  83; Schabas, An Introduction, S.  91–92; Gallant, S.  342; in Rom gab es keine Einigung darüber, ob alle in das Statut aufgenommenen Verbrechen Völkergewohnheitsrecht bildeten, siehe insofern Boot, S. 374–375; Art. 22 Abs. 1 IStGH-Statut setzt nicht voraus, dass die Handlungen nach Völkergewohnheitsrecht strafbar sein müssen, vgl. Broomhall, in: The Rome Statute, Rn. 19. 661 Vgl. Bock/Preis, JILPAC 2007, 148 (149). 662 Siehe insofern Danilenko, Mich. J. Int’l L. 1999–2000, 445 (487); Bock/Preis, JILPAC 2007, 148 (150); Schabas, An Introduction, S. 115: „The most dramatic example of enlarging the scope of crimes against humanity is found in the very substantial list of ‚gender crimes‘“. 663 Vgl. Danilenko, Mich. J. Int’l L. 1999–2000, 445 (488); Bock/Preis, JILPAC 2007, 148 (151–153); Fischer, in: Brücken, S. 96–98; Schabas, An Introduction, S. 139; Gallant, S. 339; siehe Report of the Secretary-General on the establishment of a Special Court for Sierra Leone, Para. 18. 664 Das IStGH-Statut bildet somit in Bezug auf diese Punkte „eine konstitutive Kodifizierung“, siehe Bock/Preis, JILPAC 2007, 148 (150).

D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

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die Rechtsgrundlage „neuer“ strafbewehrter Verbote. Daraus ergibt sich einerseits die doppelte Dimension des Art. 22 Abs. 1 und andererseits die Notwendigkeit, Art. 11 Abs. 1, dem zufolge die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs sich nur auf Verbrechen, die nach Inkrafttreten dieses Statuts begangen werden, erstreckt, in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1, in dem das Rückwirkungsverbot explizit definiert wird, aufzunehmen. Obwohl Art. 22 Abs. 1 auch eine materielle Dimension hat, ändert das NCSLPrinzip, wie es in das IStGH-Statut inkorporiert wurde, nicht die Weise, in der dieses Prinzip seit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und während der Entwicklung des Völkerstrafrechts verstanden worden ist. Wie bereits ausgeführt, verweist Art. 22 Abs. 1 auf Art. 5 und auf die Definitionen der Verbrechen, die in Art. 6 bis 8 dargelegt sind.665 Diese Definitionen wurden nur für den IStGH konzipiert. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, dass alle diese Rechtssätze vor der jeweiligen Aufzählung der Handlungen den Ausdruck „im Sinne dieses Statuts“ beinhalten.666 Sogar in der Definition des Verbrechens der Aggression, die am 11.06.2010 von der Versammlung der Vertragsstaaten in der Konferenz von Kampala aufgenommen wurde, ist dieser Ausdruck zu finden.667 Die in das IStGH-Statut aufgenommenen Definitionen der core crimes haben somit keinen Anspruch, außerhalb des Anwendungsbereichs des Statuts angewendet zu werden, abgesehen von der Tatsache, dass diese Definitionen nach dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts aufgrund der Wirkung zusätzlicher Faktoren völker­ gewohnheitsrechtlichen Charakter erlangt haben können. Die Normen des IStGH-Statuts, die das NCSL-Prinzip definieren, regeln folglich lediglich die Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH. Weder die prozedurale noch die materielle Dimension der Formulierung des NCSL-Prinzips, die sich im IStGH-Statut befindet, legen im Rahmen des Völkerrechts neue Voraussetzungen für den Kriminalisierungsprozess auf internationaler Ebene fest. Das Verständnis der Völkerrechtsquellen, das der Entwicklung der internationalen Verbrechen zugrunde liegt, wurde darüber hinaus durch Art. 22 Abs. 1 und 24 Abs. 1 nicht geändert. Art. 21 IStGH-Statut über das anwendbare Recht ändert diesen Umstand ebenfalls nicht (siehe unten III.). Für die Staaten, die an der internationalen Konferenz in Rom teilnahmen, war klar, dass ihre Aufgabe nicht darin bestand, das ganze Völkerstrafrecht zu kodifizieren oder die weitere Entwicklung des Völkerstrafrechts durch Völkergewohnheitsrecht zu verhindern. Deswegen nahmen sie den Art. 10 auf, dem zufolge der zweite Teil des IStGH-Statuts bestehende oder sich entwickelnde Regeln des Völkerrechts nicht beschränkt bzw. nicht berührt, 665

Vgl. Schabas, The International, S. 543. Siehe Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 2 IStGH-Statut; siehe in Bezug auf die Definition der Verbrechen gegen die Menschlichkeit des IStGH-Statut Schabas, The International, S. 153; in Bezug auf Kriegsverbrechen siehe ebd., S. 195: „[T]he Rome Statute provisions on war crimes […] recognize new crimes […] At the same time, they fall short in some important respects“); siehe auch Sadat, S. 187, 269. 667 Siehe Art. 8 (bis) 1 IStGH-Statut, aufgenommen durch die Resolution RC/Res.6. 666

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

„für andere Zwecke als diejenigen dieses Statuts“,668 und auch Art. 22 Abs. 3, demgemäß die in Art. 22 aufgenommene Formulierung des NCSL-Prinzips es nicht verhindert, eine Handlung unabhängig vom IStGH-Statut nach dem Völkerrecht als strafbar zu beurteilen.669 Die Staaten erkannten deswegen an, dass das Völkerrecht seine eigene Dynamik hat und dass sich das Völkerstrafrecht im IStGHStatut nicht erschöpft. Umgekehrt akzeptierten sie ebenfalls, dass das IStGH-Statut hinsichtlich einiger Themen über das Völkergewohnheitsrecht hinausgeht. Die Definition dieses Grundsatzes im IStGH-Statut hat das „ganze“ Völkerstrafrecht nicht geändert. Anders gesagt: Das Völkergewohnheitsrecht darf immer noch der normative Referenzpunkt des NCSL-Prinzips darstellen. Das Statut der im Jahr 2015 eingerichteten KSC, d. h. ca. 20 Jahre nach der Aufnahme des IStGH-Statuts, bestätigt diesen Punkt. Denn laut Art. 12 dieses Statuts bildet das Völkergewohnheitsrecht „as applicable at the time the crimes were committed“ die grundsätzliche Völkerrechtsquelle, dass in diesem Kontext angewendet werden muss.670

II. Der Internationale Strafgerichtshof und Nicht-Vertragsstaaten: Anwendung des während der Entwicklung des Völkerstrafrechts entstehenden doppelten Standards des NCSL-Prinzips? Die Anerkennung, dass das IStGH-Statut nicht mit dem ganzen Völkerstrafrecht gleichzusetzen ist, ist in der Diskussion über die Anwendung des IStGH-Statuts auf Staatsangehörige von Nicht-Vertragsstaaten (auch Drittstaaten genannt), die Verbrechen im Hoheitsgebiet eines Nicht-Vertragsstaats begangen haben (sei es in seinem eigenen Staat oder in einem anderen), ein relevanter Aspekt gewesen. Der IStGH kann seine Gerichtsbarkeit über Staatsangehörige von Drittstaaten nicht nur dann ausüben, wenn das Verbrechen im Staatsgebiet eines Vertragsstaats stattgefunden hat (Art.  12 Abs.  2 (a)  IStGH-Statut), sondern auch in zwei zusätzlichen Fällen. Entweder weil der Sicherheitsrat dem Ankläger gemäß Art. 13 (b) IStGH-Statut und in Übereinstimmung mit Kapitel VII der Charta der

668

Siehe insofern Triffterer/Heinze, in: The Rome Statute, Rn. 7: „The purpose of article 10 is first, to avoid the impresion that what has thus been codified is […] a reflection of the minimum consent in the community of nations as a whole and second, to guard against these impressions being used to thwart the future development of international law outside the Statute“; siehe auch Schabas, An Introduction, S. 92; Schabas, The International, S. 270; Sadat, S. 262–263. 669 Siehe insofern Boot, S. 375; Broomhall, in: The Rome Statute, Rn. 49: „[T]his paragraph makes clear that, while the nullum crimen principle is one of general international law, the effects of its particular embodiment in this article are limited to the Statute“; siehe auch ­Sadat, S. 186. 670 Die KSC wurden 2015 von dem kosovarischen Parlament und der EU eingerichtet, um Verbrechen, die zwischen dem 1.1.1998 und 31.12.2000 im Kosovo begangen worden sein sollen, abzuurteilen; Art. 12 des KSC-Statuts bezieht sich auch auf „the substantive criminal law of Kosovo insofar as it is in compliance with customary international law“.

D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

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VN eine Situation unterbreitet671 oder wenn ein Nicht-Vertragsstaat beim Kanzler eine Erklärung im Sinne von Art. 12 Abs. 3 IStGH-Statut hinterlegt, d. h., wenn ein Drittstaat die Gerichtsbarkeit des IStGH lediglich ad hoc für eine bestimmte Situation annimmt. In Fällen dieser Art kann gesagt werden, dass das IStGH-Statut zum Zeitpunkt der Begehung der Tat am Tatort nicht galt. Deswegen ist gefragt worden, ob die Aspekte des IStGH-Statuts, die zu diesem Zeitpunkt nicht Völkergewohnheitsrecht bildeten, angewendet werden dürfen. Zwei Auffassungen können diesbezüglich gefunden werden. Einige Autoren meinen, dass die Anwendung der Aspekte des IStGH-Statuts, die zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht Völkergewohnheitsrecht bildeten, das NCSL-Prinzip verletze. Denn dies impliziere die rückwirkende Anwendung neuen Rechts.672 Laut diesen Autoren gilt das NCSL-Prinzip auch im Völkerrecht u. a. wegen seiner Anerkennung in den internationalen Menschenrechten, obwohl dieser Grundsatz in diesem Kontext eine gewisse Flexibilität hat. Im Gegensatz dazu ist auch behauptet worden, dass allein das Bestehen des IStGH-Statuts die erforderliche fair warning und Vorhersehbarkeit gewährleiste, wie es z. B. vom EGMR definiert worden ist.673 Außerdem ist ausgeführt worden, dass das Statut heutzutage von 120 Staaten rati­ fiziert worden ist. Die rückwirkende Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH an sich ist im Lichte des NCSL-Prinzips aus völkerrechtlicher Sicht nicht problematisch, obwohl die Legitimität des Sicherheitsrats der VN oder eines Drittstaats, um solche ad hoc Verweise durchzuführen, in Frage gestellt werden kann, insbesondere wenn es berücksichtigt wird, dass die Entscheidung des Drittstaats auch Staatsangehörige von anderen Nicht-Ver­tragsstaaten betreffen kann.674 In diesen Fällen ähnelt die 671

Wie Bock und Preis behaupten, ist die Gerichtsbarkeit des IStGH „in Anlehnung an das Territorialitätsprinzip und das aktiven Personalitätsprinzip ausgestaltet“. Deswegen kann der IStGH nach Art. 12 Abs. 2 IStGH-Statut seine Gerichtsbarkeit nur dann ausüben, wenn entweder der Staat, wo das Verbrechen begangen wurde, oder der Täterstaat Vertragsstaat des IStGHStatuts ist, siehe Bock/Preis, JILPAC 2007, 148 (153). Die Ausübung der Gerichtsbarkeit aufgrund der Verweise, die der Sicherheitsrat der VN durchführen darf, bildet eine Ausnahme zu diesen Kriterien. Aus diesem Grund behauptet Danilenko, dass dies eine Art „universelle Jurisdiktion“ bildet, siehe Danilenko, Mich. J. Int’l L. 1999–2000, 445 (456). 672 Siehe insofern Bock/Preis, JILPAC 2007, 148 (153–154); Danilenko, Mich.  J.  Int’l  L. 1999–2000, 445 (466–469); Fischer, in: Brücken, S.  84; Broomhall, in: The Rome Statute, Rn.  20; Gallant, S.  342–343; hinsichtlich des Verbrechens der Aggression siehe Milanovic, J. Int’l Crim. Just. 2012, 165 (169–171). 673 Vgl. Schabas, An Introduction, S. 74. 674 Dies kann der Fall von Staaten, wie z. B. die Ukraine und Staatangehörige anderer Drittstaaten sein, wie z. B. Russland. Die Ukraine akzeptierte am 17.04.2014 und danach auch am 08.09.2015 durch zwei Erklärungen nach Art. 12 Abs. 3 IStGH-Statut die Gerichtsbarkeit des IStGH in Bezug auf Taten, die seit dem 21.11.2013 durchgeführt wurden. Siehe die Information über die „preliminary examination“ auf der Webseite des IStGH unter https://www.icc-cpi.int/ ukraine (zuletzt aufgerufen am 16.12.2016). Auf diese Weise wäre es für den Ankläger des IStGH möglich, eine Ermittlung gegen russische Soldaten, die im ukrainischen Staatsgebiet Verbrechen begangen haben, aufgrund der von der Ukraine hinterlegten Erklärungen durchzuführen.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Situation jener der anderen internationalen Straftribunale. Deswegen kann man von einem theoretischen Standpunkt aus bzgl. der Legitimität sowohl auf die theoretischen Prämissen, die der Entwicklung des Völkerstrafrechts zugrunde liegen, als auch auf seine ideologische Grundlage, wie sie im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit festgestellt wurde,675 verweisen. Die vom Völkerstrafrecht als Mechanismus zum Schutz des Individuums im Kontext massenhafter Gewalt beanspruchte moralische Überlegenheit soll insofern in Betracht kommen. Inwieweit dies anzunehmen oder kritisch zu bewerten ist, ist eine Frage, die außerhalb des Zieles dieser Arbeit liegt. Im Lichte des NCSL-Prinzips, wie es im Völkerrecht verstanden wird, ist die Legitimität der rückwirkenden (ad hoc)  Ausübung der Gerichtsbarkeit seitens des IStGH jedenfalls nicht schwächer als die Legitimität z. B. der Nürnberger IMG oder des Ad-hoc-Straftribunals für das ehemalige Jugoslawien oder Ruanda. Die entscheidende Frage insofern ist deshalb dieselbe: also ob das materielle Recht bereits zum Zeitpunkt der Begehung der Tat bestand und für den Angeklagten anwendbar war. Insofern darf behauptet werden, dass die konkrete Analyse jeder fragwürdigen Bestimmung ratsamer als eine generelle oder umfassende Bewertung des IStGHStatuts zu sein scheint. Dafür ist der vor dem Hintergrund der Nürnberger Rechtstradition entwickelte und in der vorliegenden Arbeit identifizierte doppelte Standard des NCSL-Prinzips relevant, wobei das Bestehen des IStGH-Statuts und die Zahl der Vertragsstaaten in jedem relevanten Zeitpunkt freilich als wichtige Aspekte zu berücksichtigen sind. Aber auch weitere Elemente, wie z. B. die Implementierung auf nationaler Ebene des konkreten problematischen Punktes, neben der nationalen und internationalen Rechtsprechung über das jeweilige Thema, sollen in Betracht gezogen werden.676 Es darf nicht vergessen werden, dass die Definitionen der Verbrechen, die in das IStGH-Statut aufgenommen wurden, nach der expliziten Absicht der Versammlung der Vertragsstaaten im Prinzip nur für den Kontext des IStGH konzipiert wurden. Deswegen sollte nicht allein das Statut die Rechtsgrundlage ihrer allgemeinen Geltung sein.677 675

Siehe oben, drittes Kapitel, vor allem A. IV, B. III. 5. und IV. Insofern ist auf Art. 38 WÜRV hinzuweisen, wonach eine vertragliche Bestimmung als ein Satz des Völkergewohnheitsrechts für einen Drittstaat verbindlich sein kann, wenn dieser als solcher anerkannt ist. 677 Dieses Thema scheint jedoch nicht problematisch für den IStGH zu sein. Als Beispiel kann der Fall von Abdallah Banda und Saleh Mohammed erwähnt werden. Dieses Fall gehört zur Situation in Darfur (Sudan); eine der Situationen, die vom Sicherheitsrat der VN verwiesen worden sind. Diese zwei Personen wurden gemäß Art. 8 Abs. 2 (e) (iii) IStGH-Statut u. a. wegen des vorsätzlichen Angriffs auf Personal, Einrichtungen, Material, Einheiten oder Fahrzeuge, die an einer friedenserhaltenden Mission beteiligt waren, angeklagt. Hinsichtlich der Gerichtsbarkeit des IStGH behauptete die Vorverfahrenskammer I in diesem Fall: „The Chamber notes that (i) regarding the jurisdiction ratione loci, although the events forming the subject of the Prosecutor’s Application took place in Sudan, which is not a State Party to the Statute, the Situation in Darfur, Sudan, was referred to the Court by the Security Council under article 13(b) of the Statute; (ii) in relation to the jurisdiction ratione temporis, the allegations contained in the Application relate to conduct which allegedly occurred on 29 September 2007 676

D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

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III. Handlungen, die im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nicht erwähnt sind, aber nach Völkergewohnheitsrecht strafbar sein können: Auslegung, strict construction und Lückenausfülung Der IStGH ist laut Art. 11 Abs. 1 IStGH-Statut für die vor seinem Inkrafttreten begangenen Verbrechen nicht zuständig. Die Verurteilung in solchen Fällen würde das Rückwirkungsverbot im Sinne des Art. 24 Abs. 1 verletzen. Vor diesem Hintergrund wurde bereits ausgeführt, dass die Definitionen der Verbrechen, die sich im IStGH-Statut befinden, im Prinzip nur im Kontext des IStGH angewendet werden müssen und dass die core crimes unabhängig vom IStGH-Statut in Übereinstimmung mit Art. 10 und 22 Abs. 3 IStGH-Statut weiterentwickelt werden können. Daraus ergibt sich die Frage, ob der IStGH für Handlungen zuständig sein kann, die nach seinem Inkrafttreten hätten durchgeführt werden können und der anschließenden Entwicklung des Völkerrechts zufolge core crimes bilden würden, jedoch nicht in das IStGH-Statut inkorporiert worden sind. Um diese Frage beantworten zu können, soll zwischen zwei Situationen unterschieden werden. Zum einen sind die Handlungen zu erwähnen, die eine neue Kategorie von core crimes neben den vier Verbrechen bilden können, die bereits im IStGH-Statut zu finden sind, wie z. B. der Fall des internationalen Terrorismus.678 Zum anderen sind die Handlungen zu nennen, die nach Völkergewohnheitsrecht z. B. unter den Kategorien der Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit subsumiert werden können, obwohl sie im IStGH-Statut nicht explizit vorgesehen sind, wie etwa das Verbrechen der Zwangsverheiratung.679 Hinsichtlich der ersten Situation darf behauptet werden, dass der IStGH nicht zuständig wäre. Insofern ist Art.  5 IStGH-Statut deutlich: „Die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs erstreckt sich in Übereinstimmung mit diesem Statut auf folgende Verbrechen: a) das Verbrechen des Völkermords; b) Verbrechen gegen die Menschlichkeit; c)  Kriegsverbrechen; d)  das Verbrechen der Aggression“. Eine Verurteilung wegen eines anderen Verbrechens würde somit gegen Art. 22 Abs. 1 IStGH-Statut verstoßen. Der Zeitpunkt der Tatbegehung sowie das zu diesem Zeitpunkt geltende Völkergewohnheitsrecht sind in diesem Zusammenhang irrelevant. Es darf nicht vergessen werden, dass die Änderungen des Statuts, darunter auch and, therefore, after 1 July 2002, date of entry into force of the Statute; and (iii) regarding the jurisdiction ratione materiae, the factual allegations contained in the Application, if proven, would give rise to criminal responsibility for war crimes punishable under […] article 8(2)(e) (iii) (attack on a peacekeeping mission) of the Statute.“, IStGH, Prosecutor v. Abdallah Banda Abakaer Nourain and Saleh Mohammed Jerbo Jamus, 2009, Para. 2. Siehe auch in Bezug auf diesen Fall: Corrigendum of the Decision on the Confirmation of Charges, 2011, Para. 26. 678 Vgl. STL, Interlocutory decision on the applicable law, 2011, Para.  85, 90, 107; siehe dazu Broomhall, in: The Rome Statute, Rn. 61–62; Ambos, LJIL 2011, 655 (665 ff.), Ambos bezieht sich auf den besonderen Status des Verbrechens des Terrorismus als „a ‚special‘ transnational offence that may come closer to a true international crime than ‚ordinary‘ transnational offences“, ebd., S. 671. 679 Siehe dazu oben, viertes Kapitel, B. II. 2.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

die Änderungen der sachlichen Zuständigkeit, wie sie in Art. 5 festgelegt worden ist, laut Art.  121 IStGH-Statut nur von der Versammlung der Vertragsstaaten durchgeführt werden dürfen.680 In Bezug auf die zweite Situation ist die Antwort jedoch nicht so eindeutig. Die Definitionen der internationalen Verbrechen, die insbesondere in Art.  7, 8 und 8 bis aufgenommen wurden, enthalten einige unbestimmte Elemente bzw. Ausdrücke, deren Auslegung dazu führt, die Entwicklung des Völkerrechts außerhalb des IStGH-Statuts zu berücksichtigen. Daraus ergibt sich trotz der Bemühungen der Staaten, die strafbaren Handlungen möglichst präzise zu formulieren, ein gewisser Entscheidungsspielraum, wobei der IStGH durch die Interpretation verschiedener Rechtsquellen nicht explizit erwähnte Handlungen beispielsweise als Kriegsverbrechen oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestrafen kann. Die folgenden Ausdrücke können insofern erwähnt werden: „Beraubung der körperlichen Freiheit unter Verstoß gegen die Grundregeln des Völkerrechts“ (Art.  7 Abs.  1 (e)  IStGH-Statut), „Verfolgung“ (Art.  7 Abs.  1 (h) IStGH-Statut), „andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art“ (Art. 7 Abs. 1 (k) IStGH-Statut), „großes Leiden“ (Art. 8 Abs. 2 (a) (iii) IStGH-Statut), „Beeinträchtigung der persönlichen Würde“ und „entwürdigende und erniedrigende Behandlung“ (Art.  8 Abs.  2 (b) (xxi) und (c) (ii) IStGH-Statut), „jede andere Form sexueller Gewalt“ (Art. 7 Abs. 1 (g), Art. 8 Abs. 2 (b) (xxii) und (e) (vi) IStGH-Statut) und „grausame Behandlung“ (Art. 8 Abs. 2 (c) (i) IStGH-Statut). In einigen Bestimmungen gibt es sogar explizite Verweise auf andere Quellen des Völkerrechts, wie z. B. in Art. 7 Abs. 1 (e) IStGH-Statut („gegen die Grundregeln des Völkerrechts“) oder in Art. 7 Abs. 1 (h) und 7 Abs. 2 (g), die das Verbrechen der Verfolgung definieren.681 Auch das Element „or in any other manner inconsistent with the Charter of the United

680 Vgl. Broomhall, in: The Rome Statute, Rn. 42; hinsichtlich des vom IStGH anwendbaren Rechts bezieht sich deGuzman auf „the reluctance of some states to relinquish control over the law that could be applied to their nationals“, deGuzman, in: The Rome Statute, Rn. 9; siehe auch Boot, S. 388–389: „[T]he Court is only allowed to exercise jurisdiction over crimes that were included by states participating in the Conference“; siehe auch Schabas, The International, S. 543. 681 In Art. 7 Abs. 2 befindet sich die Definition einiger der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im ersten Absatz des Art. 7 nur erwähnt aber nicht definiert werden; dies ist z. B. der Fall für das Verbrechen der Ausrottung (Art. 7 Abs. 1 (b) und 7 Abs. 2 (b) IStGH-Statut), Folter (Art. 7 Abs. 1 (c) und 7 Abs. 2 (c) IStGH-Statut) oder Versklavung (Art. 7 Abs. 1 (c) und 7 Abs. 2 (c) IStGH-Statut). Das Verbrechen der Verfolgung wurde in Art. 7 Abs. 1 (h) nicht nur erwähnt. In dieser Bestimmung sind auch mehrere Elemente dieses Verbrechens zu finden. Hier steht gerade der erste Verweis auf das Völkerrecht in Bezug auf dieses Verbrechen: „Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft […] oder aus anderen nach dem Völkerrecht universell als unzulässig anerkannten Gründen“. Art. 7 Abs. 2 (g) präzisiert weiter die Definition der Verfolgung und besagt auch unter Verweis auf die internationalen Menschenrechte: „[B]edeutet ‚Verfolgung‘ den völkerrechtswidrigen, vorsätzlichen und schwer wiegenden Entzug von Grundrechten“; siehe dazu Hall et al., in: The Rome Statute, Rn. 84–85; Ambos, Treatise, Vol. II, S. 104–108; Witschel/Rückert, in: The International Criminal Court, S. 96.

