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German Pages 314 Year 2018
Yener Bayramoğlu Queere (Un-)Sichtbarkeiten
Critical Studies in Media and Communication | Band 21
Editorial Die Reihe Critical Studies in Media and Communication (bis September 2015: »Critical Media Studies«) versammelt Arbeiten, die sich mit der Funktion und Bedeutung von Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit in ihrer Relevanz für gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse, deren Produktion, Reproduktion und Veränderung beschäftigen. Die Herausgeberinnen orientieren sich dabei an einer kritischen Gesellschaftsanalyse, die danach fragt, in welcher Weise symbolische und materielle Ressourcen zur Verfügung gestellt bzw. vorenthalten werden und wie soziale und kulturelle Einschlussund Ausschlussprozesse gestaltet sind. Dies schließt die Analyse von sozialen Praktiken, von Kommunikations- und Alltagskulturen ein und nimmt insbesondere gender, race und class, aber auch andere Zuschreibungen sowie deren Intersektionalität als relevante Dimensionen gesellschaftlicher Ungleichheit und sozialer Positionierung in den Blick. Grundsätzlich sind Autor*innen angesprochen, die danach fragen, wie gesellschaftliche Dominanzverhältnisse in Medienkulturen reproduziert, aber auch verschoben und unterlaufen werden können. Medien und Medienpraktiken werden gegenwärtig im Spannungsfeld von Handlungsermächtigung und Handlungsbeschränkung diskutiert – etwa durch neue Formen der (transkulturellen) Artikulation und Teilhabe, aber auch der Überwachung und Kontrolle. In Bezug auf Medienkulturen finden die Konsequenzen transnationalen Wirtschaftens und Regierens beispielsweise in der Mediatisierung von Protest, in der (medial vermittelten) alltäglichen Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen und in der Konfrontation mit dem Leiden auch in entfernten Regionen ihren Ausdruck. Die Beispiele verdeutlichen, dass Digitalisierung und Medienkonvergenz stets verbunden sind mit der neoliberalen Globalisierung des Kapitalismus. Die Reihe will ausdrücklich auch solchen Studien einen Publikationsort bieten, die transkulturelle kommunikative Praktiken und Öffentlichkeiten auf Basis kritischer Gesellschaftsanalyse untersuchen. Das Spektrum der Reihe umfasst aktuelle wie historische Perspektiven, die theoretisch angelegt oder durch eine empirische Herangehensweise fundiert sind. Dies kann sowohl aus sozial- wie kulturwissenschaftlicher Perspektive erfolgen, wobei sich deren Verbindung als besonders inspirierend erweist. Die Reihe wird herausgegeben von Elke Grittmann, Elisabeth Klaus, Margreth Lünenborg, Jutta Röser, Tanja Thomas und Ulla Wischermann.
Yener Bayramoğlu (Dr. phil.), geb. 1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Alice Salomon Hochschule. Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler promovierte an der Freien Universität Berlin. Seine Postdoc-Forschung zu queerer Flucht wurde mit dem Preis des Margherita-von-Brentano-Zentrums für Geschlechterforschung ausgezeichnet. Seine Forschungsschwerpunkte sind queere Medienforschung, Cultural Studies, Migration, Temporalitäten und die Geschichte der Sexualität in der Türkei und Deutschland.
Yener BayramoĞlu
Queere (Un-)Sichtbarkeiten Die Geschichte der queeren Repräsentationen in der türkischen und deutschen Boulevardpresse
Gefördert von der Rosa Luxemburg Stiftung.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Hasan Aksaygın »Im Fokus: Zypern, Insel der Aphrodite«, 2017 Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4297-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4297-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung | 7
QUEERE STIMMEN, STILLE UND (UN-)SICHTBARKEITEN Einleitung | 13 Forschungsgegenstand | 25 Medienpolitische Bedeutung und sozio-historischer Kontext der Bild-Zeitung | 2 8 Medienpolitische Bedeutung und sozio-historischer Kontext der Zeitung Hürriyet | 33
SICHTBARKEIT UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DIE LSBTI*-BEWEGUNG Sichtbarwerden als politische Strategie | 43 Die Bedeutung der Sichtbarkeit im türkischen Kontext | 51 Diskussionen über Sichtbarkeit in queertheoretischen Ansätzen | 55
DISKURSANALYSE ALS METHODOLOGIE Grundlage der Diskursanalyse als eine Methodologie | 69 Darlegung der Analyseschritte | 81
Analyseschritt 1: Auswahl und Eingrenzung des Analysematerials | 81 Analyseschritt 2: Die Ordnung des Analysematerials | 82 Analyseschritt 3: Textanalyse | 84 Begründung der Fragestellung | 91
QUEERE (UN-)SICHTBARKEITEN IN BILD UND HÜRRİYET Repräsentation von Genderambiguität als Gender-Störung | 99
Darstellung der Genderambiguität | 99 Konstruktion der Genderambiguität im medizinischen Kontext | 104 Zwischenfazit | 109 Die mediale Konstruktion von Lesben | 111 Die Kriminalisierung von Lesben | 111 Die Erotisierung von Lesben | 120 Die Repräsentation der Lesbe als gescheiterte Heterosexuelle | 128 Die Normalisierung von Lesben | 135 Zwischenfazit | 149 Die mediale Konstruktion von Trans*-Personen | 153
Die Pathologisierung von Trans*-Personen | 153 Die Kriminalisierung von Trans*-Personen | 162 Die Verschränkung von kriminalisierenden und normalisierenden Repräsentationen | 176 Die Erotisierung von Trans*-Personen | 180 Die Normalisierung von Trans*-Personen | 183 Zwischenfazit | 199 Die mediale Konstruktion von Schwulen | 205 Die skandalisierende Repräsentation von Schwulen | 205 Die Pathologisierung von Schwulen | 212 Die Kriminalisierung von Schwulen | 229 Die Normalisierung von Schwulen | 236 Zwischenfazit | 265 Fazit | 269 Literatur | 281
Danksagung
Dieses Buch erzählt die Geschichte queerer Repräsentationen in der türkischen und deutschen Boulevardpresse zwischen 1969 und 2010. Seither hat sich vieles in der Türkei geändert. Diese aktuellen politischen Entwicklungen sind zwar nicht Gegenstand des Buches, aber sie beeinflussen auch die Handlungsmöglichkeiten der queeren Bewegung in der Türkei. Aus diesem Grund bedarf ein Buch über queere Repräsentationen in der Türkei zumindest eines kleinen Hinweises auf die Turbulenzen, in den sich die Türkei zurzeit befindet. Die Türkei war bis vor kurzem das einzige muslimisch geprägte Land, in dem alljährlich der Onur Yürüyüşü, also der CSD, stattfand. In Istanbul gab es sogar zwei CSDs, einer davon mit einem besonderen Fokus auf der Trans*-Bewegung. An diesen Großveranstaltungen nahmen 2013 100.000 Menschen teil. Anders als die meisten CSDs im Westen waren Onur Yürüyüşü und Trans Onur Yürüyüşü sehr politische Demonstrationen, die sich gegen die Regierung, den Nationalismus, den Militarismus sowie die Gentrifizierung richteten. Die AKP-Regierung wollte 2015 nicht mehr dulden, dass hunderttausend LSBTI*-Personen mitten in der größten Stadt des Landes gegen den Staat demonstrieren. Mit Tränengas griff die Polizei die Menge an, wobei viele Menschen verletzt wurden. Es ist unklar, ob es angesichts der herrschenden konservativen Politik, die mittlerweile dazu übergegangen ist, jegliche Art von queeren Veranstaltungen – zunächst in Ankara, inzwischen auch in Istanbul – zu verbieten, noch einmal zu einem derart großen Onur Yürüyüşü wie 2013 kommen kann. Die Hoffnung aufzugeben scheint aufgrund der besorgniserregenden Entwicklung richtig. Dennoch glaube ich, dass wir die Entwicklung von einem anderen Blickwinkel aus betrachten sollten, von einem, der die optimistische Seite der Geschichte sichtbar macht. Wie ich in diesem Buch aufzeige, eröffnen die Versuche, queere Sichtbarkeit zu verdrängen, meist neue Wege für eine Sichtbarkeit, die es so zuvor nicht gab, und queere Politik, queere Repräsentationen sowie queere Sichtbarkeit breiten sich in derartigen Situationen stark aus. Ein gutes Beispiel dafür ist der CSD 2016. Als die Regierung in jenem Jahr den CSD am Taksim-Platz verbot, gab es anstatt eines großen CSD mehrere kleine, die sich über die Stadt verteilten. Die Presseklärung der LSBTI*Organisationen wurde dann an unterschiedlichen Orten verlesen. Durch eine Social-
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Media-Kampagne konnten selbst Abgeordnete mobilisiert werden, die die Erklärung im türkischen Parlament in Ankara vortrugen. Also führte die Verdrängung des Onur Yürüyüşü am Taksim- Platz dazu, dass sich queere Sichtbarkeit nicht nur in der Stadt verbreitete, sondern sogar ins Herz des Staates, also das Parlament, hineinschlich. Besorgniserregende Entwicklungen sind auch in Deutschland zu beobachten. Eine rechtspopulistische Partei, die AFD, die nicht nur eine Politik des antimuslimischen Rassismus und des Antisemitismus verfolgt, sondern auch gegen Genderund Queer Studies an den Hochschulen ist, repräsentiert 12,6 % der Stimmen und ist damit die drittstärkste Kraft im Bundestag. Ähnlich wie die Trump-Wähler_innen in den USA und die Brexit-Befürworter_innen in Britannien sind die AFD-Wähler_innen wütend über die Migration, wütend über „Sprechverbote“ aufgrund von political correctness bzw. wütend darüber, dass ihnen niemand zuhört. Zu viel größerer Besorgnis gibt Anlass, dass rassistische, insbesondere antimuslimische Diskurse der politischen Akteur_innen auch den Gesamtdiskurs nach rechts verschieben. Auch einige Stimmen innerhalb der LSBTI*-Landschaft in Deutschland scheinen dem Trend zu folgen, indem sie die anti-muslimischen Diskurse übernehmen und versuchen, ein whitewashing der Sichtbarkeit, der Diskussionen sowie der Wissensproduktion durchzusetzen. Was sich als Reaktion darauf entwickelt, zeigt uns, dass wir auch hier die Hoffnung nicht aufgeben sollten. In Reaktion auf anti-muslimische Diskurse und whitewashing entstehen neue Bündnisse, neue Diskussionen, in denen insbesondere die Stimmen von Queers of Color mehr Gehör finden. Dank dieser Diskussionen werden auch die Anfänge der LSBTI*-Bewegung, die sich nicht nur gegen Trans- und Homofeindlichkeiten zur Wehr setzte, sondern auch eine starke Kritik an rassistischen, klassistischen sowie nationalistischen Strukturen ausübte, immer wieder hervorgehoben. Ähnlich wie in der Türkei waren es auch im Westen Trans*-Personen, Sexarbeiter_innen, Queers of Color, arbeitslose Queers, obdachlose Queers, die den Weg für die LSBTI*Bewegung eröffneten. Ohne ihre Kämpfe wäre es auch für mich nicht möglich gewesen, dieses Buch zu schreiben. Dieses Buch basiert auf meiner Dissertation, die von Margreth Lünenborg betreut wurde. Ich bin herzlich dankbar dafür, dass Lünenborg an mein Dissertationsvorhaben geglaubt hat. Ohne ihren Glauben an meine Arbeit und mich hätte ich es nie geschafft, an den Punkt zu kommen, an dem ich gerade stehe. Sie hat jahrelang jeden einzelnen Text von mir mit großem Interesse sowie mit einem kritischen Blick gelesen, woraus ich am Ende viel gelernt habe. Nicht nur während meiner Forschungs- und Schreibphase, sondern auch nach meiner Promotion, als wir zusammengearbeitet haben, hat sie mir wertvolles Wissen vermittelt, das auch meine künftigen Arbeiten stark prägen wird. Ich bin außerdem sehr dankbar dafür, dass sie mir nicht nur die Möglichkeit gegeben, sondern mich auch dazu motiviert hat, mit unterschiedlichen theoretischen und methodischen Werkzeugen zu experimentieren
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und dabei die Grenzen von Medien- und Kommunikationswissenschaft zu versetzten. Auch ohne den Glauben meiner Zweitbetreuerin María do Mar Castro Varela an mich hätte ich es nie geschafft, dieses Buch zu Ende zu schreiben. Aber ohne sie hätte ich es auch nicht geschafft, weiter in einer akademischen Welt zu bleiben, die einen nicht-weißen queeren Wissenschaftler mit Migrationserfahrung nicht unbedingt willkommen heißt. Sie hat mich seit Beginn meiner Doktorarbeit sehr unterstützt und mich jedes Mal, wenn ich mich unsicher fühlte, motiviert weiterzumachen. Ich bin außerdem sehr dankbar für ihre wertvolle Kritik an meiner Dissertation, die mich motiviert hat, das Buch mit postkolonialer Theorie in Verbindung zu setzen. Außerdem war sie mir immer ein gutes Vorbild dafür, dass Wissensproduktion nicht unbedingt der Praxis dienen muss, sondern vielmehr dazu, die intellektuellen Grenzen zu erweitern, sodass wir unsere Vorstellung von einer besseren Gesellschaft eines Tages verwirklichen können. Gegen Ende meiner Promotion habe ich angefangen, mit zwei wertvollen Personen, nämlich mit Zülfukar Çetin und Tanja Maier, einen sehr produktiven und inspirierenden intellektuellen Dialog zu führen, den ich sehr schätze. Ich wünschte nur, dass wir uns viel früher begegnet wären. Außerdem bin ich dankbar, dass ich Salih Alexander Wolter kennengelernt habe, der mein ganzes Buch kurz vor seiner Veröffentlichung gelesen und mir dazu wertvolles Feedback gegeben hat, aus dem ich viel gelernt habe. Claire Horst hat mich jahrelang bei diesem Abenteuer begleitet. Sie hat meine Texte gelesen, wertvolles Feedback gegeben und mir geholfen, meine eigene Stimme in deutscher Sprache zu finden. Ich bin außerdem Gülay Akın sehr dankbar, die nicht nur die türkischen Berichte ins Deutsche übersetzt hat, sondern auch aufgrund der Negativität, Homo- und Transfeindlichkeit der Texte, die ich analysierte, mit mir zusammen gelitten hat. Ich habe Teile meiner Dissertation regelmäßig im Promotionskolloquium von Margreth Lünenborg vorgestellt. Dort habe ich sehr wertvolle Vorschläge vor allem von Anika Bach, Irina Kharuk, Julia Kloppenburg, María Martínes, Débora Medeiros, Eva Salomon und Saskia Sell erhalten, für die ich dankbar bin. Ich möchte mich außerdem bei Claudia Hübner bedanken, die mir bei vielen Formalitäten sehr geholfen hat. Die Rosa Luxemburg Stiftung und Margherita-von-Brentano-Zentrum haben mich während meiner Promotion und der Überarbeitung der Dissertation für die Buchveröffentlichung mit Stipendien unterstützt. Ich bin sehr dankbar dafür! Das Bild auf dem Cover des Buches ist von Hasan Aksaygın. Er hat es 2017 als Wandgemälde für die Ausstellung ğ – Queere Formen migrieren im Schwulen Museum* Berlin geschaffen. Es stellt seine eigene Hand, eingeschmiert mit Gleitgel, auf einem Sockel dar. Ähnlich wie bei Fragmenten von antiken Skulpturen, die bei archäologischen Grabungen in Vorderasien gefunden und danach in einem Museum in Berlin vorgestellt wurden, zeigt dieses Fragment nur einen kleinen Teil eines queeren Körpers und einer Geschichte, denen es gelungen ist, uns zu erreichen bzw. in den Bereich der Sichtbarkeit einzutreten. Ähnlich wie meine Arbeit,
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die darauf basiert, Fragmente einer queeren Geschichte zu entdecken, die in den Bereich der Sichtbarkeit eingetreten sind, berührt auch die von Hasan queere (Un-) Sichtbarkeiten, Temporalitäten sowie Diskurse und Formen, die sich auf transnationale Ebene bewegen. Ich bin so dankbar dafür, dass wir seit Jahren einen transdisziplinären Dialog führen und dass dieser Dialog seine Spur auf dem Cover dieses Buch hinterlassen hat. Einen ähnlichen Dialog, den ich sehr schätze, führe ich mit Bawer Çakır. Ich bin sehr dankbar dafür, dass sich unsere Freundschaft, die auf unsere gemeinsame aktivistische Vergangenheit in Istanbul zurückgeht, auch in Form der Zusammenarbeit an etlichen Projekten immer weiter entwickelt. Während meiner langen Promotionsphase hatte ich die Gelegenheit, über meine Arbeit mit sehr inspirierenden Wissenschaftler_innen und Autor_innen zu diskutieren, deren wertvollen Kommentaren mich sehr beeinflusst haben: Ayşe Gül Altınay, Rikke Andreassen, Eirini Avramopoulou, Bilgin Ayata, Yavuz Aykan, Begüm Başdaş, Mathias Berek, Clare Bielby, Charlotte Binder, Michael Birchall, Serkan Delice, Alexander Dhoest, Léuli Mazyar Luna’i Eshraghi, Koray Yılmaz-Günay, Sibel Erol, Benno Gammerl, Deborah Gould, Elisabeth R. Hager, David M. Halperin, Anouk Madörin, Cenk Özbay, Carola Richter, Jutta Röser, Aykan Safoğlu, Müjgan Şenel, Ayşecan Terzioğlu, Nurçay Türkoğlu, Ilgın Yörükoğlu, Aslı Zengin. Ich möchte mich außerdem bei Serdar Soydan bedanken, mit dem ich seit fünfzehn Jahren einen sehr produktiven Dialog über queere Archive führe. Außerdem möchte ich mich bei meinen aktivistischen Freund_innen aus den queer-feministischen Szenen von Istanbul, Berlin und Marseille bedanken, von denen ich so viel gelernt habe: Ahmad Awadalla, Öner Ceylan, Ediz Eren Chance, Olga Loris. Ich bin außerdem sehr dankbar dafür, dass ich mittlerweile eine Berliner Familie habe, die mich seit Jahren mit ihren tollen Gesprächen, Koch- und Tanztalenten beeindruckt: Mansur Ajang, Umut Azad, Eric Bloom, Nils Budrich, Jérôme Chazeix, Selin Devasse, Onur Erol, Toni Gogin, Pip Hare, Anna Krämer, Patrick Rau, Ayumi Saito, Ashkan Sepahvand, Louise Serjeant und Eren Şahin sind nur einige davon. Meine Freund_innen aus Istanbul unterstützen mich seit Jahren mit viel Liebe und freuen sich so sehr darauf, dass dieses Buch endlich erscheint: Pınar Arabacı, Evren Aşık, Elif Başaran, Nurgül Dönmez, Ayça Koçali, Nida Nevra Savcılıoğlu, Özge Süzmetaş. Ein sehr besonderer Dank geht an Serenad Yılmaz. Ohne sie hätte ich mich nie in Berlin zu Hause gefühlt. Zu guter Letzt möchte ich mich herzlich bei meiner Eltern bedanken. Bu kitap her şeyden önce sizin bana olan sonsuz desteğiniz ve inancınız sayesinde çıkabildi.Size ne kadar teşekkür etsem azdır.
Queere Stimmen, Stille und (Un-)Sichtbarkeiten
Einleitung
Die Geschichte der queeren Repräsentationen spielt sich ab auf einem Schlachtfeld zwischen Stimmen und Stille, zwischen Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten. Wenn diese Geschichte anhand medialer Texte oder sogar, wie in diesem Buch, anhand boulevardjournalistischer Texte rekonstruiert wird, verschwinden meistens die Grenzen zwischen Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten. Selbst in denjenigen Momenten, in denen queere Stimmen repräsentiert werden, sind diese Stimmen verzerrt und deformiert. Das ist längst bekannt. Kann man aber auch in der Stille, in der Unsichtbarkeit queere Deutungen finden? Wie kann eine queere kritische Arbeit diese Unsichtbarkeit, diese Stille auffassen? Dieses Buch ist eine Bearbeitung der Stille, in der ich mich während meiner langen, mühsamen Forschung in den Pressearchiven in Berlin und Istanbul sehr oft befunden habe. Es war nicht nur die Stille der Räumlichkeiten, der Bibliotheken, der Archive, die meine Arbeit jahrelang begleitet hat, sondern auch die Stille in den Texten, die Unsichtbarkeiten in den Repräsentationen, die großen Lücken im geschichtlichen Verlauf, denen ich sehr oft gegenüberstand. Aus diesen Lücken erschienen manchmal deformierte Stimmen und Repräsentationen, auf denen ich meine Analyse aufbauen konnte. Dennoch lag meist drückende Stille über der Forschung. Diese Stille in den Archiven rührte von der Überfülle an nicht erzählten Ereignissen, unsichtbar gemachten queeren Subjekten und zum Schweigen gebrachten Vorfahr_innen her. Viele queere Archivarbeiten beginnen mit dem Wunsch und mit der Hoffnung, die Vorfahren_innen zu finden. Queere Genealogien, Archivarbeiten, Diskursanalysen suchen nach verschwundenen und vergessenen Vorfahr_innen, Wurzeln und Geschichten. Innerhalb der queeren Geschichtsschreibung gewinnt die Frage des Bezugs der Forscher_innen zu den historischen Texten immer mehr an Bedeutung, und die Frage, warum sie besessen von der Suche nach imaginären Vorfahr_innen sind, wird immer öfter gestellt. Heather Love (2009) ist der Meinung, dass dadurch eine Art zeitübergreifende Verbindung entsteht zwischen den in unterschiedlichen Orten und Zeiten isolierten queeren Subjekten, die in den historischen Texten repräsentiert werden, und den isolierten queeren Forscher_innen. Die Verbindung entsteht nicht nur durch die Rekonstruktion der Geschichte, sondern auch (sogar viel
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mehr) durch das Erkennen der zeitübergreifenden geteilten Isolationen, Schamgefühle und Verletzlichkeiten. Es entsteht eine Art zeit- und ortsübergreifende imaginäre Community aus den Vorfahr_innen und den Forscher_innen, die auf der geteilten Erfahrung der Isolation basiert (Love 2009, 262-264). Es sind also die traurigen Momente im zeitlichen Verlauf, die Momente der Isolation, der NichtRepräsentationen, falscher Darstellungen sowie der Stille, die die queere Geschichts- und Medienforschung so stark prägen. Die Geschichte, wie sie in den boulevardjournalistischen Texten vorkommt, ist eine Geschichte voller trauriger Momente. Eine sozialwissenschaftliche Forschung zu queeren Realitäten ist, wie María do Mar Castro Varela (2012) bemerkt, meistens eine traurige Forschung. Eine kritische empirische Forschung mit der Hoffnung sozialer Transformation kann nie befriedigend sein, sie ist meist zum Scheitern verurteilt. In einer ähnlichen Weise scheint auch die Hoffnung, queere Stimmen und Sichtbarkeiten in den boulevardjournalistischen Repräsentationen zu finden, eine traurige Hoffnung zu sein. Dennoch sind genau solche traurigen Momente so prägend, sogar konstitutiv für viele queere Identifikationen. Obwohl es sehr wichtig ist, Repräsentationen der glücklichen Momente sowie von Stolz als schöpferischen Kräften für queere Subjektivität zu untersuchen, ist es Eve Kosofsky Sedgwick (2003) zufolge genauso wichtig, Momente der Scham als prägend für die Identifikationsprozesse in den Blick zu rücken. Sedgwick ist der Meinung, dass die queere Identität nicht nur durch Stolz oder all diese glücklichen Momente konstruiert wird, sondern dass der Rahmen der queeren Identitätsprozesse auch durch Scham und ihre Bearbeitung gebildet wird. Aus diesem Grund kann die Forschung nicht nur die glücklichen Momente aufgreifen, sie muss auch die traurigen Momente als bedeutsam für die queeren Identifikationen und Narrative untersuchen. Dennoch ist innerhalb feministischer und queerer Ansätze eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von traurigen Momenten hin zu glücklichen Momenten zu beobachten. Diskurse über die positive Seite der Geschichte, Repräsentationen von Stolz und Empowerment sowie Narrationen über Widerstand werden dabei hervorgehoben. Theoretiker_innen wie Wendy Brown (1995) glauben dabei, dass soziale Errungenschaften nicht durch die Adressierung sozialer Verletzlichkeiten erreicht werden können. Sie ist der Meinung, dass eine solche Adressierung genau die Strukturen reproduziert, die Subjekte verletzen. Die Forderung nach dem Schutz etlicher Subjekte aufgrund ihrer sozialen Verletzlichkeit bzw. Benachteiligung verankere, so Brown, die Verbindung zwischen Identität und Verletzlichkeit (Brown 1995, 20-21). Man kann an dieser Stelle die These anschließen, dass sich queertheoretische Ansätze meistens nicht mit solchen Texten auseinandersetzen, die sowieso nur eine verletzende Sprache repräsentieren und keinen Raum für Widerstand und Empowerment ermöglichen. Aus diesem Grund werfen viele Forscher_innen und Theoretiker_innen ihren Blick auf alternative Repräsentationen,
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anstatt eine Analyse der Repräsentationen in dominanzgesellschaftlicher Kultur, wie z.B. der in den Boulevardzeitungen, durchzuführen. Ein Interesse an Verletzlichkeiten sowie an traurigen Momenten wird sehr oft, so Sara Ahmed (2010), als rückständig oder nicht progressiv betrachtet. Die Auseinandersetzung mit der Negativität wird als ein Interesse gesehen, das an der Vergangenheit orientiert ist und dabei die Subjekte davon abhält, voranzuschreiten und sich auf die Zukunft einzulassen. Ahmed findet eine solche Darstellung von guten Gefühlen als progressiv problematisch, da die negativen, traurigen, verletzenden Geschichten nicht dadurch verschwinden. Sie ist der Meinung, dass genau durch die Offenbarung solch trauriger Seiten der Geschichte eine alternative Einstellung dazu, wie eine soziale Errungenschaft aussehen kann, ermöglicht wird. Eine alternative soziale Errungenschaft entsteht nur, so Ahmed, durch einen Blick auf solche Momente, die unsere Freude töten (Ahmed 2010, 50). Wenn wir also die Stille des Archivs bzw. die deformierten Stimmen, die uns erreichen, als solche traurigen Momente betrachten, ist es das Erinnern an sie, das uns zu einer „sozialen Errungenschaft“ leitet. In Anlehnung an Michel Foucault weist Love darauf hin, dass Figuren, die in historischen Texten repräsentiert werden, uns, die zeitgenössischen Forscher_innen, nur durch ihre Begegnung mit der Macht, also nur durch ihre Erfahrung mit der Gewalt erreichen. Im Archiv zu sein ist eine Begegnung mit der geschichtlichen Gewalt, die die imaginären Vorfahr_innen erfahren haben. Die Archive sind nicht nur von der physischen Gewalt geprägt, die die Subjekte erlebt haben, sondern auch von Gewalt in Form eines Unsichtbarmachens der Subjekte, in Form des Verstummens oder der Vernichtung von queeren Erinnerungen. (Love 2009, 270-271). Daher ist eine queere Forschung, die sich auf Texte der Vergangenheit richtet, ein melancholischer Akt, der von verschwundenen bzw. deformierten Stimmen oder von der Stille heimgesucht wird. Dennoch, wie Serkan Delice in seiner Analyse von homoerotischen Repräsentationen in der osmanischen Geschichte nachweist, bemühen sich Forscher_innen, diese Deformationen und diese Stille entweder mit ihrem Schreiben zu beheben, oder sie vernichten bzw. monumentalisieren den vergangenen Anderen mit ihrem Schreiben – was zum Beispiel oft der Fall ist, wenn von queerer Geschichte der Osmanen die Rede ist (Delice 2010, 108). Eine queere kritische Arbeit kann also diese Stille bzw. die zum Schweigen gebrachten „imaginären Vorfahr_innen“ nie übersehen. Diese Stille, diese Unsichtbarkeit kommt als eine geteilte und zeitübergreifende Isolation zwischen queeren Subjekten in unterschiedlichen Zeiten und Orten immer wieder vor. Dennoch scheint es analytisch schwierig zu sein, die Lücken, die Stille aufzugreifen. Das Dilemma daran ist, dass man die Lücken, die Stille, die Unsichtbarkeit nur anhand ihrer Repräsentationen analysieren kann, also anhand der Figuren, die in dem Bereich des Sichtbaren und Sagbaren vertreten sind. Wir können die queere Stille und Unsichtbarkeit nur anhand der verzerrten und deformierten Stimmen, die uns erreichen, analytisch dokumentieren. Obwohl in diesem Buch eine Analyse der Texte zu
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sehen ist, in denen auf irgendeine Art Deutungen queerer Subjekte auftauchen, ist der größte Teil der Archive schlicht von Nicht-Repräsentation geprägt. Durch die Analyse der historischen Transformation der queeren (Un-)Sichtbarkeiten in den boulevardjournalistischen Repräsentationen beschäftigt sich dieses Buch mit drei theoretischen Komplexen und versucht dabei, die Schnittstelle zwischen queertheoretischen und kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen zu vertiefen. Bei diesen theoretischen Komplexen handelt es sich um die Diskussionen zu Temporalitäten, zu medialen Texten als Kulturformen und um die postkoloniale Kritik an einer dichotomen Vorstellung der Welt. Mit der Frage der Zeitlichkeit bzw. mit queeren Temporalitäten beschäftigen sich queere Theoretiker_innen sowie Historiker_innen seit einiger Zeit. Innerhalb der queertheoretischen Ansätze zur Temporalität wird in vieler Hinsicht die herkömmliche Wahrnehmung der Zeit infrage gestellt. Unter anderem wird dabei die Darstellung der Zeit als Fortschritt von der Repression zur Freiheit diskutiert; außerdem die Darstellung eines normativen Lebens, das die Phasen Kindheit, Ehe, biologische Reproduktion und Hinterlassen eines Erbes verfolgen muss; die Darstellung einer Zukunft, die sich auf den Schutz der Kinder reduziert; die Darstellung früherer und lokaler Formen sexueller Identitäten, die sich im zeitlichen Verlauf früher oder später zu globalen Formen sexueller Identitäten umwandeln, als prämodern (vgl. z.B. Benedicto 2008, Dinshaw et al. 2007, Edelman 2004, Halberstam 2005). Ein zentrales Interesse ist es dabei, die Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu untersuchen, durch den Blick auf die Vergangenheit und durch das Erinnern der vergangenen Geschichte die Gegenwart zu verstehen sowie dadurch eine Futurität zu erschaffen. Der Blick auf die Vergangenheit wird dabei deswegen als bedeutsam angesehen, weil durch die Begegnung mit den vergangenen Geschichten und Repräsentationen vor allem die Unmöglichkeit der Festsetzung einer „queeren Community“ festgelegt wird. Es ist nämlich schwierig, die im zeitlichen Verlauf zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an unterschiedlichen Orten erschienenen queeren Repräsentationen nur aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale einer Community bzw. Kategorie zuzuordnen. Es sind nicht bestimmte Identitätsmerkmale, die vergangene Figuren als queer kennzeichnen, sondern ihre Begegnung mit der Macht sowie die Isolation, die sie in ihrem zeitlichen Kontext erlebt haben (Love 2009, 274). Die geteilten Isolationen in der Vergangenheit können dabei auch zu Vorbildern für die gegenwärtigen queeren Politiken werden. Für manche Theoretiker_innen liegt Queer nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft. José Esteban Muñoz (2009) beschreibt zum Beispiel, dass Queer eine Utopie, ein Ideal darstelle, das sich nicht in der gegenwärtigen Welt befinde, sondern nur in der Zukunft. Auf der anderen Seite muss man, um eine queere Zukunft zu erreichen, auf die Vergangenheit blicken und die vergangenen Erinnerungen bearbeiten, so Muñoz. Er richtet den Blick auf solche Erinnerungen aus der Vergangenheit, die sich wie Geister in der Gegenwart bewegen und vor allem die Dar-
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stellung der queeren Zukunft mitgestalten. Insbesondere die Erinnerung an solche Brüche wie die AIDS-Krise und die Frage, wie durch diese Erinnerungen eine Futurität erschaffen wird, werden in seiner Theorie sehr oft thematisiert. Die queere Temporalität, mit der dieses Buch in Berührung kommt, hinterfragt jedoch die typische Narration der Geschichte, die Ereignisse wie die StonewallUnruhen, die AIDS-Krise sowie die Regelungen der Rechte für die gleichgeschlechtliche Ehe als Brüche darstellt, die nicht nur Repräsentationen, sondern auch Identifikationen stark geprägt hätten. Durch den Vergleich unterschiedlicher Kontexte, also unterschiedlicher Temporalitäten, in Deutschland und in der Türkei werden die Darstellung einer einheitlichen queeren Geschichte sowie die Universalität solcher zeitlichen Ereignisse infrage gestellt. Des Weiteren stellt dieses Buch das Verständnis von Temporalität als linear und teleologisch infrage: Können wir die Geschichte der queeren (Un-)Sichtbarkeiten wirklich als ein zeitliches Fortschreiten von der Abwertung zur Normalisierung betrachten? Oder sind es eher Brüche sowie Wiederholungen, die den zeitlichen Verlauf prägen? Diese Fragen gewinnen insbesondere dann eine essenzielle Bedeutung, wenn sich der Blick auf mediale Repräsentationen richtet. In ihnen kommen nämlich immer wieder Deutungen vor, die man spontan der Vergangenheit zuordnen würde. Des Weiteren tauchen in den früheren Texten Deutungen auf, die als zeitgenössisch gelesen werden können. Obwohl journalistische Texte, insbesondere boulevardjournalistische Texte, die Darstellung einer progressiven Temporalität entkräften, blieb die Untersuchung der queeren Temporalität in journalistischen Texten bislang ein kaum beachtetes Terrain. Die Bedeutung des journalistischen Diskurses für die Konstruktion von sexuellen Kategorien wurde in einigen kanonischen Werken nur sehr allgemein diskutiert. Sedgwick weist zum Beispiel in ihrem Buch Epistemology of the Closet, das inzwischen – ähnlich wie Judith Butlers Gender Trouble (1990) – zu einem kanonischen Werk der Queertheorie geworden ist, darauf hin, dass die Grenzziehung zwischen den Kategorien Heterosexualität und Queer eine der wesentlichen Tätigkeiten des Journalismus ist. Täglich, so Sedgwick, zirkulieren in der Presse Bedeutungsstrukturen, die den Leser_innen einen klaren Überblick darüber geben, wer heterosexuell und wer nicht-heterosexuell ist (Sedgwick 2008, 54). Sedgwick verficht in ihrem Buch die These, dass die Dichotomie zwischen heterosexuell und homosexuell, deren Reproduktion auch durch den journalistischen Diskurs gefördert wird, eine der wichtigsten Grundlagen der Kultur sei, auf der auch weitere Dichotomien beruhen, wie zum Beispiel Verschwiegenheit/Enthüllung, Wissen/Ignoranz, maskulin/feminin, gleich/anders, Majorität/Minorität usw. (ibd., 11). Genau diese These bildet den Ausgangspunkt sowohl queertheoretischer Ansätze als auch des vorliegenden Buchs, das die diskursive Konstruktion der Kategorien der Heteronormativität und der queeren Subjekte auf der Ebene der journalistischen Sprache in zwei unterschiedlichen sozio-historischen Räumen, nämlich in der deutschsprachigen und der türkischsprachigen Presse, als Zentrum des Forschungsinteresses festlegt.
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Journalismus ist damit als ein kultureller Prozess bzw. als ein Diskurs zu verstehen, der dafür sorgt, dass bestimmte Kategorien in einer Gesellschaft als selbstverständlich betrachtet werden (vgl. Lünenborg 2005). In diesem Zusammenhang sind journalistische Texte nicht als bloße Träger von Informationen zu betrachten, sondern sie funktionieren als wesentliche Bestandteile einer dominanzgesellschaftlichen Kultur, indem sie Bedeutungsstrukturen zirkulieren, die die Konstruktion der Realität und Subjektivität steuern (Fiske 2000, 49). Im Mittelpunkt des Interesses stand daher nicht eine Untersuchung der Qualität des Journalismus hinsichtlich der Objektivität. Journalistische Texte aus Boulevardmedien, die aufgrund ihrer fiktionsähnlichen Narrationen oft negativ bewertet werden, werden als Momente der Produktion von Bedeutungsstrukturen verstanden, die in der Populär- und Alltagskultur in Umlauf gebracht werden (Lünenborg 2005, 68). Die Rezeptions- bzw. Dekodierungsprozesse dieser Bedeutungsstrukturen stehen dabei nicht außerhalb der Bedeutungsproduktion, sondern die Bedeutungen treten nur mit ihrer Präsenz in Kraft (vgl. Hall 1980). Ähnlich wie bei der medialen Reproduktion der Bedeutungsstrukturen des Genders (vgl. Lünenborg und Maier 2013) sind Bilder, Texte sowie Narrationen in der Presse verbunden mit Machtverhältnissen in der dominanzgesellschaftlichen Kultur, an der sowohl die Produzierenden als auch die Konsumierenden der Bedeutungen als aktive Akteur_innen teilnehmen und die dadurch die Repräsentation von queeren Subjekten stark prägen. Weiterhin fußt dieses Buch auf einer Hermeneutik, die sich an die Queer Theory anlehnt, womit eine Lücke sowohl in queertheoretischen als auch in kommunikationswissenschaftlichen Studien im deutschsprachigen Raum gefüllt wird. Ähnlich wie im englischsprachigen Raum wird die Queer Theory im deutschsprachigen Raum bei der Analyse von literarischen Werken (vgl. Blödorn 2006, Hornung 2012) und insbesondere von Werken der visuellen Kunst (vgl. Paul und Schaffer 2008, Engel 2009, Schaffer 2014, Hoenes 2014) angewendet. In kommunikationswissenschaftlichen Studien legen die queertheoretischen Ansätze den Fokus insbesondere auf das Fernsehen (vgl. Aaron 2013, Pinseler 2013), und die Analyse des journalistischen Diskurses richtet sich vor allem auf die mediale Konstruktion von Homosexualität in engen Zeiträumen ohne besonderen Fokus auf der Queer Theory (vgl. Rimmele 1997, Heilmann 2011). Eine queertheoretische Analyse des journalistischen Diskurses in den Boulevardmedien bietet die Möglichkeit, die oft aufgrund ihrer mangelnden journalistischen Qualität als negativ bewerteten Texte, ähnlich wie literarische Texte bzw. Kunstwerke, als Bestandteile der Kultur zu sehen und dadurch interdisziplinär vorzugehen. Des Weiteren ermöglicht es eine solche Analyse der großen Zeiträume, die Brüche im Verlauf des Diskurses sowie die sozio-historischen Hintergründe dieser Brüche präziser aufzuzeigen. Von großer Bedeutung ist dabei die komparative Dimension der Analyse, die es ermöglicht, die sozio-politische Spezifität solcher Brüche, die den Verlauf des Diskurses beeinflusst haben, erkennbar zu machen.
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Auf der anderen Seite zeigt eine Untersuchung boulevardjournalistischer Texte, wie schwierig es ist, die Bedeutungen in festgelegte Formen einzuordnen. Es sind eher Mischformen von Bedeutungen und Repräsentationen, die den Boulevardjournalismus so stark prägen. Meine ursprüngliche Bemühung, Repräsentationen mit einer binären Vorstellung von „Abwertung versus Normalisierung“ aufzugreifen, hat in vieler Hinsicht die Analyse erschwert. Eine Analyse von medialen Texten muss vor allem diese Komplexität, die aufgrund der Mischformen entsteht, betonen. Insbesondere die Boulevardformate umfassen widersprüchliche Deutungen innerhalb der gleichen Diskursfragmente und eröffnen dabei paradoxerweise Räume für queere Deutungen. Aufgrund des boulevardjournalistischen Interesses an normabweichenden Sexualitäten und Gendern sowie des Verschwindens der Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zirkulieren selbst innerhalb abwertender Repräsentationen queere Deutungen. In kommunikations- und medienwissenschaftlichen Ansätzen werden solche Fälle des Einmischens von queeren Deutungen in die dominanzgesellschaftlichen Texte unter anderem als eine Kluft beschrieben, die aufgrund des Versuchs entsteht, die Produktion queerer Kulturdeutungen zu unterdrücken (Henderson 2001, 475-476). Lange Zeit basierte die feministische sowie queere Analyse medialer Repräsentationen darauf, Stereotypisierungen aufzuzeigen. Ein queertheoretischer Blick macht jedoch eine Analyse von Stereotypisierungen, die die Dinge schlicht in „negativ“ und „positiv“ aufteilt, fraglich. Queer Theory zwingt nämlich die Analyse dazu, die Repräsentationen von sexuellen Subjekten nicht nur als solche zu verstehen, die die Aufgabe haben, die Realitäten einfach nur als gut oder schlecht darzustellen, sondern sexuelle Subjekte in sich als Repräsentationen zu sehen, die sich immer bewegen und in einem Konstruktionsprozess befinden. Dieser Prozess wird dabei unter anderem auch durch mediale Texte geprägt (Gamson 2003, 388). Boulevardformate in den Medien bieten vor allem auch deswegen einen fruchtbaren Boden für queertheoretische Analysen, weil sie die Aufmerksamkeit einerseits auf das Privatleben prominenter Personen wie Politiker_innen verschieben, andererseits aber dem Leben nicht-prominenter Personen viel mehr Platz einräumen als Qualitätsmedien. Anstatt Ereignisse und Fakten darzustellen, wird vielmehr der Alltag der Personen bzw. das Privatleben der Prominenten in einer fiktionsähnlichen Narration thematisiert. Die Berichterstattung verfolgt dabei keine lineare Logik, sondern vermischt oftmals widersprüchliche Deutungen sowie emotionalisierte Erzählweisen (Lünenborg 2009, 8). Des Weiteren verschieben sich durch die Boulevardisierung die Grenzen von Privatheit und eröffnen sich Räume für Figuren, Narrative und Repräsentationen, die zuvor nicht als Teil der Öffentlichkeit gesehen wurden. Dies wiederum bietet ein großes Potenzial, um zu untersuchen, wie sich auch die Grenzen der Sichtbarkeiten ständig bewegen (ibd. 13). Es ist also möglich, die These zu verfechten, dass das Themenfeld Sexualität sowie normabweichende Genderidentitäten in Boulevardformaten eine leichtere Darstellbarkeit findet, da der Boulevardjournalismus dem Privaten bzw. „normabweichenden Figuren“ eine
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besondere Aufmerksamkeit schenkt. Dies stellt jedoch keine Befürwortung bzw. Rechtfertigung von Boulevardformaten in den Medien dar. Dennoch sollte eine Analyse der Konstruktion von sexuellen Kategorien die zirkulierenden Deutungen von Sexualität und Gender in den Boulevardformaten nicht vernachlässigen. In einer präzisen Weise dokumentiert dieses Buch die Pluralität der Deutungen, Narrationen und Repräsentationen in ihren geschichtlichen Verläufen. Ein viel größeres Potenzial liegt aber in solchen Mischformen der Repräsentationen, die es erschweren, die Dinge schlicht als positiv oder negativ zu bewerten. Als ich die Analyse durchgeführt habe, habe ich solche Diskursfragmente als Brüche gesehen, die den Verlauf in eine unterschiedliche Richtung leiteten. Meine Doktorarbeit basierte darauf, solche Brüche zu identifizieren und die sozio-politischen Gründe, die zu ihnen führten, zu erklären. Die Mischformen sind jedoch nicht nur in den Brüchen erkennbar, sondern verteilen sich über den gesamten diachronen Schnitt. Während ich die Doktorarbeit schrieb, habe ich die Wiederholung solcher Mischformen bedauerlicherweise nicht genügend erfasst. Die Arbeit hätte sich auch nur auf solche Mischformen fokussieren können, denn die boulevardjournalistischen Versuche, normabweichende sexuelle Subjekte zu skandalisieren, führen am Ende doch dazu, dass Klüfte bzw. Fissuren entstehen, wodurch queere Deutungen in die dominanzgesellschaftliche Kultur eindringen. Aber auch das Gegenteil ist zu beobachten: Ein boulevardjournalistisches Interesse, queere Repräsentationen als positiv darzustellen, führt meistens dazu, dass politisches Potenzial des Queeren verschwindet bzw. in die Normalität integriert wird. Der Vergleich von zwei unterschiedlichen Temporalitäten entkräftet auch die Vorstellung von einer binären Welt, die sich in zwei voneinander streng getrennte Kategorien wie „Okzident“ und „Orient“ aufteilt. Durch den Vergleich von Texten aus einer türkischen und einer deutschen Boulevardzeitung stellt dieses Buch die Darstellung infrage, der zufolge der Westen ein Ort der sexuellen Freiheit und der Geschlechtergerechtigkeit sei, das heißt im Kontext dieses Buches vor allem ein Ort einer gerechten Darstellung von queerem Geschehen, während der „Orient“ ein Ort sei, an dem jegliche normabweichenden Sexualitäten und Geschlechteridentitäten unterdrückt oder ausgelöscht würden. Die Mischformen, die in unterschiedlichen Kontexten auftauchen bzw. die Repräsentationen, die sich auf transnationaler Ebene bewegen, machen es nämlich problematisch, die sich oft wiederholenden Dichotomien von Osten und Westen bzw. Norden und Süden als feste Kategorien zu verstehen. Des Weiteren ist, wie ich in diesem Buch zeige, selbst in einer türkischen Boulevardzeitung eine Pluralität von queeren Repräsentationen zu beobachten. Auf der anderen Seite sind falsche Repräsentationen, verzerrte Stimmen sowie große Lücken aufgrund der Nicht-Repräsentationen auch im deutschen Kontext zu sehen. Obwohl die Sichtbarkeit der LSBTI*-Personen in europäischem Kontext noch viele Hürden zu überwinden hat bzw. immer noch mit Heteronormativität, Homound Transfeindlichkeit konfrontiert ist, wird sie sehr oft als Maßstab benutzt, um eine imaginäre Linie zwischen den Kategorien „Orient“ und „Okzident“ zu ziehen
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und darüber hinaus eine Dichotomie zu konstruieren. Hier ist es von großer Bedeutung zu betonen, dass dabei bestimmte Merkmale der Identitäten, die als westlich codiert werden, als modern bzw. universal gesehen werden. Eine derartige Sichtbarkeit wird oftmals benutzt, um queere Handlungen „der Anderen“ außer Acht zu lasen. Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß (2016) zeigen zum Beispiel, wie die Kategorie „homosexuell“ und ihre Sichtbarwerdung in der europäischen Öffentlichkeit seit ihrer diskursiven Entstehung zeitgleich mit der europäischen Moderne in direkter Verbindung mit der Abgrenzung gegenüber gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen unter Männern in anderen geografischen Regionen stand. Dabei wird entweder angenommen, dass es in anderen kulturellen Kontexten als dem europäischen keine queeren Sichtbarkeiten gäbe, oder die unterschiedlichen Formen von Sichtbarkeiten werden als primitiv bzw. prämodern angesehen. Die Kiss-In-Aktionen einiger deutscher LSBTI*-Organisationen in Berliner Stadtteilen wie Kreuzberg, wo hauptsächlich migrantische Communities wohnen, spiegeln beispielweise solche Annahmen wider bzw. übersehen die queeren Widerstände und Bemühungen innerhalb der migrantischen Communities (Çetin & Voß 2016, 19). Des Weiteren wird, wie Fatima El-Tayeb (2012) aufzeigt, die Präsenz der muslimischen Communities insbesondere unter weißen LSBTI*-Einwohner_innen der europäischen Metropolen immer häufiger als eine Gefahr für die europäischen Werte gesehen. Dies geht wiederum damit einher, so El-Tayeb, dass muslimische queere Gruppen in den Diskussionen entweder nicht repräsentiert sind oder als nicht progressiv genug für eine Teilhabe an der LSBTI*-Politik gesehen werden. Aus diesem Grund ist es von großer Bedeutung, Selbstverständlichkeiten bezüglich Repräsentationen auch innerhalb queertheoretischer bzw. kommunikationswissenschaftlicher Diskussionen infrage zu stellen. Die postkoloniale Kritik bietet dabei einen fruchtbaren Boden, da sie einen Blickwechsel vom globalen Norden bzw. vom Westen auf Geschichte, Wissen und Narrationen des globalen Südens, bzw. des „Orients“, fordert (Castro Varela & Dhawan 2015, 17) Dieser Blickwechsel ist von großer Bedeutung, da er die Spuren, die durch die gewaltsame Konstruktion des Westens als normativer Macht entstanden sind, in vieler Hinsicht sichtbar macht. Die Theoretiker_innen Castro Varela und Dhawan weisen darauf hin, dass durch die Konstruktion des Westens als Norm europäisches Wissen und europäische Technologien als Symbole für Fortschritt verstanden wurden. Das ging wiederum mit der Annahme einher, dass sich die „barbarischen Länder“ und „unzivilisierten Völker“ früher oder später hin zur Moderne entwickeln würden (ibid., 38). Sexualität bzw. Gender spielten in den europäischen Darstellungen der nichtwestlichen Kulturen, insbesondere des „Orients“, immer eine wesentliche Rolle. Während in der Vergangenheit der „Orient“ bezüglich Sexualität als moralisch abzuwerten bzw. als zügellos gesehen wurde, hat sich das Bild des „Orients“ drastisch geändert, nachdem Europa freizügiger geworden war. Der „Orient“ repräsentiert nun den Ort, wo Sexualität unterdrückt wird, bzw. die Kultur, die bezüglich sexueller Rechte und Geschlechteridentitäten rückständig ist (vgl. Massad 2007).
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Das Problematische daran ist in beiden Vorstellungen der eurozentrische Gedanke, der Europa als anderen Regionen überlegen konstruiert bzw. die europäische Epistemologie der Sexualität als Norm festsetzt und dabei die Forderung stellt, dass sich die anderen Gesellschaften in diese Norm integrieren müssten. Diese Norm wird von einigen Theoretiker_innen deswegen problematisiert, weil dabei einerseits die Vielfalt der sexuellen sowie geschlechtlichen Handlungen in anderen Gesellschaften übersehen wird, sie andererseits oftmals als Grund benutzt wird, um Homophobie bzw. Transphobie, die im Westen weiter existieren, auf andere Gesellschaften zu verschieben. Jasbir Puar (2007) warnt zum Beispiel davor, dass zur Rechtfertigung kriegerischer Auseinandersetzungen westlicher Länder mit Ländern des Nahen Ostens oft die Darstellung des „Orients“ als eines homophoben, transphoben sowie frauenfeindlichen Ortes verwendet werde. Auf der anderen Seite führt die Verbreitung der digitalen Kommunikationstechnologien dazu, dass sich hauptsächlich westliche Diskurse und Repräsentationen von sexuellen und geschlechtlichen Identitäten verbreiten. Man mag an dieser Stelle die These verfechten, dass sich durch die Globalisierung die sexuellen Handlungen und die Vielfalt der queeren Erfahrungen in anderen Regionen früher oder später hin zu westlichen Kategorien von sexuellen Identitäten umwandeln werden. Einige Theoretiker_innen sind jedoch der Meinung, dass trotz der Globalisierung lokale Formen von sexuellen und geschlechtlichen Identitäten weiterhin existieren und sogar bei der Entstehung von neuen, alternativen sexuellen Politiken, Kulturen sowie Identitäten eine bedeutsame Rolle spielen werden (vgl. Benedicto 2008; Manalansan IV 2003, 2006). In manchen Fällen, wie etwa in der Türkei, können Prozesse wie Globalisierung und Verwestlichung weitere Spannungsfelder bezüglich der sexuellen Kategorien verursachen. Am Beispiel von LSBTI*-Bewegungen in der Türkei zeigt Evren Savcı (2012), wie der Zugang zum westlichen Wissen, z.B. der Zugang zu Sprache und Begrifflichkeiten, eine Art epistemologischer Gewalt innerhalb queerer Communities verursacht. Einige lokale Identitäten sowie sexuelle und geschlechtliche Handlungen werden von queeren Aktivist_innen, die Zugang zum westlichen kulturellen Kapital haben, mit westlichen Begrifflichkeiten sowie Argumentationsmustern kritisiert bzw. als altmodisch angesehen. Savcı zeigt zum Beispiel, wie TransMänner und Lesben butch-Frauen, also maskuline Frauen aus den unteren Schichten, aufgrund ihrer Aggressivität oder ihrer lokalen Ausdrucksformen von Männlichkeiten kritisieren. Auf der anderen Seite werden in manchen LSBTI*Organisationen travestis und lubunyas, die keinen akademischen Hintergrund und keine englischen Sprachkenntnisse haben (und meistens als Sex-Arbeiter_in tätig sind), als nicht-qualifiziert für bezahlte Stellen gesehen. Dabei werden solche Stellen mit Menschen besetzt, die aus der Mittelschicht kommen, akademische Bildung sowie Zugang zur westlichen Literatur über Gender und Sexualität haben. Savcı zeigt dabei am Beispiel der Türkei auf, wie die alten kolonialen Strukturen, die das westliche Wissen als Fortschritt konstruieren und dabei die westlichen Kategorien
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als überlegen gegenüber jeglichen lokalen Kategorien verstehen, mit der Frage der Klasse verwoben sind (vgl. Savcı 2012). Wenn es zu medialen Repräsentationen kommt, stellt sich die Frage, mit welchen Deutungen die lokalen queeren Formen wie travestis, lubunyas sowie erkek Fatmas in den Bereich der Sichtbarkeit eintreten. Dieses Buch zeigt unter anderem, wie diese Kategorien im geschichtlichen Verlauf des boulevardjournalistischen Diskurses mit westlichen Kategorien zusammenstoßen. Durch den Blick auf die Repräsentationen im Kontext der Türkei erweitert dieses Buch die Umrisse der queertheoretischen und kommunikationswissenschaftlichen Wissensproduktion, die sich herkömmlicherweise auf die Narrationen im Westen konzentriert. Diesen Blickwechsel kann man in Anlehnung an Gayatri Gopinath (2005) auch als einen Versuch verstehen, euro-amerikanische Paradigmen innerhalb der Queer Studies und der Kommunikations- und Medienwissenschaft zu dezentralisieren. Außerdem stellt sich in Anlehnung an Jasbir Puar (2007), die Frage, was ein solcher Blickwechsel zur Wissensproduktion im Westen beitragen kann. Doch dieses Buch konzentriert sich nicht nur auf den türkischen Diskurs, sondern bringt auch einen komparativen Aspekt mit sich, der ebenfalls ein großes Potenzial bietet. Ich glaube nicht, dass eine vergleichende Analyse von türkischen und deutschen Texten den Versuch entkräftet, die westlichen Narrationen zu dezentralisieren. Im Gegenteil, die zentrale Position des Westens in Fragen der Vielfalt der queeren Erfahrungen verliert dadurch ihre Bedeutung. Durch den Vergleich wird nicht nur die Vielfalt der queeren Repräsentationen in beiden Ländern erkennbar, sondern auch die diskursive Gewalt, die die in den Texten repräsentierten queeren Subjekte erleben. Zum Schweigen gebrachte Subjekte, falsche Repräsentationen, Nicht-Repräsentationen sowie die diskriminierende Sprache – all diese diskursiven Strategien der Heteronormativität scheinen keine lokalen Phänomene zu sein. Auf der anderen Seite finden queere Deutungen sowohl im türkischen als auch im deutschen Kontext ihren Weg, um in den Bereich der Repräsentationen einzudringen und dabei die Heteronormativität zu unterminieren.
Forschungsgegenstand
Die Forschungsgegenstände dieser Arbeit sind die deutsche Bild-Zeitung und die türkische Zeitung Hürriyet. Beide Zeitungen weisen – trotz äußerst verschiedener historisch-politischer Kontexte, in die sie eingebettet sind – viele Ähnlichkeiten zueinander auf. Bild und Hürriyet spielen beide jeweils eine große Rolle in der Medienlandschaft ihrer Erscheinungsländer. Hürriyet war lange Zeit die meistverkaufte Zeitung in der Türkei, Bild dominiert bis heute die Presselandschaft Deutschlands und ist zudem die größte Boulevardzeitung Europas. Die Doğan Yayın Holding, die Hürriyet besitzt, ist das größte Medienunternehmen der Türkei, das zurzeit etliche Zeitungen, darunter auch die aktuell meistverkaufte Zeitung Posta, Zeitschriften und Bücher veröffentlicht sowie Fernsehsender und Rundfunkstationen betreibt. Seit 2006 gibt es zwischen der Doğan Yayın Holding und dem Axel Springer Verlag, dem Herausgeber der Bild, Versuche zu einer Zusammenarbeit sowie ein finanzielles Abkommen. Aufgrund von Spannungen zwischen der türkischen Regierung und Doğan Yayın Holding, auf die ich im Folgenden zurückkommen werde, verzögern sich diese jedoch (vgl. Axel Springer 2007, Nölting 2006). Der Axel Springer Verlag stand in den frühen 1950er-Jahren aufgrund des teuren Papierimports und des Neubaus des Verlagshauses unter großem Kostendruck. Dies veranlasste Springer dazu, eine „unkonventionelle“, parteipolitisch neutrale Zeitung herauszugeben, die leicht zu konsumieren und damit gut zu verkaufen war. Die Verbreitung des neuen Mediums Fernsehen und eine Befragung der Leserschaft des Hamburger Abendblatts, die ergab, dass bis zu 90 % der Leserinnen und Leser weniger an ausführlichen Berichten interessiert waren, sondern vielmehr an Bildern und kurzen Texten, führten zu der Idee, eine Zeitung herauszugeben, die „die gedruckte Antwort auf das Fernsehen“ sein würde (Schwarz 2008, 167-169). Dabei war für Springer klar, dass die deutsche Leserschaft der Nachkriegszeit eher Unterhaltung brauchte, statt sich kritisch mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinanderzusetzen (Brumm 1980, 137). Nicht nur ihre Dominanz der Medienlandschaft, sondern auch die erhebliche Rolle, die beide Zeitungen in der Politik ihres Erscheinungslandes spielen, machen Bild und Hürriyet vergleichbar. Axel Springer wollte die Politik in der Bundesrepu-
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blik Deutschland beeinflussen und nutzte die Bild-Zeitung, die ursprünglich als eine nicht-politische Zeitung konzipiert war, an den zentralen Wendepunkten der Geschichte als sein wichtigstes Instrument zu dieser Einflussnahme. Auch Sedat Simavi, der ehemalige Herausgeber der Hürriyet, hat seine Zeitung von Anfang an als ein Instrument benutzt, mit dem er die Politik in der Türkei beeinflusste. Im Gegensatz zu Bild war Hürriyet jedoch schon immer eine politische Zeitung und spielt bis heute eine große Rolle in der Politik der Türkei. Die Berichterstattung der beiden Zeitungen weist auch ähnliche Merkmale auf, und zwar solche, die typisch für die Boulevardpresse sind: bunte, große Bilder, kurze, verständliche Texte, unterhaltsame Themen und Schlagzeilen, die die Leserschaft ansprechen. Beide Zeitungen verbreiten zudem ähnliche rechtspopulistische Weltansichten. Als meistverkaufte deutsche Zeitung wird Bild täglich von 12 Millionen Menschen gelesen (vgl. Buchard 2012). Von der gesamten Zeitungsleserschaft in Deutschland lesen 23 % der Leser und 12,7 % der Leserinnen die Bild-Zeitung (Brichta 2011, 26). Die verkaufte Auflage lag 2013 bei etwa 2,65 Millionen (vgl.IVW 2014). Im Vergleich zu Bild ist die verkaufte Auflage der Hürriyet sehr gering. Dies liegt jedoch an der insgesamt zahlenmäßig geringeren Zeitungsleserschaft in der Türkei. Selbst die verkauften Auflagen der größten türkischen Zeitung sind niedriger als die der Bild-Zeitung. Im Jahr 2015 hielt Hürriyet den zweithöchsten Rang der verkauften Auflagen in der Türkei. Auf dem ersten Rang war die islamisch-konservativ ausgerichtete Zeitung Zaman mit einer Auflage von ca. 610.000. Hürriyet hatte eine verkaufte Auflage von ca. 365.000 (vgl. Gazeticiler.com). Obwohl sich Hürriyet in der Liste der Zeitungen mit der höchsten Verkaufsauflage an zweiter Stelle befindet, hat sie den größten Anteil an Werbeeinnahmen der gesamten türkischen Presselandschaft. Im Jahr 2006 hatte Hürriyet einen Anteil von 41,9 % an den Werbeeinnnahmen in den Zeitungen und 14,1 % der gesamten Werbeeinnahmen in der türkischen Medienlandschaft (Kaya 2009, 281). Als Hürriyet im Jahr 2007 die Trader Media East, das größte Werbeunternehmen in Russland und Osteuropa, kaufte, stiegen die Einnahmen durch Werbung rasant an (Kaya 2009, 282). Auch im Jahr 2013 hatte Hürriyet den größten Anteil an Werbeeinnahmen in der türkischen Presselandschaft (Hürriyet 2013, 14). Unter den deutschen Boulevardzeitungen ist Bild die einzige Zeitung, die über eine bundesweite Verbreitung verfügt. Die technischen Einrichtungen der BildZeitungsredaktion ermöglichen es, selbst nach Mitternacht noch Änderungen an der Ausgabe des kommenden Tages vorzunehmen, was sie zu einer der aktuellsten Zeitungen in Deutschland macht. Die Zeitung hat auch den größten Anteil an Werbeeinnahmen unter den deutschen Zeitungen (Klein 2000, 179). Hürriyet ist ebenfalls überregional. Die Zeitung bezeichnet sich als laizistischdemokratisch ausgerichtet und definiert ihren Journalismus als unabhängig (vgl. Hürriyet Avrupa 2011). Ein Blick auf die Geschichte der Zeitung Hürriyet und die
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gesamte türkische Presse lässt jedoch Zweifel am Konzept des unabhängigen Journalismus aufkommen, wie im Folgenden dargelegt wird. Auf der Titelseite von Hürriyet befinden sich eine türkische Flagge und ein Bild von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der Türkischen Republik. Ihre Parole „Die Türkei gehört den Türken“ charakterisiert in der Tat die Berichterstattung der Hürriyet, die stark von Nationalismus geprägt ist. Die Seiten sind mit großen Fotografien sowie bunten und großen Schlagzeilen gestaltet, und die Themen, die an der Tagesordnung der Zeitung sind, variieren von Sexualität bis Politik. Damit deckt Hürriyet ein großes Spektrum ab: „von Männercafés in abgelegenen Orten bis zu den Küchen der Hausfrauen“ (vgl. Hürriyet Kurumsal 2012). Hürriyet wurde 2011 und 2012 täglich von 1.849.000 Leserinnen und Lesern gelesen. 33 % davon waren Frauen und 67 % Männer. 58 % der Leserschaft waren zwischen 18 und 44 Jahren alt (vgl. Hürriyet Kurumsal, 2012). Hürriyet wird auch oft als „die türkische BildZeitung“ bezeichnet (vgl. Çiğdem Akyol 2008). Bild definiert sich selbst als eine Zeitung, die für die Interessen des kleinen Mannes kämpft. In etlichen Konflikten, wie z.B. in den Streiks oder Demonstrationen in den späten 1960er-Jahren, bezog Bild jedoch eine kontroverse Position (vgl. Alberts 1972). Dies macht die Bezeichnung „Zeitung des kleinen Mannes“ fraglich, auch deswegen, weil das Interesse der Leserinnen und Leser nur dann in der Berichterstattung repräsentiert wird, wenn sie als Käufer_innen fungieren (Brumm 1980, 130). Eine Studie der Johannes-Gutenberg-Universität zeigt, dass Zeitungsleserinnen und -leser in Deutschland den Begriff „Boulevardmedien“ mit der Bild-Zeitung assoziieren (Klein 2000, 179). Tatsächlich weist die Bild-Zeitung die für die Boulevardpresse typischen Eigenschaften auf wie bunte Bilder und kurze, verständliche Texte, die eher der Unterhaltung als der Information dienen. Die Artikel, die in Bild veröffentlicht werden, enthalten verständliche Texte, die kein elitäres Vokabular verwenden und deren Syntax einfach gehalten ist, sprich kurze Sätze. Die standardisierten Vorgaben der Redaktion der Bild-Zeitung erzielen einerseits eine gute Verständlichkeit der Texte, andererseits begrenzen sie den Spielraum von Redakteur_innen und Korrespondent_innen: Harald Burger zufolge kann ein Korrespondent der Bild-Zeitung in seinen Texten nicht seine individuelle Meinung darlegen; er ist vielmehr ein austauschbarer Texter, der Artikel nach festen Mustern verfasst (Burger 2005, 4). Da der Erfolg einer Boulevardzeitung wie Bild, anders als bei Zeitungen, die ihre Auflage durch Abonnements sichern, von den im Straßenverkauf erzielten Auflagen abhängig ist, dienen die Schlagzeilen und die bunten Fotos dazu, potenzielle Käufer_innen zum Kauf anzuregen (Schneider und Raue 1996, 125). Siegfried Jäger weist in seiner Analyse des journalistischen Diskurses der BildZeitung darauf hin, dass Bild eine Ansprache entwickelt hat, die eine rechtspopulistische Ideologie vermittelt: „Sie verzichtet tendenziell auf rationale Argumentation und versucht stattdessen, direkt den ‚Bauch‘, die Emotionen bzw. das ohnedies
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recht ‚verrückte‘ Weltbild ihrer LeserInnen zu erreichen und zu ‚formen‘“ (Jäger 1993, 14). Die rechtspopulistische Weltsicht ist, wie oben erwähnt, ein weiteres gemeinsames Merkmal der beiden Zeitungen. Zu erwähnen ist diesbezüglich eine Studie zur Hürriyet-Berichterstattung über die kurdische Frage. Die Studie legt dar, dass die Zeitung rechtspopulistische und nationalistische Ideologien verbreitet, was sich daran zeigt, dass sie die kulturellen Rechte der Kurd_innen verachtet, wie z.B. das Recht auf Bildung in kurdischer Muttersprache, und die kurdische Frage für die Polarisierung, die der türkischen Einheit widerspricht, verantwortlich macht (Sezgin und Wall 2005). Seit 2006 gibt es auch Versuche zu einer Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen, die Bild und Hürriyet herausgeben. Im November 2006 vereinbarte der Axel Springer Verlag den Erwerb einer Beteiligung von 25 % an Doğan TV, dem größten Fernsehsender der Türkei, der wie Hürriyet ebenfalls der Doğan Yayın Holding gehört (Axel Springer 2007). Kai Diekmann, von 2001 bis 2016 Chefredakteur der Bild-Zeitung und bis Januar 2017 noch deren Herausgeber, sitzt im Beirat von Hürriyet, und zwischen beiden Zeitungen gibt es eine journalistische Kooperation (Nölting 2006). Im Jahr 2009 erwarb der Axel Springer Verlag 29 % der Doğan Yayın Holding (Axel Springer 2009). Die Zusammenarbeit musste jedoch wegen eines Steuerverfahrens und eines regulatorischen Verfahrens der türkischen Medienbehörde RTÜK gegen die Doğan Yayın Holding auf Eis gelegt werden (Höhler & Siebenhaar 2009). Die Beziehung zwischen der regierenden Partei AKP und der Doğan Yayın Holding hat sich seit 2007 verschlechtert, unter anderem aufgrund des Steuerverfahrens gegen die Mediengruppe.