D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

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Nations“, das sich im zweiten Absatz von Art. 8 bis über „act of aggression“ befindet, ist insofern relevant.682 In diesem Zusammenhang sind Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut, in dem das Prinzip der strict construction und das Analogieverbot vorgesehen sind, in Verbindung mit Art. 21 IStGH-Statut, der das vom IStGH anwendbare Recht regelt, besonders relevant. Es soll aber behauptet werden, dass sowohl die Feststellung der Bedeutung der im letzten Absatz erwähnten Ausdrücke als auch die Analyse der Auslegungsmethoden und der Analogie im Kontext des IStGH-Statuts eine bestimmte Untersuchung voraussetzen und sich außerhalb der Ziele der vorliegenden Arbeit befinden.683 Die folgenden Erwägungen sollen jedenfalls an dieser Stelle genügen. Art.  22 Abs.  2 ist die Konsequenz daraus, dass das IStGH-Statut ein völkerrechtlicher Vertrag und deswegen der Ausdruck des Konsenses der an seiner Entstehung beteiligenden Staaten ist. Bei der Aufnahme des IStGH-Statuts handelten die Vertragsstaaten somit als „Gesetzgeber“.684 In diesem Kontext haben die Staaten die Rechtsetzungsbefugnis. Dies bildet eine der wichtigsten Unterschiede zwischen dem IStGH und den Ad-hoc-Straftribunalen. Denn der Sicherheitsrat der VN beanspruchte bei der Einrichtung der Ad-hoc-Straftribunale in Bezug auf das materielle Recht keine Rechtsetzungsbefugnis. Das vom IStGH anzuwendende Recht wurde somit von den Staaten festgelegt, während der IStGH dieses Recht lediglich anwenden bzw. auslegen darf. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen. Zum einen ist die Aufzählung der Rechtsquellen, die in Art. 21 IStGH-Statut in einer hierarchischen Weise aufgenommen wurde, zu nennen.685 In dieser Norm sind das Statut und die „Verbrechenselemente“ („Elements of crimes“) neben der Verfahrens- und Beweisordnung („Rules of Procedure and Evidence“) an erster Stelle erwähnt.686 682 Zu den Problemen hinsichtlich der Bestimmtheit der in Art. 8 bis aufgenommenen Definition des Verbrechens der Aggression siehe Paulus, EJIL 2010, 1117 (1119–1121); zum nicht erschöpfenden Charakter der Handlungsliste des Art. 8 bis Abs. 2 IStGH-statut siehe Kreß, The State, in: The Crime, S. 435–436; Ambos meint allerding dazu: „[T]he list of acts contained in Article 8bis (2) can neither be open nor ‚semi-open‘ but must be considered exhaustive“, Ambos, German Y. B. Int’l L. 2010, 465 (487). 683 Zur Bedeutung des Art. 21 und 22 IStGH-Statut bei der Interpretation der in Art. 6 bis 8 IStGH-Statut definierten Verbrechen siehe Grover, EJIL 2010, 543. 684 Vgl. Boot, S. 362. 685 Siehe IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, 2016, Para. 66; IStGH, Prosecutor v. Germain Katanga, 2014, Para. 39; siehe dazu deGuzman, in: The Rome Statute, Rn. 1; dies bildet einen wichtigen Unterschied mit Art. 38 IGH-Statut, in dem keine Hierarchie unter den Völkerrechtsquellen festgelegt wurde, siehe Cryer, New Crim. L. Rev. 2009, 390 (393– 394); diese Hierarquie gilt nur im Rahmen des IStGH, denn Art. 21 befindet sich in Teil 2 des IStGH-Statuts und nach Art. 10 ist dieser Teil nicht so auszulegen, als beschränke oder berühre er bestehende oder sich entwickelnde Regeln des Völkerrechts; siehe auch Pellet, in: The Rome Statute, S. 1076–1077 und Schabas, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 1998, 400 (404). 686 Die „Verbrechenselemente“ sowie die Verfahrens- und Beweisordnung wurden von der Versammlung der Vertragsstaaten in ihrer ersten Sitzung aufgenommen, siehe Assembly of States Parties to the Rome Statute, S. 10 ff., 108 ff.; zu den „Verbrechenselementen“ siehe von Hebel, in: The International Criminal Court, S. 4–13; zur Verfahrens- und Beweisordnung siehe Fernández de Gurmendi, in: The International Criminal Court, S. 235–257.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Zum anderen muss die Aufnahme des Prinzips der strict construction und des Analogieverbots in Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut erwähnt werden, nach dem die Begriffsbestimmungen der Verbrechen eng auszulegen sind und nicht durch die Analogie erweitert werden dürfen.687 Art. 21 und 22 Abs. 2 verleihen dem IStGH im Prinzip eine untergeordnete Rolle.688 Das NCSL-Prinzip wurde daher in das IStGH-Statut nicht nur inkorporiert, um ein Mindestmaß an Rechtssicherheit zu gewährleisten, sondern auch um den Zusammenhang zwischen der Versammlung der Vertragsstaaten als „rechtserzeugendes“ Organ und dem IStGH zu regulieren. Das NCSL-Prinzip ist somit im Kontext des IStGH mit einer Art „Gewalten­ teilung“ verknüpft.689 Art. 22 Abs. 2 ist also darauf gerichtet, die Schaffung neuer strafbewehrter Verbote durch richterliche Auslegung zu verhindern. Die sachliche Zuständigkeit des IStGH soll gemäß Art. 22 Abs. 2 durch die Auslegung der in Art. 5 erwähnten und in Art. 6 bis 8 definierten Verbrechen nicht verändert werden.690 Der IStGH sollte somit einen restriktiveren Ansatz als derjenige der Ad-hoc-Straftribunale verfolgen.691 Die Frage ist jedoch, wo die Grenzen dieses Ansatzes gezogen werden können. Die Antwort darauf ist freilich nicht eindeutig. Vor diesem Hintergrund ist behauptet worden, dass Art. 22 Abs. 2 die fortschreitende richterliche Klarstellung der in das IStGH-Statut aufgenommenen Definitionen nicht verbiete, solange das Prinzip der fair warning beachtet werde.692 Art. 22 Abs. 2 verhindere also die Verurteilung wegen eines wesentlich anderen Verbrechens, nicht aber jede Form analogischer Denkweisen bei der Auslegung der im IStGH-Statut enthaltenen Bestimmungen.693 Das Statut selbst sehe folglich einige Fälle vor, die zu einer Art „controlled use of analogy“ führen.694 Als Beispiele könnten gerade Ausdrücke wie z. B. „jede andere Form sexueller Gewalt“ (Art. 7 Abs. 1 (g), Art. 8 Abs. 2 (b)  (xxii) und (e)  (vi) IStGH-Statut) oder „andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art“ (Art. 7 Abs. 1 (k) IStGH-Statut) erwähnt werden (siehe jedenfalls oben, viertes Kapitel, Abs. II. 2. b., wo festgestellt wurde, dass dies keine Fälle einer Analogie im Sinne einer Lückenausfüllung bilden). Bei der Interpretation dieser Ausdrücke ist es somit möglich, den von der EGMR festgelegten Standard anzuwenden, nach dem die richterliche graduelle Fortentwicklung der strafrecht 687 Siehe IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, 2016, Para. 83: „The Chamber […]is bound to adhere to the letter of the provisions aimed at reprimanding only conduct the drafters expressly intended to criminalise“. Siehe auch IStGH, Prosecutor v. Germain Katanga, 2014, Para. 52. 688 Vgl. Boot, S. 362. 689 Ebd.; siehe auch Sadat, S. 183. 690 Vgl. Broomhall, in: The Rome Statute, Rn. 37, 42. 691 Vgl. Boot, S. 392; Broomhall, in: The Rome Statute, Rn. 36. 692 Insofern Broomhall, in: The Rome Statute, Rn. 38. 693 Ebd., Rn. 42, 43 („Analogy […] remains a valid and indeed necessary tool with which to construe the definition of crimes within the Statute“) und 44; Grover, in: The Crime, S. 380 („Article 22(2) does not prohibit logical reasoning by analogy“). 694 Vgl. Broomhall, in: The Rome Statute, Rn. 42, 43.

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lichen Normen das NCSL-Prinzip nicht verletzt, solange eine solche Entwicklung den Kern des relevanten strafbewehrten Verbots nicht verändert.695 Bei der Interpretation dieser unbestimmter Ausdrücke sind jedenfalls weitere Völkerrechtsquellen zu berücksichtigen.696 Art. 21 Abs. 1 erwähnt als die vorrangig vom IStGH anzuwendenden Rechtsquellen das Statut und die „Verbrechenselemente“ (neben der Verfahrens- und Beweisordnung). Die „Verbrechenselemente“ sollen dem IStGH laut Art. 9 Abs. 1 IStGH-Statut bei der Auslegung und Anwendung der Art.  6, 7 und 8 helfen und sind als „integral part of the primary sources of applicable law“ zu betrachten.697 Trotzdem sind die „Verbrechenselemente“ nicht immer hilfreich, weil sie in einigen Fällen nur die Elemente widerholen, die bereits im IStGH zu finden sind. Dies geschieht z. B. in Bezug auf die „anderen unmenschlichen Handlungen ähnlicher Art“ im Rahmen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die „Verbrechenselemente“ definieren eigentlich nicht, was eine unmenschliche Handlung ist. Sie wiederholen nur beispielsweise als objektive Elemente, dass der Täter „great suffering, or serious injury to body or to mental or physical health“ verursachen muss (erstes Element), dass die Handlung einen ähnlichen Charakter zu den anderen in Art. 7 Abs. 1 erwähnten Handlungen aufweisen (zweites Element) und im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen werden muss (viertes Element).698 Diese drei Elemente ergeben sich schon aus dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 (k) IStGH-Statut.699 In diesen Situationen ist es dem IStGH deswegen erlaubt, auf das Völkerrecht 695

Siehe oben, viertes Kapitel, A. III. Siehe Pellet, in: The Rome Statute, S. 1035, wo er die Unterschiedung zwischen „proper law of the ICC“ (dazu ebd., S. 1054 ff.) und „law […] external to it“ (dazu ebd., S. 1057 ff.) vorschlägt, um die Rechtsquellen im Kontext des IStGH-Statuts zu erklären; siehe auch Sadat, S. 177, 270. 697 Vgl. IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, 2016, Para. 66–68; IStGH, Prosecutor v. Germain Katanga, 2014, Para. 41; die „Verbrechenselemente“ haben jedoch keine bindende Wirkung, sie wurden lediglich als Hilfsmittel zur Auslegung der Verbrechen konzipiert; die Tatsache, dass sie in Art. 21 Abs. 1 neben dem IStGH-Statut erwähnt werden, bedeutet nicht, dass sie die gleiche bindende Kraft wie das Statut haben (von Hebel, in: The International Criminal Court, S.  7–8). Deswegen besagt Art.  9 Abs.  3 IStGH-Statut, dass die „Verbrechenselemente“ und ihre Änderungen mit dem Statut vereinbar sein müssen. 698 Siehe dazu Witschel/Rückert, in: The International Criminal Court, S. 106–108. 699 Der Ausdruck „jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere (Art.  7 Abs. 1 (g) IStGH), der übrigens in Art. 7 Abs. 2 IStGH nicht präzisiert wurde (abgesehen von der Definition von „erzwungener Schwangerschaft“ in Art. 7 Abs. 2 (f) IStGH-Statut) bildet ein anderes Beispiel. In den „Verbrechenselementen“ wurde das Verbrechen von „sexual violence“ vor allem durch den Ausdruck „an act of a sexual nature“ definiert, der auch unbestimmt ist und nichts über die Bedeutung des Elements „jede andere Form sexueller Gewalt“ sagt. Die Elemente 2 und 4 bestätigen ferner nur, dass die Handlung vergleichbar zu den anderen in Art. 7 Abs. 1 (g) erwähnten Handlungen sein muss und dass die Tat im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen werden muss. Um feststellen zu können, welche konkreten Handlungen unter solchem Ausdruck subsumiert werden können, kann beispielsweise auf den ICRC-Kommentar der Elemente der Kriegsverbrechen zurückgegriffen werden, weil dieser Ausdruck sich auch in Art. 8 Abs. 2 (b) (xxii) und (e) (vi) IStGH-Statut befindet, die jeweils auf die GK und auf den gemeinsamen Art.  3 verweisen. 696

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im Allgemeinen zurückzugreifen, d. h. auf Völkerrechtsverträge, auf das Völkergewohnheitsrecht und auf allgemeine Rechtsgrundsätze, um die jeweilige Auslegung durchzuführen. Dies wurde von der Strafkammer III des IStGH anerkannt: „[I]t needs to be stressed that the bar on the use of analogy does not prevent the Chamber from resorting to other sources of law whenever necessary to determine the precise content of the definition of a specific criminal conduct […] The Chamber further notes that the Statute itself, in many of its provisions, entrusts the judges with the judicial task of identifying, in other primary or even secondary sources of law, the required elements for the definition of a specific conduct. Classical examples include […] the crime against humanity of ‚other inhumane acts of a similar character‘“.700

Bei der Auslegung des IStGH-Statuts sollen also die in Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WÜRV) festgelegten Kriterien verfolgt werden, da das IStGH-Statut vor allem ein Völkerrechtsvertrag ist.701 Gerade Art.  31 führt zur Berücksichtigung anderer Völkerrechtsquellen, wenn man einen Völkerrechtsvertrag interpretiert. In Art.  31 Abs.  1 WÜRV befindet sich eine allgemeine Auslegungsregel, die mehrere Kriterien umfasst. Laut dieser Norm ist ein Vertrag „nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen“. Diese Kriterien (die gewöhnliche Bedeutung der Termini der Vertragsbestimmungen, der Zusammenhang des Vertrags und seines Zieles und Zweckes) sollen zusammen nach Treu und Glauben berücksichtigt werden, „simultaneously […] in a single process of interpretation“.702 Die Strafkammer II des IStGH spricht insofern von einem holistischen Ansatz.703 Darüber hinaus erwähnt Art. 31 Abs. 3 weitere Elemente, die auch zu berücksichtigen sind, darunter „jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz“ („any relevant rules of international law“).704 Vor diesem Hintergrund soll nicht nur die Bedeutung der Rechtsprechung des IStGH selbst (gemäß Art. 21 Abs. 2 IStGHIn diesem Kommentar ist die Bedeutung dieses Ausdrucks jedoch unter Verweis auf die Rechtsprechung der Ad-hoc-Straftribunale weiter präzisiert (siehe Dörmann, Elements of War Crimes under the Rome Statute of the International Criminal Court, S.  331–332, 341–343, 468–469). Es ist jedenfalls zu bedenken, dass dieser Ausdruck sogar im Kontext des IStGHStatuts „should be used as a ‚safety net‘ to enable the prosecution of any serious act of a sexual nature […] if the conduct in question does not amount to any other gender crimen“, La Haye, in: The International Criminal Court, S. 198. 700 Vgl. IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, 2016, Para. 83, 85. 701 Ebd., Para.  75; siehe auch IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, 2009, Para. 361, hier führte die Kammer unter Verweis auf Art. 31 WÜRV eine grammatikalische Auslegung des Art. 30 IStGH-Statut durch, um festzustellen, dass Art. 30 das dolus eventualis nicht umfasst. Die Kammer verwies in Überreinstimmung mit Art. 32 WURV auch auf die­ travaux préparatoires des IStGH-Statuts. 702 Vgl. IStGH, Prosecutor v. Germain Katanga, 2014, Para. 45; IStGH, Prosecutor v. JeanPierre Bemba Gombo, 2016, Para. 77. 703 Vgl. IStGH, Prosecutor v. Germain Katanga, 2014, Para. 45. 704 Vgl. Art. 31 Abs. 3 (c) WÜRV.

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Statut),705 sondern auch der Rechtsprechung weiterer internationaler Straftribunale (als Interpretationsmittel) betont werden. In diesem Sinne hat sich die Strafkammer II des IStGH geäußert: „Where the founding texts do not specifically resolve a particular issue, the Chamber must refer to treaty or customary humanitarian law and the general principles of law. To this end, the Chamber may, for example, be required to refer to the jurisprudence of the ad hoc tribunals and other courts on the matter“.706

Diesbezüglich muss auf zwei Punkte hingewiesen werden. Erstens soll die Auslegung zugunsten des Angeklagten, die „im Zweifelsfall“ laut Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut durchgeführt werden soll, nur nach dem gescheitertem Versuch, ein problematisches bzw. unbestimmtes Element nach Art. 31 und 32 WÜRV auszu­ legen, erfolgen. Dies wurde von der Strafkammer II des IStGH angenommen.707 Das Prinzip der strict construction führt somit im Kontext des IStGH-Statuts nicht immer, wenn die Bedeutung eines Elements fragwürdig ist, zu einer Auslegung zugunsten des Angeklagten. Dies stimmt mit den Erwägungen überein, die die Strafkammer des JStGH im Fall Delalić darstellte.708 Die Auslegung des Elements „nationale Streitkräfte“ des Verbrechens der Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren, die die Vorverfahrenskammer I im Fall Lubanga durchführte, bildet insofern ein gutes Beispiel.709 Zweitens soll jedoch anerkannt werden, dass der Ansatz des IStGH über die Auslegung der Verbrechen restriktiver als z. B. der 705

Laut Art. 21 Abs. 2 IStGH-Statut: „Der Gerichtshof kann Rechtsgrundsätze und Rechtsnormen entsprechend seiner Auslegung in früheren Entscheidungen anwenden“; siehe dazu Pellet, in: The Rome Statute, S. 1065–1066; Schabas, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 1998, 400 (405): „The reference to the Court’s case law in paragraph 2 hardly seems necessary […]Nor does the reference suggest a rule of stare decisis“. 706 Vgl. IStGH, Prosecutor v. Germain Katanga, 2014, Para. 47. 707 Ebd., Para. 53: „[T]he principle of in dubio pro reo as set forth in article 22(2) […] is applicable only ‚in case of ambiguity‘ and clearly should be relied on only after an unsuccessful attempt at interpretation effected in good faith and in accordance with the General Rule of the Vienna Convention […]“. Trotzdem behauptet die gleiche Strafkammer im gleichen Urteil: „Article 22(2) of the Statute also sets a further restriction on the bench’s role of inter­pretation by requiring it, upon completion of its analysis, to discard any meaning derived from a broad interpretation that is to the detriment of the accused“, ebd., 50. Wie zwischen „interpretation effected in good faith“ und „broad interpretation“ unterscheiden werden kann, ist eine offene Frage. 708 Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 409–413; siehe oben viertes Kapitel, B. I. 5.  709 Laut der Vorverfahrenskammer ist das Element „nationale Streitkräfte“ („national armed forces“) nicht nur als „staatliche Streitkräfte“ („governmental armed“) auszulegen. Deshalb können auch nicht-staatliche Gruppen, die an einem internationalen Konflikt teilnehmen, das Verbrechen der Rekrutierung von Kindern begehen. Die Kammer verwies sich gerade auf Art. 31 WÜRV und führte eine Interpretation durch, in der sowohl grammatikalische als auch teleologische Erwägungen ins Spiel kamen. Außerdem beruft sie sich auf dem ICRC-Kommentar zu Art. 43 ZP I und auf zwei Entscheidungen der Berufungskammer des JStGH, vgl. IStGH, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, 2007, Para. 268 ff.; siehe kritisch dazu Ambos, Treatise, Vol. II, S. 180.