MEDIENPOLITISCHE BEDEUTUNG UND SOZIO-HISTORISCHER KONTEXT DER BILD-ZEITUNG In diesem Kapitel möchte ich die medienpolitische Bedeutung der Bild-Zeitung im Hinblick auf die Position der Zeitung an den wichtigsten Wendepunkten der bundesdeutschen Geschichte zusammenfassen. Die Geschichte beginnt mit der Nachkriegszeit. Als der britische Militärrat von Hamburg die ersten Drucklizenzen der Nachkriegszeit vergab, nutzte Axel Springer die Gelegenheit, um das Hamburger Abendblatt, die Programmzeitschrift HÖRZU! und die Frauenzeitschrift Constanze auf den Markt zu bringen. Nur Verleger, die keine Vorbelastung aus der NS-Zeit hatten, konnten eine Drucklizenz bekommen. Axel Springer war weder Mitglied der NSDAP gewesen, noch hatte er sich in der Kriegszeit etwas zuschulden kommen lassen (Buchard 2012). Der Name Bild beruht also auf Springers Konzept einer Zeitung, die fast nur aus Bildern besteht. Nach einer langen Planungsphase erschien dann am 24. Juni 1952 die erste Ausgabe von Bild, die tatsächlich fast nur aus Bildern bestand. Die ersten
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455.000 Exemplare wurden von weißgekleideten Zeitungsverkäufern mit der Parole „Deutschlands modernste Zeitung“ umsonst verteilt. Im anschließenden Straßenverkauf war die Zeitung, die 10 Pfennig kostete, jedoch weniger erfolgreich als erwartet. Als festgestellt wurde, dass das neue Konzept die Erwartung, die Leser_innen an eine Zeitung hatten, nicht erfüllte, mussten einige Umstellungen vorgenommen werden. Bei der neuen Ausgabe gab es deshalb mehr Textinhalte, und nur das Layout der ersten und der letzten Seite bestand ausschließlich aus Bildern. Im März 1953 lag die verkaufte Druckauflage bei 452.000 und im Juli 1953 bei 846.000. Im September 1953 stiegen die Zahlen noch weiter an: Täglich wurden 1,3 Millionen Exemplare verkauft; im Jahr 1958 betrug die Auflage 2,8 Millionen (Schwarz 2008, 172-173). Das ursprüngliche Konzept einer „unpolitischen“ Zeitung begann sich jedoch ab Mitte der 1950er-Jahre allmählich zu ändern (Schwarz 2008, 176). Dabei war Springers Begegnung 1958 mit dem damaligen Regierungschef der UdSSR, Nikita Chruschtschow, ein zentrales Ereignis. Mit der Hoffnung, die Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen, flog Springer nach Moskau. Nach zweiwöchigem Warten traf er Chruschtschow und präsentierte ihm seine Lösung der deutschen Frage, jedoch vergeblich. Die ergebnislose Begegnung, die Springer als das zentrale Ereignis seines gesamten politischen Daseins bezeichnete, beeinflusste auch die Berichterstattung der Springer-Presse (Lohnmeyer 1992, 231). Und die Berichterstattung der Bild-Zeitung wurde viel politischer, als nach Springers Begegnung mit Chruschtschow die sogenannte Berlin-Krise begann. Am 27. November 1958 forderte die Sowjetunion unter Chruschtschow die West mächte in einer Note dazu auf, Westberlin in eine entmilitarisierte Freie Stadt Westberlin umzuwandeln, die unabhängig von den Westmächten und der Bundesrepublik sein sollte; dadurch wurde die sogenannte Berlin-Krise ausgelöst. Axel Springer setzte sich mit dieser auseinander: Er organisierte eine Kampagne für Westberlin, die mit einem gegen die DDR gerichteten Diskurs einherging und die Wiedervereinigung Deutschlands forderte. Dabei wurde gleichzeitig Sensibilität für das Leiden der Deutschen in der DDR demonstriert. Eines der Themen, die nicht nur sehr oft in der Bild-Zeitung, sondern in der gesamten Springer-Presse auftauchten, waren die deutschen Flüchtlinge aus der DDR. Damit hoffte Springer auf eine breite Volksbewegung, die zu einer Veränderung der Politik der Bundesrepublik Deutschland und der westlichen Siegermächte führen würde (Schwarz 2008, 331333). Springer sah die Bild-Zeitung als das stärkste Instrument des Verlags in politischer Hinsicht, nicht zuletzt wegen ihrer weiten Verbreitung. Selbst die Regionalausgaben wurden mit modernster Drucktechnik hergestellt. Bereits Ende 1953 entstanden im Zentralgebäude in Hamburg auch die Regionalausgaben für das Ruhrgebiet und Essen. Regionalausgaben für Frankfurt und Berlin kamen 1954 hinzu, für München im Jahr 1956 (ibid., 173). Mit Beginn der Berlin-Krise erklärte sich Springer in einem Gespräch mit Konrad Adenauer dazu bereit, sein Pressehaus
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in diskretem Zusammenwirken mit dem Bundespresseamt, dem Bundesminister und dem Auswärtigen Amt zum Einsatz zu bringen (ibid., 338). 1960 wurde KarlHeinz Hagen als neuer Chefredakteur mit der Politisierung der Bild-Zeitung beauftragt (ibid., 344). Als am 13. August 1961 der Ostsektor mit Stacheldraht abgesperrt wurde, titelte die Bild-Zeitung: „Der Westen tut NICHTS!“. In den Berichten wurden nicht nur Vorwürfe gegen die Politik der Vereinigten Staaten laut, sondern auch gegen Adenauers Politik (ibid., 248-349). Als in Westberlin 1967 Studentenunruhen begannen, trug Bild maßgeblich zu der darauffolgenden politisch-gesellschaftlichen Spaltung bei. Die Art der Berichterstattung der Bild-Zeitung ließ den Axel Springer Verlag zu einem Feindbild der außerparlamentarischen Opposition werden. Jürgen Alberts analysiert in einer Studie von 1972 die Berichterstattung der Bild-Zeitung über die Studentenunruhen von 1968 und 1969 und legt dar, wie sich die Zeitung weigerte, Informationen über die Ziele der Studierenden wiederzugeben, und wie sie die Student_innen als Kommunist_innen und Faschist_innen diffamierte (Alberts 1972, 91). Er zeigt, dass die Bild-Zeitung die Studentenbewegung als Bewegung „für Moskau“ und z.B. „gegen Pressefreiheit“ darstellte und somit das wahre Anliegen der Bewegung verschleierte. Der Diskurs der Bild-Zeitung ließ die Bewegung als eine ständige Bedrohung und Verschwörung gegen die deutsche Gesellschaft erscheinen (ibid., 93-94). Dies ging mit einem anti-intellektualistischen Diskurs einher, in dem den Student_innen „Besserwisserei“ vorgeworfen wurde. Den Anhänger_innen der Bewegung wurde außerdem vorgeworfen, sie würden die Gesellschaft in einer vernichtenden und destruktiven Art und Weise kritisieren, obwohl sie diese selbst „ausgebeutet“ hätten, indem sie von deren Freiheiten und Privilegien Gebrauch machten. Der Diskurs über die Bedrohung für die Gesellschaft, die angeblich von der Bewegung ausging, verflocht sich damit, dass Parallelen zwischen der Studentenbewegung und der SA gezogen wurden, was den Diskurs über die „Bedrohung“ weiter verschärfte (ibid., 98-99). In seiner Analyse weist Alberts darauf hin, dass die Berichterstattung der Bild-Zeitung versuchte, zwei Spaltungen zu erreichen: zum einen zwischen den Student_innen und der Bevölkerung und zum anderen innerhalb der Studentenbewegung (ibid., 102). Als am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien der 26 Jahre alte Student Benno Ohnesorg von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen wurde, warf der Sozialistische Deutsche Studentenbund der BildZeitung eine Mitschuld vor und forderte die Enteignung des Springer-Konzerns. Kurz danach beteiligten sich auch andere studentische Bewegungen an der Kampagne (Silva 2006, 4-5). Darauf folgten Boykott-Aktionen, an denen auch Intellektuelle wie Theodor Adorno und Heinrich Böll teilnahmen. Die sogenannte „Enteignet Springer!“-Kampagne pointierte die von Jürgen Habermas bereits im Jahr 1962 formulierte Kritik an der Springer-Presse, der vorgeworfen wurde, die Bedürfnisse breiter Teile der Gesellschaft zu manipulieren und damit einen Beitrag zum NichtFunktionieren der Demokratie in Deutschland zu leisten (Richter 1998, 52).
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Der Konflikt zwischen der außerparlamentarischen Opposition und dem Axel Springer Verlag verschärfte sich, als der Student Rudi Dutschke angeschossen wurde und später an den Folgen des Attentats verstarb. Der 23-jährige Attentäter Josef Bachmann gab an, dass er von Schlagzeilen der Bild-Zeitung wie „Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg“ aufgehetzt worden war (vgl. Mohr 2009). Nach dem Attentat auf Dutschke gab es in etlichen Städten Demonstrationen gegen den Axel Springer Verlag, bei denen Fahrzeuge des Verlags angezündet oder beschädigt wurden (vgl. Axel Springer, http://meilensteine.axelspringer.de/?start). Der Spiegel deckte 2009 Bachmanns enge Beziehung zur Neonazi-Szene auf (vgl. Mohr 2009). Der Konflikt zwischen der 68er-Bewegung und dem Springer-Verlag ist immer noch existent. Ein Dialog zwischen den beiden Parteien ist bis heute nicht zustande gekommen (vgl. Axel Springer, http://meilensteine.axelspringer.de/?start). Seit 2010 ist das Archiv der Zeitungen des Springer-Verlags zwischen 1966 und 1968 online zugänglich (siehe Medienarchiv ’68 http://www.medienarchiv68.de). Der Axel Springer Verlag wurde Anfang 1970 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Axel Springer übernahm dabei vier Grundsätze der Unternehmensführung in die Satzung: das Eintreten für die Wiedervereinigung Deutschlands; das Herbeiführen einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen, was auch die Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes einbezog; die Ablehnung jeglicher Art von politischem Totalitarismus und die Verteidigung der sozialen Marktwirtschaft. Diese Grundsätze wurden auch die Richtlinien für die Redaktion und Berichterstattung der Bild-Zeitung, was zu einer Propaganda des militanten Antikommunismus und einer Berichterstattung gegen die staatliche Existenz der DDR führte (Brumm 1980, 132). Am 19. Mai 1972 verübten Ulrike Meinhof und weitere Anhänger_innen der Roten Armee Fraktion einen Bombenanschlag im Korrektur-Saal des SpringerHochhauses in Hamburg. Zwei weitere Sprengsätze detonierten in den Toiletten. 17 Arbeiter_innen und Angestellte wurden verletzt. Seit dem Bombenangriff gelten in dem Gebäude Hochsicherheitsbestimmungen (Schwarz 2008, 529). Der Schriftsteller und Journalist Günter Wallraff veröffentlichte 1977 ein Buch, in dem er umstrittene Arbeitsmethoden der Bild-Zeitung aufdeckte. Wallraff arbeitete im Jahr 1977 für ein paar Monate unerkannt unter dem Pseudonym Hans Esser als Lokalredakteur der Bild-Zeitung in Hannover und beobachtete in dieser Zeit die dortigen Arbeitsmethoden der Redaktion. In seinem Buch beschreibt er, wie Berichte verfälscht, frei erfunden und wichtige Informationen unterdrückt wurden (Wallraff 1982, 10, 15). Das Buch wurde in Kürze ein Bestseller (Bessermann 1979, 128). In den Jahren 1979 und 1981 erschienen zwei weitere Bücher über seine verdeckten Forschungen bei Bild (vgl. Wallraff 1979; Wallraff 1981). Nach der Veröffentlichung des ersten Buches 1977 erteilte das Bundespresseamt der BildZeitung sechs Rügen und Wallraff eine Rüge für seine unzulässige verdeckte Recherche (Deutscher Presserat 2006, 2). Der Axel Springer Verlag verklagte Wallraff
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mehrmals, woraufhin es zu einer Zensur des Buches kam. Der Bundesgerichtshof hob jedoch 1981 die Zensur wieder auf (Wallraff 1982, 267). Wallraffs Buch löste eine Boykottkampagne aus, die mit der „Enteignet Springer!“-Kampagne verknüpft war. Bis 1982 unterschrieben Intellektuelle und Prominente wie Heinrich Böll, Jürgen Habermas und auch der SPD-Vorsitzende von Schleswig-Holstein, Günther Jansen, die Gegen-Bild-Initiative und geben öffentlich bekannt, dass sie es ablehnten, für die Springer-Presse bzw. die Bild-Zeitung zu schreiben, Interviews zu geben und ihr Arbeiten für Vorabdrucke zur Verfügung zu stellen. Es bildeten sich auch weitere lokale Initiativen in Städten wie Köln, Frankfurt und Essen, die ebenfalls die menschenverachtende Berichterstattung und Recherchemethoden der Bild-Zeitung kritisierten (Minzberg 1999, 72-73). In den 1990er-Jahren erteilte der Deutsche Presserat der Bild-Zeitung erneut mehrere Rügen, allein im Zeitraum 1990 bis 1995 waren es 23 (Minzberg 1999, 87). Laut Presserat waren die Gründe dafür Vorverurteilung, Faktenmissbrauch, verdeckte Recherche, Namensnennung, Diskriminierung von Kurden und psychisch Kranken (Minzberg 1999, 93-94). Und die alltägliche rassistische Bedrohung von Menschen mit Migrationshintergrund in den 1990er-Jahren tauchte in der Berichterstattung der Bild-Zeitung nicht oder nur in kurzen Artikeln versteckt auf. Rassistisch motivierte Gewalttaten wie in Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Mölln und Solingen wurden zwar von Bild verurteilt, aber Siegfried Jäger zufolge beherrschte „die Ablehnung des Fremden“ weiterhin die Berichterstattung (Jäger 1993, 9-10). Anfang der 1990er-Jahre richtete Bild auch in den Städten der neuen Bundesländer Lokalredaktionen ein: Dresden, Halle und Leipzig (vgl. Buchard 2012). Seit dem Ende der 1990er-Jahre sinkt die Auflage jedoch (vgl.Bildblog 2013). Die Verbreitung des Internets und das private Fernsehen, das mit Reality-TV zur Unterhaltung der Massen dient, sind mögliche Gründe dafür. Diese Entwicklung, die seit den 1990er-Jahren zu beobachten ist, beeinflusst sowohl die Boulevardzeitungen als auch Abonnementzeitungen: Die Bild-Zeitung ist seriöser geworden und recherchiert sogar des Öfteren politische Nachrichten. Die Abonnementzeitungen haben hingegen die Tendenz, ihre Texte verständlicher zu formulieren (Schneider und Raue 1996, 131). Im Jahr 2001 übernahm Kai Diekmann die Chefredaktion der Bild-Zeitung, was die Erscheinung der Zeitung stark prägte. Beispielsweise ließ Diekmann das sogenannte „Page Three Girl“ wieder aufleben, das von seinem Vorgänger Udo Röbel, der zwischen 1998 und 2000 Chefredakteur war, abgeschafft worden war, um die Zeitung seriöser erscheinen zu lassen. Diese Rubrik erscheint in der Bild-Zeitung trotz des Namens nicht auf der dritten Seite, sondern auf der Titelseite und besteht aus Fotos von halbnackten Frauen. Nur zweimal in der Geschichte der Bild-Zeitung gab es vergleichbare Fotos von Männern (Brichta 2011, 39). Um die seit den 1990er-Jahren rückläufige Auflage wieder zu erhöhen, führte die Bild-Zeitung 2002 eine neue Marketingstrategie ein, die Volksprodukte hieß und auf einer Zusammenarbeit zwischen der Zeitung und etlichen Marken beruhte.
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Dabei wurden „populäre, innovative und zeitgemäße“ Marken und Produkte, die von der Bild-Zeitung als so genannte Volksprodukte ausgewählt wurden, in der Zeitung beworben. Darüber hinaus erschien das Logo Volksprodukte auf der Verpackung der Produkte, was sich wiederum günstig auf den Verkauf der Zeitung auswirkte (Brichta 2011, 40). Bild wird heutzutage immer noch sehr heftig kritisiert für regelmäßige Verletzungen der Privatsphäre, Kampagnen zu politischen Anlässen oder wegen fehlender Richtigkeit und Objektivität in der Berichterstattung. Seit 2004 dokumentiert und korrigiert das Blog www.BILDblog.de die problematischen Berichte der BildZeitung (Brichta 2011, 41).
MEDIENPOLITISCHE BEDEUTUNG UND SOZIO-HISTORISCHER KONTEXT DER ZEITUNG HÜRRİYET Im Folgenden werde ich die Medienpolitik der Türkei mit Hinblick auf die bedeutendsten Wendepunkte in der Geschichte der Hürriyets zusammenfassen. Hürriyet wurde 1948 von Sedat Simavi gegründet, der bereits über jahrzehntelange publizistische Erfahrungen verfügte. Einige von Simavi gegründete Zeitungen und Zeitschriften waren sehr erfolgreich, wie zum Beispiel Hande (1916), Diken (1918), İnci (1919), Dersaadet (1920-21), Payıtaht (1921), Güleryüz (1921), Hanım (1921), Hacıyatmaz (1921), Yeni İnci (1922), Resimli Gazete (1923-29), Yıldız (1924-26), Meraklı Gazete (1926), Yeni Kitap (1927), Arkadaş (1928), Bravo (1930), Yedigün (1933-50), Karagöz (1935-50), Karikatür (1936-48), Model (1937), Ev Doktoru (1937-39), andere wiederum scheiterten. Hürriyet war seit ihrer Ersterscheinung am 1. Mai 1948 sehr erfolgreich, nicht zuletzt deshalb, weil sie leicht verständliche Berichte und Interviews mit qualitativ hochwertigen Fotografien enthielt und detailliert über große Ereignisse, wie die Olympischen Sommerspiele 1948 in London, den Koreakrieg und die Probleme der türkischen Minderheit auf Zypern, berichtete (Topuz 2012, 186-187). Vor der Gründung von Hürriyet gab es in der Türkei nur Zeitungen, die entweder vom Staat finanziert wurden oder einer politischen Partei nahestanden. Hürriyet war die erste unabhängige Zeitung, womit ihre Gründung einen Meilenstein in der türkischen Pressegeschichte markiert. Bereits kurz nach ihrer Gründung orientierte sich die Berichterstattung am Großteil der Bevölkerung und deren Problemen anstatt an den Problemen des Staates (Tılıç 2009a, 100). Das Ziel, unabhängig und frei von politischen Interessen der Parteien zu sein, kann man als einen der Gründe für die Benennung der Zeitung mit Hürriyet betrachten: Der Name heißt auf Deutsch übersetzt ‚Freiheit‘ oder ‚Unabhängigkeit‘. Von dieser unabhängigen, freien Position war bereits die erste Ausgabe der Zeitung geprägt: Sie enthielt einen Text und ein Foto von İsmet İnönü, einem Weggefährten des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, der von Atatürks Tod
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1938 bis zu den ersten Mehrparteienwahlen vom 21. Juli 1946 offiziell den Titel „Millî Şef“, auf Deutsch „Nationaler Chef“, getragen hatte. In der gegenüberliegenden Spalte erschien ein Text von Celâl Bayar, einem der Gründer der Demokrat Parti, die bei den zweiten Mehrparteienwahlen von 1950 an die Macht gelangen sollte. Somit hat sich die Zeitung, Hıfzı Topuz (2012) zufolge, in einer Zeit politischer Spannungen als objektiv und unabhängig positioniert (Topuz 2012, 187). Dies war eine Zeit, in der die Pressefreiheit stark gefährdet war durch die autoritäre Regierung, die seit Gründung der Republik 1923 an der Macht war. Wie auch Topuz (2012) in seinem Buch über die Geschichte des Journalismus in der Türkei zeigt, übte die damalige Regierung vor allem in den Kriegsjahren einen starken Druck auf die Presse aus. Obwohl die Türkei nicht am Zweiten Weltkrieg teilnahm, verhängte die Regierung das Kriegsrecht und schränkte die Pressefreiheit ein. Der Ministerrat konnte bis zum Kriegsende jederzeit ohne eine Begründung die Presse zensieren, sogar Zeitungen und Zeitschriften stilllegen (Topuz 2012, 169). Auch in den Nachkriegsjahren war die Lage für Zeitungen, die die Regierung kritisierten und/oder die Opposition unterstützten, angespannt. Durch eine Gesetzesänderung im Juni 1946 hatte der Ministerrat das Recht, Zeitschriften und Zeitungen, die mit ihren Veröffentlichungen der Politik des Staates schadeten, stillzulegen (ibid., 184185). Dass sich Hürriyet bereits in den ersten Jahren nach ihrer Gründung als objektiv und unabhängig positionierte, ist vor diesem historisch-politischen Kontext besonders zu beachten. Als die Demokrat Parti am 14. Mai 1950 an die Macht kam, gab die Presse die Hoffnung auf, dass nach der Machtveränderung endlich bessere Zeiten für die Pressefreiheit anbrechen würden. Wider Erwarten verabschiedete die neue Regierung am 15. Juli 1950 ein Gesetz, das die Pressefreiheit garantierte und einige Regelungen in hinsichtlich des Journalismus festlegte. Diesbezüglich stellte sich, Topuz zufolge, in den ersten Jahren der neuen Regierung ein Gefühl von Freiheit unter den Journalist_innen ein (Topuz 2012, 193). Dies währte jedoch nicht lange. Die im Lauf der Zeit immer öfter auftauchenden kritischen Berichte und Beiträge in der Presse beunruhigten die Regierung. Als die Zeitung İstanbul Ekspres einen unwahren Bericht darüber veröffentlichte, die Griechen hätten das Geburtshaus von Atatürk in Thessaloniki in Brand gesetzt, wodurch anti-griechische Unruhen ausgelöst wurden, benutzte die Regierung diese Situation als Vorwand, um die Pressefreiheit einzuschränken. Es wurde verboten, die Regierung zu kritisieren, Berichte über NATO-Staaten zu veröffentlichen, über Armut zu berichten oder zu behaupten, dass die anti-griechischen Unruhen nicht von den Kommunisten ausgelöst wurden (ibid., 199). Als eine Folge der Einschränkung der Pressefreiheit wurden zwischen 1954 und 1958 1.161 Journalist_innen verfolgt und 238 von ihnen verhaftet (ibid., 205). Trotz der autoritären Umstände der 1950er-Jahre, von denen auch Hürriyet betroffen war, hatte die Zeitung eine verkaufte Auflage von 148.000 Exemplaren, was man für diese Zeit als einen Erfolg bezeichnen kann. Einer der Gründe dafür waren die Berichte über Sport, vor allem Fußball, die mit großen Bildern illustriert
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waren. Zudem veröffentlichten berühmte Schriftsteller_innen ihre Texte in Hürriyet, wodurch deren Beliebtheit stieg: Romane, wie zum Beispiel von Refik Halit Karay, sowie Kurzgeschichten und Essays, wie zum Beispiel von Sait Faik Abasıyanık, Reşat Nuri Güntekin und Kemal Tahir. Aber auch Berichte über die Situation der türkischen Minderheit auf Zypern rückten in die Aufmerksamkeit der Leser_innen. Sedat Simavi, der Gründer und Hauptredakteur der Hürriyet, war der Erste, der in der türkischen Presse über die Unterdrückung der türkischen Zypriot_innen durch griechische Zypriot_innen berichtete. Simavi versuchte mit diesen Berichten, die nationalistischen Gefühle der Türk_innen in der Türkei zu wecken und die Regierung dazu aufzufordern, Maßnahmen in dieser Sache zu ergreifen. So gelangte die Situation der türkischen Zypriot_innen auf die Tagesordnung der Regierung. Simavi kritisierte die Regierung jedoch vor allem, weil diese ohne eine Zustimmung des Parlaments Soldaten nach Korea schickte. Der damalige Außenminister verklagte Sedat Simavi wegen eines diesbezüglichen Berichtes. Simavi wurde jedoch freigesprochen (Topuz 2012, 214). In den 1960er-Jahren brachte Hürriyet eine Sonntagsbeilage heraus, was die verkaufte Auflage auf 970.000 erhöhte (Topuz 2012, 242). Damit war Hürriyet die erste türkische Zeitung in der Geschichte, die eine verkaufte Auflage um die Millionengrenze erreichte (Tılıç 2009a, 100). Nach dem Tod von Sedat Simavi gründete dessen Sohn Haldun Simavi eine neue Zeitung, die Günaydın. Diese Zeitung veröffentlichte skandalträchtige Berichte, die meistens von Sexualität handelten, zusammen mit Bildern von nackten Frauen und Artikeln über Prominente. Günaydın legte Wert auf Unterhaltung anstatt auf Genauigkeit der Berichterstattung, was die Zeitung damals zu einer der beliebtesten Boulevardzeitungen machte (ibid., 242-243). Während der politischen Unruhen der 1970er-Jahre wurden viele Intellektuelle, Schriftsteller_innen, Wissenschaftler_innen und auch Journalist_innen verfolgt, gefoltert und ermordet, da sich der Staat durch ihre kritischen Werke bedroht fühlte und seine Ideologie in Gefahr wähnte. Gegen zwei Journalisten von Hürriyet, Oktay Ekşi und Bedii Faik, liefen nach dem Militärputsch von 1980 polizeiliche Ermittlungen (Topuz 2012, 257). Der Zeitungsbetrieb wurde zweimal jeweils für sieben Tage von der Militärregierung der frühen 1980er-Jahre stillgelegt (Topuz 2012, 259). Der Militärputsch von 1980 hatte nicht nur Folgen für Hürriyet, wie die Stilllegung der Zeitung, sondern auch für die gesamte Presselandschaft der Türkei. Die verkauften Auflagen der Zeitungen, die sich bis 1980 kontinuierlich erhöht hatten, fielen nach dem Militärputsch drastisch ab. Um die Verkaufszahlen wieder zu erhöhen, führten viele Zeitungen seit Mitte der 1980er-Jahre verschiedene Kampagnen durch. Ab 1986 bot Hürriyet einen Coupon an und veranstaltete eine Verlosung, bei der treue Leser_innen Wohnungen, Sommerreisen, Automobile, Stereoanlagen, Kinderbücher und Enzyklopädien als Geschenk erhielten (Taş 2012, 181). Vor allem zwischen 1992 und 1996 bestand eine große Konkurrenz zwischen Hürriyet
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und zwei weiteren großen Zeitungen, der Sabah und Milliyet, die durch etliche Kampagnen verstärkt wurde (Taş 2012, 172). Im Zuge dieser Entwicklungen näherten sich die Inhalte vieler Zeitungen immer mehr dem Stil der Boulevardpresse an und wurde die Presselandschaft kommerzieller (Tılıç 2009a, 102). Einige Chefredakteure wie Zafer Mutlu, Chefredakteur der Sabah, stellten sich öffentlich hinter die Kommerzialisierung ihrer Zeitung. Für Mutlu war Sabah ein finanzielles Produkt, und erstes Ziel seiner Zeitung sei es nicht, der Öffentlichkeit zu dienen, sondern Profit zu machen. Oğuzhan Taş (2012) weist darauf hin, dass dies zur entpolitisierten Berichterstattung führte (Taş 2012, 178). Der Putsch hatte Folgen für die Berichterstattung und die Pressefreiheit. Die Generäle übernahmen gleich nach dem Putsch die Kontrolle über die staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender. Zeitungen, die unter der strengen Kontrolle der Putschregierung standen, waren jederzeit von Stilllegung bedroht. Doğan Tılıç (2009a) zufolge gab es nur zwei Möglichkeiten für die Zeitungsverlage: entweder ihre Zeitungen stilllegen oder einer Berichterstattung folgen, die stark von politischem Parallelismus geprägt war bzw. die Politik der Putschregierung bejahte. Die türkische Presse folgte dem zweiten Weg (Tılıç 2009a, 293). Trotz der politischen Umstände, die zur Einschränkung der Pressefreiheit führten, expandierte Hürriyet in den 1980er-Jahren. Es entstanden neue Druckereien in Istanbul, Ankara, Izmir, Adana, Erzurum und in Deutschland (Topuz 2012, 267). Die Zeitung gründete 1981 eine Stiftung, die Seminare für Personen, die eine Karriere als Journalist_innen anstrebten, anbot,. Bald darauf folgte eine Fachhochschule für Journalistik, deren Studierende die Möglichkeit hatten, bei Hürriyet zu arbeiten (Tılıç 2009, 337; Topuz 2012, 289). Im Grunde genommen zeigt diese Art von Investition in potenzielle Arbeitskräfte die großen Veränderungen in der Medienlandschaft der Türkei. Raşit Kaya gibt zu bedenken, dass die vom Militärputsch geprägten 1980er-Jahre paradoxerweise auch diejenigen Jahre waren, in denen sich die türkischen Medien bedeutend entwickelten. Einerseits wurde der Rundfunk von den Generälen der Putschregierung zu Propagandazwecken benutzt, andererseits erschienen viele neue Fernsehsendungen (Kaya 2009, 241). Vor allem ab den späten 1980er-Jahren verbesserte sich die wirtschaftliche Lage der türkischen Medien (Kaya 2009, 244). Ende der 1990er-Jahre existierten 3.500 Zeitschriften und Zeitungen, darunter 16 überregionale Zeitungen, die über moderne Drucktechnologien verfügten (Kaya 2009, 243). Der Kolumnist Çetin Emeç, ein Mitglied des Gremiums von Hürriyet, wurde am 7. März 1990 vor seinem Haus in Istanbul von zwei Männern, die ihre Gesichter hinter Masken verbargen, erschossen. Die linksradikale Organisation Dev-Sol und die rechtskonservative Organisation Türk-İslam Komandoları übernahmen die Verantwortung für den Mord an Emeç und seinem Chauffeur, was das Motiv des Mordes fraglich, umstritten und spekulativ macht. Vor allem Emeçs politischer Standpunkt, der mit der Ideologie des Staates konform war, lässt Zweifel aufkommen an den Theorien von einem Geheimdienst, der hinter der Verfolgung und Er-
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mordung von Journalist_innen stecken sollte (Topuz 2012, 282). Çetin Emeç war bedauerlicherweise nicht der einzige Journalist, der in den 1990er-Jahren ermordet wurde. Im Jahr 1992 wurden insgesamt 13 Journalist_innen ermordet, 1993 wurden acht ermordet, und 51 Journalist_innen wurden unter anderen von Polizisten, Parteimitgliedern und Beamten angegriffen. Im gleichen Jahr wurden 95 Journalist_innen festgenommen. 1993 wurden neun und 1994 acht Journalist_innen ermordet, was die 1990er-Jahre zu einer der schrecklichsten Ären der Pressegeschichte in der Türkei machte (Tılıç 2009a, 294-295). Im Jahr 1996 wurden 79 Journalist_innen in der Türkei verhaftet. Das war in diesem Jahr die weltweit größte Zahl verhafteter Journalist_innen in einem Land (Tılıç 2009a, 296). Ein Jahr später wurde Metin Göktepe, ein Journalist der Evrensel, einer türkischen linken Zeitung, von Polizisten ermordet. Im gleichen Jahr wurde das Gebäude von Hürriyet von Unbekannten angegriffen (ibid., 297). Die 1990er-Jahre waren nicht nur von der Verfolgung, Verhaftung und Ermordung von Journalist_innen geprägt, sondern auch von der Kommerzialisierung der Presselandschaft. Hürriyet war eine der größten Zeitungen, die von dieser Entwicklung betroffen waren. Am 28. Juni 1994 war die Doğan Yayın Holding, die führende Mediengruppe in der Türkei, zu 50% an der Hürriyet beteiligt; zu ihr gehörte zu der Zeit auch Milliyet, eine der größten türkischen Zeitungen. Kurz danach übernahm die Holding zunächst weitere 20% der Hürriyet und schließlich die gesamte Zeitung (Topuz 2012, 298). Dies war die Zeit, in der sich Familienunternehmen, wie die von Simavi und seinen Söhnen, die bis dahin die Presselandschaft der Türkei geprägt hatten, allmählich von der Pressearbeit zurückzogen. Große Konzerne begannen die großen Zeitungen aufzukaufen (Tılıç 2009a, 274). Aydın Doğan, dem Besitzer der Doğan Yayın Holding, gehören auch etliche Unternehmen in den Branchen Bankwesen/ Finanzen, Versicherung, Textil, Tourismus und Automobil (Taş 2012, 226; Tılıç 2009a, 276). Dieses Verschmelzen von Presse und Unternehmen zu Mischkonzernen ist eine bedeutende Entwicklung in der Medienlandschaft der Türkei, die seit der neoliberalen Politik der 1980er-Jahre zu beobachten ist (Adakli 2009, 299; Kaya 2009, 245-248). Im Zuge dieser Entwicklungen ist die Objektivität der Presse anzuzweifeln (Kaya 2009, 252). Auch Gülseren Adaklı (2009) weist darauf hin, dass die Integration zwischen Presse und Konzernen in der Türkei dadurch voranschreitet, dass große Konzerne in Medien investieren wollen, nachdem sie zuvor erfolgreich in anderen Bereichen tätig waren. Adaklı zufolge ist die Erwartung, damit für ihre politischen Interessen eintreten und diese fördern zu können, einer der Gründe für solche Investitionen (Adaklı 2009, 292). Diesbezüglich kann man Hürriyet als eine Zeitung betrachten, die beim Agenda-Setting in der türkischen Politik eine große Rolle spielt. Immerhin gehört die Zeitung einer der beiden Holding-Gesellschaften, die den größten Teil der türkischen Medienlandschaft prägen und durch ihre Zeitungen, Zeitschriften und TV-Sendungen ihre politischen Interessen verbreiten (Tılıç 2009a, 279).
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Seit 1965 erscheint Hürriyet in Europa bzw. in Ländern wie Deutschland, in denen eine türkische Community existiert (Hürriyet Avrupa, 2011). Im November 2006 beteiligte sich, wie bereits erwähnt, ein deutscher Unternehmer, die Axel Springer AG, mit einem Anteil von 25% an der Doğan Yayın Holding, zu der auch die Hürriyet gehört. Die Beteilung wurde jedoch später auf Eis gelegt (Axel Springer 2007). Hürriyet unterstützte 2001 die Entstehung der neuen Partei AKP, die sich als konservativ-liberal bezeichnete. Die Autor_innen der Hürriyet betrachteten die AKP wegen ihrer pro-europäischen Politik und liberalen Positionierung als eine Art „Gegengift“ gegen die drohende Islamisierung, wie es Raşit Kaya und Barış Çakmur (vgl. 2012) ausdrücken. Als die AKP 2002 an die Macht gelangte, folgte eine rasante Privatisierung der öffentlichen Institutionen, und die Doğan Holding war eines der Unternehmen, die am meisten von der Privatisierung profitierten (Kaya und Çakmur 2012, 531). Nach den Wahlen 2007, bei denen die AKP die absolute Mehrheit erreichte, kontrollierte die Partei die zweitgrößte Mediengruppe, zu der die Zeitung Sabah und der Fernsehsender ATV gehören. Die Pressefreiheit wurde allmählich eingeschränkt, und es gab erhebliche Spannungen zwischen der Doğan Holding und der AKP, als diese die Genehmigung für eine Raffinerie in Ceyhan nicht an die Doğan Holding, sondern an die Çalık Holding vergab. Die ÇalıkHolding-Mediengruppe steht unter der Führung von Berat Albayrak, dem bei der Wahl 2015 als Abgeordneter der AKP ins Parlament gewählten Schwiegersohn des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (vgl. Karanfil 2015). Kurz danach wurde auch der Anspruch der Doğan Holding auf ein Grundstück am Bosporus von der AKP-geführten Kommunalverwaltung abgelehnt. Daraufhin wurde die Politik der AKP-Regierung vonseiten der Medien, die zur Doğan Holding gehören, scharf kritisiert. Hürriyet und weitere Zeitungen der Doğan-Gruppe berichteten über die illegale Überweisung öffentlicher Gelder, die etlichen islamistischen Gruppen zugute kamen, und die Beziehung dieser Gruppen zur AKP. Darauffolgend wurde die Doğan-Mediengruppe der Steuerhinterziehung beschuldigt und musste etwa 515 Millionen US-Dollar Geldbuße zahlen. Die Geldbußen stiegen im weiteren Verlauf bis auf 3,7 Milliarden US-Dollar. Dem Verleger Aydın Doğan und Ertuğrul Özkök, dem Chefredakteur von Hürriyet, drohten Gefängnisstrafen (Kaya und Çakmur 2012, 532-533). Wie ich oben dargelegt habe, legt die kommunikationswissenschaftliche Literatur zu den beiden Zeitungen den Fokus auf zentrale Momente in der Geschichte sowie auf die soziopolitische Bedeutung der beiden Zeitungen im Hinblick auf gesellschaftliche Strukturen und Konzepte, bei denen Fragen von Sexualität und Gender thematisiert werden. Daher möchte ich mit dieser Arbeit den Fokus auf einen nicht erforschten Bereich verschieben, und zwar auf die Geschichte der diskursiven Konstruktion der Heteronormativität sowie die Repräsentationen von queeren Subjekten in den beiden Zeitungen. Ich bin der Meinung, dass eine komparative Analy-
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se zwischen beiden Boulevardzeitungen nicht nur die Ähnlichkeiten und Unterschiede bezüglich des Boulevardjournalismus in den beiden Ländern aufzeigen, sondern auch die Schnittstellen erhellen wird, an denen sich Medienpolitik, Populärkultur sowie Normen über Geschlecht und Sexualität überkreuzen. Durch die komparative Analyse wird auch deutlich, welche Spezifitäten die beiden soziohistorischen Kontexte, in denen Bedeutungsstrukturen über Kategorien der Zweigeschlechterordnung und der Heterosexualität entstehen, hinweisen.
Sichtbarkeit und ihre Bedeutung für die LSBTI*-Bewegung
Sichtbarwerden als politische Strategie
Sichtbarkeit als Strategie, um politische Forderungen der queeren Community in die Öffentlichkeit zu tragen, ist ein Konzept, das Ende der 1960er-Jahre auf die Tagesordnung der LSBTI*-Bewegungen sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland gesetzt wurde. In der Türkei trat eine ähnliche Entwicklung viel später, und zwar in den späten 1980er-Jahren, in Erscheinung. Für die sozialen Bewegungen sowohl in der Türkei als auch in Deutschland bildete dabei dasselbe Ereignis, und zwar die Stonewall-Unruhen, den Ausgangspunkt für eine solche politische Strategie. Deswegen fängt dieses Kapitel mit diesem Ereignis an und fasst diejenigen Brüche im historischen Verlauf zusammen, die sowohl den GegenDiskurs der Bewegungen als auch deren Repräsentationen in den Medien stark beeinflusst haben. Wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, steht die Entstehung der LSBTI*-Bewegung im bundesdeutschen Kontext aufgrund des gleichen Zeitraums, ähnlicher Politiken und Sujets dem US-amerikanischen Kontext viel näher als dem türkischen. Aus diesem Grund wird der Fokus in diesem Kapitel auf die beiden soziohistorischen Kontexte der USA und der Bundesrepublik gelegt, während der türkische Kontext im folgenden Unterkapitel zusammengefasst wird. In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969 kam es zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und queeren Gruppen in der kleinen New Yorker Bar Stonewall Inn, was sehr oft als ein Meilenstein für die queere Geschichtsschreibung bezeichnet wird. Das Stonewall Inn war in den späten 1960-ern, wie auch andere Orte in den Vereinigten Staaten, an denen queere Personen zusammenkamen, illegal. Augenzeug_innen zufolge duldete die Polizei die Existenz dieses Ortes so lange, wie sie Bestechungsgelder bekam. Das verhinderte allerdings nicht, dass hin und wieder Polizeirazzien stattfanden, bei denen vor allem Trans*-Personen und Minderjährige verhaftet wurden. Eine solche Razzia führte in der Nacht des 27. Juni 1969 zu Unruhen zwischen der Polizei und den Personen, die sich im Stonewall Inn befanden (Marcus 1992, 191). Als an den folgenden Tagen die queeren Communities, unterstützt von linken Studierenden und Kriegsgegner_innen, vor der Bar zusammenkamen und eine Demonstration organisierten, die durch die Christopher Street führte, berichteten auch die Massenmedien mit einer besonderen Aufmerksamkeit über die Ereignisse. Während der Demonstrationen kam es immer wieder
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zu Zusammenstößen mit der Polizei; das hinderte die queeren Communities allerdings nicht daran, weiter zu demonstrieren (Rutledge 1992, 3). Die Ereignisse im Zuge der Stonewall-Unruhen waren vor allem deswegen wichtig, weil dadurch ein neuer Gegen-Diskurs erschaffen wurde, der auf Sichtbarkeit beruhte: „Coming out of the closet“ war von nun an die politische Parole der queeren Communities. Als Zehntausende ein Jahr nach den Unruhen auf den Straßen von New York protestierten, forderten sie unter anderem auch die Sichtbarkeit der queeren Communities in der Öffentlichkeit: „Out of the closet, into the streets“ war das Motto der Proteste (Rutledge 1992, 21). Das Motto, „auf die Straße zu gehen“, implizierte nicht nur eine Politik im öffentlichen Raum, sondern auch eine Politik gegen den Diskurs des öffentlichen Raums: In den Jahren nach den Stonewall-Unruhen, genauer gesagt in den 1970erJahren, fanden in den Vereinigten Staaten auch viele Proteste statt, die gegen die Massenpresse gerichtet waren: Stonewall löste schon bald Proteste gegen die Wochenzeitung Village Voice und die Zeitschrift Harper’s Magazine aus, die für ihre homophobe Berichterstattung bekannt waren. Auch Journalist_innen wie Ann Landers und Mike Royko waren wegen ihrer homophoben Beiträge von den Protesten betroffen (Barnhurst 2007, 25). Vor allem Organisationen wie The National Gay Task Force engagierten sich in dieser Sache und protestierten gegen die Mainstream-Medien. Im Jahr 1974, als die von ABC ausgestrahlte TV-Sendung Marcus Welby, M. D. Homosexualität als Krankheit und Homosexuelle als Pädophile darstellte, organisierte The National Gay Task Force gegen diese Sendung eine Kampagne, die am Ende erfolgreich war: Die Unternehmer_innen mussten ihre Werbung aus dem Programm nehmen (Fejes und Petrich 1993, 400-401), was wiederum die schon in den 1970er-Jahren bestehende Beziehung zwischen Sichtbarkeit und Ökonomie erkennbar macht. Die linke oppositionelle Politik, die in den späten 1960er-Jahren die politischen Aufbrüche in den Vereinigten Staaten prägte und den Weg zu den StonewallUnruhen bereitete, war auch in Deutschland zu spüren. In der BRD der 1960erJahre gab es eine starke außerparlamentarische Opposition, die sich gegen innenund außenpolitische Missstände positionierte, wie z.B. den zweiten Vietnamkrieg, den problematischen Umgang mit dem Nationalsozialismus, die Wahlerfolge der NPD, die Polizeigewalt und die Macht der Springer-Presse, und die auch den Diskurs der queeren Bewegung beeinflusste (Dennert, Leidinger und Rauchut 2007, 32). Am 1. September 1969 wurde der Paragraf 175 des Strafgesetzbuches geändert, der nun einvernehmlichen Sex zwischen erwachsenen Männern über 21 Jahren straffrei stellte. Diese Liberalisierung trug zu einem liberaleren gesellschaftlichen Klima bei, in dem eine sichtbare queere Politik Fuß fassen konnte. Bald darauf erschienen auch die ersten Homosexuellen-Zeitschriften im freien Verkauf, und ab 1970 gab es Versuche, große Verbände in Hamburg, Wiesbaden und München zu gründen. Die ersten aktivistischen Gruppen waren von den studentischen Unruhen geprägt: Im Dezember 1970 wurde in Bochum eine studentische Selbsthilfegruppe
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gegründet, die ein Jahr später in Homosexuelle Aktionsgruppe Bochum umbenannt wurde. Im April 1971 fand die erste Sitzung der Homophile Studenten Münster statt. Ein Jahr später, im April 1972, trafen sich in Münster deutsche queere Gruppen, um einen Dachverband zu gründen, was als Meilenstein der queeren Geschichte der BRD gilt: Zum Abschluss des Treffens kam es auch in Deutschland zu einer ersten Demonstration (Theis 1997, 279). Parolen und Plakate wie „Homos raus aus den Löchern“, „Brüder und Schwestern, warm oder nicht, Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht!“ adressierten eine Politik, die anders als die der Vorgänger_innen war: „Die junge Generation, von den studentischen Unruhen geprägt, wollte nicht länger abhängig sein von liberalen Fürsprechern wie Sexualwissenschaftlern und anderen akademischen Autoritäten, die ihre eigene Homosexualität versteckten und den netten, hilfsbereiten und in einer eheähnlichen Zweierbeziehung lebenden Homosexuellen propagierten. Die Strategie, Promiskuität und Sexualpraktiken, die den normalen Bürger schreckten, vor der Öffentlichkeit zu verbergen, wurde von den studentischen Emanzipationsgruppen abgelehnt; man wollte sich nicht länger in ein Doppelleben pressen lassen: tagsüber angepasst und nachts schwul.“ (Theis 1997, 280)
Der sehr lange in der Öffentlichkeit diskutierte Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von Rosa von Praunheim, der später eine der führenden Figuren der Bewegung sein sollte, hatte gleichermaßen die Position, um einen sichtbaren Gegen-Diskurs entstehen zu lassen. Der Film zelebrierte eine emanzipatorische Politik und forderte Sichtbarkeit auf den verschiedensten Ebenen der Gesellschaft. Die in dem Film geäußerte Kapitalismuskritik, die lustvolle Bestätigung der Vorurteile gegenüber Schwulen und die Darstellung des selbstbewussten Schwulen als politische Figur führten zu öffentlichen Diskussionen: Nach der Uraufführung am 4. Juli 1971 auf den Berliner Filmfestspielen und der darauf folgenden kontroversen Berichterstattung wurde der geplante Fernsehsendetermin auf Wunsch des Bayerischen Rundfunks von der Programmkonferenz der ARD abgesetzt, und die Erstausstrahlung fand schließlich erst am 31. Januar 1972 allein im Dritten Programm des WDR statt (Theis 1997, 280-281). Die versuchte Verbannung des Films aus den deutschen Medien konnte jedoch nicht verhindern, dass sich die Schwulen mobilisierten: Kurz nach der Uraufführung des Films in Berlin führten die Debatten über den Film zur Gründung der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW). Die Gründer der HAW hatten bereits Erfahrungen in der Studentenbewegung gesammelt und wollten sich von den herkömmlichen Schwulenorganisationen unterscheiden: Sie forderten Rebellion anstatt Integration. Praunheim, der Regisseur des Films, stellte den Mitgliedern der HAW seine Atelierräume zur Verfügung. Die Aktivist_innen begleiteten den Film durch die westdeutschen Städte, und fast überall, wo der Film aufgeführt wurde, kam eine emanzipatorische Bewegung zustande, und zwar nach dem Vorbild der queeren Bewegung in den
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Vereinigten Staaten. Es kam sogar zu einem Wissens- und Erfahrungsaustausch mit amerikanischen Aktivist_innen (ibid. 281-282). Die Analyse der schwulen Geschichte der Nachkriegszeit in Deutschland zeigt also zwei Initialzündungen für die Entstehung der Bewegung: die Liberalisierung des Paragrafen 175 zum 1. September 1969 und die Aufführung des Films Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt in Westberlin und darauffolgend in weiteren westdeutschen Städten. Umstritten ist, ob man diese Ereignisse auch als Anfänge der lesbischen Geschichte sehen kann. Das Buch In Bewegung bleiben, herausgegeben von Gabriele Dennert, Christiane Leidinger und Franziska Rauchut, zeigt, dass sich der Beginn der Lesbenbewegung, im Gegensatz zur schwulen Geschichte, weniger eindeutig an bestimmten Ereignissen festmachen lässt (Dennert, Leidinger und Rauchut 2007, 33). Obwohl sich manche Frauen in der HAW organisierten, also in der Organisation, die nach der Aufführung von Praunheims Film gegründet wurde, wandten sie sich schon bald nach deren Gründung zunehmend der Frauenbewegung zu (Theis 1997, 282). Die Lesbenbewegung entwickelte sich also eher aus der Frauenbewegung und vor allem aus den Protesten, die gegen die Bild-Zeitung gerichtet waren; wobei Letzteres wiederum relevant für das vorliegende Forschungsvorhaben ist. Als ab Januar 1973 eine dreiwöchige Serie über die „Verbrechen der lesbischen Frauen“ in der Bild-Zeitung erschien, protestierten am 17. Februar 1973 Lesben, unter anderem aus der HAW, dagegen. An mehreren Plätzen in Berlin verteilten sie Flugblätter mit dem Titel: „Die Verbrechen an den lesbischen Frauen“. Bereits ein Jahr später, als die Bild-Zeitung in skandalöser Weise über einen Prozess gegen ein lesbisches Paar berichtete, kam es wieder zu Protesten. In dem Prozess ging es um Judy Andersen und Marion Ihns, die beschuldigt wurden, einen Mann für die Tötung von Ihns’ Ehemann bezahlt zu haben. Am 19. August 1974 begannen die Verhandlungen, und der Vorsitzende lehnte es ab, die Öffentlichkeit auszuschließen. Es gab sogar eine uneingeschränkte Fotografiererlaubnis, was den Prozess zu einer Fundgrube für die Boulevardpresse machte. Am 16. September 1974 fuhren neun Frauen aus der HAW nach Itzehoe, wo der Prozess stattfand, um zu protestieren. Während der Verhandlung sprangen sie auf und zogen ihre Pullover aus. Auf den T-Shirts, die sie darunter trugen, war die Parole: „Gegen geile Presse – für lesbische Liebe“ zu lesen. Daraufhin wurden die beiden angeklagten Frauen aus dem Saal gebracht. Slogans wie „Lesbische Liebe ist schön“ oder „Haut der geilen Männerpresse eine in die Fresse“ waren im Gerichtssaal zu hören (Kühn 2007, 69). Harald Rimmele zeigt in seinem Beitrag, dass in den 1970er-Jahren nicht nur die wachsende Aufmerksamkeit der Boulevardpresse, sondern auch die bürgerliche und die linke Presse problematische Positionen einnahmen: Im Gegensatz zur Boulevardpresse bezogen die bürgerliche und die linke Presse eine Position der „Toleranz“ gegenüber der „Vielfalt“. Rimmele hebt hervor, dass es eine Selbstzufriedenheit der Presse gab, die eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst verhinderte. Die Gleichberechtigung der Lesben und Schwulen war nämlich kaum ein Thema
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in der Presse; vielmehr kamen sie, so Himmele, nur mit skandalisierenden Schlagzeilen vor. Solche Artikel in der bürgerlichen und in der linken Presse sollten den Eindruck erwecken, dass Schwule und Lesben nicht mehr im Abseits der Gesellschaft stünden. Viele Gruppen, wie etwa die bereits zu Beginn der emanzipatorischen Bewegung gebildete Medienbeobachtungsgruppe innerhalb der HAW, äußerten sich der Presse gegenüber kritisch und forderten einen Blick auf die sozioökonomische Wirklichkeit der „realen“ Homosexuellen, die gegen Diskriminierung auf allen Ebenen der Gesellschaft kämpften (vgl. Rimmele 1997). Während die 1970-er Jahre, wie ich oben gezeigt habe, sowohl in der amerikanischen als auch in der deutschen queer-historischen Literatur als das Jahrzehnt geschildert werden, in dem die queere Emanzipationsbewegung entstand, werden die 1980-er Jahre aufgrund der AIDS-Krise als Zeitalter eines Bruchs gesehen, insofern eine Veränderung die Politiken und Sujets der Bewegung sowie die Sichtbarkeit in der medialen Öffentlichkeit durchzog. Insbesondere die Repräsentation von Schwulen als Auslöser einer Krankheit, die die gesamte Gesellschaft in Gefahr bringe, wurde im journalistischen Diskurs der 1980-er Jahre wiederholt konstruiert. James W. Jones’ (1992) Analyse des damaligen journalistischen Diskurses gibt einige Hinweise auf das Bild des Schwulen in der Öffentlichkeit. In seiner Analyse der Berichterstattung über HIV und AIDS in den Zeitschriften Spiegel und Stern sowie von Texten in den alternativen Medien stellt Jones die Frage, welche kulturellen Codes der journalistische Diskurs bezüglich AIDS produzierte bzw. wie die schwule Szene auf solche Codes reagierte. Jones erkennt in den Zeitschriften Stern und Spiegel einen Diskurs, der Schwule pathologisierte und mit „Schuld“ und „Tod“ in Verbindung brachte. Die massenmedialen Repräsentationen von AIDS konstruierten nämlich Schwule, insbesondere US-amerikanische Schwule, als den Ursprung der Epidemie. Sie wurden beschuldigt, die Krankheit in der Gesellschaft zu verbreiten (ibid., 366-367). Anstatt safer sex zu proklamieren, wurde der schwule Sex an sich zu einer Metapher der Verbreitung der Krankheit in der Gesellschaft. Jones zeigt in seiner Analyse, dass sogar solche Berichte, die nicht spezifisch von Homosexualität und AIDS handelten, sehr oft Bilder von Männern in homoerotischen Szenen enthielten (ibid., 374). Der Zusammenhang zwischen schwuler Identität und der Krankeit, der durch massenmediale Repräsentationen wie in Stern und Spiegel konstruiert wurde, führte zu Diskussionen innerhalb des Gegen-Diskurses. Während einige Aktivisten wie Martin Dannecker und Rosa von Praunheim ihre Kritik nicht nur an Massenmedien richteten, sondern auch sexuellen Praktiken, insbesondere der Promiskuität, sowie der „Natur“ des schwulen Mannes, der seine Sexualität nicht unter Kontrollle halten könne, Schuld zuschrieben (ibid., 377-379), forderten Zeitschriften wie Siegessäule und Rosa Flieder Emanzipation sowie Widerstand gegen den öffentlichen Diskurs über AIDS. Ein Teil dieses Widerstands war dabei die Verbreitung alternativer Repräsentationen, die den schwulen Sex von Konnotationen von Tod und AIDS befreiten, sowie die Stimme HIV-positiver Menschen aufnahmen (ibid., 383-384).
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Die AIDS-Krise wird sehr oft als ein Wendepunkt beschrieben, in dem der Gegen-Diskurs der LSBTI*-Bewegung im euroamerikanischen Kontext eine Transformation durchgemacht habe (Robinson 2005; Gould 2009). Eine der Folgen dieser Transformation war die Forderung nach juristischer Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe, was auch die mediale Sichtbarkeit der Schwulen und Lesben ab den 1990er-Jahren in Deutschland stark prägte. Die schwule Bewegung in Deutschland forderte gleich am Anfang der 1990er-Jahre das Recht auf Ehe. Am 19. August 1992 versuchten 200 lesbische und schwule Paare auf Standesämtern im ganzen Bundesgebiet, das Aufgebot zu bestellen. Nachdem alle Anträge auf Eheschließung abgelehnt wurden, kündigte der Schwulenverband Deutschland an, bis vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, um das Eherecht zu erreichen (Hegener 1997, 221-222). Am 10. März 1994 kam es zu einem weiteren Wendepunkt in der queeren Geschichte: Der Bundestag beschloss mit großer Mehrheit, den Paragrafen 175 aus dem deutschen Strafgesetzbuch zu tilgen. Wolfgang Hebener sieht den juristischen Kampf um Gerechtigkeit für Lesben und Schwulen als einen Kampf um Normalisierung: Die erste Reform des Paragrafen 175 im Jahr 1969 ermöglichte die Entstehung und Gründung der queeren Organisationen. Mit der zweiten Reform im November 1973 wurde schließlich aus der „widernatürlichen Unzucht“ eine „sexuelle Handlung“. Auch Medizin und Psychiatrie entpathologisierten die Homosexualität im Zuge der fortschreitenden Entkriminalisierung. „Die Homosexualität ist nun nicht mehr das ganz Andere, kein Skandal, sondern gewissermaßen schon eine Normvariante“ (Hegener 1997, 224). Schon gegen Ende der 1980er-Jahre gab es, insbesondere unter Lesben in der BRD, eine Debatte darüber, ob sich die Bewegung auf Autonomie oder Integration in die Institutionen konzentrieren sollte. Die noch heute andauernde Debatte und Kritik an der Mainstream-Bewegung deutet die Frage an, inwiefern der GegenDiskurs, als ein Widerspruch, eine Opposition und eine Gegen-Position weiter existieren kann. Trotz des Dilemmas freuten sich die Mitglieder von queeren Gruppen in Deutschland, als 1987 Jutta Oesterle-Schwerin als erste offen lesbische Bundestagsabgeordnete für die Grünen ins Parlament zog. Gleich danach sorgte Schwerins Selbstbezeichnung als „Lesbe“ im parteipolitischen Kontext für Kritik von der Seite des CSU-Abgeordneten Fritz Wittmann, der darin „eine Verwilderung der Sprachkultur“ erkennen wollte (Dennert, Leidinger und Rauchut 2007a, 141). Und erst ab dem Frühjahr 1991 durften die Bezeichnungen „Lesbe“ und „Schwuler“ in Überschriften von Parlamentsdrucksachen verwendet werden (Dennert, Leidinger und Rauchut 2007b, 266). Zu einer weiteren Selbstdarstellung der Lesben und Schwulen kam es erst gegen Ende der 1980er Jahre in dem linksalternativen Privatsender Radio 100 in Berlin. Die Lesben und Schwulen hatten dort von März 1987 bis Februar 1991 einen Sendeplatz mit dem Namen Eldoradio (Dennert, Leidinger und Rauchut 2007a, 154). Ab Anfang der 1990er Jahre gab es auch erste eigenständige, professionelle journa-
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listische Formate, die im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Zwischen 1991 und 1993 hatte der private Lokalsender Fernsehen aus Berlin das Magazin Läsbisch TV für Lesben und Andersrum für Schwule im Programm. Und am 22. Februar 1999 ging das erste schwule Magazin im bundesweiten Fernsehen auf Sendung: Es hieß Anders Trend und wurde auf RTL ausgestrahlt (Siniawski 2009, 62). Wie in diesem Kapitel zusammengefasst wurde, ermöglichte der linke GegenDiskurs der späten 1960er-Jahre sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in der BRD die Entstehung einer LSBTI*-Bewegung, die sowohl die Sichtbarkeit in öffentlichen Räumen als auch in medialen Texten als eine politische Strategie betrachtete. Die Aktivist_innen sahen einen Zusammenhang zwischen Repräsentationen in den Massenmedien bzw. in der Öffentlichkeit und politischer Macht und demonstrierten deshalb gegen die abwertende Darstellung in den Medien mit dem Ziel, den Diskurs zu verändern. Ein Teil dieser Strategie war auch die Produktion eines Gegen-Diskurses, der in Form alternativer Medien zustande kam. Zunächst wurden Zeitschriften und danach auch Rundfunk- und Fernsehsendungen als Plattformen betrachtet, auf denen die Möglichkeit einer Teilnahme an der Diskursproduktion geschaffen wurde. Im folgenden Unterkapitel möchte ich nun den Blick auf den Wandel im türkischen Kontext werfen.
Die Bedeutung der Sichtbarkeit im türkischen Kontext
Ein einziges Ereignis als Initialzündung zu identifizieren, das die queeren Gruppen in der Türkei dazu getrieben hätte, politische Forderungen mittels medialer Sichtbarkeit in die Öffentlichkeit zu tragen, ist kaum möglich; jedoch kann man die politische Atmosphäre der 1980er-Jahre als Ausgangspunkt für einen derartigen Verlauf betrachten. Im Jahr 1980 übernahm General Kenan Evren durch einen Putsch die Regierung und löste das türkische Parlament auf. Die Folgen des Militärputsches bzw. des Militarismus konnte man, Nurdan Gürbilek (vgl. 1992) zufolge, unter anderem auch im Diskurs über Sexualität spüren. Gürbilek beschreibt das erste Jahrzehnt nach dem Militärputsch als Spannungsfeld zwischen zwei Kräften, und zwar zwischen Militarismus und Liberalismus, die auf den ersten Blick widersprüchlich zueinander scheinen. Disziplinierungs- sowie Unterdrückungsmechanismen prägten den Diskurs über Sexualität, insbesondere in der ersten Hälfte des Jahrzehnts, während in der zweiten Hälfte eine Art Liberalisierung zu spüren war (Gürbilek 1992, 13). In paradoxer Weise führte die politische Atmosphäre des Militarismus zu einem Diskurs über Sexualität, in dem in der medialen Öffentlichkeit zum ersten Mal offen über Themen wie Homosexualität sowie Geschlechtsangleichungen gesprochen wurde. Die türkische Öffentlichkeit versuchte, Definitionen, Begriffe sowie Beschreibungen für bis zu diesem Zeitpunkt als deviant und wertlos angesehene Identitäten festzustellen (ibid., 40-41). Oft war jedoch von einer Verwirrung über die Grenzen die Rede. Der Homosexuelle war in der medialen Darstellung ein Mann in Frauenkleidern (Gürsu und Elitemiz 2012, 13). Die mediale Aufmerksamkeit führte oft zur Produktion abwertender Repräsentationen. Dennoch kamen queere Subjekte in staatlichen Fernsehsendungen in Interviews zum Sprechen (Gürbilek 1992, 44), und wöchentliche Zeitschriften diskutierten Themen wie Bisexualität (ibid., 47). Zusammenfassend kann man also die Zeit der 1980er-Jahre für die Türkei als Wendepunkt für die Sichtbarkeit queerer Gruppen bezeichnen, die jedoch hauptsächlich auf abwertenden Repräsentationen beruhte. Von Interesse in diesem Kapitel ist allerdings, dass die abwertenden Repräsentationen und Disziplinierungsme-
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chanismen in den 1980er-Jahren auch den Hintergrund für eine politische Strategie bildeten, die Sichtbarkeit in der medialen Öffentlichkeit reklamierte. Der Paragraf 3c des Standrechts 1402 ermöglichte nämlich den Generälen der Militärregierung vollständiges Recht auf Kontrolle der öffentlichen Medien sowie deren Zensierung und Auflösung, was einen großen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs der 1980erJahre hatte (Eşsiz 2012, 193). Des Weiteren enthielt der Paragraf 3d des Standrechts 1402 Personen, die eine „Bedrohung“ für die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Ordnung und den öffentlichen Frieden darstellten, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis vor (ibid., 199). Dies erlaubte der Militärregierung, Trans*-Personen, insbesondere Transfrauen, aus Großstädten wie Istanbul zu vertreiben, weil sie als Bedrohung für die öffentliche Sicherheit angesehen wurden (Yüzgün 1986, 316-317). Kurz nach deren Vertreibung aus Istanbul fanden auch in weiteren Städten wie in Bursa (Milliyet, 16.06.1981) und Adana (Milliyet, 16.06.1981a) ähnliche Verbote und Zwangsräumungen statt. Die staatliche Macht führte einerseits zu physiologischen und psychiatrischen Gewaltanwendungen wie Zwangshaarschnitten, klinischen Zwangsbehandlungen oder Zwangsräumungen der queeren Communities (Eşsiz 2012, 215-216), andererseits zu abwertenden Repräsentationen in der Boulevardpresse, die Transsexualität und Homosexualität immer wieder kriminalisierte und pathologisierte. Die meistverkauften Wochenzeitungen der 1980er Jahre wie Hafta Sonu verwendeten Begriffe wie „Anarchismus“ aus dem militärstaatlichen Diskurs, um nichtheteronormative Identitäten zu definieren: Sie wurden schlicht als „cinsellik anarşisine uğramış“1 bezeichnet (ibid., 197). Die repressive Macht des Staates in den 1980er-Jahren führte dazu, dass sich die queeren Gruppen politisch mobilisierten. Im Zentrum des Interesses standen damals die Gründung einer politischen Partei, die Menschenrechte für LSBTI*Personen in der Türkei fordern würde, sowie öffentliche Demonstrationen, wie Hunger- und Sitzstreiks in öffentlichen Räumen, die die mediale Aufmerksamkeit auf die Menschrechtsverletzungen lenken sollten (Gürsu und Elitemiz 2012, 145). Obwohl die Hungerstreik-Aktionen die Polizeigewalt nicht verhindern konnten, führten sie dazu, dass die politischen Forderungen der queeren Aktivist_innen, darunter Trans*-Sexarbeiter_innen, zum ersten Mal in der Türkei auf die Ebene der medialen Öffentlichkeit gebracht wurden (Yalçın 2014, 6). Die politische Mobilisierung richtete sich auch auf die abwertenden Repräsentationen in den Massenmedien: Im Jahr 1987 gab es einen Versuch, das öffentliche Programm TRT aufgrund einer Sendung, in der Transfrauen und Schwule kriminalisiert und pathologisiert wurden, zu verklagen (Hürriyet, 18.06.1987). Im gleichen Jahr organisierten Trans*-Sexarbeiter_innen eine Pressekonferenz in Ankara, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Gewalt der Polizei und die Kriminalisierung der von Trans*Personen ausgeübten Sexarbeit ihre Lebensbedingungen dramatisch verschlimmert hatten. In der Pressekonferenz war auch von einer Tagung von Schwulen und 1
Sexuelle Anarchisten.