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jenige des JStGH zu sein scheint. Dies ergibt sich aus einigen Erwägungen, die von den Strafkammern II und III des IStGH jeweils in Bezug einerseits auf die teleologische Interpretation des IStGH-Statuts und andererseits auf den Ausdruck „die Grundsätze und Regeln des Völkerrechts“ des Art. 21 (b) IStGH-Statut, in dem einige subsidiäre Rechtsquellen vorgesehen wurden, gemacht worden sind. Zum einen bildet der Wortlaut der Bestimmungen des IStGH-Statuts laut der Strafkammer II eine Grenze sogar für die teleologische Interpretation.710 Die Strafkammer des IStGH würde insofern eine Behauptung, wie diejenige des JStGH, nach der „[i]t would seem, however, that where the omission was accidental, it is usual to supply the missing words to give the legislation the meaning intended“,711 ablehnen. Zum anderen erkannte die Strafkammer III bei der Auslegung des Art.  21 IStGH-Statut nur eine Art von „allgemeinen Grundsätzen“ an und deswegen scheint es, als habe sie einen restriktiven Ansatz bezüglich der Völkerrechtsquellen. Art. 21 Abs. 1, unter Buchstaben (b) und (c), erwähnt einige Völkerrechtsquellen, die subsidiär vom IStGH angewendet werden dürfen, d. h., sie sollen nur dann angewendet werden, wenn die Auslegung des Statuts mit Hilfe der „Verbrechenselemente“ und durch die in Art. 31 und 32 WÜRV festgelegten Kriterien nicht möglich gewesen ist.712 Deswegen ist gesagt worden, dass diese Rechtsquellen lediglich für die Ausfüllung von Lücken relevant sind.713 Art. 21 Abs. 1 (b) IStGH-Statut bezieht sich neben den anwendbaren Verträgen714 auch auf „die Grundsätze und Regeln des Völkerrechts“ und auf die „Grundsätze des internationalen Rechts des bewaffneten Konflikts“, während Art. 21 Abs. 1 (c) sich auf „allgemeine Rechtsgrundsätze“ bezieht, die aus einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Rechtssysteme der Welt abgeleitet werden können. Zwei Verweise auf verschiedene Arten allgemeiner Rechtsgrundsätze können daher in Art. 21 gefunden werden,715 wie es auch in der Rechtsprechung des JStGH der Fall ist.716 Art. 21 Abs. 1 (b) verweist also auf „general principles of international law“, die sich aus der Betrachtung des Völkerrechts an sich und seinen zugrunde liegenden Werten und Zwecken ergeben. Art. 21 Abs. 1 (c) umfasst „general principle of law“, die durch eine vergleichende Analyse nationaler Rechtsordnungen induziert werden sollen. Nichtsdestoweniger wurde der Ausdruck „Grundsätze und Regeln des Völkerrechts“ von Art. 21 Abs. 1 (b) von der 710

Vgl. IStGH, Prosecutor v. Germain Katanga, 2014, Para. 55. Vgl. JStGH, Prosecutor v. Delalić et al., 1998, Para. 412. 712 Vgl. deGuzman, in: The Rome Statute, Rn. 9; siehe insofern IStGH, Prosecutor v. Omar Hassan Ahmad al Bashir, 2009, Para. 126. 713 Vgl. IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, 2016, Para. 69, 79; IStGH, Prosecutor v. Germain Katanga, 2014, Para. 39. 714 Vgl. IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, 2016, Para. 70: „For example […] the Convention on the Rights of the Child, and the Genocide Convention“. 715 Ähnlich deGuzman, in: The Rome Statute, Rn. 23 ff.; auch Pellet, in: The Rome Statute, S. 1071–1072. 716 Siehe oben, viertes Kapitel, B. I. 5. 711

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Strafkammer III lediglich als Völkergewohnheitsrecht ausgelegt, ohne zwischen „Grundsätzen“ und „Regeln“ zu unterscheiden.717 Es steht nicht in Frage, dass das Völkergewohnheitsrecht implizit im Ausdruck „Regeln des Völkerrechts“ enthalten ist, das Wort „Grundsätze“ jedoch, das vor dem Wort „Regeln“ steht, sollte nicht auf diese Weise ignoriert werden. Die Auffassungen der Strafkammer II über die teleologische Interpretation des IStGH-Statuts und der Strafkammer III über allgemeine Grundsätze spiegeln tatsächlich ein striktes Verständnis der Legalität wider, die auf Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut beruht. Aber die Grenzen der Auslegungsbefugnisse des IStGH sind ohnehin nicht deutlich. Die Trennlinie zwischen Auslegung und Lückenausfüllung scheint in diesem Kontext diffus zu sein. Art. 31 WÜRV und Art. 21 Abs. 1 IStGH-Statut überlappen sich teilweise.718 Insofern soll darauf hingewiesen werden, dass alle Völkerrechtsquellen sowohl zur Auslegung der Statutsbestimmungen als auch zur Lückenausfüllung in Betracht gezogen werden dürfen. Der IStGH kann beispielsweise in Übereinstimmung mit Art. 31 WÜRV auf die GK, die auch Völkerrechtsverträge sind und deshalb auch nach Art. 31 und 32 WÜRV interpretiert werden müssen, zurückgreifen, um die Definition der Verbrechen auszulegen; die GK sind aber auch als „anwendbare Verträge“, um Lücken des IStGH-Statuts auszufüllen, gemäß Art. 21 Abs. 1 (b) IStGH-Statut zu berücksichtigen. In gleicher Weise ist die Rechtsprechung z. B. der Ad-hoc-Straftribunale oder der gemischten Tribunale in beiden Situationen relevant, da sie in Bezug auf die im Kontext des IStGH-Statuts relevanten Themen als wesentliches Mittel zur Feststellung des Völkergewohnheitsrechts dient.719 Dadurch wäre es für den IStGH möglich, z. B. die Zwangsverheiratung unter Verweis auf die Rechtsprechung des SCSL als „andere unmenschliche Handlung ähnlicher Art“ gemäß Art. 7 Abs. 1 (k) IStGHStatut zu bestrafen,720 oder den Zwang, sich nackt vor mehreren Personen zu prä 717 Vgl. IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, 2016, Para. 71: „‚[P]rinciples and rules of international law‘ are generally accepted to refer to customary international law“. 718 Vgl. deGuzman, in: The Rome Statute, Rn. 11; kritisch dazu Cryer, New Crim. L. Rev. 2009, 390 (393): „Article 21 takes a rather simplistic approach that does not in fact reflect the way international law works“. 719 Vgl. IStGH, Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, 2016, Para. 78–79; siehe auch zum Völkergewohnheitsrecht als „interpretative aid“ Grover, EJIL 2010, 543 (563–564). 720 Siehe SCSL, Prosecutor v. Alex Tamba Brima et al., 2008; im Unterschied zu den Statuten der Ad-hoc-Straftribunale und des SCSL hat die Klausel „andere unmenschliche Handlungen“ im IStGH-Statut weitere Elemente, in diesem Kontext müssen die Handlungen große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursachen. Deshalb hat die Vorverfahrenskammer I behauptet: „[T]he Statute has given to ‚other inhumane acts‘ a different scope than its antecedents like the Nuremberg Charter and the ICTR and ICTY Statutes […] In contrast, the Rome Statute contains certain limitations, as regards to the action constituting an inhumane act and the consequence required as  a result of that action“, IStGH, Prosecutor v. Germain Katanga and Mathieu Ngudjolo Chui, 2008, Para. 450; siehe dazu Schabas, An Introduction, S. 119–120, Schabas behauptet, dass „under the Rome Statute, the concept of ‚other inhuman acts‘ may actually be narrowed by the addition of the words“, er nimmt aber an, dass das IStGH-Statut mit dieser Klausel „leaves the door open for some evolution“); die Zwangsverheiratung, wie

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

sentieren, basierend auf der Rechtsprechung des RStGH unter Art. 7 Abs. 1 (g) („jede andere Form sexueller Gewalt“) zu subsumieren.721 Der IStGH könnte sich sogar beispielsweise auf die Kommentare der ILC zum Draft Code von 1996 und auf dem Kommentar des ICRC zu Art. 75 Abs. 2 (b) ZP I berufen, um eine Vielfalt von Handlungen, die nicht explizit im IStGH-Statut erwähnt sind, gemäß Art. 8 Abs. 2 (b) (xxi) oder (c) (ii) IStGH-Statut zu bestrafen.722 Es kann ferner festgestellt werden, dass Art. 22 Abs. 2 IStGH auch nicht dazu führt, jede Lücke im IStGH-Statut immer zugunsten des Angeklagten auszufüllen. Art. 22 Abs. 2 verbietet die Lückenausfüllung durch die Analogie, aber nicht durch die Anwendung subsidiärer Völkerrechtsquellen, die in Art. 21 Abs. 1 (b) und (c) erwähnt werden. Deswegen ist es möglich, sich zu fragen, was genau im Kontext des Art. 22 Abs. 2 „im Zweifelsfall“ bedeutet. Wie bereits ausgeführt wurde, sind die Begriffsbestimmungen des IStGH-Statuts im Zweifelsfall laut Art. 22 Abs. 2 zugunsten des Angeklagten auszulegen. Trotzdem – wie hier schon erwähnt – muss ein problematisches bzw. fragwürdiges Element eines Verbrechens zuerst nach Art. 31 und 32 WÜRV ausgelegt werden; sofern eine solche Auslegung nicht möglich ist, sollen die Völkerrechtsquellen, auf die sich Art. 21 Abs. 1 (b) und (c) bezieht, angewendet werden (wenngleich diese Unterscheidung ebenfalls problematisch ist). Nur dann, wenn dieser Versuch auch scheitert, sollte eine Auslegung notwendigerweise zugunsten des Angeklagten erfolgen. Dies lässt den Schluss zu, dass nicht zu erwarten ist, dass die Regel über die Auslegung zugunsten des Angeklagten eine wesentliche Rolle bei der Anwendung des IStGH-Statuts spielt. Darüber hinaus kann darauf hingewiesen werden, dass die internationalen Menschenrechte, was die Menschenrechtsverträge sowie die Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichtshöfe einschließt, gemäß Art. 21 Abs. 3 IStGH-Statut bei der Auslegung ebenso wie bei der Lückenausfüllung eine besondere Bedeutung hat.723 Die Komplexität der Völkerrechtsquellen spiegelt sich somit auch im IStGHStatut wider. Diese Komplexität schafft die Bedingungen, damit der IStGH trotz es vom SCSL beschrieben wurde, könnte ohnehin „große Leiden“ oder „eine schwere Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit“ verursachen, siehe Grover, EJIL 2010, 543 (582): „In terms of the object and purpose of the Rome Statute, consideration may be given to the fact that it establishes a permanent criminal court of last resort. This mandate is consistent with the Court interpreting crimes in its jurisdiction in a manner which reflects developments in the legal environment“. 721 Vgl. RStGH, Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, 1998, Para. 688 ff. 722 Siehe ICRC-Kommentar zum Art. 75 Abs. 2 (b) ZP I, in: Sandoz et al. (Hrsg.), S. 873; dazu oben Fn. 625 dieses Kapitels. 723 Laut Art. 21 Abs. 3 IStGH-Statut: „Die Anwendung und Auslegung des Rechts nach diesem Artikel muss mit den international anerkannten Menschenrechten vereinbar sein […]“; Siehe IStGH, Prosecutor v. Germain Katanga, 2014, Para. 50; dazu auch deGuzman, in: The Rome Statute, Rn. 48 ff. („This provision has the potential to broaden the Cort’s powers significantly“, ebd., Rn.  51); siehe auch Grover, EJIL 2010, 543 (558 ff.); Pellet, in: The Rome Statute, S. 1079 ff. (Pellet spricht in diesem Kontext von einem „international super-legality“ der internationalen Menschenrechte); Schabas, Eur. J. Crime Crim. L. & Crim. Just. 1998, 400 (405).

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Art.  22 Abs.  2 nötigenfalls einen relativ breiten Entscheidungsspielraum haben kann; sogar dann, wenn der IStGH sich noch innerhalb des Wortlauts des Statuts bewegt. Die Tatsache, dass das IStGH-Statut nicht nur ein prozedurales Instrument ist, wie es der Fall des Draft Statute von 1994 war, und dass es als Kodifizierung materiellen Rechts ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung des Völkerstrafrechts darstellt, bedeutet somit nicht, dass der IStGH hinsichtlich des bestehenden Völkerrechts und der weiteren Entwicklung des Völkerstrafrechts und der damit verbundenen Rechtsgebiete isoliert ist, also in Hinsicht auf die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht.

IV. Exkurs: Dauerdelikte und die zeitliche Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs, insbesondere über die Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren und das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen Laut Art. 11 Abs. 1 IStGH-Statut erstreckt sich die Gerichtsbarkeit des IStGH nur auf Verbrechen, die nach Inkrafttreten des Statuts begangen werden, d. h. nach dem 01.07.2002. Allerdings kann der Gerichtshof, wenn es sich um einen Staat handelt, der das IStGH-Statut nach seinem Inkrafttreten ratifiziert hat, laut Art. 11 Abs. 2 IStGH-Statut seine Gerichtsbarkeit nur in Bezug auf Verbrechen ausüben, die nach Inkrafttreten des Statuts für diesen Staat begangen wurden. Dies ergibt sich auch aus Art. 28 WÜRV, der die „Nichtrückwirkung von Verträgen“ vorschreibt. In diesen Fällen kann der Staat jedenfalls nach Art. 12 Abs. 3 eine Erklärung abgeben, damit der IStGH seine Gerichtsbarkeit auch in Bezug auf Taten ausüben kann, die vor diesem Zeitpunkt begangen wurden. Aber auch in dieser Situation bildet das Inkrafttreten des IStGH-Statuts (01.07.2002) in Übereinstimmung mit Art.  24 (Rückwirkungsverbot ratione personae)  eine unüberwindbare Grenze. Dies geschieht auch, wenn der Sicherheitsrat der VN in Übereinstimmung mit Art. 13 (b) IStGH-Statut eine Situation hinsichtlich eines Staats, der Nicht-Vertragsstaat des IStGH-Statuts ist, dem Ankläger des IStGH unterbreitet. Denn (nach Art. 24) „niemand ist nach diesem Statut für ein Verhalten strafrechtlich verantwortlich, das vor Inkrafttreten des Statuts stattgefunden hat“. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob der IStGH auch in Fällen von Dauerdelikten zuständig ist, deren Begehung vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts im Allgemeinen oder in Bezug auf den jeweiligen Staat begonnen wurde, aber auch danach noch stattfindet. Dieses Problem wurde von der Versammlung der Vertragsstaaten während der in Rom durchgeführten internationalen Konferenz im Zusammenhang mit Art. 24 IStGH-Statut zwar behandelt, aber nicht gelöst.724 In Rom war es nicht möglich,

724

Vgl. Rastan/Badar, in: The Rome Statute, Rn. 21.

440

4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

diesbezüglich einen Konsens zu erreichen.725 Deshalb wurde kein Verb neben den Verweis auf „das Verhalten“ in Art. 24 Abs. 1 hinzugefügt. Art. 24 Abs. 1 sagt lediglich „conduct prior to the entry into force of the Statute“,726 aber kein Verb, wie z. B. „committed“, „occurred“ oder „commenced“, wurde hier aufgenommen.727 Im Unterschied dazu sagt die deutsche Übersetzung: „[E]in Verhalten […], das vor Inkrafttreten des Statuts stattgefunden hat“. Das Verb „stattfinden“ hilft allerdings nicht weiter, u. a. weil die deutsche Fassung keine authentische Version des IStGHStatuts ist. Wenn die Begehung der Tat sich nicht auf einen Moment beschränkt, sondern sich über einen Zeitraum erstreckt und dieser Zeitraum zumindest teilweise unter die zeitliche Zuständigkeit des IStGH fällt, sollte trotzdem problemlos akzeptiert werden, dass das Verbrechen auch nach Inkrafttreten des Statuts im Sinne von Art. 11 Abs. 1 des IStGH-Statuts begangen wurde und deswegen der IStGH in solchen Fällen zuständig ist. Dies ist z. B. der Fall bei dem Verbrechen der Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren. Die Vorver­fahrenskammer I des IStGH hat insofern behauptet: „The crime of enlisting or conscripting children […] continues to be committed as long as the children remain in the armed groups or forces and consequently ceases to be committed when these children leave the groups“.728

Die Situation scheint jedoch anders zu sein, wenn es z. B. um das Verbrechen des zwangsweisen Verschwindenlassens von Personen geht. Dazu ist suggeriert worden, dass das zwangsweise Verschwindenlassen kein Dauerdelikt im engeren Sinne sei, sondern eher ein Verbrechen, das in zwei Phasen begangen werden muss: Die erste Phase sei laut Art. 7 Abs. 2 (i) IStGH-Statut „die Festnahme, der Entzug der Freiheit oder die Entführung“ der Person, während die „Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen oder Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib dieser Personen zu erteilen“, die zweite Phase darstelle. Insofern sprechen Rastan und Badar von einem „bifurcated actus reus“.729 Der Unterschied des zwangsweisen Verschwindenlassens zur Rekrutierung von Kindern würde danach darin bestehen, dass alle Elemente der Rekrutierung von Kindern sich in jedem Moment, in dem das Kind noch rekrutiert bleibt, wiederholen würden, während jede der zwei im Verbrechen des Verschwindenlassens umfassten Handlungen in einem bestimmten Moment stattfinden würden. Die Rekrutierung von Kindern wäre also ein Dauerdelikt „in the sense of an ongoing course of criminal activity“, aber das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen 725

Vgl. Boot, S. 371; ein großes Problem lag darin, eine befriedigende Formel in den sechs Sprachen zu finden, vgl. Schabas, An Introduction, S. 75; Saland, in: The International Criminal Court, S. 195–196: „This sensitive issue never came up openly but was discussed in i­ ndirect terms“. 726 In der spanischen Fassung: „una conducta anterior“. 727 Siehe dazu Saland, in: The International Criminal Court, S. 195–196. 728 Vgl. IStGH, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, 2007, Para. 248; auch insofern IStGH, Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo, 2012, Para. 618. 729 Vgl. Rastan/Badar, in: The Rome Statute, Rn. 24.

D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

441

nicht.730 Somit wäre der IStGH nicht zuständig, und eine Verurteilung würde gegen Art. 24 Abs. 1 IStGH-Statut verstoßen, wenn z. B. die Festnahme, der Entzug der Freiheit oder die Entführung der Person vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts durchgeführt wurde und die Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, danach geschah. Diese Auffassung sei in den „Verbrechenselementen“ bestätigt, weil die Fußnote 24 dieses Dokuments gerade in Bezug auf das Verbrechen des zwangsweisen Verschwindenlassens von Personen sagt: „This crime falls under the jurisdiction of the Court only if the attack referred to in elements 7 and 8 occurs after the entry into force of the Statute“.731 Dies würde beweisen, dass die Staaten nicht die Absicht hatten, dieses Verbrechen in die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs einzugliedern, wenn der Entzug der Freiheit vor dem Inkrafttreten des Statuts stattgefunden hat.732 Die Fußnote 24 bildet Witschel und Rückert zufolge einen Kompromiss zwischen jenen Staaten, die explizit festlegen wollten, dass sogar der Entzug der Freiheit nach dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts stattfinden müsste, und den Staaten, die damit nicht einverstanden waren.733 Die Auffassung, der zufolge alle Elemente des Verbrechens des zwangsweisen Verschwindenlassens nach dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts stattfinden müssen, ist allerdings problematisch. Dazu sind zwei Punkte zu berücksichtigen. Zum einen kann in Frage gestellt werden, ob dieses Verbrechen und die Rekrutierung von Kindern wirklich zwei Arten von Dauerdelikten darstellen. Im Unterschied zu den Zustandsdelikten sind die Dauerdelikte durch die Herbeiführung eines rechtswidrigen Zustands gekennzeichnet, der vom Täter aufrechterhalten wird.734 Der rechtswidrige Zustand kann durch eine oder mehrere konkrete Handlungen verursacht werden, aber die Begehung des Verbrechens dauert über den Zeitpunkt hinaus an, in dem diese Handlungen durchgeführt werden.735 Somit ist das Verbrechen bei Dauerdelikten nur dann abgeschlossen, wenn der rechtswidrige Zustand beendet ist. Gerade dies geschieht sowohl beim zwangsweisen Verschwindenlassen als auch bei der Rekrutierung von Kindern. Das zwangsweise Verschwindenlassen findet tatsächlich in zwei Phasen statt, aber dies bildet nicht 730

Ebd., Rn. 22 und 26. Das Element 7 des Verbrechens des zwangsweisen Verschwindenlassens von Personen lautet: „The conduct was committed as part of  a widespread or systematic attack directed against  a civilian population“; das Element 8 dieses Verbrechens besagt: „The perpetrator knew that the conduct was part of or intended the conduct to be part of a widespread or systematic attack directed against a civilian population“. 732 Vgl. Rastan/Badar, in: The Rome Statute, Rn. 21. 733 Vgl. Witschel/Rückert, in: The International Criminal Court, S. 102. 734 Roxin definiert die Dauerdelikte als „Taten, bei denen das Delikt mit der Verwircklichung des Tatbestandes nicht abgeschlossen ist, sondern durch den fortdauernden deliktischen Willen des Täters so lange aufrechterhalten wird, wie der von ihm geschaffene rechtswidrige Zustand bestehen bleibt“, Roxin, § 10 H Rn. 105; die Zustandsdelikte sind dagegen die Taten, „die mit der Herbeiführung eines bestimmten Zustandes (in der Regel des Erfolges im Sinne der Erfolgsdelikte) abgeschlossen, also keiner Aufrechterhaltung durch den Täter fähig und bedürftig sind“, ebd., § 10 H Rn. 106. 735 Vgl. Murmann, § 14 Rn. 25–26; Jakobs, 6. Abschnitt Rn. 80. 731

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

die Grundlage für die Behauptung, dass es ein Dauerdelikt ist. Dieses Verbrechen bildet vielmehr deshalb ein Dauerdelikt, weil durch die Kombination der zwei Phasen der rechtswidrigen Zustand des Verschwindens einer Person verursacht wird.736 In diesem Sinne ist das zwangsweise Verschwindenlassen nicht anders als die Rekrutierung von Kindern zu sehen. Laut Art. 8 Abs. 2 (b) (xxvi) IStGH-Statut ist bereits die „Eingliederung“ des Kindes in die Streitkräfte strafbar, aber das Verbrechen geht über diese konkrete Handlung hinaus, solange das Kind rekrutiert bleibt. In gleicher Weise wird das zwangsweise Verschwindenlassen gemäß Art. 7 Abs. 1 (i) und Abs. 2 (i) durch den „Entzug der Freiheit“ plus die „Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen“ begangen. Das Verbrechen geht jedoch über diese zwei Verhaltensweisen hinaus, solange das Opfer verschwunden und sein Schicksal unbekannt ist. Es ist daher möglich, zu behaupten, dass im Verbrechen des zwangsweisen Verschwindenlassens kein Umstand existiert, der verhindert, dieses Verbrechen als ein Dauerdelikt „im engeren Sinne“ zu behandeln. Zum anderen soll betrachtet werden, dass sich die Fußnote 24 der „Verbrechenselemente“ auf das Kontextelement der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, d. h. auf die Gesamttat,737 und nicht auf die in Art. 7 Abs. 2 (i) IStGH-Statut erwähnten 736 Der AGMR hat seine Gerichtsbarkeit ratione temporis in Bezug auf Fälle des zwangsweisen Verschwindenlassens von Personen akzeptiert, in denen die relevanten Handlungen vor dem Zeitpunkt, in dem der jeweilige Staat die Gerichtsbarkeit des AGMR annahm, stattfanden, siehe insofern AGMR, Blake v. Guatemala, 1998, Para. 54; AGMR, Heliodoro Portugal v. Panama, 2008, Para. 25, 33–39; zur zahlreichen Rechtsprechung des AGMR über das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen als Dauerdelikt siehe AGMR, Cuadernillo, S. 8–17 unter: http://www.corteidh.or.cr/tablas/r33824.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.12.2016); siehe auch EGMR, Varnava and others v. Turkey, 2009, Para. 121, 147–150, der EGMR bezieht sich hinsichtlich des Verschwindenlassens auf die prozedurale Pflicht, die erforderlichen Untersuchungen vorzunehmen, als eine „continuing violation“, in Worten des EGMR: „It cannot therefore be said that a disappearance is, simply, an ‚instantaneous‘ act or event; the addi­ tional distinctive element of subsequent failure to account for the whereabouts and fate of the missing person gives rise to a continuing situation. Thus, the procedural obligation will, potentially, persist as long as the fate of the person is unaccounted for; the ongoing failure to provide the requisite investigation will be regarded as a continuing violation“ (Para. 148); auch EGMR, Cyprus v. Turkey, 2001, Para. 123–136; dazu Pangalangan, in: The Rome Statute, Rn. 17; siehe auch Art. 8 Abs. 1 (b) UN-Konvention gegen Verschwindenlassen („1. trifft jeder Vertragsstaat, in dem für das Verschwindenlassen Verjährungsvorschriften gelten, die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Verjährungsfrist bei der Strafverfolgung […] b) mit dem Zeitpunkt der Beendigung der Straftat des Verschwindenlassens beginnt, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Straftat von Dauer ist“) und Art. III der Amerikanischen Konvention über das Verschwindenlassen von Personen (AKVP): „This offense shall be deemed continuous or permanent as long as the fate or whereabouts of the victim has not been determined“. 737 Der Begriff der „Gesamttat“ ergibt sich aus der Struktur und aus dem Begriff der internationalen Verbrechen bzw. core crimes, denn sie stellen Formen der Makrokriminalität dar. Insofern behaupten Werle und Jeßberger: „Der Zuordnung bedarf neben der Einzeltat (act) auch der Kontext organisierter Gewalt (context bzw. contextual ciscunstances […]), der als internationales Element die Straftaten erst zu Völkerrechtsverbrechen macht“, Werle/Jeßberger, S. 471; siehe auch Ambos, Treatise, Vol. I, S. 85: „It follows from this theoretical debate that international crimes require – apart from the individual (sub-) crimes or acts (‚Einzeltaten‘) – an

D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

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konkreten Handlungen bezieht. Dies erlaubt die Vornahme einer anderen Interpretation. So kann zwischen der Ausübung der Gerichtsbarkeit in Bezug auf die Gesamttat und der Ausübung der Gerichtsbarkeit in Bezug auf konkrete Verbrechen, wie z. B. das zwangsweise Verschwindenlassen, unterschieden werden. Der ausgedehnte oder systematische Angriff gegen die Zivilbevölkerung, in dessen Rahmen das zwangsweise Verschwindenlassen begangen worden sein muss, um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darzustellen, bildet auch eine Situation, die sich auf einen gewissen Zeitraum erstreckt und in der verschiedene bzw. mehrere strafbare Handlungen begangen werden (Gesamttat).738 Ein solcher Angriff (verstanden als Kontextelement oder Gesamttat) kann nicht per Definition auf einen einzigen Zeitpunkt beschränkt werden. Es ist daher möglich, sich drei Situationen vorzustellen: Ein Angriff gegen die Zivilbevölkerung, der vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts begann und endete; ein Angriff, der zwar vor dem Inkrafttreten begann, aber auch danach stattfand oder noch stattfindet; ein Angriff, der ausschließlich nach dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts begann. In Übereinstimmung mit den „Verbrechenselementen“ und Art. 24 IStGH-Statut kann akzeptiert werden, dass der IStGH hinsichtlich der ersten Situation nicht zuständig ist. Deswegen würde sich ein Verbrechen, das in diesem Rahmen begangen wurde, auch außerhalb der Gerichtsbarkeit des IStGH befinden, unabhängig davon, ob seine Konsequenzen noch fortwirken. In Bezug auf die dritte Situation ist der IStGH nach Art. 11 IStGH-Statut selbstverständlich zuständig. Dies ist nicht problematisch. Hinsichtlich der zweiten Situation darf behauptet werden, dass es dem IStGH unbennomen ist, seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf eine Gesamttat auszuüben, die vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts begonnen hat und sich auch danach noch erstreckt, wie z. B. ein bewaffneter Konflikt nicht-internationalen Charakters, in dem Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden sind. Dementsprechend darf nicht behauptet werden, dass der IStGH für bestimmte Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht zuständig ist, nur weil der bewaffneten Konflikt oder der Angriff gegen die Zivilbevölkerung vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts angefangen hat. Der IStGH kann für Verbrechen, die im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen worden sind, zuständig sein, sogar dann, wenn der Konflikt oder der Angriff vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts begann. Drei Konstellationen additional international or contextual element (‚Gesamttat‘)“; Marxen, in: Aufgeklärte Kriminalpolitik, S. 231, Marxen spricht von einem „Zurechnungszusammenhang, der aus drei Elementen und zwei Verbindungsgliedern besteht“. Das zweite Element ist gerade „der überindividuelle Verbrechenszusammenhang“. 738 Deshalb definiert Art. 7 Abs. 2 (a) IStGH-Statut den Ausdruck „Angriff gegen die Zivilbevölkerung“ als „eine Verhaltensweise, die mit der mehrfachen Begehung der in Absatz 1 genannten Handlungen gegen eine Zivilbevölkerung verbunden ist […]“. In der spanischen Fassung steht auch insofern: „la comisión múltiple de actos“; in der englischen Fassung: „the multiple commission of acts“.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

sind hinsichtlich dieser Situationen zu unterscheiden. Erstens sind die Verbrechen zu erwähnen, deren Elemente (alle) vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts stattfanden und zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen waren, unabhängig davon, ob es sich um Zustands- oder Dauerdelikte handelt. Solche Verbrechen würden außerhalb der Gerichtsbarkeit des IStGH fallen. Zweitens sind die Verbrechen zu nennen, die als Dauerdelikte gekennzeichnet werden können und einige oder alle ihrer konkreten Handlungen vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts durchgeführt worden sind, wie z. B. „der Entzug der Freiheit“ und die „Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen“ bei dem zwangsweisen Verschwindenlassen oder die „Eingliederung“ in die Streitkräfte bei der Rekrutierung von Kindern. In Bezug auf solche Verbrechen sollte der IStGH jedenfalls zuständig sein, solange der von den strafbaren Handlungen verursachte rechtswidrige Zustand auch nach dem Inkrafttreten des Statuts stattgefunden hat oder noch stattfindet. Drittes müssen die Verbrechen erwähnt werden, deren Elemente (alle) nach dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts stattfanden; die Zuständigkeit des IStGH ist in diesen Fällen nicht problematisch. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass der IStGH in Fällen des zwangsweisen Verschwindenlassens von Personen zuständig sein kann, sogar dann, wenn die zwei Phasen („der Entzug der Freiheit“ und die „Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen“) vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts stattgefunden haben, solange zwei Voraussetzungen erfüllt sind.739 Zum einen sollte sich der durch diese Handlungen verursachte rechtswidrige Zustand auf die Zeit nach dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts erstrecken. Dies erlaubt es zu behaupten, dass das Verbrechen auch innerhalb der zeitlichen Grenze der Gerichtsbarkeit des IStGH im Sinne von Art. 11 Abs. 1 IStGH-Statut begangen worden ist.740 Zum anderen 739

Ambos und Böhm vertreten eine andere Auffassung. Das entscheidende Element des zwangsweisen Verschwindenlassens von Personen sei laut Ambos und Böhm die zweite Phase der Verwirklichung dieses Verbrechens, d. h. die Weigerung, die Freiheitsberaubung anzuerkennen oder Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib dieser Personen zu erteilen. Infolgedessen müsse dieses Element nach der Annahme der Zuständigkeit des jeweiligen internationalen Tribunals, in diesem Fall des IStGH, stattfinden, damit das Tribunal zuständig sein könne, Ambos/Böhm, in: Desaparición, S. 250; diese Auffassung hat jedoch das Problem, dass sie den dauernden Charakter dieses Verbrechens übersieht. Ambos und Böhm erklären eigentlich nicht, warum dieses Verbrechen nicht als Dauerdelikt sondern als Zustandsdelikt verstanden werden musste. 740 Eine Verurteilung würde insofern auf den Konsequenzen der Handlungen beruhen, die innerhalb der zeitlichen Gerichtsbarkeit des IStGH stattfanden, wenngleich die vorher begangenen Handlungen auch berücksichtigt werden könnten, um den ganzen Kontext des Verbrechens zu verstehen, siehe insofern RStGH, Prosecutor v. Feidinand Nahimana et al., 2007. Hier wurde über die zeitliche Gerichtsbarkeit des RStGH und das Verbrechen der öffentlichen Anreizung zur Begehung von Völkermord diskutiert. Nach der Berufungskammer bildet dieses Verbrechen kein Dauerdelikt: „[T]the crime of direct and public incitement to commit genocide is completed as soon as the discourse in question is uttered or published, even though the effects of incitemenmt may extend in time“, Para. 723. Die Kammer behauptete jedenfalls in Bezug auf die Dauerdelikte im Allgemeinen: „Contrary to what the Trial Chamber appears to have held in paragraph 104 of the Judgement, even where such conduct commenced before 1994 and

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sollte der ausgedehnte oder systematische Angriff gegen die Zivilbevölkerung, in dessen Rahmen das zwangsweise Verschwindenlassen begangen wurde, auch (zumindest teilweise) nach dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts stattgefunden haben. Die Fußnote 24 der „Verbrechenselemente“ sagt „only if the attack […] occurs after the entry into force of the Statute“; es soll also möglich sein, zu sagen, dass der Angriff nach dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts „still occurs“. Diese Interpretation bildet einen Mittelweg zwischen zwei Auffassungen, einerseits zur Auffassung der Staaten, die die Absicht hatten, eine zeitliche Grenze für die Gerichtsbarkeit des IStGH in Bezug auf dieses Verbrechen festzulegen, und andererseits zur Auffassung der Staaten, die damit nicht einverstanden waren. Sie erlaubt es ferner, die „Verbrechenselemente“ und von daher das IStGH-Statut mit den internationalen Menschenrechten, in denen das zwangsweise Verschwindenlassen von Personen als Dauerdelikt verstanden worden ist, in Einklang zu bringen.

V. Ergebnis: Die Spannung zwischen der Anerkennung der Nürnberger Rechtstradition und der Suche nach Rechtssicherheit im Völkerstrafrecht Im IStGH-Statut wurde das NCSL-Prinzip zum ersten Mal im Statut eines internationalen Straftribunals kodifiziert. Dieses Instrument hat zwei Normen, die sich auf das NCSL-Prinzip beziehen: Art. 22 („Nullum crimen sine lege“) und Art. 24 („Rückwirkungsverbot ratione personae“). Im ersten Absatz des Art. 22 befindet sich eine allgemeine Formulierung, die mit dem Prinzip der strict construction und mit dem Analogieverbot des zweiten Absatz ergänzt wird. Außerdem bedeutet dieser Artikel laut seinem dritten Absatz nicht, „dass ein Verhalten nicht unabhängig von diesem Statut als nach dem Völkerrecht strafbar beurteilt werden kann“. Art.  24 bezieht sich seinerseits insbesondere auf das Rückwirkungsverbot. Vor diesem Hintergrund ist es möglich zu fragen, ob sich das IStGHStatut hinsichtlich des NCSL-Prinzips von der Nürnberger Rechtstradition losgelöst hat und wenn diese Frage zu bejahen ist, inwiefern. Aus Art. 22 und 24 IStGH-Statut ergibt es sich, dass das geschriebene Recht im Kontext des IStGH eine besondere Rolle spielt, denn das IStGH-Statut selbst bildet den normativen Referenzpunkt des NCSL-Prinzips, wie es hier definiert ist. Außerdem spricht die Aufnahme des Prinzips der strict construction und des Analogieverbots für eine konservativere bzw. striktere Konzeption als diejenige, die seit dem Nürnberger Prozess, durch die internationalen Menschenrechte und die continued during that year, a conviction may be based only on that part of such conduct having occurred in 1994“, Para. 317. Zur öffentlichen Anreizung zur Begehung von Völkermord sagte die Berufungskammer jedenfalls, obwohl es nicht als Dauerdelikt eingestuft wurde: „[E]ven if a conviction for incitement could not be based on any of the 1993 RTLM broadcasts, the Trial Chamber could have considered them, for example as contextual ellements of the 1994 broadcasts“, Para. 725.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

Rechtsprechung der Ad-hoc-Straftribunale entwickelt worden ist. Somit kann behauptet werden, dass der doppelte Standard, der in der vorliegenden Arbeit identifiziert wurde, im Kontext des IStGH im Prinzip nicht anwendbar ist. D. h. der Standard, nach dem das Verbot der Handlung einen Anknüpfungspunkt an die zum Zeitpunkt der Tatbegehung bestehenden internationalen Instrumente haben muss, während sich die Strafbarkeit der Handlung aus einer Tendenz oder Entwicklungslinie ergeben kann, in der verschiedene Elemente ins Spiel kommen, aber nicht in einem geschriebenen Norm festgelegt werden muss.741 Die Konzeption des NCSL-Prinzips, die in das IStGH-Statut aufgenommen wurde, steht folglich der Konzeption der deutschen Rechtstradition742 näher. Allerdings können einige Aspekte im IStGH-Statut gefunden werden, die die Auffassung gestatten, dass der in diesem Kontext verfolgte Ansatz die Nürnberger Rechtstradition nicht völlig verleugnet. Dieser Ansatz hat des Weiteren keinen Anspruch, die seit dem Nürnberger Prozess entwickelte Konzeption des NCSLPrinzips im Hinblick auf das Völkerstrafrecht im Allgemeinen zu verändern. Das IStGH-Statut spiegelt eigentlich die Spannung zwischen der Anerkennung der Nürnberger Rechtstradition und der Suche nach mehr Rechtssicherheit im Völkerstrafrecht wider. Dies zeigt sich insbesondere bei der Betrachtung der Formulierung des NCSL-Prinzips, welches in diesem Kontext vor allem darauf gerichtet ist, die Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH zu begrenzen aber nicht den Kriminalisierungsprozess auf internationaler Ebene zu verändern. Das NCSL-Prinzip hat freilich im IStGH-Statut eine doppelte Dimension: materiell und prozedural. Aber daraus ergibt sich nicht, dass das Statut die Weise, in der dieses Prinzip seit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und während der Entwicklung des Völkerstrafrechts verstanden worden ist, in Bezug auf das Völkerstrafrecht im Allgemeinen änderte. Das NCSL-Prinzip hat im Kontext des IStGH mit zwei miteinander verbundenen Fragen zu tun: Zum einen, ob die in einem bestimmten Fall relevanten Taten unter die Definitionen der Verbrechen, die sich in Art.  6 bis 8  bis IStGH-Statut befinden, subsumiert werden können und von daher in diesem Kontext strafbar sind (materielle Dimension). Zum anderen, ob der IStGH sachlich und zeitlich gesehen überhaupt zuständig für die Verhandlung der relevanten Taten ist (prozedurale Dimension). Art. 24 Abs. 1 zeigt relativ deutlich die prozedurale Dimension des NCSL-Prinzips, weil es sich nur auf die rückwirkende Ausübung der Gerichtsbarkeit und nicht auf die rückwirkende Anwendung neuer strafbewehrter Verbote bezieht. Sowohl die materielle als auch die prozedurale Dimension sind in Art. 22 Abs. 1 zu finden. Diese Bestimmung bezieht sich nicht nur auf die Ausübung der Gerichtsbarkeit innerhalb der Grenzen der sachlichen Zuständigkeit des IStGH, sondern auch auf die Anwendung strafbewehrter Verbote, deren Rechtsgrundlage das Statut selbst ist.

741

Siehe oben, zweites Kapitel, E.; drittes Kapitel, C.; viertes Kapitel, B. III. Siehe oben, erstes Kapitel, B. II. und C. II.

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D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

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Die Staaten, die an der internationalen Konferenz in Rom teilnahmen, kodifizierten nicht nur bestehendes Völkerstrafrecht bzw. Völkergewohnheitsrecht. Sie nahmen im IStGH-Statut als internationale Verbrechen auch mehrere Handlungen auf, deren Strafbarkeit nach Völkergewohnheitsrecht zumindest in jener Zeit fragwürdig war. Allerdings haben die in das IStGH-Statut aufgenommenen Definitionen der core crimes im Prinzip keinen Anspruch, außerhalb des Anwendungsbereichs des Statuts angewendet zu werden, abgesehen von der Tatsache, dass diese Definitionen nach dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts aufgrund der Wirkung zusätzlicher Faktoren den Charakter des Völkergewohnheitsrechts erlangt haben können. Die Normen des IStGH-Statuts, die das NCSL-Prinzip definieren, regeln somit lediglich die Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH. Weder die prozedurale noch die materielle Dimension des NCSL-Prinzips legen im Rahmen des Völkerrechts neue Voraussetzungen für den Kriminalisierungsprozess fest. Das Verständnis der Völkerrechtsquellen, das der Entwicklung der internationalen Verbrechen zugrunde liegt, wurde darüber hinaus weder durch Art. 22 Abs. 1 noch durch Art. 24 Abs. 1 geändert.743 Gerade aus diesem Grund wurden Art. 10 und Art. 22 Abs. 3 in das IStGH-Statut aufgenommen. Mit Art. 10 wurde klargestellt, dass der zweite Teil des Statuts bestehende oder sich entwickelnde Regeln des Völkerrechts nicht ändert. Durch Art. 22 Abs. 3 wurde festgestellt, dass die Aufnahme des NCSL-Prinzips den Kriminalisierungsprozess auf internationaler Ebene nicht modifiziert. Art. 12 des Statuts der im Jahr 2015 eingerichteten KSC, d. h. ca. 20 Jahre nach der Aufnahme des IStGH-Statuts, bestätigt genau diesen Punkt. Außerdem kann der IStGH in Bezug auf Nicht-Vertragsstaaten seine Gerichtsbarkeit (ad hoc)  ausüben. In diesen Fällen ähnelt die Situation jener der anderen internationalen Straftribunale. Diesbezüglich kann gesagt werden, dass das IStGH-Statut zum Zeitpunkt der Begehung der Tat am Tatort nicht galt. Die rückwirkende Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH an sich ist jedenfalls im Lichte des NCSL-Prinzips aus völkerrechtlicher Sicht nicht problematisch. Wenn es um die Legitimität geht, kann man sich aus einer theoretischen Sichtweise sowohl auf die theoretischen Prämissen, die der Entwicklung des Völkerstrafrechts zugrunde liegen, als auch auf seine ideologische Grundlage, wie sie im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit festgestellt wurden, verweisen. Die entscheidende Frage im Lichte des NCSL-Prinzips ist deshalb vielmehr, ob das materielle Recht bereits zum Zeitpunkt der Begehung der Tat bestand und auf den Angeklagten anwendbar war. Dafür ist der vor dem Hintergrund der Nürnberger Rechtstradition entwickelte und in der vorliegenden Arbeit identifizierte doppelte Standard des NCSL-Prinzips relevant, wobei mehrere Elemente in Betracht gezogen werden

743

In Bezug auf Art. 22 und 24 IStGH-Statut siehe Peters: „Diese Vorschriften treffen jedoch keine Aussage über die exakten Rechtsgrundlagen der Statuten-Verbrechen. Sie treffen damit keine Aussage darüber, welche Völkerrechtsquellen als ‚lex‘ im Sinne des Prinzips nullum crimen sine lege gelten“, Peters, Jenseits, S. 118; siehe insofern auch Ferdinandusse, S. 231–232.

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4. Kap.: Die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition 

sollen, nicht nur die Tatsache, dass eine große Zahl von Staaten das IStGH-Statut ratifiziert haben. Ein weiterer Punkt, der die Behauptung erlaubt, dass das IStGH-Statut die Nürnberger Rechtstradition nicht völlig leugnet, ist, dass auch das Statut die Komplexität der Völkerrechtsquellen widerspiegelt. Dies schafft die Bedingungen, damit der IStGH trotz Art. 22 Abs. 2 in einigen Fällen einen relativ breiten Entscheidungsspielraum haben kann. Die Definitionen der internationalen Verbrechen, die insbesondere in Art. 7, 8 und 8 bis aufgenommen wurden, haben einige unbestimmte Elemente bzw. Ausdrücke, deren Auslegung dazu führt, die Entwicklung des Völkerrechts außerhalb des IStGH-Statuts zu berücksichtigen. Dies wurde von der Strafkammer III des IStGH anerkannt. Daraus ergibt sich ein wichtiger Entscheidungsspielraum, in welchem der IStGH durch die Interpretation verschiedener Rechtsquellen nicht explizit erwähnte Verhaltensweisen beispielsweise als Kriegsverbrechen oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestrafen kann. Weder die Aufzählung der Rechtsquellen in einer hierarchischen Weise (Art. 21 IStGH-Statut) noch die Aufnahme des Prinzips der strict construction und des Analogieverbots in Art. 22 Abs. 2 verhindern diese Möglichkeit. Bei der Interpretation der unbestimmten Elemente bzw. Ausdrücke des IStGH-Statuts ist es somit möglich, den von dem EGMR festgelegten Standard anzuwenden, nach dem die richterliche graduelle Fortentwicklung der strafrechtlichen Normen das NCSLPrinzip nicht verletzt, solange eine solche Entwicklung den Kern des relevanten strafbewehrten Verbots nicht verändert. Die Berücksichtigung anderer Völkerrechtsquellen ergibt sich jedenfalls auch aus Art. 31 WÜRV, der bei der Interpretation des IStGH-Statuts berücksichtigt werden soll. Art. 31 WÜRV und Art. 21 Abs. 1 IStGH-Statut überlappen sich teilweise, und deswegen ist die Trennlinie zwischen Auslegung und Lückenausfüllung in diesem Kontext diffus. Die Grenzen der Auslegungsbefugnisse des IStGH sind also nicht deutlich. Das Prinzip der strict construction und das Analogieverbot führen somit „im Zweifelsfall“ nicht immer zu einer Interpretation zugunsten des Angeklagten, wie es von der Strafkammer II des IStGH angenommen worden ist. Es soll immerhin anerkannt werden, dass das NCSL-Prinzip nicht nur in das IStGH-Statut inkorporiert wurde, um ein Mindestmaß an Rechtssicherheit zu gewährleisten, sondern auch um den Zusammenhang zwischen der Versammlung der Vertragsstaaten als „rechtserzeugendes“ Organ und dem IStGH zu regulieren. Deswegen kann gesagt werden, dass das NCSL-Prinzip in diesem Zusammenhang mit einer Art „Gewaltenteilung“ verknüpft ist und dass es dem IStGH eine untergeordnete Rolle verleiht. Tatsächlich hat der IStGH bisher einen konservativen Ansatz hinsichtlich einiger Themen verfolgt, wie z. B. in Bezug auf die teleologische Auslegung und die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Nichtsdestoweniger wurde der IStGH hinsichtlich des geltenden Völkerrechts und der weiteren Entwicklung des Völkerstrafrechts sowie der damit verbundenen Rechtsgebiete (die internationalen Menschenrechte und das humanitären Völkerrecht) nicht isoliert. Sowohl die Verabschiedung des IStGH-Statuts als auch die Aufnahme des NCSL-

D. Ein Wendepunkt im Völkerstrafrecht?

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Prinzips in Art. 22 und 24 bilden Meilensteine in der Entwicklung des Völkerstrafrechts. Die Konzeption des NCSL-Prinzips, die in diesem Kontext zu finden ist, ist freilich strikter als die aus dem Nürnberger Prozess resultierende Konzeption. Dies ergibt sich aus der detaillierten Definition der internationalen Verbrechen, die in Art.  6 bis 8  aufgenommen wurde und aus der Aufnahme des Rückwirkungsverbots sowie des Prinzips der strict construction und des Analogieverbots. Nichtsdestotrotz stellt all dies keine völlig radikale Änderung dar. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage, ob weitere Mechanismen zur Sicherung der Legalität im Völkerstrafrecht entwickelt worden sind oder noch entwickelt werden müssen. In diesem Sinne wurde im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit auf die doctrine of precedents und auf die Strafrechtsdogmatik hingewiesen. Inwieweit eine Art Präzedenzfall-System im Völkerstrafrecht etabliert werden soll oder eine Art dogmatischer Apparat durch die Begriffsbildung, um die Entscheidungen internationaler Straftribunale zu kontrollieren, bereits aufgebaut wurde oder noch aufzubauen ist, sind jedoch noch offene Probleme. Bei der ersten Möglichkeit müsste ohnehin beispielsweise der dezentralisierte Charakter des Völkerrechts berücksichtigt werden, während die zweite Möglichkeit einen akademischen Dialog interkulterellen Zuschnitts voraussetzt, der den internationalen Charakter des Völkerrechts tatsächlich widerspiegelt. Das Inkrafttreten des IStGH-Statuts erlaubt es immerhin, zu behaupten, dass das Völkerstrafrecht zurzeit zur zweiten Möglichkeit neigt, denn es enthält eine gemeinsame und detallierte Grundlage für die weitere Entwicklung des Völkerstrafrechts. Die Einrichtung des IStGH zusammen mit der Schaffung mehrerer gemischter Tribunale an verschiedenen Orten der Welt, die sich auf die eine oder andere Weise an dem IStGH-Statut und der Rechtsprechung des IStGH orientieren, bilden eine geeignete Gelegenheit, um den bereits erwähnten interkulturellen Dialog zu fördern. Dies kann freilich zur Rechtsicherheit auf interna­tionaler Ebene beitragen, wie in der vorliegenden Arbeit erläutert wurde, ohne die Eigenschaften, die die Entwicklung des Völkerstrafrechts ermöglicht haben, und die daraus resultierende Konzeption des NCSL-Prinzips zu übersehen.