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Trans* die Rede (Hürriyet, 03.11.1987). Eine geplante Tagung musste bis 1993 verschoben werden, sie scheiterte dann jedoch an einem Verbot durch das Istanbuler Gouverneursamt. Anfang der 1990er-Jahre kamen auch die queeren Communities in den großen Städten der Türkei zusammen und gründeten eine organisierte Emanzipationsbewegung (Erol 2011, 445). Insbesondere die Zeitschrift Sokak bot einen Raum für einen Gegen-Diskurs, unter anderem des Feminismus, ökologischen Aktivismus, Antimilitarismus und der queeren Politik. Im Jahr 1994 erschien, zunächst als Fanzine, die Zeitschrift KAOS GL, die erste schwul-lesbische Zeitschrift in der Türkei, die seit ihrer Erstveröffentlichung ununterbrochen weiter erscheinen konnte (Partog 2012, 170). Ein Jahr vor der Erstausgabe der KAOS GL, im Juli 1993, gab es einen Versuch, anlässlich der Gedenkfeiern der Stonewall-Unruhen eine Tagung in Istanbul zu organisieren, zu der auch politische Akteur_innen aus Europa eingeladen waren. Das Gouverneursamt in Istanbul lehnte den Genehmigungsantrag jedoch mit der Begründung ab, die Tagung verstoße gegen die gesellschaftliche Moral und Werte und störe dadurch die öffentliche Ordnung (Cingöz und Gürsu 2013, 13). Darauffolgend wurde Lambdaistanbul gegründet, die erste LSBTI*-Organisation in der Türkei, die die gesetzliche Gleichberechtigung und gesellschaftliche Anerkennung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans*- und Intersex-Personen forderte. Gleich nach ihrer Gründung organisierte Lambdaistanbul regelmäßige Meetings, um den Erfahrungsaustausch und die Solidarität unter queeren Gruppen zu fördern, und wurde Mitglied der International Lesbian and Gay Association (vgl. Lambdaistanbul, 2010). Im Jahr 1995 gab es einen zweiten Versuch, eine Tagung zu organisieren, der wieder an der Ablehnung des Gouverneursamts scheiterte. Da die türkischen Medien dem Verbot keine Aufmerksamkeit schenkten, wandte sich Lambdaistanbul an internationale Nachrichtenagenturen, was am Ende erfolgreich war. Ein Jahr danach, im Mai 1996, ging der Verein mit einem Radioprogramm in dem Privatsender Açık Radyo auf Sendung und nahm im Juni 1996 auf der zweiten UNO-Konferenz HABITAT, die in Istanbul stattfand, mit einem Stand teil. Letztere Aktion war hinsichtlich der Medienaufmerksamkeit erfolgreich: Zum ersten Mal interessierten sich die Medien für die in der Türkei neu entstehende Bewegung (vgl. Lambdaistanbul 2013). Im gleichen Jahr fanden jedoch wieder Zwangsräumungen von Trans*-Personen statt, und diesmal ironischerweise wegen HABITAT. In ihrem Buch Maskeler Süvariler Gacılar beschreibt Pınar Selek, wie damals der Staat die faschistische Organisation „Graue Wölfe“ und die Medien in die Zwangsräumungen von Trans*Communities involvierte (vgl. Selek 2001). Trans*-Personen, die im Jahr 1996 von Zwangsräumungen betroffen waren, sagten aus, sie seien von der Polizei gefoltert und gezwungen worden, ihre Haare zu schneiden (vgl. Kaldırım 2011). Süleyman Ulusoy, der damalige Chef der Polizeibehörde, verantwortlich für das Viertel, in dem die Zwangsräumungen stattfanden, gab Jahre später zu, er habe damals die
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Präsenz der Trans*-Community in dem Viertel „auslöschen“ wollen und finde „diese Leute ekelhaft“ (Hürriyet, 30.01.2005). Die erste Demonstration der LSBTI*-Bewegung in der Türkei fand im Mai 2001 im Rahmen der 1.-Mai-Demonstrationen statt, was auch zu einer großen medialen Aufmerksamkeit führte (Erol 2011, 459). Die LSBTI*-Bewegung organisierte in den 2000er-Jahren regelmäßige Demonstrationen (Partog 2012, 174), und eine Gruppe aus der Bewegung besuchte im Jahr 2004 das türkische Parlament, was mit einem Zuwachs an Sichtbarkeit in den Medien einherging, indem die politischen Forderungen dort immer häufiger Raum fanden (Başaran 2014, 21). Zusammenfassend kann man feststellen, dass, ähnlich wie bei den StonewallUnruhen in den USA, die repressive Macht des Staates in den 1980er-Jahren auch in der Türkei den Hintergrund für den Widerstand der queeren Gruppen, zunächst aber der Trans*-Sexarbeiter_innen und Schwulen, bildete (Başaran 2014, 17). Sichtbarkeit, sowohl in den öffentlichen Räumen als auch in den Massenmedien, wurde dabei oft als eine politische Strategie gesehen, die es minorisierten Gruppen ermöglichen sollte, den Gegen-Diskurs in Umlauf zu bringen sowie ihre politischen Forderungen zu repräsentieren. Ähnlich wie im deutschen Kontext haben LSBTI*Gruppen in der Türkei auch ihre eigenen medialen Texte produziert sowie ihre Demonstrationen gegen die massenmedialen Repräsentationen gerichtet. Sichtbarkeit ist damit zu einem wesentlichen Bestandteil der politischen Herangehensweise der LSBTI*-Bewegung in der Türkei geworden.
Diskussionen über Sichtbarkeit in queertheoretischen Ansätzen
Die Forderung nach Sichtbarkeit sowie Lesbarkeit, damit meine ich Repräsentationen in der dominanzgesellschaftlichen Kultur, darunter auch in den Massenmedien, was Gegenstand dieser Arbeit ist, bildet sowohl in den queertheoretischen als auch kommunikationswissenschaftlichen Diskussionen eine Art konstruierendes Motiv für die Subjektivierung. Wie ich im Folgenden zusammenfassen werde, stellen die massenmedialen Repräsentationen entweder Substanzen dar, die im Rahmen alternativer Medien dekonstruiert, wieder bearbeitet bzw. neu interpretiert werden müssen, oder sie bieten im Falle eines Zuwachses an Sichtbarkeit einer minorisierten Gruppe die Möglichkeit zum Zugewinn politischer Macht. In diesem Zusammenhang spielt der journalistische Diskurs aufgrund seines Anspruchs auf Repräsentation der Realität eine große Rolle, was jedoch von Autor_innen der Queertheorie oft vernachlässigt wird. Im Folgenden werde ich die Schnittstellen beleuchten, an denen ähnliche Sujets und Konzepte aus kommunikationswissenschaftlichen und queertheoretischen Ansätzen erkennbar werden. Einen Ausgangspunkt einer derartigen Theoretisierung bildet die Vorstellung von journalistischem Text als Produkt einer Kultur bzw. dem Text als Repräsentation der Bedeutungsstrukturen, die den Identitätsaufbau des Subjekts, auch des queeren Subjekts, wesentlich beeinflussen. Sowohl die Diskussionen über Subjektivierung innerhalb der Cultural Studies, als auch der Queer Studies ermöglichen eine derartige Konzeptualisierung des Journalismus. Douglas Kellner (1995) ist beispielweise der Meinung, dass Medien nicht nur politische Meinungen, den Alltag sowie die Freizeitgestaltung einer Gesellschaft beeinflussen, sondern auch Bilder und Diskurse produzieren, die Subjektivierung steuern. Die Bedeutungen, die in den Medien im Umlauf gebracht werden, weisen auf die Position hin, die das Subjekt in Bezug auf Nation, Klasse, Ethnizität bzw. Sexualität einnehmen muss (ibid., 1). Kellner weist jedoch darauf hin, dass die dominanten Repräsentationen nicht immer ohne eine Resistenz der Massen übernommen werden. Die dominanten Repräsentationen werden von bestimmten Gruppen nicht nur zurückgewiesen, sie werden auch bearbeitet, was dazu führt, dass alternative Bedeutungen produziert
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werden, die sich von massenmedialen Repräsentationen grundsätzlich unterscheiden (ibid., 3). Medien als eine dominante Form der Kultur werden diesbezüglich zu einem Feld des ideologischen Kampfes, in dem die Bedeutungsstrukturen, Diskurse, Bilder sowie Repräsentationen ständig verschoben sowie verändert werden (ibid., 35). In diesem Zusammenhang bildet die Resistenz zu dominanzgesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen bzw. die Kritik an dominanzgesellschaftlichen Repräsentationen das Gerüst der Queertheorie. Massenmediale Repräsentationen erscheinen nämlich in den queertheoretischen Ansätzen, die stark von Werken von Eve Kosovsky Sedgwick (2008), Michel Foucault (1979), Judith Butler (1990), Judith (Jack) Halberstam (2005), Michael Warner (2002), Leo Bersani (1996) sowie José Esteban Muñoz (2009) inspiriert sind, als Strukturen, die auf Zweigeschlechtlichkeit sowie Heteronormativität beruhen und daher dekonstruiert, wieder bearbeitet und zu neuen Bedeutungsstrukturen umgewandelt werden müssen. Die bedeutendsten Werke der Queertheorie legen daher einen Fokus auf alternative Repräsentationen, die von queeren Künstler_innen sowie Autor_innen geschaffen werden. Solche Analysen ermöglichen es unter anderem, die Produktionsprozesse eines GegenDiskurses sowie einer alternativen Repräsentation zu erhellen, die in der Tat in einem konstanten Verhältnis zur Normalität stehen, die in der Öffentlichkeit reproduziert wird. Als Beispiel lässt sich die Analyse von José Esteban Muñoz (1999) hervorheben, in der sich das Motiv einer queeren Herangehensweise bei der Produktion neuer Bedeutungen, wie Muñoz formuliert, als Distanzierung von den abwertenden Repräsentationen deuten lässt. Ein queeres Kind, das in einer heteronormativen Öffentlichkeit aufwächst und täglich mit homophoben bzw. transphoben Bildern sowie Diskursen konfrontiert wird, entwickelt, so Muñoz, Strategien, um in einer solchen feindlichen Umgebung überhaupt überleben zu können. Muñoz weist darauf hin, dass dieses Kind, wenn es nicht nur queer, sondern auch nicht-weiß ist, nicht nur zur Zielscheibe von Homophobie wird, sondern auch von Rassismus. Insofern ist die intersektionale Herangehensweise ebenfalls ein Interesse queertheoretischer Arbeiten. Das Kind muss einen Weg finden und Strategien entwickeln, um sich vor den Bildern der Massenmedien schützen zu können, was diesbezüglich auch die Frage der Bildung seiner eigenen Identität stark prägt. Disidentifikation, also disidentification, nennt Muñoz eine solche Strategien, die auf einer Dekodierung der Texte und Bilder der Massenmedien sowie der Produkte der Hochkultur aus Sicht einer minorisierten Gruppe beruht. Disidentification ist jedoch nicht nur eine Distanzierung von den Bedeutungsstrukturen der dominanzgesellschaftlichen Sichtbarkeit, sondern auch ein Prozess der Produktion neuer Bedeutungen. Das minorisierte Subjekt dekodiert die Bedeutung auf eine Art und Weise, die bei der Produktionsphase der Bedeutung nicht gedacht war. Durch diesen Prozess von Regenerierung und Rekonstruktion der dekodierten Bedeutung produziert das Subjekt eine neue Bedeutung. Obwohl Muñoz in seiner Analyse den Fokus auf queere
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Performanz als Strategie der Disidentifikation legt, wirft er in seinen Überlegungen einen fruchtbaren Blick auf das Verhältnis zwischen der Sichtbarkeit und der Subjektivierung bzw. darauf, was für eine Bedeutung die Sichtbarkeit im Bereich der Dominanzgesellschaft für queere Subjekte haben kann. Des Weiteren steht sein Konzept von Disidentifikation im Dialog mit Stuart Halls Konzept des Kodierens und Dekodierens von Bedeutungen in der Medienproduktion, in dem die Rezeption der Bedeutungsstrukturen nicht außerhalb der Produktion der Bedeutungen steht, worauf ich im Folgenden zurückkommen werde (vgl. Hall 1980). Queere Politiken, Strategien und Bewegungen beruhen einerseits darauf, die Regime des Normalen zu bearbeiten, die Bilder und Diskurse der heteronormativen und zweigeschlechtlichen Gesellschaft zurückzuweisen und alternative Bedeutungsstrukturen zu produzieren (Paul und Schaffer 2009, 8); andererseits verschieben sie, wie es an den Beispielen einiger LSBTI*-Bewegungen zu sehen ist, die bestehenden Bedeutungsstrukturen der dominanzgesellschaftlichen Sichtbarkeit, sodass auch queere Subjekte in den Bereich der Repräsentation eintreten können (D’Emilio 2007, 25). In beiden Fällen scheint die Repräsentation im dominanzgesellschaftlichen Bereich die konstruierende Kraft für die Produktion eines Gegendiskurses bzw. für die Bearbeitung des Diskurses zu sein. Damit entstehen auch Anschlussmöglichkeiten an Foucaults Konzept der Macht als konstruierender Kraft für Subjektivität, das in den queertheoretischen Ansätzen eine zentrale Rolle spielt. Foucault legt im ersten Band seiner Buchserie über die Geschichte der Sexualität dar, dass der Homosexualität erst dadurch eine Subjektivität verliehen wurde, indem sie durch den medizinischen, juristischen sowie psychiatrischen Diskurs klassifiziert, reguliert, analysiert sowie beschrieben wurde (Foucault 1979, 58). Diskurse verkörpern in seiner Analyse eine Art schöpferischer Kraft, daher wird auch der Zugang zur Produktion des Diskurses, insbesondere des Diskurses über Sexualität, kontrolliert, und zwar dadurch, dass das Recht auf Sprechen nur bestimmten Subjektpositionen verliehen wird, die sozusagen eine Institution und damit „die Wahrheit“ repräsentieren. In diesem Zusammenhang verfügt das Sprechen des Subjekts, das zu einem Gegenstand des bestimmten Diskurses wird, über keinen Wahrheitscharakter, selbst dann nicht, wenn es über seinen eigenen Körper spricht (Foucault 1973, 75). Von Bedeutung ist dabei, dass dieser Prozess auch den Weg für einen Gegen-Diskurs ebnet, der in Widerspruch zu diesem Prozess steht (vgl. Foucault 1979, 122-123). Mit einer Foucault’schen Herangehensweise diskutiert Michael Warner diesbezüglich, dass die Gegenöffentlichkeit, in der auch der Gegen-Diskurs entsteht, nur in Bezug auf die Öffentlichkeit zustande kommt (vgl. Warner 2002). Was in der (auch medialen) Öffentlichkeit repräsentiert wird, das heißt, was sowohl sichtbar als auch lesbar gemacht wird, hat also zweierlei Funktion: Einerseits wird dadurch dem Repräsentierbaren eine Realität verliehen, andererseits werden die Bedingungen für die Dekonstruktion dieser Realitäten geschaffen. Eine ähnliche Theoretisierung von Diskurs, Subjekt und Repräsentation taucht insbesondere in den Cultural Studies auf. Dabei bildet Louis Althussers Konzept
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von der Anrufung der Subjekte in den Diskurs bzw. in die Machtverhältnisse, was gleichzeitig die Grundlage der Subjektivierung bildet, einen Ausgang für die meisten Ansätze dieser Schule. Althusser zeigt in Ideologie und ideologische Staatsapparate (1977), wie das Subjekt durch den Akt des Sprechens, der auch als eine Repräsentation interpretiert werden kann, konstituiert wird. Er führt das berühmte Beispiel mit dem Polizisten an, um die Subjektivierung zu verdeutlichen. Ein Polizist ruft ein Individuum auf der Straße an: „Hallo, Sie da!“ Das angerufene Individuum wendet sich in Richtung des Polizisten um. Durch dieses Verfahren der Anrufung wird das Individuum, das sich daraufhin umwendet, zum Subjekt und erhält eine diskursive Existenz. Dieses Verfahren konstituiert jedoch nicht nur das Subjekt, sondern gleichzeitig auch seine untergeordnete Position gegenüber der Macht, die sich in Althussers Theorie in der Figur des Polizisten verkörpert. Das Subjekt, das sich umwendet, akzeptiert damit seine untergeordnete Position gegenüber der Macht; anders formuliert: Mit dem Sich-Umwenden tritt das Subjekt in das Gesetz ein. Das heißt also, dass die Macht in Althussers Theorie das konstitutive Andere für das Subjekt bildet. Das Subjekt kommt erst mit der Anrufung durch die Macht ins Leben, die das Subjekt wiederum unterordnet. Althusser nennt die Macht, die das Individuum anruft und es dadurch zum Subjekt transformiert, das einzige absolute andere SUBJEKT, das die Bedingungen für die Erschaffung des Subjekts setzt. Dabei verwendet er den christlichen Diskurs, indem er die Konzepte der Macht und Gottes vergleicht. Das andere SUBJEKT, also die Macht, nimmt in seiner Theorie den Platz im Zentrum ein „und ruft um sich herum die unendliche Zahl der Individuen als Subjekte an“ (Althusser 1977, 147). Medien stellen in Althussers Theorie Institutionen dar, die Machtverhältnisse aufrechthalten. Er bezeichnet sie zusammen mit Kirche, Schule, Familie und Kultur als ideologische Staatsapparate, die die dominanten Ideologien sowie Bedeutungsstrukturen reproduzieren (ibid., 121). Stuart Hall deutet darauf hin, dass Althusser unter Reproduktion der dominanten Ideologien nicht eine einzelne Ideologie versteht, sondern eine Sammlung von verschiedenen Bedeutungsstrukturen, die miteinander durch diskursive Formationen verknüpft sind. Ideologien, so Hall, konnotieren in diesem Zusammenhang untereinander. Und das Subjekt kann in dieser Vorstellung nur innerhalb des Repräsentierbaren, was in Althussers Theorie auf Ideologie hindeutet, in die Existenz kommen. Es gibt also keine erfahrbare Existenz außerhalb der Kategorien der Repräsentation und des Diskurses (Hall 1996, 24). Die Frage, wie die Machtverhältnisse in den Medien reproduziert werden, ist in Halls Theoretisierung mit der Frage des Diskurses verknüpft. Ein Ereignis muss, so Hall, zunächst zu einer Geschichte verwandelt werden, um überhaupt in den Medien berichtet werden zu können. Während dieses Prozesses wird das Ereignis zum Gegenstand diskursiver Formationen, indem Entscheidungen getroffen werden, die nicht zufällig, sondern von Machtverhältnissen beeinflusst sind. In diesem Verlauf wird die Reproduktion der Bedeutungen von zwei wesentlichen „Momenten“ geprägt: Kodieren und Dekodieren. Nur dann, wenn die Empfänger die Fähigkeit
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haben, die kodierten Aussagen zu dekodieren, werden die Bedeutungen und die Machtverhältnisse, die mit den Bedeutungen verknüpft sind, reproduziert (Hall 1980, 129-130). Hall weist darauf hin, dass der Erfolg eines medialen Textes, das heißt die Verständigung des Textes in der Art und Weise, wie es während der Produktion des Textes gedacht wurde, mit der Symmetrie und der Identifikation zwischen Sender und Empfänger verknüpft ist. Wenn die Empfänger eine andere Identifikation als die Sender haben, können die Bedeutungen während des Dekodierens verschoben, unterbrochen, verändert werden. Aus diesem Grund schreibt dieses Modell dem Sender keine absolute Macht zu, mit der er die Kommunikation so gestalten könnte, wie er es sich wünscht. Sowohl Sender als auch Empfänger sind damit an der Reproduktion der Bedeutungen sowie dominanten Repräsentationen beteiligt (ibid., 131). Bestimmte Repräsentationen werden, wie Hall aufzeigt, zu einem Feld des ideologischen Kampfes, indem die Bedeutungsstukturen bestimmter Gruppen verändert, verschoben oder ausgelöscht werden. Dadurch werden alternative Repräsentationen produziert. Als Beispiel gibt Hall die Veränderung des Begriffs „Schwarz“, der sich dank der Schwarzen Bewegung von negativer Konnotation zur positiven bzw. selbstermächtigenden Konnotation verändert habe. Hall weist darauf hin, dass die sozialen Bewegungen einen ideologischen Kampf über die Bedeutung von bestimmten Begriffen auslösten. Von Bedeutung ist hier, dass solche ideologischen Kämpfe aufgrund der dominanten Repräsentationen stattfinden. Bei dem Beispiel von „Schwarz“ fand der ideologische Kampf deswegen statt, weil Rassismus eine Reihe von abwertenden Repräsentationen reproduziert hat. Damit steht jedoch die Schwarze Bewegung immer in Beziehung mit ihrem konstruierenden Machtverhältnis, nämlich mit Rassismus (Hall 1996, 31-32). Auf diese ständige Beziehung zwischen den Bedeutungsstrukturen der Dominanzgesellschaft und den alternativen Repräsentationen deutet auch Michael Warner (2002) hin. Soziale Bewegungen, so Warner, entstehen innerhalb der Öffentlichkeit, um Diskussionen über die dominanten Bedeutungsstrukturen, die in Medien, Staat und Markt reproduziert werden, anzuregen. Warner diskutiert zum Beispiel in seinem Buch, wie die heterosexuelle Intimität in der Öffentlichkeit repräsentiert wird, während die Repräsentation nicht-heterosexueller Sexualität als Verletzung der Öffentlichkeit betrachtet wird. Aus diesem Grund ermöglicht die queere Gegenöffentlichkeit eine öffentliche Vermittlung der als privat gesehenen sexuellen Bedeutungsstrukturen (Warner 2002, 57). Dies ist, so Warner, unter anderem deswegen von großer Bedeutung, da es die Emanzipation der Subjekte ermöglicht, deren Sexualität und Gender in der Öffentlichkeit nicht repräsentiert werden (ibid., 61). Er deutet dabei auch auf die Gefahren hin, die aus diesem ständigen Verhältnis zur Öffentlichkeit entstehen: Gegenöffentlichkeiten stoßen sehr oft an die Grenzen der Massenmedien, und deren Verhältnis zur großen Öffentlichkeit bringt auch etliche Einschränkungen mit sich. Deswegen stellt er die Frage, ob es überhaupt
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möglich ist, die Öffentlichkeit aus Sicht der Gegenöffentlichkeit zu gestalten (ibid., 63). Diese Frage kehrt in weiteren queertheoretischen Ansätzen wieder, insbesondere in den Werken von Judith Butler. Butlers Konzept von Subjekt und Abjekt beruht auf der Frage, wie wichtig und verletzlich die öffentliche Repräsentation von queeren Subjekten sein kann. In Bodies That Matter verficht sie die These, dass die Leben, die sich außerhalb der intelligiblen, denkbaren, also repräsentierbaren Zonen des sozialen Lebens befinden, das konstitutive Äußere für das Subjekt bilden, das repräsentiert wird. Für die Identifikation des repräsentierten Subjekts ist also das „Abjekt“, der Verworfene, das Nicht-Repräsentierbare von großer Bedeutung, da das Subjekt durch konstante und wiederholte Praktiken des Verwerfens gebildet wird (vgl. Butler 2011). In Undoing Gender erweitert sich das Konzept des Verworfenen, also des Lebens, das außerhalb der Intelligibilität sowie Repräsentation steht, zur Frage, wessen Leben überhaupt als Leben bzw. als betrauernswertes Leben zählt. Butler weist darauf hin, dass der Körper, trotz des Rechts, über den eigenen Körper zu verfügen, Sterblichkeit sowie Verwundbarkeit impliziert, weil er eine öffentliche Dimension ist, die von den Handlungen der Öffentlichkeit kontinuierlich betroffen ist. Darüber hinaus führen die politischen Forderungen derjenigen, die die Kraft der Norm an ihrem eigenen Körper spüren, darunter Trans*-Menschen sowie Intersexuelle, zu Veränderungen der Intelligibilität und Repräsentation der menschlichen Morphologie sowie zu einer anderen Realität als die Normen des Körpers. Solche Forderungen, so Butler, sind auch Forderungen danach, die Definition des Menschlichen zu verändern. Wer außerhalb dieser Intelligibilität und außerhalb des Repräsentierbaren steht, wird auch nicht als menschlich bzw. als Bestandteil des menschlichen Lebens angesehen, und die Gewalt, die die Körper derjenigen erfahren, wird auch nicht als Gewalt betrachtet. Was heißt das aber für die Frage der Repräsentationen bzw. für die Frage der Repräsentationen in der Dominanzgesellschaft? Butler ist der Meinung, dass die Dehumanisierung zunächst auf der Ebene des Diskurses stattfindet, in dem die physische Gewalt gegen den Körper sowie die Verluste der Menschenleben nicht bzw. kaum repräsentiert werden. „Die Gewalt gegen diejenigen, die schon kein richtiges Leben verkörpern, die sich in einem Schwebezustand zwischen Leben und Tod bewegen, hinterlässt eine Spur, die keine Spur ist. Wenn es einen Diskurs gibt, dann ist er ein stilles und melancholisches Schreiben, in dem es keine Menschenleben und keine Verluste gegeben hat, wo es keine gemeinsamen physischen Voraussetzungen gegeben hat, keine Verletzbarkeit, die als Grundlage für ein Verständnis unserer Gemeinsamkeit dienen könnte, und wo es keine Aufkündigung dieser Gemeinsamkeit gegeben hat.“ (Butler 2009, 47)
Als Beispiel dafür führt Butler die Verluste durch AIDS in Afrika an, die auf der Ebene der medialen Darstellung nicht repräsentiert werden. Diese NichtRepräsentation, diese Unsichtbarkeit auf der Ebene des Diskurses verhindert eine gemeinsame Trauer, was für Butler die Ressource einer Politik sein kann, auch die
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Leben derjenigen, die durch Unsichtbarkeit als nicht-betrauernswert konstruiert werden, als Menschenleben zu betrachten (ibid., 44). Butlers Überlegungen beruhen also auf einer Dichotomie von Repräsentierbaren und Nicht-Repräsentierbaren, in der das „Abjekt“, das noch kein Subjekt ist, immer in Beziehung zur Normalität steht, in der es die Differenz, den Andere sowie die Abweichung von der Norm repräsentiert. Antke Engel kritisiert Butlers Konzept, da es die Dichotomie reproduziere, die Butler selbst infrage stelle und dabei die Position des Verworfenen (Abjektion) schwäche (Engel 2002, 25) sowie keinen bzw. nur einen geringen Spielraum für die Strategien in den Zwischenräumen, also den Räumen zwischen der Repräsentation und Nicht-Repräsentation übrig lasse (ibid., 32). Um die Opposition Subjekt/Abjekt zu unterlaufen, diskutiert Engel das Konzept der Fantasie, die auf der Imagination von alternativen Körpern aus der Sicht des Verworfenen beruht und dadurch alternative Repräsentationen produziert (vgl. Engel 2002; Engel 2009a). In ihrem Buch Bilder von Sexualität und Ökonomie (2009) diskutiert Engel weiter die Zwischenräume, insbesondere die Verschränkung der Räume des Repräsentierbaren mit dem Nicht-Repräsentierbaren. Sie verficht die These, dass in den neoliberalen Gesellschaften ein Zuwachs an Sichtbarkeit zu beobachten ist, die auf eine eindeutige Markierung sozialer Identitäten verzichtet und immer mehr Ambiguität bezüglich Sexualität und Gender zulässt. Die als paradox erscheinende bzw. als widersprüchlich gesehenen Deutungen wie hetero/homo werden nicht nur nebeneinandergestellt, sondern es wird auch die Norm der Entgegensetzungen herausgefordert. Für meine Analyse ist Engels Überlegung deswegen von großer Bedeutung, da sie zeigt, dass die diskursiven Überlappungen von queeren und neoliberalen Bedeutungsproduktionen nicht nur in den queeren Kulturen, sondern auch im Rahmen des Mainstreams immer häufiger in Erscheinung treten. Als Grund für den Zuwachs zeigt Engel das gemeinsame Interesse der neoliberalen und queeren Diskurse. Die Pluralisierung der sexuellen Identitäten und Lebensweisen, wie sie in den queeren Strategien proklamiert wird, wird vom neoliberalen Diskurs unterstützt, da sie eine Befreiung von jeglicher Regulierung fördert. Dies führt dazu, „gesellschaftliche Verantwortung in Eigenverantwortung zu übersetzen und Zustimmung zum Leistungsprinzip sowie zum Abbau sozialstaatlicher Absicherungen schmackhaft zu machen“ (Engel 2009, 14). Engel führt als neues Konzept die projektive Integration ein, um die mehrfache Adressierung sowie Deutung der Bilder und Diskurse von Differenzen im Mainstream zu verdeutlichen. Die mehrfache Adressierung der Repräsentationen funktioniert als Projektionsfläche eines imaginären Begehrens, als Fantasie über Möglichkeiten bezüglich Sexualität für die majorisierten Gruppen und als Versprechen, minorisierten Gruppen soziale Anerkennung zu gewähren. Differenzen werden also im Bereich der Sichtbarkeit nicht mehr abgewehrt, sondern als ein Kapital gesehen, das sich von Repräsentationen der Assimilation sowie vom Multikulturalismus unterscheidet. Differenz stellt in diesem Zusammenhang nicht mehr das Andere dar, während die Norm unverändert bleibt.
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„Mittels Normalisierungsprozessen wird Differenz in die Norm integriert, so dass Bilder hybrider, flexibler und ambivalenter Identitäten entstehen, die als Inbegriff erfolgreicher, kreativer Individualität projektiv aufgeladen werden. Sie sind deshalb attraktiv, weil sie Differenz als Besonderheit, aber eben nicht das ganz andere inszenieren.“ (Engel 2009, 55)
Engel ist der Meinung, dass der Zuwachs an Sichtbarkeit von Lesben und Schwulen in Mainstream-Medien auf diesen Prozess zurückzuführen ist. Der Zuwachs an Sichtbarkeit überlappt nämlich mit dem neoliberalen Diskurs von Differenz als einem individuellen kulturellen Kapital, das es Subjektivitäten ermöglicht, sich an die Transformationen anzupassen. Diesbezüglich zeigen Bilder von gefeierten Lesben und Schwulen diese Anpassungsfähigkeit des Subjekts an die Normen (ibid., 56). Eine der wichtigen Diskussionen in den queertheoretischen Ansätzen bezieht sich auf die Frage der Selbstdefinition. Die konstruktivistische Perspektive, die in den queertheoretischen Ansätzen eine zentrale Rolle spielt, ermöglicht die Frage danach, wie soziale bzw. sexuelle Differenzen hergestellt werden. In dieser Vorstellung werden die Identitäten, Gruppen sowie Bewegungen kontinuierlich politisch und kulturell rekonstruiert. Das heißt, sie werden nicht gefunden, sondern durch Kämpfe um den Diskurs gemacht (Hark 1995, 23). Daher ist der Kampf um Selbstdefinition bzw. darum, „sich durch einen selbst gewählten Namen“ zu repräsentieren, von großer Bedeutung für die sozialen Bewegungen. Sabine Hark zufolge werden Namen und Definitionen nicht nur sozio-historisch konstruiert, sie sind auch konstruktiv, da sie die Bildung politischer Identitäten ermöglichen (ibid., 50). Bezüglich der Selbstdefinition in der dominanzgesellschaftlichen Sichtbarkeit legen einige Studien eine Entwicklung bzw. Veränderung dar, in der die früher als deviant bezeichneten Subjekte nicht mehr abwertend dargestellt werden. Diese Studien weisen auf einen Zuwachs an normalisierenden Repräsentationen in den Massenmedien hin (vgl. Fejes und Petrich 1993; Alwood 1996; Gross 2001, Engel 2009, Heilmann 2011). In manchen Ansätzen wird die Bedeutung der Selbstdefinition bzw. der positiven Repräsentation in den Massenmedien nicht nur bezüglich der queeren Subjekte, sondern auch der heterosexuellen Gesellschaft, die sich als majorisierte Gruppe betrachtet, diskutiert. Für Alexander Doty sind die Bilder und Diskurse in den Massenmedien auch deswegen von großer Bedeutung, da sie für die majorisierten Gruppen ein „queeres Moment“ darstellen, in dem eine Verschiebung der Bedeutungsstrukturen stattfindet (Doty 1995, 72-73). Auf der anderen Seite legen einige Studien den Fokus auf die Beziehung zwischen dem Zuwachs an Sichtbarkeit in den Massenmedien und dem Kapitalismus. In solchen Diskussionen wird darauf hingewiesen, dass Schwule und Lesben deswegen im Lauf der Zeit mehr Sichtbarkeit in den Medien erzielt haben, weil sie als gute Konsument_innen gesehen wurden. Aus diesem Grund wird ihre Sichtbarkeit als eine Nische für den Markt gekennzeichnet (Hennessy 2000, 135-136). Die Entdeckung des „gay marketing“ in den 1990er-Jahren wird als ein Wendepunkt be-
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zeichnet (vgl. Gluckman und Reed 1997; Baker 1997), was selbst in der Türkei, wo es noch keinen großen Markt für Schwule und Lesben gibt, von MarketingExpert_innen reklamiert wird: In einer türkischen Zeitschrift, die sich an die Marketing-Branche in der Türkei richtet, wurde darauf hingewiesen, dass große Firmen in anderen Ländern versuchen, mit ihren Marketing-Strategien die lesbischen und schwulen Konsument_innen, die in der Zeitschrift als urbane und liberale Konsument_innen mit hohen Einkommen beschrieben wurden, zu beeinflussen. Bei diesen Vergleichen mit westlichen Medien wurde gezeigt, dass türkische Medien, darunter auch Werbung, anders als in der westlichen Welt die Sichtbarkeit der Lesben und Schwulen nicht ermöglichen (vgl. Arman 2009). Es wird diesbezüglich eine kausale Beziehung zwischen dem Profit und der Sichtbarkeit gesehen, was jedoch auch infrage gestellt wird, da Schwule und Lesben keine größere Profitmöglichkeit für den Markt bedeuteten als Heterosexuelle (vgl. Badgett 1997). Die zentrale Kritik der meisten queertheoretischen Studien besteht darin, dass die Normalisierung in den Massenmedien die Vielfalt der Realität nicht darstelle. Es entsteht eine paradoxe Beziehung zwischen dem Zuwachs an Sichtbarkeit und dem queeren Subjekt, die von Kevin Barnhurst als „ödipale Beziehung“ (Barnhurst 2007, 9) beschrieben wird. Während bestimmten Formen von Homosexualität aufgrund des möglichen Profits, den sie für den Markt bedeuten würden, Sichtbarkeit gewährt werde, stünden andere Identitäten bzw. Selbstdefinitionen außerhalb dieser Sichtbarkeit. Des Weiteren löse der Zuwachs an Sichtbarkeit auch homophobe Gegenreaktionen aus, was es schwierig mache, Sichtbarkeit als ein Zeichen für eine absolut positive Veränderung in der Gesellschaft zu sehen (ibid. 16). Manche Analysen legen den Fokus auf Lesben und Schwule, die in der Medienbranche, zum Beispiel in Werbeagenturen, arbeiten, also „professional homosexuals“, die diesen Zuwachs gesteuert haben sollen (vgl. Rimmele 1997; Sender 2007; Siniawski 2009). Eine der paradoxen Folgen der Normalisierung in den Massenmedien ist dabei die Entpolitisierung der Sichtbarkeit. Die normalisierenden Repräsentationen gingen mit einer Verringerung der Bedeutung politischer Forderungen einher, indem die Sichtbarkeit der Differenzen schlicht zu einer gefeierten Eigenschaft der neoliberalen Gesellschaft werde (vgl. Mesquita 2008). Parallel zu der Entpolitisierung, die durch den Zuwachs an Sichtbarkeit in den Massenmedien erfolgt, ist auch von einer Desexualisierung die Rede, was nach Michael Warner (1999), mit einem Zusammenhang zwischen der Scham und dem Sexuellen einhergeht. Sex und die Politik über das Sexuelle werden in einer solchen Repräsentation als „beschämend“ adressiert, und die repräsentierten queeren Subjekte verlieren dadurch ihre Fähigkeit zur Kritik an Werten und Normen der Majorität über Sexualität. Desexualisierung und Entpolitisierung sind also, so Warner, zwei Prozesse der Normalisierung der queeren Subjekte in den Massenmedien, die das politische Potenzial der queeren Subkultur durch Sichtbarmachung auslöschen. Ähnlich wie Althussers Konzept der Aufrufung der Subjekte durch die Macht, die das Subjekt in die Norm integriert, vertritt Warner die These, dass Subjekte, die in
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den Massenmedien, die in Beziehung mit Institutionen der Ökonomie und Gesetzen funktionieren, sichtbar gemacht werden, gleichzeitig auch als „normal“ bezeichnet, das heißt in die Majorität und deren Werte integriert werden. Die in den Massenmedien als „normal“ repräsentierten Subjekte werden dadurch von den abnormalen Subjekten, die unsichtbar sind, unterschieden. Warner ist der Meinung, dass dieser Prozess des Sichtbarwerdens an erster Stelle das queere Potenzial der LSBTI*Bewegung bedrohe, da er zur Illusion einer Freiheit führe, die durch den Konsum massenmedialer Bilder von Schwulen erzeugt werde (Warner 1999, 69-70). In einer ähnlichen Weise beschreibt Muñoz eine derartige Integration in die Normen bzw. die Normalisierung als anti-utopisch und daher auch als nicht-queer, weil sie keine befreiende, alternative Repräsentation zu dominanzgesellschaftlichen Repräsentationen biete (Muñoz 2009, 21). Auf der anderen Seite kann der Zuwachs an Sichtbarkeit in bestimmten Fällen zu einer Zuschreibung der Homophobie an andere Kulturen führen. Jasbir Puar (2007) diskutiert, dass insbesondere nach dem 11. September die Sichtbarkeit des homosexuellen Subjekts mit einer Darstellung der muslimischen Kultur als eines feindlichen Raums für Homosexuelle einhergegangen sei. Das homosexuelle Subjekt, das im US-amerikanischen Kontext in der Tat beschränkte Rechte hat, gewinne eine wesentliche Sichtbarkeit in der Vertretung der nationalen Werte im Kampf gegen den Terrorismus auf der globalen Ebene. Dies führe für das homosexuelle Subjekt einerseits zu einer Integration in die Werte des Nationalismus sowie der Heteronormativität, andererseits zu einem sexuellen Othering, indem das homosexuelle Subjekt im US-amerikanischen Kontext eine besondere bzw. überlegene Position gegenüber der orientalistischen Konstruktion des muslimischen Subjekts gewinne. Puar diskutiert, dass die orientalistische Vorstellung eines muslimischen Subjekts, das mit Terrorismus in Verbindung gebracht wird, dazu führe, dass Schwule und Lesben die Bedeutungsstrukturen des Nationalismus übernähmen, was sie als Homonationalismus bezeichnet. Durch Homonationalismus werden der Staat sowie die Nation, so Puar, nicht mehr als schützende Kraft der Heteronormativität sowie als Szene für die Unterdrückung der homosexuellen Subjekte gesehen, sondern als ein Raum für die Förderung des Lebens (Puar 2007, 39). Gewiss lässt sich dieser Prozess auch auf den westeuropäischen Kontext übertragen, in dem insbesondere die Konstruktion des aus den muslimischen Kulturen immigrierenden Subjekts die Homophobie repräsentiert und eine Gefahr für die Werte Westeuropas darstellt. In diesem Zusammenhang führt der Homonationalismus auch zur Verschränkung mit dem Diskurs der Anti-Immigration (ibid., 20). Parallel zu dieser Art der Verschränkung der Diskurse gewinnt das Bild des homosexuellen Subjekts auf der globalen Ebene eine Sichtbarkeit, die dem Image der Nation die Demokratie, den Fortschritt sowie die Freiheit zuschreibt, während die Unterdrückungen und Menschenrechtsverletzungen im eigenen nationalen Kontext unsichtbar gemacht werden (ibid., 16).
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Wie ich in den letzten beiden Unterkapiteln gezeigt habe, konzentrieren sich sowohl die LSBTI*-Bewegungen in Deutschland als auch die in der Türkei darauf, mehr Präsenz im Bereich der Repräsentation zu schaffen, sodass der Gegen-Diskurs der minorisierten Gruppen einen Raum in der dominanzgesellschaftlichen Kultur findet. Johanna Schaffer problematisiert dabei den kausalen Zusammenhang zwischen Sichtbarkeit und politischer Präsenz. In vielen sozialen Bewegungen minorisierter Gruppen, darunter auch LSBTI*-Organisationen, spielt Sichtbarkeit eine zentrale Rolle, und der Zuwachs an Sichtbarkeit wird sehr oft mit mehr politischer Macht in Verbindung gebracht. Schaffer ist der Meinung, dass dabei oft sehr essenzielle Fragen, wie zum Beispiel, in welchem Kontext wer und wie sichtbar gemacht wird, übersehen werden (Schaffer 2008, 12). Diese Fragen sind essenziell, da selbst im Fall von Sichtbarkeit sowie Lesbarkeit Normen rekonstruiert werden. Aus diesem Grund geht es in vielen herrschaftskritischen Anliegen darum, nicht nur einfach repräsentiert zu werden, sondern auch die Normen, die die Repräsentationen gestalten, infrage zu stellen. Dabei diskutiert Schaffer den Kontext der visuellen Anerkennung der minorisierten Gruppen unter der Bedingung eines Souveränitätsgefühls für die majorisierten Gruppen. Als Beispiel führt sie stereotypisierende sowie pathologisierende Darstellungen an, die nicht in Disposition mit der Produktion des Souveränitätsgefühls anderer Subjektpositionen stehen, was zu einer bedingten Form von Anerkennung führt (ibid., 21). In manchen Fällen führt die extreme Sichtbarkeit zu einem Spektakel, indem dieselbe repräsentierte Subjektposition gleichzeitig unsichtbar gemacht, also diskursiv ausgelöscht wird (ibid., 55). Dadurch wird die Vorstellung, dass das, was gelesen und gesehen wird, der Wahrheit entspricht bzw. Anerkennung erhält, in diesem Zusammenhang problematisch. Wie ich in diesem Kapitel zusammengefasst habe, ist das Konzept Sichtbarkeit, anders als die anderen Strategien der queeren Bewegung, wie Cristina Nord betont, aufgrund seiner paradoxen Mechanismen umstritten (Nord 2000, 158). Einerseits bilden die Repräsentationen in der dominanzgesellschaftlichen Kultur einige Ausgangspunkte für alternative Bedeutungsproduktionen innerhalb der queeren Subkulturen, andererseits werden sie von queeren bzw. LSBTI*-Bewegungen kritisiert, und es wird versucht, sie neu zu gestalten. Während einige Studien den Zuwachs an Sichtbarkeit als positive Entwicklung beschreiben, erhellen einige kritische Ansätze die Beziehungen zwischen Sichtbarkeit und Normativität, Ökonomie und Nationalismus.
Diskursanalyse als Methodologie
Grundlagen der Diskursanalyse als eine Methodologie
In seinen Werken, insbesondere in Archäologie des Wissens, Die Ordnung des Diskurses und Sexualität und Wahrheit, erschafft Foucault eine fruchtbare Diskurstheorie, die auch meine Arbeit prägt, die jedoch auf keine explizite Methode zur Diskursanalyse verweist. Insbesondere Foucaults Gedanken über das Konzept „Subjekt“, das mit dem Diskurskonzept verknüpft ist, bilden das Gerüst des Analyseteils der vorliegenden Arbeit. In diesem Kapitel werden zunächst Foucaults Konzeptionen beleuchtet, anschließend wird die in seinen Werken abwesende konkrete Analysemethode mit Anschluss an die Ansätze der kritischen Diskursanalyse, darunter von Siegfried Jäger und Norman Fairclough entwickelte Methoden, ergänzt. In Anlehnung an Foucault verstehe ich unter dem Begriff Diskurs Denksysteme, die in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort systematisch die Subjektpositionen und deren Aussagen konstituieren, die sich jedoch im Laufe der Zeit ändern. Diskurse regulieren, Foucault zufolge, was in einem historischen Kontext gesagt, geschrieben, gedacht und erlebt werden kann. Daher wurde bei der Analyse der Fokus darauf gelegt, gemäß welchen Regeln eine bestimmte Aussage konstituiert wird, welche Bedingungen ihre Existenz bestimmen und welche Korrelationen mit anderen Aussagen zu beobachten sind. In Foucaults eigenen Worten lautet die Frage also: „[W]ie kommt es, dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“ (Foucault 1973, 42). Für Foucault hat der Diskurs eine prioritäre Position in der Konstitution der nicht-diskursiven Ereignisse. In Archäologie des Wissens vertritt Foucault die Auffassung, dass die in der Zeit verstreuten Aussagen, die sich auf das gleiche Objekt beziehen, eine Gesamtheit bilden und dadurch die Subjektpositionen konstituieren. Die Geisteskrankheit (bzw. der Irre) wurde bspw. konstituiert, indem all die Aussagen gemacht wurden, mit denen die Krankheit beschrieben, expliziert, ihre Entwicklung erzählt und beurteilt wurde, d. h., es wurde ihr eine „Sprache verliehen“ (Foucault 1973, 49). Die Vorrangstellung des Diskursiven vor dem NichtDiskursiven bzw. eine Trennung zwischen den Kategorien „diskursiv“ und „nichtdiskursiv“ wurde jedoch von Denker_innen wie Ernesto Laclau und Chantal Mouf-
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fe kritisiert, da die Kategorie „nicht-diskursiv“ tautologisch sei. Wenn das Objekt bzw. Subjekt nur durch den Diskurs erschaffen wird und nur mit diskursiven Formationen seine Bedeutung erlangt, heißt das, dass jedes Objekt, Subjekt und nichtdiskursive Ereignis ein Fragment des Diskursiven in sich beherbergt (McNay 1994, 70–71). Wie die Objekte im Diskurs entstehen, erklärt Foucault anhand von drei Prinzipien, er führt dazu das Beispiel des seit dem 19. Jahrhundert geführten psychopathologischen Diskurses an. Zunächst müssen Gegenstände in der Gesellschaft auftauchen. Dies differenziert sich jedoch in den verschiedenen Gesellschaften und in den verschiedenen Epochen. Beispielsweise wurde der Wahnsinn, als ein Gegenstand des psychopathologischen Diskurses, wahrscheinlich zunächst durch die Familien der Betroffenen und durch Angehörige der diese umgebenden sozialen Gruppen, die mit dem abweichenden Verhalten konfrontiert waren, in den Diskurs aufgenommen. Danach erst haben die Autoritäten der Abgrenzung, wie Medizin, Strafjustiz, kirchliche Autorität usw., den Wahnsinn als Gegenstand beurteilt, bezeichnet, benannt und eingesetzt. Zum Schluss entwickelten sich Spezifikationsraster, die die verschiedenen „Wahnsinnsarten“ gruppierten und klassifizierten (Foucault 1973, 62–64). Diese Prinzipien des Auftauchens, der Abgrenzung und der Spezifizierung sowie auch die aufgestellten Beziehungen zwischen diesen Instanzen gewährleisten die Gestaltung der Gegenstände in einem Diskurs. Diese Gestaltung ermöglicht es, im jeweiligen historischen Kontext über die Gegenstände sprechen zu können. An dieses Thema schließt sich das Konzept des Subjekts bzw. des sprechenden Subjekts an. Foucaults Konzept des Subjekts legt einen Widerspruch gegen die abendländische Vorstellung ein, die im einheitlichen Subjekt den einzigen Ursprung der Bedeutung sieht. Für Foucault gibt es kein prädiskursives Subjekt, sondern das Subjekt ist eine Illusion der diskursiven Formationen. Diesbezüglich wurde Foucault sehr oft mit Denkern wie Roland Barthes assoziiert, die das Ende des Subjekts bzw. des Menschen ausgerufen haben (McNay 1994, 11). Margarete und Siegfried Jäger merken jedoch an, dass Foucault die Existenz des Subjekts nicht leugnet, sondern sich gegen den Subjektivismus bzw. Individualismus richtet, und diesbezüglich das Subjekt nur in seinem sozio-historischen Kontext anerkennt. „Den Menschen gibt es demnach für Foucault nicht, wohl aber das jeweils unterworfene Subjekt“ (Jäger und Jäger 2007, 22). In Foucaults Konzeptualisierung ist also nicht ein Subjekt zu finden, das dem Diskurs seine Bedeutung gibt, sondern diskursive Formationen, die es den Subjekten ermöglichen, einen Platz im Diskurs zu finden bzw. eine Subjektposition für sich selbst zu erschaffen. Diesbezüglich soll die Analyse, Foucault zufolge, den Fokus auf folgende Fragen legen: Zunächst muss die Frage gestellt werden: Wer spricht? Das sprechende Subjekt soll nämlich die Qualifikation haben, einen bestimmten Diskurs hervorbringen zu dürfen. Diesbezüglich ist sein Status einerseits ein Zeichen für den Wahrheitscharakter des Diskurses, der von ihm hervorgebracht wird,
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andererseits für das Recht auf den Diskurs. Bestimmte Diskurse sind nämlich nur Subjekten mit einem bestimmten Status zugänglich. Ein Beispiel dafür ist der medizinische Diskurs, der seinen Wahrheitscharakter nur dann erlangt, wenn er von Ärzt_innen hervorgebracht wird (Foucault 1973, 75). Mit dem sprechenden Subjekt kommen also Diskurse ins Spiel, die stark mit Institutionen verknüpft sind. Deswegen soll sich die zweite Frage auf die Institution konzentrieren, in der oder durch die das Subjekt spricht. Der medizinische Diskurs wird bspw. an Orten wie Krankenhäusern, Privatpraxen, Bibliotheken und Laboren sichtbar, die für den Diskurs bzw. das sprechende Subjekt (Arzt) einen legitimen Ursprung und Anwendungspunkt bieten. Einzelne Institutionen sollten diesbezüglich einerseits mit Blick auf deren interne Strukturen, andererseits mit Blick auf die Position, die sie in der sozialen Beziehung vertreten, betrachtet werden (Foucault 1973, 76). Die letzte Frage, die Foucault zufolge bei der Analyse gestellt werden soll, richtet sich auf die Position des Subjekts in der diskursiven Beziehung. Ein Subjekt kann mit Bezug auf das Objekt oder das Wissen die Position des Fragenden, Horchenden, Betrachtenden etc. einnehmen bzw. verschiedene Wahrnehmungssituationen verkörpern (Foucault 1973, 78). Diese drei Aspekte des sprechenden Subjekts, der Institution und der Position des Subjekts gemäß dem Wissen, die ich in Norman Faircloughs Methode der Analyse der Intertextualität integriere, bilden gleichzeitig die Grundlagen für die Feinanalyse, die sich auf die intertextuelle Struktur der Artikel konzentriert (vgl. Fairclough 2003). Die Subjekte, die in den Texten auftauchen bzw. zum Sprechen kommen, bringen dementsprechend Diskurse hervor, die das narrative Gerüst des Textes bilden. Einerseits werden verschiedene Diskurse im Text repräsentiert, andererseits Beziehungen zueinander hergestellt. Die Institutionen, in denen sich Subjekte befinden oder durch die Subjekte zum Sprechen kommen, weisen ebenfalls auf die diskursiven Beziehungen und auf die Hierarchie hin, die zwischen Subjekten hergestellt werden, da die Institutionen häufig mit dem Status des sprechenden Subjekts assoziiert sind. Die Produktion des Diskurses wird Foucault zufolge in jeder Gesellschaft kontrolliert, organisiert und kanalisiert, da das sprechende Subjekt gleichzeitig eine gewisse Gefahr darstellt. Mit etlichen Prozeduren werden die „Kräfte und die Gefahren des Diskurses“, der von dem sprechenden Subjekt hervorgebracht wird, gebändigt. Ausschließungen sind beispielsweise solche Prozeduren, die das Recht des sprechenden Subjekts durch Verbote und Grenzziehungen kontrollieren. Foucault ist der Meinung, dass die Verbote insbesondere in den Bereichen Politik und Sexualität immer zahlreicher werden. Man weiß schließlich, „dass man nicht das Recht hat, alles zu sagen, dass man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann“ (Foucault 1991, 11). Dabei haben jedoch nicht alle Subjekte das gleiche Recht, Diskurse zu produzieren. Foucault nennt den Wahnsinnigen als Beispiel dafür, dass der Diskurs mancher Subjekte nicht ebenso zirkulieren kann (darf) wie die anderer. Selbst wenn der Wahnsinnige zum Sprechen kommt, heißt das nicht,
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dass sein Diskurs einen Wahrheitscharakter erlangt; es gibt also eine Grenzziehung zwischen dem Wahren und Falschen, die ebenfalls das Recht des sprechenden Subjekts reguliert. Der Wille zum Wissen, der vor allem in industrialisierten Gesellschaften zu beobachten ist, ist ein weiteres Ausschließungssystem, das den Wahrheitscharakter des Diskurses bestimmt (Foucault 1991, 12–15). In seinem Werk Die Ordnung des Diskurses zählt Foucault weitere Prozeduren auf, die die Produktion des Diskurses regeln, sie werden jedoch wegen ihrer geringen Relevanz für die Analyse dieser Arbeit hier nicht erläutert. Eine Reihe von Prozeduren, die den Zugang zu den Diskursen kontrollieren und beschränken, bildet dagegen eine weitere Grundlage für die Analyse: „Niemand kann in die Ordnung des Diskurses eintreten, wenn er nicht von vornherein dazu qualifiziert ist. Genauer gesagt: nicht alle Regionen des Diskurses sind in gleicher Weise offen und zugänglich; einige sind stark abgeschirmt (und abschirmend), während andere fast allen Winden offenstehen und ohne Einschränkung jedem sprechenden Subjekt verfügbar erscheinen“ (Foucault 1991, 26).
Dieser Aspekt der Regulation des sprechenden Subjekts bzw. die Kontrolle und Beschränkung des Zugangs zum Diskurs fließt ebenfalls in die Analyse der Intertextualität ein. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob die Stimmen der einzelnen Subjekte im Text repräsentiert oder ob manche von ihnen zum Schweigen gebracht werden. Eine weitere Frage, die bei der Analyse gestellt wird, richtet sich auf die in dem Text hergestellte Korrelation zwischen den Subjektpositionen und Diskursen: Ist z. B. das Recht auf Definition, Beschreibung, Kategorisierung der Transsexualität ausschließlich Ärzt_innen vorbehalten, oder finden die Selbstdefinitionen der transsexuellen Identitäten einen Platz im Text, oder anders formuliert, sind die Prozeduren der Beschreibung, Definition und Kategorisierung der queeren Identitäten auf die Ärzt_innen, also auf den medizinischen Diskurs bezogen oder auf die Subjekte? Die Korrelation zwischen dem medizinischen Diskurs und den Ärzt_innen weist nämlich darauf hin, dass der Zugang zum Diskurs eingeschränkt ist. Die Analyse des Diskurses ist jedoch, Foucault zufolge, keine reine linguistische Analyse der Bedeutung. Für Foucault ist ein Diskurs keine Gesamtheit von Zeichen, sondern ihm zufolge handelt es sich dabei um Praktiken, die systematisch diejenigen Gegenstände gestalten, von denen sie sprechen. „Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf die Sprache. Dieses mehr muss man ans Licht bringen und beschreiben“ (Foucault 1973, 74). Diesbezüglich verstehe ich unter Diskursanalyse nicht die Techniken des linguistischen Formalismus, sondern eine Analyse, die die Beziehung zwischen den Texten und Institutionen darlegt, die Machtverhältnisse, die im Text konstituiert werden, aufzeigt und die Transformationen der Bedeutungsstrukturen beobachtet. Infolgedessen orientiert sich diese Arbeit an einer Methode, die eine Brücke zwischen den
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Sozialwissenschaften und der Linguistik schlagen soll, wie es in der sozialwissenschaftlichen Diskursforschung, die sich für den sozialen Zusammenhang zwischen Sprach- und Zeichengebrauch und Bedeutungsproduktion interessiert, zu sehen ist (Keller 2007, 95). Insbesondere bei der Betrachtung der verschiedenen Aspekte der Berichterstattung muss die Analyse die sozialen Bedingungen ihrer soziokognitiven Funktionen präzisieren. Dies hat auch die seit den 1970er-Jahren zu beobachtende Entwicklung der Diskursanalyse gezeigt (van Dijk 1985, 71). Die späteren Ansätze der Germanistik, bspw. der Ansatz von Busse/Hermanns/Teubert (vgl. Busse u.a. 1994), die sich ebenfalls an Foucaults Schriften orientieren, sind jedoch stark von der Linguistik geprägt und stellen daher keine nützliche Methode für eine solche Herangehensweise dar. Dagegen bieten die Ansätze der kritischen Diskursanalyse, die seit den 1990er-Jahren entwickelt wurden und die einen kritischen Blick auf den Zusammenhang zwischen dem Diskurs und den sozialen Machtverhältnissen werfen, einige Ausgangspunkte für die Entwicklung einer konkreten Analysemethode. Die kritische Diskursanalyse, die darauf zielt, die Konstruktion der Machtverteilung im Diskurs zu analysieren, ist unter anderem deswegen verwendbar, da sie einen interdisziplinären Ansatz darstellt, also nicht nur auf den Bereich der Linguistik beschränkt ist. Insbesondere Norman Faircloughs Schriften zeigen konkrete Methoden auf, um einen Zusammenhang zwischen dem Diskurs und dem sozio-historischen bzw. sozio-ökonomischen Umfeld des Diskurses herzustellen. In Language and Power vertritt Fairclough die Position, dass Diskurse drei verschiedene Dimensionen haben, die miteinander verknüpft sind und auf die sich die Diskursanalyse richten soll: Dies sind die Produktionsprozesse der Texte, Prozesse der Interpretation, in denen die Texte Quellen der Bedeutungswahrnehmung sind, und der Kontext, also das sozio-historische und sozio-ökonomische Umfeld des Textes. Die Dimensionen zeigen also den Zusammenhang zwischen dem Text und der Gesellschaft auf. Daher kann sich die Analyse nicht nur auf den Text beschränken, sondern sie muss gleichzeitig die sozialen Bedingungen und intentionellen Strukturen des Textes beleuchten (Fairclough 1989, 24–25). Die Analyse besteht folglich aus drei Schritten, die in Dialog mit den drei Dimensionen des Diskurses treten. Der erste Schritt ist die Beschreibung (description) der formalen Einheiten eines Textes, wie z. B. Begrifflichkeiten, Metaphern oder Pronomen, die im Text erscheinen, daraufhin folgt die Interpretation, die eine Brücke zwischen dem Text und der Interaktion schlägt; sie entziffert also die Wahrnehmung eines Textes dadurch, dass sie die Deutungen eines Diskurses sukzessiv und interpretativ aus den Daten abliest. Dabei stellen sich Fairclough zufolge einige Fragen, die die Interpretation des Textes gestalten: Von welcher Handlung (action) ist im Text die Rede? Beispielsweise könnte es um einen Bericht über eine Festnahme gehen, die mit der Institution der Justiz verknüpft ist, was wiederum einige Hinweise für die Interpretation gibt. Die Frage, wer in die Handlung involviert ist, beschäftigt sich im Grunde mit den Subjektpositionen, die ebenfalls mit den Institu-
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tionen verknüpft sind. Von Foucaults Theorie beeinflusst, merkt Fairclough an, dass unterschiedliche Situationen unterschiedliche Positionen hervorbringen. Ein Subjekt kann also beispielsweise abhängig von der Situation das sprechende Subjekt, das horchende Subjekt etc. verkörpern. Die Frage nach den Beziehungen wirft den Blick auf die Beziehungen zwischen den Subjektpositionen und die Beziehung zu den Machtverhältnissen. In einem Bericht bspw. über eine Festnahme würde die Beziehung zwischen der Polizei und den Festgenommenen (als Repräsentanten der Öffentlichkeit) einige Hinweise auf die Machtverhältnisse liefern. Die letzte Frage ist, was für eine Rolle der Sprache zu beobachten ist. So kann es z. B. um eine Umfrage oder ein Interview gehen, wo das Sammeln von Informationen gewisse Machtverhältnisse mit ins Spiel bringt (Fairclough 1989, 147–148). Schließlich kommt man zum letzten Schritt der Analyse, der Erklärung (explanation) des sozialen Umfelds, also der sozio-historischen bzw. sozio-ökonomischen Kontexte des Diskurses, die die Produktion und die Interpretation des Textes stark prägen. Dabei basiert die Analyse auf den institutionellen und situationsbezogenen Machtverhältnissen, die im Text offensichtlich oder latent konstituiert sind. Eine der Fragen, die, Fairclough zufolge, in diesem Schritt gestellt werden sollen, ist, ob der Diskurs einen Beitrag zur Transformation der Machtverhältnisse leistet oder ob er sie aufrechterhält (Fairclough 1989, 166). Fairclough weist darauf hin, dass sich der zweite und der dritte Schritte der Analyse, die Interpretation und die Erklärung, auf die komplexe und unsichtbare Ebene des Diskurses konzentrieren und daher von der Interpretation der Forscher_innen abhängig sind. Obwohl es einige positivistische Versuche gibt, die Texte ohne Interpretation zu analysieren, hält Fairclough dies für eher vergeblich: „But try as they may, analysts cannot prevent themselves engaging with human products in a human, and therefore interpretative, way“ (Fairclough 1989, 27). Dabei ist es jedoch wichtig, dass die Forscher_innen klar ausdrücken, anhand welcher Quellen die Interpretation und die Darlegung des Diskurses durchgeführt wurden (Fairclough 1989, 167). Als eine Antwort auf die Frage, wie der Diskurs in den Medien von den Machtverhältnissen, wie Sexismus und Heteronormativität, aber auch von der Machtverteilung zwischen den Gruppen, z. B. zwischen Wissenschaftler_innen und der Öffentlichkeit, beeinträchtigt ist und wie er wiederum die Machtverhältnisse beeinflusst, führt Fairclough in seinem Buch Media Discourse neue Analysedimensionen ein, und zwar die der Repräsentationen (representations), der Identitäten (identities) und der Beziehungen (relations). Diese Dimensionen sollen bei der Analyse des Diskurses, der in den Medien erscheint, eine Struktur bilden helfen. Dabei ergeben Fragen, wie z. B. danach, wie die Welt in einem Artikel repräsentiert ist oder welche Ereignisse darin auftauchen, die Dimension der Repräsentationen; die Frage, welche Identitäten (z. B. Reporter, Publikum oder befragte Person) in einem Text auftauchen, bezieht sich auf die Dimension der Identitäten; die letzte Dimen-
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sion umfasst schließlich, was für eine Beziehung zwischen den Identitäten (Reporter – Publikum, Expert_in – Publikum etc.) aufgebaut wird (Fairclough 1995, 5). Die drei Analyseschritte der Diskursanalyse, die Fairclough in Language and Power entwickelte, wurden in Media Discourse weiterbearbeitet und an die Analyse der Diskurse in den Medien angepasst. Dabei konzentriert sich die Analyse auf drei verschiedene Facetten des Diskurses, nämlich Text, Diskurspraktiken und soziokulturelle Praktiken. Die konstruktivistische Perspektive der Cultural Studies beschreibt nicht nur Verschriftlichtes bzw. Gesprochenes, sondern auch visuelle, auditive sowie audio-visuelle Produkte als Texte (Lünenborg 2005, 49). In ähnlicher Weise legt Fairclough in seiner Analyse der Texte den Fokus auf das Vokabular der Semantik und Phonologie, da er unter Texten nicht nur geschriebene, sondern auch gesprochene (wie im Radio) und visuelle Texte versteht (wie im Fernsehen oder in Zeitungen). Bei der Analyse der diskursiven Praktiken liegt der Fokus zum einen auf der Produktion des Textes, das heißt auf redaktionellen bzw. institutionellen Entscheidungen in Bezug auf den Text, und zum anderen auf der Konsumption bzw. Rezeption des Textes, wobei es bspw. um die Frage geht, wie das Fernsehen zu einem Teil der Tagesroutine wird. Derartige Untersuchungen zu Textproduktion und -rezeption sind allerdings aus forschungspraktischen Gründen nicht das Anliegen dieser Arbeit. Die Intertextualität, die in Media Discourse konzeptualisiert wird, ist auf die Verschränkung von Genres (wie z. B. „Unterhaltung“ und „Information“) konzentriert (Fairclough 1995, 61). Ich orientiere mich jedoch eher an Faircloughs späterer Konzeptualisierung von Intertextualität, die formuliert ist als eine Analyse der Stimmen der unterschiedlichen Parteien, die in den Texten repräsentiert oder ausgeblendet sind. Ebenso von Interesse sind die soziokulturellen Praktiken eines Diskurses, die als dessen institutioneller und gesellschaftlicher Kontext definiert werden können (Fairclough 1995, 62). An dieser Stelle möchte ich auf das Konzept der Intertextualität näher eingehen. In Anlehnung an Fairclough verstehe ich darunter die in einem Text erkennbare Präsenz verschiedener Elemente aus anderen Texten, die man auch als Diskursfragmente bezeichnen könnte. Ein einfaches Beispiel dafür ist das Zitat, das in einem Text sowohl in Form der direkten als auch der indirekten Rede dargestellt sein kann. Intertextualität ist jedoch ein vielschichtiges Konzept, das nicht nur im Text offensichtlich dargelegte Verbindungen zu anderen Texten umfasst, wie es beim Zitat der Fall ist, sondern auch das, was im Text nicht „gesagt“ wird. Diesbezüglich bringt Fairclough den in der Linguistik verwendeten Begriff der „Annahme“ (assumption) ins Spiel, der Vorannahmen, logische Implikationen und Implikaturen, also Selbstverständlichkeiten, aufweist, die im Text nicht explizit genannt werden. Was nicht gesagt wird, wird als „selbstverständlich“ angenommen, was wiederum mit etlichen Implikationen im Text kodiert wird, das heißt, die „Annahmen“ verbinden einen Text mit anderen Texten, oder wie Fairclough es formuliert, mit der „Welt der Texte“ (Fairclough 2003, 40).