Zusammenfassung: Elemente einer allgemeinen Konzeption des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht Das Völkerstrafrechts ist seit seiner Geburt in einem Spannungsverhältnis mit dem NCSL-Prinzip gewesen, obwohl dieses Prinzip erst 1998 erstmals im Statut eines internationalen Strafgerichtshofs explizit vorgesehen wurde, nämlich in Art. 22 und 24 des IStGH-Statuts. Die Diskussionen hinsichtlich des NCSLPrinzips haben insbesondere in Bezug auf die Definition und Konkretisierung der völkerrechtlichen Kernverbrechen (sog. core crimes) stattgefunden. Ferner sind einige für das Völkerstrafrecht zentrale Entwicklungen in Frage gestellt worden, weil sie angeblich durch die rückwirkende Anwendung neuen Rechts durchgeführt worden seien und somit gegen das NCSL-Prinzip verstoßen würden. Deshalb hat sich die vorliegende Arbeit der Rekonstruktion einer Konzeption des NCSL-Prinzips für das Völkerstrafrechts gewidmet. Diese Konzeption wurde auf der Grundlage der Entwicklung des Völkerstrafrechts erarbeitet und bildet den Ausgangspunkt zur Bestimmung eines Mindeststandards des NCSL-Prinzips für das Völkerstrafrecht.

Ausgangspunkte zur Analyse des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht Dafür wurde zunächst im ersten Kapitel die Entwicklung des NCSL-Prinzips im englischen und im deutschen Strafrecht verglichen. Als methodischer Ausgangspunkt wurden einige Elemente aus der funktionalen Rechtsvergleichung übernommen. Die Analyse wurde ferner mit einem auf den Traditionsbegriffen von Patrick Glenn und John Merryman basierenden historischen Ansatz ergänzt. Das Ziel war dabei, einige grundsätzliche Aspekte des NCSL-Prinzips festzustellen, die berücksichtigt werden müssen, um die sich aus der Entwicklung des Völkerstrafrechts ergebende Konzeption des NCSL-Prinzips rekonstruieren zu können. Durch den Vergleich des englischen und deutschen Strafrechts wurde gezeigt, dass sich derselbe Begriff bzw. dieselbe Idee in unterschiedlichen Kontexten auf verschiedene Weisen konkretisieren kann und dass hierbei mehrere Faktoren von Bedeutung sind. Hinsichtlich dieser Rechtsordnungen ist es sogar möglich, von zwei unterschiedlichen Modellen des Rückwir­kungsverbots und daher des NCSLPrinzips zu sprechen. Einerseits liegt im englischen Strafrecht ein flexibles Ver-

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ständnis bzw. eine flexible Konzeption vor, die von vier Merkmalen geprägt ist: die Anerkennung der Anpassungsfähigkeit als Grundwert der Rechtsordnung; die aktive Rolle, die Richter in Bezug auf diese Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung spielen; die über die Rechtssicherheit hinausgehende Anerkennung weiterer Interessen und die damit einhergehende Flexibilisierung der Anhaltspunkte, die es erlauben, das Bestehen eines strafbewehrten Verbots zu bejahen; die Offenheit gegenüber moralischen Erwägungen im Rahmen der richterlichen Argumentation. Diese Merkmale führen zu einer relativen Unabhängigkeit der Richter gegenüber dem geschriebenen Recht. Im deutschen Strafrecht besteht hingegen eine strikte Konzeption, die sich aus vier Aspekten dieser Rechtsordnung ergibt: die relativ passive bzw. konservative Rolle der Richter bzgl. der Anpassung des Strafrechts; die Anerkennung der Gesetzgebung als einziger Rechtsquelle, durch die strafbewehrte Verbote festgelegt werden dürfen; die Notwendigkeit einer expliziten Verknüpfung zwischen verbotener Handlung und Strafe im geschriebenen Recht, um das Bestehen eines strafbewehrten Verbots bejahen zu können; der angebliche Ausschluss moralischer Erwägungen im Rahmen der richterlichen Argumentation. Wenn diese Modelle des NCSL-Prinzips als zwei Extreme in einer Pluralität von Alternativen verstanden werden, können mehrere Fragen im Hinblick auf das Völkerstrafrecht gestellt werden: Wo genau ist in diesem Spektrum das Verständnis des NCSL-Prinzips im Rahmen des Völkerstrafrechts zu verorten? Stellt die Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht eine unabhängige dritte Möglichkeit zwischen beiden Extremen dar oder ähnelt sie einem der beiden Modelle mehr als dem anderen? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen einige grundsätzlichen Aspekte des NCSL-Prinzips berücksichtigt werden. Insofern muss das Ziel dieses Grundsatzes zunächst festgestellt werden, da dies erlaubt, seinen Kern zu identifizieren. Darüber hinaus ist es herauszufinden, welche Elemente bzw. Aspekte einer Rechtsordnung das jeweilige Verständnis des NCSL-Prinzips prägen. Im Allgemeinen kann behauptet werden, dass die Bestrafung von Handlungen, die zum Zeitpunkt der Tatbegehung in einem Gemeinwesen nicht als strafbar galten, zu vermeiden, das generelle Ziel des NCSL-Prinzips darstellt. Es soll ein Mindestmaß an Sicherheit bzw. „Gewissheit“ über die Ausübung der Strafgewalt gewährleisten. Dies bildet gerade den Kern des NCSL-Prinzips. Wenn die gemeinsamen Punkte des NCSL-Prinzips in beiden verglichenen Rechtsordnungen betrachtet sind, kann ferner festgestellt werden, dass sich der Kern des NCSLPrinzips durch zwei Elemente konkretisiert: das Rückwirkungsverbot im weiteren Sinne und das Erfordernis von Eindeutigkeit bei der Gestaltung des Rechts. Das Rückwirkungsverbot im weiteren Sinne bezieht sich auf die prohibition of ex post facto law im Allgemeinen, d. h. auf die Anwendung des Rückwirkungsverbots sowohl auf die Gesetzgebung als auch auf das Richterrecht, je nach dem Rechtsquellensystem der jeweiligen Rechtsordnung. Auf die gleiche Weise muss das Erfordernis der Eindeutigkeit als Auswirkung des NCSL-Prinzips sowohl für das

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geschriebene Recht als auch für die Entwicklung des Strafrechts durch Rechtsprechung gelten. Im Hinblick auf das Völkerstrafrecht kann also behauptet werden, dass ein Mindestmaß an Sicherheit über die Richtung, in der die Strafgewalt ausgeübt wird, gewährleistet werden muss, um von der Beachtung des NCSL-Prinzips sprechen zu können. Dies muss hinsichtlich des geschriebenen Rechts oder in Bezug auf das Richterrecht zumindest durch das Rückwirkungsverbot und durch das Erfordernis eines Mindestmaßes an Eindeutigkeit in seiner Gestaltung geschaffen werden. Weder die Tatsache, dass das Völkerstrafrecht nicht immer das Ergebnis eines „demokratischen“ Prozesses ist, noch das Fehlen eines Gesetzgebers oder der Umstand, dass Rechtsquellen wie das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Völkerstrafrechts spielen, verhindern von vornherein die Geltung des NCSL-Prinzips in diesem Kontext. Wie soll aber konkret bestimmt werden, ob eine Verhaltensweise zum Zeitpunkt der Tatbegehung bereits strafbar war? Welche Anhaltspunkte sollen berücksichtigt werden, um das Bestehen eines strafbewehrten Verbots festzustellen? Durch welche spezifischen Mechanismen sollen Bestrafungen verhindert werden, die keine Grundlage im bereits geltenden Recht haben? Sollen strukturelle Erfordernisse, wie z. B. eine Art Gewaltenteilung, oder gewisse argumentative Anforderungen an Richter gestellt werden? Falls dies bejaht wird, stellt sich die Anschlussfrage, welche Anforderungen dies sein sollen. Soll beispielsweise eine bestimmte Form der dogmatischen bzw. „wissenschaftlichen“ Argumentation oder eine auf frühere Rechtsprechung bezogene Begründung der richterlichen Entscheidungen erforderlich sein? Die Antworten auf alle diese Fragen bilden kontingente Elemente des NCSL-Prinzips, die in jeder Rechtsordnung, damit auch im Völkerstrafrecht, von verschiedenen Aspekten abhängig sind. Als Ergebnis der in diesem Kapitel durchgeführten Vergleichung können drei Elemente bzw. Aspekte erwähnt werden, die sich gegenseitig beeinflussen und die in Bezug auf das Völkerstrafrecht thematisiert werden müssen, um die Konzeption des NCSL-Prinzips in diesem Kontext rekonstruieren zu können. Diese drei Aspekte bestimmen die in jedem Kontext vorherrschende Idee der Legalität. Als erster und zugleich allgemeinster Aspekt ist die Rolle der Strafgewalt in ihrem spezifischen rechtlichen Kontext zu nennen. Als zweiter Aspekt ist auf das Rechtsquellensystem hinzuweisen. Schließlich müssen die einflussreichsten rechtstheoretischen Ansätze erkundigt werden, die die entsprechende Rechtsordnung geprägt haben.

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Grundlagen für eine allgemeine Konzeption des nullum-crimen-sine-lege-Prinzips im Völkerstrafrecht Die Analyse dieser drei Elemente im Kontext des Völkerstrafrechts setzt die Berücksichtigung der unterschiedlichen Phasen seiner Entwicklung voraus. Deswegen wurde im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit gezeigt, wie die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg eingerichteten Tribunale das Problem der Rückwirkung handhabten, nämlich der Nürnberger IMG, die Tribunale der amerikanischen Besatzungszone und das IMTFO. Das Ziel dabei war es festzustellen, inwiefern sich die drei erwähnten Elemente in den analysierten Entscheidungen auf die Handhabung des NCSL-Prinzips auswirkten. Es geht dabei um die Erkundigung der in den Entscheidungen dieser Tribunale widerspiegelten Konzeptionen der Legalität. Daraus können die Grundlagen der allgemeinen Konzeption des NCSL-Prinzips im Völkerstrafrecht abstrahiert werden. Die Entscheidungen dieser Tribunale stellen den Ausgangspunkt einer Tradition dar, die sich durch die anschließende Entwicklung des Völkerrechts entwickelt hat und „Nürnberger Rechtstradition“ genannt werden kann. In diesem Kontext muss zunächst die moralische und politische Konnotation der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten internationalen Strafprozesse berücksichtigt werden. Diese Strafprozesse unterscheiden sich von der nationalen Strafverfolgung, weil sie Bestandteil der Gründung einer neuen (internationalen) Rechtsordnung sein sollten. Die Siegermächte begründeten diese Prozesse mit der Behauptung, dass in der Zwischenkriegszeit ein moralischer und politischer Konsens erreicht worden sei. Dieser Konsens beruhe auf drei Pfeilern: (i) der Ablehnung des (Angriffs)Krieges als legitimer Staatspolitik, (ii) der auf der Leitidee der „Menschlichkeit“ beruhenden Notwendigkeit eines Mindestmaßes an Achtung der Rechte der eigenen Bevölkerung und (iii) der Annahme, dass die internationalen Beziehungen dem Recht untergeordnet werden und somit Staatsoberhäupter auf internationaler Ebene individuelle strafrechtliche Verantwortung tragen sollten. Die Diskussionen über das NCSL-Prinzip im Rahmen des Völkerstrafrechts fanden in diesem Kontext statt. Ein weiterer relevanter Faktor ist, dass die Entscheidung zur Aburteilung der Kriegsverbrecher das Vertrauen auf das Recht als Friedensordnung, die der Verwirklichung bestimmter Werte dienen soll, ausdrücken sollte. Infolgedessen wurde die Aburteilung der Kriegsverbrecher gleichzeitig als Gerechtigkeits- und als Gnadenakt verstanden: Zum einen müsse die von den NS-Machthabern und den japanischen Kriegsverbrechnern zum Ausdruck gebrachte Missachtung des Rechts mittels ihrer rechtlichen Aburteilung kompensiert werden. Zum anderen müsse eine Chance gewährleisten werden, damit die Kriegsverbrecher für ihr Leben plädieren konnten. Mithilfe dieser Prozesse wollten die Alliierten insofern zeigen, dass sie auf der Seite des Rechts stünden. Folglich beanspruchten sie auch die moralische Überlegenheit für sich. Die Strafverfolgung wurde deshalb nicht nur durch den Sieg gerechtfertigt, sondern auch durch die Idee der Gerechtigkeit,

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der die internationale Strafjustiz zur Durchsetzung verhelfen sollte. Dies erlaubte es dann, die sich aus dem NCSL-Prinzip ergebenden Einwände durch Argumente, die naturrechtliche Elemente enthielten, zurückzuweisen. Die Prozesse der Nachkriegszeit zeigen also, dass auf völkerrechtlicher Ebene zwischen der Errichtung eines Tribunals samt seiner Zuständigkeitsbestimmung in materiellrechtlicher Hinsicht einerseits und der Schaffung des anzuwendenden Rechts andererseits zu unterscheiden ist. Denn während das NCSL-Prinzip selbst bei der rückwirkenden Errichtung eines Tribunals keine Rolle spielt, gilt es für das anzuwendende Recht, sodass dieses im Voraus bestehen muss. Die Frage lautet somit: Wie (oder wann) lässt sich überhaupt das Bestehen einer völkerstrafrechtlichen Norm verifizieren? Vor dem Hintergrund der Diskussionen über den Angriffskrieg und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit lässt sich also festhalten, dass der Unterschied zwischen Verhaltens- und Sanktionsnorm den Ausgangspunkt bildet, um diese Frage beantworten zu können. Im Völkerstrafrecht müssen das Verbot und die Strafbarkeit einer Handlung als zwei verschiedene und getrennte Aspekte betrachtet werden. Aus den Diskussionen, die in diesen Strafprozessen stattfanden, folgt also, dass im Lichte des NCSL-Prinzips für jeden dieser beiden Aspekte ein eigener Standard gilt. Das Verbot der Handlung sollte in einer vor der Begehung der Tat geltenden positiven Völkerrechtsquelle begründet sein. Dies ergibt sich etwa aus der Diskussionen hinsichtlich des BKP und der Strafbarkeit des Angriffskrieges sowie aus dem Verweis auf die Haager Abkommen zur Begründung der Strafbarkeit der Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Martens’sche Klausel. Im Unterschied dazu könnte die Strafbarkeit durch eine „Tendenz“ begründet werden. Die völkerstrafrechtliche Norm kann deswegen auf eine fragmentierte Weise bestehen. Es kann also notwendig sein, die Norm durch die Interpretation verschiedener Rechtsquellen, wie z. B. der Völkerrechtsverträge und des Völkergewohnheitsrechts, aus unterschiedlichen aber miteinander verbundenen Rechtsgebieten des Völkerrechts (wie z. B. das humanitäre Völkerrecht) zu rekonstruieren. Das Phänomen der Interlegalität kann somit sogar bei der Geburt des Völkerstrafrechts gefunden werden. Dementsprechend muss die Kriminalisierung einer Handlung auf internationaler Ebene nicht in einem bestimmten Moment erfolgen. Es kann sich vielmehr auch um einen schrittweisen Vorgang handeln, bei dem verschiedene Elemente zusammenwirken. Aus dem Fehlen eines festen Verfahrens zur Rechtserzeugung folgt ein „Defizit“ an Formalität, das jedoch durch die vom Völkerstrafrecht beanspruchte moralische Überlegenheit kompensiert werde. Aus den (internationalen) Strafprozessen der Nachkriegszeit ergibt sich ein subjektives und moralisiertes Verständnis des NCSL-Prinzips. Demnach war es wichtiger, dass der Angeklagte wusste, dass er für seine Taten bestraft werden könnte, als die Existenz einer konkreten Rechtsgrundlage, in der die Strafbarkeit der Tat explizit vorgesehen wäre. All dies zeigt ferner, dass das NCSL-Prinzip in diesen Strafprozessen keinen Selbstzweck bildete. Seine rechtliche und moralische

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Bedeutung hängte von den Werten (oder der Ideologie) ab, die durch seine Achtung oder Beschränkung in einem bestimmten Kontext verwirklicht würden. Hinter dieser Vorstellung des NCSL-Prinzips steht also ein materieller Rechtsbegriff, dem zufolge das Recht kein einfaches Normensystem ist, unabhängig von seinem Inhalt, sondern ein Normensystem, in dem individuelle Rechte und Freiheiten geachtet werden müssen und in dem die Rechtssicherheit allein nicht den wichtigsten Wert der Rechtsordnung darstellt.

Die theoretischen Prämissen der Entwicklung des Völkerstrafrechts und das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher stellte den Ausgangspunkt eines wichtigen Wandlungsprozesses im Völkerrecht dar. Die Vorstellung des Völkerrechts als zwischen souveränen Staaten geltende Koordinationsordnung, dessen Zentrum der Staat als unabhängige politische Entität war, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine Konzeption des Völkerrechts ersetzt, nach der die Aufgabe des Völkerrechts auch und vor allem im Schutz des Individuums besteht, wenn nötig vor der staatlichen Macht. Diese Wandlung steht in engem Zusammenhang mit der Erkenntnis, dass sich die Legitimation bzw. Verbindlichkeit des Rechts aus der Achtung eines ethischen Minimums ergibt. Vor diesem Hintergrund, um eine allgemeine Konzeption des NCSL-Prinzips im Rahmen des Völkerstrafrechts feststellen zu können, wurden die theoretischen Prämissen, die hinter einer solchen Konzeption stehen, bzw. die theoretischen Wurzeln des Völkerstrafrechts im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit identifiziert. Zunächst wurden die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg im anglo-amerikanischen und im deutschen Rechtskreis erfolgten Debatten über die Aburteilung der Kriegsverbrecher und die Anwendung rückwirkenden Völkerrechts rekonstruiert. Es wurde festgestellt, dass die positivistischen Ansätze im Völkerrecht große Schwierigkeiten bei der Begründung einiger, für die Entwicklung des Völkerstrafrechts zentraler Aspekte haben. Völkerrechtliche Lehren, die das Primat des nationalen Rechts verfechten und die das Völkerrecht als Selbstbeschränkung der Souveränität verstehen, können weder das Völkergewohnheitsrecht als allgemein gültige Völkerrechtsquelle, noch die allgemeinen, Kraft ihres moralischen Inhalts rechtlich relevanten Grundsätze anerkennen. Gleichermaßen können die auf der dualistischen Konstruktion basierenden Auffassungen die Existenz derjenigen völkerrechtlichen Normen nicht akzeptieren, die Individuen unmittelbar verpflichten und von daher die individuelle völkerrechtliche Verantwortung begründen. Diese Ansichten machen eigentlich die Gültigkeit völkerrechtlicher Normen von einem staatlichen Zustimmungsakt abhängig und vertreten außerdem ein striktes Verständnis der Elemente des Völkergewohnheitsrechts, das nicht der Argumentation von Tribunalen wie dem Nürnberger IMG entspricht.

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Durch die Rekonstruktion dieser Debatten konnte aber auch bestimmt werden, welche rechtstheoretischen Strömungen die ersten internationalen Strafprozesse unterstützten. Es handelt sich um eine Mischung pragmatischer und naturrechtlicher Ansichten des Rechts, bei der die Tradition von Hugo Grotius und die Idee von Delikten mala in se eine entscheidende Rolle spielen. Aus diesen Ansätzen ergeben sich drei Punkte hinsichtlich der Völkerstrafrechtsquellen, die unerlässlich zum Verstehen des NCSL-Prin­zips in diesem Kontext sind. Erstens ist keine formell erlassene Norm im Völkerstrafrecht notwendig, die die verbotene Handlung explizit unter Strafe stellt. Zweitens wird ein striktes Verständnis des Völkergewohnheitsrechts, nach dem die Elemente der Staatenpraxis und der Rechtsüberzeugung vollständig bewiesen werden müssen, durch eine flexiblere Konzeption ersetzt. Drittens dürfen Vorschriften wie diejenige der LC und des KRG Nr. 10, in denen die zur Zuständigkeit der jeweiligen Tribunale gehörenden Straftaten definiert werden, nicht notwendigerweise als Straftatbestände im traditionellen bzw. „deutschen Sinne“ verstanden werden, d. h. im Sinne einer genauen Beschreibung der verbotenen Handlung. Um das NCSL-Prinzip und die Idee von Legalität im Rahmen des Völkerstrafrechts verstehen zu können, muss ferner berücksichtigt werden, dass sich das Problem der Rückwirkung im Völkerstrafrecht nicht nur in Bezug auf das zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltende Völkerrecht, sondern auch mit Blick auf das geltende nationale Recht stellen kann. Denn wie die Strafprozesse gegen die Kriegsverbrecher im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg zeigen, ist es möglich, dass das nationale Recht die in Frage stehende Handlung erlaubt. Deswegen kann eine Bestrafung auf Grundlage des Völkerrechts in doppelter Hinsicht rückwirkenden Charakter haben. Denn neben der rückwirkenden Kriminalisierung von Handlungen im Kontext des Völkerrechts kommt auch die mögliche rückwirkende Nichtanerkennung der nationalen Rechtsnormen in Betracht. Die Idee der Legalität im Völkerstrafrecht muss daher nicht nur das Verständnis der Völkerrechtsquellen untermauern, sondern auch den Anspruch des Völkerstrafrechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen begründen können. Vor diesem Hintergrund kann behauptet werden, dass das Völkerstrafrecht aus zwei Grundideen entstanden ist: zum einen der Annahme, dass Völkerrecht und nationales Recht irgendwie verknüpft seien, und zum anderen der Ansicht, dass ein komplexer, notwendiger Zusammenhang zwischen Recht und Moral bestehe. Es geht im Ergebnis um ein Amalgam „monistischer“ Theorien des Völkerrechts mit einem Rechtsbegriff, der sich aus der sog. Verbindungsthese ergibt, und deswegen als Produkt eines rechtsethischen Essentialismus bezeichnet werden kann. Deshalb muss zumindest mit Blick auf das Völkerstrafrecht anerkannt werden, dass Völkerrecht und nationales Recht in gewissem Sinne verknüpft sein müssen und dass das Völkerrecht den Vorrang gegenüber dem nationalen Recht beanspruchen darf. Der Vorrang des Völkerrechts ergibt sich aus der Vorstellung, dass es das ethische Minimum verkörpert, das vom nationalen Recht beachtet werden muss, damit seine Legitimität, d. h. seine Verbindlichkeit, im Rahmen des Völker-

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rechts akzeptiert werden kann. Eine Theorie wie diejenige von Kelsen, nach der die Verbindung zwischen Völkerrecht und nationalem Recht lediglich formell ist, vermag deshalb nicht das Völkerstrafrecht zu begründen. Die moralische Konnotation des Völkerstrafrechts erweist sich als ein wesentlicher Aspekt, um die in diesem Kontext entwickelnde Konzeption des NCSLPrinzips verstehen zu können. Insofern wurde nach der Thematisierung der Auffassung Radbruchs und der sog. Hart-Fuller-Debatte festgestellt, dass das Völkerstrafrecht nicht nur moralische Ideale widerspiegelt. Der Zusammenhang zwischen dem Völkerstrafrecht und einer internationalen Moral ist tiefer, denn es hat als Durchsetzungsmechanismus moralischer Ideale gedient. Gerade in diesem Kontext finden die Idee der Legalität und das NCSL-Prinzip ihren Platz und ihre Konturen. Es muss also im Rahmen des Völkerstrafrechts anerkannt werden, dass die Legalität an sich auch einen moralischen Wert hat. Aufgrund der Existenz genereller und mehr oder weniger klarer Normen, die ein Mindestmaß an Rechtssicherheit verschaffen vermögen, erweist sich das Recht als Mechanismus zur Verwirklichung der austeilenden Gerechtigkeit (so Radbruch, Hart und Fuller). Die sich aus der Legalität ergebene Rechtssicherheit stellt ebenso eine Voraussetzung der Gleichheit und der Freiheit in der Gesellschaft dar. Trotzdem kann die Legalität auch als Werkzeug zur Unterdrückung missbraucht werden. Dementsprechend kann auch im Rahmen des Völkerstrafrechts behauptet werden, dass die Legalität lediglich a priori moralisch wertvoll ist, da ihr moralischer Wert unter bestimmten Unstände relativ sein kann. Auf jeden Fall ist es mit Green anzunehmen, dass die Legalität immer moralische Implikationen aufweist und deswegen abwägungsfähig ist – dies wurde sogar von Kelsen anerkannt. Aus diesem Grund muss anerkannt werden, dass die durch die Legalität angestrebte Rechtssicherheit, wie auch von Radbruch hervorgehoben wurde, nicht der einzige Wert ist, dessen Verwirklichung das Recht dient und dass sie in extremen Fällen zurückzutreten hat. Neben dem formellen Verständnis der Rechtssicherheit und der austeilenden Gerechtigkeit ergibt sich auch eine mit der Achtung der Menschenrechte, d. h. der jedem Individuum gebührenden Behandlung, verknüpfte materielle Gerechtigkeitskonzeption, die im Kontext des Völkerstrafrechts eine besondere Rolle spielt. Angesichts der potenziellen Konflikte zwischen der Rechtssicherheit und dieser materiellen Gerechtigkeitskonzeption ist im Rahmen des Völkerstrafrechts eine auf Fullers Auffassung basierende differenzierte Konzeptualisierung der Legalität anzunehmen. Dies bedeutet, dass die Legalität verschiedene Verwirklichungsgrade zulässt. Auf der Ebene des Völkerstrafrechts ist folglich ein Mindeststandard erforderlich und somit die Legalität als morality of duty zu werten. Dieses darf aber nicht so strikt verstanden werden, wie es in den kodifizierten und wenig flexiblen Rechtssystemen der Fall ist. Somit bildet die Legalität auch einen Teil der morality of aspiration. Ein Mittelweg muss gefunden werden. Die im zweiten Kapitel vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit der Hand-

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lung kann den Ausgangspunkt dafür bilden. Jedenfalls hat diese Konzeption der Legalität dem Völkerstrafrecht erlaubt, zwei für seine Entwicklung entscheidende Strategien umzusetzen: die Ablehnung der Verbindlichkeit des staatlichen Rechts, wenn es sich von den dem Völkerstrafrecht zugrundeliegenden Prinzipien bzw. Werten losgelöst hat, und die Erfüllung der Anforderungen des NCSL-Prinzips und somit der Rechtssicherheit durch relativ flexible Standards. Die moralische Konnotation des Völkerstrafrechts kann auch anhand seines Anwendungsbereichs deutlich gesehen werden. Dabei müssen auch der Anspruch des Völkerstrafrechts gegenüber den staatlichen Rechtsordnungen und seine „Botschaft“ berücksichtigt werden. Das Völkerstrafrecht ist auf die strafrechtliche Verfolgung von Grausamkeiten gerichtet, die im Kontext massenhafter Gewalt erfolgen. Gerade die wichtigsten rechtlichen und ethischen Grenzen der Ausübung politischer Macht im Kontext der Kriegsführung und der Behandlung der eigenen Bevölkerung sollen mithilfe eines durch die internationalen Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht gebildeten Komplexes durchgesetzt werden. Deswegen kann gesagt werden, dass das Völkerstrafrecht moralische Ansprüche stellt. Es projiziert somit das Selbstbild einer moralisch legitimen Autorität. Der Anspruch des Völkerrechts, den ethisch-rechtlichen minimalen Standard der nationalen Rechtsordnungen zu verkörpern, konkretisiert sich und ergibt sich zugleich aus der Idee des internationalen Menschenrechtsschutzes. Diese Idee gründet sich auf drei zentrale Annahmen. Erstens, dass das Völkerrecht eine geeignete Bühne zum Schutz inhärenter Rechte des Individuums ist. Zweitens, dass sich diese Rechte aus der Menschenwürde ergeben und deswegen ihr Schutz auch eine moralische Pflicht bildet. Drittens, dass eine auf den Menschenrechten basierende internationale Rechts- und Wertegemeinschaft tatsächlich besteht. Vor dem Hintergrund des internationalen Menschenrechtsschutzes wird die Ausübung der Strafgewalt auf internationaler Ebene gegenüber der Verwirklichung eines strikten und formellen Ideals von Rechtssicherheit und Legalität priorisiert. Zwei ideologische Perspektiven treten dann in ein Spannungsverhältnis: einerseits die „Ideologie des internationalen Menschenrechtsschutzes“ und andererseits die „legalistische Ideologie“. Die Legitimität dieser Entscheidung beruht auf der Überzeugung, dass der Menschenrechtsschutz eine moralische Pflicht sei, und, dass die Menschenrechte, zumindest in ihrer allgemeinen Formulierung, sowie die Existenz der sich aus ihrer Verletzung ergebenden internationalen Verbrechen den Ausdruck eines auf internationaler Ebene bestehenden moralischen Konsenses darstellten. Gerade in diesem Kontext, in dem das Völkerrecht als das „überstaatliche“ Recht (wie Verdross behauptete)  einer Wertegemeinschaft und die Menschenrechte als „Gemeinschaftswerte- bzw. Interesse“ erscheinen, ist eine strikte Konzeption des NCSL-Prinzips weder notwendig noch wünschenswert. Aus diesem Grund soll das Völkerstrafrecht als eine Art „Sonderrecht“ begriffen werden, d. h., es soll auf minimale Anforderungen beschränkt und lediglich in extremen Situationen angewandt werden.

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Das nullum-crimen-sine-lege-Prinzip und die Entstehung der Nürnberger Rechtstradition Nach den internationalen Strafprozessen, die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg durchgeführt wurden, und während des Kalten Krieges blieb das Völkerstrafrecht in einer Art Stillstand. Erst in den neunziger Jahren bekam das Völkerstrafrecht mit der Einrichtung der Ad-hoc-Straftribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda einen neuen Impuls, der letztendlich zur Schaffung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs führte. Nichtsdestoweniger wurden während dieses Zeitraums verschiedene Völkerrechtsverträge unterzeichnet, die zur Konsolidierung des materiellen Völkerstrafrechts beitrugen, vor allem im Bereich der internationalen Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts. Außerdem führte die ILC mehrere Diskussionen und legte mehrere Vorschläge vor, die für das gegenwärtige Völkerstrafrecht von besonderer Bedeutung sind. Deswegen wurde der Definitionsprozess des NCSL-Prinzips, die während und nach dem Kalten Krieg im Völkerrecht stattfand, im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit thematisiert, um die Elemente einer allgemeinen Konzeption des NCSLPrinzips im Völkerstrafrecht weiter zu präzisieren. Unter Berücksichtigung des auf Glenn und Merryman zurückgehenden Begriffs der Rechtstradition, der im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit dargelegt wurde, wurde also festgestellt, dass eine Rechtstradition hinsichtlich des NCSL-Prinzips durch die Interaktion zwischen internationalen Tribunalen entstanden ist, die zu verschiedenen Bereichen des Völkerrechts gehören und zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingerichtet worden sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das NCSL-Prinzip in die internationalen Menschenrechte inkorporiert. Derzeit hat es einen wesentlichen Platz in diesem Rechtsbereich. Es handelte sich aber nicht um eine „automatische“ Übertragung einer bestimmten nationalen Konzeption auf das Völkerrecht. Vielmehr haben die internationalen Menschenrechte zur Entstehung eines spezifischen Verständnisses dieses Prinzips beigetragen, das basierend auf der Dynamik und den Zwecken des Völkerrechts gebildet worden ist. Die sich aus den Strafprozessen der Nachkriegszeit ergebenden und im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit identifizierten Grundlagen bildeten den Ausgangspunkt sowohl überhaupt für die Aufnahme des NCSL-Prinzips in die internationalen Menschenrechte als auch für seiner Aufnahme in einer spezifischen Weise. Deswegen unterstützen die internationalen Menschenrechte die Ausübung der Strafgewalt auf internationaler Ebene ausdrücklich und erkennen die Relevanz aller Völkerrechtsquellen an, ohne eine bestimmte Hierarchie unter ihnen vorzuschreiben. Hinsichtlich des NCSL-Prinzips ist die Nürnberger Klausel der deutlichste Ausdruck des Einflusses der im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg durchgeführten internationalen Strafprozesse auf die internationalen Menschenrechte. Diese wurde ursprünglich während der Diskussionen der AEM vorgeschlagen aber in den IPBPR (Art. 15 Abs. 2) und in die EMRK (Art.  7 Abs.  2) aufgenommen. Die Nürnberger Klausel kann als

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eine Art Stellungnahme interpretiert werden, die klarstellt, dass auch allgemeine Rechtsgrundsätze bei der Strafverfolgung internationaler Verbrechen relevant sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie eine Ausnahme darstellt. Aber es würde sich nicht um eine Ausnahme des Rückwirkungsverbots handeln, sondern um eine „Ausnahme“ einer strikten Konzeption der Legalität. Der entscheidende Punkt ist, ob die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Völkerrechtsquelle im Zusammenhang der Strafverfolgung internationaler Verbrechen anerkannt werden können oder nicht. Das NCSL-Prinzip wurde weder in den Statuten der Ad-hoc-Straftribunale noch im SCSL-Statut vorgesehen. Die Relevanz dieses Prinzips ist aber sowohl seit dem Moment, in dem diese Tribunale entworfen wurden, als auch in mehreren Fällen akzeptiert worden. Die Geltung des NCSL-Prinzips ist von den internationalen Straftribunalen, auf die hier Bezug genommen wurde, nicht in Frage gestellt worden. Die umstrittenen Fälle zeigen nicht die Ablehnung des NCSL-Prinzips sondern seine Schwierigkeiten und Besonderheiten im Völkerstrafrecht. Der Ansatz der Ad-hoc-Straftribunale entspricht jedoch einer strengen bzw. strikten Konzeption des NCSL-Prinzips nicht. Das NCSL-Prinzip ist hier vor dem Hintergrund der internationalen Menschenrechte interpretiert worden und dafür hat insbesondere die Rechtsprechung des EGMR eine maßgebende Rolle gespielt. Es ist also auch im Kontext der Ad-hoc-Straftribunale behauptet worden, dass das NCSL-Prinzip der richterlichen graduellen Fortentwicklung des Rechts nicht entgegensteht. Diesbezüglich muss jedenfalls anerkannt werden, dass die Abgrenzung zwischen der richterlichen Rechtsfortbildung und der richterlichen Rechtsschöpfung schwierig ist. Um das NCSL-Prinzip konkretisieren zu können, verbinden die Ad-hocund einige gemischte Straftribunale ferner zwei Elemente. Zum einen ist das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit als Bewertungsmaßstab der Legalität zu erwähnen, wie es vom EGMR entwickelt worden ist. Zum anderen ist auf die Idee hinzuweisen, nach der das NCSL-Prinzip vor dem Hintergrund der Eigenheiten des Völkerstrafrechts definiert werden soll. Damit das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit in diesem Zusammenhang verstanden werden kann, muss zuerst darauf hingewiesen werden, dass die Statuten dieser Straftribunale nicht die eigentliche materielle Rechtsgrundlage der Strafbarkeit der Handlungen bildeten, wie es auch z. B. in Bezug auf den Nürnberger IMG der Fall war. Sie umschreiben nur die materielle Zuständigkeit der Tribunale und insofern sollten sie das bestehende Völkerrecht widerspiegeln. Deshalb verweisen sie auf andere Völkerrechtsquellen. Das Phänomen der Interlegalität und die daraus resultierende Fragmentierung der völkerstrafrechtlich relevanten Normen sind somit auch im Kontext der Ad-hoc-Straftribunale zu sehen, ebenso wie in den im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg eingerichteten Tribunalen. In Übereinstimmung mit dem NCSL-Prinzip sollte es also möglich sein, gewisse Bezugspunkte im zum Zeitpunkt der Tatbegehung bestehenden Völkerrecht zu finden, um die Voraussetzungen der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit zu erfüllen und damit das NCSL-Prinzip zu beachten. Dafür muss die Unter-

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scheidung zwischen Verbot und Strafbarkeit in Betracht gezogen werden. Diese Unterscheidung ist nicht nur vom JStGH sondern auch vom RStGH, dem SCSL und sogar dem SGL anerkannt worden. Dies kann im vom JStGH formulierten Tadić-Tests (Fälle Tadić und Galić) und in seiner anschließenden Aufnahme von anderen Straftribunalen (z. B. in den Fällen Akayesu und Hinga Norman) gesehen werden. Von der Rechtsprechung dieser Tribunale ausgehend ist es also möglich zu behaupten, dass ein doppelter Standard im Hinblick auf das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht entwickelt worden ist. Hinsichtlich des Verbots der Handlung lässt sich de lege ferenda festhalten, dass es in einer positiven Völkerrechtsquelle begründet werden sollte. Das Verbot sollte sich aus dem geschriebenen Völkerrecht ergeben. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass alle in der vorliegenden Arbeit diskutierten Fälle gemeinsam haben, dass das Verbot stets einen Anknüpfungspunkt an die zum Zeitpunkt der Tatbegehung bestehenden internationalen Instrumente gehabt hat. In diesen Beispielen ist das Völkergewohnheitsrecht relevant gewesen (und gelegentlich auch die Idee der allgemeinen Rechtsgrundsätze), nicht um das Bestehen des Verbots zu beweisen, sondern um seine allgemeine Geltung zu bejahen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass derselbe Präzisionsgrad, der bei Straftatbeständen in einigen nationalen Rechtsordnungen gefunden werden kann, freilich im diesem Kontext nicht zu erwarten ist. Besonders relevant ist aus diesem Grund sowohl die teleologische Interpretation als auch eine systematische Auslegung, in der das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Arten internationaler Instrumente maßgeblich ist. In Bezug auf die internationale Strafbarkeit der Handlung ist ein Anknüpfungspunkt in den zum Zeitpunkt der Tatbegehung bestehenden internationalen Instrumenten nicht erforderlich. Im Völkerstrafrecht muss die Strafbarkeit einer Handlung nicht im Voraus und explizit in einem internationalen Instrument vorgesehen sein. Denn die Kriminalisierung einer Handlung geschieht auf internationaler Ebene vielmehr durch einen Prozess, in dem verschiedene Elemente bzw. Völkerrechtsquellen ins Spiel kommen. Deswegen darf die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit der Strafbarkeit durch die Identifizierung mehrerer Bezugspunkte bewiesen werden. Diese Bezugspunkte müssen als Schritte in Richtung zur Kriminalisierung der Handlung interpretiert werden können, unabhängig davon, wie diese Elemente innerhalb der Völkerrechtsquellen zuzuordnen sind. Zwischen den Elementen bzw. Bezugspunkten, die die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit der internationalen Strafbarkeit einer Handlung beweisen können, besteht keine Hierarchie. Insofern wurde in der vorliegenden Arbeit auf die Idee einer „Tendenz“ hingewiesen. In diesem Kontext kann die Schwere der Taten die Argumentation bekräftigen aber nicht der einzige Faktor zur Begründung der Strafbarkeit sein. Es ist also möglich, zu behaupten, dass eine Konzeption des NCSL-Prinzips, die dem flexiblen Modell ähnelt, das durch den im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit durchgeführten Vergleich festgestellt wurde, auch im Völkerstrafrecht vorliegt. Im Kontext des Völkerstrafrechts ist das NCSL-Prinzip auch von den vier in

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Bezug auf das englische Strafrecht bereits erwähnten Merkmalen geprägt (Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung, relativ aktive Rolle der Richter, Anerkennung weiterer Interessen neben der Rechtssicherheit und Offenheit gegenüber moralischen Erwägungen im Rahmen der richterlichen Argumentation). Trotzdem sind auch wichtige Unterschiede zu finden. Die Diskussionen über das NCSL-Prinzip sind im Völkerstrafrecht vor allem wegen der Bestrafung von Handlungen motiviert worden, die angeblich zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht kriminalisiert worden waren. Dies bedeutet aber nicht, dass die internationalen Straftribunale die Befugnisse zur Schaffung neuer strafbewehrter Verbote, wie eine Art common law offences, haben, wie es in der englischen Rechtstradition der Fall war. Im Kontext des Völkerstrafrechts geht es vielmehr um die Frage, inwieweit die Entscheidungen der internationalen Straftribunale auf dem zum Zeitpunkt der Tatbegehung bestehenden Völkerrecht beruhen. Daraus folgt, dass die Rechtsprechung nicht allein die Rechtsgrundlage eines strafbewehrten Verbots sein darf, obwohl die Entscheidungen internationaler Straftribunale immerhin einen besonders relevanten Aspekt des Kriminalisierungsprozesses auf internationaler Ebene bilden. Um das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht verstehen zu können, muss darüber hinaus die Arbeit der ILC berücksichtigt werden. Im diesem Kontext können einige Elemente gefunden werden, die bereits erwähnt wurden. Außerdem befinden sich hier die ersten Vorschläge einer Bestimmung über das NCSL-Prinzip im Völkerstrafrecht, woraus die Bedeutung der Kodifikation für das Völkerstrafrecht abgeleitet werden kann. Die ILC versuchte nicht, eine umfassende Kodifikation zu verfassen. Sie formulierte in den neunziger Jahren u. a. aufgrund des Zustands des Völkerrechts die core crimes in einer Weise, in der die Verbindung des Völkerstrafrechts mit den internationalen Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht anerkannt wurde. In diesem Kontext wurden drei Versionen des Rückwirkungsverbots vorgeschlagen. Aber mit keiner dieser Bestimmungen wollte die ILC das Verständnis der Völkerrechtsquellen, die die Entwicklung des Völkerstrafrechts ermöglicht hat, verändern oder die Kodifikation als einzigen oder privilegierten Mechanismus zur Kriminalisierung von Handlungen auf völkerrechtlicher Ebene errichten. Die ILC wollte zur Rechtssicherheit im Kontext des Völkerstrafrechts beitragen, ohne dabei das Völkerstrafrecht weniger flexibel zu machen. Vor diesem Hintergrund kann gefragt werden, ob sich das IStGH-Statut hinsichtlich des NCSL-Prinzips von der Nürnberger Rechtstradition losgelöst hat, und, wenn diese Frage zu bejahen ist, inwiefern. Denn dieses Instrument hat zwei Normen, die sich auf das NCSL-Prinzip beziehen: Art. 22 („Nullum crimen sine lege“) und Art.  24 („Rückwirkungsverbot ratione personae“). Außerdem wurde nicht nur das Rückwirkungsverbot sondern auch das Prinzip der strict construction und das Analogieverbot im IStGH-Statut vorgesehen. Art. 22 und 24 des IStGH-Statuts erlauben es, zu behaupten, dass das geschriebene Recht im Kontext des IStGH eine besondere Rolle spielt, weil das Statut selbst hier den normativen Referenzpunkt des NCSL-Prinzips darstellt. Außerdem spricht die Aufnahme des Prinzips der strict construction und des Analogieverbots für eine konservativere

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bzw. striktere Konzeption als diejenige, die seit dem Nürnberger Prozess und durch die internationalen Menschenrechte und die Rechtsprechung der Ad-hoc-Straf­ tribunale entwickelt worden ist. Die Konzeption des NCSL-Prinzips, die in das IStGH-Statut aufgenommen wurde, steht folglich der Konzeption der deutschen Rechtstradition näher. Allerdings können einige Aspekte im IStGH-Statut gefunden werden, die es erlauben, zu behaupten, dass der in diesem Kontext verfolgte Ansatz die Nürnberger Rechtstradition nicht völlig verleugnet. Zunächst muss gesagt werden, dass dieser Ansatz nicht den Anspruch hat, die seit dem Nürnberger Prozess entwickelte Konzeption des NCSL-Prinzips im Hinblick auf das Völkerstrafrecht im Allgemeinen zu verändern. Die Formulierung des NCSL-Prinzips im IStGH-Statut richtet sich vor allem darauf, die Ausübung der Gerichtsbarkeit des IStGH zu begrenzen, nicht aber den Kriminalisierungsprozess auf internationaler Ebene zu verändern. Das IStGH-Statut legte also keine neuen Voraussetzungen für den Kriminalisierungsprozess auf internationaler Ebene fest. Das Verständnis der Völkerrechtsquellen, das der Entwicklung der internationalen Verbrechen zugrunde liegt, wurde insofern weder durch Art. 22 Abs. 1 noch durch Art. 24 Abs. 1 geändert. Gerade aus diesem Grund wurden Art. 10 und Art. 22 Abs. 3 in das IStGH-Statut aufgenommen. Ein wichtiger Hinweis insofern ist die Einrichtung der KSC im Jahr 2015, d. h. ca. 20 Jahre nach der Aufnahme des IStGH-Statuts. Denn laut Art. 12 des Statuts der KSC bildet das Völkergewohnheitsrecht „as applicable at the time the crimes were committed“ die grundsätzliche Völkerrechtsquelle, die in diesem Kontext angewendet werden muss. Außerdem kann der IStGH gemäß Art. 13 (b) und Art. 12 Abs. 3 seines Statuts in Bezug auf Nicht-Vertragsstaaten seine Gerichtsbarkeit immer noch (ad hoc) ausüben und in diesen Fällen ähnelt die Situation jener der anderen internationalen Straftribunale. Ein zusätzlicher Grund, um zu behaupten, dass das IStGH-Statut die Nürnberger Rechtstradition nicht völlig verleugnet, ist, dass es in gewissem Maße auch die Komplexität der Völkerrechtsquellen widerspiegelt. Deshalb hat der IStGH trotz Art. 22 Abs. 2 und der Aufnahme des Prinzips der strict construction in einigen Fällen einen relativen breiten Entscheidungsspielraum. Dies folgt vor allem aus der Tatsache, dass die Definitionen der internationalen Verbrechen, die insbesondere in Art. 7, 8 und 8 bis inkorporiert wurden, einige unbestimmte Elemente bzw. Ausdrücke haben, deren Auslegung dazu führt, die Entwicklung des Völkerrechts außerhalb des IStGH-Statuts zu berücksichtigen. Tatsächlich muss anerkannt werden, dass das NCSL-Prinzip in das IStGH-Statut nicht nur aufgenommen wurde, um ein Mindestmaß an Rechtssicherheit zu gewährleisten, sondern auch um den Zusammenhang zwischen der Versammlung der Vertragsstaaten als rechtserzeugendes Organ und dem IStGH zu regulieren. Das NCSL-Prinzip ist somit in diesem Kontext mit einer Art „Gewaltenteilung“ verknüpft. Dies verleiht dem IStGH eine untergeordnete Rolle. Aber es bedeutet nicht, dass der IStGH vom bestehenden Völkerrecht und von der weiteren Entwicklung des Völkerstrafrechts und der damit verbundenen Rechtsgebiete isoliert wurde, nämlich von den internationalen Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht.