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Ein Text ist also eine Konstruktion aus verschiedenen Diskursfragmenten, Texten und Stimmen, die in einem Text entweder offensichtlich repräsentiert oder ausgeblendet werden. Die intertextuelle Analyse bietet dabei eine sinnvolle Methode für den Fokus auf Subjektivität, bzw. sie ist ein hilfreiches Werkzeug, um zu analysieren, welche Stimmen im Text repräsentiert und welche zum Schweigen gebracht werden. Hier geht es darum, signifikante Abwesenheiten im Text festzustellen, um die Stimmen, die durch redaktionelle Entscheidungen (Rekontextualisierung) zum Schweigen gebracht wurden, zu erfassen. Die Analyse rückt gleichzeitig einige Beziehungen ins Blickfeld: z. B. die Beziehung zwischen dem Bericht und dem Ereignis, über das berichtet wird, aber auch die Beziehung zwischen dem Bericht und dem Rest des Textes. Dazu merkt Fairclough an, dass dabei jedes Ereignis, jedes Gespräch, jede Meinung, jede Stimme, über die im Text berichtet wird, von einem Kontext in einen anderen übertragen wird, also gemäß etlichen redaktionelle Entscheidungen wieder kontextualisiert wird, und aus diesem Grund ist die Frage der Intertextualität mit der Frage der Rekontextualisierung verknüpft. Bei der Rekontextualisierung wird die Beziehung zum Originaltext (z. B. zum Redebeitrag, über den in einem Artikel berichtet wird) oder die Rolle des Originaltextes in dem Bericht zu einer essenziellen Frage (Fairclough 2003, 51). Warum wird bspw. die eine Stimme in direkter Rede zitiert und die andere in indirekter Rede, während wieder eine andere Stimme vollkommen ausgeblendet ist? Welche Rolle spielt bspw. die Meinung eines Psychiaters in dem Diskurs eines Artikels, in dem über die Adoptionsrechte lesbischer und schwuler Ehepartner_innen berichtet wird, wenn er in direkter Rede zitiert wird? Faircloughs intertextuelle Analyse bietet bei solchen Fragestellungen und Analyseinteressen ein sinnvolles Werkzeug. Wie diese Methode bei der Feinanalyse der Daten dieser Arbeit verwendet wird, wird im nächsten Kapitel konkretisiert. Ein weiterer wesentlicher Aspekt in Bezug auf Intertextualität ist die Beziehung der Stimmen zueinander, die im Text aufgebaut wird. Die Reihenfolge der Stimmen, wie sich bspw. eine Stimme zur Schlagzeile verhält oder welche Stimme den Text abschließt, prägt häufig den Diskurs des Textes. Fairclough merkt an, dass durch diese Art von Beziehungen eine Spaltung der Stimmen im Text konstituiert wird, die man schlicht als eine Antagonist-Protagonist-Rollenverteilung bezeichnen könnte. Welche Stimme im Text als Antagonist und welche als Protagonist konstituiert wird, ist also unter anderem auch damit verknüpft, welche Reihenfolge und Beziehung die Stimmen zueinander haben (Fairclough 2003, 53–54). Während Fairclough in seinen Schriften nützliche Methoden für einen intensiven Fokus auf den Text liefert, bietet Siegfried Jäger terminologische und analytische Vorschläge, um den Text in seine Diskursverläufe einzuordnen und die Struktur des Diskurses analysierbar zu machen. Im Folgenden wird die von Jäger entwickelte Terminologie zusammengefasst, an der ich mich bei der Analyse ebenfalls orientiere.
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Jäger zufolge tauchen im gesellschaftlichen Gesamtdiskurs verschiedene Themen auf, bspw. das Thema Krieg, die im Laufe der Zeit wiederholt inhaltlich homogene Aussagen produzieren. Diese thematisch einheitlichen Aussagen bilden sogenannte Diskursstränge. Die Analyse soll, Jäger zufolge, das Ziel haben, einen oder mehrere dieser miteinander verschränkten Diskursstränge mit synchronen und diachronen Dimensionen zu analysieren. So kann die Stärke und Dichte ihrer Verschränkungen mit anderen Änderungen, Brüchen und mit einem Wiederauftauchen der Aussagen etc. aufgezeigt werden. Dabei soll die Analyse dadurch durchgeführt werden, dass die inhaltlich einheitlichen Diskursfragmente, also Texte oder Textteile, unter Themen empirisch aufgelistet und deren Inhalte, Häufungen und formalen Strukturen interpretiert werden. Da die Foucaultsche Diskursanalyse anstrebt, eine „Archäologie des Wissens“ oder „Genealogie“ zu betreiben, muss die Analyse, Jäger zufolge, die diskursiven Abläufe in den historischen Verläufen erfassen, was synchrone und diachrone Schnitte im Diskursstrang erforderlich macht. Ein synchroner Schnitt hat eine endliche Bandbreite und zeigt, was zu einem bestimmten Zeitpunkt sagbar ist. Dagegen bilden diachrone Schnitte die Basis für eine historische Diskursanalyse, die sich nicht auf die herrschende Geschichtsschreibung beschränken, sondern authentische Archive ermitteln soll (Jäger 1997; Jäger 2001, 112; Jäger und Jäger 2007, 26). Dies ist der erste Schritt der Analyse, der das Ziel haben soll, den gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu entwirren, der ein „äußerst verzweigtes und ineinander verwurzeltes Netz“ aus mehreren Diskurssträngen darstellt, die auf verschiedenen Diskursebenen erscheinen (Jäger und Jäger 2007, 30). Diskursstränge werden häufig von den diskursiven Ereignissen beeinflusst, d. h. von den großen Ereignissen, die politisch und medial herausgestellt werden. Solche Ereignisse nehmen Einfluss auf den Verlauf, die Richtung und die Qualität des Diskurses und führen dadurch zu Brüchen, Wendepunkten und Transformationen. Eine Analyse, die den Blick auf die diskursiven Ereignisse wirft, ermöglicht einen synchronen Schnitt durch einen Diskursstrang und seine historische Rückbindung, was für die Interpretation der aktuellen Diskurse sehr hilfreich ist (Jäger und Jäger 2007, 27). Diskursstränge operieren auf verschiedenen Diskursebenen, d. h. an den sozialen Orten, wo Diskurse produziert werden. Jäger gibt als Beispiel für eine Diskursebene die Medien. Zugleich wirken in diese aber weitere Diskursebenen ein, wie etwa Wissenschaft, Politik und Alltag. Auf den einzelnen Diskursebenen wie etwa in den Medien, die mit weiteren Diskursebenen verflochten sind, tauchen auch unterschiedliche Diskurspositionen auf. Der Begriff Diskursposition bezeichnet den spezifisch politischen Standort einer Person oder eines Mediums, der erst als Resultat einer Diskursanalyse festzustellen ist. Zu beachten ist, dass ein Text unterschiedliche Diskurspositionen, aber auch Diskursfragmente aus unterschiedlichen Diskurssträngen enthalten kann, was Jäger als Diskursverschränkung bezeichnet. Ein zunächst scheinbar thematisch einheitlicher Text kann sich auch auf andere Themen
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beziehen oder, wie es in Zeitungskommentaren zu sehen ist, unterschiedliche Themen, die im Text auftauchen und die zunächst als nicht zusammenhängend erscheinen, miteinander verschränken (Jäger 2007, 28–29).
Darlegung der Analyseschritte
An die methodischen Diskussionen und Ansichten, die in diskursanalytischen Ansätzen zutage treten, schließt meine Analyse an, die ich im Folgenden konkretisiere. Nachdem dargelegt wurde, wie das Analysematerial, das aus Artikeln der Zeitungen Bild und Hürriyet besteht, ausgewählt und eingegrenzt wurde, wird dessen anschließende Sortierung nach Repräsentationsmustern beschrieben. Die Textanalyse erfolgte in Hinblick auf die Repräsentationen, anhand deren die sozio-historische Verortung der Texte bzw. Diskursfragmente vorgenommen wurde, und wurde in Anlehnung an Fairclough in drei Schritte unterteilt: Zunächst wurde die formale Struktur der Texte beschrieben, und darauffolgend wurden die Textinhalte hinsichtlich der repräsentierten bzw. abwesenden Stimmen und wiederkehrenden heteronormativen Deutungsmuster analysiert. Zum Schluss wurden die sozio-historischen, -politischen und -kulturellen Kontexte der Texte mit einer komparativen Sichtweise interpretiert.
ANALYSESCHRITT 1: AUSWAHL UND EINGRENZUNG DES ANALYSEMATERIALS Für die vorliegende Arbeit, die einen Vergleich zwischen dem Heteronormativitätsdiskurs auf der medialen Diskursebene der Länder Deutschland und Türkei anstrebt, wurde die untersuchte Diskursebene aus forschungspraktischen Gründen zunächst beschränkt auf Printmedien und danach auf zwei Zeitungen, nämlich auf die Bild-Zeitung und Hürriyet, die trotz ihrer unterschiedlichen sozio-historischen Kontexte Ähnlichkeiten aufweisen. Wie ich im einleitenden Kapitel im Detail ausgeführt habe, spielen die beiden Zeitungen eine wesentliche Rolle nicht nur in der Medienlandschaft, sondern auch in der Politik und im Alltag ihrer Erscheinungsländer. Wie bereits dargelegt wurde, weisen auch die Inhalte, Strukturen und Formen ihrer journalistischen Berichterstattung ähnliche Diskurspositionen auf, was es bei der Analyse ermöglichte, die auf der Diskursebene der Medien auftauchenden
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Ähnlichkeiten und Unterschiede des heteronormativen Gesamtdiskurses trotz der unterschiedlichen sozio-historischen und sozio-kulturellen Kontexte erfassen zu können. Neben dem synchronen Vergleich zwischen den Heteronormativitätsdiskursen, die in Bild und Hürriyet in Umlauf gebracht werden, wurde in dieser Arbeit auch eine Archäologie bzw. Genealogie der Heteronormativität betrieben, indem der Verlauf des Heteronormativitätsdiskurses, der die (Un-)Sichtbarkeit des queeren Subjekts reguliert, auf der Basis seiner Einbrüche und Transformationen beobachtet und indem seine Häufigkeit und sein Wiederauftauchen erfasst wurden; dies ergab letztendlich einen diachronen Schnitt durch den Diskursstrang der Heteronormativität. Daher musste der Untersuchungszeitraum in zwei Schritten eingegrenzt werden. Bei der ersten Eingrenzung wurden die Anfangs- und Abschlusspunkte des diachronen Schnitts festgelegt. Dabei geriet das Jahr 1969 wegen seiner Bedeutung für die queere Geschichte der untersuchten Länder in den Vordergrund. Wie bereits im zweiten Kapitel ausführlich dargestellt, fungiert das Jahr 1969 wegen des Stonewall-Aufstands, der die moderne queere Bewegung nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in der Türkei und in Deutschland wesentlich beeinflusste, als ein zentraler Bezugspunkt, auf den sich selbst die gegenwärtigen Diskussionen und Produktionen des Gegendiskurses beziehen. Auch aufgrund der neuen linksoppositionellen Politik, die gegen Ende der 1960er-Jahre die Sexualpolitik in Deutschland stark prägte und die auch den Weg für die Entstehung der queeren Politik bereitete, ist 1969 ein wichtiger Zeitpunkt (Herzog 2005, 220). Ebenfalls 1969 wurden sexuelle Praktiken zwischen erwachsenen Männern durch Liberalisierung des Paragrafen 175 als straffrei festgelegt, was die ersten schwulen Demonstrationen der Nachkriegszeit ermöglichte (Theis 1997, 279). In der Türkei steht das Ende der 1960er-Jahre ebenso für die Entstehung einer neuen links-oppositionellen Politik, die den Weg bereitete für Diskussionen über Feminismus und queere Politik, wenn diese auch verspätet stattfanden (Partog 2012, 170). Aus forschungspraktischen Gründen wurde das Jahr 2010 als Endpunkt des untersuchten Zeitraums ausgewählt. In diesem Jahr wurde die Forschung bzw. die Sammlung des Analysematerials durchgeführt. Da der Zeitraum von 1969 bis 2010 eine Fülle von Material umfasst, musste eine zweite Eingrenzung vorgenommen werden. Dies geschah durch die Konzentration auf mögliche Wendepunkte, die enge Zeiträume umfassen, jedoch unregelmäßig im diachronen Schnitt verstreut sind. Bei der Feststellung der möglichen Wendepunkte war einerseits die queere Geschichtsschreibung in deutscher (u.a., Dennert, Leidinger und Rauchut 2007; Rimmele 1997; Theis 1997) englischer (u.a. Alwood 1996; D’Emilio 2007; Gould 2009; Marcus 1992) und türkischer Sprache (u.a., Başaran 2014; Erol 2011; Eşsiz 2012) ein Ausgangspunkt. Andererseits bot das digitale Archiv der türkischen Zeitung Milliyet, das sich von der ersten Erscheinung 1950 bis in die Gegenwart erstreckt und sowohl Ereignisse in der Türkei als auch die internationale Ebene umfasst, die Möglichkeit, einen Blick darauf zu wer-
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fen, welche Themen im untersuchten Zeitraum in die Schlagzeilen geraten sind (http://gazetearsivi.milliyet.com.tr). Dies war auch deswegen nötig, da die Geschichte der türkischen queeren Bewegung in der Literatur nur knapp behandelt wird. Daraus ergab sich eine Auswahl von insgesamt 54 Ereignissen für die Erhebung des Korpus in Hürriyet und 52 Ereignissen für die Untersuchung der BildZeitung, die sich aufgrund der großen Rolle, die sie in der Berichterstattung spielen, als Ausgangspunkte eigneten. Zu beachten ist jedoch, dass die Bedeutung der einzelnen Ereignisse stark variiert. Dennoch sind sie in unterschiedlicher Weise relevant für die Fragestellung dieser Arbeit. Beispielsweise markiert die erste queere Demonstration 1972 in Münster zwar einen Wendepunkt in der queeren Geschichte in Deutschland, sie nimmt jedoch in der Berichterstattung keinen großen Raum ein. Dagegen hat die Ermordung Gianni Versaces 1997 die Aufmerksamkeit beider Zeitungen eine lange Zeit erregt, kann aber wiederum nicht als Wendepunkt für die Bewegung bezeichnet werden. Insgesamt strebte die Datenerhebung an, möglichst viele Ereignisse auszuwählen, um einerseits einen umfassenderen Blick auf den diachronen Schnitt zu ermöglichen, andererseits die möglichen Unterschiede zwischen den Tagesordnungen der Massenpresse und der queeren Bewegung analytisch zu erfassen. Bei der Auswahl des Analysematerials wurde jedoch nicht nur ein ereignisbezogenes Vorgehen angestrebt, sondern gleichzeitig wurden Zeitfenster festgelegt, die jeweils alle Ausgaben des Monats, in dem das jeweilige Ereignis eintrat, umfassten. Bei manchen Ereignissen, die länger als einen Monat andauerten, erstreckte sich das Zeitfenster über mehrere Monate. In Anlehnung an Foucault soll dieses integrative Vorgehen „den ,Ort‘ des Ereignisses, den Spielraum seiner Zufälligkeit, die Bedingungen seines Auftretens umschreiben lassen“ (Foucault 1991, 36). Indem der Fokus auf den synchronen Schnitt gelegt wurde, in dem das Ereignis eintrat, konnte der Diskurs aus der Zeit des Ereignisses erfasst werden. Dabei sind auch Geschichten über queere Subjekte in die Analyse eingeflossen, die der queeren Geschichtsschreibung zwar nicht bekannt sind, die es jedoch ermöglichen, den historischen Aspekt des Diskurses bzw. den Wandel der journalistischen Berichterstattung vertiefend zu beobachten. Insgesamt wurden also Ausgaben von 64 Monaten der Bild-Zeitung und 77 Monaten der Hürriyet zwischen 1969 und 2010 durchgesehen, woraus ein Textkorpus von insgesamt 624 Artikeln erstellt wurde. In Hürriyet erschienen 370, in der Bild-Zeitung mit insgesamt 254 wesentlich weniger Artikel. Eine Liste der ausgewählten Ereignisse sowie der analysierten Ausgaben ist im Anhang zu finden.
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ANALYSESCHRITT 2: DIE ORDNUNG DES ANALYSEMATERIALS Eine der Schwierigkeiten der vorliegenden Arbeit bestand in dem großen Umfang von Themen bzw. Diskurssträngen, die unregelmäßig im diachronen Schnitt verstreut waren. Ein erster Versuch, Diskursfragmente gleicher Inhalte nach Themen zu ordnen, wie Jäger vorschlägt, war aufgrund der unterschiedlichen soziohistorischen Kontexte erfolglos. Neben den großen Diskurssträngen, wie „AIDS“ oder „CSD“, die in beiden Ländern thematisch einheitliche Aussagen produzierten, standen zahlreiche kleinere Diskursstränge, wie „Operationen der intersexuellen Personen“ oder „Displacement der Trans* Community“, die aufgrund ihrer länderbzw. medienspezifischen Inhalte nicht zu einem einheitlichen Diskursstrang verdichtet werden konnten. Da in der vorliegenden Arbeit unter anderem ein synchroner Vergleich angestrebt wurde, musste die Rekonstruktion der Diskursstränge kein Hindernis für eine vergleichende Analyse darstellen. Dabei erschien das Ordnen der Diskursfragmente nach Subjektivierungsmustern als geeignetes Vorgehen, da nicht immer die gleichen Themen, sondern häufig ähnliche Deutungs- und Repräsentationsmuster der queeren Subjekte in beiden Zeitungen zu erfassen waren. In Anlehnung an Johanna Schaffer (vgl. 2008) verstehe ich Subjektivierung als einen Prozess des sich kontinuierlich mit Diskursen, Räumlichkeiten, Personen sowie Bildern In-Verbindung-Setzens, wodurch dem Individuum ein Platz in der Repräsentation zugeordnet wird (ibid., 143-145). Dieser Prozess der Subjektivierung weist im Laufe der Zeit ähnliche, sich wiederholende diskursive Strukturen auf, was zur Herausbildung etlicher Muster führt. Die Analyse beruhte also auf der Untersuchung solcher Muster und zur Herausbildung von Strängen, die sich von Jägers Konzeptualisierung teilweise unterscheiden und die mit der Rekonstruktion der Repräsentationen überlappen. Die Feststellung der im diachronen Schnitt wiederholt auftauchenden Repräsentationen, die auf verschiedenen Facetten der Deutungsmuster queerer Subjekte basieren sollten, erfolgte in Anlehnung an die von Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss entwickelte Grounded Theory (Glaser und Strauss 1968). In der Literatur wird die Grounded Theory häufig zur Rekonstruktion von Deutungsmustern angewendet. Dies erfolgt, indem die jeweiligen Passagen der untersuchten Texte, die Forschungsfragen und relevante Dimensionen, wie „Fremdpositionierung“, „Akteure“ etc., enthalten, durch Kodierung zu abstrakten Kategorien verdichtet werden (Keller 2007, 104–106). Dabei ist das Ziel, die Konzepte während der Auseinandersetzung mit dem Material zu entwickeln (Strübing 2008, 19). Das Wesentliche, also die in dem empirischen Material existierenden Phänomene, wird mit verallgemeinernden und typisierenden theoretischen Begriffen beschrieben (Breuer 2010, 71). Andreas Heilmanns Analyse der Subjektivierungen homosexueller Männlichkeit erfolgt bspw. nach dieser Methode (vgl. Heilmann 2011).
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Im Anschluss an Strauss und Corbin (1996) erfolgte die Rekonstruktion der Repräsentationsmuster durch eine Kodierung in drei Schritten. Im ersten Schritt der offenen Kodierung wurden die einzelnen Diskursfragmente verdichtet, und zwar nach Subjektivitäten, also Kategorien wie Lesbe, Schwuler, Trans* etc. Diejenigen Diskursfragmente, die auf keine eindeutige Subjektivität hinwiesen, wurden als „ambigue“ kodiert. Eine der Schwierigkeiten dieser Arbeit, in der die Diskursanalyse der medialen Texte mit queertheoretischer Hermeneutik verknüpft werden sollte, bestand in diesem Schritt der Verdichtung der Diskursfragmente, d.h. in der Rekonstruktion von genau solchen Kategorien, die in den queertheoretischen Ansätzen kritisiert werden. Die Annahme besteht jedoch darin, dass die medialen Repräsentationen von Subjektivitäten auf Kategorien der Heteronormativität beruhen; daher muss eine Analyse dieser Repräsentationen die auf der Ebene der journalistischen Sprache als „essenziell“ konstruierten Kategorien betrachten. In diesem Schritt der Kodierung ging es um die Frage, von welcher Subjektivierung der Text überhaupt handelt. Hier wurden die Kodes nach drei Kriterien festgestellt: 1) Was für eine Selbstdefinition liefert das Subjekt? Entscheidend waren hier die repräsentierten Stimmen der sprechenden Subjekte. 2) Falls der Text keine Selbstdefinition repräsentierte, wurde die Frage gestellt, was für eine Definition der Text liefert, bzw. welche Deutungsmuster dem Subjekt zugeschrieben werden. 3) Parallel dazu wurde auch die Repräsentation des queeren Subjekts mit Bezug auf ihre Historizität bzw. auf andere Texte aus dem synchronen Schnitt zu einer Kategorie verdichtet. Im zweiten Schritt der axialen Kodierung wurden die mit den Subjektivitäten in Beziehung gesetzten Themen, Deutungsmuster und Phänomene, die für die Klärung der Forschungsfragen relevant waren, festgestellt. Hier ging es hauptsächlich um die Frage, mit welcher Subjektivität die im diachronen Schnitt sich wiederholenden Deutungsmuster wie „Sexarbeit“, „Eheschließung“, „Outing“, „Anerkennung“, „Vertreibung“, „Operation“, „Schönheit“ etc. in Zusammenhang gebracht werden. Beispielsweise tauchten bei den Repräsentationen von Trans*-Personen wiederholt die Deutungsmuster „Sexarbeit“, „Profit“ und „Operation“ auf. Im letzten Schritt der selektiven Kodierung wurden die in den ersten beiden Schritten entwickelten Kategorien zu Kernkategorien verdichtet. Entscheidend war hierbei zu untersuchen, ob die Deutungsmuster sowie Themen, die mit bestimmten Subjektivitäten in Zusammenhang gebracht werden, zu einer abwertenden oder normalisierenden Repräsentation führen. Am Beispiel der Repräsentation von lesbischen Frauen wurden diesbezüglich die Kodes „Lesbe“ (ein Kode der offenen Kodierung) und „Eheschließung“ (ein Kode der axialen Kodierung) zu der Kernkategorie „Normalisierung“ bzw. „Normalisierung des lesbischen Subjekts“ verdichtet, was ich als ein Repräsentationsmuster beschrieben habe. Dadurch entstanden Stränge in den diachronen Schnitten der beiden untersuchten Zeitungen, die auf Repräsentationsmustern beruhten. Die Analyse konzentrierte sich diesbezüglich auf den Verlauf der Repräsentationsmuster, die in den beiden Medien erkennbar wurden. Untersucht wurde auch, in welchen Momenten in der
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Geschichte die Texte auf eine Transformation des Repräsentationsmusters hinwiesen. Parallel dazu wurden auch die Verschränkungen sowie das Wiederauftauchen von Repräsentationsmustern im Verlauf des Diskurses beobachtet.
ANALYSESCHRITT 3: TEXTANALYSE Nachdem die Diskursfragmente einzelnen Repräsentationsmustern zugeordnet wurden, wurde die Analyse auf der Ebene des Textes in Anlehnung an Fairclough in drei Schritten durchgeführt. In Ergänzung zu Faircloughs Vorgehen wurden auch die Deutungen des heteronormativen Diskurses und ihre Implikationen in Bezug auf queere Subjekte aus den Texten interpretativ und textübergreifend rekonstruiert. Im ersten Schritt der Textanalyse, die Fairclough Beschreibung (description) nennt, wurden die förmlichen Einheiten des Textes, wie z. B. Vokabular, Begrifflichkeiten, Metaphern, Semantik, aber auch Inhalte, Anlässe, Hauptthemen, Textaufbau und Daten des Textes ohne interpretative Herangehensweise zusammengefasst. Texte aus Hürriyet wurden mit dem Buchstaben (H) und Texte aus Bild mit dem Buchstaben (B) gekennzeichnet. Die Quellen der Diskursfragmente, die direkt zitiert wurden, wurden in der Reihenfolge: Zeitung, gekürzter Titel (in Originalsprache) und Erscheinungsdatum zusammengefasst, z. B.: (H, „Kızlararası güzellik yarışmasını...“ 12.09.1969). Bei der Beschreibung der Texte wurde der Fokus auf die typische journalistische Sprache sowie auf Narrationen der Boulevardpresse gelegt. Dabei wurde jedoch nicht die journalistische Qualität der Texte untersucht, sondern es ging um die Frage, welche diskursiven Strukturen in dem Text erkennbar werden, die die Grenzen der journalistischen Sprache überschreiten. Lünenborg zufolge werden die Grenzen der journalistischen Sprache in den Boulevardmedien dadurch überschritten, dass Ironie, Metaphern sowie Übertreibungen ein Teil des Diskurses werden (Lünenborg 2005, 50). Von großer Bedeutung war dabei auch die Frage, inwieweit die journalistischen Texte dem fiktiven Genre ähneln. Die dominierende Sichtweise ist zwar, dass das Konzept „Nachrichten als eine Form von Erzählung“ als nicht anwendbar für die Journalismusforschung gilt, da es sich dabei um eine Form von Fiktion handeln würde (ibid., 153). Wenn man Nachrichten als kulturelle Deutungen von Wirklichkeit bzw. Journalismus als einen kulturellen Prozess betrachtet, in dem Bedeutungsstrukturen produziert werden, gewinnt die narrationstheoretische Analyse jedoch an Relevanz für die Journalismusforschung. Lünenborg ist dabei der Meinung, dass die Narration, insbesondere im Boulevardjournalismus, einen der wesentlichen Bestandteile des Journalismus bildet, da Ereignisse mittels klassischer Erzählmuster vermittelt werden, die das Ziel anstreben, eine kollektive Verständigung über moralische Werte einer Gesellschaft zu erzeugen (ibid., 159). Im folgenden Schritt der Analyse wurden die formalen Einheiten des Materials interpretativ im Hinblick auf den heteronormativen Diskurs und die Rekonstruktion
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des queeren Subjekts in seinem sozio-kulturellen Umfeld bzw. in Bezug auf Institutionen und etliche Subjektpositionen interpretativ abgelesen. Dabei wurden die in Kapitel 3.1 genannten drei Analysedimensionen, nämlich Repräsentationen (representations), Identitäten (identities) und Beziehungen (relations), in Betracht gezogen, die die Grundlagen der Analyse der Intertextualität bilden, die im Anschluss an die drei Analysedimensionen durchgeführt wurde. Die Frage, wie die Ereignisse, in die queere Subjekte involviert sind, dargestellt werden, bildet die Dimension der Repräsentationen. Als Beispiel sei ein Artikel über eine schwule Demonstration angeführt, in dem sich die Dimension der Repräsentation in der Darstellungsweise des Ereignisses herauskristallisiert: Wird das Ereignis als ein politisches oder als ein festliches Ereignis dargestellt bzw. ist die Rede von einer Verschränkung dieser beiden Repräsentationen? Faircloughs Frage nach den Identitäten, die im Text auftauchen, verstehe ich als Frage nach im Text präsentierten Subjektpositionen und Institutionen, die in Anlehnung an Fairclough, zugleich als „Stimmen“ bezeichnet werden können. Welche Subjektpositionen bzw. welche Institutionen sind in dem präsentierten Ereignis festzustellen? Diese Frage beschränkt sich nicht nur auf queere Subjektivität, sondern auch auf Subjektpositionen wie „Mutter“, „Polizist“, „Reporter“ und Institutionen wie „Krankenhaus“, „Medien“, „Familie“, die die wesentliche Grundlage für die Analyse bilden. Nach dem Festlegen der Stimmen, die im Text auftauchen, wird der Frage der Beziehung zwischen den Stimmen nachgegangen, was zur intertextuellen Analyse überleitet. Wie schon im vorherigen Kapitel dargelegt wurde, besteht ein Text aus unterschiedlichen Diskursfragmenten und Stimmen, zwischen denen sich Dialoge bzw. Beziehungen aufbauen, die mithilfe der intertextuellen Analyse genauer untersucht werden können. Der Fokus wird dabei auf die im Artikel sprechenden Subjekte, deren Beziehung zueinander und auf die Institutionen gelegt, in denen die Subjekte zum Sprechen kommen. In der vorliegenden Arbeit wurde folgenden Fragen nachgegangen, um die intertextuelle Struktur der Artikel darlegen zu können: 1)
2)
3)
Welche Stimmen werden im Text präsentiert bzw. welche Subjekte kommen zum Sprechen? Welche Stimmen werden dabei ausgeblendet? Sind signifikante Abwesenheiten festzustellen? Befinden sich die sprechenden Subjekte in Räumlichkeiten von Institutionen? Ist eine Korrelation zwischen den sprechenden Subjekten und Institutionen zu erkennen? Was für „Machtressourcen“, bspw. Geld, Wissen, symbolisches, ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital des sprechenden Subjekts, sind zu beobachten (Keller 2007, 70)? Welche Stimmen werden in direkter Rede und welche in indirekter Rede formuliert? Was für eine Beziehung ist zwischen dem Bericht und dem Originaltext (Ereignis, Redebeitrag, befragte Meinung) festzustellen? Ist der Originaltext gekürzt oder direkt zitiert?
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4)
5)
In welcher Reihenfolge tauchen die Stimmen im Text auf? Mit welcher Stimme bzw. welchen Stimmen identifiziert sich die Schlagzeile? Welche Stimme bringt den Text zum Abschluss? Kann man die Stimmen, die im Text präsentiert werden, einteilen in Protagonist bzw. Antagonist?
Die Fragen orientieren sich nicht nur an Faircloughs, sondern auch an Foucaults Schriften, insbesondere an der Archäologie des Wissens. Wie bereits in Kapitel 3.1 zusammengefasst wurde, ist Foucault der Meinung, dass die erste Frage der Analyse an das sprechende Subjekt gerichtet sein soll. Die Frage „Wer spricht?“ ist auch mit der zweiten Frage verknüpft, nämlich der Frage der Institution. Das sprechende Subjekt repräsentiert nämlich etliche Institutionen bzw. sein Diskurs gewinnt seinen Wahrheitscharakter durch diese Institutionen. Das Recht, zu sprechen bzw. einen Diskurs hervorzubringen, ist mit dem Status des sprechenden Subjekts, insbesondere mit der Institution, durch die das Subjekt zum Sprechen kommt, verbunden (Foucault 1973, 75–76). Die intertextuelle Analyse soll also die Struktur des Textes an den Stellen erkennbar machen, an denen die heteronormativen Machtverhältnisse durch journalistische Entscheidungen (Rekontextualisierung) über Repräsentation der sprechenden Subjekte reguliert werden. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass Fairclough die Machtverhältnisse zwischen „Reporter_in“ und „Leser_in“ auch als eine der zu analysierenden Dimensionen sieht. Dies ist jedoch nicht das Ziel dieser Arbeit. Bei der Analyse wird vielmehr darauf geachtet: 1) was für eine Beziehung zwischen den Subjekten, die im Text repräsentiert werden, aufgebaut wird; 2) was für eine Beziehung zwischen dem Text und den Leser_innen aufgebaut wird, nicht im Sinne von Machtverhältnissen (Reporter_innen sind Aufklärer_innen und Leser_innen sind Verfolger_innen), sondern im Sinne von Positionierung in der Heteronormativität. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, ob die Leser_innen als heterosexuell gesehen werden, was auf Grundlage formeller Eigenschaften des Textes (bspw. Grammatik) dargelegt wird. Ein ähnliches Vorgehen wie in der fünften Frage der obigen Aufzählung ist bei Willy Viehöver (2005) zu sehen, der die Struktur des Textes unter anderem mittels Feinanalyse der Aktanten (Held – Antiheld) untersucht (vgl. Viehöver 2005). Wie die Aktanten im Text in Bezug auf Heteronormativität verteilt werden, ist dabei das Interesse der Analyse. Ein einziger Fokus auf die intertextuelle Struktur des Textes ist jedoch nicht ausreichend, um die „Deutungsbausteine“ der Heteronormativität auf der Ebene der journalistischen Sprache erfassen zu können, da die Texte nicht ausschließlich aus Beziehungen und Dialogen zwischen den Stimmen entstehen. Selbst in den Texten, in denen keine Stimmen auftauchen, zirkulieren Aussagen, die auf Heteronormativität deuten, da jede Verwendung von Sprache, so Keller, eine spezifische Existenz von weltlichen Phänomenen nahelegt (Keller 2007, 93). Die Rekonstruktion der Deutungsmuster, die man, Keller zufolge, als sozialtypischen Sinn einer Aussage-
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einheit definieren kann, ermöglicht es, die Bausteine des Heteronormativitätsdiskurses, also die konkreten Manifestationen in sprachlichen Äußerungen, die im gesellschaftlichen Wissensvorrat zur Verfügung stehen, abzulesen (ibid., 104). In diesem Abschnitt liegt der Fokus darauf, die wiederkehrenden Deutungen und typischen Argumentationsmuster festzustellen, die sukzessiv im Textkorpus überprüft, also „sozial objektiviert“, werden können. (ibid., 106). Um sowohl die intertextuelle Struktur als auch die im Textkorpus festzustellenden Deutungsmuster verdeutlichen zu können, wurden bestimmte Textteile direkt zitiert, und zwar entweder Textteile, die Stimmen von queeren Subjekten enthalten und/oder diese adressieren, oder solche Textteile, in denen es um die Definition, Beschreibung oder Adressierung der queeren Subjektivität geht. Nach der Beschreibung der förmlichen Einheiten der Texte, der Darlegung ihrer Repräsentationen, Identitäten und Beziehungen, der Analyse ihrer intertextuellen Struktur sowie der Rekonstruktion der wiederkehrenden Deutungen begann der letzte Analyseschritt, nämlich die Erklärung (explanation) des sozialen Kontexts der Texte, also ihrer sozio-historischen, sozio-kulturellen und sozio-ökonomischen Besonderheiten, die es in der Analyse ermöglichen, den Blick auf das Ganze zu werfen. Für die Erklärung des sozio-historischen Kontextes wurde einerseits Sekundärliteratur herangezogen, andererseits wurden die Texte im synchronen Schnitt betrachtet. Für die Interpretation des gesellschaftlichen, historischen, kulturellen und politischen Kontexts der Texte bzw. der Reproduktion der heteronormativen Machtverhältnisse in den Texten bezog ich mich auf queertheoretische Quellenkorpora, die im zweiten Kapitel dargestellt und während der Interpretation als Anschlusspunkt wieder erwähnt werden. Als ein Teil dieses Schrittes wurde auch eine Methode der Komparatistik verwendet, um die Besonderheit des Ereignisses bzw. des Diskursstrangs aufzeigen zu können. Insbesondere die Vorschläge der historischen und sprachwissenschaftlichen Komparatistik erschienen als geeignetes Vorgehen (vgl. Haupt und Kocka 1996; Gauger 2000). In der historischen Komparatistik erlaubt es der Vergleich, z. B. Probleme und Fragen zu identifizieren, die ohne ein vergleichendes Vorgehen nicht oder nur schwer erkennbar wären. Die historischen Besonderheiten werden erst dann scharf erkennbar, wenn Vergleichsbeispiele herangezogen werden. Vergleichsbeispiele ermöglichen es in der Komparatistik, Hypothesen zur Bedingung und Ursache eines gesellschaftlichen Phänomens zu testen. Auf diese Weise kann die kulturelle Spezifik und Historizität eines Phänomens festgestellt werden (Haupt und Kocka 1996, 12–14). In der vorliegenden Arbeit wurden synchrone und diachrone Vergleiche gezogen, die einerseits die Erfassung des Wandels des Heteronormativitätsdiskurses und andererseits der sozio-historischen Spezifik der journalistischen Berichterstattung der beiden Zeitungen ermöglichte. In der Sprachwissenschaft bezeichnen Synchro-
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nie und Diachronie nicht zwei verschiedene Phänomene der Wirklichkeit, sondern zwei verschiedene Sichtweisen auf dieselbe Wirklichkeit. Während die synchrone Sichtweise den Fokus auf die Wirklichkeit einer Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt legt, untersucht die diachrone Sichtweise, wie sich die Wirklichkeit der Sprache in der Zeit entwickelt. Sprachwissenschaftler wie de Saussure und Bloomberg waren auch der Meinung, dass sich die beiden Sichtweisen ergänzen sollten (Gauger 2000, 154). Dabei ist ein vergleichendes Vorgehen essenziell, insbesondere für die diachrone Sichtweise (ibid., 155). Bei dem synchronen Vergleich wurden in dieser Arbeit die ausgewählten Artikel aus beiden Zeitungen aus dem gleichen Zeitraum, also aus dem gleichen synchronen Schnitt, untersucht. Obwohl dieser Vergleich häufig auf unterschiedlichen Diskurssträngen beruht, die auf den ersten Blick miteinander „unvergleichbar“ erscheinen, sind die verschiedenen Erscheinungen einer Wirklichkeit bedeutsam, „denn Identisches aufeinander zu beziehen ist sinnlos“ (Zima 2000, 16). Dennoch ist es wichtig, die Gegenstände im Rahmen eines neuen Diskurses zu rekonstruieren, sodass man einen aussagekräftigen Vergleich ziehen kann und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede aufeinander beziehen kann. Dies ermöglicht es vor allem, über das Ganze zu sprechen (ibid., 19). In der vorliegenden Arbeit ermöglichte es beispielsweise der synchrone Vergleich der unterschiedlichen Diskursstränge, die in demselben synchronen Schnitt erscheinen, die sozio-kulturellen und -politischen Ähnlichkeiten und Unterschiede beider Gesellschaften, die die journalistische Berichterstattung prägen, zu eruieren. Bei dem synchronen Vergleich wurde der Fokus jedoch nicht nur auf die lokalen Ereignisse und deren Berichterstattung gelegt, sondern auch auf die Ereignisse, die internationale Aufmerksamkeit erregten. Dabei wurden drei verschiedene Verfahren angewendet, die sich gegenseitig nicht nur ergänzten, sondern auch zur Überprüfung der aufgestellten Hypothesen über die Ähnlichkeiten und Unterschiede dienten, die möglicherweise auf die soziokulturellen und -politischen Eigenschaften der beiden Gesellschaften zurückzuführen sind: a)
b)
Vergleich der Texte über lokale Ereignisse aus dem gleichen synchronen Schnitt, z. B. Berichte über Demonstrationen der Trans*-Sexarbeiterinnen in den 1980er-Jahren in der Türkei und Berichte über das Outing von Politiker_innen in den 1980er-Jahren in Deutschland: Dabei stehen „Politik“ bzw. sozio-politische Ereignisse für die Vergleichsebene. Bei diesem Verfahren ist das Ziel „das Dritte des Vergleichs“, also eine Vergleichsebene zu konstituieren, auf der Texte über unterschiedliche Ereignisse verglichen werden können (Kübler 2011, 99). Auf welcher Vergleichsebene die Artikel der beiden Zeitungen verglichen wurden, wurde jeweils während der Analyse dargelegt. Vergleich der Texte über internationale Ereignisse aus dem gleichen synchronen Schnitt, z. B. Berichte über das Outing von George Michael.
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c)
Der Vergleich der Texte sowohl über unterschiedliche als auch ähnliche Ereignisse aus demselben synchronen Schnitt in einer Zeitung ermöglichte es in der Analyse, die lokalen Eigenschaften des Textes darzulegen. Als Beispiel lassen sich hier sowohl die Texte über die Entstehung queerer Politik als auch über die Verbreitung von AIDS anführen, die im Juli 1987 in Hürriyet erschienen. In diesem Zusammenhang wurden also Vergleiche nur zwischen türkischen Texten aus engen Zeiträumen angestellt.
Um den Wandel der einzelnen Repräsentationsmuster in beiden Zeitungen erfassen zu können, musste neben dem synchronen Vergleich ein diachroner Vergleich gezogen werden, der eine Vorher-nachher-Struktur hatte. Nur dadurch konnten die typischen Argumentationsmuster, wiederkehrenden Deutungen, Implikationen, übergreifenden Narrationen in Bezug auf queere Subjektivierung sowie Transformationen des Heteronormativitätsdiskurses bzw. der Berichterstattung beider Zeitungen analytisch festgestellt werden. Dabei wurden die Texte mit anderen Texten aus dem diachronen Schnitt in Beziehung gesetzt und sowohl Unterschiede als auch Ähnlichkeiten der Dimensionen der repräsentierten Ereignisse, Identitäten, Stimmen sowie Deutungs- und Argumentationsmuster in Bezug auf queere Subjektivität untersucht. Dadurch wurde der sozio-historische Kontext des Textes erkennbar. Die Textanalyse, die auf drei Dimensionen, und zwar auf der Beschreibung des Textes, der Interpretation der Deutungen und der Herstellung des Kontextes aufgebaut wurde, brachte, aufgrund der großen Menge der Texte, auch Schwierigkeiten mit sich. Eine derartige Feinanalyse einzelner Texte war aus forschungspraktischen Gründen nicht nur schwierig, sondern es war auch fraglich, ob dies maßgeblich zur Beantwortung der Fragestellung sowie zum Erkenntnisinteresse der Studie beitragen würde. Aus diesem Grund wurden bei der Textanalyse vor allem diejenigen Texte betrachtet, die für die Forschungsfragen nach der Transformation des Diskurses sowie für den synchronen Vergleich relevant erschienen. Diesbezüglich wurde die Analyse eines Repräsentationsmuster jeweils mit der Feinanalyse des ältesten Textes aus dem diachronen Schnitt begonnen, und zwar mit Bezug auf die oben erwähnten Dimensionen der Beschreibung, Interpretation und Erklärung. Darauffolgend wurden die Texte aus den beiden untersuchten Medien, die zu dem jeweiligen Repräsentationsmuster verdichtet wurden, chronologisch in die Analyse eingebracht. Ebenfalls wurden die diskursiven Ähnlichkeiten sowie Unterschiede, die in dem synchronen Vergleich erkennbar wurden, beispielhaft dargelegt. Diese Methode wurde so lange angewendet, bis eine Sättigung eintrat, d.h., bis die Diskursfragmente des jeweiligen diachronen bzw. synchronen Schnittes keine weiteren bzw. nur noch geringe Unterschiede aufzeigten. Dies war der Punkt in der Analyse, an dem, anstelle einer Feinanalyse der drei Dimensionen, die Diskursstränge, Deutungsmuster sowie Ereignisse, die im Verlauf des journalistischen Diskurses wiederholt auftauchten, zusammengefasst wurden. Erst bei Entdeckung eines Textes bzw. eines Diskursfragments, in dem Veränderungen, d.h. diachrone und synchrone
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Unterschiede, deutlich wurden, wurde wieder die Feinanalyse der drei Dimensionen angewendet. Dies ermöglichte es, Momente zu untersuchen, die den Verlauf des Diskurses wesentlich beeinflussten, und die sozio-historischen bzw. kulturellen Ursachen solcher Momente aufzuzeigen. Zusammengefasst gesagt bestand also die Analyse aus einer Pendelbewegung zwischen dem Text und seinem Kontext sowie aus einer weiteren Pendelbewegung zwischen der Feinanalyse von Texten der Wendepunkte und der Zusammenfassung von Texten des sozio-historischen Hintergrundes des Diskurses.
Begründung der Fragestellung
Oft wird in den queertheoretischen Ansätzen von drei großen Wendepunkten gesprochen, die sowohl den Diskurs der Heteronormativität als auch den Gegendiskurs der queeren Bewegungen wesentlich beeinflusst haben. Als erster Wendepunkt erscheint das Ende des 19. Jahrhunderts, als das medizinische und juristische Interesse an Sexualität Kategorien erschuf, die es zuvor nicht gegeben hatte. Dabei wird häufig Michel Foucault (1979) zitiert, da er in seiner Analyse der Geschichte der Sexualität gezeigt hat, dass Homosexualität erst durch dieses Interesse als eine Kategorie und darauffolgend als eine Identität in Erscheinung trat. Obwohl Homosexualität als Handlung auch vor dem 19. Jahrhundert existierte (vgl. Halperin 2002), entstand die Figur des Homosexuellen erst durch die Beschreibung, Determinierung sowie Klassifizierung der Sexualität in den 1880er-Jahren (vgl. Foucault 1979). Das Jahr 1969 wird als ein zweiter Wendepunkt angesehen, da es in dieser Zeit zum ersten Mal in der Geschichte einen queeren Aufstand gab. Dieser Aufstand, der Stonewall-Unruhen genannt wird, war, wie ich im zweiten Kapitel dargelegt habe, eine Reaktion auf die regelmäßigen Polizeirazzien in queeren Räumlichkeiten. Stonewall bildete insbesondere deswegen einen Bruch im Verlauf des Diskurses, weil damit erstmals Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit als eine Strategie für den Gewinn von mehr politischer Macht auf die Tagesordnung der LSBTI*Bewegung gesetzt wurde (vgl. Marcus 1992; Rutledge 1992). Als ein letzter Bruch, der den Verlauf des Diskurses veränderte, wird oft die AIDS-Krise der 1980erJahre untersucht. Parallel zur Stigmatisierung, die insbesondere durch die mediale Konstruktion von AIDS als einer „Schwulenkrankheit“ (vgl. Hübner 1987; Jones 1992) eintrat und den Diskurs über Sexualität in eine konservative Richtung steuerte, werden dabei neue Strategien wie Lobbying und Sponsoring fokussiert, die von schwulen Organisationen genutzt wurden, um finanzielle Unterstützung für den Kampf gegen die Verbreitung von AIDS zu erhalten. Dies führte dazu, dass der Gegen-Diskurs bestimmter Formen der schwul-lesbischen Organisationen allmählich seinen kritischen Charakter verlor bzw. eine Integration in die dominanzgesellschaftlichen, d.h. vor allem auch in heteronormative Institutionen reklamierte (vgl. Warner 1999; Robinson 2005; Puar 2007; Muñoz 2009). Diese drei Brüche im
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Verlauf des Diskurses weisen allerdings eher auf die Geschichte des englischsprachigen Raums und insbesondere auf die Geschichte der westlichen Welt hin. Aus diesem Grund war es das Ziel dieser Arbeit, die Spezifität des Verlaufs der Heteronormativität in den beiden untersuchten Ländern bzw. im journalistischen Diskurs der untersuchten Länder aufzuzeigen. Die erste Frage zeigt dieses Interesse: Welcher Verlauf in der Darstellung der Heteronormativität ist im journalistischen Diskurs der untersuchten Zeitungen zu beobachten? Obwohl die großen Brüche von der Konstruktion des Homosexuellen am Ende des 19. Jahrhunderts bis zur AIDS-Krise in den 1980er-Jahren, die in den queertheoretischen Ansätzen oft untersucht werden, für die Geschichte des Diskurses in Deutschland relevant sein können, besteht die Annahme, dass insbesondere der Verlauf des Diskurses in der Türkei, aufgrund der sozio-historischen Spezifität des Landes, eine andere Entwicklung zeigt. Deshalb ist es von großer Bedeutung, die Ursachen der sozio-kulturellen Besonderheiten derjenigen historischen Momente, die den Verlauf des Diskurses prägen, ebenfalls als Interesse der Analyse festzulegen. Dabei wird die journalistische Konstruktion von queeren Subjektivitäten mit Blick auf die sozio-historische Entwicklung der untersuchten Länder untersucht. Dies spiegelt wiederum das queertheoretische Interesse wider, das nicht nur Konstruktion von Subjektivitäten analysiert, sondern auch die Transformation der sozio-kulturellen sowie politischen Strukturen, in denen die Subjektivitäten einen Platz finden(Castro Varela, Dhawan und Engel 2011, 2). Aus diesem Grund bilden die folgenden Fragen den Kern der Analyse: Welche Wendepunkte sind zu beobachten, die gleichzeitig den Verlauf der Heteronormativität im journalistischen Diskurs verändert und zu neuen Repräsentationen von queeren Subjekten geführt haben? Warum erscheinen in der journalistischen Konstruktion von queeren Subjekten Transformationen? Welche sozio-historischen Gründe für die Transformationen der Repräsentationen sind festzustellen? Erwähnenswert ist hier, dass diese Arbeit das Subjekts in einer foucaultschen Weise nur als eine Kategorie des Diskurses konzeptualisiert. Von Interesse ist hier nicht das reale Subjekt, das sich außerhalb der journalistischen Sprache positioniert, sondern nur sein In-Erscheinung-Treten durch diese Sprache. „Subjekt“ ist diesbezüglich als eine Kategorie zu denken, die mit den Konzepten von „Repräsentation“ sowie „Konstruktion“ in Zusammenhang gebracht wird. Die Arbeit versteht damit die journalistische Konstruktion bzw. Repräsentation von Subjekten als soziale, d.h. kulturelle und machtgebundene Prozesse, die im zeitlichen Verlauf des Diskurses einen Wandel vollziehen. Das heißt beispielsweise, dass „das schwule Subjekt“ in den 1980er-Jahren journalistisch anders konstruiert wird als in den 2000er-Jahren,
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und dass sich die Repräsentation des Trans*-Subjekts in der Türkei grundsätzlich von den Repräsentationen in Deutschland unterscheiden kann. Journalistische Texte sind, ähnlich wie andere Diskurse, die in Romanen, Filmen sowie Fachbüchern zu erkennen sind, ein Bestandteil der Kultur, also des gesamten Kontextes, in dem die Bedeutungsstrukturen reproduziert werden, die die Subjektivierung steuern. Dabei spielen Texte aus dem Boulevardjournalismus eine besondere Rolle, da sie einerseits über Ereignisse oft in Formen von Narrationen berichten, die zur Unterhaltung dienen, andererseits oft auf persönliche Geschichten zurückgreifen. Die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, Nachrichten und Unterhaltung sowie Fiktion und Dokumentation verschwinden oft in solchen Texten (Fiske 2000, 48). Ereignisse werden oft auf das Persönliche reduziert, damit steht das Subjekt im Zentrum der Narration. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf den persönlichen Geschichten Prominenter, sondern auch denen gewöhnlicher Menschen (Sparks 2000, 10). Dies führt dazu, dass die Leser_innen sich in einer Art emotionalem Voyeurismus befinden, in dem die kritische Distanz zum berichteten Ereignis verloren geht, sowie soziale und politische Kontexte des Ereignisses nicht erkennbar werden (Macdonald 2000, 254). Dabei besteht die Annahme darin, dass das queere Subjekt in den Texten des Boulevardjournalismus ohne Bezug auf soziale sowie politische Kontexte, die Machtverhältnisse reproduzieren, repräsentiert wird. Dies könnte sowohl abwertende Repräsentationen als auch normalisierende Repräsentationen betreffen. In diesem Zusammenhang würde beispielweise in einem Bericht über einen erfolgreichen schwulen Politiker die Frage der Anerkennung des Subjekts auf individuellen Erfolg reduziert, während die sozialen Strukturen, die das Subjekt in der Gesellschaft benachteiligt, nicht repräsentiert werden. Die Analyse einer Bedeutungsstruktur wie der heteronormativen Repräsentation sowie der Konstruktion einer Subjektivität mag auf dem ersten Blick ein zu abstraktes Bestreben sein. In Anlehnung an John Hartley (1996) bin ich jedoch der Meinung, dass der journalistische Text aufgrund seines Anspruchs an Wahrheit und aufgrund seiner Rolle an den wichtigsten Wendepunkten die Bedeutungsstrukturen erkennbar und untersuchbar macht, die in der gesamten Gesellschaft in Umlauf gebracht werden und die sonst zu abstrakt für eine Analyse sind (Hartley 1996, 3). Einige Theoretiker_innen, darunter John Fiske, sind dabei der Meinung, dass die Geschichten im Boulevardjournalismus näher an gewöhnlichen Menschen sowie deren Interessen sind als die im seriösen Journalismus erzählten (Fiske 2000, 4647). Eine Analyse des Diskurses des Boulevardjournalismus bietet also unter anderem die Möglichkeit, die populären Bedeutungsstrukturen über Sexualität sowie Subjektivität aufzuzeigen, die in der Massenkultur viel stärker verbreitet werden als im seriösen Journalismus und anderen Diskursen der Hochkultur. Des Weiteren ermöglichen es Texte des Boulevardjournalismus, die sozialen, kulturellen, politischen sowie historischen Kontexte zu verstehen, mit denen auch die alternativen Repräsentationen der Gegenöffentlichkeit im Verhältnis stehen, indem sie einen konstanten Widerstand gegen die dominanten Repräsentationen darstellen.
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Wenn man journalistische Texte als Bestandteil der Kultur betrachtet, kann eine komparative Betrachtungsweise sowohl sozio-kulturelle als auch journalistische Unterschiede und Ähnlichkeiten der beiden untersuchten Medien erkennbar machen. Erst durch die komparative Analyse werden nämlich die unterschiedlichen Erscheinungsweisen eines Diskurses deutlich, was gleichzeitig dazu führt, dass die Selbstverständlichkeit eines Diskurses in transnationalen Kontexten an Bedeutung verliert. Beispielsweise kann die Konstruktion des lesbischen Subjekts in der Türkei in diesem Zusammenhang einen anderen Verlauf aufweisen als seine Konstruktion in Deutschland. Aus diesem Grund stellt die Arbeit die folgende Frage: Welche diskursiven Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Medien sind zu eruieren? Im Rahmen Begründung der Fragestellungen wird auch der Erkenntnisgewinn dieser Arbeit für verschiedene Disziplinen deutlich, etwa die Kommunikationswissenschaften, queertheoretische Studien und diskursanalytische Ansätze. Die Arbeit setzt zunächst die diskursive Konstruktion von Heteronormativität ins Zentrum des Interesses, die in kommunikationswissenschaftlichen Studien oft vernachlässigt wird. Damit werden die unterschiedlichen Momente der Produktion des journalistischen Textes, sowie die Reproduktion seiner Bedeutungen, ähnlich wie bei anderen Machtverhältnissen als Momente verstanden, in denen die Kategorien der Heteronormativität reproduziert werden. Diese Arbeit stellt damit einen Beitrag zum Verständnis der journalistischen Textproduktion in ihrem Ablauf dar. Sie untersucht, in welcher Weise Ereignisse zu medialen Storys verarbeitet werden und von welchen Bedeutungsstrukturen dieser Prozess geprägt ist. Untersucht werden dabei Kategorien, die Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit als Normen in Gang setzten. Von Bedeutung ist dabei, dass die Methode, die auf drei unterschiedliche Dimensionen eines Diskurses (vgl. Fairclough 1995) fokussiert und dabei den Text in seinem Kontext verortet, den journalistischen Text nicht nur als eine einseitige Konstruktion betrachtet, in der die Ressource einer medialen Bedeutung die absolute Macht an Einfluss auf Massen hat. Dank der dritten Dimension des Diskurses wird auch ein Blick auf die Rezeptionsprozesse geworfen: Die journalistischen Texte werden auf ihre sozio-historischen Kontexte bzw. auf die möglichen Rezeptionsprozesse bezogen, mit denen sie in Dialog stehen. Das ist vor allem deswegen von großer Bedeutung, da die Gegenöffentlichkeiten, darunter LSBTI*Bewegungen, queere Subkulturen und Subjektivitäten durch diese Prozesse zustande kommen (vgl. Muñoz 1999). Oft fokussieren kommunikationswissenschaftliche Studien, die die Reproduktion der Bedeutungsstrukturen unterschiedlicher Machtverhältnisse untersuchen, auf engere Zeiträume. Die vorliegende Arbeit strebt im Gegensatz dazu an, einen größeren Zeitraum zu analysieren, um die Veränderungen im journalistischen Diskurs mit Bezug auf Brüche in den sozio-historischen Kontexten aufzuzeigen. Die kom-
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parative Dimension ist dabei deswegen bedeutsam, weil so die sozio-historische Besonderheit des journalistischen Diskurses erkennbar wird:, wie ihn diese Arbeit unternimmt, kann unterschiedliche Wendepunkte sowie Machtverhältnisse erhellen, in denen die Sprache des Journalismus eine Veränderung durchmacht. Boulevardjournalistische Texte werden insbesondere in queertheoretischen Ansätzen, die den Fokus oft auf Hochkultur sowie alternative Kultur legen, nicht als bedeutsam angesehen. Die vorliegende Arbeit zeigt dagegen auf, wie Texte aus Boulevardzeitungen als Bestandteile einer Kultur verstanden, also zum Gegenstand einer Analyse werden können, die es ermöglicht, parallel zum journalistischen Diskurs auch die Machtverhältnisse aufzuzeigen, in denen queere Subjektivitäten sowie Gegenöffentlichkeiten entstehen. Diese Herangehensweise bietet auch für die Kommunikationswissenschaften ein neues Terrain, da sie zeigt, dass die Konzepte sowie analytischen Werkzeuge der queertheoretischen Hermeneutik zur Analyse journalistischen Texte angewendet werden können. Parallel dazu bietet die methodische Herangehensweise dieser Arbeit auch einige Anregungen für die Diskursanalyse. Sie zeigt beispielhaft, wie größere Zeiträume und unterschiedliche soziohistorische Kontexte sowohl mit Fokus auf einzelne Texte als auch mit Blick auf die gesamten Kontexte, in denen die Texte in Umlauf gebracht werden, einer komparativen Analyse unterzogen werden können. Zum Schluss möchte ich auf das Risiko eingehen, das die Analyse der diskursiven Konstruktionen des Boulevardjournalismus mit sich bringt. Wie Sedgwick anmerkt, ermöglicht es die Untersuchung der Repräsentationen bzw. die Konstruktion von Kategorien der Heteronormativität zu verstehen, wie Sexualität als Bedeutungsträger der Machtverhältnisse funktioniert (Sedgwick 1985, 7). Eine derartige Untersuchung birgt jedoch das Risiko, die zu untersuchenden Kategorien zu reproduzieren. Aus diesem Grund verstehe ich Subjektivität hier nicht als essenzielle Kategorie und untersuche nicht, ob bestimmte Formen von Subjektivität in den Medien angemessen bzw. falsch dargestellt werden. Vielmehr habe ich die Frage gestellt, wie Heteronormativität durch Repräsentationen von Subjekten Kategorien schafft, die dazu dienen, Heterosexualität von Subjektivitäten zu unterscheiden, die sich nicht an das System der Zweigeschlechtlichkeit sowie der Heterosexualität anpassen.
Queere (Un-)Sichtbarkeiten in Bild und Hürriyet
Repräsentation von Genderambiguität als Gender-Störung
In diesem Kapitel stehen Repräsentationen genderambiguer Personen, die historisch gesehen zu den ältesten Darstellungen des queeren Subjekts gehören, im Zentrum der Analyse. Die Berichterstattung beider Zeitungen legt den Fokus auf das Passing von einem Gender zu einem anderen, das die repräsentierten Subjekte vollziehen. Die Subjekte werden jeweils in einem kriminellen bzw. medizinischen Kontext situiert Insbesondere die Repräsentationen in der Hürriyet-Berichterstattung verweisen auf die mediale Konstruktion des queeren Subjekts, die bereits vor Beginn der Identitätspolitiken in Erscheinung trat. Im ersten Unterkapitel werden diejenigen Texte, die zu dem Repräsentationsmuster „Kriminalisierung“ verdichtet wurden, untersucht. Das Interesse des zweiten Unterkapitels ist die Untersuchung der Repräsentation von intersexuellen Figuren, die zu einem Gegenstand des medizinischen Diskurses wurden. Wie ich im Folgenden genauer darlegen werde, wird die „Medizin“ in diesen Texten als Institution gedeutet, die eine Lösung für die „Gender-Störung“ anbieten kann. Ein großer Teil der in den folgenden Unterkapiteln untersuchten Berichte stammt aus Hürriyet. Ähnlich wie bei der Darstellung von Trans*, die ich im Kapitel 4.3 darlegen werde, schenkte Hürriyet den Themen Genderambiguität bzw. Intersexualität viel größere Aufmerksamkeit als Bild.
DARSTELLUNG DER GENDERAMBIGUITÄT Insbesondere in den ältesten Texten der diachronen Schnitte tauchen Repräsentationen auf, die einen Blick auf eine Zeit vor rigiden Kategorien der Sexualität und Gender werfen. Dies sind Repräsentationen von Personen, die weder Normen des Genders noch der Sexualität entsprechen und genau aus diesem Grund die Neugier des Boulevardjournalismus wecken. Wie ich im Folgenden zeigen werde, führt diese Neugier im Verlauf des journalistischen Diskurses dazu, neue Begrifflichkeiten zu produzieren, die man auch als Ergebnisse eines Experiments von Katego-
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rienentwicklungen lesen kann, die teilweise auch auf das Repertoire des Gesamtdiskurses des jeweiligen Landes zurückgreifen. Dies sind, auf dem ersten Blick, abwertende Repräsentationen von Genderambiguität, die in der Berichterstattung der Bild-Zeitung und der Hürriyet in dreierlei Hinsicht in Erscheinung treten: Zum einen wird die Genderambiguität in der Narration der Texte als ein Problem, eine Störung, ein Geheimnis oder als Falschlesung des Genders dargestellt, die erforscht, aufgedeckt oder gelöst werden muss. Diesbezüglich werden Subjekte, deren Gender nicht eindeutig ist, in dem untersuchten Zeitraum häufig im Kontext von Kriminalität oder eines Konflikts dargestellt. Es wird ein Zusammenhang zwischen der Genderambiguität des Subjekts und dem eigentlichen Ereignis, über das berichtet wird, hergestellt. Zum anderen wird eine ironische Sprache in der Berichterstattung benutzt. Interessant ist dabei zu beobachten, dass genau durch diese abwertenden Repräsentationsmuster von Kriminalisierung sowie Karikierung Räume für Kategorienentwicklungen bezüglich Gender und Sexualität eröffnet werden. Als Beispiel dafür dient ein Bericht aus Bild, in dem die Genderambiguität als ein Geheimnis dargestellt wird und der den Titel „Der Mann im Kleiderschrank“ trägt. Hier ist das queere Subjekt noch im Kleiderschrank, vor den Augen der Macht versteckt, wird aber bald entdeckt:
„Wirtin Margarethe B. (43) schlug die Tür mit einem spitzen Schrei zu und verkündete ihrer Untermieterin Anja T. (28): Hiermit ist Ihnen fristlos gekündigt. Männer in Schränken dulde ich nicht. Was die gute Frau nicht wissen konnte: Der Mann im Schrank war eine Frau. Man muß auch schon genau hinsehen, um bei der Kontoristin Lydia H. (33) das weibliche Geschlecht zu erkennen. Sie verbirgt ihre Formen unter saloppen Pullovern, Männerjacken und Männerhosen. Sie trägt einen superkurzen Männerhaarschnitt – und haßt Männer.“ (B, „Der Mann im...“ 30.09.1969)
In diesem Abschnitt des Berichts erscheinen drei Subjektpositionen, die in Beziehung zueinander gesetzt werden: die Wirtin, die Untermieterin und deren Freundin. Die Stimme der Wirtin, die in dem Text als erste erscheint, wird als direkte Rede wiedergegeben. Die Stimme der Wirtin dient dazu, einerseits das Missverständnis zwischen den drei Personen darzustellen und andererseits die Leser_innen dazu zu bringen, die Perspektive der Wirtin einzunehmen. Die Stimme der Wirtin, die man hier gleichzeitig als Vertreterin des Gesetzes bzw. der Macht lesen kann, kann folglich sowohl die Regeln festlegen, als auch der Untermieterin kündigen. So wie die Stimme der Wirtin zu den folgenden Absätzen und zur Überschrift in Bezug gesetzt wird, führt dies dazu, dass die Leser_innen ihre Perspektive einnehmen: Die Stimme der Wirtin (Gesetz/Macht) setzt gleich zu Beginn des Berichts ein und beschreibt die Ambiguität des Genders der Lydia H., und zwar aus ihrer persönlichen Perspektive. Der Titel des Berichts „Der Mann im Kleiderschrank“ gibt ebenfalls die Perspektive der Wirtin wieder, denn die Untermieterin weiß schließlich,
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dass die Person im Schrank kein Mann ist. Nur die Wirtin (und der/die Leser_in) weiß das nicht. Die Schilderung der äußeren Erscheinung von Lydia H. dient dazu, zu demonstrieren, dass ihr Gender falsch gelesen wird. Die körperlichen Merkmale, die Weiblichkeit konnotieren sollten, sind bei Lydia H. aufgrund des Passings verborgen. Das queere Subjekt repräsentiert in diesem Text nicht nur das Verborgene, das von der Macht aufgedeckt und in den Bereich des Repräsentierbaren gezogen wird, sondern auch den Gegenstand eines Versuchs der Kategorienentwicklung. In dem Text wird Lydia H. als „Mann-Frau“, „Herr Lydia“ und „die Dame mit den kurzen Haaren“ beschrieben. Keine dieser Definitionen sind Selbstdefinitionen von Lydia H., sondern es sind diejenigen Definitionen, die der journalistische Diskurs der 1960er Jahre liefert. Die Verborgenheit wird auch in der Überschrift „Der Mann im Kleiderschrank“ deutlich. Sie enthält die Metapher „im Schrank sein“ („to be in the closet“), die sich auf die Geheimhaltung der sexuellen Identität angesichts der dominierenden Heteronormativität bezieht. Diese Metapher verbreitete sich im 20. Jahrhundert zunächst in den Vereinigten Staaten, danach in der hauptsächlich lesbisch-schwulen Bewegung westlicher Länder (Seidman, Meeks und Traschen 1999, 9). Ähnlich wie in Bild, repräsentiert das queere Subjekt in einem Bericht, der am 17. April 1969 in Hürriyet erschienen ist, einerseits die Entdeckung eines Geheimnisses, andererseits den Gegenstand eines Versuchs der Kategorisierung. Hier kommt die Genderambiguität eines Kindes vor, die in Bezug auf Kriminalität thematisiert und auf Erziehungsfehler der Eltern zurückgeführt wird. Hier ist das queere Subjekt „ein Mädchen in Jungenkleidern“, das durch seinen Vater, einen Polizisten und die Kinderpsychiatrie in das Feld des Repräsentierbaren eintritt. Der Text berichtet zunächst darüber, dass ein „Mädchen in Jungenkleidern“ beim Taschendiebstahl erwischt wurde. Dieser Aussage wird am Ende des Textes jedoch widersprochen. Es ist also unklar, ob das Mädchen dieses Delikt tatsächlich begangen hat oder nicht. Dies scheint jedoch in dem Konstrukt des Textes nicht von Bedeutung zu sein. Vielmehr ist die Genderambiguität von Bedeutung, die insbesondere durch die Repräsentation der Kinderpsychiatrie in die Norm integriert wird. Sie wurde auf dem Kumkapi-Bahnhof beim Klauen erwischt und festgenommen und auf die Polizeistation geführt. Aus Angst hat die vorbestrafte 11jährige Taschendiebin Ümral Tuğrul (Murat Tugrul) zugegeben, ein Mädchen zu sein. Zum ersten Mal seit langer Zeit ist sie mit den Kleidern, die ihr Vater gestern früh brachte, in die richtige Aufmachung geschlüpft. [...] Nachdem der fliegende Händler (Der Vater), von dem Assistenten des Direktors für Sicherheit Münir Daldal lange befragt, belehrt und unter Druck gesetzt wurde, forderte der Assistent, dass das Mädchen sich sofort umzieht und sagte: „Wenn dieses Kind noch mal als Taschendiebin erwischt und hierher geführt wird, dann wirst du der Verantwortliche dafür sein.“ [...]
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Da sie nicht auf frischer Tat erwischt wurde, und niemand Anzeige erstattete und sie dem Assistenten des Direktors für Sicherheit versprochen hatte, keine Jungenkleider mehr anzuziehen, wurden keine weiteren Maßnahmen getroffen. Sie wurde mittags dem Büro für Kinder übergeben. Im Büro für Kinder, wo es auch Beamte gibt, die etwas von der Psyche der Kinder verstehen, werden sie ihr den richtigen Weg zeigen und versuchen, sie von ihren bisherigen Handlungen und ihrem Verhalten abzubringen. (H, „Erkek diye yakalanan...“ 17.04.1969).
Von Bedeutung ist hierbei, welche Rolle der Subjektposition des Polizisten und die Institution Kinderpsychiatrie, die dem Text zufolge eine Abteilung der Polizeistation ist, in dem Text verkörpern. Der Polizist, der sowohl den „Aufklärer“ als auch das „Gesetz“ verkörpert, wirft dem Vater vor, sein Kind falsch zu erziehen, woraufhin das Mädchen nach langer Zeit zum ersten Mal wieder Mädchenkleider anzieht. Ein Foto, auf dem Vater und Tochter zu sehen sind, zeigt das Mädchen glücklich in Mädchenkleidern. Die Polizeistation funktioniert hier als ein Raum, in dem die Genderambiguität eines Mädchens nicht nur aufgrund des Bezugs zur Kriminalität als Problem dargestellt wird, sondern es werden darin auch die vermeintlichen Erziehungsfehler behandelt, die zu der Genderambiguität geführt haben. Durch den psychiatrischen Diskurs ist festgelegt, dass es sich bei der Genderambiguität um eine Störung handle und dass die Kinderpsychiatrie dafür zuständig sei, diese Störung zu behandeln und dem Mädchen „den richtigen Weg“ zu zeigen. Die Stimme des Kindes erscheint dabei nicht, wir sehen nur ein Foto des Kindes, das eigens die Funktion hat, die Leser_innen davon zu überzeugen, dass es in der Vergangenheit falsch erzogen wurde und dank der Hilfe von Polizei und Psychiatrie nun endlich glücklich sei. In einem weiteren Bericht, der am 5. Mai 1970 in Hürriyet erschienen ist, erscheint die Stimme eines queeren Subjekts, die die Ursache der Genderambiguität bzw. den Beweggrund für das Passing vermittelt. In dem Text wird davon berichtet, dass eine „junge Frau in Männerkleidern“ namens „Erkek Bedriye“, was mit „butch“1 Bedriye“ übersetzt werden kann, Kadriye, eine kürzlich verheiratete Frau, entführt hat. Dem widerspricht jedoch die Stimme von Bedriye, die in Form des direct reporting formuliert wird. Erwähnenswert ist hier, dass die Genderambiguität bzw. das Passing sich durch diese Stimme auf das Patriarchat bezieht: Bedriye Gül trifft ihre Aussage bei der Polizei und erklärt, warum sie Männerkleidung trägt: „Bis ich 14 Jahre alt war, habe ich Röcke angezogen. Ständige Anmachen, Belästigungen usw. – es waren Dutzende. Ab meinem 14. Lebensjahr zog ich Hosen an und erlangte so die Freiheit. Meine ältere Schwester, die das sah, trug dann auch Hosen. Viel später zogen wir uns komplett Männerkleidung an und befreiten uns somit gänzlich von den Männern. Ich habe Kadriye nicht in böser Absicht entführt. Das Mädchen war ihres Lebens müde. Sie
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Der Begriff „Butch“ bezeichnet in der queeren Subkultur sowohl in Deutschland als auch in der Türkei eine maskuline Frau bzw. Lesbe.
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wollte zu Verwandten in Izmir. Ich habe ihr geholfen, sich zu befreien.“ (H, „Erkek Bedriye yeni...“ 05.05.1970)
Die Repräsentation der Stimme Bedriyes hat zweierlei Bedeutung. Einerseits wird durch eine derartige Eröffnung eines Raums für ihre Stimme die Genderambiguität als eine Strategie dargestellt, die dazu dient, der Gewalttätigkeit der Männer zu entkommen. Andererseits befreit diese Stimme die Genderambiguität bzw. das Passing von möglichen Konnotationen der Homosexualität. Bedriye entführt Kadriye nämlich, so der Text, nicht mit der „bösen“ Absicht, sie „zu vergewaltigen“ oder „zu heiraten“, wie es herkömmlicherweise bei der „Entführung einer Frau“ in dem Gesamtdiskurs in der Türkei gedeutet würde, sondern mit der Absicht, eine Solidarität unter Frauen gegen Zwangsheirat zu schaffen. Auf diese Solidarität komme ich im Folgenden wieder zurück. Nicht nur Bedriyes Tat der Entführung einer Frau macht sie „männlich“, sondern auch ihre äußere Erscheinung, die in dem Text mit zwei Bildern von Bedriye illustriert wird, die als typische Before-After-Fotos aufgemacht sind. Eines der Fotos zeigt Bedriye in Frauenkleidern, in weiblicher Pose und mit langen Haaren. Dem wird ein Foto von Bedriye in Männerkleidern gegenübergestellt: Hose, Hemd, schmutzige Schuhe, kurze Haare und ein maskuliner Blick implizieren in dem Bild die Männlichkeit. Die Repräsentation von Bedriyes Stimme weist aber auch auf eine Solidarität unter Frauen hin, die in einer Zeit vor Identitätspolitiken wie Feminismus sowie Queer als Strategie zum Unterlaufen von erzwungener Heterosexualität funktionierte. Beachtenswert ist auch, dass genderambigue weibliche Körper in dem türkischen Gesamtdiskurs nicht unbedingt eine negative Konnotation haben. Man kann sogar die These vertreten, dass sie hauptsächlich positiv konnotiert sind. Wörtlich übersetzt steht „Erkek“ für „Mann“, und in Verbindung mit einem weiblichen Namen, wie es in der Überschrift zu sehen ist (Erkek Bedriye), steht es für maskuline Frauen, wobei damit jedoch nicht unbedingt die sexuelle Orientierung der so bezeichneten Frau adressiert wird. Die Bezeichnung „Erkek Fatma“ ist bspw. eine sehr verbreitete und positive Implikation für maskuline Frauen, die jedoch nicht von der queeren Subkultur in der Türkei als Selbstdefinition übernommen wurde. Die Verbindung „erkek“ mit einem weiblichen Namen oder auch der Ausdruck „erkek gibi kadın“ („eine Frau wie ein Mann“) haben in der Gesellschaft eher eine positive Konnotation, da diese Bezeichnungen die Sexualität der Frau ausblenden und sie diesbezüglich als „ehrenvoll“ darstellen. Dies ist auch in dem Bericht zu sehen: Erkek Bedriye hat keine „böse“ Absicht und will sich lediglich vor Männern schützen. Die Bezeichnung „erkek“ in Verbindung mit einem weiblichen Namen taucht im gleichen Kontext auch in einem Bericht vom 29. April 1970 auf (H, „Liseli Erkek Gülten ...“). Darin wird über eine Frau berichtet, die wegen einer sexuellen Belästigung einen Mann mit der Pistole tötet, da er sich weigert, sie zu heiraten, um ihre
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Ehre zu schützen. Dies impliziert einerseits die Männlichkeit der Frau wegen ihrer kriminellen Tat, andererseits wird sie gewürdigt, da sie ihre „Ehre“ („namus“) verteidigte. Wenn man den Kontext der Verbindung von „Erkek“ mit einem weiblichen Namen verstehen will, sollte man die Populärkultur dieser Zeit betrachten: In den Jahren, als diese Berichte erschienen, war das Deutungsmuster „erkek gibi kadın“ bzw. „Erkek Fatma“ sehr verbreitet in der Populärkultur, insbesondere in Filmen. Von 1959 bis in die frühen 1970er-Jahre wurden viele Filme gedreht, unter anderen Fosforlu Cevriye (1959), Belalı Torun (1962), Erkek Fatma (1969), die sehr populär waren, nicht zuletzt wegen der Protagonistinnen, männlicher Frauen, die wie Männer kämpften, sprachen und in Männerberufen arbeiteten, die jedoch heimlich in Männer verliebt waren und hofften, eines Tages einen Mann zu heiraten (Öğüt 2013, 38).
KONSTRUKTION DER GENDERAMBIGUITÄT IM MEDIZINISCHEN KONTEXT Die journalistische Repräsentation eines genderambiguen Körpers ist auch in einen medizinischen Kontext eingebettet. In diesem Sinne zeigt insbesondere die Hürriyet-Berichterstattung ein Interesse an Intersexuellen. Eine Analyse dieses journalistischen Interesses kann auf den ersten Blick zu dem Ergebnis kommen, dass der Körper der intersexuellen Personen zu einem Gegenstand des medizinischen bzw. pathologisierenden Diskurses wird. Ambiguität wird nämlich, wie ich im Folgenden zeigen möchte, oft als Störung des Körpers dargestellt, die durch medizinische Behandlung verändert werden muss. Die Texte bieten jedoch mehr als abwertende Repräsentationen: Sie eröffnen Räume für Stimmen von intersexuellen Personen, die einige Hinweise auf Identitätsbildung sowie Fragen von Selbstbestimmung aus unterschiedlichen Jahrzehnten geben. Ein Bericht („İki kız kardeş, iki erkek kardeş oldu”), erschienen am 16. Mai 1969 in Hürriyet, konzentriert sich zum Beispiel so sehr auf die Genderambiguität bzw. das Passing des intersexuellen Subjekts, sowie seine Stimme zum Passing, dass es in dem Bericht darüber hinaus keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, die darauf hindeuten, dass es eigentlich um eine medizinische Behandlung der intersexuellen Personen geht. Dem Bericht zufolge werden zwei junge Frauen, die Geschwister sind, durch eine Operation zu zwei Männern. Die Aussagen der Geschwister geben nur einen groben Hinweis darauf, warum diese Operation durchgeführt wurde: Der erst kürzlich zum Mann gewordene Nazım sagte nach der Operation Folgendes: „Nun bin ich auch ein Mann. Ich bin kein halber Mensch mehr. Ich bin sowieso als Junge geboren. Meine Bewegungen waren immer männlich.“ Naime, deren neuer Name Erol lautet, sagte Folgendes: „Mein Vater ist nun nicht mehr alleine. Ich werde versuchen, ihm als Sohn hilfreich zu sein. Mein Geschwister will Chauffeur werden, aber ich werde wie mein Vater Bauarbeiter.“ (H, „İki kız kardeş...“ 16.05.1969).
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Dem Bericht zufolge sind die Geschwister nach der Operation auch deswegen glücklich, weil sie sich nun als Männer in die Gesellschaft integrieren können. Das durch die Medizin ermöglichte Passing wird nicht als Eingriff in den Körper der Personen dargestellt, sondern als Gelegenheit, um der benachteiligten Situation der Frauen in der Gesellschaft zu entkommen. Die Personen, die sich der Operation unterzogen haben, fühlen sich danach endlich vollständig, einerseits, weil ihr Geschlecht nicht mehr uneindeutig ist, andererseits weil sie als Männer bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. In einem Bericht, der zehn Jahre später erschien, ist die gleiche Narration über das Passing einer intersexuellen Person zu beobachten (H, „Fatma Öğretmen erkek...“ 17.12.1979). Im Gegensatz zu dem Text aus dem Jahr 1969 wird hier jedoch explizit angegeben, dass sich die Person aufgrund ihrer Intersexualität dieser Operation unterziehen musste. Auch in diesem Text wird die Stimme der intersexuellen Person als direkte Rede formuliert und dient dazu, die Notwendigkeit der Operation darzulegen: Fatma Özgür, die auf der Frauenstation des Hacettepe Krankenhauses auf den Tag ihrer Operation wartet, sagte: „Auch in der Zeit, in der ich mich als Mädchen wusste, hatte ich kein Interesse an Jungen. Meine Stimme wurde tiefer. Mein Schnurrbart wurde sichtbarer. Genau ab diesem Zeitpunkt begann ich mich für Mädchen zu interessieren. Die Situation erstaunte mich. Inzwischen freue ich mich aber, dass ich ein Mann werde.“ Das Familienoberhaupt der Familie Özgür, Ali Özgür und seine Ehefrau Fatma äußerten sich indessen: „Die Zahl unserer Söhne wird von drei auf vier steigen. Nach der Operation möchten wir sie sofort verheiraten.“ („H, Fatma öğretmen erkek…“ 17.12.1979)
Das Begehren der Person wird als eine Art Initialzündung dargestellt, das sie dazu gebracht hat, das Geheimnis ihres eigenen Körpers bzw. ihrer eigenen Identität aufzudecken. Interessant ist dabei zu beobachten, wie Gender sowie Identität als essenzielle Eigenschaften eines Subjekts konstruiert werden, die sich unter anderem durch das Begehren bilden. Der Körper erscheint dabei als Gegenstand, der dem intersexuellen Subjekt in zweierlei Hinsicht Probleme bereitet: Zum einen passt seine Erscheinung nicht in das System der Zweigeschlechtlichkeit, und zum anderen sorgt die auf dem Körperlichen bzw. Biologischen beruhende sexuelle Orientierung für Unbehagen in der heteronormativen Gesellschaft. Das Krankenhaus funktioniert dabei, wie in dem vorherigen Bericht, als Raum, in dem das intersexuelle Subjekt die Hoffnung schöpft, dass sein Körper dank des medizinischen Wissens behandelt werden kann und danach als männlich (eindeutig) gelesen wird. Beachtenswert ist auch die Ironie, die sich in dem Satz (zweite Überschrift) „Nun werde ich ein bisschen die Männlichkeit auskosten“ zeigt und die das Passing wie eine einfache und zufällige Entscheidung darstellt. Auch in dieser Ironie steckt nicht nur eine Abwertung, sondern auch eine queere Repräsentation, indem sie Gender als einen Einsatz darstellt, der sich durch bestimmte Kontexte neuinterpretieren lässt.
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Ein viel längerer Text, erschienen am 1. Februar 1987, schildert das Passing einer intersexuellen Person hingegen expliziter: Es werden nicht nur detaillierte Angaben zur Operation gemacht, sondern der Text wird zusätzlich durch ein Piktogramm ergänzt, das die Schritte der Operation aufzeigt (H, „Kızlığına Kavuştu“). Anders als die vorherigen Berichte, die alle über ein Passing zur Männlichkeit berichten, wird hier über eine intersexuelle Person berichtet, die sich einer Operation unterzieht, um eindeutig als Frau gelesen zu werden. Dem Bericht zufolge wird ein Teil ihres Darms herausgeschnitten, um daraus eine Vagina zu formen. Die 15-jährige A. R. wurde von ihren Eltern als Mädchen erzogen. Aber sie war intersexuell. Sie hatte sowohl männliche als auch weibliche Genitalien. Deswegen war sie unglücklich und deprimiert. A. R. wurde im Hacettepe-Krankenhaus zur Operation aufgenommen. Die Operation erfolgte in zwei Schritten. Erstens wurden die nicht vollständig entwickelten weiblichen und männlichen Organe entfernt. Danach wurden aus einem Teil des Dickdarms Vagina und Schamlippen geformt. (H, „Kızlığına kavuştu“ 01.02.1987)
Auch in diesem Text wird das Krankenhaus als Raum präsentiert, in dem die intersexuelle Person, die wegen ihres genderambiguen Körpers unglücklich und deprimiert ist, eine „Lösung“ für ihr „Problem“ findet. Während der komplizierten, aber nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen durchgeführten Operation wird ihr Körper rekonstruiert und so gestaltet, dass er in das Zweigeschlechtersystem passt, und somit gibt es kein Hindernis mehr für die Integration des queeren Subjekts in die Gesellschaft. Die oben zitierten Teile des Berichts erschienen auf der ersten Seite der Hürriyet. Der Bericht geht weiter auf Seite 15 mit vielen detaillierten Angaben über den Operationsverlauf. Die Leser_innen erfahren zum Beispiel, dass eine solche Operation, bei der eine Vagina aus einem Stück Darm geformt wird, früher nicht in der Türkei stattgefunden habe. In dem Bericht erscheinen drei Stimmen, die als direkte Rede formuliert sind: die Stimmen der Medizin, der Medien und die Stimme des intersexuellen Subjekts. Die in dem Text zitierten Aussagen der Ärzte dienen dazu, sowohl konkret über den Operationsverlauf zu informieren, als auch die Notwendigkeit der Operation wissenschaftlich zu begründen. Die Äußerungen von A. R. unterstützen dabei den Standpunkt der Medizin in der Behandlung von intersexuellen Personen: Sie sei unglücklich und leide an Depressionen, weil sie kein eindeutiges Geschlecht habe. Im Folgenden ist die Aussage des Arztes zu sehen: Prof. Dr. Nebil Büyükpamukçu antwortet auf die Fragen: „Was soll man machen, wenn solche Kinder auf die Welt kommen? Wann sollen so geborene Kinder spätestens behandelt werden?“, wie folgt: „Frühdiagnose ist sehr wichtig. Es gibt ein Sexualitäts-Konsilium, das im HacettepeKinderkrankenhaus gegründet wurde. Die Experten dieses Konsiliums treffen Entscheidun-
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gen in solchen Fällen. Patienten unter zwei Jahren zu orientieren ist effizienter, weil in diesem Alter das psychologische Alter noch nicht voll ausgebildet ist. Angesichts der Situation der Organe des Patienten und der sozialen Strukturen in der Familie entscheidet man sich für ein Geschlecht, und daraufhin wird die entsprechende Behandlung vorgenommen. Die Behandlung soll frühestens um das 12.-13. Lebensalter vorgenommen werden. Wenn es sich um einen Jungen handelt, konstruiert man Penis und Hoden, und wenn es ein Mädchen sein soll, Vagina, Vulva und Brust, somit gibt man dem Patienten seine endgültige Form.“ (H, „Kızlığına kavuştu“ 01.02.1987)
In diesem Zitat wird der Körper des intersexuellen Subjekts zum Gegenstand des medizinischen Wissens. Das Verfahren der Determinierung und Gestaltung des Körpers und der Identität wird durch die Aussage des Arztes rationalisiert. Dabei zielt die Frage, die ihm gestellt wurde, auf die Anomalität des intersexuellen Subjekts. Die Existenz des intersexuellen Subjekts wird zu einem „Problem“, das wiederum mit der „Hilfe“ des medizinischen Wissens gelöst wird. Die Stimmen der Medizin, der Medien und des Patienten bestätigen sich gegenseitig in der Narration. Kritik an der Behandlung der intersexuellen Menschen wird dabei nicht laut. In den analysierten Texten, die aus verschiedenen Zeiten stammen, sind gleiche Deutungsmuster zu sehen, die das Krankenhaus als den Raum konstituieren, in dem intersexuelle Subjekte eine „Lösung“ für ihr „Problem“ finden. Der ambigue Körper des intersexuellen Subjekts wird als eine Anomalität dargestellt, die die Person daran hindert, ein glückliches Leben zu führen. Ein „glückliches Leben“ heißt im Diskurs dieser Berichte, sich in die heteronormative Gesellschaft integrieren zu können, also ein eindeutiges Geschlecht zu haben. In dem untersuchten Material fielen noch zwei weitere Artikel auf, in denen jedoch ein Wandel im Repräsentationsmuster zu beobachten ist. In den beiden Artikeln, die aus den 1990er-Jahren stammen, sehen wir intersexuelle Personen nicht im Krankenhaus darauf wartend, operiert zu werden, sondern integriert in die Gesellschaft. Trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Texten. In dem 1993 erschienenen Bericht sorgt die Ambiguität der intersexuellen Person für Unbehagen in deren Beziehung (H, „Çift gençli gencin dramı“ 11.07.1993). Dagegen führt die Person aus dem 1992 erschienenen Artikel ein glückliches Leben (H, „İşte Hamile Erkek“ 29.05.1992). Ich möchte hier vor allem auf den Artikel aus dem Jahr 1992 eingehen, der über eine intersexuelle Person von den Philippinen berichtet. Anders als das intersexuelle Subjekt, das in den vorherigen Texten der Hürriyet dargestellt wird, geht es hier um einen intersexuellen „Mann“, dessen Körper nicht als Hindernis für sein Leben dargestellt wird. Während die vorherigen Berichte den Fokus auf den Operationsverlauf legen, wird in diesem Bericht eine Geschichte nach der Operation erzählt. In dem Artikel wird darüber berichtet, dass die Person, die eine glückliche Beziehung mit einem Mann führt, vor kurzem schwanger geworden ist, weshalb ihre Geschichte in die Schlagzeilen geriet. Ähnlich wie in den vorherigen Texten konzentriert sich die Berichterstattung der Hürriyet so sehr auf die Genderambiguität der inter-
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sexuellen Person, dass bis zum letzten Absatz des langen Berichts unklar bleibt, wie dieser Mann schwanger geworden ist. Die Überschrift „Siehe den schwangeren Mann“ und das Bild von dem „schwangeren Mann“ geben keinen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Mann eigentlich um eine intersexuelle Person handelt. Durch diese Art der Narration, die dazu dient, die Neugier der Leser_innen zu wecken, sodass der Text weitergelesen wird, entstehen wiederum Repräsentationen, die Normen der Dominanzgesellschaft unterlaufen. Die abwertenden Repräsentationen sind also mit queeren Repräsentationen verflochten. Der Text spielt mit ambiguen Bedeutungen und zeigt dabei neue normabweichende Möglichkeiten, die trotz der Normabweichung ein glückliches Leben ermöglichen. Die Fotos von dem jungen Mann, der bald per Kaiserschnitt ein Kind zur Welt bringen wird, sind schließlich in der internationalen Presse [...] Die Fotos von Carlo, die ihn bei der Behandlung im Krankenhaus zeigen und ihn seit dem ersten Tag, an dem bekannt wurde, dass er schwanger ist, in das Interesse der Welt rückten, sind nun veröffentlicht, seine Identität jedoch bleibt ungewiss. [...] Der 38-jährige Carlo sagte: „Ich bin sehr glücklich, dass ich einen Sohn bekomme. Nun fühle ich mich wie eine Frau, und ich kann der ganzen Welt beweisen, dass ich eine Frau bin.“ (H, „İşte hamile erkek...“ 29.05.1992)
In diesem Abschnitt des Textes wird die Ambiguität durch einen Widerspruch zwischen der Stimme des intersexuellen Subjekts und der Stimme der Medien konstruiert. Obwohl sich Carlo als Frau definiert, wie es in ihrer Äußerung klar zum Ausdruck kommt, übersieht die Berichterstattung der Hürriyet ihre Selbstdefinition, wie man in der Überschrift („schwangerer Mann“) und im Text („Fotos von dem jungen Mann“) erkennen kann. Genau diese abwertende Darstellung und das Verachten der Selbstbestimmung führen dazu, dass das Bild einer männlichen Schwangerschaft entsteht. Dieses Bild wird auch deswegen deutlicher bzw. ambiguer, weil unklar ist, wie er/sie schwanger geworden ist. Und für Carlo, die nicht als Mann, sondern als Frau gelesen werden will, ist die biologische Reproduktion ein Beweis dafür, dass sie tatsächlich eine Frau ist, womit das Gender auf seine biologischen Funktionen reduziert wird. Die Berichterstattung der Hürriyet fokussiert jedoch weiter auf Carlos genderambiguen Körper: Wegen seines männlichen Knochenbaus muss Carlo das Baby per Kaiserschnitt auf die Welt bringen. [...] Da in seinem Personalausweis „männlich“ geschrieben steht, kann er keinen Schwangerschaftszuschuss von seiner Arbeitsstelle bekommen. Es wurde bekannt gegeben, dass bei dem intersexuell geborenen Filipino, der sich vollkommen als Frau fühlt, obwohl seine Familie ihn als Mann sieht, die Menstruation einsetzte, nachdem er sich vor vier Jahren in einer Operation eine Vagina machen ließ und anfing, Hormone zu nehmen. (H, „İşte hamile erkek“ 29.05.1992)
Die Berichterstattung unterstreicht wiederholt Carlos „Männlichkeit“. Zum einen werden ihr Körper und ihr soziales Umfeld als Beweise dafür angeführt, dass sie
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tatsächlich ein Mann sei, zum anderen wird ihr Passing als eine Art Widerstand, insbesondere gegen das soziale Umfeld, das ihr die männliche Rolle zuschreibt, dargestellt. Die weiblichen Eigenschaften ihres Körpers sind nicht von Natur aus gegeben, sondern wurden mithilfe medizinischer Behandlungen erzielt, was ihren Körper als künstlich ausweist. Auf der anderen Seite verwendet Carlo die biologische Reproduktion als Beweis für eine natürliche Weiblichkeit, die in der Narration des Textes jedoch medizinisch konstruiert wurde. Die Ablehnung von Carlos Selbstdefinition seitens Hürriyet führt zu zwei Lesarten von Carlos Körper und Gender. Daher steht ihr Körper außerhalb des Zweigeschlechtersystems und der Heteronormativität, was Letztere in der Tat herausfordert. Anders als in den vorherigen Artikeln, die die Notwendigkeit des Eingriffs in den genderambiguen Körper, um diesen eindeutig lesbar zu machen, betonen, wird in diesem Bericht wiederholt darauf hingewiesen, dass selbst der Eingriff nicht hilft, das Subjekt in die Heteronormativität zu integrieren. Einerseits kann man diese Ablehnung als Pathologisierung des genderambiguen Subjekts betrachten, andererseits aber als einqueeres Moment, in dem das queere Subjekt als queer weiterexistiert und die Heteronormativität herausfordert. Letztendlich impliziert der „schwangere Mann“, der mit einem anderen Mann in einer glücklichen Beziehung ist, die willkürliche Setzung von Normen der Heteronormativität, von denen man abweichen kann.
ZWISCHENFAZIT Die Darstellung des genderambiguen Körpers in der Berichterstattung des Boulevardjournalismus weist auf eine Schnittstelle zwischen Deutungen, die auf den ersten Blick als gegensätzlich erscheinen und genau aufgrund dieser Gegensätze Momente der queeren Bedeutungsproduktion ermöglichen. Die boulevardjournalistische Neugier auf die Genderambiguität geht einerseits mit abwertenden Repräsentationen wie Kriminalisierung und Pathologisierung, andererseits mit spielerischen Versuchen der Nebeneinanderstellung von gegensätzlich erscheinenden Kategorien (wie Männlichkeit und Schwangerschaft) sowie neuen Kategorienentwicklungen (wie Mann-Frau) einher, die teilweise das Repertoire des Gesamtdiskurses widerspiegeln (wie Erkek Fatma). Selbstverständlich dienen diese spielerischen Versuche hauptsächlich zu schockierenden Darstellungen, dennoch lassen sich diese Texte, im Gegensatz zu dem eigentlichen Zweck ihrer Produktion, auch als Darstellung von Möglichkeiten deuten, die binären und rigiden Kategorien des Genders und der Sexualität zu unterlaufen.
Die mediale Konstruktion von Lesben
In diesem Kapitel stehen Deutungs- und Repräsentationsmuster, wiederholt auftretende Narrationen sowie zentrale Diskursstränge in Bezug auf die lesbische Subjektivität im Mittelpunkt des Interesses. Die ausgewählten Berichte, Bilder sowie Diskursfragmente, die sich auf das lesbische Subjekt richten bzw. lesbische Konnotationen enthalten, konnten, wie in dem Kapitel über das methodologische Vorgehen erläutert wurde, mithilfe der Vorschläge aus der Grounded Theory (vgl. Barney und Strauss 1967; Glaser und Strauss 1968; Strauss und Corin 1996; Strübing 2008; Breuer 2010) zu vier zentralen Kernkategorien, die ich als Repräsentationsmuster bezeichne, verdichtet werden: die Kriminalisierung der Lesbe, die Erotisierung des lesbischen Subjekts, die Lesbe als gescheiterte Heterosexuelle und die Normalisierung des lesbischen Subjekts. In den folgenden vier Unterkapiteln werden die in dem diachronen Schnitt wiederholt auftretenden Deutungsmuster anhand von Diskursfragmenten beispielhaft rekonstruiert; die in den Diskursfragmenten repräsentierten Stimmen und deren Beziehungen untereinander werden hinsichtlich der intertextuellen Struktur der Berichte näher betrachtet, und zum Schluss werden die Unterschiede und Ähnlichkeiten hinsichtlich der lesbischen Subjektivität in der Berichterstattung der beiden Zeitungen eruiert.
DIE KRIMINALISIERUNG VON LESBEN Eine Art diskursiver Explosion bezüglich der Repräsentation von Lesben ist insbesondere in den 1970er-Jahren zu beobachten. Diese früheren Repräsentationen von Lesben unterscheiden sich von den späteren Repräsentationen insbesondere aufgrund ihrer Deutung als Gefahr. Diese ist als eine Gefahr für die gesellschaftliche Position der Männer sowie für ihren monopolisierten Anspruch auf Männlichkeit zu lesen, die in dem damaligen Diskurs insbesondere aufgrund des wachsenden Einflusses des Feminismus als gefährdet gesehen wurden. Hier deutet die Konstruktion der Männlichkeit unter anderem auch auf Kriminalität und auf Liebe, die auf Frauen gerichtet ist, hin. Diese Figur der Lesbe unterscheidet sich also aufgrund ihrer
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bedrohlichen Deutungen grundsätzlich von den genderambiguen Repräsentationen. Deswegen taucht das Thema „Kriminalität“ wiederholt in der Berichterstattung auf. Insbesondere die Bild-Zeitung fokussiert wiederholt auf die kriminellen Taten von Frauen und stellt dabei einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und lesbischer Liebe her. Dieser diskursiv hergestellte Zusammenhang hat in der Geschichte auch eine foucaultsche Folge: Die Bild-Artikel sorgten für Furore in der lesbischen Community der Bundesrepublik Deutschland, was dazu führte, dass sich Feministinnen und Lesben mobilisierten und Demonstrationen gegen die Berichterstattung der Bild-Zeitung organisierten. Dies ist also ein typisches Beispiel für den Diskurs, der nicht nur mit den Machtverhältnissen verwoben ist, sondern auch die Möglichkeit zur Gegenrede sowie einer mit dieser Gegenrede im Verhältnis stehenden Subjektivität eröffnet. Im Folgenden werde ich eine Artikelserie unter die Lupe nehmen, die im Januar 1973 drei Wochen lang in der Bild erschien. Die Verbrechen der lesbischen Frauen enthielt nicht nur die typischen Eigenschaften der boulevardjournalistischen Darstellung von kriminellen Lesben, sondern repräsentierte auch Deutungsmuster sowie Narrationen von kriminellen Frauen, die eine lange Tradition in Kriminologie, Literatur sowie Kunstgeschichte haben. Am 13. Januar 1973 gab Bild mit einem kurzen Bericht die Serie bekannt, die von der nächsten Ausgabe an täglich erschien: In Deutschland gibt es unzählige Frauen, die nur Frauen lieben. Oft endet ihre Liebe verhängnisvoll, weil ihnen ein Mann im Weg steht. Die Taten der lesbischen Frauen, ihre Liebe und das Schicksal ihrer Opfer stehen im Mittelpunkt einer neuen Serie. (B, „Die Verbrechen der lesbischen...“ 13.01.1973)
Wie schon in diesem kurzen ersten Bericht zu sehen ist, ging es in der Serie auch darum, Mitleid mit den Männern zu wecken, indem die Liebe zwischen lesbischen Frauen als potenzielle Gefahr für Männer dargestellt wird. Laut dem Bericht scheint eine glückliche und friedliche Beziehung zwischen Lesben eher selten zu sein, da die lesbische Liebe, die auch in Deutschland „unzählig“ ist, oft einen Zusammenstoß mit der Heteronormativität (den Männern) erlebt. Die lesbische Liebe bezieht sich also oft auf Männer, oder anders formuliert, eine lesbische Liebe ohne Konflikt mit Männern ist selten bzw. steht nicht im Mittelpunkt dieser Serie. Dieser Bezug zu Männern ist ein wiederkehrendes Narrativ, das häufig zu einer Verschränkung der Repräsentationsmuster „Kriminalisierung“ und „Erotisierung“ führt, weil über die Ereignisse aus einem männlichen Blickwinkel für einen männlichen Blick berichtet wird. Die Verschränkung der Repräsentationsmuster „Kriminalisierung“ und „Erotisierung“ beruht auf der Darstellung einer gefährlichen und erotischen Frau, die eine lange Tradition in Literatur und Kunst hat. Diese Darstellung der femme fatale ist auf den drastischen Wandel in der Gesellschaft sowie auf die patriarchale Angst vor diesem zurückzuführen. Dies gilt auch für die Artikelserie Die Verbrechen der lesbischen Frauen. In solchen Darstellungsmustern hat die
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Frau ein „gefährliches Geheimnis“, dessen Aufdeckung Potenzial für fatale Folgen für das männliche Subjekt enthält (Doane 1991, 1-2). Die gefährliche und erotische Frau, die ein gefährliches Geheimnis hat, war ein wiederkehrendes Darstellungsmuster im deutschen Journalismus, lange bevor Bild begann, über kriminelle Taten von Lesben zu berichten. Barbara Hales zeigt in ihrer Studie über die Darstellung der femme fatale in der Weimarer Zeit, dass Tageszeitungen wie das Berliner Tageblatt und der Generalanzeiger Dortmund in den 1920er- und 1930er-Jahren selbstständige Frauen sehr oft mit kriminellen und psychopathischen Konnotationen präsentiert haben. Die damalige deutsche Massenpresse sah die selbstständige und erotische Frau als das „böse Andere“ im Paradigma der kriminellen versus guten Bürger_innen. Der journalistische Diskurs solcher Zeitungen konstituierte die kriminelle Frau, so Hales, als „instinktives Monster“, das von Emotionen und Instinkten getrieben war (Hales 1996, 106-107). Die Repräsentation von Lesben stellte eine neue Dimension im journalistischen Diskurs der 1970er-Jahre über kriminelle Frauen dar. In ihrem Buch Fatal Women vertritt Lynda Hart die Meinung, dass die Darstellung gefährlicher, räuberischer und pathologischer Lesben als Widerspiegelung der Panik und Verwirrung gelesen werden sollte, die die kriminelle Frau auslöst, da sie das männliche Monopol auf Begehren und Gewalt bricht. Wie ich ebenfalls in diesem Kapitel zeige, wird die Lesbe als eine Figur konstituiert, die „wie ein Mann“ einen anderen Menschen ermorden und „wie ein Mann“ eine Frau begehren kann, was als eine machtvolle Gefahr für den exklusiven Anspruch der Männer auf Männlichkeit gesehen werden kann (Hart 1994, 8). Während Kriminalität in der kriminologischen Literatur eine lange Zeit als eine essenzielle Eigenschaft der lesbischen Subjektivität gesehen wurde (Ciasullo 2008, 198), ist der journalistisch hergestellte Zusammenhang zwischen Gefahr und lesbischer Repräsentation unter anderem auf den wachsenden Einfluss des Feminismus zurückzuführen (vgl. Chesney-Lind & Eliason 2006). Ein großer Teil der Serie Die Verbrechen der lesbischen Frauen, bestand in der Geschichte von Marion Ihns und Judy Andersen, die beschuldigt wurden, gemeinsam im Oktober 1972 den Mord am Ehemann von Ihns, Wolfgang Ihns, in Auftrag gegeben zu haben. Über diese Geschichte wurde bis zum 23. Januar 1973 ausführlich berichtet, und ein Jahr später, als der Prozess stattfand, gab es eine weitere Serie darüber. Mit Beginn des Prozesses geriet die Geschichte der beiden Frauen in die Schlagzeilen insbesondere der Boulevardpresse, darunter Bild, Hamburger Morgenpost, BZ, Der Abend und Quick (Grtmenberg 1974). Das Interesse war so groß, dass die Berichterstattung der Bild-Zeitung in manchen Ausgaben Kriminalromanen ähnelte, um die Leser_innen zu fesseln: Die Geschichte entfaltete sich schrittweise, in jedem Artikel gab es einen einführenden Absatz mit dem Eingangssatz „Was bisher geschah“, der es neuen Leser_innen ermöglichte, in die Geschichte einzusteigen, sowie detaillierte Schilderungen von „Szenen“. Bild schilderte sogar Sexszenen zwischen Marion Ihns und Judy Andersen, was im Grunde für die Aufklärung des Mordes an Wolfgang Ihns als irrelevant angesehen werden kann (B,
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„Die Verbrechen der lesbischen...“ 18.01.1973). Dabei beruhte die Berichterstattung auf den typischen Merkmalen der Darstellung der femme fatale. Präsentiert wurden also eine instinktgeleitete, erotische sowie gefährliche Frau und ein naiver, schwacher Mann, der zum Opfer der weiblichen Gewalt wurde. Diesbezüglich stand der Mord im Zentrum der Berichterstattung, die nicht nur versuchte, über die Ereignisse, die die beiden Frauen zum Mord geführt hatten, zu berichten, sondern auch die gesellschaftlichen Umstände zu finden, die ihn begünstigten. In manchen Artikeln wurde sogar die Kindheit von Marion Ihns dargestellt, um die Gründe für ihre Beziehung zu Judy Andersen und für die Mordtat zu verstehen, die mit ihrer lesbischen Identität in Beziehung gesetzt wurde (B, „Die Verbrechen der lesbischen...“ 15.01.1973). Ihns’ Beziehung zu Andersen stand erwartungsgemäß im Vordergrund der Erklärung des Mordes: In den folgenden Artikeln der Serie wurde darüber berichtet, dass Andersen Ihns dazu ermutigt habe, ihren Ehemann ermorden zu lassen, bzw. ihr dabei geholfen habe, einen Auftragsmörder zu finden. Dies führte zur Konstruktion von Judy als das „böse Andere“ bzw. als lesbisches Subjekt, während Marion Ihns als „nicht so lesbisch“ dargestellt wurde (B, „Ein Mann zahlte, zwei Freundinnen...“ 19.01.1973). An dieser Stelle ist erwähnenswert, dass Marion Ihns in den folgenden Artikeln in einem heterosexuellen Kontext präsentiert wird. Dieser Kontext, der Ihns’ Sexualität mit Männern expliziert, hat in der Berichterstattung mehrere Funktionen. Zum einen dient er dazu, Ihns’ Körper zu erotisieren und sie dabei mit in Bezug auf heteronormative Vorstellungen von Ehe und Liebe negativ konnotierten Eigenschaften zu konstituieren. Zum anderen konstruieren diejenigen Artikel, die sie in einem heterosexuellen Kontext zeigen, Ihns als von Instinkten und Emotionen getriebene Frau, was am Ende der Artikelserie als ein Grund für den Mord angeführt wird. Eine viel wichtigere Funktion für die Fragestellung dieser Arbeit ist jedoch, dass durch diesen heterosexuellen Kontext Ihns „zurück auf die Seite“ der Heteronormativität gezogen wird, während Judy, das lesbische Subjekt, „auf die andere Seite“ geschoben wird bzw. als „das böse Andere“ fungiert. Dabei dienen die Berichte über Ihns’ Misshandlung in ihrer Ehe, die dazu führten, dass sie sich in einen anderen Mann verliebte, dazu, Mitleid mit ihr zu wecken. Wolfgang Ihns, der Ehemann von Marion Ihns, wird dabei in einer paradoxen Weise als „Opfer“ der „lesbischen“ Gewalt, gleichzeitig aber auch als „grausamer Mensch“, der seine Ehefrau misshandelt, dargestellt. Im Folgenden werde ich die Funktion des heterosexuellen Kontexts in den Texten über Ihns’ Erfahrungen mit Männern konkretisieren. Zunächst folgt ein Abschnitt aus dem ersten Artikel der Serie, und zwar der Abschluss des Textes, der die Leser_innen in den nächsten Artikel einführt: [...] Als sie 14 Jahre alt war, mußte sie zurück nach Hamburg, wo sie in einem Bäckerladen arbeitete.
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Viele schnelle, kleine Erlebnisse Sie scheint in ihrer Lehrlingszeit recht unternehmungslustig gewesen zu sein, alle möglichen Bekannten aus dieser Zeit erinnerten sich nach dem Mord an ihre „Flatterhaftigkeit“, an schnelle, kleine Erlebnisse, die sie mit Marion gehabt haben wollen. „Eine ganz Verdorbene!“ sagt einer ihrer Liebhaber von damals, der längst verheiratet ist; es klingt entrüstet. Neben der Bäckerei war das Gemüsegeschäft Ihns’, und der jüngere der beiden Ihns-Söhne, Wolfgang, war besonders hinter dem Lehrmädchen aus der Bäckerei her. Er war damals 17, und Marion wohl sein erstes „richtiges“ Erlebnis. Jedem, der es hören wollte, erzählte er in seiner jugendlichen Begeisterung, was für „tolle Sachen“ sie mitmache. Nun, sie war noch nicht 16 Jahre alt, da erwartete sie bereits ein Kind von dem jungen Mann. Und alles, was das Zusammensein mit ihm später zur Hölle machen sollte, spielte damals überhaupt keine Rolle – Marion heiratete Wolfgang Ihns mit Begeisterung. [...] Aber an nichts gewöhnt sich ein junger Ehemann schneller als an sein „Recht im Ehebett“ – aus Wolfgang Ihns, dem lebenslustigen Liebhaber, wurde recht bald ein „langweiliger Bürger“, wie seine Frau sagte. „Warum schon wieder tanzen gehen?“ Er hatte ja alles, was er brauchte. Und Marion Ihns begann zu merken, was ihr fehlte – und ging fremd. Lesbisch war sie noch nicht... (B, „Die Verbrechen der lesbischen...“ 15.01.1973)
In diesem Abschnitt ist ein latenter Vergleich zwischen Marion Ihns und ihrem ermordeten Ehemann Wolfgang Ihns zu sehen. Während Marion Ihns mit negativ konnotierten Eigenschaften wie schnellem, unverbindlichem Sex, dargestellt wird, verweist der Text auf Wolfgangs Naivität. Marion erscheint in dieser vergleichenden Darstellung sexuell erfahrener: Sie hatte bereits, als sie 14 Jahre alt war, sexuelle Erfahrungen mit Männern, Wolfgang hingegen hatte seinen ersten sexuellen Kontakt später als sie und nur mit ihr. Es ist also von einem Mann die Rede, der keinen Widerspruch zur traditionell-heteronormativen Vorstellung von Liebe und Ehe darstellt: Er hat die Frau geheiratet, mit der er seinen ersten Geschlechtsverkehr überhaupt hatte. Marion Ihns hingegen passt nicht zu der heteronormativen Vorstellung von Liebe und Ehe; sie ist „triebhaft“, „untreu“ und „verdorben“, wie es durch die Stimme ihres Liebhabers festgelegt wird. Die Stimme ihres Ehemanns dient dabei dazu, Marion Ihns, selbst nach der Eheschließung und nach der Geburt ihres ersten Kindes, als lebenslustig darzustellen, wobei ihr Ehemann ihre Erwartungen an eine Ehe nicht mehr befriedigte. Diese Unzufriedenheit fungiert in dem Text als Ausgangspunkt für etliche Ereignisse, darunter auch ihre Beziehung zu einer Frau, die am Ende zum Mord an Wolfgang führten. Der heterosexuelle Kontext, der die Funktion hat, Marion Ihns als „untreu“ und „triebhaft“ zu konnotieren und dabei Wolfgangs Naivität und Opfer-Sein zu betonen, wird deutlich, als über Ihns’ Affäre berichtet wird. 1965 habe sie diese mit einem anderen Mann namens Stanislavs Peter Bacalski gehabt, der in der Berichterstattung häufig schlicht als „Pole“ bezeichnet wird, und ein Kind von ihm bekommen. Sowohl ihre Affäre mit Peter, obwohl diese keine kausale Verbindung
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zum Mord hat, als auch ihre Affäre mit Judy Andersen stehen im Dialog mit ihrer Geschichte der Zeit, als sie 14 Jahre alt war, als sie lebenslustig und emotional war, „schnelle“ sexuelle Erfahrungen etc. hatte. Der Text entwirft also eine diskursive Konstruktion der Lesbe als triebhaft, kaltblütig, kriminell sowie untreu in ihrer Ehe. Die kriminelle Lesbe ist, wie auch Ann Ciasullo (2008, 198) bemerkt, in literarischen sowie kriminologischen Diskursen insbesondere durch ihre Männlichkeit gekennzeichnet. Selbst wenn in den Texten nur kurz von ihr gesprochen wird, wird ihre Männlichkeit unterstrichen. In einer ähnlichen Weise wird Andersen, als „die eigentliche Lesbe“, als das böse Andere in der Geschichte wiederholt als männlich konstruiert. Die Schilderung von Andersen als „männlich“ passt zu ihrer Rolle in der Geschichte: Als „männliche Lesbe“ nimmt sie eine aktive Rolle in dem Mord ein (sie plant den Mord, sie findet den Auftragsmörder, sie gibt die Befehle), Ihns hingegen, die „mal eine richtige Frau“ war, verkörpert eher eine passive Rolle. Die Rollenverteilung hat also die Funktion der Feminisierung Marion Ihns’. Diese Rollenverteilung zwischen den beiden Frauen, untereinander sowie in dem Mordfall, erlangt eine neue Bedeutung angesichts der Information in dem Artikel, dass Marion Ihns früher geleugnet habe, lesbisch zu sein. Im Gegensatz zu Judy, die angeblich offen lesbisch ist und sich in der lesbischen Community in Kopenhagen auskennt, ist Marion Ihns nicht „so lesbisch“ wie Judy. In den folgenden Artikeln aus der Serie taucht eine weitere Figur auf, Denny Sven Pedersen, ein schwuler Mörder. Ähnlich wie Andersen ist Pedersen offen homosexuell. Er repräsentiert der totalen Gegensatz zur Norm: Ihm werden negativ konnotierte Eigenschaften und Tätigkeiten, wie Drogenkonsum, Sexarbeit und Zugehörigkeit zur Unterschicht, zugeschrieben. Er verkörpert das queere Subjekt, das außerhalb der Kapitalakkumulation und der Reproduktion steht, und er führt ein Leben, das als Gefahr für die Gesellschaft angesehen wird. Andersen trifft Pedersen in Kopenhagen. Es wird ein Abkommen zwischen den beiden queeren Subjekten geschlossen, das zu dem Mord an dem heterosexuellen Mann in der Geschichte, also an Wolfgang Ihns, führt. Im August 1972 trifft Judy in einem einschlägigen Café Kopenhagens den Homosexuellen Denny Sven Pedersen, 23 Jahre alt, einen ungepflegten Typ mit Untergewicht, von dem es heißt, er sei für Geld bereit, „alles“ zu tun. Auch1 Pedersen kommt aus dem Kopenhagener Armenviertel, hat nie etwas gelernt und sich, wie eine streunende Katze, herumgetrieben. Für Denny Sven Pedersen sind 1000 Mark auf die Hand ein Vermögen. Und wenn er Benzedrin-Tabletten geschluckt hat, fühlt er sich stark wie James Bond. (B, „Ein Mann zahlte – zwei Freundinnen...“ 19.01.1973)
Dieser Abschnitt stammt aus dem gleichen Artikel, in dem die finanziellen Schwierigkeiten der beiden Frauen bzw. das Interesse an einer Erbschaft als mögliche 1
Wie Judy Andersen.
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Gründe für den Mord angedeutet werden. Indem Denny als arme, ungepflegte, unterernährte, ungebildete, drogenkonsumierende Person geschildert wird, die bereit ist, selbst für einen kleinen Betrag einen Menschen zu ermorden, wird die Bekanntschaft von Andersen und Pedersen nicht nur auf der Ebene der Hetero/Homo-Binarität, sondern auch auf der Ebene der Klassen als gefährlich dargestellt. „Benzedrin-Tabletten“, die wegen ihrer euphorisch stimulierenden Nebeneffekte eine beliebte Droge der damaligen Zeit waren, implizieren dabei Pedersens Kaltblütigkeit unter Drogen. Ähnlich wie bei Andersen wird Pedersens Homosexualität als Kriminalität konstituiert. Dies wird insbesondere in dem folgenden Artikel deutlich, in dem über Andersens und Pedersens Reise nach Hamburg berichtet wird: Am 15. September knackt er vor dem Hauptbahnhof in Kopenhagen einen Wagen – seine Spezialität – und fährt mit Judy Richtung Hamburg. An der Grenze bekommt das Pärchen Schwierigkeiten. Dieser homosexuelle Hascher Pedersen sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus. Und das kleine Mädchen in Männerkleidern an seiner Seite wirkt eindeutig lesbisch. Auch die richtigen Papiere fehlen dem seltsamen Paar. Die Grenzpolizei schickt Judy und Denny zurück. (B, „Vor der Tat bekam...“ 20.01.1973)
Nachdem Denny als unterernährte, arme, ungebildete und drogenabhängige Person dargestellt wurde, taucht er in diesem Text zusätzlich als Dieb auf. Die Erwähnung des Diebstahls hat in der Tat keine Bedeutung für die Erklärung der Mordtat, dient jedoch zur Unterstreichung seiner Kriminalität. Ebenso unwichtig für den Tathergang sind die Angaben zu Andersens und Pedersens queerer Erscheinung. Die Verkopplung von Andersen und Pedersen drückt jedoch wegen deren queerer Erscheinung nicht nur „Seltsamkeit“, sondern auch Kriminalität aus. Die Grenzpolizei als Institution hat dabei die Funktion, ihre Kriminalität zu bewerten: Die beiden queeren Subjekte werden nicht nur wegen der fehlenden Papiere, sondern vielmehr wegen ihrer queeren Erscheinung, aufgrund deren die Beamten auf ihre Kriminalität schließen, zurückgewiesen. Erwähnenswert ist hier das Deutungsmuster „Mädchen in Männerkleidern“, das auch in Hürriyet als Teil des Diskursstrangs „Kriminalität“ auftaucht. Ähnlich wie in den Artikeln über „Mädchen in Männerkleidern“ in Hürriyet wird Judy Andersens Genderambiguität durch die Begegnung mit der Polizei zu einem Problem bzw. nach einer solchen Begegnung impliziert ihre Genderambiguität Kriminalität (H, „Erkek diye yakalanan çocuk...“ 17.04.1969; H, „Erkek Bedriye yeni gelini...“ 05.05.1970). Im nächsten Artikel der Serie geht es nicht mehr um den Mord, sondern um die Liebe der beiden Frauen. Die Tatsache, dass sich Andersen und Ihns im selben Gefängnis aufhalten, wird in dem Text erotisiert, was ich im nächsten Kapitel ausführlicher darlege. An dieser Stelle ist es zunächst wichtig zu erwähnen, dass der Text das Gefängnis als Ort für homoerotische Begegnungen präsentiert, was auch in anderen Texten ein wiederkehrendes Deutungsmuster ist. Das kriminelle Subjekt wird an diesem Ort einerseits erotisiert, andererseits durch den Blick der Psychiatrie pathologisiert.
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Marion Ihns lebt in dieser Zelle 6, die dem Mörder ihres Mannes das Beil in die Hand gedrückt hat. Wie fühlt sich eine Frau, die 34 Jahre alt ist, recht hübsch, sehr verliebt und ein langes Leben hinter Gefängnismauern vor sich hat? [...] Zwei Stockwerke von ihr getrennt sitzt Judy Andersen in ihrer Zelle, das lesbische Dänenmädchen, mit dem alles angefangen hat. Marion Ihns ist über jeden Schritt ihrer großen Liebe unterrichtet. In Frauengefängnissen blüht, wie in Männergefängnissen, die gleichgeschlechtliche Liebe. Hier wird sie von den meisten ihrer Mitgefangenen bewundert. Viele Frauen sind hier lesbisch. [...] Sabine ist die Frucht ihrer bisher einzigen großen Liebe zu einem Mann, zu dem verstorbenen Polen Bacalski. [...] Auf die Frage, ob es ihr etwas ausmachen würde, lebenslänglich zu bekommen, hat sie in diesen Tagen geantwortet: „Wenn ich mit Judy in einer Zelle sein könnte – das wäre himmlisch!“ Ohne Judy aber: „Gebt mir einen Strick!“ Nach wie vor überschattet die Leidenschaft ihren Zustand. Sie tobt: „Mein Gott, wenn ich Judy nicht bald wiedersehe, werde ich verrückt. Wollen die mich denn ins Irrenhaus bringen! Wenn das so ist, dann könnte Wolfgang heute noch leben...“ In den besten Kreisen ist es heute schick geworden, „ein bißchen lesbisch zu sein.“ („Man muß das mal probiert haben!“). Toben in der Zelle Nach wie vor aber wissen die Ärzte und Psychiater noch wenig vom Phänomen der gleichgeschlechtlichen Liebe. Sie erkennen aus den Trümmern nach einer seelischen Explosion, wie sie Marion Ihns und Judy Andersen erlebt haben, daß gewaltige Emotionen im Spiel gewesen sein müssen – und entsprechend vorsichtig sind ihre Empfehlungen an das Gericht. (B, „Marion Ihns: Mit Judy wäre...“ 23.01.1973)
Auch in diesen Diskursfragmenten, ähnlich wie in den vorherigen Artikeln der gleichen Serie, wird Marion Ihns durch eine Gegenüberstellung mit Judy Andersen in die Heteronormativität gezogen, während Andersen als „das lesbische Mädchen“ dargestellt wird, das die Frau verführt hat, die früher ein heterosexuelles Leben führte. Ihns werden dabei feminin konnotierte Eigenschaften zugeschrieben: Sie sei „recht hübsch“ und von Emotionen getrieben. Dabei taucht Judy schlicht als „das lesbische Dänenmädchen“ auf und repräsentiert in Verbindung mit den vorherigen Artikeln die planende, fordernde und verführende Seite. Diese Rollenverteilung zwischen den beiden Frauen dient dazu, Ihns’ Ausgeliefertsein an Emotionen zu verdeutlichen, was als die Ursache für den Mord von Wolfgang Ihns angedeutet wird. Erwähnenswert ist hier Ihns’ Stimme, die in direkter Rede formuliert ist und auf ihre Besessenheit deutet: Selbst eine lebenslange Haft sei nicht schlimm, wenn sie mit Judy Andersen in einer Zelle bleiben kann. Ihre Liebe zu Andersen wird im Abschluss des Textes als Krankheit determiniert – und zwar mit der Stimme der Psychiatrie. Kurz bevor jedoch die Stimmen der „Ärzte und Psychiater“ auftauchen,
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wird bereits durch Ihns’ Stimme die Verknüpfung mit der Geisteskrankheit hergestellt: Sie sagt, dass sie verrückt werde, wenn sie Andersen nicht bald wiedersehen könne. „Wollen die mich denn ins Irrenhaus bringen!“ „Verrücktsein“ und „Irrenhaus“ signalisieren den Abschluss des Textes, indem die gesamte Geschichte der beiden Frauen mit einer wenig erforschten Krankheit erklärt wird. In dem Text wird dabei darauf hingedeutet, dass diese „Krankheit“, die fatale Folgen für Männer haben kann, in bestimmten „Kreisen“ verbreitet sei. Während diese Krankheit für Männer fatale Folgen habe, führe sie Frauen ins Gefängnis: „Viele Frauen hier sind lesbisch.“ Wie hier zusammengefasst wurde, verbreitete die Artikelserie Die Verbrechen der lesbischen Frauen einige Repräsentations- und Deutungsmuster in Bezug auf Lesben, unter anderen das der gefährlichen, verführerischen Lesbe, die eine Gefahr für die Kernfamilie, insbesondere für den exklusiven Anspruch der Männer auf Männlichkeit, darstellt. Die Berichterstattung der Bild-Zeitung, die Kriminalität und lesbische Liebe miteinander in Verbindung brachte, löste empörte Reaktionen in der lesbischen Community in Berlin aus. Wie in Kapitel 2.2 gezeigt wurde, protestierten am 17. Februar 1973 die in der HAW organisierten Lesben an etlichen Plätzen in Berlin gegen die Bild-Zeitung und verteilten Flugblätter mit dem Titel „Die Verbrechen an den lesbischen Frauen“ (Kühn 2007, 69). Ein Jahr später, im August 1974, als der Prozess gegen Marion Ihns und Judy Andersen begann, ergriff Bild diese Gelegenheit, um erneut über die Geschichte der beiden Frauen zu berichten. Am 20. August 1974 erschien auf der Titelseite der Bild-Zeitung der erste Bericht der siebentägigen Serie. Im Unterschied zu den Artikelserien ein Jahr zuvor gab es diesmal viel mehr Bilder, da während der Verhandlungen eine uneingeschränkte Fotografiererlaubnis galt (Kühn 2007, 69). Ähnlich wie ein Jahr zuvor weckte die Berichterstattung der Bild-Zeitung über den Prozess auch 1974 Kritik vonseiten der lesbischen und feministischen Organisationen sowie von Journalistinnen (Kawan und Weber 1981, 430). Nicht nur Bild, sondern auch andere Boulevardzeitungen berichteten in einer negativen und spöttischen Weise über den Prozess gegen Marion Ihns und Judy Andersen, die am Ende zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Die Feministinnen aus dem Frauenzentrum Frankfurt verglichen die homophobe Berichterstattung, die einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und lesbischer Liebe herstellte, mit der Verfolgung der Hexen im Mittelalter und wiesen darauf hin, dass der Prozess nicht nur gegen Marion Ihns und Judy Andersen gerichtet war, sondern gegen das gesamte lesbische Dasein (Herzog 2005, 226). Eine weitere Gruppe von Frauen aus der HAW fuhr nach Itzehoe und protestierte gegen die Presse mit der Parole „Gegen geile Presse – für die lesbische Liebe“, um Solidarität mit Ihns und Andersen zu zeigen (Kühn 2007, 69).
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DIE EROTISIERUNG VON LESBEN Sowohl in Bild als auch in Hürriyet geschieht dies nicht nur durch visuelle, sondern auch durch textuelle Repräsentation, in der der Diskurs den Fokus auf den Körper der Frau und auf den erotischen Kontext legt. Zum einen wird der Körper der Frau geschildert, obwohl dies nicht in Zusammenhang mit dem Ereignis steht, über das in dem Text berichtet wird, zum anderen wird der Homoerotik zwischen Frauen im Detail dargestellt. Ein weiterer Punkt ist die Verschränkung des Repräsentationsmusters „Erotisierung“ mit dem Repräsentationsmuster „Kriminalisierung“. Wie die Analyse der „Kriminalisierung der Lesbe“ im vorherigen Kapitel zeigte, gibt es in den untersuchten Medien zahlreiche Diskursfragmente, die zu einer Verschränkung mit dem Repräsentationsmuster „Erotisierung“ führen. Insbesondere Bild stellt die „kriminelle“ Lesbe nicht nur als gefährlich, sondern auch als „erotisch“ dar, was wiederum auf den männlichen Blick zurückgeführt werden kann. Wie die Analyse ebenfalls zeigte, überlappt die Darstellung der gefährlichen und erotischen Lesbe mit der Figur der femme fatale, was auf die Panik und Verwirrung wegen der kriminellen Frau, die das männliche Monopol auf Begehren und Gewalt bricht, hindeutet. Eine weitere Verschränkung ist dabei mit dem Repräsentationsmuster „Normalisierung“ zu sehen, durch das die lesbische Liebe bzw. Homoerotik in die Heteronormativität integriert wird. Im Folgenden werde ich diejenigen Diskursfragmente, die als Teil des Repräsentationsmusters „Erotisierung“ gesehen werden können, in drei Hinsichten in die Analyse einbeziehen. Im ersten Schritt werde ich den Verlauf der Schilderung des lesbischen Körpers in den untersuchten Ausgaben von Bild und Hürriyet aufzeigen. In einem zweiten Schritt möchte ich zeigen, wie die untersuchten Zeitungen die Homoerotik unter Frauen als männliche Fantasie darstellen. Schließlich werde ich die Verschränkung mit den anderen Repräsentationsmustern, insbesondere mit der „Kriminalität der Lesbe“, aufzeigen. Anders als das schwule Subjekt wird das lesbische Subjekt häufig in einem erotischen Kontext gezeigt, was in beiden Zeitungen eine lange Tradition hat. Beispielsweise lag in einem Bericht über eine Theateraufführung aus dem Jahr 1969, in der Shakespeares Ophelia ohne männliche Darsteller gespielt wurde, der Fokus auf der Tatsache, dass das Stück von zwei Frauen gespielt wurde. Dies wird in dem Text als „optisches Vergnügen“ dargelegt und mit einem nebenstehenden Bild illustriert, das „(d)ie Japanerin Kumiko Kono Tanaka und die schwarzhäutige Olda Tundum“ bei „lesbischer Bodengymnastik“ zeigt. Dies bringt gleichzeitig einen exotisierenden Blick ins Spiel. Dass es ein „optisches Vergnügen“ für das Publikum sei, wird am Ende des Textes mit der Angabe unterstrichen, dass das Publikum „weder gegen den heißen Sex, noch gegen das kühle Denkspiel“ etwas einzuwenden habe (B, „Heißer Sex und kühles...“ 11.06.1969).
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Ein Artikel über den Film Die Klosterschülerinnen, in dem „ein heikles Thema“, nämlich Sexualität im Kloster, behandelt wird, legt den Fokus ebenfalls auf die Homoerotik unter Frauen. Ein Bild neben dem Text zeigt eine Szene aus dem Film, in der nackte Frauen unter der Dusche zu sehen sind, während eine Nonne, die vor der Tür steht, diese heimlich beobachtet. Die Kamera steht hinter der Nonne, somit sehen die Leser_innen die Szene aus der Perspektive der Nonne, also der Person, die den nackten Frauen zuschaut. Der Text erzeugt folgenden Kontext für das Bild: „Mutter Oberin schaut kritisch auf ihre Kloster-Schülerinnen. Wehe, wenn sie sich beim Duschen berühren!“ (B, „Dusch-Spaß hinter...“ 14.04.1972). Dieser heimliche Blick auf die Lesbe kommt in den untersuchten Medien nicht nur in Form visueller, sondern auch in Form textueller Darstellung vor. Die textuelle Schilderung des Körpers der Lesbe sowie des sexuellen Kontakts unter Frauen ähnelt der visuellen Darstellung, die von einem männlichen Blick geprägt ist und die Frau zu einem erotischen Objekt macht. An dieser Stelle schließe ich mich Laura Mulvey an, die in Visual Pleasure and Narrative Cinema die Theorie vertritt, dass das Vergnügen des Blicks von Gender geprägt ist: Der Mann schaut, und die Frau wird angeschaut. Durch den Blick des Mannes wird die Frau zum erotischen Objekt, während der Mann, der schaut, die Rolle des Subjekts verkörpert (vgl. Mulvey 1990). Mulveys Text behandelt zwar die Filmkunst bzw. den Blickwinkel der Kamera, trotzdem liefert er einige hilfreiche Werkzeuge für die Analyse, da die Darstellung der Lesbe als erotisches Objekt im journalistischen Diskurs (insbesondere in Bild) und in der visuellen Kunst Ähnlichkeiten aufweist. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Artikelserie Die Verbrechen der lesbischen Frauen (1973), in der der Text die Funktion der Kamera übernimmt. In den Artikeln wird der Körper mit einem erotisierenden Blick bis ins kleinste Detail geschildert, dabei wird der Fokus auf Körperteile und auch Gegenstände gelegt, die eine erotische Bedeutung haben: Größe der Brüste, Haarfarbe, Lippen sowie Unterwäsche. Diese Details stehen nicht in Zusammenhang mit dem Ereignis, über das in dem Text berichtet wird, haben jedoch die Funktion, das Ereignis für die Leser_innen der Boulevardzeitung spannender zu machen. Marion Ihns, die beschuldigt wurde, zusammen mit Judy Andersen ihren Ehemann Wolfgang Ihns habe ermorden zu lassen, wird beispielsweise als „[e]in hundert Pfund schweres Persönchen“ geschildert, das „sehr zierlich“ ist, „vor allem durch ihren üppigen Busen“ (B, „Die Verbrechen der lesbischen...“ 15.01.1973). Insbesondere die Schilderung der „Sex-Szenen“ zwischen Marion Ihns und Judy Andersen folgt dabei der Darstellungsweise der Frau als Objekt, das, Murvey zufolge, den männlichen Blick auf sich zieht bzw. das heterosexuelle männliche Begehren andeutet. Im Folgenden werden zwei Diskursfragmente aus der Artikelserie besprochen, die zum einen den Körper des lesbischen Subjekts als erotisches Objekt gestalten und zum anderen ein intimes, privates Ereignis in den Dienst des männlichen Blicks stellen.