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Rechtsprechungsverzeichnis

EGMR: Kononov v. Latvia, Judgment (Application no. 36376/04), GC, 17.05.2010. EGMR: Šimšić v. Bosnia and Herzegovina, Decision (Application no. 51552/10), Court Fourth Section, 10.04.2012. EGMR: Camilleri v. Malta, Judgment (Application no. 42931/10), Fourth Section sitting as a Chamber, 22.01.2013. EGMR: Maktouf and Damjanović v.  Bosnia  and  Herzegovina, Judgment (Applications nos. 2312/08 and 34179/08), GC, 18.07.2013. EGMR: Del Río Prada v. Spain, Judgment (Application no. 42750/09), GC, 21.10.2013. EGMR: Vasiliauskas v. Lithuania, Judgment (Application no. 35343/05), GC, 20.10.2015. IGH: Corfu Channel case (Judgment of April 9th, 1949: I. C. J. Reports 1949). IGH: Reservations to the Convention of Genocide (Advisory Opinion: I. C. J. Reports 1951). IGH: North Sea Continental Shelf Cases (Judgement, I. C. J. Reports 1969, p. 3). IGH: Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited, (Judgment, I. C. J. Reports 1970, p. 3). IGH: Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America, Merits, Judgment. I. C. J. Reports 1986, p. 14). IGH: Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons (Advisory Opinion, I. C. J. Reports 1996). IGH: Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory (Advisory Opinion, I. C. J. Reports 2004). IMTFO: Judgment (12.11.1948), in: Documents on the Tokyo International Military Tribunal. Charter, Indictment and Judgments, Neil Boster/Robert Cryer (Hrsg.), Oxford 2008, S. 71–628. IStGH: Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo (ICC-01/04-01/06), Decision on the confirmation of charges, PTC I, 29.01.2007. IStGH: Prosecutor v. Germain Katanga and Mathieu Ngudjolo Chui (ICC-01/04-01/07), Decision on the confirmation of charges, PTC I, 30.09.2008. IStGH: Prosecutor v. Omar Hassan Ahmad al Bashir (ICC-02/05-01/09), Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of Arrest, PTC I, 04.03.2009. IStGH: Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo (ICC-01/05-01/08), Decision Pursuant to Article 61(7)(a) and (b) of the Rome Statute on the Charges of the Prosecutor Against JeanPierre Bemba Gombo, PTC II, 15.06.2009. IStGH: Prosecutor v. Abdallah Banda Abakaer Nourain and Saleh Mohammed Jerbo Jamus (ICC-02/05-03/09), Second Decision on the Prosecutor’s Application under Article 58, PTC I, 27.08.2009. IStGH: Prosecutor v. Abdallah Banda Abakaer Nourain and Saleh Mohammed Jerbo Jamus (ICC-02/05-03/09), Corrigendum of the Decision on the Confirmation of Charges, PTC I, 07.03.2011.

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501

IStGH: Prosecutor v. Thomas Lubanga Dyilo (ICC-01/04-01/06), Judgment pursuant to Article 74 of the Statute, TC I, 14.03.2012. IStGH: Prosecutor v. Germain Katanga (ICC-01/04-01/07), Judgment pursuant to article 74 of the Statute, TC II, 07.03.2014. IStGH: Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo (ICC-01/05-01/08), Judgment pursuant to Article 74 of the Statute, TC III, 21.03.2016. JStGH: Prosecutor v. Tadić, Decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, AC, 02.10.1995. JStGH: Prosecutor v. Milan Martić (IT-95-11-R61), Decision, TC, 08.03.1996. JStGH: Prosecutor v. Tadić (IT-94-1-T), Opinion and Judgment, TC, 07.05.1997. JStGH: Prosecutor v. Delalić et al. (IT-96-21-T), Judgement, TC, 16.11.1998. JStGH: Prosecutor v. Anto Furundžija (IT-95-17/1-T), Judgment, TC, 10. 12. 1998. JStGH: Prosecutor v. Tadić (IT-94-1-A), Judgement, AC, 15.07.1999. JStGH: Prosecutor v. Goran Jelisić (IT-95-10-T), Judgement, TC, 14.12.1999. JStGH: Prosecutor v. Kupreškić et al. (IT-95-16-T), Judgement, TC, 14.01.2000. JStGH: Prosecutor v. Tihomir Blaškić (IT-95-14-T), Judgement, TC, 03.03.2000. JStGH: Prosecutor v. Zlatko Aleksovski (IT-95-14/1-A), Judgement, AC, 24.03.2000. JStGH: Prosecutor v. Delalić et al. (IT-96-21-A), Judgement, AC, 20.02.2001. JStGH: Prosecutor v. Miroslav Kvočka et al. (IT-98-30/1-T), Judgement, TC, 02.11.2001. JStGH: Prosecutor v. Hadžihasanović et al. (IT-01-47-PT), Decision on Joint Challenge to Jurisdiction, TC II, 12.11.2002. JStGH: Prosecutor v. Pavle Strugar et al. (IT-01-42-AR72), Decision on Interlocutory Appeal, AC, 22.11.2002. JStGH: Prosecutor v. Enver Hadžihasanović et al. (IT-01-47-PT), Interlocutory appeal on decision on joint challenge to jurisdiction, AC, 27.11.2002. JStGH: Prosecutor v. Mitar Vasiljević (IT-98-32-T), Judgment, TC II, 29.11.2002. JStGH: Prosecutor v. Milan Milutinović et  al. (IT-99-37-AR72), Deicision on Dragoljub Ojdanić’s motion challenging jurisdiction – joint criminal enterprise, AC, 21.05.2003. JStGH: Prosecutor v. Hadžihasanović et al. (IT-01-47-AR72), Decision on interlocutory appeal challenging jurisdiction in relation to command responsibility, AC, 16.07.2003. JStGH: Prosecutor v. Milomir Stakić (IT-97-24-T), Judgement, TC II, 31.07.2003. JStGH: Prosecutor v. Stanislav Galić (IT-98-29-T), Judgement and Opinion, TC I, 05.12.2003. JStGH: Prosecutor v. Vidoje Blagojević and Dragan Jokić (IT-02-60-T), Judgement, TC I, 17.01.2005. JStGH: Prosecutor v. Milomir Stakić (IT-97-24-A), Judgement, AC, 22.03.2006.

502

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Nürnberger IMG: Urteil (verkündet am 30.09. und 01.10.1946), in: Das Urteil von Nürnberg 1946, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1961. RStGH: Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu (ICTR-96-4-T), Judgement, TC I, 02.09.1998. RStGH: Prosecutor v. Clément Kayishema and Obed Ruzindana (ICTR-95-1-T), Judgement, TC II, 21.05.1999. RStGH: Prosecutor v. Rutaganda (ICTR-96-3-T), Judgement and Sentence, TC I, 06.12.1999. RStGH: Prosecutor v. Alfred Musema (ICTR-96-13-A), Judgement and Sentence, TC I, 27.01.2000. RStGH: Prosecutor v. Eliézer Niyitegeka (ICTR-96-14-T), Judgement and Sentence, TC I, 16.05.2003. RStGH: Prosecutor v. Édouard Karemera et al. (ICTR-98-44-T ), Decision on the preliminary motions by the defence of Joseph Nzirorera, Édouard Karemera, André Rwamakuba and Mathieu Ngirumpatse challenging jurisdiction in relation to joint criminal enterprise, TC III, 11.05.2004. RStGH: Prosecutor v. Feidinand Nahimana et al. (ICTR-99-52-A), Judgement, AC, 28.11.2007. SCSL: Prosecutor v. Sam Hinga Norman [SCSL-2004-14-AR72(E)], Decision on Preliminary Motion based on Lack of Jurisdiction (Child Recruitment), AC, 21.05.2004. SCSL: Prosecutor v. Alex Tamba Brima et al. (SCSL-04-16-T), Judgement, TC II, 20.06.2007. SCSL: Prosecutor v. Moinina Fofana and Allieu Kondewa (SCSL-04-14-T), Judgement, TC I, 02.08.2007. SCSL: Prosecutor v. Alex Tamba Brima et al. (SCSL-2004-16-A), Judgment, AC, 22.02.2008. SPSC: Public Prosecutor v. Joao Sarmento Domingos Mendoca (Case no. 18a/2001), Decision on the defense (Domingos Mendonca) motion for the Court to order the Public Prosecutor to amend the indictment, 24. 07. 2003. StIGH: Lotus-Fall, Publications of the Permanent Court of International Justice, series A.No. 70, 07.09.1927. STL: Interlocutory decision on the applicable law (STL-11–01/I) AP, 16.02.2011.

Rechtsprechung deutscher Tribunale BGH: Urteil des 4. Strafsenats vom 09.12.1966 (4 StR 119/66), in: BGHSt 21, 157. BGH: Urteil des 2. Strafsenats vom 08.08.1969 (2 StR 171/69), in: BGHSt 23, 46. BGH: Urteil vom 28.06.1990 (4 StR 297/90), in: BGHSt 37, 89. BGH: Urteil des 5. Strafsenats vom 03.11.1992 (5 StR 370/92), in: BGHSt 39, 1. BGH: Urteil vom 26.07.1994 (5 StR 167/94), in: BGHSt 40, 241. BVerfG: Beschluss der 2. Kammer des 2. Senats vom 23.06.1990 (2 BvR 752/90), in: NStZ 1990, 537.

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BVerfG: Beschluss der 2. Kammer des 2. Senats vom 27.06.1994 (2 BvR 1269/94), in: NZV 1995, 76. BVerfG: Beschluss des 1. Senats vom 10.01.1995 (1 BvR 718, 719, 722, 723/89), in: BVefGE 92, 1.  BVerfG: Beschluss des 2. Senats vom 24.10.1996 (2 BvR 1851, 1853, 1875 und 1852/94), in: BVerfGE 95, 96. BVerfG: Beschluss des 2. Senats vom 23.06.2010 (2 BvR 2559/08 – 2 BvR 105/09 – 2 BvR 491/09), in: BVerfGE 126, 170. BVerfG: Beschluss der 1. Kammer des 2. Senats vom 16.05.2011 (2 BvR 1230/10), in: BVefGK 18, 430. BVerfG: Beschluss der 2. Kammer des 2. Senats vom 28.07.2015 (2 BvR 2558/14 – 2 BvR 2571/14 – 2 BvR 2573/14), in: NJW 2015, 2949.

Rechtsprechung englischer Tribunale QBD: Smith v. Hughes (1960, 2 All ER 859), Urteil vom 01.01.1960. UKHL: Shaw v. DPP (1962, A. C. 220), Urteil vom 04.05.1961. UKHL: Knuller v. DPP (1973, A. C. 435), Urteil vom 15.03.1971. UKHL: R v. R (1991, 4 All ER 481.), Urteil vom 23.10.1991. UKHL: R v. Goldstein und Rimmington (2005, UKHL 63), Urteil vom 27.10.2005. UKHL: R v. Jones et al. (2006, UKHL 16), Urteil vom 23.02.2006.

Sach- und Personenregister Absolutismus  94, 111, 113, 125, 128, 280 Act-of-state-Theorie 244 Ad-hoc-Straftribunale  23, 187, 304, 337, 338–368, 371, 374, 375, 378–380, 382, 383, 385, 386, 418, 431, 432, 434, 437, 446, 459, 460, 463 Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (ACMRV)  22, 307, 360, 365 Aggression  146, 154, 174, 181, 188, 217, 266, 393, 394, 395, 396, 404, 405, 409, 410, 412, 413, 416, 421, 425, 427, 419, 431 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEM)  22, 282, 283, 290, 304, 307, 308 –313, 314, 315, 318–320, 329, 333, 335, 360, 399, 416, 459 allgemeine Grundsätze  105, 135, 152, 203, 292, 297, 351, 364–368, 384, 385, 399, 421, 436, 437 allgemeine Rechtsgrundsätze  25, 129, 150, 215, 216, 244, 248, 292, 299, 305, 312, 314, 316, 319, 334–337, 355, 356, ­362–364, 382, 383, 401, 403, 406, 407, 417, 420, 434, 448, 452, 460, 461 Amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte (AGMR)  329 ff., 337, 442 Amerikanische Konvention über das Verschwindenlassen von Personen (AKVP) 442 Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK)  22, 307, 317, 328 ff., 333, 360, 365 Amnestiegesetz 332 Analogie  68, 71, 77, 102, 122, 130, 149, 170, 210, 227, 279, 321, 325, 358, 360, 361, 377, 378, 431, 432, 438 Analogieschluss  123, 377 Analogieverbot  27, 52, 56, 65, 67, 76–78, 81, 84, 104, 122, 123, 128–131, 361, 376–378, 419, 431, 432, 445, 448, 449, 462

andere unmenschliche Handlungen  151, 161, 297, 355, 372–378, 382, 413–415, 430, 432, 433, 437 Angriffe gegen humanitäre Hilfs– und Friedensmissionen 424 Angriffskrieg  133, 135, 136, 138, 139, ­141–149, 151, 152, 157, 164, 173, 174, 178, 180, 181, 183–185, 188, 189, 191, 194–196, 200, 204, 205, 215, 217, 218, 220, 221, 230, 243–247, 250, 382, 390, 392, 394, 454 Arabische Charta der Menschenrechte (ACMR)  22, 307, 360, 365 Ärzte-Prozess  162, 171, 374 attacks on civilians  353 Atlantik-Charta  139, 277, 278 Aufklärung  111 ff., 124 Auslegung  35, 49, 51, 52, 54, 55–60, 61, 62, 65, 67, 70, 71, 73, 75–81, 84, 85, 95, 104, 105, 110, 118, 121, 122, ­129–131, 148, 149, 158, 193, 259, 266, 274, 301, 310, 312, 326, 336, 345, 348, 349, 355, ­356–368, 377, 378, 382, 414–417, ­429–439, 448, 461, 463 Außerordentliche Kammern in Kambodscha  338 Austin, John  101–102, 202, 232, 261, 264 Autonomie 283–285 Bayerisches Strafgesetzbuch  116, 117, 119 Begriffsbildung  75–77, 120, 131, 449 Beling, Ernst  122, 123, 303 Bentham, Jeremy  101, 102, 123, 126 Beraubung der körperlichen Freiheit  430 Bernard, Henri  179–182, 193, 200 Bestimmtheitsgebot  27, 65, 67, 68, 72, 76, 78, 84, 104, 129–131, 343, 345, 379 Bestimmtheitsgrundsatz  58, 330 bewaffneter Konflikt mit internationalem Charakter 348 Binding, Carl  116, 122, 195, 361

Sach- und Personenregister Blackstone, William  50, 55, 98–100, 101, 125, 165, 211, 217, 245–247, 340 Briand-Kellogg-Pakt (BKP) bzw. Pariser Vertrag  146–150, 157, 176, 178, ­180–182, 184, 185, 188, 189, 194, 196, 204, 213, 215, 217, 221, 382, 454 Bundesgerichtshof (BGH)  69, 72, 77, 79, 80, 275 Bundesverfassungsgericht (BVerfG)  72, 73, 77–81, 131 Charta des IMTFO  175 Charta der VN  277, 278, 280, 282, 293, 308, 309, 339, 341, 387, 395 classifying comparison  40 Coke, Edward  93–97, 99, 124, 125, 141 common crimes  355 Common Law  30, 47, 48–64, 86–103, 129, 130, 149, 150, 163, 165–168, 170, 232, 233, 318, 340, 399, 420 common law courts  92, 94, 95, 96, 101, 124, 166 common law offence(s)  49, 51, 54, 59, 62, 63, 84, 386, 462 conspiracy to corrupt public morals  53, 54 Constitutio Criminalis Bambergensis  106 Constitutio Criminalis Carolina  106, 108–110 Constitutio Criminalis Theresiana  113 core crimes  19, 27, 405, 406, 409, 412, 416, 417, 418, 424, 425, 429, 442, 447, 450, 462 Dauerdelikt  332, 439 ff. de Menthon, François  140, 142, 147, 155, 156, 160, 194, 287 declaratory theory  98–101, 125, 165, 166, 340 Declaration of St. James  136 Demokratie  74, 128, 238, 255, 269 Deportation  159, 323 Dicey, Albert  48, 60, 97 Draft Code  288, 375, 387, 393 ff., 398 ff., 409 ff., 416 ff., 438 Draft Statute  387, 405 ff., 409, 416, 417, 422, 423, 439 dualistische Konstruktion  455 dualistische Theorien  223–225, 233, 237, 238, 241, 243, 295

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Einsatzgruppen-Prozess  162, 167–169, 171–173, 194 Ermessenklauseln 361 Erster Weltkrieg  134, 148, 184 erzwungenen Schwangerschaft  424 ethnic cleansing  325 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)  49, 55, 59, 61, 62, 79, 81, 307, 318–328, 329–332, 336, 339, 344, 345, 376, 379, 385, 389, 427, 432, 442, 448, 460 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)  22, 49, 54, 55, 58–64, 81, 82, 307, 316, 318–328, 329, 333–336, 355, 360, 365, 375, 399, 459 ex post facto law  55, 82, 99, 130, 131, 147, 182, 239, 244, 245, 248, 328, 451 ex post facto principle  164, 216 extensive Interpretation  357 Fahruntüchtigkeit  69, 72 fair warning  64, 83, 123, 130, 411, 427, 432 Feuerbach, Paul Johann Anselm  30, ­115–119, 124, 125, 201, 246 Folter  112, 171, 346, 355, 359, 430 Fragmentierung des Völkerrechts  20, 21, 106, 196, 377, 380, 382, 386, 454, 460 Freiheit(en)  53, 63, 66, 82, 98, 111, 114, 115, 116, 128, 155, 171, 186, 197, 232, 259, 278, 281, 282, 283, 284–287, 293, 299, 308, 376, 430, 440–442, 444, 445, 457 Fuller, Lon  19, 251, 257, 261 ff., 266, ­267–270, 274, 299, 300, 303, 457 funktionale Äquivalenz  36, 38 funktionale Rechtsvergleichung bzw. ­ Methode  34, 36–48, 450 funktionelle Gegenstücke  37, 39, 46, 127 Funktionsbegriff  36, 37, 38 Gemeinsamer Art. 3  342, 343, 346, 348, 350, 351, 352 ff., 359, 368, 382, 433 gemischte Tribunale (hybrid courts)  337, 338, 339, 344, 379, 437, 449, 460 Genfer Konvention (GK)  151, 354 ff. gerechter Krieg  144, 148, 188, 193, 205, 211–213, 231, 233, 243, 245, 291 Gerechtigkeit  79, 80, 81, 89, 98, 101, 108, 138, 140–142, 146, 147, 149, 155–

506

Sach- und Personenregister

157, 160, 166, 175, 178, 183–187, 192, 212–216, 227, 228, 231, 232, 241, 245, 247 ff., 252 ff., 257 ff., 261 ff., 266 ff., 270, 278, 282, 287, 291, 299, 300, 303, 305, 308, 351, 399, 401, 404, 411, 453, 457 Gerichtsbarkeit  68, 101, 220, 276, 393, 405, 419, 420–429, 439, 441–447, 463 Gesetzesbindung  73, 84, 85, 114, 119, 120, 122, 124, 126, 128, 129, 131 gesetzliches Unrecht  252, 265 Gesetzlichkeitsprinzip  65–82, 84, 85, 104, 104 ff., 111 ff., 115 ff., 119 ff., 123, 125, 126 Gewaltenteilung  65, 114, 128, 132, 284, 432, 448, 452, 463 Gewohnheitsrecht  23, 25, 65, 67, 74, 75, 84, 88, 93, 104, 112, 121, 123. 129, 131, 151, 168, 214, 349, 350, 354, 362, 363, 365, 370, 372, 397, 399 Gleichheit  42, 254, 256, 259, 268, 269, 299, 457 golden rule  52 grammatikalische Auslegung bzw. Inter­ pretation  51, 52, 336, 348, 359, 360, 434, 435 grave breaches  359, 360, 380 Grotius, Hugo  112, 148, 211–214, 222, 233, 296, 456 Grundnorm  240, 242, 292 Haager Konvention  147, 151–153, 155, 157, 167, 176, 204, 225, 324, 342, 348, 382 Handeln auf Befehl  202, 236, 327 Handlungsfreiheit  268, 285 Hart, H. L. A.  21, 251, 257–260, 261, 264 ff., 270, 275, 298, 299, 308, 457 Hauptkriegsverbrecher  19, 28, 30, 133, 136, 137, 139, 141, 144, 164, 168, 174, 188, 198–200, 204, 219, 233, 237, 239, 249, 277, 278, 305, 319, 320, 337, 338, 373, 380, 386, 418, 425, 446, 455 Hobbes, Thomas  93–97, 112, 116, 123, 126 Holmes, Oliver  209, 210 horizontale Rechtsvergleichung  29 Human Rights Act (HRA)  49, 58–60, 62, 64, 82, 86

Humanität  153, 229, 286 humanitäres Völkerrecht  193, 196, 235, 271–273, 275, 293, 300, 301, 304, 305, 306, 341, 348, 349–351, 353, 354, 356, 359 ff., 376, 378, 380, 382, 415, 417, 435, 439, 448, 454, 458, 459, 462, 463 (individuelle) strafrechtliche Verantwortlichkeit  20, 98, 106, 136, 156, 181, 236, 349, 388, 394, 397 inhuman treatment bzw. unmenschliche Behandlung  147, 355, 358, 360, 361, 380, 383, 415 Interlegalität  196, 271, 301, 380, 416, 417, 454, 460 international harm principle  272, 273 International Law Commission (ILC)  21, 28, 236, 238, 304, 305, 382, 387–418, 422, 438, 459, 462 internationale Gemeinschaft bzw. Völker­ gemeinschaft  81, 138, 182, 189, 212, 214, 217, 218, 243, 266, 272–274, 276, 287–294, 313, 383, 400, 401 Internationaler Gerichtshof (IGH)  185, 214, 293, 294, 350, 362, 364, 383, 384, 413 internationaler Menschenrechtsschutz  29, 275 ff., 283–287, 291, 301, 302, 307, 308, 331, 333, 385, 458 Internationales Militärtribunal für den ­ Fernen Osten (IMTFO)  134, 136, ­173–190, 193, 274, 301, 307, 340, 381, 453 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR)  22, 80, 282, 293, 304, 307, 309, 313–318, 319, 320, 328, 329, 333–336, 355, 360, 365, 375, 401, 416, 459 Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) 19, 20, 28, 130, 236, 288, 305, 369, 370, 371, 374, 375, 377, 387, 388, 418–449, 450, 462, 463 IStGH-Statut  19, 20, 28, 130, 236, 288, 305, 369–371, 374, 375, 377, 387, 388, 418 ff., 450, 462, 463 ius ad bellum  146, 148 ius cogens bzw. zwingendes Völkerrecht  208, 293, 294, 306 ius in bello  177, 188