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„Judy hat mich nur anzusehen brauchen, da begann ich schon zu zittern und konnte mich nicht mehr beherrschen. Es war wunderbar. Zu dritt haben wir auf der Couch gelegen, um ein Mittagsschläfchen zu halten: Judy, meine Tochter Sabine (damals 5 Jahre alt – d. Red.) und ich. Judy streichelte mich...“ „Und das erregte uns so, daß wir uns nicht mehr beherrschen konnten. Wir standen leise auf und gingen ins Badezimmer, wo wir uns bis zur Erschöpfung liebten...“ (B, „Die Verbrechen der lesbischen...“ 18.01.1973)
Dies ist ein Abschnitt aus dem Artikel, der von der beginnenden Bekanntschaft der beiden Frauen berichtet. Die Stimme von Marion Ihns hat dabei die Funktion, in die privaten Ereignisse der Geschichte einzuführen und den Blick auf das Intime zu werfen. Marion Ihns erzählt, wie ihre Beziehung mit Judy Andersen von Sexualität geprägt war. Selbst neben ihrer Tochter hatte Marion Ihns Schwierigkeiten, sich zurückzuhalten. Ein wichtiger Punkt ist hierbei die Rollenverteilung zwischen den beiden Frauen, die selbst den Blick prägt. Wie im vorherigen Kapitel bereits im Detail ausgeführt wurde, verkörpert Andersen die Rolle der „männlichen“ Seite in der Beziehung, die Marion Ihns, die nicht „so lesbisch“ ist, verführt und den Mord plant. Hier, in diesem intimen „Moment“, wird das Deutungsmuster „Verführung“ bei der Schilderung der Blicke sowie Berührungen erkennbar: Judy Andersen, als handelnde Person, blickt auf Marion Ihns und streichelt sie. Aus irgendeinem Grund, der gewiß moralischen Überlegungen entspricht, ist es verurteilten Frauen verboten, schwarze Unterwäsche zu tragen. Nach ihrem Prozeß muß Marion Ihns weiße Schlüpfer und Büstenhalter anziehen. Vor solchen Details hat sie zur Zeit noch die größte Angst. Und natürlich davor, daß sie Judy lange nicht sehen wird – und ihre Tochter Sabine, die jetzt sieben Jahre alt ist. (B, „Mit Judy wäre...“ 23.01.1973)
In diesem Abschnitt wird durch die Angabe der Farbe der Unterwäsche nicht nur der Körper von Ihns in ein erotisches Objekt des männlichen Blicks verwandelt, sondern auch ihre Haft und die daraus folgende Trennung von Judy Andersen und ihrer Tochter werden mit einer spöttischen Sprache auf die Ebene der Sexualität reduziert. Die Darstellung der Lesbe als erotische Fantasie des heterosexuellen Mannes wird in manchen Artikeln mittels erotischer Bilder explizit gemacht. In einem Artikel, erschienen 1979 in Bild, der über eine Frau berichtet, die nach einer Beziehung mit einer Frau einen Mann kennenlernt und entscheidet, „(n)ie wieder mit einer Frau“ zusammenzuleben, wird die erotische Fantasie in dem Diskurs durch ein Bild aus der erotischen Filmreihe Emmanuelle erkennbar. Das Bild zeigt die Schauspielerin Kristel in der Rolle der Emmanuelle, wie sie die Brüste einer anderen Frau anfasst. In der Bildunterschrift steht, dass die „Lesbierinnen“ behaupteten, Frauen seien „viel zärtlicher zu Frauen als Männer“. Dies wird wiederum auf Sexualität bezogen: „Was sie unter Zärtlichkeit verstehen, zeigt diese Film-Szene mit Sylvia
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Kristel aus Emmanuelle.“ In den Filmen handelt es sich jedoch nicht um eine lesbische Geschichte, und die Sex-Szenen unter Frauen sind eher für das männliche Publikum gedacht. Auch die Geschichte von Angelika Winkler, die der Artikel berichtet, ist aus der Perspektive des Mannes erzählt. Dem Bericht zufolge war sie mit einer Frau zusammen, als sie Wolfgang Winkler in einer Bar kennenlernte, und nach dieser Bekanntschaft waren „die sieben Jahre mit einer Frau mit einem Schlag vergessen!“ Die Frau, die einst eine Beziehung mit einer Frau hatte, kehrte schließlich „zurück in die Heterosexualität“ bzw. „zurück zu einem Mann“. Dass der Text mit einem heterosexuell männlichen Blick für die männlichen Leser geschrieben ist, wird auch im Titel erkennbar: „Kann Lesbierin eine gute Ehefrau werden?“ (B, „Kann Lesbierin eine...“ 13.07.1979). Lesbe-Sein ist in dieser Art der Darstellung etwas Vorübergehendes oder eher eine Fantasie statt einer Identität. Diese Fantasie ist jedoch keineswegs nur eine der Frau, sondern vielmehr eine heterosexuelle männliche Fantasie. Dies wird in der Berichterstattung dadurch erkennbar, dass das Ereignis in Bezug auf den Mann und aus dem Blickwinkel des Mannes erzählt wird. Die Erotisierung der lesbischen Repräsentation als eine Fantasie ist in ähnlicher Weise in Hürriyet zu sehen. Ein Artikel aus dem Jahr 1985 erzählt die Geschichte von Roxanne Pulitzer, die wegen ihrer Scheidung von dem berühmten Pressemanager Herbert Peter Pulitzer in den 1980er-Jahren die Aufmerksamkeit der Boulevardpresse erweckte. Herbert Peter Pulitzer warf seiner Ehefrau Roxanne Ehebruch und Drogenmissbrauch vor. Laut dem Bericht verteidigte sich Roxanne Pulitzer in dem Scheidungsprozess damit, dass ihr Ehemann sie dazu gezwungen habe, Sex mit anderen zu haben und Drogen zu konsumieren. Einer seiner weiteren „Vorwürfe“ war dabei, Roxanne habe „eine perverse Beziehung“ mit einer Frau, nämlich mit Jackie Kimberly, gehabt. Es wird jedoch berichtet, dass Roxanne diesen Vorwurf der „perversen Beziehung“ zurückgewiesen habe. Trotzdem zeigt der Bericht Roxanne Pulitzer auf einem Bild zusammen mit Jackie. In der Bildunterschrift steht in fettgedruckten Buchstaben: „Ein seltsames Paar“. Der kurze Text, der als Beschreibung des Bildes fungiert, steht jedoch im Widerspruch zu diesem. Es wird nämlich abschließend gesagt, dass Roxanne Pulitzer „den Vorwurf“ zurückgewiesen habe (H, „Sapık ilişkilerimi...“ 25.06.1985). Ein weiteres Bild zeigt Roxanne in einer erotischen Pose: Sie liegt halb nackt auf der Couch, trägt schwarze Strümpfe und schwarze hochhackige Schuhe, Fell sowie eine Sonnenbrille; im Vordergrund befinden sich ihre Beine, ihre Knie sind angewinkelt. Dies ist eine klischeehafte heteroerotische Pose. Die beiden Bilder von Roxanne Pulitzer, das mit einer anderen Frau und das einer erotischen Pose, stehen dabei im Dialog mit dem Titel des Artikels „Mein Mann wollte meine perversen Beziehungen“ und dem Text, der über den Vorwurf der „perversen Beziehung“, also der lesbischen Beziehung, berichtet. Die Juxtaposition der beiden Bilder und die Beziehung zwischen dem Text und den Bildern haben dabei die Funktion, Ro-
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xannes angenommene Affäre mit einer Frau nur als vorübergehend bzw. als eine sexuelle Fantasie zu konstruieren. Als im Juli 1984 Penthouse, ein erotisches Männermagazin, homoerotische Fotos der damaligen Schönheitskönigin, der „Miß Amerika“ Vanessa Williams, veröffentlichte, griff die Bild-Zeitung dies auch sofort auf. Die Berichterstattung über dieses Ereignis enthielt typische Deutungs- und Repräsentationsmuster, wie „lesbischer Sex als Fantasie“, eine textuelle Darstellung des Körpers sowie explizite Bilder, die zwei Frauen in einem erotischen Kontext zeigen. Nachdem Penthouse die Bilder veröffentlicht hatte, musste Williams ihre Schönheitskrone zurückgeben; in Bild erschien daraufhin eines der Fotos, die Williams nackt mit einer anderen Frau zeigen. Darauf umarmt sie diese und fasst ihre Brüste an. Dies wird jedoch, wie auch in den vorherigen Artikeln über Lesben in einem erotischen Kontext im gleichen Repräsentationsmuster, nicht als „störend“ empfunden, sondern als vorübergehende Fantasie konstruiert, insbesondere als eine männliche Fantasie. Die Konstruktion der Homoerotik als vorübergehende Fantasie erzeugt dabei einen legitimen Kontext für die lesbische Erotik, wodurch die Bilder der beiden Frauen als aufreizend in Umlauf gebracht werden: Laut Bild zeigten die Bilder Williams bei „aufreizenden Sexspielen mit einer anderen Frau“. Dabei wurde auch die Stimme des Penthouse-Chefs Bob Guccione, also eines Mannes, repräsentiert, der die Bilder als „ganz hübsch“ beschrieb (B, „Lesbische Fotos: Skandal um...“ 21.07.1984). Obwohl die Bilder Williams in einem homoerotischen Kontext zeigten, wurde Williams’ sexuelle Orientierung nicht infrage gestellt. Ein paar Küsse mit einer Frau haben Amerikas erste schwarze Schönheitskönigin die Krone gekostet: Vanessa Williams (21) ist zurückgetreten! Sie sagt: „Ich fühle mich entehrt!“ Wie BILD berichtete, waren nach ihrer Wahl zur Miß Amerika plötzlich Nacktfotos aufgetaucht – Vanessa beim lesbischen Liebesspiel! Die kaffeebraune Schönheit, nach ihrem Sieg von Präsident Reagan im Weißen Haus gefeiert: „Die Fotos wurden vor meiner Wahl gemacht.“ Dann: Ich glaubte, sie sind für eine Kunstausstellung. Außerdem sollten nur die Umrisse unserer Körper zu sehen sein.“ Fotograf Tom Chiapel knipste alles. Und das US-Sexmagazin „Penthouse“ zeigt jetzt alles. Prompt rannten eine Million mehr Amerikaner zum Kiosk (5 statt 4 Millionen). (B, „Miß Amerika regte Amerika...“ 25.07.1984)
Wie sich in diesem Beispiel andeutet, stehen die Fotos, die Vanessa Williams in einem homoerotischen Kontext zeigen, für eine vorübergehende Fantasie, die für den männlichen Blick inszeniert wird. Dies ist auch ein typisches Beispiel dafür, wie der Blick von Gender und Heteronormativität geprägt ist. Die Frau, die sich in einer homoerotischen Szene befindet, wird durch den männlichen Blick zu einem Objekt der heteronormativen Mainstream-Kultur: Dank der Veröffentlichung der homoerotischen Bilder stieg die Zahl der verkauften Ausgaben des Männermagazins Penthouse drastisch an. Mit dieser Angabe der Verkaufszahlen wird die Szene zu einem Gegenstand der dominanzgesellschaftlichen Kultur, die die Homoerotik
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unter Frauen in diesem legitimen Kontext als aufreizend zelebriert. Dabei werden Williams’ Haut, um ihre Schönheit zu beschreiben, mit exotisierend konnotierten Beschreibungen versehen: In diesem Text wird sie als „kaffeebraun“ beschrieben und in dem Bericht, der vier Tage zuvor erschien, als „milchkaffeebraun“ (B, „Miß Amerika: Schönheitskrone...“ 21.07.1984). Die fotografische Repräsentation von Frauen in einem homoerotischen Kontext ist auch in den untersuchten Ausgaben der beiden Zeitungen aus den 1990er-Jahren zu finden. Dies waren die Jahre, in denen sich berühmte Persönlichkeiten outeten. Parallel dazu kam es zu zahlreichen Artikeln, die Gerüchte über die sexuelle Orientierung prominenter Personen verbreiteten. Diese Gerüchte wurden mit dem Deutungsmuster „Fantasie“ bzw. die Darstellung von lesbischer Erfahrung als vorübergehende Phantasie verknüpft. Als Beispiel lässt sich etwa ein Bericht über Madonna anführen, der 1993 in Hürriyet erschien. Darin wird ihre Beziehung zu einer Frau, über die dem Bericht zufolge geredet wurde, als eine „neue Fantasie“ beschrieben (H, „Madonna’nın yeni...“ 25.07.1993). In ähnlicher Weise berichtete Bild 1992 von einem Gerücht über die Beziehung zwischen Madonna und der Schauspielerin Sandra Bernhard und veröffentlichte dazu ein Foto von Bernhard aus dem Erotikmagazin Playboy. Das Foto zeigt Bernhard nackt beim Umarmen einer Frau, die nur eine Lederhose und einen BH trägt (B, „Sandra – die Traumfrau...“ 28.08.1992). Die Konstruktion der Homoerotik unter Frauen, sei es in Artikeln über prominente Personen oder in expliziten Bildern aus Erotikmagazinen für Männer, deutet auf ein „visuelles Vergnügen“ der Mainstream-Kultur an der Repräsentation lesbischer Erotik bzw. Homoerotik unter Frauen. Bild deutet wiederum auf das „visuelle Vergnügen“ hin, als 2001 in der populären Fernsehreihe Tatort eine Kommissarin eine Frau küsste. Bild befragte fünf Leser_innen, darunter vier Männer, ob sie die Szene, die Bild als „Tabu-Bruch“ bezeichnete, erotisch fanden. Außer einer der Leser_innen fanden alle die Szene erotisch. Diese Aussagen deuten auf eine Normalisierung der lesbischen Repräsentation hin. Eine befragte Person äußerte: Warum solle man nicht auch in den Tatort ein lesbisches Pärchen „integrieren“? Und eine andere: In Deutschland werde „das Thema Schwule und Lesben“ zu sehr tabuisiert. In dem Text gab es auch drei Bilder, die im Detail zeigten, wie die beiden Frauen langsam zum Küssen kamen. Den Bericht kann man diesbezüglich als eine Verschränkung von Erotisierung und Normalisierung des lesbischen Subjekts sehen (B, „Fanden Sie die Lesben-Küsse“ 16.07.01). Sowohl in Bild als auch in Hürriyet fungiert die Erotik unter Frauen, im Gegensatz zur Erotik unter Männern, nicht als etwas „Störendes“ oder „Abnormales“, sondern als etwas „Angenehmes“ zum „Zuschauen“ für die heteronormative Mainstream-Kultur. Die Lesbe oder die heterosexuelle Frau, die sich in einem homoerotischen Kontext befindet, ist jedoch in solcher Konstruktion nicht das Subjekt, sondern das erotische Objekt des Blickes. Dies wird bspw. in dem Bericht über die Kussszene im Tatort dadurch erkennbar, dass sich unter den repräsentierten Stim-
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men, also unter den befragten Leser_innen, keine Lesbe befand. Die repräsentierten Stimmen sind hauptsächlich heterosexuelle Männer, die die Kussszene beurteilen und erotisch finden. Die Verschränkung der Repräsentationsmuster „Erotisierung“ und „Normalisierung“ ist auch in den untersuchten Ausgaben von Hürriyet ab den 2000er-Jahren deutlich erkennbar, insbesondere als t.A.T.u, eine lesbische Band aus Russland, 2003 an der Eurovision teilnahm (H, „Tatu edebsizlik yaparsa...“ 21.05.03). Die Berichte deuteten einerseits darauf hin, dass das Betrachten der lesbischen Band als visuelles Vergnügen angesehen wird, und andererseits, dass die Existenz der Band eine Gefahr für die heteronormative Mainstream-Kultur darstellt. Die BandMitglieder waren nämlich, anders als Vanessa Williams oder Roxanne Pulitzer, tatsächlich lesbisch und keine heterosexuellen Frauen, die nur vorübergehend die lesbische Erotik vorspielten. Hürriyet berichtete 2003 über eine Frau namens Güzide Gürpınar, die von ihrem Nachbarn „beschuldigt“ wurde, lesbisch zu sein, woraufhin Güzide Gürpınar Anklage wegen Beleidigung erhob. Dabei veröffentlichte Hürriyet ein Foto von Güzide, das sie mit einer Freundin zeigte. Die Freundin war ein Besuch aus Deutschland und ihr Nachbar dachte, dass die beiden Frauen in einer Beziehung seien (H, „Lezbiyen diyen komşuya...“ 08.05.2003). In einem zweiten Artikel berichtete Hürriyet, dass Güzide Gürpınar, nachdem der Bericht über ihre Anklage gegen ihren Nachbarn erschienen war, mehrere Heiratsanträge bekam: Als Lesbierin beschuldigt, 138 Anträge erhalten Auf Güzide Gürpınar (50), die in Antalya von ihrem Nachbarn als Lesbierin beschuldigt wurde, hagelt es Heiratsanträge. Gürpınar, die in der Gemeinde Pınarlı wohnt und von dem Nachbarn İbrahim Cumhur Önes als Lesbierin beschuldigt wurde, verklagte diesen mit der Begründung der „Bedrohung und Beleidigung“ Nach dem dieser Bericht in den Zeitungen seinen Platz fand, hagelte es aus allen vier Richtungen der Türkei von Männern, die Gürpınars Foto sahen, Heiratsanträge. Viele der Männer, die Gürpınar kontaktierten, sagten: „Sie brauchen einen Mann. Wenn Sie mich heiraten, dann wird sich Herr Cumhur nicht in Ihre Nähe wagen, ich werde Sie beschützen.“ Ich bin glücklich, ich brauche keinen Beschützer. Güzide Gürpınar, die eine Ehe hinter sich und aus dieser Ehe zwei Kinder hat, lehnte alle 138 Anträge ab. „Diese Anträge machten mich nicht glücklich. Sie haben meine Nummer bei der 118 ausfindig gemacht. Ich brauche niemanden, der mich beschützt“, sagte sie. (H, „Lezbiyenlikle suçlandı 138...“ 19.05.2005)
Auch hier wird das Foto einer Frau, die sich in einem als lesbisch konnotierten Kontext befindet, instrumentalisiert, um sie als Objekt des erotisierenden Blicks zu gestalten und sie dadurch in die Heteronormativität „zurückzuziehen“. Ähnlich wie in dem Bericht über den „Vorwurf“ gegen Roxanne Pulitzer von 1985, sie sei lesbisch, hat das Foto von Güzide Gürpınar und ihrer Freundin die Funktion, auf die
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angenommene Beziehung zwischen den beiden Frauen hinzudeuten. Diese Andeutung wird jedoch in zweierlei Hinsichten dekonstruiert und in die Heteronormativität integriert. Zum einen wird ein Widerspruch zwischen dem Foto und dem Text hergestellt: Der Text weist nämlich den Vorwurf zurück, während das Foto die beiden Frauen zusammen zeigt. Im zweiten Schritt fungiert das Foto, das eine versteckte Andeutung von lesbischer Liebe bzw. von Homoerotik unter den beiden Frauen enthält, als Objekt für den heteronormativen bzw. männlichen Blick. Diese Andeutung war nicht störend für den heterosexuellen Leser; sie war vielmehr attraktiv. Die repräsentierte Stimme der Männer, die Gürpınar heiraten wollten, zeigt die patriarchale Vorstellung von einer Beziehung: Der Mann will die Frau schützen. Die Stimme von Gürpınar bildet jedoch einen Widerspruch zu dieser Vorstellung, denn sie, die alleinerziehende Mutter, ist finanziell unabhängig. Diese Angaben über ihre Vergangenheit und Familie unterstreichen den heterosexuellen Kontext, in dem sie sich „eigentlich“ befindet. Sie ist also nicht lesbisch, sondern eine heterosexuelle Mutter, die sich vorübergehend in einem als lesbisch deutbaren Kontext befindet, was sie wiederum zum Objekt der heterosexuellen männlichen Fantasie über lesbische Erotik macht. In einer ähnlichen Weise betont ein Bericht aus dem Jahr 2004, erschienen in Hürriyet, die heterosexuelle männliche Fantasie über lesbische Erotik und konstruiert dabei den Körper der Lesbe als Gegenstand dieser Fantasie. Der Text berichtet, dass Rosie Reid, eine Lesbe, die an der Universität Bristol studierte, ihre „Jungfräulichkeit“ im Internet per Auktion „verkaufte“, um das Schulgeld zu zahlen. Schließlich war ein Mann bereit, 8.400 Pfund zu zahlen (H, „Lezbiyen kızın bekaretini...“ 11.02.2004). Ähnlich wie in dem Bericht über das Erotikmagazin Penthouse, dessen Verkaufzahlen sich drastisch erhöhten, nachdem es Vanessa Williams’ homoerotische Bilder veröffentlicht hatte, oder in dem Bericht über Güzide Gürpınar, die, laut Bericht, mehrere Heiratsanträge bekam, nachdem Hürriyet sie als lesbisch konnotiert hatte, wurden hier Rosies lesbisches Dasein, ihr Körper sowie ihre „Jungfräulichkeit“ zum Gegenstand der heterosexuellen männlichen Kommodifizierung. Wie die in diesem Kapitel durchgeführte Analyse des Repräsentationsmusters „Erotisierung der lesbischen Repräsentation“ zeigt, bilden der Blick des heterosexuellen Mannes sowie seine Darstellung als Konsument des Bildes den essenziellen Bestandteil der Konstruktion der Lesbe als erotisches Objekt. Diese diskursive Existenz des heterosexuellen Mannes wird in mehreren Texten, die das lesbische Subjekt als Widerspiegelung der gescheiterten Heterosexualität konstruieren, sogar als Ursache der lesbischen Subjektivierung angeführt. Im folgenden Kapitel lege ich den Fokus auf solche Texte sowie auf Diskursfragmente, die dem Repräsentationsmuster „die Lesbe als gescheiterte Heterosexuelle“ angehören.
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DIE REPRÄSENTATION DER LESBE ALS GESCHEITERTE HETEROSEXUELLE Der heterosexuelle Mann erscheint als essenzieller Bestandteil der lesbischen Repräsentation, auch in dem Repräsentationsmuster der Lesbe, die als gescheiterte Heterosexuelle angesehen wird bzw. als Frau, die sich wegen ihrer traumatisierenden Erfahrungen mit Männern den Frauen zuwendet. Der heterosexuelle Mann wird in den Diskursfragmenten, die die Frau in einen homoerotischen Kontext einbetten, als Betrachter homoerotischer Szenen zu einem Bestandteil der Repräsentation der Lesbe bzw. der Frau, die vorübergehend ein Lesbisch-Sein vorspielt. Dadurch wird er in dem Repräsentationsmuster „die Lesbe als gescheiterte Heterosexuelle“ aufgrund seiner Tat bzw. seines Betrachtens zu einer Quelle der Repräsentation von lesbischer Subjektivität, die dadurch wiederum auf die Existenz des heterosexuellen Mannes bezogen wird. Diese Art der Darstellung beruht auf einer Korrelation zwischen den traumatisierenden Erfahrungen von Frauen mit Männern und der lesbischen Subjektivierung, einer Korrelation, die nicht nur im journalistischen, sondern auch im psychiatrischen Diskurs zu sehen ist (vgl. Butke 1995). Insbesondere in der Berichterstattung der Bild-Zeitung in den 1970er-Jahren spitzte sich dieses Repräsentationsmuster zu. In den Geschichten, die in dieser Zeit in Bild erschienen, haben die Lesben in ihrer Vergangenheit häufig Tragisches erfahren bzw. ein Trauma erlitten. Diese Repräsentation verliert jedoch im diachronen Verlauf ihre Dichte. In Hürriyet ist sie nicht so verbreitet wie in Bild. Eine Verdichtung einiger Diskursfragmente aus Hürriyet zur Repräsentation der Lesbe als gescheiterte Heterosexuelle ist dennoch zu sehen. Die Berichterstattung über Marion Ihns und Judy Andersen lässt sich hier als typisches Beispiel für die Konstruktion der Lesbe als ein in der heteronormativen Entwicklung gescheitertes Subjekt anführen. Wie in den vorherigen Kapiteln ausgeführt wurde, waren die beiden Frauen wegen der Ermordung von Marion Ihns’ Ehemann Wolfgang Ihns angeklagt. Im ersten Artikel der Serie Die Verbrechen der lesbischen Frauen wird beispielsweise über Marion Ihns’ Kindheit erzählt, um eine Erklärung für ihre Liebe zu Judy Andersen zu finden. Wie bei so vielen anderen Frauen auch, die sich von Männern abgewandt haben, begann der Konflikt für Marion Ihns schon in ihren Kinderjahren. Sie war neun Jahre alt, als sie im Hungerjahr 1947 von einem 62jährigen Nachbarn vergewaltigt wurde. „Das geschah in der Wohnküche dieses alten Mannes“, erzählt sie, „in der ständig ein Topf mit Zuckerrüben auf dem Ofen stand, die der Kerl zu Sirup verkocht hat. Seit dieser Zeit hasse ich den Geruch von Sirup...“ Marion hat nie wieder Sirup gegessen – bis sie ihm jetzt im Untersuchungsgefängnis wieder begegnete. „Gestern ist mir schlecht geworden“, erzählte sie ihrem Anwalt vor kurzem. „Zum Frühstück hat es Sirup gegeben. Und da ist mir schlagartig die Erinnerung an den alten Mann wieder
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hochgekommen, der mir vor fünfundzwanzig Jahren den Schlüpfer herunterzog und an mir herumgespielt hat...“ Das Gericht wird sich viele solcher Geschichten aus der Jugend der Marion Ihns anhören müssen. Geschichten, in denen immer wieder von sexuellen Erlebnissen die Rede sein wird und nie von Gefühlen der Liebe, nicht einmal von Gefühlen sexueller Befriedigung. (B, „Die Verbrechen der lesbischen...“ 15.01.1973)
Die Erklärung der lesbischen Subjektivierung in Zusammenhang mit einem Trauma aus der Vergangenheit, wie es auch in diesem Diskursfragment zu sehen ist, konstruiert Heterosexualität als eine Essenz, während das Lesbisch-Sein als Abweichung gesehen wird, die durch ein Trauma ausgelöst wird. Im obigen Textabschnitt wird Marion Ihns’ lesbische Subjektivierung mit einer Abwendung von den Männern erklärt, was in paradoxer Weise das Lesbisch-Sein wiederum mit Männern, also mit Heterosexualität, in Bezug setzt. Wie der männliche Blick, der das lesbische Subjekt, die Lesbe, zu einem erotischen Objekt der Heterosexualität macht, verwandelt auch die Tat, in diesem Fall die Vergewaltigung, des heterosexuellen Mannes die Frau, die angeblich ursprünglich heterosexuell ist, in eine Lesbe. Der heterosexuelle Mann steht also im Zentrum; seine Blicke und seine Taten haben die Macht, die Struktur und den Kontext der lesbischen Subjektivierung zu bestimmen. Die Stimme von Marion Ihns, die in diesem Abschnitt wiedergegeben wird, hat die Funktion, die traumatisierende Erfahrung der Vergangenheit darzustellen. Dabei wird der Fokus auf den Sirup gelegt, der in Marion Ihns, als sie bereits im Gefängnis ist, wieder die Erinnerung an den sexuellen Missbrauch weckt. Das Gefängnis fungiert dabei als Institution, durch die sich Marion Ihns mit ihrer eigenen lesbischen Subjektivierung, die zum Mord an ihrem Ehemann führte, auseinandersetzt. Dabei wird der sexuelle Missbrauch eines Kindes mit einem sexuellen Erlebnis gleichgestellt. So gesehen hat die Erwähnung der „sexuellen Befriedigung“, gleich nachdem über den Missbrauch berichtet wird, die Funktion, diesen zu banalisieren. Adrienne Rich bezeichnet dieses Repräsentationsmuster, das die lesbische Subjektivierung auf eine erfahrene Tragik bzw. ein Trauma bezieht, als Teil der institutionalisierten Heteronormativität, die sie als compulsory heterosexuality nennt. Dieser Bezug auf den heterosexuellen Mann stellt einerseits die Liebe zu einem Mann als primär und andererseits die lesbische Subjektivierung ausschließlich als Zuflucht vor der männlichen Gewalt dar, was die ermächtigende Kraft unter Frauen, so Rich, übersieht (Rich 1980, 658). In den Texten, in denen eine Verschränkung mit dem Repräsentationsmuster „kriminalisierende Repräsentation von Lesbe“ zu sehen ist, wird also einerseits die lesbische Liebe als eine Möglichkeit der Zuflucht vor der männlichen Gewalt, wie Rich formuliert, und andererseits wegen ihres „mörderischen“ Potenzials als eine Gefahr für den heterosexuellen Mann konstruiert. Ein ähnliches Repräsentationsmuster ist auch in einem im Jahr 1970 in Hürriyet erschienenen Bericht zu finden. Obwohl hier keine explizite Darstellung einer Lesbe, sondern eine frühen Form der lesbischen oder trans*männlichen Subjektivie-
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rung zu erkennen ist, weist die Berichterstattung Ähnlichkeiten mit dem Repräsentationsmuster „die Lesbe als gescheiterte Heterosexuelle“ auf. Denn Bedriye Gül, um die es in dem Bericht geht, trifft, nachdem sie sexuell missbraucht wurde, die Entscheidung, Männerkleider zu tragen. Bedriye Gül macht ihre Aussage bei der Polizei und erklärt, warum sie Männerkleidung trägt: „Bis ich 14 Jahre alt war, habe ich Röcke angezogen. Ständige Anmachen, Belästigungen usw. – es waren Dutzende. Ab meinem 14. Lebensjahr zog ich Hosen an und erlangte so die Freiheit. Meine ältere Schwester, die das sah, trug dann auch Hosen. Viel später zogen wir uns komplett Männerkleidung an und befreiten uns somit gänzlich von den Männern.“ (H, „Erkek Bedriye...“ 05.05.1970)
Bedriye Gül wurde beschuldigt, eine erst kürzlich verheiratete Frau entführt zu haben. Nicht nur ihre männliche Erscheinung, sondern auch das Deutungsmuster „Entführung“ weist in dem Text auf ihre Genderambiguität hin und impliziert ihre „lesbische“ Beziehung zu der Frau, die sie entführt hat. Erwähnenswert ist hierbei auch der im Text hergestellte Zusammenhang zwischen ihrer Genderambiguität und ihrer kriminellen Tat. In Kapitel 4.1.1. wurde auf die Kriminalisierung genderambiguer Körper, wie sie in diesem und anderen Texten vorkommt, genauer eingegangen. An dieser Stelle ist es zunächst wichtig hervorzuheben, dass in dem Text das männliche Handeln als Ursache der nicht-heteronormativen Subjektivierung konstruiert wird. Bedriye und ihre Schwester haben sich aufgrund dieser Tat von der Heteronormativität und vielleicht auch von den Männern „abgewandt“. Und wie in Kapitel 4.1.1. gezeigt wurde, entführte sie die frisch verheiratete Frau, die zwangsverheiratet wurde. In einem weiteren Bericht, erschienen 1973, wird als Ursache für die lesbische Subjektivierung einer Frau angeführt, dass sie zur Zeugin von männlicher Gewalt gegen eine andere Frau wurde. „Ich habe damals, als 15jährige, einen Schock erlitten“, erzählt Inge Groß weiter, „das war meine beste Freundin, mit der ich spazieren ging, plötzlich steht da so ein Kerl vor uns und greift sich meine Freundin...“ Inge Groß war noch nicht lesbisch damals, sie hätte das Wort noch nicht buchstabieren können. „Ich habe machtlos zusehen müssen, wie sie vergewaltigt wurde, ein zartes, hilfloses Mädchen... Ich konnte gar nichts als schreien, es war entsetzlich... Seit dieser Zeit habe ich Männer nur gehaßt. Ich konnte sie nicht mehr ausstehen...“ Noch im gleichen Jahr erlebte Inge Groß dann die lesbische Liebe. (B, „Es war im Wald...“ 29.01.1973)
Die Korrelation zwischen einem Trauma und lesbischer Subjektivierung wird in diesem Diskursfragment in der Beziehung zwischen der Stimme und dem Text erkennbar. Gleich nachdem Inge anfängt, über den erlittenen „Schock“ zu erzählen, wird die Angabe gemacht, sie sei damals nicht lesbisch gewesen. Zu Beginn berichtet ihre Stimme, die im Widerspruch zu der späteren Angabe steht, „nicht lesbisch
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zu sein“, von dem Anfang des Ereignisses. Später wird mit ihrer Stimme das Ereignis, also wie ihre beste Freundin von einem Mann vergewaltigt wurde, zu Ende erzählt. Nachdem Inge ihren Männerhass erwähnt, das heißt, sie die Geschichte mit einem Deutungsmuster, das auf Lesbisch-Sein hindeutet, verbindet, wird in dem Text berichtet, dass sie in demselben Jahr ihre erste lesbische Erfahrung machte. Der Titel des Berichts „Es war im Wald... ein Kerl... ich konnte nur schreien... seitdem bin ich lesbisch“ weist ebenfalls auf das Trauma hin; er verzerrt jedoch den Inhalt des Textes, indem er den Eindruck vermittelt, Inge, die in dem Text das lesbische Subjekt verkörpert, sei es, die vergewaltigt wurde. Die in Bild erschienene Artikelserie Wilde und andere Ehen setzte sich aus „Geschichten über ungewöhnliche Partnerschaften“, darunter auch Geschichten über polyamore sowie bisexuelle Beziehungen zusammen. Die Texte erzählten nicht nur die Geschichten, sie determinierten auch die Grenzen der Heteronormativität: Die Stimmen der „Experten“, die in den Texten repräsentiert waren, und die Berichterstattung, die an manchen Stellen dem Diskurs von Fachbüchern ähnelte, lieferten Definitionen sowie Beschreibungen von nicht-heteronormativen Subjektpositionen. In einem Artikel wurde sogar in zwei Textkästen erklärt, warum manche Frauen Lesben seien: Textbox 1: Macht die Pille lesbisch? Mädchen, die schon mit 13 oder 14 die Antibabypille nehmen, können lesbisch werden, vermutet der französische Wissenschaftler Professor Lejeune. Die Hormone der Pille können das noch nicht voll entwickelte Gehirn beeinflussen und das normale Sexualempfinden stören. [...] Textbox 2: Das Rätsel, warum Frauen Frauen lieben Fast jede zweite Frau hat schon einmal lesbische Erfahrungen gemacht. Frauen wie Anita Winkler gibt es in Deutschland 400 000, ermittelte Allensbach in einer Umfrage. Das heißt: Frauen, die häufig oder ständig Männer und Frauen lieben. Und nur ganz wenige Ehemänner kennen ihr Geheimnis. Bis heute gibt es nur Vermutungen, warum Frauen lesbisch werden. Enttäuschungen in der Kindheit oder fehlende Zärtlichkeit der Männer oder Hormonstörungen... (B, „Kann eine Lesbierin eine...“ 13.07.1979)
Die Textbox 1 ist ein typisches Beispiel für den Einfluss des sozio-historischen Kontextes auf den Heteronormativitätsdiskurs der 1970er-Jahre. Wie Dagmar Herzog darlegt, waren die 1970er-Jahre geprägt von Bildern und Diskursen über Sexualität sowie einer Liberalisierung der Normen bezüglich vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Die „Pille“ zur Empfängnisverhütung oder die „Antibabypille“, wie es in diesem Text heißt, war eine der Initialzündungen dieser „Sexwelle“ der 1970er-Jahre (Herzog 2005, 141). Textbox 1 lässt sich also in diesen Kontext, der von Diskussionen über die „Antibabypille“ geprägt war, einbetten. Die Pille, die sich auch als chemisches, also künstliches Eingreifen in den Körper und damit in
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die Natur, deuten lässt, wird in dem Text in Form eines vermeintlich wissenschaftlichen Diskurses als eine der möglichen Ursachen für die lesbische Subjektivierung angeführt. Lesbisch-Sein wird hier als Störung gedeutet und assoziiert mit „Chemie“ und „Eingriff in den Körper“, während die heterosexuelle Orientierung als etwas Natürliches und Gesundes dargestellt wird. Textbox 2 steht mit Textbox 1 sowie mit Anitas Geschichte in einem Dialog. Der erste Absatz beschreibt die „lesbische Affäre“ als vorübergehend, wie es auch bei Anitas Geschichte zu sehen war. Hier wird wieder mit der Stimme der Wissenschaft festgestellt, dass in den vorübergehenden Affären unter Frauen keine Gefahr für die Heteronormativität sowie die heterosexuelle Ehe liege. Die lesbische Subjektivierung wird im zweiten Absatz wieder auf ein Trauma sowie auf eine Störung in der heterosexuellen Entwicklung bezogen, was zur Pathologisierung der Lesbe führt. Die doppelte Bedeutung, die sich durch die Verschränkung der Repräsentationsmuster „Normalisierung der lesbischen Repräsentation“ und „die Lesbe als gescheiterte Heterosexuelle“ ergibt, verweist auf eine Transformation sowie auf einen Bruch in der Repräsentation der Lesbe. Einerseits wird die Existenz der Lesbe anerkannt und wird versucht, mithilfe des wissenschaftlichen Diskurses zu erklären, dass sie „nicht gefährlich“ ist, andererseits werden neue Grenzen in Bezug auf ihre Akzeptanz gezogen: Lesbische Begegnungen werden als etwas Normales gesehen, während die Lesbe, die sich aufgrund der „Pille“ sowie eines „Traumas“ von der Heterosexualität „abwendet“, weiterhin außerhalb der Grenzen steht. In einem Text, erschienen 1984 in Bild, über die Beziehung zwischen zwei Frauen, Erika und Rita (die Nachnamen werden in dem Text nicht genannt), wird als Grund für die „Abwendung von der Heterosexualität“ nicht mehr ein Trauma bzw. Männerhass, sondern Enttäuschung angeführt. Laut dem Bericht war Erika enttäuscht von ihrem Ehemann, weil sie diesem nichts recht machen konnte. „Das Essen schmeckte ihm nie, die Wohnung war zu unordentlich. (Sie) war zu dick, obwohl (sie) immer hungerte...“ Dann sah Erika die Anzeige von Rita, die eine Mitbewohnerin suchte, in einer Zeitung und zog mit ihrem Sohn zu ihr, was zu der Beziehung zwischen den beiden führte (B, „Vom Ehemann enttäuscht...“ 13.03.1984). Als Ursache für die lesbische Subjektivierung wird also nicht mehr ein Trauma in der Vergangenheit angeführt, wie es in den vorherigen Texten der Fall war, sondern eine Enttäuschung, die wiederum als Transformation in Bezug auf das Repräsentationsmuster gedeutet werden kann. Im Gegensatz zum Trauma, das womöglich eine psychopathologische Folge bzw. Störung ist, impliziert eine „Enttäuschung“ keine starke psychopathologische Störung. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass hier das Subjekt nach der enttäuschenden heterosexuellen Erfahrung schließlich ein besseres Leben findet, während in den Geschichten, die davor sowohl in Bild als auch in Hürriyet erschienen, eine glückliche Beziehung zwischen Frauen
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als unmöglich dargestellt wurde. Der Titel des Textes fasst diese Transformation zusammen: „Vom Ehemann enttäuscht: Ich liebe meine Freundin“. Trotz dieser Transformation bleibt die Heterosexualität immer noch der favorisierte Weg, von dem das lesbische Subjekt aufgrund einer Enttäuschung oder eines Traumas, einer Tragik, sexuellen Missbrauchs oder sexueller Belästigung, wie es in den vorherigen Texten zu sehen war, abweicht, sodass das lesbische Subjekt am Ende immer als eine gescheiterte Heterosexuelle wahrgenommen wird. Als die Fernsehmoderatorin Cornelia Scheel 1991 ihre Beziehung mit Hella von Sinnen bekannt machte und danach ankündigte, für das Recht auf die gleichgeschlechtliche Ehe bis vor des Bundesverfassungsgericht ziehen zu wollen, löste dies Diskussionen aus, über die auch Bild berichtete. Am 4. Mai 1991 erschien auf der Titelseite von Bild in großen Buchstaben die Schlagzeile: „Hat Walter Scheel versagt?“. Der Bild-Artikel fragte: „Wie wurde Cornelia Scheel, was sie ist?“ Und der Leiter der Playboy-Redaktion der in dem Bericht als Experte dargestellt wurde, gab darauf einige Antworten in seiner „atemberaubende(n) Analyse“, so Bild (B, „Hat Walter Scheel...“ 04.05.1991). „Du bist nun alleine, Cornelia. Paß gut auf dich auf.“ Das waren die letzten Worte von Mildred Scheel zu ihrer Tochter Cornelia. Die damals 22Jährige antwortete unter Tränen: „Wenn du gehst, gehe ich mit dir, Mama. Dann sterben wir zusammen.“ An jenem furchtbaren Muttertag, dem 12. Mai 1985, erlag Mildred Scheel ihrem Krebsleiden. Ihre Tochter aber wäre fast mit Mama gestorben: monatelang Magersucht aus Kummer und Schmerz, Selbstmordgedanken, Abbruch des Medizinstudiums. [...] Sie überlebte, weil sie sich seelisch an der großen Mutterfigur aufrichtete, die sie „das Idol meines Lebens“ nannte. „Ich hoffe, dass ich einmal genauso stark werde wie die Mama.“ Cornelia Scheel ist nicht so stark geworden wie ihre Mutter – und gerade darum ist aus ihr das geworden, was sie heute ist: Eine Frau, die sich offen zu ihrer lesbischen Liebe bekennt. Hella von Sinnen, die Starke, Unabhängige, Kesse, Rigorose, Freie wurde seelisch und sexuell jene Mutterfigur, die Cornelia Scheel braucht. Es war eine psychische Prägung über den langen Weg. (B, „Cornelia Scheel: Wir sterben...“ 04.05.1991)
In diesem Text entsteht das Bild einer Lesbe, die sich aufgrund der fehlenden Mutterfigur den Frauen zuwendet. Im Unterschied zu den vorherigen Texten wird hier nicht eine traumatische heterosexuelle Erfahrung als Ursprung und Hintergrund der lesbischen Subjektivierung angeführt, sondern die Trauer um die verstorbene Mutter, was wiederum als Trauma bezeichnet werden kann. Trotz der Repräsentation ihrer Stimme stellt Cornelia Scheel nicht den Diskurs dar, der den Hintergrund sowie die Entwicklung ihrer Subjektivierung darlegt und determiniert, sondern ihre Stimme ist vielmehr Gegenstand eines psychoanalytischen Diskurses, der jedoch nicht von einem herkömmlichen Experten, wie z.B. von einem Psychiater, vorgebracht wird, sondern von dem Redakteur eines Männermagazins. Das heißt, sogar
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bei der Repräsentation seiner eigenen Stimme wird dem lesbischen Subjekt nicht das Recht gewährt, sein Leben selbst zu analysieren. Zusätzlich zur fehlenden Mutterfigur wird in den nächsten Absätzen des Textes die fehlende Vaterfigur als Hintergrund für Cornelia Scheels lesbische Identität genannt. Laut dem Bericht sah Cornelia Scheel ihren leiblichen Vater, den Regisseur Robert Stemmle, nur einmal in ihrem Leben. „Die Mutter war alles. Die Kraft und die Tüchtigkeit.“ Als Cornelia Scheel fünf Jahre alt war, heiratete die Mutter den damaligen Bundesaußenminister Walter Scheel, den „Traum-Papi – von außen betrachtet“, aber in Wirklichkeit war er „eine Fehlbesetzung in der Vaterrolle“. Walter Scheel war nämlich sehr beschäftigt, und „die Tochter sah den Vater oft nur auf den Titelseiten der Zeitungen“. Cornelia Scheel wuchs also Bild zufolge quasi ohne Mutter- und Vaterfigur auf. Daher kommt der Artikel zu dem Schluss, dass diese „fehlende Liebe“ in der Familie als Grund gesehen werden kann, warum sich Cornelia Scheel in Hella von Sinnen verliebte, die in dem Text sowohl als weiblich wie auch als männlich konnotiert wird. Hella von Sinnen ersetzt die fehlende Liebe der Mutter und des Vaters in Cornelias Leben. Obwohl in den untersuchten Ausgaben von Hürriyet das Repräsentationsmuster der „Lesbe als gescheiterte Heterosexuelle“ nicht so verbreitet ist wie in Bild, weisen etliche Diskursfragmente auf das Deutungsmuster „Scheitern“ hin. In einem Artikel, der die Frage stellt, ob Homosexualität eine Präferenz oder eine Krankheit sei, wird als Ergebnis einer Feldforschung angeführt, dass Personen, die ihren ersten Geschlechtsverkehr mit einer gleichgeschlechtlichen Person erleben, „Schwierigkeiten haben, sich das abnormale Verhalten abzugewöhnen“ (H, „Eşcinsellik Tercih mi...“ 12.07.1993). Diese Aussage steht als Bildunterschrift unter einem Foto, auf dem zwei hintereinander stehende Frauen zu sehen sind. Die Frau im Vordergrund trägt nur einen BH. Ihre Haare sehen unordentlich aus und ihr Blick ist nachdenklich, zweifelnd sowie unsicher. Hinter ihr steht eine kurzhaarige Frau in Männerkleidung. Sie raucht, und ihr Blick richtet sich auf den Rücken oder auf das Gesäß der Frau, die vor ihr steht. Wenn man die Bildunterschrift ebenfalls in Betracht zieht, weist das Foto gleichzeitig auf das Deutungsmuster „Verführung“ sowie „Scheitern“ hin. Die rauchende Frau verführt die heterosexuelle Frau, und infolgedessen wendet sich diese von den Männern ab. Dieses Deutungsmuster wurde bereits im Kapitel über die kriminalisierende Repräsentation von Lesben im Detail untersucht. Hier ist das Deutungsmuster „Verführung“ jedoch nicht mit „Kriminalität“ verschränkt, sondern mit dem Deutungsmuster „Scheitern“. Ein weiterer erwähnenswerter Punkt ist, dass hier das „Scheitern“ nicht auf die Tat des heterosexuellen Mannes bezogen ist, sondern auf die Verführung der Frau durch eine andere Frau. Das Deutungsmuster „Verführung“ war in den Texten aus der Bild-Zeitung ebenfalls zu sehen. Der Unterschied besteht darin, dass in den Geschichten, die in Bild erschienen, ein Trauma in der Vergangenheit der verführten Frau eine zentrale Bedeutung hatte. In diesem Text aus Hürriyet hat die verführte Frau hingegen keine traumatisierende Erfahrung mit Männern gemacht.
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DIE NORMALISIERUNG VON LESBEN Das Gerüst des Repräsentationsmusters „Normalisierung“ wird von zwei Diskurssträngen gebildet, die in der Bild-Zeitung ab den 1980er-Jahren und in Hürriyet etwas später, und zwar ab den 1990er-Jahren, zu beobachten sind. Diskussionen über die Anerkennung von lesbischen Partnerschaften innerhalb der traditionellen Institutionen, wie z.B. die Kopplung von Ehe und Religion sowie Familie, bilden den ersten Diskursstrang, Berichte über das Coming-out berühmter Personen den zweiten. Sowohl in Bild als auch in Hürriyet sind ähnliche Aussagen in den diachronen Schnitten der beiden Diskursstränge zu finden. Hinsichtlich lesbischer Partnerschaften, die innerhalb der Institutionen Ehe, Religion und Familie sichtbar werden, geht eine Desexualisierung der lesbischen Repräsentation mit der Integration lesbischer Repräsentationen in das heteronormative Wertesystem, wie z.B. Verbindung, Verantwortung und Mutterschaft, einher. Das Deutungsmuster der Rollenverteilung, die auf der Dichotomie Maskulinisierung vs. Feminisierung beruht und insbesondere für die Bild-Zeitung zentral ist, verliert im Laufe der Zeit seine Bedeutung. Dabei findet die Kirche als Institution für die Anerkennung lesbischer Partnerschaften Eingang in die Bild-Berichterstattung. In der HürriyetBerichterstattung hingegen spielt die christliche Kirche keine große Rolle, Diskussionen über gleichgeschlechtliche Ehen werden vielmehr auf einer säkularen Ebene verhandelt. Im zeitlichen Verlauf des Diskurses wird die Normalisierung insbesondere durch der Reihenfolge der Stimmen deutlich. Sowohl in Hürriyet als auch in Bild wird im Laufe der Zeit eine Stimmung der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen dadurch erzeugt, dass die Wünsche und Forderungen der Lesben immer deutlicher sichtbar werden bzw. es zu einer Transformation der Hierarchisierung unter den repräsentierten Stimmen kommt. Dabei wird die Möglichkeit biologischer Reproduktion queerer Paare in beiden Zeitungen immer noch als Tabu behandelt; beispielsweise wird die Vorstellung von einer Welt, in der sich lesbische Paare ohne Männer fortpflanzen können, mit heterosexueller Angst vor dem Ende der Menschheit gefärbt. Die Integration der lesbischen Repräsentation in die dominanzgesellschaftliche Kultur wird insbesondere in Artikeln über das Coming-out berühmter Personen deutlich. Die Repräsentation einer erfolgreichen, kreativen, von der Gesellschaft anerkannten Lesbe taucht in beiden Zeitungen ab den 1980er-Jahren auf und zeigt, wie Anerkennung und Wertschätzung mit dem Status des Subjekts verbunden sein können sowie, inwiefern der Status die Sichtbarkeit des lesbischen Subjekts beeinflusst. Beide Medien behandeln die Gerüchte über die sexuelle Orientierung einer berühmten Person bzw. das Coming-out einer berühmten Lesbe anhand ihres Status unterschiedlich: Während es im Falle der Repräsentation von Prominenten aus der Unterhaltungsbranche zu einer Verschränkung mit dem Repräsentationsmuster „Erotisierung“ kommt, fehlen bei der Repräsentation von Politikerinnen die sexuellen Konnotationen. Im Folgenden wird anhand des Analysematerials betrachtet, wie
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das lesbische Subjekt hinsichtlich seines Status bzw. seiner Bereitschaft zur Integration als Teil der dominanzgesellschaftlichen Kultur, der traditionellen Institutionen sowie des Wertesystems repräsentiert wird. Ehe, Familie und Religion Als es ab den späten 1980er-Jahren in etlichen Ländern, darunter auch Deutschland, zu Forderungen auf das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe kam, erschienen parallel dazu sowohl in Hürriyet als auch in Bild Berichte, die die Repräsentation des lesbischen Subjekts in das dominanzgesellschaftliche Feld einbetteten, insbesondere in die Institutionen Ehe, Familie und Religion. In der Bild-Zeitung erschienen jedoch bereits in den 1970er-Jahren Berichte über lesbische Beziehungen, die eheähnliche Formen des Zusammenlebens waren bzw. typische Merkmale einer heteronormativen Ehe zeigten. (B, „Wie Judy und Marion ‚heirateten’“ 23.08.1974). Interessanterweise handelt der erste diesbezügliche Text in den untersuchten Ausgaben der beiden Zeitungen nicht von einer Eheschließung, sondern von einer Scheidung. Bild berichtet 1978 mit der Schlagzeile „Scheidung: Erste lesbische Ehe der Welt kaputt“, dass die Frauen Beverly Irvin und Carol Lupardes, deren Ehe 1972 in den Vereinigten Staaten mithilfe eines Notars geschlossen wurde, sich aufgrund von Eifersucht und Gewalt scheiden lassen wollten. Die ersten vergeblichen Versuche von Schwulen und Lesben, eine offizielle Eheschließung zu erhalten, gab es bereits in den frühen 1970er-Jahren (Baker 2003, 579; Klarman 2013, 18). In manchen US-Bundesstaaten, in denen das Ehegesetz keine klare Definition hinsichtlich des Geschlechts der Ehepartner_innen lieferte, gelang es einigen Paaren, Eheurkunden zu bekommen, die jedoch später für ungültig erklärt wurden. Daraufhin haben die Bundesstaaten bis 1978 ihre Gesetze geändert und das Geschlecht der Ehepartner_innen klar definiert, wonach es nur noch heterosexuellen Paaren erlaubt war, zu heiraten (Klarman 2013, 21-22). Die Diskussionen über das Eherecht wurden in den untersuchten Ausgaben der Bild-Zeitung deutlicher, als Cornelia Scheel, die Geschäftsführerin der Deutschen Krebshilfe, und die Fernsehmoderatorin Hella von Sinnen 1991 beim Bundespresseball in Bonn ihre Beziehung bekannt gaben und Scheel daraufhin ihre Stelle bei der Deutschen Krebshilfe verlor (vgl. Roggenkamp 1991). In demselben Jahr kündigte das Paar an, heiraten zu wollen, was Debatten auslöste, da es ein bundesweites Eherecht für die gleichgeschlechtliche Ehe noch nicht gab. Mann heiratet Mann, Frau heiratet Frau Darf es bei uns soweit kommen? Mit der Ankündigung „Ich heirate Hella von Sinnen“ hat Cornelia Scheel eine hitzige Diskussion ausgelöst: Mann heiratet Mann, Frau heiratet Frau – darf es wirklich soweit kommen? Die Theologie-Professorin Uta Ranke-Heinemann: „Als ich die BILD-Schlagzeile las, dachte ich: Warum eigentlich nicht?“
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Die Ehe von Mann und Frau wird vom Staat belohnt: Weniger Steuern dank EhegattenSplitting, Witwenrente, keine Erbschaftssteuer. Ranke-Heinemann: „Ich sehe nicht ein, warum nur eine bestimmte Sexualität einer Lebensgemeinschaft subventioniert wird.“ In der Evangelischen Kirche ist das längst kein Tabu mehr. Die bayerische Synode hat soeben die Schwulen- und Lesben-Ehe bejaht. Die kämpferische Protestantin (und Pastoren-Frau) Elisabeth Motschmann empört: Damit gräbt sich die Kirche ihr eigenes Grab. (B, „Mann heiratet Mann...“ 03.05.1991)
Die Institution Kirche wird hier als Legitimierungsautorität für das Eherecht hervorgehoben. Die Stimme der Theologie-Professorin, die im Übrigen nicht nur als Vertreterin der Kirche, sondern auch der Wissenschaft fungiert und ihre Autorität auf diese beiden Institutionen zurückführt, erklärt die Bereitschaft der Kirche, die lesbische Ehe in die Norm zu integrieren. Die Stimme von Motschmann hingegen, also der Protestantin, spricht sich gegen diese Integration aus, da diese eine essenzielle Gefahr für die Werte der Kirche, die auf Heteronormativität basieren, darstelle. Eine weitere Verbindung wird zwischen der Ehe und dem Kapital hergestellt, und durch sie wird die heterosexuelle Ehe zu derjenigen Form von Ehe erklärt, die vom Staat gefördert wird, was wiederum von der Stimme der Theologie kritisiert wird. Auch die Reihenfolge der Stimmen, die in dem Text repräsentiert werden, ist von Bedeutung. Der Text setzt mit der Stimme von Cornelia Scheel ein, die bekannt gibt, sie wolle ihre Freundin heiraten. Laut dem Bericht kommt dies einem Tabubruch gleich und löst große Diskussionen aus. In den weiteren Teilen des Textes wird zunächst die Stimme der Theologie repräsentiert, gefolgt von der Subjektposition Protestantin. In den folgenden Absätzen des Berichts werden Stimmen von „(v)iele(n) Show- und Bühnen-Stars repräsentiert, die „gleichgeschlechtliche Ehen begrüßen“. Die Frage „Darf es bei uns soweit kommen?“, die in der Schlagzeile gestellt und im Text von den Stimmen der Kirche sowie der Prominenten diskutiert wird, wird im Abschluss des Berichts von der Stimme des Gesetzes beantwortet. Cornelia und Hella wollen das Recht auf Heirat beim Bundesverfassungsgericht einklagen. Ex-Verfassungsrichter Martin Hirsch: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß so eine Klage überhaupt angenommen würde. Denn welches Grundrecht soll verletzt sein? Ein Grundrecht auf Heirat gibt es nicht.“ Es sei denn, die Gesetze werden so geändert wie kürzlich in Dänemark. Rudolf Kraus (CDU): Ich lehne derartige Verbindungen schlicht ab.“ SPD-Fraktionsvize Ingrid Becker-Inglau: „Ich kann mir eine Institutionalisierung dieser Ehen nicht vorstellen.“ (B, „Mann heiratet Mann...“ 03.05.1991)
Durch die Reihenfolge der Stimmen wird nicht nur die Diskussion zu dem Ergebnis geführt, dass eine Institutionalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen seitens der Gesetzgebung nicht möglich sei, sondern es wird auch die Hierarchie der Stimmen untereinander unterstrichen – die Politiker_innen und Richter_innen haben in dieser Reihenfolge das letzte Wort. Stellt man einen Zusammenhang zwischen der Stim-
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menreihenfolge und der Schlagzeile her, führt dies dazu, dass die Frage „Darf es bei uns so weit sein?“ nur mit „unvorstellbar“, wie es die SPD-Fraktionsvize formuliert, beantwortet werden kann. In dem am Vortag erschienenen Bericht wird Cornelia Scheels Aktion zur Grundsatzklage vor dem Bundesverfassungsgericht in gleicher Weise als vergeblich erklärt, auch hier schließt die Stimme eines Anwalts, also des Gesetzes, den Text: „Ich glaube, die Zeit ist noch nicht reif für ein Urteil, daß zwei Frauen gesetzlich getraut werden dürfen“ (B, „Cornelia Scheel: ‚Wir wollen...‘“ 02.05.1991). Ein weiterer Bericht über die gleichgeschlechtliche Ehe zwischen Frauen, erschienen im selben Jahr, schließt mit der Stimme der Einwohner_innen einer kleinen Stadt, in der zwei Pastorinnen heiraten, und stellt damit eine Normalisierung der Frage der gleichgeschlechtlichen Ehe dar. Ein Lehrer ist beispielsweise der Meinung, dass die gleichgeschlechtliche Ehe früher zwar ein Tabuthema war, man aber heute darüber reden könne, und eine Verkäuferin meint, „Sie sollen machen, was sie machen wollen – Hauptsache sie sind glücklich“ (B, „Lesbische Pastorinnen...“ 17.05.1991). Im Jahr 2001 wurde in Deutschland die eingetragene Partnerschaft gesetzlich geregelt. Die Bild-Zeitung veröffentlichte aus diesem Anlass die Geschichte von zwei Frauen, die in Berlin heirateten. Die Eheschließung von Gudrun Pannier und Angelika Baldow war, laut Bild-Zeitung, „Deutschlands erste Homo-Ehe“. Betrachtet man den Verlauf der Berichterstattung über lesbische Paare in der Bild-Zeitung, fällt außerdem auf, dass sich auch die Konstruktion der Rollenverteilung zwischen Frauen in einem Transformationsprozess befindet. Beim ersten Treffen vor fünfeinhalb Jahren saßen sie in der Kneipe, bis die Stühle hochgestellt wurden. Ein tiefer Blick – Angelika: „Es war deine Seele, dein Verstand!“ Gudrun: „Ich habe mich so wiedergefunden.“ Seit vier Jahren wohnen sie zusammen. Ihre Rollenverteilung: Angelika kocht Nudeln, Gudrun Kartoffelsuppe. [...] Warum heiraten sie? Gudrun Pannier: „Aus Liebe. Weil uns die Rechtssicherheit wichtig ist. Ungerecht bleibt, dass Schwule keine Kinder adoptieren dürfen.“ (B, „Ja! Ab heute...“ 01.08.2001)
Der Textabschnitt erzählt den typischen Weg zweier Menschen in die Ehe und liefert als Begründung für die Eheschließung traditionelle Ideale wie ewige Liebe, die eine Liebe auf den ersten Blick war, sowie die Zweisamkeit, die als Triebkraft für das Subjekt funktioniert. Ähnlich wie auf den Fotos wird auch im Text die Beziehung von Gudrun und Angelika frei von sexuellen Konnotationen dargestellt, sie wird vielmehr mit Verbindlichkeit, Verantwortung, Treue und Häuslichkeit in Zusammenhang gebracht. Beachtenswert ist hier die Rollenverteilung, die sich wesentlich von der typischen Bild-Berichterstattung über Lesben, die auf der Dichotomie Maskulinisierung vs. Feminisierung beruht, unterscheidet. Es ergibt sich ein
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Bild von zwei Lesben, bei denen keine typische Rollenverteilung festzustellen ist, was ebenso auf eine Transformation des Repräsentationsmusters hindeutet. Ein weiterer erwähnenswerter Punkt betrifft die Frage, warum sie heiraten, am Schluss des Textes, die Raum eröffnet für Kritik an der gesetzlichen Regelung, die homosexuellen Paaren kein Adoptionsrecht gewährt. Darüber hinaus ist eine Integration des gleichgeschlechtlichen Paares in die Institution Ehe zu sehen, während sie vom Feld der Kindererziehung weiter ausgeschlossen bleiben, worauf ich später zurückkommen möchte. Antke Engel (2009) sieht die Normalisierung der lesbischen und schwulen Repräsentationen, die mit der Verbreitung von Bildern gleichgeschlechtlicher Paare und Ehen in der dominanzgesellschaftlichen Kultur, insbesondere in den Mainstream-Medien, einhergeht, als eine neoliberale Veränderung des Heteronormativitätsdiskurses. Der neoliberale Zugriff auf Sexualität, so Engel, ist einerseits von Unabhängigkeit, also von dem Diskurs über individuelle Freiheit, andererseits, in paradoxer Weise, von Verantwortung gekennzeichnet. Der Diskurs über Verantwortung wird insbesondere in Bildern von gleichgeschlechtlichen Ehen deutlich, indem diese mit traditionellen Werten, wie Treue, Fürsorge und Verantwortung, in Verbindung gebracht werden. Parallel dazu werden Geschlecht und Sexualität vor dem öffentlichen Zugriff geschützt und als Teil des Privaten sowie des Persönlichen verstanden. Dies führt dazu, dass nicht mehr die Gesellschaft als verantwortlich für die Anerkennung und Wertschätzung des Subjekts gesehen wird, sondern das Individuum selbst. In diesem Rahmen steht die Dominanzgesellschaft jedem Subjekt offen, das für seine Integration in deren Norm arbeitet und deren Bedingungen erfüllt (Engel 2009, 67-68). Nachdem Bild berichtet hatte, wie sich Angelika Baldow und Gudrun Pannier kennengelernt haben, erschien einen Tag später der Bericht über ihre Hochzeit, der hier als typisches Beispiel für den neoliberalen Diskurs über lesbische Ehen dient. Der Text enthält zwei große Bilder, auf denen die Mütter der beiden Frauen zu sehen sind, die gefragt wurden, was sie von der Hochzeit ihrer Töchter halten. In ihren Antworten zeigt sich der neoliberale Diskurs über gleichgeschlechtliche Partnerschaften, der einerseits die Anerkennung des Subjekts auf seinen individuellen Erfolg zurückführt, andererseits Sexualität als privat definiert und somit vor dem öffentlichen Zugriff schützt. Gudrun Panniers Mutter berichtet beispielsweise, dass ihre Tochter immer fleißig gewesen und in der Schule „kleiner Professor“ genannt worden sei. Sie sagt, ihr sei es egal, wie ihr Kind leben möchte. Und in der Antwort von Angelika Baldows Mutter ist die Vorstellung erkennbar, dass Ehe und Partnerschaft eine Bereicherung für einen Menschen darstellen. Sie berichtet, dass ihre Tochter lange in sich gekehrt gewesen sei, seitdem sie jedoch mit Gudrun zusammenlebe, wisse sie, wer sie sei. Drei Fotos von der Hochzeit zeigen Gudrun und Angelika beim Unterschreiben der Dokumente, beim Schneiden des Kuchens und inmitten von Freund_innen vor dem Standesamt. Keines der Bilder zeigt sie beim Küssen, und auch der Körperkontakt zwischen den beiden Frauen ist frei von se-
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xuellen Konnotationen: Gudrun Pannier legt ihre Hand in freundschaftlicher Weise auf Angelika Baldows Schulter, während diese die Dokumente unterschreibt, und Angelika hilft Gudrun beim Schneiden des Kuchens, indem sie ihre Hand vorsichtig auf Gudruns legt (B, „Mögen unsere Töchter...“ 02.08.2001). In der Berichterstattung der Bild-Zeitung fällt auf, dass die Berichte über gleichgeschlechtliche Ehen eine Desexualisierung der lesbischen Repräsentation herbeigeführt haben. Zusammen mit den Bildern verweist der Bericht auf vertraute soziokulturelle Werte und auf die Verfechtung der Konzepte Familie, Ehe und des Öffentlichen, was dazu führt, dass dieses Umfeld als legitim und harmlos decodiert wird. Der Preis ist allerdings, dass die Repräsentation des lesbischen Paares desexualisiert bzw. die Sexualität in die Privatsphäre geschoben wird: Das vertraute Bild von dem sich küssenden Paar, nachdem es die Eheurkunde unterschrieben hat, fehlt in dieser Art der Repräsentation. Der Kuss lässt sich in dem Text als kurz, leidenschaftslos, asexuell deuten. Ein Text aus Hürriyet macht deutlich, wie stark die Reihenfolge der Stimmen den Standpunkt des Textes gegenüber der gleichgeschlechtlichen Ehe gestalten kann. In einem Bericht über die amerikanische Schauspielerin Ellen DeGeneres, erschienen 2004 in Hürriyet, wird die Bedeutung des Textes durch die Anordnung der repräsentierten Stimmen erzeugt. Nachdem der lesbische Rockstar Melissa Etheridge mit Tammy Michaelis die heilige Ehe vollzog, entschied sich die Komödiantin Ellen DeGeneres, mit ihrer Geliebten, Alexandra Hedison, ein Kopfkissen zu teilen. Es wurde bekannt gegeben, dass das verliebte lesbische Paar im Sommer in Hollywood Hochzeit feiern wird. Ellen DeGeneres lebte lange mit dem Filmstar Anne Heche in einer lesbischen Beziehung. Anne Heche hatte DeGeneres wegen eines Mannes verlassen. Später heiratete sie einen Mann und bekam ein Kind. DeGeneres’ darauf folgende schwere Depressionen besserten sich, als sie Alexandra kennenlernte. DeGeneres gab bekannt, dass sie mit Alexandra ein Kind haben möchte. In den USA ist die gleichgeschlechtliche Ehe, über die viel diskutiert wird, nicht gesetzmäßig. Der Präsident der USA, George W. Bush, fordert, dass die gleichgeschlechtliche Ehe in der Verfassung verboten wird. (H, „Hollywood’da yine lezbiyen...“ 22.02.2004)
Zwischen dem ersten Absatz, der typische Merkmale eines Klatsch-und-TratschBerichts enthält, und dem zweiten Absatz, der die im ersten Absatz entstandene Normalisierung wieder aufhebt, ergibt sich eine Art Widerspruch, gar eine Spannung. Der erste Absatz erzählt eine Geschichte über eine prominente Frau, die lesbisch ist, sich aber wie eine heterosexuelle Frau verlieben kann sowie den Wunsch hat, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Somit entsteht durch die Schilderung der privaten Ereignisse in Ellen DeGeneres’ Leben das Bild einer Lesbe, die die gleichen Rechte hat wie heterosexuelle Frauen, etwa das Recht auf Ehe, Familie, Liebe usw. Der erste Absatz handelt also von den Möglichkeiten einer Integration des Subjekts in die Dominanzgesellschaft, der Normalisierung des lesbischen Subjekts sowie von dem Wunsch des Subjekts nach einer derartigen Integration und Normalisierung. Diese Bedeutung verändert sich jedoch drastisch durch die Reprä-
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sentation der Stimme von George W. Bush, die sich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe positioniert und den Text damit abschließt. Während der erste Absatz also den Blick auf das Leben und die Wünsche einer prominenten Lesbe wirft, erzeugt der zweite eine Stimmung der Ablehnung dieser Wünsche nach Integration und Normalisierung. Diese Spannung zwischen der Anerkennung und Wertschätzung des Wunsches nach Teilnahme an der Dominanzgesellschaft und der hegemonialen Ablehnung dieses Wunsches bedeutet im Grunde, dass Diskussionen stattgefunden haben, die zu einer Transformation der Diskurse und Bilder in Bezug auf das lesbische Subjekt führen könnten. Obwohl dieser Text, im Unterschied zu dem Text über Gudrun und Angelika, mit einer Stimme schließt, die eine Stimmung einer hegemonialen Ablehnung der Integration des Subjekts erzeugt, deutet auf eine Repräsentation der Anerkennung im ersten Absatz die Bereitschaft zu einer Transformation, im Zuge derer alte Gewissheiten verlassen, sogar infrage gestellt werden. Diese Transformation zeigt sich auch in einem Artikel über die Hochzeit der Moderatorinnen Rosie O’Donnell und Kellie Carpenter, erschienen ebenfalls in Hürriyet. Der Artikel weist eine Verfechtung der dominanzgesellschaftlichen Werte und zugleich der lesbischen Repräsentation auf. Laut dem Bericht haben O’Donnell und Carpenter als Protest gegen George W. Bushs Forderung, die gleichgeschlechtliche Ehe zu verbieten, geheiratet. Die Hochzeit fand in San Francisco statt, wo gleichgeschlechtliche Paare entgegen dem Gesetz des Staates Kalifornien die Ehe schließen konnten. O’Donnell berichtete, dass sie seit vier Jahren zusammen seien und sechs Kinder großzögen. In dem Text wird auch erwähnt, dass auf der Hochzeit ein schwuler Chor die amerikanische Nationalhymne sang (H, „ABD’de lezbiyen nikahında...“ 28.02.2004). Hier wird also ein Bild eines lesbischen Subjekts präsentiert, das, wie alle guten Bürger_innen, Kinder erzieht und stolz auf seine Nation ist und daher keine Gefahr für das dominanzgesellschaftliche Wertesystem darstellt, sondern dieses respektiert und sogar ein Teil von ihm wird. Betrachtet man also die Repräsentation des lesbischen Subjekts in den beiden Zeitungen im zeitlichen Verlauf, fällt auf, dass sich das Bild der Lesbe in Zusammenhang mit den Institutionen Ehe und Religion immer deutlicher normalisiert, mit anderen Worten, zu einem Teil des neoliberalen Diskurses über gesellschaftliche Vielfalt, Integration sowie Harmonie wird. Somit wurde die Repräsentation der Lesbe zwar in Bezug auf die Institutionen Ehe und Religion nicht mehr als Gefahr wahrgenommen, in den Diskussionen über biologische Reproduktion bzw. künstliche Befruchtung hingegen blieb sie weiterhin bedrohlich. In den untersuchten Ausgaben tauchen in Bild ab den 1990er-Jahren und in Hürriyet ab den 2000er-Jahren Berichte über Fortpflanzung, künstliche Befruchtung sowie biologische Reproduktion ohne Sperma auf, die eine neue Dimension in der Repräsentation der Lesbe in Bezug auf die dominanzgesellschaftlichen Institutionen Ehe und Familie eröffneten. Diese Bilder lösten, wie ich im Folgenden zeige, eine männliche Angst vor einer Welt ohne Männer aus, also eine
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Vorstellung, die insbesondere in der Hürriyet-Berichterstattung dem ScienceFiction-Genre ähnelte. Als 2001 eine gentechnische Studie feststellte, dass eine künstliche Befruchtung ohne Sperma möglich ist, geriet dies sowohl in Bild als auch in Hürriyet in die Schlagzeilen. Obwohl es in der Studie nicht direkt um lesbische Frauen ging, versahen beide Zeitungen die Vorstellung einer biologischen Reproduktion ohne Sperma mit einer lesbischen Konnotation. Da durch diese Art der Befruchtung nicht nur die Notwendigkeit der Männer für die Fortpflanzung infrage gestellt würde, sondern dabei auch nur Mädchen entstehen würden, deuteten Bild und Hürriyet auf ein mögliches „Aussterben“ der Männer hin. Am 11. Juli 2001 stellte Hürriyet die Frage „Sind Männer nicht mehr notwendig?“ (H, „Spermsiz bebek çağı“ 11.07.2001), und am nächsten Tag fragte Bild in der Schlagzeile: „Können Frauen sich jetzt selbst zur Mutter machen?“ (B, „Können Frauen sich...“ 12.07.2001). Diesbezüglich befragten beide Zeitungen Expert_innen, um eine Antwort zu finden. Können Frauen sich jetzt also mit sich selbst befruchten? Prof. Elke Pratje, Genetikerin an der Uni Hamburg: „Theoretisch möglich. Aber die Vorstellung, das eigene Ebenbild auszutragen, ist absurd und indiskutabel. Und die Gefahr für Erbkrankheiten wäre viel höher als normal.“ Könnte eine Frau einem Mann ein paar Zellen stehlen (zum Beispiel einen kleinen Hautfetzen) und damit schwanger werden? Prof. Pratje: „Ob Befruchtung wirklich mit jeder Art von Körperzelle funktioniert, kann man nicht mit Gewissheit sagen. [...] Können durch diese Technik auch Jungen entstehen? Prof. Pratje: „Nur wenn die Körperzelle von einem Mann stammt. Befruchtet man die Eizelle mit der Körperzelle einer Frau, wird es ein Mädchen.“ Wie lange würde es dauern, bis Männer ausgestorben sind? Prof. Pratje: „Männer werden sicherlich nicht aussterben. Dafür müssten Frauen sich nur noch so – und nur mit Frauen fortpflanzen wollen. Außerdem: Der Aufwand ist ungeheuer groß. Auch ‚normale‘ künstliche Befruchtungen gelingen nur sehr selten.“ Wenn’s Kinder mit zwei Müttern gäbe, wer zahlt dann bei einer Trennung? Rechtsanwalt Ernst-Rüdiger Kristen: „Es bekäme die Mutter das Sorgerecht, die das Kind ausgetragen hat. Ihre Partnerin müsste im Trennungsfall Unterhalt für Mutter und Kind zahlen.“ (B, „Können Frauen sich...“ 12.07.2001)
Die Fragen betreffen vor allem den Aspekt, dass für eine derartige Fortpflanzung Männer nicht mehr unbedingt erforderlich sind, wodurch die Vision einer apokalyptischen Welt ohne Männer konstruiert wird. In Bezug auf diese Möglichkeit befragt auch Hürriyet in ähnlicher Weise zwei Ärzt_innen, die sich gegenüber dieser reproduktionsbiologischen Methode skeptisch äußern und sie als „eine Gefahr für die Balance des Weltsystems“ definieren (H, „Spermsiz bebek çağı“ 11.07.2001). Am darauffolgenden Tag befragt Hürriyet prominente Persönlichkeiten, wie Schauspieler_innen und Sänger_innen, zu ihrer Meinung über diese Methode. Die Sängerin Harika Avcı sieht dies als Wiederkehr der Amazonen, also der matriarchalen Völ-
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ker, von denen in den griechischen Mythen erzählt wird, und ist dagegen, da ein Kind im Grunde eine Mutter und einen Vater brauche: „Eine Frau ist immer eine Frau. Ein Mann immer ein Mann. Wenn wir Kinder bekommen, dann müssen die Kinder mit Mutter und Vater gemeinsam leben.“ Ebru Yaşar, ebenfalls eine Sängerin, glaubt nicht, dass die mythologische Zeit der Amazonen jemals Wirklichkeit wird, kann sich nicht vorstellen, ein Kind ohne Sperma zu zeugen: „Was für ein Kind kann das sein, ohne Sperma, ich kann nicht mal daran denken. Menschen müssen Kinder bekommen, indem sie einander lieben.“ Auch die Sängerin Hande Yener betont die Notwendigkeit der Liebe einer Mutter und eines Vaters für das Kind. Die Meinungen der männlichen Sänger und Schauspieler, die auf der rechten Seite des Berichts aufgelistet sind, betreffen vor allem die apokalyptische Vorstellung einer solchen Welt ohne Männer. Der Sänger und Schauspieler Özcan Deniz bezeichnet diese Vorstellung als nicht zum Aushalten und interpretiert diese Art der Fortpflanzung als ein Beschlagnahmen der Welt durch die Frauen. Und der Sänger İzzet Yıldırım stellt die Frage, was aus den Männern werden soll. Er ist der Meinung, dass dadurch keine Menschen entstehen würden, sondern monströse Wesen. Kerem Alışık, ein Schauspieler, findet sowohl Männer als auch Frauen erforderlich: „Eine Frau kann nicht ohne einen Mann, ein Mann kann nicht ohne eine Frau sein.“ Natürlicher sei es, so Alışık, wenn in der Türkei Frauen und Männer zusammenlebten und Kinder zeugten (H, „Erkeksiz kadın tartışması“ 15.07.2001). Die Berichte über künstliche Befruchtung bzw. Befruchtung ohne Sperma erschienen in beiden Zeitungen in einer Zeit, in der die Diskussionen über die gleichgeschlechtliche Ehe geführt sowie zum ersten Mal in der Geschichte Gesetze beschlossen wurden, die die gleichgeschlechtliche Ehe ermöglichten. Nachdem 2001 in den Niederlanden das Gesetz über die gleichgeschlechtliche Ehe in Kraft getreten war, musste die Definition der Ehe auch in anderen Ländern überarbeitet werden (Sáez 2011, 116). Dies war also eine Zeit, in der die traditionelle Vorstellung von Ehe und Familie infrage gestellt wurde, was natürlich auch mit einer heteronormativen Angst sowie mit apokalyptischen Vorstellungen von der Zukunft der Gesellschaft einherging. Betrachtet man die Berichterstattung beider Zeitungen, fällt jedoch auf, dass diese Angst und die apokalyptischen Vorstellungen nicht in Artikeln über gleichgeschlechtliche Ehen, sondern vielmehr in Artikeln über biologische Reproduktion, insbesondere künstliche Befruchtung, thematisiert wurden. Dies deutet auf das heterosexuelle Monopol auf Reproduktion und Kindererziehung hin und steht in Zusammenhang mit dem Unwillen, das Adoptionsrecht zu ändern, selbst in den Ländern, in denen gleichgeschlechtliche Ehen und Partnerschaften bereits legalisiert sind. Coming-outs berühmter Personen Die Transformation, die im Feld des Sichtbaren sowie des Sagbaren stattfindet, lässt sich insbesondere in Berichten über Coming-outs berühmter Personen erfas-
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sen. Texte, in denen es entweder um ein Gerücht über die sexuelle Orientierung einer berühmten Person geht oder um das Coming-out einer prominenten Lesbe, sind hinsichtlich der Normalisierung der lesbischen Repräsentation deshalb von großer Bedeutung, weil sie das Bild einer erfolgreichen, respektierten und von der dominanzgesellschaftlichen Kultur anerkannten Lesbe liefern. Entscheidend ist dabei, wie ich im Folgenden zeige, der Status der Person, der den Diskurs bzw. das Repräsentationsmuster stark prägt. Während Politikerinnen aufgrund des Respekts vor dem Status, den sie repräsentieren, ohne sexuelle Konnotationen dargestellt werden, fließen in die Darstellung von Prominenten der Unterhaltungsbranche, wie Sängerinnen oder Schauspielerinnen, immer erotische Elemente mit ein. Als erstes Beispiel sei hier ein Bericht aus den 1980er-Jahren angeführt, der von einem Gerücht handelt. Es handelt sich um einen typischen Klatsch-und-TratschBericht über die Tennisspielerin Billie Jean King, in dem das Deutungsmuster „Verführung“, das insbesondere in der Bild-Berichterstattung zentral ist, erkennbar wird. Küsse unter der Dusche Die lesbische Liebe der Tennisköniginnen Die lesbische Affäre der 20fachen Wimbledon-Siegerin Billie Jean King (37) zieht immer weitere Kreise. Jetzt hat Jeanne Austin, die Mutter des Tennisstars Tracy Austin (18), berichtet, daß sie ihre Tochter vor den Lesbierinnen in den Garderoben und Duschen internationaler Tennisturniere schützen mußte. Tracy Austin war erst 15, als sie schon die ersten Annäherungsversuche abwehren mußte. Als sich die Schülerin damals ihrer Mutter offenbarte, entschloß sich Jeanne Austin, Tracy ständig eine „Leibwächterin“ zuzuordnen. Billie Jean King ist von ihrer ehemaligen Friseuse Marilyn Barnett (33) auf eine lebenslange Unterhaltungszahlung verklagt worden. Als Billie Jean King ihr lesbisches Verhältnis vor der Presse gestand, bot sie gleichzeitig an, ihre Doppelpartnerschaft mit dem Teenagerstar Andrea Jaeger (15) in dieser Woche aufzugeben. (B, „Die lesbische Liebe...“ 07.05.1981)
Hier handelt es sich um eine Klatsch-und-Tratsch-Berichterstattung, die als typisch für das Genre der Boulevardpresse angesehen werden kann. Viele kleine Ereignisse, die auf den ersten Blick zusammenhanglos erscheinen, werden nebeneinander dargestellt und in Beziehung mit Kings lesbischer Identität gesetzt. Wenn man diese Ereignisse chronologisch ordnet, stellt man fest, dass Kings Coming-out vor der Presse als eine Art Initialzündung für die Ereignisse bzw. Gerüchte fungiert. Das Deutungsmuster „Verführung“ wird Kings lesbischem Dasein zugeschrieben, was dazu führt, dass sie als eine unaufhaltbare Gefahr für junge Frauen dargestellt wird. Erwähnenswert ist hierbei auch die Verschränkung mit dem Repräsentationsmuster „Erotisierung“, das insbesondere durch die Schlagzeile „Küsse unter der Dusche“ deutlich wird. Dies hat in der Berichterstattung die Funktion, die Gefahr, lesbisch zu sein, die durch Kings Coming-out ins Spiel gebracht und durch dieses Comingout öffentlich gemacht wird, gleichzeitig als erotische Fantasie darzustellen. Ob-
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wohl in dem Text nicht erwähnt wird, dass King andere Tennisspielerinnen unter der Dusche geküsst habe, erscheint dies als Fantasie-Szene in der Schlagzeile. Die Verschränkung mit dem Repräsentationsmuster „Erotisierung“ durch Berichte über prominente Lesben ist ebenfalls zu sehen in der Berichterstattung von Hürriyet. Als Beispiel lässt sich hier ein Bericht über ein Fotoshooting der kanadischen Sängerin k.d. lang mit dem Model Cindy Crawford für die Zeitschrift Vanity Fair anführen. Auch lange bevor sich k.d. lang 1992 in der schwulen Zeitschrift Advocate zu ihrer Homosexualität bekannte, war sie, wegen ihrer androgynen Erscheinung, eine Lesbenikone (Valentine 1995, 475-476). Ihre Erscheinung steht ebenfalls im Mittelpunkt des Hürriyet-Berichts, in dem zwei Bilder von ihr und Cindy Crawford aus der Zeitschrift Vanity Fair zu sehen sind. Die Bilder, auf denen lang Männerkleider trägt, zeigen die beiden Frauen in einer erotischen Szene. k.d. lang-Sturm Die Fantasien der Sängerin in Männerkleidung In der Musikwelt weht der k.d. lang-Sturm. Die in Kanada geborene 31jährige geht in Männerkleidung auf die Bühne. Im vergangenen Februar wurde die Künstlerin als beste Vokalistin mit dem Grammy ausgezeichnet. „Constant Craving“ belegt die oberen Plätze der amerikanischen Charts. Sie schmückt das Cover des im August erschienenen Magazins Vanity Fair, für das sie mit dem Topmodel Cindy Crawford vor der Kamera stand und auf dem Friseurstuhl ihre sexuellen Fantasien auslebte. k.d. zeigte mit dem meistverdienenden Model der Welt vor den Objektiven interessante Posen. Sie, die in der Musikwelt mit Elvis Presely und Judy Garland verglichen wird und darauf besteht, dass ihr Name in Kleinbuchstaben geschrieben wird, ist militante Vertreterin der Rechte von Homosexuellen. Sie sagt aber: „Ich bin sehr glücklich darüber, zu 100% Frau zu sein. Vielleicht aber habe ich nur einen kleinen Peniskomplex.“ (H, „k.d. lang Fırtınası“ 12.07.1993)
Hinsichtlich der Normalisierung der lesbischen Repräsentation ist hier das Fotoshooting von großer Bedeutung. Das Foto, das k.d. lang in Männerkleidern und Crawford im Badeanzug zeigt, stellt auf den ersten Blick die typische heterosexuelle Erotik dar: k.d. lang sitzt auf einem Friseurstuhl und Crawford beugt sich zur ihr. Die Szene deutet darauf hin, dass sie kurz davor sind, sich zu küssen, und die erotische Atmosphäere der Szene wird durch k.d. langs Berührung der nackten Hüfte von Crawford bekräftigt. Diese auf den ersten Blick heterosexuell erscheinende Szene ändert ihre Lesart mit der Überschrift, die auf das frühere Repräsentationsmuster von „Frauen in Männerkleidern“, das insbesondere in den frühen 1970erJahren in Hürriyet mit Kriminalität in Beziehung gesetzt wurde, hindeutet (Kapitel 4.1.1.). Diese Lesart wird dennoch nicht als Problem wahrgenommen, da deutlich gemacht wird, ähnlich wie in weiteren Artikeln, die das Repräsentationsmuster „Erotisierung“ enthalten, dass es sich bei der Szene nur um eine vorübergehende und für die Mainstream-Gesellschaft gespielte Performance handelt (Kapitel 4.2.2). In diesem Zusammenhang ist k.d. lang nicht mehr die Lesbe, die in Männerkleidern
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Kriminalität ausübt, sondern eine prominente Lesbe, die sich in einer erotischen Szene befindet, die nicht als bedrohlich, sondern vielmehr als reizvoll wahrgenommen wird. Darüber hinaus dient das Fotoshooting als legitimer Kontext, in dem die Erotik zwischen den beiden Frauen unter dem beobachtenden sowie bändigenden Blick der Mainstream-Gesellschaft stattfinden darf. Gleichzeitig wird eine erotische Beziehung zwischen den Frauen außerhalb dieses Kontexts für unmöglich gehalten, das heißt, es wird der Eindruck vermittelt, für k.d. lang sei das Fotoshooting die einzige Möglichkeit, ihre Träume zu erfüllen bzw. ihre Fantasien zu verwirklichen. Schließlich wird ihre männliche Erscheinung am Schluss des Textes mit Penisneid in Zusammenhang gebracht. Die Berichte zu Gerüchten über sexuelle Orientierung bzw. Coming-outs von Politikerinnen unterscheiden sich in beiden Zeitungen von den Artikeln über Prominente aus der Unterhaltungsbranche. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass keine Verschränkung der Erotisierung des lesbischen Körpers mit der Repräsentation der Politikerin erfolgt. Im Folgenden werden zwei Berichte näher betrachtet, die von einem Gerücht und einem Coming-out handeln. Im April 2000 erschien in Hürriyet ein Bericht über Gerüchte zur sexuellen Orientierung von Hillary Clinton. Über Hillary Clinton wurde, von ihrer Universitätszeit bis heute, viel berichtet, dass sie einige lesbische Beziehungen führte und Listen mit ihren Frauen-Liebschaften angefertigt wurden. Diese Nachrichten machten ihre Tochter Chelsea regelrecht verrückt. Nahe Freunde haben Zeitungsausschnitte über Hillary Clinton in einem dicken Ordner zusammengefasst und diesen Chelsea gegeben. Chelsea Clinton weinte und sagte: „Ich verstehe nicht, wie Menschen so rücksichtslos sein können.“ Chelsea sagte weiter: „Meine Mutter und ich reden sehr offen über Sex und Sexualität. Wenn meine Mutter lesbisch wäre, würde sie mir das offen und ohne zu zögern sagen.“ Die Tochter des Präsidenten Bill Clinton bemerkte, dass die Berichterstattung bezüglich ihrer Mutter hässliche Lügen sind, die von politischen Gegnern erfunden wurden. Chelsea reagierte mit der folgenden Antwort: „Die, die uns hassen, sind zuerst auf meinen Vater los, haben es aber nicht geschafft. Jetzt, wo meine Mutter Kandidatin ist, ist sie das Ziel. Ich werde das nicht erlauben. Ich werde den makellosen Namen meiner Mutter und ihren Ruf schützen.“ (H, „Annem lezbiyen olsa...“ 04.04.2000)
Durch die Repräsentation der Stimme von Hillary Clintons Tochter Chelsea, die das Gerücht als einen Angriff auf den Ruf ihrer Mutter sieht, wird die lesbische Konnotation zu einem Makel in dem Image einer Politikerin. Der Makel wird dabei nicht mit Ehebruch, wie es bei Bill Clinton der Fall war, sondern mit lesbischer Konnotation in Beziehung gesetzt. Chelseas Stimme legt nämlich den Fokus auf die Möglichkeit, lesbisch zu sein, und nicht auf Ehebruch. Während in Hürriyet das Lesbischsein als Makel in der Karriere einer Politikerin, am Beispiel von Gerüchten über Clinton, gelesen werden kann, wird in den späten 2000er-Jahren in Bild das Coming-out, lesbisch zu sein, mit Freude, Erleich-
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terung sowie mit psychischer und physischer Gesundheit der Politikerin konnotiert, was als eine wesentliche Normalisierung des Bildes des lesbischen Subjekts gesehen werden kann. Diesbezüglich werden die beiden Fragen, welche Bedeutung die Normalisierung der lesbischen Repräsentation für den dominanzgesellschaftlichen Diskurs hat und warum es zu einer Verschiebung des Repräsentationsmusters vom „bösen Anderen“ zur „erfolgreichen Politikerin“ gekommen ist, aufgeworfen. Als Beispiel lässt sich dabei der Bericht über das Coming-out der damaligen hessischen Kulturministerin Karin Wolff anführen, der mit der Schlagzeile „Ich liebe eine Frau!“ auf der Titelseite der Bild-Ausgabe vom 4. Juli 2007 Wolffs sexuelle Orientierung öffentlich machte. Was für eine mutige Frau! Kulturministerin Karin Wolff (48, CDU) ist als stellvertretende Ministerpräsidentin die Nummer zwei hinter dem hessischen Regierungschef Roland Koch. Keiner Diskussion geht sie aus dem Weg. Nur ihr Privatleben war immer tabu: bis jetzt. Jetzt steht die Ministerin ganz offen zu ihrer Liebe – sie liebt eine Frau! Beim BILD-Sommerfest in Frankfurt zeigte Karin Wolff stolz ihre Lebensgefährtin: Marina Fuhrmann, eine Heilpraktikerin. Vor etwas mehr als zwei Jahren lernten sie sich kennen, als die Ministerin bei der Medizinerin Patientin war. Wolff: „Ich hatte starke Rückenbeschwerden, ließ mich in der Praxis behandeln.“ Marina Fuhrmann betreibt in Wiesbaden eine Praxis. Sie ist Präsidentin des Verbandes der Osteopathen in Deutschland. Osteopathen heilen ohne Medikamente, nur mit den Händen. Das Rückenleiden besserte sich. Die Frauen kamen sich näher. Aus Sympathie wurde Liebe. Ministerin Wolff: „Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Vielleicht auf den dritten, oder so. Vor einem halben Jahr erst hat es dann gefunkt.“ Seitdem sind Karin Wolff und Marina Fuhrmann ein heimliches Paar. Warum heimlich? Wolff: „Es ist ganz normal, dass man sich erst besser kennenlernt, bevor man einen neuen Partner öffentlich vorstellt.“ In dieser Zeit veränderte sich die Ministerin. Sie wurde deutlich schlanker, trägt jetzt elegante Hosenanzüge. Aus ihren leicht gelockten, halblangen Haaren wurde eine fesche Kurzhaarfrisur. Beim Frankfurter BILD-Sommerfest saß das Paar viel zusammen, aß ein bisschen, lachte viel. „Wir haben viele gemeinsame Interessen: Sport, Musikhören, Lesen, Diskutieren. Am wichtigsten ist uns aber, gemeinsam vergnügt und glücklich zu sein. Im Moment wohnen wir zwar weiter getrennt, sehen uns aber so oft wie möglich.“ (B, „CDU-Ministerin liebt...“ 04.07.2007)
Das Bild einer erfolgreichen Politikerin wird schon im ersten Absatz des Textes vermittelt. Sie ist eine wichtige politische Persönlichkeit, der es zunächst nicht möglich war, sich als lesbisch zu bekennen. Das Coming-out war für sie erst dann möglich, als sie sich in eine Frau verliebte, was dazu führt, dass die Liebe hier als eine treibende Kraft für die Subjektivität wahrgenommen wird. Die Angaben über die Karriere von Wolffs Freundin Fuhrmann sind dabei von großer Bedeutung, weil sie Fuhrmann als ebenso erfolgreich zeigen wie Wolff. Es entsteht also das Bild eines erfolgreichen Paares, das Anerkennung, Wertschätzung sowie Respekt von der Mainstream-Gesellschaft sowie der heterosexuellen Norm deswegen erhält,
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weil beide Frauen mit Macht sowie Status in Beziehung gesetzt werden. Die beiden Frauen fungieren also als gute, erfolgreiche, kreative Bürgerinnen, die einen mächtigen Status in der Gesellschaft haben. Die Verbindung der Repräsentation dieser Frauen mit ihrem Status wird auch in der Überschrift hergestellt: „Die Politikerin liebt eine Heilpraktikerin“. Darüber hinaus wird ihre Beziehung insbesondere deswegen gefeiert, weil sie die heteronormativen Werte der Gesellschaft nicht infrage stellt, vielmehr wollen beide Frauen ein Teil dieses Wertesystems sein und stellen daher keine Gefahr für die Gesellschaft dar. Die Frage, warum das Paar seine Beziehung zunächst geheim gehalten hat, und die darauf von Wolff gegebene Antwort, die mögliche Kritik an der Heteronormativität sowie den möglichen Fokus auf den diskriminierenden Machtverhältnissen beseitigt, sind dabei entscheidend. Aufgrund dieses Willens, sich in die Norm zu integrieren, sowie der Bereitschaft, die Norm anzuerkennen, werden Wolffs Coming-out und ihre Liebe zu Fuhrmann in der Berichterstattung gefeiert. In diesem Zusammenhang werden die Begegnung und die Liebe der beiden Frauen als Heilung, Transformation sowie als ein entscheidender Moment für den Identitätsaufbau von Wolff konstruiert. Fuhrmann, die Osteopathin, heilte „mit ihren Händen“ nicht nur die Rückenbeschwerden von Wolff, sondern löste auch eine Transformation in der Identität von Wolff aus: Wolff war selbstbewusster, glücklicher und lebensfroher. Die Stimmung der Anerkennung ihrer Freude und Transformation wird auch am Schluss des Textes bestätigt, indem, anstatt einer ablehnenden Stimme einer Institution oder Subjektposition, Wolffs eigene Stimme repräsentiert wird, die das Bild eines gleichgeschlechtlichen Paares sowie seine Hoffnungen und Wünsche in das Feld des Sichtbaren überträgt. Die Repräsentation der Lesbe hat sich dabei insofern verändert, als die Begegnung der beiden Frauen, die in einer Osteopathie-Klinik stattgefunden haben soll, nicht in Form einer erotisierenden Narration geschildert wird. Im Unterschied zu den frühen Texten der Bild-Zeitung, in denen die Schilderung der Begegnung sowie der Liebe lesbischer Frauen häufig mit dem Repräsentationsmuster „Erotisierung“ verschränkt wurde, werden im Falle dieser Repräsentation einer Politikerin die intimen Ereignisse vorsichtig und weitestgehend frei von erotischen Konnotationen geschildert. Dies ist auf den Status des Subjekts zurückzuführen, der im Verlauf des Diskurses eine neue Ebene hinsichtlich der Repräsentation der Lesbe schafft und darüber hinaus auf einen Bruch im Diskurs hindeutet. Die Lesbe, die in der Berichterstattung häufig zu einem erotischen Gegenstand des männlichen Blicks, mit der Figur der femme fatale verflochten sowie als ein Scheitern der heterosexuellen Subjektivität interpretiert wurde, wird nun mit Konzepten wie Status, Erfolg und Macht in Beziehung gesetzt.
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ZWISCHENFAZIT Anhand der Analyse des empirischen Materials konnte gezeigt werden, in welchen Figuren, Deutungen, Symbolen sowie in welchen Themen das lesbische Subjekt im journalistischen Diskurs in Erscheinung tritt. Es stellt sich nun die Frage, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede sowohl in dem diachronen als auch synchronen Schnitt der Diskursstränge und Repräsentationsmuster zu eruieren sind. Sicherlich besteht der größte Unterschied in der Berichterstattung der beiden Zeitungen zunächst einmal darin, dass die Figur der Lesbe in der Bild-Zeitung einen viel größeren Raum einnimmt als in Hürriyet. Zwar wird in Hürriyet auch von Ereignissen berichtet, in denen Lesben sichtbar werden, es handelt sich dabei aber vor allem um Ereignisse im Ausland. In den untersuchten Ausgaben zeigte sich, dass Hürriyet im Vergleich zur Bild-Zeitung viel weniger von lokalen Ereignissen berichtet, und in den wenigen Fällen, in denen dies dennoch einmal geschieht, werden die involvierten Personen nicht als lesbisch definiert. Dies lässt sich auf die sozio-historischen Unterschiede zwischen der türkischen und der deutschen Gesellschaft zurückführen, die auch in der Literatur über die Geschichte der queeren Communities der beiden Länder zu spüren sind. Wie in Kapitel 2.2 bereits gezeigt wurde, vertraten die Lesben in der Türkei erst viel später ihre Position innerhalb der feministischen, oppositionellen sowie queeren Gruppen als in Deutschland, was auch die Sichtbarkeit in der dominanzgesellschaftlichen Kultur bzw. die Berichterstattung eines Massenmediums wie Hürriyet beeinflusst hat. Diese These wird gestärkt, wie ich im folgenden Kapitel aufzeigen werde, durch die Ergebnisse einer komparativen Analyse der Repräsentation der Trans*Frauen, die seit den 1970erJahren in der Türkei eine Community sowie eine politische Bewegung bildeten. Denn es zeigte sich, dass die Trans*Frauen von da an nicht nur im Vergleich zur Repräsentation der Lesbe, sondern auch zur Bild-Zeitung, auf den Seiten der Hürriyet vielmehr Raum einnahmen. Darüber hinaus wird auch der wechselseitige Einfluss von Diskurs und GegenDiskurs deutlich. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür ist, wie die Analyse zeigte, die Bild-Berichterstattung über Lesben beziehungsweise über kriminelle Taten von Lesben in den frühen 1970er-Jahren, die dazu führte, dass lesbische und feministische Gruppen zum ersten Mal in der deutschen Geschichte lesbische Demonstrationen organisierten, auf die Straße gingen und Flugblätter verteilten, die in der Tat Aktionen gegen die Bild-Berichterstattung waren (vgl. Kawan 1981; Herzog 2005; Kühn 2007). Dies war also einer der Momente in der Geschichte, in dem der Diskurs Raum für den Gegen-Diskurs, aber auch für die Subjektpositionen eröffnete. Dabei spielte die Artikelserie Die Verbrechen der lesbischen Frauen (1973), die das lesbische Subjekt als kriminell, bedrohlich, aufreizend, von Emotionen geleitet, pathologisch sowie unreif beschrieb, eine zentrale Rolle. In manchen Artikeln begründete die Serie mit der Stimme der Psychiatrie das lesbische Dasein mit einem Hass auf Männer, der auf ein Trauma in der Vergangenheit der Lesbe zurückzufüh-
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ren sei. Der Fokus der textuellen Darstellung lag dabei auf dem Körper der Lesbe sowie auf Gegenständen, wie z.B. Unterwäsche, die erotisch konnotiert sind. Die verschiedenen Diskurse – der psychiatrische, juristische sowie journalistische – definieren alle das lesbische Subjekt und erzählen dabei einerseits seine Entwicklung, andererseits stellen sie es als Objekt des erotisierenden Blicks des Mannes dar; dies führte dazu, dass sich Widerspruch gegen eine derartige Definition, Beschreibung und Repräsentation erhob. Die Berichte über Marion Ihns und Judy Andersen können deswegen als typische Berichterstattung der Boulevardpresse über Lesben angesehen werden, weil sie mehr oder weniger die Merkmale der Repräsentationsmuster, die sich in dem gesamten diachronen und synchronen Schnitt wiederholen, enthalten. Das Repräsentationsmuster „Kriminalisierung der Lesben“, das einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und lesbischer Liebe herstellt, spielte dabei erwartungsgemäß eine zentrale Rolle in der Berichterstattung. Die Analyse zeigte dabei, dass die Deutungsmuster „Verführung“, „Maskulinität“ und „Naivität“ sowie Narrationen, die eine Rollenverteilung zwischen Frauen, die sich in einer lesbischen Beziehung befinden, festschreiben oder das lesbische Subjekt in einem heterosexuellen Kontext zeigen, eine zentrale Funktion bei der Festlegung „schuldig vs. unschuldig“ erfüllen. Durch diese Rollenverteilung und den heterosexuellen Kontext kommt es dann dazu, dass eine der beiden Frauen in die Heteronormativität gedrängt wird, während die andere Frau in der Beziehung als „constitutive other“, als „das böse Andere“, dargestellt wird und das „eigentliche“ lesbische Subjekt in der Narration verkörpert. Nicht nur in der Bild-Zeitung, sondern auch in Hürriyet konnten in Artikeln aus den 1970er-Jahren ähnliche Deutungsmuster im Diskursstrang „Kriminalität“ festgestellt werden. Wie in Kapitel 4.1.1. gezeigt wurde, besteht der Unterschied in der Berichterstattung der beiden Zeitungen darin, dass in Hürriyet das „böse Andere“ nicht als lesbisch definiert, sondern als eine genderambigue Person hervorgehoben wird. In den untersuchten Medien spielte die Kriminalisierung der lesbischen Repräsentation insbesondere in den 1970er-Jahren eine zentrale Rolle, und obwohl zwei Texte aus den 1990er-Jahren entdeckt wurden, die zu diesem Repräsentationsmuster verdichtet werden konnten, kann man feststellen, dass es im Laufe der Zeit seine zentrale Bedeutung verlor. Das Repräsentationsmuster „Erotisierung des lesbischen Körpers“ hingegen ist noch heute in beiden Zeitungen erkennbar. Wie anhand des Materials aus den 1970er-Jahren gezeigt werden konnte, kam es auch zu einer Verschränkung zwischen den beiden Repräsentationsmustern, was dazu führte, dass ein Bild der Lesbe erzeugt wurde, das der Figur der femme fatale ähnelt. In diesem Zusammenhang impliziert diese Figur eine erotische und gefährliche Frau, genauer gesagt, gefährlich für diejenigen Männer, die sich in Lesben verlieben und zum Opfer der „weiblichen“ Gewalt werden. Einen essenziellen Bestandteil der erotisierenden Repräsentation von lesbischen Frauen bildet dabei der heterosexuelle männliche Blick. Die Art der textuellen und
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visuellen Darstellung von Lesben führt, in Anschluss an Mulvey (1990), dazu, dass die Leser_innen und Zuschauer_innen die Sichtweise heterosexueller Männer übernehmen, während die Homoerotik zwischen Frauen als harmlos angesehen und sogar zelebriert wird. Den dafür erforderlichen legitimen Kontext bildet dabei, wie die Analyse des Materials zeigte, das Deutungsmuster „vorübergehend“, das die Homoerotik unter Frauen als eine vorgespielte, vorübergehende Szene darstellt. In diesem Zusammenhang ist die Frau, die sich in einer vorübergehenden homoerotischen Szene befindet, nicht lesbisch konnotiert, was ein Ausschließen des heterosexuellen Mannes aus der Szene verhindert. Sowohl in Hürriyet als auch in Bild ist ebenfalls das Deutungsmuster „Kommodifizierung“, das die vorübergehende homoerotische Szene mit den Attributen aufreizend und profitabel konnotiert, häufig zu sehen. Dies deutet darauf hin, dass diese Bilder und Repräsentationen als Teil der heteronormativen Kultur in Umlauf gebracht werden. Parallel dazu kommt es auch zur Verschränkung mit der „Normalisierung der lesbischen Repräsentationen“, was im Falle von Artikeln über Coming-outs prominenter Lesben ebenfalls eine erotisierende Darstellung verursacht. Dies ändert sich jedoch in den 2000er-Jahren in den Artikeln über Politikerinnen, die sich zum Lesbisch-Sein bekennen, aufgrund von deren Status und der Implikation von Macht. In solchen Artikeln ist eine Desexualisierung der Repräsentation festzustellen. Das Repräsentationsmuster „die Lesbe als gescheiterte Heterosexuelle“, das insbesondere in der Bild-Berichterstattung zentral war, verlor in den 1990er-Jahren allmählich seine Bedeutung. In den Texten aus den 1970er- und 1980er-Jahren ist häufig der Versuch zu erkennen, eine Ursache für die lesbische Subjektivität zu finden, wobei sehr oft die Tat des heterosexuellen Mannes als diese Ursache identifiziert wird. Während in den frühen Ausgaben die Tat des Mannes ein „Trauma“ oder eine „Tragik“ auslöst, wandelt sich dies zu Beginn der 1990er-Jahre allmählich, und als Ursache wird eine „Enttäuschung“ der Frauen über die Männer angenommen. Diese Art der Darstellung, die in den späteren Ausgaben der beiden Zeitungen nicht mehr zu sehen ist, bestimmte die Heterosexualität als essenziellen Bestandteil jedes Subjekts, das sich erst im Zug einer traumatisierenden bzw. enttäuschenden heterosexuellen Erfahrung von der Heterosexualität abwendet. Wie die Analyse des Materials aufzeigte, gewinnt das Repräsentationsmuster „Normalisierung“ in beiden Zeitungen an Bedeutung, als Regelungen zum Eherecht in Kraft treten. In den Artikeln über Eheschließungen von Lesben werden nicht die Unterschiede, sondern die Ähnlichkeiten mit heterosexuellen Ehen hervorgehoben. Solche Berichte erzeugen eine Stimmung des Umbruchs, indem alte Gewissheiten über die traditionellen Institutionen Ehe, Religion und Familie verlassen und darüber hinaus die Grenzen der Heteronormativität neu gezogen werden. Im Anschluss an die queertheoretischen Ansätze kann diese Art der Transformation des Diskurses als eine Integration in die Norm, die die Differenzen als harmlos, aufreizend, profitabel und sogar nötig für die Gesellschaft ansieht, gelesen werden. Anhand der Analyse der Texte aus beiden Zeitungen konnte diesbezüglich festgestellt werden,
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dass die Transformation des Diskurses sich unter anderem in der intertextuellen Struktur der Texte umreißen lässt: Die Veränderung, die die Reihenfolge der repräsentierten Stimmen beeinflusste, bewirkte, dass es von nun an auch dem lesbischen Subjekt gewährt wurde, in dem Text das letzte Wort zu haben. Dennoch bleibt in beiden Zeitungen die biologische Reproduktion ein letzter von den traditionellen Institutionen beeinflusster Bereich, in dem das lesbische Subjekt abgewehrt wird.
Die mediale Konstruktion von Trans*-Personen
DIE PATHOLOGISIERUNG VON TRANS*-PERSONEN Wie ich anhand der Analyse des empirischen Materials zeigen möchte, spielt die operative Geschlechtsangleichung in der Berichterstattung eine zentrale Rolle. Die operative Geschlechtsangleichung ist in diesem Repräsentationsmuster jedoch kein Ausdruck von Selbstbestimmung des Subjekts über den eigenen Körper, sondern lässt sich vielmehr als Maßnahme deuten, die der Heilung einer psychischphysischen Störung dient. Das Trans*-Subjekt wird in diesem Zusammenhang zu einem Objekt der Medizin und zu einem Gegenstand ohne Sprache. Es taucht in den Artikeln ausschließlich aufgrund von Störungen der Kategorien Geschlecht (männlich im biologischen Sinne), Gender (Mann als soziale Kategorie) und Geschlechtsidentität (biologischer Mann, der sich als Mann definiert) auf, die sich in der heteronormativen Annahme untereinander widerspiegeln müssen (Stryker 2006, 9). Diese Störung der Widerspiegelung der Kategorien wird in solchen Artikeln als ein Problem für die Gesellschaft bzw. Hindernis, sich zu integrieren, dargestellt, was letztendlich dazu führt, dass das Trans*-Subjekt als unfähig, gestört und pathologisch konstruiert wird. Aufgrund dieses Konstrukts wird dem Trans*-Subjekt in den Texten auch keine Sprache verliehen, die es ihm ermöglichen könnte, sich selbst zu definieren. Wie ich im Folgenden zeigen werde, wird das Subjekt sogar in denjenigen Texten, in denen es zum Sprechen kommt, den anderen Stimmen im Text untergeordnet. Diesbezüglich werde ich auch Foucaults Überlegungen über das sprechende Subjekt heranziehen. In den ersten Artikeln des diachronen Schnitts, in denen eine Trans*-Person repräsentiert wird, geht es beispielsweise viel mehr um medizinische Fragen der Geschlechtsangleichung als um die Repräsentation des Subjekts. Das Subjekt hat als ein Gegenstand der Medizin in diesem Zusammenhang keine Stimme und wird ausschließlich durch die Stimme der Ärzt_innen thematisiert. Im Folgenden findet sich ein Bericht aus dem Jahr 1969, der typische Merkmale des Repräsentationsmusters „Pathologisierung“ vor Augen führt.
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Chirurgen für Geschlechtsumwandlung trafen sich Gestern trafen sich hier (London) zum ersten Mal auf einem Kongress zum Thema Geschlechtsumwandlung weltberühmte auf Geschlechtsumwandlungen spezialisierte Chirurgen, um ihre gemeinsames Sicht bekanntzugeben, dass sie Geschlechtsumwandlungen und effektive Patientenbetreuung befürworten. Einer der Professoren der John-Hopkins-Universität, Dr. John Money, der bei diesem Anlass auch im Sinne seiner Kollegen sprach: „Der Wunsch der Menschen, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen möchten, muss erfüllt werden. Für die Zufriedenheit dieser Personen ist das notwendig. Nach solchen Operationen kann sich der Patient mit Leichtigkeit in die Gesellschaft, in der er lebt, integrieren. Während der psychologischen Betreuung kurz nach den Geschlechtsumwandlungen sah man große positive Veränderungen.“ Dr. Money gab unter anderem bekannt, dass sich in den letzten 20 Jahren weltweit über 1000 Frauen und Männer einer Geschlechtsumwandlung unterzogen. (H, „Cinsiyet değiştirme operatörleri...“ 30.07.1969)
Der erste Absatz des Textes beschreibt die operative Geschlechtsangleichung als eine Handlung, die zur Rehabilitation der Trans*-Person führt. Laut dem Bericht ist die Tagung die erste ihrer Art, und die Einschätzung der Expert_innen aus der ganzen Welt, dass die operative Geschlechtsangleichung notwendig sei, lässt sich als Wendepunkt in der Trans*-Geschichte kennzeichnen. Dabei wird die Trans*Person schlicht als „Patient“ bezeichnet, und die Stimme des Arztes Dr. John Money, der im Text als erfahrener Experte vorgestellt wird, bezeichnet die operative Handlung an dessen Körper wiederholt als notwendig für die Integration des Trans*-Subjekts in die Gesellschaft. Die Operation ermöglicht, dem Arzt zufolge, nicht nur eine Integration, sondern auch eine psychologische Heilung der Trans*Person, die in dem Text über keine Stimme und folglich auch über keine Meinung verfügt. Kurz nachdem sie 1971 ihre Gesangskarriere als Mann begonnen hatte, gab Bülent Ersoy bekannt, dass ihr eigentliches Gender das einer Frau sei (Kurtoğlu 2013, 126). Ihre operative Geschlechtsangleichung im Jahre 1981 überlappte mit einer Zeit, die aufgrund des Militärputsches am 12. September 1980 stark vom Militarismus geprägt war, was dazu führte, dass sie von den Generälen als eine Gefahr für die Öffentlichkeit und die Gesellschaft bezeichnet wurde (Eşsiz 2012, 195). Ihre Geschlechtsangleichung wurde diesbezüglich öffentlich thematisiert und war sogar Thema eines Films aus dem Jahr 1981; ihr juristischer Kampf um Anerkennung als Frau prägte die türkische Populärkultur in den 1980er-Jahren (vgl. Ertür und Lebow 2012). Hürriyet berichtete intensiv über Bülent Ersoys Geschlechtsangleichung und vereint dabei widersprüchliche Repräsentationen, indem Ersoy als Subjekt einerseits als pathologisch gedeutet und andererseits in die Norm integriert und damit anerkannt wird. Am 23. August 1980 erschien ein Bericht über Bülent Ersoy, der sie als hysterisch und aggressiv konstruierte, also als eine Person, die nicht im Stande ist, ihre
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Aggressivität unter Kontrolle zu halten. Dieser besondere Fokus auf Aggressivität und Hysterie wiederholt sich auch in den Artikeln über Trans*-Sexarbeiter_innen, die sich in den 1980er- und 1990er-Jahren gegen die Polizeigewalt wehrten, und kann diesbezüglich als Narration eines Repräsentationsmusters gesehen werden, das das Subjekt sowohl als pathologisch (neurotisch gestört) als auch als kriminell konstruiert. Das zweite Ereignis auf der Bühne Der als Frau verkleidete Bülent Ersoy jagte den männlichen Techniker mit einer Flasche Während Bülent Ersoy auf der Bühne sein letztes Lied sang, regte er sich über das Knistern im Mikrofon auf, jagte den Tontechniker mit einer Flasche und löste ein Durcheinander im Backstagebereich aus. Bülent Ersoy, der im Gazino1 des Vergnügungsparks erfolgreiche Konzerte gibt, ging in der Nacht heiter auf die Bühne und zog sich oftmals um. Allerdings, zum Ende des erfolgreichen Programms, wandelte sich der berühmte Künstler zu einer verrückten Furie. Als Bülent Ersoy sein letztes Lied sang, knisterte es plötzlich im Mikrofon, der Künstler brachte sein Lied schnell zu Ende und eilte zum Backstage. Mit der Wasserflasche, die er sich schnappte, ging er auf den Tontechniker zu. Im nächsten Moment gab es ein Durcheinander im Backstagebereich. Als der Tontechniker Necati Akın vor Angst floh, warf ihm Bülent Ersoy die Flasche hinterher. Der Künstler, der seine Emotionen nicht unter Kontrolle hatte, nahm noch eine Flasche und rannte dem Tontechniker hinterher. In dem Moment kam der Manager Hayri Küçük, stellte sich vor ihn und sagte: „Gnädigste, regen Sie sich nicht auf, ich werde ihm schon die nötige Lektion erteilen.“ Bülent Ersoy schrie sich die Seele aus dem Leib und sagte: „Diesen Mann möchte ich hier nie wieder sehen. Niemand hat das Recht, meine Kunst zu verunglimpfen. Bevor ich diese Flasche nicht auf seinem Kopf zertrümmert habe, werde ich innerlich keine Ruhe finden. Behindere mich nicht, Hayri.“ (H, „Kadın kılığındaki Bülent...“ 23.08.1980)
Die beiden Überschriften thematisieren Bülent Ersoys Aggressivität, die, laut dem Bericht, häufig in Erscheinung tritt. In der zweiten Überschrift wird durch Unterstreichung der Geschlechtsangleichung bzw. des Passings die Ungewöhnlichkeit der Situation zum Ausdruck gebracht: Eine Frau verhält sich gegenüber einem Mann aggressiv bzw. wendet ihm gegenüber Gewalt an, was nicht der typischen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern entspricht. Die Überschrift verweist jedoch darauf, dass die Frau keine „richtige“ Frau sei, sondern ein Mann in Frauenkleidern. Dabei wird die Performativität des Genders deutlich: Bülent Ersoy singt auf der Bühne nicht nur Lieder, sondern spielt ihren Zuschauer_innen auch vor, eine Frau zu sein, wozu zum Beispiel gehört, dass sie während einer Show häufig die Kostüme wechselt. Die Bühne fungiert hier als legitimer Raum, in dem Ersoy eine Stimme gewinnt, zum Sprechen kommt, wo sie sich als Frau definieren darf. Dies wird in einer widersprüchlichen Weise einerseits normalisiert, da sich das Passing vor den Augen der dominanzgesellschaftlichen Kultur abspielt, andererseits
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Nachtlokal.
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pathologisiert, indem es mit unkontrollierbarer Aggressivität und Hysterie, also mit einer neurotischen Störung, in Zusammenhang gebracht wird. Am Schluss des Textes wird ein weiterer Fall von unkontrollierbarer Aggressivität erwähnt, der ebenfalls durch ein Ereignis ausgelöst wurde, das auf den ersten Blick unwichtig scheint. Laut dem Bericht trat Ersoy wütend auf die Bühne, da sie kurz vor dem Konzert ihre Brosche verloren hatte. Zunächst beschimpfte sie das Orchester und danach die Zuschauer_innen, und schließlich musste sie das Konzert unterbrechen. Dadurch entsteht ein Bild von Bülent Ersoy, das sehr stark mit Hysterie und Aggressivität verknüpft wird, da sie nicht im Stande ist, ihre Gefühle zu kontrollieren: Trotz des erfolgreichen Konzerts, bei dem sie ansonsten ausgelassen und fröhlich ist, reagiert sie auf den Verlust einer Brosche oder auf ein technisches Problem mit unverhältnismäßig hoher Aggressivität. Das Bild von Bülent Ersoy, das sie als aggressiv und hysterisch konstruiert, erhält eine weitere Dimension, als Ersoy im September 1980, kurz vor dem Militärputsch, während eines Konzerts (also in dem Raum, in dem sie eine Stimme gewinnt und als Frau das Passing vollziehen kann) ihre Brust zeigte. Dadurch verschärfte sich die Konstruktion eines pathologischen Subjektes, das nun nicht nur mit Hysterie und Aggressivität in Zusammenhang gebracht wurde, sondern auch mit Exhibitionismus, einer Verhaltensweise, die im juristischen und medizinischen Diskurs der damaligen Zeit als seelische Störung angesehen wurde. Dies führte dazu, dass die Staatsanwaltschaft Bülent Ersoys Verhaftung forderte, da ihre Tat eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstelle. Ersoy betonte jedoch, sie habe dies nur zur Unterhaltung des Publikums getan und niemanden gefährden wollen. Richter aus Izmir wollte Haftstrafe für Bülent Ersoy Das Gericht in Izmir klagte Bülent Ersoy wegen „Verstoßes gegen die Sitte und Moral“ an und verlangte einen Monat Haftstrafe. Ersoy, der auf der Bühne bei einem Konzert seine Brüste zeigte und vor den Journalisten obszön posierte, wurde angeklagt und ein Verfahren gegen ihn eröffnet. Das Sicherheitsbüro von Izmir wurde schriftlich beauftragt, ihn zu vernehmen. Necmi Ercan, Vertreter des Staatsanwaltes gab zu diesem Thema folgende Informationen: „In den letzten Ausgaben einiger Zeitungen in Istanbul und Izmir sah man, dass Bülent Ersoy gegen die Moral verstieß. Ferner wurde berichtet, dass er auf der Bühne, auf der er arbeitete, seine Brüste zeigte. Wir haben nach dem Türkischen Strafrecht Paragraf 576 ein Verfahren gegen ihn eröffnet. Wir haben auch die Staatsanwaltschaft in Istanbul von dem Fall in Kenntnis gesetzt. Wir werden Bülent Ersoy vernehmen. Und wenn wir es für nötig halten, werden wir beim Gericht einen Monat Haftstrafe beantragen. (…) Bei dem Verhör in dem von der Staatsanwaltschaft Izmir eröffneten Verfahren zu dem „Verstoß gegen die Sitte und Moral“, sagte der Sänger Bülent Ersoy. „Was ist denn daran ein Verbrechen? Mein Publikum wollte es und ich habe mich ausgezogen.“ Bülent Ersoy, der immer noch in einer Wohnung in Izmir-Kordonboyu wohnt und jede Nacht mit seinen Auftritten für Schlagzeilen sorgt, hat die Vorladung zur Befragung kaltblütig aufgenommen. Während eines Telefonates gab er an, im Ruhezustand zu sein. Auch sei sein
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Make-up nicht aufgefrischt und er sehe daher keine Möglichkeit zu einem persönlichen Treffen. Er sagte Folgendes: „Ich erinnere mich sehr gut an die Nacht. Es bebte förmlich im Gazino. Mein Publikum machte eine Show, damit ich mich ausziehe. Am Ende konnte ich dem nicht widerstehen und zeigte meine Brust. Was ist daran ein Verbrechen, bitte. Sind nicht die Brüste aller Frauen sichtbar? In den Bars, am Strand, sogar auf der Straße – zeigt denn nicht jede Frau, die Vertrauen in ihren Körper hat, ihre Brüste?“ (H, „İzmir Savcısı Bülent...“ 03.09.1980).
Die intertextuelle Struktur des Textes ermöglicht nicht nur die Repräsentation der Stimme von Bülent Ersoy, die in Widerspruch zur Stimme des Staatsanwalts steht, der ebenfalls in direkter Rede repräsentiert wird, sondern auch eine alternative Lesart. Diese kommt zustande durch die Reihenfolge der Stimmen, in der Ersoy das letzte Wort hat, und unterläuft den juristischen Diskurs, der sie kriminalisiert, sowie auch die spöttische Sprache, die sie als lächerlich und pathologisch darstellt. Die Stimme des Staatsanwalts, die das Gesetz, die dominanzgesellschaftlichen Normen und Werte repräsentiert, weist auf die Taten von Ersoy hin, die in der damaligen Zeit die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen. Obwohl diese Taten in dem Text nicht expliziert werden, kann man in Hinblick auf den Bericht über Ersoys Aggressivität, der in dem gleichen Zeitraum erschien, vermuten, dass ihre „Hysterie“ und Aggressivität auf der Bühne gemeint sind. Die Forderung nach ihrer Verhaftung wird also nicht nur mit ihrer exhibitionistischen Tat, sondern auch mit ihrer Hysterie begründet, also mit zwei Verhaltensweisen, die als seelische Störungen, mit anderen Worten, als pathologisch angesehen werden. Deutlich spöttischer und negativer wird die Sprache des Textes, als erklärt wird, weshalb Ersoy ein Treffen mit Journalist_innen absagen musste. Laut dem Bericht war der Grund, dass sie kein Make-up trug. Diese Angabe, die für das Ereignis, über das eigentlich berichtet wurde, keine Relevanz und keinen Informationswert hat, lässt Ersoy negativ und lächerlich erscheinen, da sie dem Tragen von Make-up, also einer „unwichtigen“ Sache, eine so hohe Bedeutung beimisst. Durch diese Angabe wird ihre Geschlechtsangleichung nicht nur lächerlich gemacht, sondern auch pathologisiert. Ähnlich wie in dem Bericht über die verlorene Brosche wird Ersoy hier als hysterisch dargestellt, da sie so viel Wert auf „unwichtige“ Dinge wie Schmuck und das Tragen von Make-up legt, und zudem erscheint ihr Verhalten, sich angesichts einer drohenden Verhaftung nur um ihr Make-up zu sorgen, pathologisch. Dies wiederum lässt feminin konnotierte Verhaltensweisen, wie das Tragen von Make-up und Schmuck (und bis zu einem gewissen Grad auch Hysterie), in einem negativen Licht erscheinen, oder anders formuliert, feminine Konnotationen haben hier die Funktion, Ersoy, die ein Passing als Frau vollziehen möchte, spöttisch und negativ darzustellen. Interessant ist hier, dass der Text mit der Stimme von Ersoy schließt, die einerseits den dominanzgesellschaftlichen Werten widerspricht, andererseits die spöttische und negative Darstellung ihrer Geschlechtsangleichung unterläuft. Die Stimme
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weist auf die Normalisierung ihrer Geschlechtsangleichung hin, indem Ersoy davon erzählt, wie ihre Zuschauer_innen es genießen, ihr bei ihrem Passing als Frau zuzuschauen. Die Bühne ist dabei ein Ort, mit dem Ersoy auch ihr exhibitionistisches Handeln legitimiert. Das Gesetz und die Moral, die durch den Staatsanwalt repräsentiert werden, verlieren angesichts des Vergnügens, das das Publikum beim Beobachten von Ersoys Vorstellung empfindet, ihre Bedeutung. Zum Schluss begründet Ersoy die Entblößung ihrer Brust mit ihrer Schönheit als Frau, wodurch sie auch der Ablehnung entgeht, für ihre Geschlechtsangleichung sonst auslösen würde. In einem weiteren Text, erschienen am nächsten Tag, wird berichtet, dass Ersoy gegenüber dem Staatsanwalt argumentierte, die Zuschauer_innen hätten während eines anderen Konzerts ihre Brüste sehen wollen. Das Interesse des Publikums dient dabei wie in dem vorherigen Bericht als Bestätigung ihres Passings als Frau (H, „Bülent Ersoy’a seyirciler...“ 04.09.1980). Trotz des Militärputschs am 12. September 1980 konnte Ersoy, im Unterschied zu den anderen Trans*-Sänger_innen bzw. -Performer_innen, die nicht so bekannt waren wie sie, noch ein Jahr lang weiter öffentlich auftreten und singen. Kurz nach dem Militärputsch wurden über Trans*- und schwule Sänger_innen sowie Performer_innen in etlichen Städten in der Türkei Auftrittsverbote verhängt, was auch Zwangsumsiedelung von Trans*-Performer_innen aus Städten wie Istanbul, Ankara und Bursa in ländliche Regionen zur Folge hatte (Eşsiz 2012, 196-197). In paradoxer Weise bekam Ersoy also Anerkennung von der dominanzgesellschaftlichen Kultur in einer Zeit, als andere Trans*-Performer_innen zwangsumgesiedelt wurden. Dies änderte sich jedoch 1981 grundlegend, zunächst in Istanbul, dann auch in anderen Städten, als auch Ersoy nicht mehr öffentlich auftreten durfte. Im Zuge des Auftrittsverbots verlor sie, wie ich im Folgenden zeigen möchte, auch ihre Stimme in den Texten. Da sie ihre operative Geschlechtsangleichung bereits hinter sich hatte und sogar auf ihrem Ausweis als Frau ausgewiesen war, versuchte sie, dem Verbot zu entgehen und als Frau anerkannt zu werden – jedoch vergeblich. In diesem Zusammenhang gab es öffentliche und juristische Debatten, an denen auch Ärzt_innen teilnahmen, um eine Definition und eine Lösung für den Fall Ersoy zu finden. Mediziner streiten über Bülent Ersoy „Die Weiblichkeit ist kein Plastikorgan" In der letzten Zeit wurde über die Frage „Was ist Bülent Ersoy?“ diskutiert, und auch die Frage, ob Bülent Ersoy ein Mann oder eine Frau ist, sorgte für Streitgespräche und wurde im vergangenen Monat auf einer Konferenz des Obersten Rates für Gesundheit diskutiert. Der Minister für Gesundheit und Soziales gab seine Meinung dazu bekannt: „Bülent Ersoy ist keine Frau. Bülent Ersoy wurde eine künstliche Vagina angelegt.“ In der Zwischenzeit holten wir auch die Meinung des Oberarztes im Ankara-Geburtshaus, Dr. Ziya Durmuş, ein. Er gab bekannt, dass man Bülent Ersoy nicht als Frau definieren könne. „Die Weiblichkeit ist kein Plastikorgan. Und sie kann nicht so billig sein“, sagte er weiter. Homosexualität sei die größte und am schwierigsten behandelbare Krankheit des 20. Jahr-
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hunderts, gab der Fachmann für Neurologie und Psychiatrie Dr. Nazmi bekannt. Er rief Mütter und Väter auf, ihre Kinder ihrem Geschlecht entsprechend zu behandeln. Der Minister für Gesundheit und Soziales Dr. Enver Şenerdem teilte dem Hürriyet-Reporter mit, dass es auf der Konferenz des Obersten Rates für Gesundheit Gespräche mit Homosexuellen gegeben habe, und sagte folgendes: “Bülent Ersoy hat nicht von Geburt an zwei Geschlechter. Dieser Art von Menschen werden operativ künstliche Vaginen angelegt. Die künstlich angelegte Vagina gilt auf keinen Fall als weibliches Geschlechtsorgan. Er kam als Mann zur Welt und wurde zur Frau umoperiert.“ Homosexuelle haben über diese Angelegenheit mit dem Obersten Rat für Gesundheit Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, der an der Konferenz des Gesundheitsrates teilnahm, lange diskutiert. Die Fachärzte für Frauenheilkunde sind sich einig darüber, dass Bülent Ersoy niemals eine Frau sein wird. [...] Man kann nicht Frau sagen Damit ein Mensch im wahrsten Sinn eine Frau werden – und auch als solche definiert werden – kann, müssen die Geschlechtschromosomen weiblich sein, gab der Oberarzt im AnkaraGeburtshaus, Dr. Ziya, bekannt. „Im weiblichen Körper dominieren weibliche Hormone. Eine Frau bekommt regelmäßig jeden Monat ihre Menstruation und bringt ein Kind zur Welt. Die weiblichen Genitalien sind weiblich geformt“, sagte er. Bülent Ersoy wird mit den äußeren Geschlechtsorganen und auch psychisch zwar wie eine Frau leben können, wird aber nie eine Frau im wahrsten Sinne des Wortes werden, gab Dr. Ziya Durmuş bekannt und sagte später noch Folgendes: „Bülent Ersoy wird beim Geschlechtsverkehr niemals die Sinnesfreuden erleben, die eine Frau haben kann, weil eine Frau eine Gebärmutter (Uterus) und Eierstöcke hat. Ich weiß nicht, ob in dem Bericht zu Bülent Ersoy erwähnt wird, ob er das alles hat oder nicht, aber ich nehme an, dass er das nicht hat. Diese Organe nämlich können nicht im Nachhinein entstehen, und Bülent Ersoy ist als Mann zur Welt gekommen. Deshalb kann er nicht wie eine Frau funktionieren, ist in der Form aber wie eine Frau. Bülent Ersoy kann im moralischen und psychologischen Sinne wie eine Frau leben. Kann keine Mutter werden. Keine Kinder bekommen...“ Krankheit der Epoche Dass Homosexualität in der Türkei wie auch weltweit einer Epidemie gleicht und eine Krankheit des 20. Jahrhunderts ist, deren Behandlung unmöglich ist, betont der Fachmann für Neurologie und Psychiatrie Dr. Nazmi Barlas. „Bülent Ersoy und Homosexuelle wie er sind krank. Deren Leben wird so weitergehen. Diese Menschen von ihren Abhängigkeiten zu retten ist nicht möglich. Es ist ja keine Alkohol- oder Zigarettenabhängigkeit, die wir behandeln können“, sagte er. Barlas bemerkte, dass man sich keinesfalls mit den Homosexuellen bekriegen werde. Er führte weiter aus: „Wenn ein Mensch homosexuell ist, dann wird er das immer sein. Man kann es nicht verhindern. Die Kranken werden bestimmt nicht Selbstmord begehen. Übrigens haben sie auch überhaupt kein Schamgefühl. Diese Gefühle sind verkümmert. Sie missachten den Respekt ihres Umfelds. Wie Bülent Ersoy. Diese Menschen muss man als das Kranke in der Gesellschaft akzeptieren. Man muss im Kindes- und im jugendlichen Alter erzogen und kontrolliert werden. Mütter und Väter dürfen ihre Kinder auf keinen Fall unterdrücken. Kinder müssen entsprechend ihrem Geschlecht erzogen werden. Nur weil man keinen Sohn hat, sollte man seine Tochter nicht wie einen Jungen erziehen, oder umgekehrt den Jungen wie ein Mädchen. Das würde Wunden erzeugen, die zu behandeln unmöglich ist. Das ist der Fall bei Bülent Ersoy. (…)“
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Die Ansichten des Ministeriums für Religion Beamte des Ministeriums für Religion sagten: „Da Bülent Ersoy nach medizinischer Auffassung eine Frau ist, spricht im religiösen Sinne nichts gegen eine Heirat. Wir wissen zwar nicht, wie er zu einer Frau wurde, aber das ist die Sache der Medizin. (…)“ Zum Thema Bülent Ersoy sagten Beamte der Kommission für Lösungsfindungen bei gesundheitlichen Problemen, die gerade an einer Versammlung teilnehmen, auf Anfrage des Justizministeriums, dass es im März ein Treffen mit Bülent Ersoy und weiteren Homosexuellen gegeben habe. Eine Frage des Justizministeriums bezüglich der Homosexuellen richtete sich an Dr. Enver Şenerdem, Minister für Gesundheit und Soziales. Diese Thematik wurde vom Obersten Rat für Gesundheit und von Fachärzten für Frauenheilkunde und Geburtshilfe aufgegriffen und diskutiert. Im Protokoll wurde aufgenommen, dass diese Menschen ausschließlich operativ zu Frauen werden können. (H, „Kadınlık plastik bir...“ 22.06.1981)
In diesem Bericht wird deutlich, wie das Trans*-Subjekt zu einem sprachlosen Gegenstand des medizinischen, juristischen, psychiatrischen und theologischen Diskurses wird. Der Text eröffnet Räume für die Stimmen der Expert_innen, die das Gesetz, die Norm und das Tabu verkörpern und versuchen, das Trans*-Subjekt, in diesem Fall Ersoy, in eine Kategorie einzuordnen, sie zu definieren und zu beschreiben, um eine Selbstbestimmung sowie Selbstdefinition des Individuums zu verhindern. Im Gegensatz zu dem vorherigen Bericht, in dem Ersoys Stimme als Versuch gelesen werden kann, der von der Staatsanwalt repräsentierten Heteronormativität zu entkommen, ist hier aufgrund des Monopols der Expert_innen auf das Sprechen ein Entkommen vor deren Wahrheitsanspruch nicht möglich. In der medizinischen Diskussion, über die in der Überschrift berichtet wird, hat Ersoy kein Recht zu sprechen, obwohl es um ihren eigenen Körper und um ihre eigene Subjektivität geht. Der Text besteht aus unterschiedlichen Stimmen, die sich alle einig sind, Ersoy als eine „künstliche“ Frau bzw. einen „pathologischen“ Mann, der Weiblichkeit nachahmt, zu definieren. Die Überschrift, die die Stimme des Ministeriums hervorhebt, die die „künstliche“ Weiblichkeit von Ersoy nicht anerkennt, enthält das türkische Wort für „plastisch“, also „plastik“. Dies impliziert das Nachahmen, Imitieren sowie einen formbaren, also künstlichen Gegenstand. Was damit gemeint ist, ist die künstliche Vagina, die es, trotz ihrer „wie originalen“ Erscheinung, Ersoy nicht ermöglicht, an der biologischen Reproduktion, die in dem Text als Maßstab für Weiblichkeit dient, teilzunehmen. Die Repräsentation der Stimme des Ministeriums in der Überschrift fungiert als Zusammenfassung der in dem Text repräsentierten Stimmen und lässt sich als Schlussfolgerung der medizinischen Diskussionen über Ersoy deuten, auf die in der Überschrift ebenfalls hingedeutet wird. Die Stimme des Arztes (Dr. Durmuş) fungiert als Bestätigung bzw. Bekräftigung der in der Überschrift und im ersten Absatz repräsentierten Stimme des Ministeriums. Dr. Durmuş liefert eine biologisch determinierte Definition für „Frau“, aus der Ersoy damit ausgeschlossen ist. Seine Definition reduziert Sexualität und Gen-
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der auf die biologische Reproduktion, wodurch Ersoys Selbstdefinition und Erscheinung als Frau als Täuschung entlarvt werden. Diese Art der Selbstdefinition, die auf einer Täuschung beruht, wird folglich von der Stimme der Psychiatrie als pathologisch bezeichnet. Dr. Barlas, der in dem Text die Institution der Psychiatrie verkörpert, ordnet Homosexualität, die in dem damaligen Diskurs als Sammelbegriff für alle Identitäten, die nicht in die Heteronormativität passen, funktionierte, in eine Kategorie ein, die eine apokalyptische Stimmung erzeugt: Der Begriff „Transgender“ steht in dieser Vorstellung für eine unheilbare Epidemie, die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt. Hier ergibt sich eine Anschlussmöglichkeit an Foucaults Überlegungen zum Recht des Subjekts auf das Sprechen. Wie auch die intertextuelle Struktur des Berichts, der unterschiedliche Stimmen nebeneinander darstellt und dabei das Trans*Subjekt verstummen lässt, zeigt, ist das Recht, einen bestimmten Diskurs vorzubringen, Foucault zufolge stark mit dem Status des sprechenden Subjekts verbunden (Foucault 1973, 75). Das Subjekt, das keinen Status bzw. einen untergeordneten Status verkörpert, darf oder kann in diesem Zusammenhang nicht sprechen, nicht einmal dann, wenn es sich um den Diskurs über das Subjekt selbst handelt. Foucault ist der Meinung, dass durch eine derartige Regulation der sprechenden Subjekte bzw. durch diese Hierarchisierung unter den sprechenden Subjekten das Ziel angestrebt wird, „Kräfte und Gefahren“ eines Diskurses, insbesondere eines Diskurses im Bereich der Sexualität, zu bändigen (Foucault 1991, 11-15). Betrachtet man den Militärputsch von 1980 und die darauffolgenden Berufsverbote für Trans*-Künstler_innen und -Sexarbeiter_innen, werden Foucaults Überlegungen bedeutsam für diese Arbeit. Denn sie zeigen, wie sozio-historische Kontexte, in diesem Beispiel der Militärputsch, eine normalisierende Repräsentation der Sexualität stark unterbrechen können. Wie ich im Kapitel über Normalisierung näher besprechen werde, veränderte sich nach dem Verbot von 1981 das zentrale Repräsentationsmuster in der Berichterstattung über Ersoy, das ihre Geschlechtsangleichung als Teil der dominanzgesellschaftlichen Kultur sichtbar machte, von Normalisierung hin zur Pathologisierung bzw. Kriminalisierung. In diesem Zusammenhang wurde die Veränderung in der Regulation der sprechenden Subjekte deutlich, indem Ersoys Stimme keinen Wahrheitsanspruch mehr erlangte bzw. schlicht aus der Berichterstattung entfernt wurde. Das Repräsentationsmuster „Pathologisierung“ erhielt in der Berichterstattung in Hürriyet eine weitere Dimension, als in den 1980er-Jahren AIDS bekannt wurde. Angesichts der Sexarbeit verschränkte sich, wie im folgenden Kapitel näher betrachtet wird, in den Texten über AIDS die Repräsentation des pathologischen Trans*-Subjekts bzw. der Transfrau mit der Repräsentation der kriminellen Transfrau. Das Auftrittsverbot für Trans*-Sängerinnen nach dem Militärputsch führte dazu, dass in der Berichterstattung die Repräsentation der Transfrau stark mit unregistrierter, d.h. illegaler, Sexarbeit in Zusammenhang gebracht wurde. In solchen Artikeln stellt der Körper des Trans*-Subjekts eine potenzielle Gefahr für die Ge-
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sundheit der Gesellschaft dar und wird häufig in einem kriminellen Kontext „enthüllt“: Ein Artikel aus dem Jahre 1987 berichtet bspw. über Inspektionen in Bordellen, in denen „zwei von 60 Frauen und fünf von 12 Homosexuellen“ „AIDS“ hatten (H, „Genelevde AIDS Belirtisi“ 09.02.1987). Die Deutung „Gefahr“, die vom Trans*-Körper ausgeht, wird insbesondere in einem Bericht aus dem Jahr 1991 deutlich, in dem von einer Polizeirazzia die Rede ist, die ebenfalls in Bordellen stattfand. Es wird davon berichtet, dass eine Transfrau, die laut dem Text HIVpositiv ist, die Öffentlichkeit bedrohe, wenn sie weiterhin als Sexarbeiterin tätig ist und Männer mit „AIDS“ ansteckt, falls „der Staat“ ihr keine Sozialversicherung gewährt (H, „Yardım edilmezse, fuhuş...“ 14.03.1991).