Sach- und Personenregister Jackson, Robert  137–142, 148–150, 153, 154, 160, 191, 192, 210, 278 James, William  208, 209 Jaranilla, Delfin  182, 193, 199 jede andere Form sexueller Gewalt  430, 432, 433, 438 Jellinek, Georg  198, 203, 232 Josephina 113–115 judicial law making  49, 52–58, 60, 63, 95, 96, 102 Jugoslawien-Strafgerichtshof (JStGH)  30, 162, 198, 297, 338 ff., 387, 389, 409, 414–416, 435, 436, 461 Juristen-Prozess  162, 163–167, 169–171, 194, 206, 345 Kairoer Erklärung  173 Keenan, Joseph  175–177, 191, 216 Kelsen, Hans  192, 239–250, 252, 257, 292, 298, 300, 335, 399, 457 Kinderrechtskonvention  307, 371, 382 Kodifikation (kodifizieren)  23, 28, 40, 45, 73, 75, 102–104, 111 ff., 115 ff., 125, 126, 128, 131, 163 ff., 199, 208, 214, 218, 230, 268, 296, 300, 301, 377, 381, 387 ff., 416–418 Konferenz von Kampala  425 Kontrollratsgesetz Nr. 10 (KRG Nr.  10) 161–173, 206, 218, 219, 223 ff., 225 ff., 233, 234, 236, 250, 255, 286, 297, 301, 303, 337, 360, 374, 379, 389, 415, 456 konventionskonforme Auslegung  59, 60 Kosovo Specialist Chambers (KSC)  338, 426, 447, 463 Kötz, Hein  32, 34, 36, 38, 39, 41, 42 Kriegsverbrechen  134–136, 143, 144, 147, 151 ff., 162 ff., 171, 174, 176, 177, 186, 191, 204, 221, 222, 225, 226, 233, 279, 324, 342, 346–348, 353, 366, 368, 369, 371, 372, 382, 388, 391, 394–397, 401, 405, 409, 415, 416, 421, 424, 425, 429, 430, 433, 443, 448 Kriminalisierungsprozess  27, 201, 345, 347, 386, 403, 418, 425, 446, 447, 462, 463 Kulturbegriff   43, 44, 256, 303 Landfrieden  107, 108 Landfriedensbewegung 107

507

Lauterpacht, Hersch  276–281, 283, 291, 292 legalistische Ideologie (Legalismus)  175, 302, 458 Legalität  19, 22, 27, 75, 83, 93, 95, 98, 131, 133, 145, 151, 159, 163, 169, 177, 192, 194, 197, 222, 234 ff., 250 ff., 266 ff., 296–303, 306, 307, 311, 326, 328, 336, 337, 343, 379–381, 385, 388, 398, 400, 401, 406, 407, 411, 412, 416, 417, 437, 449, 452–454, 456–458, 460 Lehre der Staatsakte  211 liberales Strafrecht  19, 22, 116, 119, 120, 301 literal rule  51 Londoner Abkommen bzw. Londoner Charta (LC)  137, 138, 143–147, 149, ­151–153, 156–163, 164, 167, 172, 174, 178, ­183–185, 202, 204–206, 208, 2014, 218, 220, 223, 225, 228, 230, 233, 236, 246, 247, 250, 266, 277, 278, 280, 286, 291, 297, 301, 336, 342, 360, 379, 388–390, 392, 397, 409, 410, 413, 415, 418, 456 Lückenausfüllung  377, 378, 432, 437, 438, 448 Magna Charta Libertatum  91–93, 95 Makrovergleichung  34, 35, 46 mala in se  98, 99, 100, 110, 125, 166, 211, 217, 233, 246–248, 272, 296, 346, 355, 456 mala prohibita  98, 99, 110, 395 marital exemption  56, 57, 61, 62 Martens’sche Klausel  153, 154, 171, 193, 196, 221, 266, 362–364, 382, 454 Mauerschützenfälle  66, 79–82, 83, 126, 275, 300, 326, 327 maximum certainty  62, 64, 83, 130 Menschenrechte  20, 22, 28, 49, 61, 63, 79, 80, 82, 193, 198, 221, 230, 235, 237, 251, 254–256, 269, 271 ff., 282 ff., 287, 291–293, 298, 300, 305, 306–338, 339, 356, 360–362, 366–367, 374, 376, ­378–380, 398, 402, 404, 416, 417, 419, 427, 430, 438, 439, 445, 448, 457–460, 463 Menschenrechtsverträge  306–308, 326, 365, 375, 382, 438

508

Sach- und Personenregister

Menschenwürde  62, 155, 229, 255, 276, 282 ff., 366, 367, 375, 403, 414, 458 Menschheit  139, 155, 171, 172, 191, 194, 229, 282–284, 286, 287, 290, 291, 396, 397, 400–402, 404, 405, 409 ff. Mikrovergleichung 34–36 mischief rule  51 Mittel und Methoden der Kriegsführung  350 monistische Theorie  225, 235, 237, 241, 242, 248, 249, 288, 298, 456 Montesquieu, Charles  114, 118, 125 morality of aspiration  261–263, 270, 300, 457 morality of duty  261–263, 270, 300, 457 Mord  134, 154, 158, 168, 171, 172, 176, 177, 221, 229, 255, 346, 355, 382 Moskauer Konferenz  136, 137

Nürnberger Prinzipien  236, 387, 388 ff., 393, 398, 405, 410 Nürnberger Prozess  19, 28, 30, 133, 134, 136–161, 163, 172, 174, 175, 188, 191, 198, 199, 204, 205, 218–221, 233, 237, 248, 250, 271, 274, 277, 278, 287, 305, 319, 320, 335, 337–339, 373, 380, 381, 383, 386, 418–420, 425, 445, 446, 449, 455, 463 Nürnberger Rechtstradition  134, 190, 304, 306, 333, 410, 418–420, 428, 445 ff., 459 ff. Nürnberger Urteil  138, 147, 156, 158, 164, 168, 178, 200, 201, 205, 217, 219, 222, 233, 309, 312, 314, 315, 318, 351, 372, 381, 388, 390, 391, 392, 398, 399, 402, 409, 410, 413, 418

Nachfolgeprozesse  113, 161–173, 228, 250, 337 Nationalsozialismus  67, 68, 138, 140, 141, 214, 227, 251, 254, 266, 282 Naturrecht  79, 81, 97–100, 111, 112, 115, 125, 126, 144, 151, 160, 171, 172, 175, 177, 179 ff., 190, 192, 199 ff., 207 ff., 226, 231, 233, 234, 237, 245, 246, 249, 251, 253, 255, 257, 259, 272, 275, ­278–281, 284, 288, 291, 292, 295, 296, 327, 454, 456 Nicht-internationale bewaffnete Konflikte  342, 347–354, 359, 382, 443 Nicht-Vertragsstaaten bzw. Drittstaaten  420, 426–428, 447, 463 non-retroactivity  30, 62, 64, 83, 130, 131, 398, 411, 423 normative Begriffe  361, 372, 377 Nötigung zur Prostitution  374 Nuremberg Law  389 Nürnberger Internationalen Militärgerichtshof (IMG)  23, 133, 134, 136–161, 164, 166, 168, 173, 174, 178, 179, 184, 185, 189, 192, 193, 194, 204, 205, 210, 220, 222, 223, 236, 249, 268, 274, 279, 287, 295, 301, 307, 340, 351, 379, 388, 390, 391, 392, 399, 428, 453, 455, 460 Nürnberger Klausel  81, 306 ff., 313 ff., 333 ff., 354, 355, 364, 367, 399, 401, 403, 459

Organisation Amerikanischer Staaten (OAS)  328, 329 Pal, Radhabinod  186–190, 197, 204 Pollock, Frederick  180 Positivismus  35, 81, 97, 101, 115, 141, 144, 178, 183 ff., 186 ff., 199, 202 ff., 207 ff., 222, 232, 233, 245, 248, 251–253, 264, 265, 267, 272, 279, 295, 300, 455 Potsdamer Erklärung  173 Pound, Roscoe  25, 30, 34, 45, 46, 87, 94, 95, 96, 103, 113, 209, 210, 234 praesumptio similitudinis  41, 42 Pragmatismus  202, 208, 209, 218 Präzedenzfallsystem bzw. doctrine of pre­ cedent  50, 60, 74, 75, 87, 103, 120, 124, 127, 129, 449 Präzisierungsgebot  73, 131 preußisches Allgemeine Landrecht (ALR) 113–115 preußisches StGB von  1851 120 Primärregeln 258 principle of legality  19, 24, 30, 48, 52, ­62–64, 84, 123, 131, 267, 307, 344, 410, 423 principles of legality  262, 263, 267 prospective overruling  71 psychologischer Zwang  116, 117, 125 public mischief  52, 53 Puchta, Georg Friedrich  121 purposive interpretation  56

Sach- und Personenregister Radbruch, Gustav  115, 139, 202, 228–231, 252–256, 257, 259, 260, 264, 265, 266, 268, 270, 282–287, 291, 297, 299, 300, 301, 303, 337, 457 Radbruch’sche Formel  80, 252, 255–257, 275, 285 Rape bzw. Vergewaltigung  56–58, 61, 365, 56, 62, 229, 355, 359, 365, 366, 373, 376 Rechtsgehorsam  250 ff., 260, 261, 264, 265 Rechtsgemeinschaft  190, 237, 241 Rechtsidee  255, 256 Rechtsgrundsätze  25, 81, 129, 150, 162, 215, 216, 244, 248, 292, 297, 299, 305, 306, 312, 314, 316, 319, 334–337, 355, 356–368, 382, 383, 393, 398, 401, 403, 406, 407, 417, 420, 434–436, 448, 452, 460, 461 Rechtsnorm  31, 35, 93, 101, 102, 106, 118, 160, 168, 192, 194, 202, 207, 240, 242, 246, 261, 298, 301, 323, 330, 332, 335, 345, 350, 358, 361, 384, 403, 416, 435, 456 Rechtsprechungsänderung  72, 73 Rechtsquellen  20, 35, 43, 65, 70, 78, 93, 102, 113, 126, 131, 168, 190, 194, 196, 216, 223, 305, 376, 380, 392, 399, 409, 416, 430, 431, 436, 452, 454 Rechtsquellensystem  21, 31, 41, 49, 49 ff., 84, 85, 104, 129, 130, 132, 133, 300, 451 Rechtssicherheit  25, 66, 67, 73, 75, 83, 85, 100, 119, 120, 124, 126, 127, 132, 192, 197, 218, 227, 228, 231, 252, 252, 254, 256, 269, 270, 299, 300, 302, 304, 321, 322, 331, 333, 375, 381, 386, 403, 404, 407, 416–418, 432, 445–448, 451, 455, 457. 458, 462, 463 Rechtsstaat  66, 67, 73, 81, 83, 98, 115, 119, 141, 227, 284, 321, 330 Rechtstradition  28, 30, 42–46, 86, 87, 100, 104, 126, 127, 134, 190, 200, 201, 233, 304–306, 308, 333, 338, 339, 386, 403, 410, 418, 419, 420, 428, 445, 446, 447, 453, 459 ff., 462, 463 Rechtsüberzeugung  145, 207, 215, 216, 220, 223, 233, 296, 351, 356, 362, 363, 367, 368, 383, 384, 456 Rechtsvergleichung  25, 29–48, 450

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Rechtswissenschaft  32, 35, 38, 105, 106, 116–122, 126, 192, 207, 210, 240 Reine Rechtslehre  239 ff., 246, 252 Repressalien  242, 243, 362, 363 retroactive-re-characterization-Theorie 154, 168, 171, 177, 194, 206 Rezeption (des römischen Rechts)  104–108, 109, 126 Rölling, Bernard  183–186, 187, 193, 199, 204 Ruanda-Strafgerichtshof (RStGH)  338, 339, 341–344, 347, 352, 353, 365, 374, 375, 377, 381, 409, 414–416, 438, 444, 461 Rückwirkung  46 ff., 65 ff., 86 ff., 104 ff., 127–132, 135, 150–152, 160, 183 ff., 199, 200–202, 218, 219, 222, 226, 231, 235, 239, 243–245, 247, 248, 255, 336, 338 ff., 339 ff., 368 ff., 394, 399, 453, 456 Rückwirkungsverbot  24, 31, 48 ff., 65 ff., 86 ff., 104 ff., 127 ff., 135, 150–152, 200, 219, 223, 234, 244, 245, 248, 255, 267, 300, 302, 307, 314, 330, 332, 336, 340, 341, 343, 369, 370, 379, 385, 398, 400 ff., 418–449, 450–452, 660, 462 Rudenko, Roman  140, 146, 157, 191 Rule of law  20, 48, 54, 55, 63, 83, 96, 97, 98, 138, 139, 141, 185, 188, 263, 266, 299, 321 Sachsenspiegel 107 Sanktionsnorm   195, 383, 454 Schäden an der natürlichen Umwelt  424 security principle  272 Sekundärregeln  258, 298 Selbstverpflichtungslehre  203, 232 sexuelle Sklaverei  373, 376 Shawcross, Hartley  140, 147, 148, 149, 153, 154, 160, 191, 194 Sicherheitsrats der VN  338, 350, 351, 427 Sitzblockaden 77 sociological jurisprudence  209 Sondertribunal für den Libanon (STL)  306, 336, 338, 344, 350, 352, 356, 379, 429 Souveränität  60, 63, 95, 96, 134, 146, 157, 178, 184, 189, 191, 199, 202, 203, 207, 211, 213, 214, 217, 219, 220, 232, 233, 240, 241, 249, 271–273, 279, 281, 284, 293, 295, 296, 392, 455

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Sach- und Personenregister

Special Court for Sierra Leone (SCSL)  338, 339, 368–378, 379–381, 385, 415, 418, 437, 438, 460, 461 Special Panels for Serious Crimes (SPSC)  336, 338, 344, 379 Staatenpraxis  26, 135, 145, 189, 196, 197, 203–205, 215, 216, 220, 224, 233, 296, 297, 346, 347, 350, 351, 353, 362, 363, 367, 368, 371, 383, 384, 387, 394, 404, 456 Staatssouveränität  157, 189, 213, 220, 233, 272, 273, 279, 281, 296, 392 Ständiger Internationaler Gerichtshof (StIGH)  185, 214, 223, 335 Statut des Internationalen Gerichtshofs (IGH-Statut)  185, 312, 316, 334, 335, 365, 366, 394, 431 statutory interpretation  52, 56, 60 Strafausschließungsgründe  69, 236 Strafbarkeit  46, 47, 49, 52, 53, 38, 61, 62, 63, 65, 68, 73–79, 127 ff., 136 ff., 191, 193–197, 199 ff., 296, 300, 307, ­322–323, 330, 340, 342 ff., 347 ff., 356, 359, 369 ff., 371, 372, 378 ff., 390, 392, 401, 407, 410, 411, 413, 418, 424, 446, 447, 454, 457, 460, 461 Strafrechtsdogmatik  65, 75, 78, 85, 104, 131, 449 Strafrechtsquellen  109, 110 Strafrechtswissenschaft  75, 85, 105, 121, 122 Straftatbestand bzw. Straftatbestände  20, 40, 41, 53, 55, 57, 61, 69, 76, 77, 84, 106, 110, 122, 123, 131, 143, 144, 162, 164, 165, 170, 172, 177, 179, 186, 188, 195, 221, 230, 231, 297, 301, 303, 324, 330–332, 336, 359, 360, 382, 390, 456, 461 strict construction  55, 62, 130, 167, 357, 358, 360, 419, 431 ff., 445, 448, 449, 462, 463 suppression conventions  375, 382, 408 Tadić-Test  347–354, 370, 371, 381, 385, 461 teleologische Auslegung bzw. Interpretation  51, 56, 60, 348, 357, 367, 368, 382, 435, 436, 437, 448, 461

Terrorismus  140, 331, 352, 429 tertium comparationis  40, 41, 46–48 thin ice principle  64, 85, 351 Tokioter Prozess  133, 173–190, 191, 200, 204, 207, 271, 304, 305, 337, 338 Tradition  30, 44–46, 86, 90, 93, 104, 113, 129, 136, 150, 163, 165–168, 175, 211, 212, 217, 222, 227, 281, 296, 309, 318, 338, 416, 450, 453, 456 treaty crimes  169, 405, 418 Trennungsthese  252, 264, 267 Triepel, Heinrich  223, 224, 233, 237, 238 unbestimmte Begriffe  361, 380 Unerträglichkeitsthese 254 unlawfully inflicting terror upon civilians  353 Verbindungsthese  252, 298, 456 Verbot der Handlung  150, 194, 196, 307, 370, 381, 382, 446, 454 Verbrechen gegen den Frieden  138, ­143–150, 156, 157, 159, 161, 174, 176, 177, 178, 183, 184, 186, 187, 188, 191, 193, 194, 202, 204–206, 211, 217, 220, 221, 226, 233, 239, 243, 246, 247, 249, 306, 388, 396, 392, 400, 401, 402, 404, 405, 409, 410, 412, 415 Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit  396, 397, 400, 401, 402, 404, 405, 409, 410, 412, 415 (Verbrechen gegen die) Menschlichkeit  22, 80, 133, 136, 138, 143, 151 ff., 162, 163, 164, 167, 168, 169–173, 174, 176, 177, 189, 191, 193–196, 202, 206, 211, 217, 218, 221, 222, 226–231, 133, 236, 239, 243, 245–248, 251, 255, 271, 272, 277, 278, 281–284, 286, 287, 297, 303, 306, 323, 324, 332, 337, 343, 346, 352, 353, 366, 368, 372, 373–377, 382, 388, 389, 394, 397, 405, 408, 409, 413–416, 421, 424, 425, 429, 430, 433, 442, 443, 448, 453, 454 Verdross, Alfred  207, 287–294, 303, 458 Vereinte Nationen (VN)  138, 139, 145, 157, 174, 198, 206, 236, 237, 277, 278, 280, 282, 287, 293, 308, 309, 312–314, 317, 323, 326, 328, 338 ff., 348, ­350–352,

Sach- und Personenregister 362, 368, 369, 371, 375, 382, 383, 387 ff., 427, 428, 431, 439 Verfolgung  151, 153, 158, 159, 164, 169, 221, 229, 250, 306, 378, 424, 430 Verhaltensnorm  195, 122, 214, 238, 296, 343, 454 Verleugnungsthese 254 Verpflichtungen erga omnes  294 Versailler Vertrag  134, 135, 148, 184, 189 Verschwörung  137, 138, 141–143, 153, 156, 159, 164 vertikale Rechtsvergleichung  29 Vertrauensschutz  66, 67, 72, 73, 83, 123, 150, 194 violence to life and person  346, 347 VN-Antifolterkonvention  304, 375, 406, 416 Völkergewohnheitsrecht  24, 26, 81, 129, 145, 149, 152, 156, 162, 185, 187–189, 193, 196, 200, 203, 205, 207, 215, 216, 220, 233, 242–244, 247, 292, 295–297, 305, 306, 308, 312, 340–344, 346–353, 355, 356, 360 ff., 398, 401 ff., 429 ff., 452, 454–456, 463 Völkermord  236, 273, 280, 304, 324, 325, 352, 353, 357, 394, 405, 409, 411, 413, 421, 429, 444, 445 Völkermordkonvention  325, 357, 394, 411, 413 völkerrechtliche Verträge bzw. Völkervertragsrecht  142, 144, 156, 168, 176,178, 181, 194, 196, 203, 241, 242, 266, 282, 292, 304, 307, 312, 339, 341, 343, 351, 353, 360 Völkerrechtsgemeinschaft  288, 289, 293 Völkerrechtsquellen  23, 24, 162, 182, 186, 193, 196, 244, 296, 298, 309, 316, 333– 335, 339, 340, 347, 355, 356, 361, 367, 379, 383, 384, 397, 402, 403, 406, 407, 411, 412, 416–418, 425, 431, 433, 434, 436–438, 447, 448, 456, 459, 460–463 Völkerrechtsnorm 416 Völkerrechtssubjekt  203, 207, 232, 237, 279, 280, 289 Völkerrechtswissenschaft 203 Völkerstrafrechtsnorm 331 von Liszt, Franz  121–123 von Pufendorf, Samuel  112 von Savigny, Friedrich Carl  121

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Wahrheit  208–210, 213, 274, 301 Webb, William  179–180, 192, 200 wertausfüllungsbedürftiger Begriff  76, 361, 372, 377, 380, 415 Wertegemeinschaft  287, 292, 303, 458 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WÜRV)  294, 357, 428, 434–439, 448 wilful killing and murder  358 359 writs 90 Zivilbevölkerung  151, 155, 156, 158, 211, 250, 350, 353, 354, 364, 376, 433, 443, 445 Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit  61, 322, 323, 326, 327, 343–347, 356, 368, 370, 378–386, 460, 461 Zusatzprotokoll (ZP)  146, 304, 307, 342, 343, 348, 350–354, 359, 360, 362, 364, 365, 368, 371, 382, 406, 414, 435, 438 Zustandsdelikte 441 Zuständigkeit  54, 88, 89, 90, 91, 144, 145, 167, 168, 172, 174, 177, 178, 193, 204, 220, 241, 293, 297, 338, 340, 341, 343, 349, 360, 368, 370, 379, 380, 406–408, 420, 422, 430, 432, 440, 444, 446, 454, 456, 460 Zwangsverheiratung  368, 372–378, 382, 429, 437 Zwangsverpflichtung oder Eingliederung von Kindern unter 15 Jahren in Streitkräfte  368, 369–372 zwangsweise Überführung der Bevölkerung  74 zwangsweise Verschwindenlassen von Personen  332, 374, 382, 424, 439 ff., 445 Zweckmäßigkeit  209, 210, 253, 259, 284, 305 Zweigert, Konrad  32, 34, 36, 38, 39, 41, 42 Zweiter Weltkrieg  27, 68, 133, 134, 136, 137, 141, 163, 171, 175, 184, 185, 188–190, 191, 193, 198, 200, 201, 207, 208, 210, 211, 213–215, 219, 225, 226, 232, 234–236, 238, 249, 243, 250, 251, 265, 266, 271, 279, 280, 282, 284, 288, 289, 291, 294–296, 298, 299, 304–307, 322, 333, 367, 374, 382, 389, 398, 401, 403, 409–411, 418, 453, 455, 456, 459, 460