DIE KRIMINALISIERUNG VON TRANS*-PERSONEN Die Repräsentation des Trans*-Subjekts wird in Hürriyet sehr stark durch den Diskursstrang „Kriminalität“ gestaltet. Ähnlich wie die Bild-Berichterstattung in den 1970er-Jahren, die eine Kopplung zwischen lesbischer Identität und Kriminalität herstellt, kriminalisiert die Hürriyet-Berichterstattung insbesondere die Transfrauen. Das kriminelle Trans*-Subjekt, wie es in den untersuchten Ausgaben von Hürriyet festzustellen ist, unterscheidet sich jedoch als Repräsentationsmuster grundlegend von der „Kriminalisierung der lesbischen Repräsentation“: Während die kriminelle Lesbe hauptsächlich als Bedrohung für das Leben des Mannes und als Gefahr für die Männlichkeit dargestellt wird, gefährdet das Trans*-Subjekt hauptsächlich die Ordnung des öffentlichen Raumes. Seine Präsenz im öffentlichen Raum wird als Störung der traditionellen Institutionen wie Familie, Moral sowie Gesetz codiert. Zentral für dieses Repräsentationsmuster ist diesbezüglich die symbolische Bedeutung des Raumes, die sich je nach Kontext des Textes entweder auf die Anerkennung oder Ablehnung des Subjekts beziehen lässt. Der öffentliche Raum wird in den Texten zum Schauplatz einer Spannung zwischen der Dominanzgesellschaft, die die Präsenz des Trans*-Subjekts als kriminell konstruiert, und dem Trans*-Subjekt, das versucht, Anerkennung zu finden und sich dadurch aus diesem kriminalisierenden Konstrukt zu befreien. Dies geht auf der Ebene des journalistischen Diskurses der Hürriyet mit einer Rekontextualisierung einher, die der repräsentierten Stimme des Trans*-Subjekts entweder den Wirklichkeitsgehalt bzw. den Wahrheitscharakter abspricht oder sie einfach verstummen lässt. In den Texten ist, wie ich im Folgenden zeigen werde, diesbezüglich eine weitere Spannung erkennbar, und zwar eine Spannung zwischen der Selbstdefinition und der Definition durch andere, die bedeutsam ist für die Frage, wer kriminell ist. Häufig liefert Hürriyet nicht nur eine Definition, die die Selbstdefinition der Transfrauen übergeht, sondern verwendet zudem Deutungsmuster, die die Transfrauen mit Kriminalität in Zusammenhang bringen.
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Da sich kein Diskursfragment der untersuchten Ausgaben der Bild-Zeitung zu diesem Repräsentationsmuster verdichten ließ, ermöglichte es die Analyse, die ausschließlich auf dem türkischen Material beruht, lediglich, den Verlauf des Diskurses im diachronen Schnitt durch Hürriyet aufzuzeigen. In einer vergleichenden Analyse mit den anderen Repräsentationsmustern, wie z.B. mit der Normalisierung des Trans*-Subjekts, wird deutlich, wie stark der sozio-historische Kontext die Berichterstattung in Hürriyet gestaltete. Dabei bildet, wie ich im Folgenden zeigen werde, der Militärputsch von 1980 einen wichtigen Wendepunkt, der die Repräsentation des Trans*-Subjekts bis zur heutigen Zeit stark beeinflusst hat. Für den Hintergrund der Analyse soll dabei der Paragraf 1402 stehen, der es dem nach dem Putsch regierenden Militärregime ermöglichte, die gesamten Massenmedien der Türkei, darunter auch alle Arten von Printmedien, zu kontrollieren und sogar zu zensieren (Eşsiz 2012, 193). Auch Hürriyet war davon betroffen und wurde mehrmals zensiert (Topuz 2012, 259). General Kenan Evren schränkte mehrmals willkürlich die Pressefreiheit ein, indem er Zeitungen zensieren ließ, deren Berichterstattung Themen zu Sexualität enthielt (Eşsiz 2012, 195). In diesem Zusammenhang waren auch Trans*-Performer_innen sowie -Sexarbeiter_innen, die in die Öffentlichkeit treten, also auf der Bühne auftreten bzw. auf die Straße gehen, während des Militärregimes unerwünscht (Eşsiz 2012, 196-197). Das Repräsentationsmuster der Kriminalisierung des Trans*-Subjekts in Hürriyet muss jedoch auch vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass die Trans*-Personen in der Zeit nach dem Militärputsch stark verfolgt wurden. Das folgende Textbeispiel ist ein kurzer Bericht, der die zerstörerischen Folgen des Militärputsches von 1980 für die Trans*- bzw. queeren Communities in den Großstädten dokumentiert. Es wurde festgestellt, dass einer der vier festgenommenen Homosexuellen eine umoperierte Frau ist. Die vor einiger Zeit von Polizisten an den Stadtrand geführten vier Homosexuellen wurden, nachdem sie wieder nach Istanbul zurückgekehrt waren, erneut nach dem Kriegsrecht festgenommen. Nach einer polizeilichen Maßnahme der Angestellten der Sittenpolizei Istanbuls wurden die am 24. April gefangengenommenen Homosexuellen an den Stadtrand gebracht. Die von den Beamten für Kriegsrecht fortgeschickten Süleyman Aktur, Bülent Akartürk, Savaş Kaya, Aydın Tosun wurden festgenommen. Nebenbei wurde die Aussage Süleyman Akturs, er sei eine Frau, nach medizinischen Untersuchungen von einem Arzt bestätigt. (H, “Gözaltına alınan dört…“ 22.05.1981)
In diesem Bericht wird wiederum deutlich, dass im damaligen Diskurs der Begriff „homosexuell“ als Sammelbegriff diente, der auch auf Trans*Identitäten angewandt wurde. Diese Art der Definition kann auch als Ablehnung der Selbstdefinitionen von Transfrauen gesehen werden. In dem Text wird die Selbstdefinition als Frau als „Behauptung“ bezeichnet, die erst dann an Wahrheit gewinnt, wenn die Institution
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der Medizin dies bestätigt. Das heißt, das Subjekt kann nicht außerhalb der Grenzen der Diskurse von Institutionen wie Medizin und Polizei konstruiert werden. Ein weiterer erwähnenswerter Punkt ist die symbolische Bedeutung der Großstadt und des ländlichen Raums, auf die in dem Text hingewiesen wird. Die Großstadt steht nicht nur für einen Raum, in dem man arbeiten kann, sondern auch für einen Raum, in dem man sich verwirklichen bzw. Anerkennung finden kann. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig zu erwähnen, dass in den queertheoretischen Ansätzen die Narration über die Großstadt als Raum für Sichtbarkeit sowie Anerkennung infrage gestellt wird. Halberstam bezeichnet solche Theoretisierungen, die auf der Dichotomie Stadt vs. Land aufgebaut sind und Städte als geschützte Räume für queere Subjektivitäten und ländliche Räume als gefährlich konstruieren, als Metronormativität, was eine Kritik an Stadt-orientierten Ansätzen darstellt (Halberstam 2005, 36). Dies ist jedoch eine euro- und amerikazentrische Kritik, die weder für den sozio-historischen Kontext der Türkei noch für Regionen außerhalb der westlichen Welt relevant scheint. Ähnlich wie die Bedeutung der Großstadt für die Travestis in Brasilien, die die familiären Strukturen der ländlichen Räume bzw. der Kleinstädte verlassen und in die Großstädte migrieren müssen (vgl. Kulick und Klein 2009), funktionieren die Städte im sozio-historischen Kontext der Türkei als Räume der Anerkennung, da Trans*- bzw. queere Communities nur in den Städten aufgebaut werden, wo die Individuen als Sexarbeiter_innen oder Performer_innen tätig sein können (Gürsu und Elitemiz 2012, 12; Çelik 2013, 86). Istanbuls Bedeutung für die queeren Communities ähnelt deswegen der westlicher Großstädte wie San Francisco (vgl. D’Emilio 1989) und Berlin (vgl. Theis 1997), wo sich queere Communities in den 1970er-Jahren einen safer space schaffen konnten, in dem sie nicht nur in einer weniger gewaltsamen Umgebung wohnen und arbeiten, sondern auch eine politische Bewegung starten konnten (vgl. Hanhardt 2013). Deshalb war das Verbot durch das Militärregime ein Versuch, Trans*- und queere Communities aus ihren safer spaces, also aus den Räumen, in denen sie die Möglichkeit zur Selbstdefinition, Selbstbestimmung und Anerkennung hatten, zu entfernen. Die Deportation in ländliche Regionen ist diesbezüglich nicht nur als räumliches Displacement zu verstehen, sondern auch als ein Displacement von der Möglichkeit auf Selbstdefinition. Das Gesetz des Innenministeriums des Militärregimes vom 19. März 1981 untersagte den „Männern in Frauenkleidern“ die Tätigkeit in Bars und Nachtclubs, wovon auch Ersoy nach einer gewissen Zeit betroffen war (Kurtoğlu 2013, 126). Ähnlich wie die Person, von der in dem oben erwähnten Text berichtet wird, versuchte auch Ersoy mithilfe ihrer operativen Geschlechtsangleichung und ihres neuen Ausweises, auf dem sie nun als Frau ausgewiesen war, dem Verbot zu entgehen. Darauffolgend gewann die Anerkennung bzw. Ablehnung ihrer Selbstdefinition als Frau eine neue Dimension: Ihre Tätigkeit als Sängerin war von nun an auch von dieser Anerkennung abhängig.
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Homosexuelle Künstler werden in Istanbul erschaffen Der Antrag Bülent Ersoys, nun als Frau auftreten zu dürfen, wurde abgelehnt. Der Antrag von Bülent Ersoy, wieder auf die Bühne zu dürfen, weil er ja nun eine Frau ist, wurde vom Istanbuler Gouverneur abgelehnt. Auf der anderen Seite wurde bekannt gegeben, dass neben Bülent Ersoy gemäß derselben Entscheidung auch Talha Özmen, Emel Aydan und Savaş Sökmen nicht mehr auf die Bühne dürfen und sie in Kürze an die Grenze Istanbuls ausgewiesen werden. Der Anwalt von Bülent Ersoy, Çetin Yıldırımakın, hat nach dem Verbot eine Petition beim Istanbuler Gouverneur eingereicht und verlangt, dass es aufgehoben wird. Auch nachdem Yıldırımakın mitteilte, dass seine (?) Mandantin (?) durch richterlichen Beschluss als Frau anerkannt und dies auch entsprechend im Ausweis geändert wurde, er sogar die Kopie des Ausweises mit einreichte, wurde die Petition abgelehnt. Zugleich hagelte es nach dem Verbotsurteil des Gouverneurs Dankesanrufe und Dankestelegramme aus unterschiedlichen Teilen der Stadt. (H, „Homoseksüel sanatçılar İstanbul’dan...” 13.06.1981)
Dieser Text lässt sich aus mehreren Gründen als Zeichen für die Aufhebung der vorübergehenden Normalisierung von Ersoys Geschlechtsangleichung deuten. Wie ich im Kapitel über Normalisierung der Repräsentation von Trans*-Subjekten darlegen werde, berichtete Hürriyet von Ersoys operativer Geschlechtsangleichung mit einer besonderen Aufmerksamkeit. Nicht nur Ersoys Stimme war in den Texten anwesend, sondern auch die Stimme ihrer Zuschauer_innen, die Ersoys Geschlechtsangleichung unterstützten (H, „Bülent Ersoy aci...“ 16.03.1981). Im Gegenzug werden in diesem Text mehrere Deutungsmuster sowie diskursive Strategien verdichtet, die Ersoy und andere Trans*-Sänger_innen kriminalisieren bzw. verstummen lassen. Ähnlich wie in dem vorherigen Bericht wird hier der Sammelbegriff „homosexuell“ zur Ablehnung der Selbstdefinition von Personen wie Ersoy verwendet, um deren Tätigkeit als kriminell zu bezeichnen. Die zweite Überschrift unterstreicht, dass Ersoy nicht als Frau definiert werden kann, weil sie als Homosexueller auch von dem neuen Gesetz betroffen sei. Ersoy und ihr Anwalt versuchten vergeblich zu beweisen, dass Ersoy nicht nur per Selbstdefinition, sondern auch per Definition des Gesetzes eine Frau ist: Ihr „Ausweis“ und die „Gerichtsentscheidung“ dienen in diesem Zusammenhang als Deutungsmuster, die Ersoy nicht als homosexuellen Mann, sondern als eine Frau konstruieren (sollten). Während des Militärregimes hatte selbst das Gesetz keine Macht und konnte willkürlich von regierenden Personen interpretiert, in gewissen Fällen sogar umformuliert werden. Deshalb ist die Entscheidung des Gouverneurs eine Abwehr gegen Ersoy bzw. Trans*-Subjekte. Dies kann man als eine Sperrung des Zugangs der Trans*Subjekte zu den Räumen der Anerkennung interpretieren. Aus der Sicht des Gouverneurs sind Bühne und Großstadt die Räume, in denen sich Trans*-Subjekte verwirklichen können, d. h., wo sie die Möglichkeit der Selbstdefinition und Anerkennung haben. Die Entscheidung des Gouverneurs, die zur Entfernung der Trans*-Subjekte von der Bühne und aus der Stadt führen sollte, ist also auch die Ablehnung eines möglichen Selbstdefinitionsrechts sowie einer Anerkennung. Aus
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diesem Grund heißt auf der Bühne auftreten und singen zu dürfen für Ersoy und andere Trans*-Sänger_innen gleichzeitig, als Frau anerkannt zu werden. Die symbolische Bedeutung der Räume, also die Frage, ob man auf einer Bühne anwesend sein kann oder die Stadt endgültig verlassen muss, ist für das Subjekt und seine Anerkennung in der Gesellschaft sehr groß. Diese Frage bildet das Gerüst dieses Textes, der jedoch die Entscheidung des Gouverneurs für ein Displacement legitimiert. Dies geschieht nicht nur durch die Ablehnung der Selbstdefinition, indem Trans*Frauen schlicht als homosexuelle Männer definiert werden, oder durch die Abwesenheit der Stimme der Transfrauen, sondern noch viel mehr durch die Anwesenheit der Stimme der Bürger_innen, die im Schlussteil des Textes repräsentiert wird. Diese diskursive Strategie der Repräsentation der Stimme der Bürger_innen ist auch in anderen Texten zu sehen und hat jeweils die Funktion der Legitimierung der Norm. Hier deutet die Stimme darauf hin, dass die Entscheidung des Gouverneurs die Erwartung der Bürger_innen erfüllt. Wenn man die Berichterstattung von Hürriyet in ihrem zeitlichen Verlauf betrachtet, kann man dies als ein Zeichen für eine abrupte Unterbrechung der normalisierenden Repräsentation sehen, da in den Artikeln zuvor die Stimme der Bürger_innen bzw. Zuschauer_innen als Anerkennung der Trans*-Subjektivität repräsentiert war. Dies zeigt wiederum den Einfluss der sozio-historischen Kontexte auf den Diskurs. Das Gesetz des neuen Militärregimes begründete das Verbot mit dem Schutz der Werte und moralischen Normen sowie mit dem Schutz der Jugendlichen. Hürriyet berichtete davon, dass das Gesetz an dem Tag verabschiedet wurde, als Ersoy zum ersten Mal nach ihrer Operation wieder auf einer Bühne auftreten wollte. Laut dem Bericht waren selbst „bekannte Homosexuelle wie Ersoy“, die „Millionen Lira für die OP ausgab“, von dem Gesetz betroffen (H, „Bülent Ersoy’un sahneye...“ 12.06.1981). Nicht nur in Istanbul, sondern auch in anderen Großstädten, wie Izmir, Adana und Bursa, galten Auftrittsverbote für Ersoy, wovon Hürriyet ebenfalls berichtete (H, „Bülent Ersoy Izmir’de...“ 17.06.1981). Die Begründung war dieselbe: der Schutz der Werte der Öffentlichkeit. Während in den Artikeln über Bülent Ersoy bzw. die Verbote für Trans*Performer_innen die Sichtbarkeit der Trans*-Subjektivität als eine die Normen und Werte der Öffentlichkeit gefährdende Straftat dargestellt wurde, gewann das Repräsentationsmuster „Kriminalisierung“ eine weitere Dimension: 1982 begann ein Prozess gegen den Arzt Prof. Mındıkoğlu, der heimlich Transfrauen operiert hatte, in dem nun die operative Geschlechtsangleichung an sich als kriminell bezeichnet wurde. Die Kriminalisierung der operativen Geschlechtsangleichung in den 1980erJahren ist auf den Paragrafen 47 des türkischen Strafrechts zurückzuführen, der die Verletzung von gesunden Organen als eine Straftat bezeichnete, weswegen auch die Prozesse gegen Mındıkoğlu stattgefunden haben (Cumhuriyet 1981, 6). Dies prägte selbst das Gesetz im Jahre 1988, das Ersoy sowie anderen Trans*- Sängerinnen die rechtliche Anerkennung als Frau ermöglichte. Laut dem Gesetz, das auch heute die operative Geschlechtsangleichung in der Türkei regelt, dürfen nur solche Personen
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eine operative Geschlechtsangleichung durchführen lassen, die biologisch (und psychisch) nicht im Stande sind, sich fortzupflanzen. Auch Ayça Kurtoğlu (2013) weist darauf hin, dass das Gesetz die Trans*-Subjekte dadurch als pathologisch konstruiert, da sie durch eine operative Geschlechtsangleichung geheilt werden müssten. In diesem Zusammenhang wird nicht nur die Möglichkeit einer Rekonstruktion des Genders ohne einen „pathologischen“ Grund ignoriert, sondern auch die Heteronormativität der biologischen Produktion sowie die heteronormative Vorstellung einer Familie bewahrt. Das Gesetz verbietet bspw. Trans*-Subjekten, die vor der Operation verheiratet waren, verheiratet zu bleiben und kriminalisiert die operative Geschlechtsangleichung von Trans*-Personen, die schon Kinder haben. Die Deutung als Gefahr für die Öffentlichkeit verschärfte sich Mitte der 1980erJahre, als Fälle von AIDS in der Türkei bekannt wurden. Zu der Verwirrung über die Begriffe „Sexarbeit“, „homosexuell“ und „Trans*“ kam in diesem Zusammenhang noch die Debatte um AIDS. In Hürriyet erschien bspw. ein Bericht über Inspektionen in Bordellen, wo „zwei von 60 Frauen und fünf von 12 Homosexuellen“ „AIDS“ hatten (H, „Genelevde AIDS Belirtisi“ 09.02.1987). In einem weiteren Artikel über Polizeirazzien in den Bordellen in Beyoğlu, einem Stadtteil, in dem sich die Trans*-Community konzentrierte, berichtete Hürriyet, dass in manchen Bordellen „Homosexuelle angestellt wurden“, woraufhin diesen Bordellen der Betrieb polizeilich untersagt wurde (H, „Beyoğlu didik didik“ 02.10.1989). Zentral für das Repräsentationsmuster „Kriminalisierung“ war also ab Mitte der 1980erJahre das Deutungsmuster „Sexarbeit“. Dem Bild von Trans* wurde dabei die „unregistrierte“ Sexarbeit, also eine kriminelle Handlung, zugeschrieben, die nicht nur eine Gefahr für die gesellschaftlichen Werte und Normen darstelle, sondern auch für die Gesundheit der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang wurden die Trans*-Sexarbeiterinnen als eine der Risikogruppen identifiziert, die die Gesellschaft „mit AIDS anstecken“. Die Berichte über Polizeirazzien in Bordellen sowie über Straßen, in denen „Homosexuelle arbeiten“, dominierten die Repräsentation von Transfrauen in den späten 1980er-Jahren. In manchen Fällen, wie zum Beispiel in dem folgenden Bericht, war die Polizeirazzia entweder mit der Befreiung des Subjekts von der queeren Subjektivität konnotiert oder, wie es in anderen Artikeln zu sehen ist, mit der Befreiung des öffentlichen Raums vom queeren Subjekt, das als kriminell dargestellt wird. Von der Homosexualität zurück zur Männlichkeit Sie wurden als Jungen geboren… Nachdem einige von ihnen als Kinder vergewaltigt wurden, fanden sie dieses Ende, andere entschieden sich aus finanziellen Gründen für die Homosexualität. Ein Teil versuchte sich aus dieser Einbahnstraße zu retten. Kadir Katmer, 24 Jahre, aus Rize, der 20jährige Seyyit Akbaş aus Amasya, Mehmet Doğan, 22 Jahre, aus Bursa, um nur einige zu nennen. Der aus einer Arbeiterfamilie mit vier Kindern stammende Junge aus Rize erzählt seine Geschichte wie folgt: „Als ich zusammen mit meiner Familie in Rize lebte, in einem Alter, als ich nichts über Beziehungen zwischen Frauen und Männern wusste, als ich gerade mal
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neun Jahre alt war, wurde ich von meinem 17jährigen Cousin vergewaltigt. Und er bedrohte mich: ‚Wenn du das irgendjemanden erzählst, bringe ich dich um.‘ Später führten wir diese Beziehung fort. Nach diesem Ereignis hasste ich Jungs und kam mit Mädchen zusammen. Mein Umfeld schloss mich aus. Aufgrund dessen fand ich die einzige Lösung darin, vor meiner Familie nach Istanbul zu flüchten. Da ich hier keine Arbeit fand, ging ich Beziehungen für Geld ein und benutzte den Namen ‚`Kadir’.“ Der aus ärmlichen Familienverhältnissen in Bursa stammende, als Junge auf die Welt gekommene 22jährige Mehmet Doğan schämte sich, als er Folgendes sagte: „Mein Vater hatte ein sehr geringes Einkommen. Nachdem ich die Grundschule abgeschlossen hatte, habe ich angefangen, als Helfer zu arbeiten. Mein Chef, ich war gerade mal 11 Jahre alt, hat mich hinter einem Ladentisch vergewaltigt. Etwas später gab er mir viel Geld. So habe ich herausgefunden, wie man schnell Geld verdient. Ich kam zum ersten Mal nach Istanbul, da war ich 17 Jahre alt. Dieses Milieu habe ich kennengelernt, als ich in Aksaray in einer Kneipe für Homosexuelle war.“ (H, „Eşcinsellerden erkekliğe dönüş” 02.10.1989)
Dieser Text ist als ein gutes Beispiel für die verschiedenen Deutungs- sowie Repräsentationsmuster zu sehen, die in der damaligen Berichterstattung der Hürriyet in Umlauf gebracht wurden, nicht nur in Bezug auf das Trans*-Subjekt, sondern auch auf jegliches Subjekt, das sich nicht der Heteronormativität anpasst. In erster Linie wird hier deutlich, wie das Deutungsmuster „Sexarbeit“ als Signifikant einer kriminellen Handlung fungiert. In ähnlicher Weise deutet „Homosexualität“ auf Sexarbeit und damit auf Kriminalität hin. In diesem Zusammenhang lassen sich „homosexuelle Handlungen“, ähnlich wie „Drogenhandel“, als Tätigkeit decodieren, die außerhalb der Zeit bzw. des Raumes der heteronormativen Produktivität steht. Die typische Narration beruht auf dem Argument, dass sich das Subjekt, das als homosexuell bzw. als Trans* konstruiert wird, in einem kriminellen bzw. gefährlichen Raum befindet. Der Text erzeugt diesbezüglich eine Stimmung des Mitleids für Transfrauen, die zum Schluss zur Legitimierung der Polizeirazzien führt: Mithilfe der Polizei (also des Staates) werden die queeren Subjekte aus den kriminellen Räumen „gerettet“, in denen sie sich aufgrund eines schlimmen Schicksals befinden, und wieder in die Heteronormativität integriert. Dies funktioniert in diesem Text mittels verschiedener diskursiver Strukturen, die ich im Folgenden sukzessiv aufzeigen möchte. Zunächst wird die Selbstdefinition der Transfrauen abgelehnt. Laut dem Bericht befinden sie sich in einer Phase der Geschlechtsangleichung; sie haben weibliche Vornamen, nehmen Östrogen ein und, wie auch die Bilder der beiden Personen zeigen, vollziehen Passing als Frauen. Dennoch werden sie in dem Text als Männer konstruiert. Nicht nur ihre männlichen Vornamen werden in dem Text offenbart, sondern die Männlichkeit wird, wie es auch in der Überschrift zu sehen ist, als ihre natürliche Essenz dargestellt, zu der sie, laut dem Bericht, „zurückkehren“ möchten. In dem Text wird deutlich, dass die Personen, von denen berichtet wird, der Männichkeit den Rücken gekehrt haben sollen, und zwar aufgrund von in der Vergan-
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genheit erlebtem sexuellem Missbrauch. Dies lässt sich als ein Scheitern der männlichen, also heteronormativen, Subjektivität deuten, was auch als Argument wiederholt in der Repräsentation des lesbischen Subjekts auftaucht. Wie in den Artikeln zu sehen ist, die sich zu dem Repräsentationsmuster „die Lesbe als gescheiterte Heterosexuelle“ verdichten lassen, dient die Handlung des heterosexuellen Mannes als gestaltende Kraft für die Subjektivität. Diesmal richtet sich die Tat, also der sexuelle Missbrauch, nicht auf eine Frau, sondern auf einen Jungen, was am Ende, laut dem Bericht, „zerstörerische“ Folgen für dessen Männlichkeit hat. Der sexuelle Missbrauch wird in einem Kontext von Herkunft, demografischem Hintergrund sowie gesellschaftlicher Schicht angesiedelt. In diesem Zusammenhang wird einerseits die Großstadt als Raum konstruiert, der Trans*-Personen die Möglichkeit gibt, den ländlichen Räumen sowie der gesellschaftlichen Schicht, d.h. Orten, an denen sie misshandelt wurden, zu entkommen. Andererseits funktioniert die Großstadt als krimineller Raum, in dem sie durch kriminelle Handlungen (d.h. Homosexualität = Trans* = Sexarbeit) auf „einfache Weise“ Geld verdienen können. Diese Art des Lebensunterhalts wird in dem Text mit der Metapher der Sackgasse beschrieben, die nicht nur Sexarbeit, sondern auch Homosexualität sowie Transgender als Leben ohne Zukunft konstruiert. Eine weitere Lesart ist, dass die Individuen, die sich in diesem „kriminellen“ Raum befinden, früher oder später gegen das Gesetz verstoßen werden und sich dafür verantworten müssen. Tatsächlich erschien dieser Bericht auf der gleichen Seite, auf der auch von den Polizeirazzien gegen die Bordelle berichtet wurde (H, „Beyoğlu didik didik“ 02.10.1989). Die Repräsentation des Trans*-Subjekts ist in den späten 1980er-Jahren sehr stark mit Sexarbeit bzw. deren Kriminalisierung verknüpft. Kriminalisiert wird in erster Linie diejenige Sexarbeit, die sozusagen „auf der Straße“ stattfindet, das heißt außerhalb der registrierten Bordelle bzw. in den öffentlichen Räumen. Das türkische Gesetz erlaubt nämlich nur registrierte Sexarbeit in Bordellen, in denen in der Tat nur Cisgender-Frauen gesetzlich arbeiten dürfen. Den Transfrauen, die in der Sexarbeit tätig sind, bleibt also keine andere Wahl, als unregistriert zu arbeiten. Dies führt dazu, dass sie häufig der Polizeigewalt ausgesetzt sind. Damit wird das Ziel angestrebt, die Transfrauen, denen die Sexarbeit zugeschrieben wird, aus den öffentlichen Räumen zu vertreiben (Zengin 2011, 71-72). Aus diesem Grund ist die Frage der Repräsentation der Transfrauen sehr stark mit der Frage des Raumes verknüpft. Wie ich in den Texten aufgezeigt habe, wird diese Verlinkung zwischen der Repräsentation und dem Raum im journalistischen Diskurs dadurch deutlich, dass die Deutungsmuster „Großstadt“, „Land“ sowie „Bühne“ auf Anerkennung oder auf Abwehr des Subjekts hinweisen. Der Diskurs in Hürriyet hat in bestimmten Fällen, wie z.B. in den Artikeln über Polizeirazzien, eine legitimierende Funktion für den Prozess der Abwehr von Forderungen der Trans*-Personen nach Anerkennung im öffentlichen Raum. Diese Funktion wird insbesondere in den Artikeln über die Konflikte zwischen Trans*- und CisgenderBürger_innen des Stadtviertels, in denen Trans*-Communities aufgebaut wurden,
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erkennbar. Ein Beispiel hierfür ist der Konflikt im Jahre 1989 in Cihangir, einem Stadtviertel in Istanbul, in dem sich die Trans*-Community einen safer space geschaffen hat. Dies wurde jedoch ähnlich wie in vielen Städten, wo Trans*-Präsenz mit Sexarbeit und Gewalt verlinkt wird, von der Öffentlichkeit als Zeichen von Verfall, Unsicherheit und Kriminalität gelesen (Hanhardt 2013, 2). Von großer Bedeutung für diese Arbeit ist die Funktion des journalistischen Diskurses, der nicht nur zur Reproduktion der Machtverhältnisse führt, sondern auch selbst Machtverhältnisse schafft. Im Mittelpunkt der Spannung zwischen den queeren und den heterosexuellen Einwohner_innen von Cihangir stand damals eine kurze Fernsehsendung, die vom staatlichen Fernsehsender TRT ausgestrahlt wurde. Uğur Dündar, ein prominenter Journalist, führte für diese Sendung ein Interview mit Trans*- sowie Cisgender-Einwohner_innen in der Nachbarschaft. Der Text über diese Sendung berichtet, dass die Trans*-Personen die Nachbarschaft als „Basis“ benutzten. Das türkische Wort für „Basis“ lautet „üs“ und wird häufig in einem militärischen Kontext verwendet. Die Verwendung hier führt daher dazu, dass der Konflikt zwischen der Trans*-Community und den Cisgender- sowie heterosexuellen Einwohner_innen als verschärft wahrgenommen wird. In diesem kriegsähnlichen Zusammenhang haben die Trans*-Einwohner_innen die Rolle der Eindringlinge, die von ihrer „Basis“ aus, also von ihrem im Bild dargestellten geschützten Raum aus, die Nachbarschaft bzw. die Stadt „zerstören“. Im Folgenden ist die Schilderung einer Szene aus der Fernsehsendung zu lesen, die mit einer versteckten Kamera gedreht worden sein soll. Hodri Meydan ist in der Pürtelaş-Straße In der Livesendung Hodri Meydan, einer Kooperationproduktion von Süper Kanal und TRT, geht es heute Abend um die berühmte Pürtelaş-Straße in Cihangir. Gülşen Bağlan wird heute Abend bei Uğur Dündar die interessante Geschichte eines Stadtteils erzählen, wo eine Gruppe von Menschen die Ärmel hochgekrempelt hat, um Homosexuelle vor die Tür zu setzen. Zu sehen gibt es im Programm auch interessante Einblicke in das Nachtleben dieser Straße und auf „Männer“, die verweiblicht sind… Ein Auto, dessen Scheinwerfer von Weitem zu sehen waren, fuhr langsam zu einem Haus und hielt an der Tür, an der ein verweiblichter „Mann“ wartete – oder soll man eher sagen, eine „männliche Frau“. Die „Frau“ im Minirock, mit langen blonden Haaren und starker Schminke eilte zu dem Auto. Sie redeten eine Weile. Es schien, als hätten sie sich nicht einigen können, sie ging auf das Auto zu. Sie ging an einer Kamera vorbei, die in einer Wohnung mit guter Sicht auf die Straße installiert war. Sie blieb an einem anderen Haus stehen. Die Verhandlung begann erneut. Morgens gegen 02.00 in der Pürtelaş-Straße in Cihangir. In den zivilisierten Orten der Stadt, wo sich die Menschen um diese Uhrzeit zurückziehen, liegen sozusagen für einen anderen Teil der Bewohner die Arbeitsstunden in dieser Zeit. Was sagen Sie Dazu? Soll man etwas rücksichtslos sein und die Arbeitsstunden der Handwerker stehlen, von denen wir berichtet haben? (H, „Hodri Meydan Pürtelaş...“ 17.11.1989)
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Hier wird eine Akteurin namens Gülşen Bağlan repräsentiert, die als Vertreterin der Anwohner_innen der Nachbarschaft eine Rolle in dem Konflikt verkörpert. Von großer Bedeutung ist hier die Angabe, dass sie die Person ist, die „den Kampf“ gegen „Homosexuelle“ angefangen hat. Eine ähnliche Positionierung wie in der Bildunterschrift auf der ersten Seite ist auch hier erkennbar: Dies ist die Geschichte von Bağlan, d. h., die Geschichte wird aus der Sicht der Subjektposition einer Cisgender-Anwohnerin erzählt, die sich Sorgen um ihre Nachbarschaft macht, da sich diese in einem Wandel befindet. In dem Text wird also von Anfang an deutlich gemacht, welche Position einzunehmen ist. Parallel dazu kommt auch die Frage auf, „wem die Nachbarschaft gehört“. Erwartungsgemäß legt der Text fest, dass die Nachbarschaft den von Bağlan verkörperten Cisgender- sowie heterosexuellen Anwohner_innen gehört. Die klare Positionierung wird auch deutlich bei der Angabe, dass die Präsenz der Trans*-Community die Ursache sei, warum die Nachbarschaft „nicht mehr bewohnbar“ sei. Bis zur Schilderung der Szene, die Trans*-Sexarbeiter_innen auf der Straße bei der Unterhaltung mit ihren Kunden zeigt, ist unklar, weshalb die Nachbarschaft für die Cisgender- bzw. heterosexuelle Einwohner_innen kein guter Ort mehr zum Wohnen sein soll. Hier wird die Funktion des Deutungsmusters deutlich: Obwohl bis zu dieser Stelle der Grund für den Konflikt nicht erwähnt wird, ist in dem Text klar, dass es um die Sexarbeit geht. Wie auch in anderen Artikeln wird hier die Repräsentation „Homosexuelle“ zu einem Deutungsmuster für die Sexarbeit, die von Transfrauen gemacht wird. Dies ist, wie bereits zuvor erwähnt, auf die Überlappung der Begrifflichkeiten Homosexuelle, Trans* und Sexarbeit zurückzuführen. Bei der Schilderung der Szene wird durch die Verwirrung über die Begrifflichkeiten wiederum das Recht auf Selbstdefinition verletzt. Der Text stellt die Frage, ob Transfrauen feminine Männer oder männliche Frauen sind. Deutlich wird, dass die heteronormativen Definitionen nicht ausreichen: Die Benennung des Genders wird in Anführungszeichen gesetzt, um diese Situation, die außerhalb der Begrifflichkeiten steht, zu unterstreichen. Die Beschreibung der äußerlichen Erscheinung (Minirock, Make-up) der Transfrauen deutet einerseits auf die Sexarbeit hin, andererseits, aufgrund der Anführungszeichen (die „Frau“ mit Make-up), auf die Geschlechtsangleichung. Die Szene wurde laut dem Artikel mit versteckter Kamera, also heimlich, gedreht. Bezüglich der Angabe der „versteckten Kamera“ sind zwei Lesarten möglich. Erstens wird durch die symbolische Bedeutung der versteckten Kamera die Szene kriminalisiert, denn sie weist darauf hin, dass eine kriminelle Handlung vorliegt und die Trans*-Sexarbeiter_innen bei dieser direkt „am Tatort ertappt“ werden. Allerdings merkt der Text auch an, dass sie dem Lebensunterhalt der Trans*-Sexarbeiter_innen dient. Es ist also von kriminellen Personen die Rede, die in der Dunkelheit der Straßen heimlich eine kriminelle Handlung begehen, die mit versteckter Kamera aufgedeckt wird.
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Zweitens verschwimmt durch die versteckte Kamera die Grenze zwischen Eindringlingen und Anwohner_innen, so eben ermöglicht der Text eine queere Leseart. Während am Anfang des Textes die Trans*-Subjekte als Eindringlinge in der Nachbarschaft konstruiert werden, die eine Gefahr für diesen Raum darstellen, wird hier durch die versteckte Kamera deutlich, dass die Nachbarschaft außerhalb der produktiven Zeit, also der Tageszeit, eine ganz andere Realität habe als tagsüber, was die Rolle der Trans*-Personen in dem Raum verändert. Anders gesagt, es sind andere Dynamiken und andere Verhältnisse in Bezug auf die Nutzung des Raumes und der Zeit festzustellen, die man auch, in Anlehnung an Halberstam, als queere Benutzung des Raumes und der Zeit beschreiben kann. Eine queere Benutzung des Raumes und der Zeit steht im Gegensatz zu den Institutionen der Familie, Heterosexualität und Produktion, was auf eine Lebensweise hinweist, die die dominanten ökonomischen Verhältnisse in dem Raum und zu der Zeit gefährdet (Halberstam 2005, 1). Durch die Kamera wird also die queere Benutzung des Raumes „entdeckt“, was gleichzeitig die Frage nach dem Besitz des Raumes in den Vordergrund rückt. Wenn die Straßen in der Nacht hauptsächlich ein Raum für Begegnungen zwischen den Kunden und den Sexarbeiter_innen sind, was in der Tat die Behauptung des Textes ist, ändert sich auch die Definition der Anwohner_innen bzw. Eindringlinge. In diesem Kontext sind die Sexarbeiter_innen keine Eindringlinge mehr, die von einem anderen Ort kommen und die Nachbarschaft verderben, sondern werden zu Besitzer_innen bzw. Benutzer_innen dieses Raumes. Dabei wird die versteckte Kamera zu einem Eindringling: Sie, die man auch als Verkörperung des Gesetzes, des Publikums sowie der Leser_innen decodieren kann, kommt von einem ganz anderen Raum in die Nachbarschaft, die in der Nacht anders gestaltet wird, und dringt in diesen queeren Raum ein. In dieser Art der Benutzung des Raumes ist nicht mehr das Trans*-Subjekt der Akteur, der eine Gefahr darstellt, sondern die Kamera. Dies wird auch in dem Text angedeutet: Nach der Schilderung der Szene wird erläutert, dass der Artikel „einen Einblick“ in diese Art der Benutzung des Raumes und der Zeit geben werde. In den folgenden Absätzen des Artikels, die hauptsächlich aus Rekontexualisierung der Stimmen von Trans*-Personen bestehen, wird davon berichtet, dass eine der Transfrauen, die den Namen Nalan trägt, nicht mit den Journalist_innen sprechen möchte: Sie versteckt sich hinter der Tür ihres Zimmers und sagt, dass sie in Ruhe gelassen werden möchte. Das Eindringen der Kamera, der Journalist_innen sowie des Publikums in den Raum beschränkt sich also nicht nur auf die heimlich gefilmte Straße, sondern erstreckt sich auch auf die geschützten bzw. privaten Räume der Trans*-Personen. Die Journalist_innen stellen Fragen über die operative Geschlechtsangleichung, Drogen und Sexarbeit, was zu einer Verlinkung zwischen Trans*-Identität und Sexarbeit sowie Drogenkonsum führt. Unregistrierte Sexarbeit, die in der damaligen Zeit in Cihangir stattfand, und Drogenkonsum gelten in der Türkei als kriminelle Handlungen. Eine der Transfrauen ist diesbezüglich der Meinung, dass der Staat
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für ihre Arbeit einen Raum bieten soll, wo sie registriert arbeiten könnte. In diesem Falle würde sie dem Interview zufolge die Nachbarschaft verlassen. Auch die Stimme der Cisgender- sowie heterosexuellen Anwohner_innen wird in dem Text repräsentiert. Sie erzählen, dass sie wegen der Kriminalität, in manchen Fällen sogar Mordtaten, nicht mehr auf die Straße gehen könnten. Sie fordern ihre Nachbarschaft zurück. Dadurch werden wiederum die queere Benutzung des Raumes sowie die Transgender durch Verknüpfung mit Kriminalität stigmatisiert. In diesem Zusammenhang gefährdet die queere Benutzung einerseits die Sicherheit des Raumes, andererseits des heteronormativen Besitzes des Raumes. Die Verlinkung von Kriminalität und Trans* bzw. queerer Nutzung steht also im Dialog mit der Verlinkung von Sicherheit und heteronormativer Nutzung eines Raumes. Die Forderung nach Sicherheit ist also eine Forderung nach heteronormativer Benutzung des Raumes. Der Text stellt die interviewten Transfrauen in einer nicht nur spöttischen, sondern auch verletzenden Sprache dar. Dabei wird der Fokus auf ihren Körper gelegt. In einer Bildunterschrift wird die Frage gestellt, warum eines der Augen von Derya, die auf dem Bild zu sehen ist, viel größer sei als das andere. „Liegt es an den Pillen, die Derya nimmt?“ Mit den „Pillen“ ist die Droge Ecstasy gemeint, die in Form von Pillen konsumiert wird. Deryas Antwort ist klar: Sie nimmt keine „Pillen“. Die Frage konstruiert den Körper des Subjekts trotz des klaren Widerspruchs als Signifikant einer kriminellen Handlung, die von dem Subjekt, wie in dem Text angedeutet wird, verheimlicht wird. Des Weiteren wird in dem Text davon berichtet, dass Derya früher als Friseurin tätig gewesen sei und nun ihren „Körper verkaufe“, und zwar an „gleichgeschlechtliche“ Partner. Auch hier steht Deryas Antwort im Widerspruch zum Text: „Derya sagt ‚Nein‘, und schreit laut: ‚Ich bin kein Mann!‘“ Die Angabe „Schreien“ kann man auch als eine Andeutung der Spannung zwischen Derya, also dem befragten Subjekt, und dem_der Journalist_in bezüglich der Definitionen lesen. Obwohl sie klar ausdrückt, sie sei nicht homosexuell bzw. kein Mann, wird sie in dem Text trotzdem als homosexueller Mann konstruiert. Ihre repräsentierte Stimme, die in Widerspruch zu den Journalist_innen steht, bekommt keine Anerkennung, sondern dient schlicht dazu, die Ablehnung des Anerkennungsanspruchs zu unterstreichen. Der_die Journalist_in stellt ihr Fragen, d. h., er_sie erkennt ihre Subjektposition bis zu einem gewissen Punkt an, behält sich jedoch das Recht vor, Definitionen festzulegen. In einer weiteren Bildunterschrift werden in gleicher Weise Definitionen festgelegt, die die Selbstdefinition des befragten Subjekts verachten. Hier wird das fotografierte Subjekt als „winziger Mann“ beschrieben, der versuche, „wie eine Frau auszusehen“. In der Tat „hat er das auch geschafft“. Laut dem Text merke man jedoch, wenn sie anfängt zu sprechen, dass sie eigentlich ein Mann sei. „Anscheinend kann die Stimme nicht so einfach verändert werden“ (H, „Hodri Meydan, Pürtelas...“ 17.10.1989). Ähnlich wie in der Darstellung von Derya wird auch hier der Körper zum Signifikanten
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eines Geheimnisses. Das Geheimnis deutet hier die Geschlechtsangleichung und die unregistrierte Sexarbeit an, die mit dieser in Verbindung gebracht wird. In der Analyse des Materials fielen mehrere Andeutungen auf, die die problematische bzw. hierarchische Beziehung zwischen den Subjektpositionen „Journalist_in“ und „befragte Personen“ aufzeigen. Die befragten Personen erkennen die Anschuldigungen wie Drogenkonsum und Definitionen wie Homosexualität nicht an. Man kann sogar die These vertreten, dass selbst die Präsenz der Journalist_innen in dem geschützten Raum der Trans*-Personen nicht erwünscht ist. Wie ich auch in der Analyse gezeigt habe, wird zwar nach der Meinung des Subjekts gefragt, jedoch wird diese in der Rekontextualisierung der Stimme in einer spöttischen und verletzenden Sprache wiedergegeben. Bis zu einem gewissen Punkt kommt es hierbei zu einer Anerkennung des Subjekts, da die Befragung diesem einen Raum zum Sprechen bzw. zur Sichtbarkeit eröffnet. Andererseits wird dem Sprechen des Subjekts kein Wahrheitscharakter zugeschrieben bzw. es erhält keinen Respekt, da es ihm, in Anlehnung an Foucault (1973, 76), an Status fehlt. Die spöttische bzw. verletzende Sprache dieses Textes gewinnt eine weitere Dimension in seinem sozio-historischen Kontext. In der Frage, wie die Sprache, ein Text sowie ein Diskurs verletzend sein können, schließe ich an Judith Butlers Überlegungen an. Sie ist der Meinung, dass die Anrufung des Subjekts, die diesem einen Platz zuweist, ihm also in einer gewissen Weise Anerkennung gibt, es gleichzeitig verletzlich macht. Diese Abhängigkeit des Subjekts von der Sprache, die für seine Anerkennung erforderlich ist, gibt ihm, so Butler, keine Möglichkeit, sich vor der Verletzung durch den Diskurs zu schützen (Butler 1998, 44). In diesem Rahmen ist das Trans*-Subjekt, das in dem Artikel von Hürriyet zum Sprechen kommt bzw. versucht, eine eigene Sprache zu konstruieren, in der Tat von der verletzenden Sprache des_der Journalist_in abhängig. Wie bereits in der Analyse aufgezeigt werden konnte, wird beispielsweise das befragte Subjekt nicht seiner Selbstdefinition gemäß konstruiert. Dieses Konstrukt gewinnt eine weitere Bedeutung, wenn man in Betracht zieht, dass die Cisgender- bzw. heterosexuellen Einwohner_innen von Cihangir zunächst eine Nachbarschaftsgruppe mit dem Ziel der Gentrifizierung gegründet und danach mit Dündar, dem Moderator der bereits erwähnten Fernsehsendung, Kontakt aufgenommen haben. Sie hoffen auf eine Kooperation mit den Medien (mit dem Diskurs), um dieses Ziel zu erreichen. Das Ziel der Nachbarschaftsgruppe war es nicht nur, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die ökonomische Abwertung der Nachbarschaft zu lenken, sondern auch, die queeren Einwohner_innen zu vertreiben (Kaldırım 2011, 2). Dabei verkörperte der journalistische Diskurs die Funktion der Legitimierung dieser Vertreibung. Wie auch der Artikel in Hürriyet anmerkt, sahen die Einwohner_innen die Sexarbeit als Ursache für den Verfall der Nachbarschaft und bezeichneten den Zweck ihrer Organisation als „Kampf gegen Prostitution“. Nicht nur Hürriyet, sondern auch weitere überregionale Zeitungen repräsentierten die Nachbarschaftsgruppe als Gruppe von Einwohner_innen, die gegen Prostitution, also gegen kriminelle Handlungen, kämpften,
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und die Trans*-Einwohner_innen als kriminelle Subjekte, die den öffentlichen Raum gefährdeten und dem Leben in der gesamten Nachbarschaft schadeten (Milliyet 1989). In vielen Fällen von Revitalisierung bzw. Gentrifizierung einer Nachbarschaft in Istanbul wird Sexarbeit verletzlichen Gruppen, darunter Trans*- sowie Roma-und-Sinti-Communities, zugeschrieben. Dabei dient das Argument vom „Kampf gegen Prostitution“ sehr oft der Legitimation der Vertreibung von verletzlichen Gruppen aus von Gentrifizierung betroffenen Nachbarschaften, wie in Bezug auf Cihangir dargestellt (vgl. Uysal 2012; Kuyucu und Ünsal 2010). Die Ausstrahlung der Fernsehsendung auf TRT sowie die Berichterstattung in Hürriyet hatten tatsächlich zerstörerische Folgen für die Trans*-Community in Cihangir. Gleich nach der Berichterstattung fanden dort Polizeirazzien statt, und viele Trans*-Einwohner_innen mussten die Nachbarschaft verlassen (Kaldırım 2011, 2; Cingöz und Gürsu 2013, 216). Auch in den frühen 1990er-Jahren gab es weiterhin Razzien gegen die queeren Einwohner_innen von Cihangir, was zu sinkender Akzeptanz in der Nachbarschaft führte (Milliyet 1991, Milliyet 1996). Die Repräsentation der Transfrau als kriminelles Subjekt, das den öffentlichen Raum gefährdet, spitzte sich 1996 während der Gipfelkonferenz des Programms der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen (UN-HABITAT) in Istanbul zu. Im Rahmen von HABITAT fanden mehrere Polizeirazzien in Wohnungen von Trans*Einwohner_innen von Beyoğlu, einem zentralen Stadtteil von Istanbul, statt (Cingöz und Gürsu 2013, 242). Danach wollten die Vermieter_innen keine Wohnungen mehr an Trans*-Personen vermieten (ibid., 243). Pınar Seleks Buch (2001) zeigt, wie stark Transfrauen während dieser Zeit von der Polizeigewalt, die Unterstützung durch rechtextremistische Gruppen sowie von manchen Medien erhielt, betroffen waren. In den Artikeln über HABITAT, die in Hürriyet erschienen, findet die Polizeigewalt jedoch keinen großen Platz. Die Polizeigewalt gegen die Trans*Einwohner_innen sowie die Menschenrechtsverletzungen in der Zeit von HABITAT markieren, wie bereits im ersten Kapitel dargelegt, einen der wichtigsten Wendepunkte in der queeren Geschichte der Türkei. Die queere Geschichte konstruiert diese Ereignisse als wichtige Verluste, während sie jedoch von Hürriyet nicht zum Verlust erklärt werden. Hier ist also ein Unterschied zwischen der Tagesordnung von Hürriyet und der Community der damaligen Zeit zu sehen. Ich bin in Anlehnung an Butler der Meinung, dass dieser Unterschied, also dieser von der Hürriyet-Redaktion als gering eingeschätzte Informationswert, auf der Verachtung des Menschenlebens der Trans*-Personen beruht, die selbst in der heutigen Zeit keinen gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung und Dehumanisierung genießen. Im journalistischen Diskurs von Hürriyet wurde die Gewalt gegen Trans*Einwohner_innen von Istanbul nicht als Gewalt betrachtet, somit hinterließ diese Gewalt auf der Ebene des Diskurses, mit Butlers eigenen Worten, „eine Spur, die keine Spur ist“ (Butler 2009, 46).
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DIE VERSCHRÄNKUNG VON KRIMINALISIERENDEN UND NORMALISIERENDEN REPRÄSENTATIONEN Ab den späten 1990er-Jahren dominierte der neue Begriff „travesti“ die Repräsentation der Transfrau in Hürriyet. Mit seiner Erscheinung verlor zwar die Kopplung von „Homosexualität“ und „Trans*“ an Bedeutung, die Verlinkung zur Sexarbeit blieb jedoch bis in die 2000er-Jahre bestehen. In den untersuchten Ausgaben von Hürriyet ist ab den frühen 2000er-Jahren eine neue Repräsentation zu beobachten, die die „travesti“ nicht nur im Kontext von Sexarbeit darstellte, sondern auch innerhalb der traditionellen Institutionen Familie und Ehe. Dadurch fiel allmählich die starke Verlinkung mit der Sexarbeit weg, was auch als Transformation im Verlauf des Diskurses gedeutet werden kann. In den Texten, die ich im Folgenden untersuchen möchte, ist zwar eine gewisse Anerkennung des Trans*-Subjekts als Teil der Dominanzgesellschaft und sogar der Norm zu sehen, dennoch bleibt die Verbindung mit Kriminalität bestehen. Diesbezüglich sind mehrere Repräsentationsmuster innerhalb eines Textes erkennbar, die auf den ersten Blick sogar widersprüchlich zueinander erscheinen. Als Beispiel lässt sich der folgende Artikel anführen, in dem einerseits noch eine Verlinkung der „travesti“ mit Sexarbeit und damit ihrer Kriminalisierung vorliegt, andererseits das Subjekt aber integriert bzw. anerkannt wird. Travesti-Gipfel auf der Polizeistation Das Istanbuler Polizeirevier wurde gestern Zeuge einer interessanten Versammlung. Die Polizei, die sich auf großangelegte Maßnahmen gegen Travestis vorbereitet, die vor allem auf der Autobahn 0-1 Straßenprostitution betreiben, sagte auf einer Versammlung, an der auch die Travestis teilnahmen, den Barbetreibern von Eroğlu: „Nehmt die Travestis, die auf der Straße arbeiten, in eure Bars auf.“ Das Team der Polizeiabteilung Öffentliche Ordnung und Ärgernisse bereitet Maßnahmen gegen die Straßenprostutition der Travestis auf der Autobahn 0-1 in der Region Merter vor. Wegen der am Straßenrand auftretenden Unfälle und ums Leben kommenden Travestis gerät die Straßenprostutition regelmäßig in die Schlagzeilen. Die Polizei, die letzte Nacht eine Versammlung organisierte, plant diese gänzlich zu beseitigen. An der Versammlung nahmen Travestis sowie Betreiber und Inhaber der Bars in Beyoğlu, in die sie gehen und in denen sie arbeiten, teil. Es wurde angemerkt, dass das hässliche Straßenbild verschwinden würde, wenn die Transvestiten, die auf der Straße Prostitution betreiben, in die Bars geholt würden. Auf der knapp zweistündigen Versammlung versprachen die Geschäftsinhaber, dass sie den Transvestiten helfen werden. (H, „Emniyette travesti zirvesi” 10.09.2000)
Obwohl dieser Bericht die Transfrau in Bezug auf nichtregistrierte Sexarbeit repräsentiert, ist ein Versuch der Regulation bzw. Normalisierung der von Trans*-Person ausgeübten Sexarbeit festzustellen, was den Text zu einer Brücke zwischen den kriminalisierenden und normalisierenden Repräsentationen macht. Es ist ein Versuch, den Raum der Sexarbeit zu regulieren, die bis zu der Zeit des Berichtes auf der Straße ausgeübt wird. Entscheidend ist dabei, dass dieser Versuch nicht als
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Regulierung der Kriminalität dargestellt wird, sondern als Regulierung mit dem Ziel, das Leben der Trans*-Sexarbeiter_innen zu schützen. Damit erhält das Trans*-Subjekt bis zu einem gewissen Grad Anerkennung, die auch bei der Kooperation von Polizei und Trans*-Sexarbeiter_innen deutlich wird, also bei der Kooperation von zwei Subjektpositionen, die üblicherweise als Feinde dargestellt werden. Dadurch wird die Trans*-Repräsentation in den Bereich der Norm eingeschlossen, sodass keine Gefahr mehr von ihr ausgeht, vielmehr bietet sich eine Kooperationsmöglichkeit mit der Norm. Dennoch werden mit dieser Kooperation die Sexarbeit und die damit in Verbindung gebrachte Transfrau, die sich auf der Straße befindet, kriminalisiert. Das heißt, diejenigen Subjekte, die für die Norm bzw. dominanzgesellschaftliche Kultur als profitabel und bereichernd angesehen werden, werden integriert, während diejenigen, die von der Dominanzgesellschaft als „störend“ empfunden werden – in diesem Text als „unschön“ bezeichnete Subjekte –, weiterhin kriminalisiert und abgelehnt werden. Der Text konstruiert die Trans*Sexarbeiterin, die sich auf der Straße, also im öffentlichen Raum, befindet, in einer „unschönen Szene“. Die Trans*-Sexarbeiterin hingegen, die in einer Bar arbeitet, also in einem Raum, der vom Gesetz und von der Norm reguliert wird, findet Anerkennung. 2002 berichtete Hürriyet über ein Ereignis, das als „Skandal“ bezeichnet wurde: Ein Englischlehrer habe im Rahmen einer Veranstaltung in einem Sommercamp in der Türkei von seinen männlichen Schülern verlangt, Mädchenkleider anzuziehen. Laut dem Bericht hatte der Lehrer früher in der Entertainmentbranche gearbeitet und war selbst als Frau verkleidet in Bars tätig gewesen. Die Eltern waren schockiert, so Hürriyet, kurz danach schaltete sich auch das türkische Bildungsministerium in den Fall ein, und der Lehrer verlor seine Stelle (H, „Tuhaf yaz okulunun...“ 06.09.2002). Ein Jahr später erschien ein weiterer Bericht über diesen Lehrer, der in der Zwischenzeit eine operative Geschlechtsangleichung hatte durchführen lassen. Entscheidend ist hier, dass der Lehrer, nun die Lehrerin, in dem Text zusammen mit ihrer Tochter präsentiert wird, die sich ebenfalls als Trans* definiert. Im Folgenden sind einige Diskursfragmente aus dem Text zu sehen, die die Verschränkung der Repräsentationsmuster „Kriminalisierung“ und „Normalisierung“ deutlich machen. Kinder kamen glimpflich davon Der Transsexuelle Nedim Uzun, der als Englischlehrer im Sommercamp in Erdek arbeitet und die Schüler aufforderte, sich wie Mädchen anzuziehen und zu schminken, gab bekannt, dass sein 21-Jähriger Sohn Ece Soylu ein Travesti ist. Ein Elternteil versicherte, Nedim Uzun, der nach seiner Operation den Namen „Donna“ annahm, und seinen Sohn Ece Soylu auf Fotos wiedererkannt zu haben. Das Elternteil rief die Redaktion an und sagte: „Wir haben unsere Kinder gerade noch retten können.“ Auch vorher schon war der 39-jährige Transsexuelle Nedim Uzun durch Skandale in die Medien geraten. Im vergangenen Jahr gab er sich als englischer Bürger „Ned“ aus und unterrichtete als Englischlehrer auf dem Koparan-Sommercamp in Erdek.
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Nedim Uzun, der bei einem Maskenball im Camp Frauenkleider anzog und auch den minderjährigen Schülern Frauenkleider überzog, flog auf und wurde somit gekündigt. Nedim Uzun sagte, dass er einige Zeit in Bars auftrat, sich dann eine Zeitlang prostituierte und vor drei Monaten durch eine Operation eine Frau wurde. Er trat zum Christentum über und nahm den Namen „Donna“ an. Uzun, der dieses Mal angab, dass der 21-jährige Travesti Ece Soylu sein Sohn ist, kreuzte mit ihm auf. Nedim Uzun erzählte, dass er sich 1981 auf eine heterosexuelle (gegengeschlechtliche) Beziehung eingelassen hatte, obwohl er sich seit seiner Kindheit als Frau fühlte Er sagte, dass er den aus dieser Beziehung stammenden Ece bis vor vier Jahren nicht kannte: „Der Mann, mit dem seine Mutter zusammen war, macht Probleme. Sie hat ihn, um ihn vor Gefahren zu schützen, zu mir gebracht.“ Als ich mit Ece sprach, habe ich sofort gemerkt, dass er kein Mann – und von mir ist. Uzun, der sagte: „Wenn aus Ece ein Mann wird, dann wird aus mir der amerikanische Präsident“, begann mit seinem Sohn in Taksim zu leben. […] In den Gesprächen mit seinem Vater bemerkte Ece Soylu, dass sie in ihrem Umfeld dazu gezwungen wurden, Männer zu sein. „Damit ich ein Mann werde, wurden mir in einem Krankenhaus in Adana sogar Hormone gegeben. Aber es nützte nichts, außer dass ich noch mehr Körperbehaarung bekam. Den Tests, die durchgeführt wurden, zufolge war ich zu 80 % eine Frau.“ Nedim Uzun äußerte, dass er sich als Protest gegen die Diskriminierung von Homosexuellen mit seinem Sohn prostituiert. „Wir werden uns so lange protestieren, bis diese Diskriminierungen aufhören“, sagte Nedim Uzun. Die Definition „transsexuell“ wird für Menschen verwendet, die eine Geschlechtsumwandlung hatten und „Travesti“ für Menschen, die nicht operiert sind, sich aber wie Frauen verhalten und wie Frauen anziehen […] Meinen Vater nenne ich „Mutter“ Vater und Sohn, oder „Mutter und Tochter“, leben gemeinsam in der Wohnung in Eroğlu und teilen sich die Hausarbeit. „Zwei Frauen“, die sich sehr gut verstehen. „Meinem Vater rufe ich Mutter hinterher. So wie ich mich als Frau fühle, so sehe ich meinen Vater auch als meine Mutter“, so Ece Soylu. Nedim „Donna“ Uzun, sagt, dass sie zu Hause wie Mutter und Tochter sind: „39 Jahre lang in der Rolle eines Mannes – ich habe viel durchgemacht. Ich als seine Mutter habe Ece die Freiheit zurückgegeben, wir sind sehr glücklich.“ (H, “Çocuklar ucuz kurtuldu” 25.05.2003)
Der Bericht stellt einerseits eine Familienstruktur vor, die nicht heteronormativ ist, andererseits verlinkt er diese mit Kriminalität, moralischem Verfall sowie einer Gefahr für die Öffentlichkeit. Dennoch zeigen die repräsentierten Subjekte keine Scham, wie es in den früheren Texten der Fall war, die Trans*-Personen mit Sexarbeit in Beziehung setzten. Vielmehr kritisieren sie die Dominanzgesellschaft, und ihre Kritik findet Raum in der Berichterstattung. Details über das familiäre Leben der Trans*-Subjekte bzw. deren Arbeitsteilung in der Wohnung weisen ebenfalls auf Normalisierung hin. Aber der Kontext, der insbesondere durch die Überschrift deutlich gemacht wird, deutet auf einen moralischen Verfall hin.
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Die Verschränkung von unterschiedlichen Repräsentationsmustern wird vor allem durch den Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Textes erkennbar. Die Überschrift und die ersten beiden Absätze des Textes verbinden Trans*-Identität mit einer Gefahr für die Gesellschaft, während die folgenden Absätze die Möglichkeit eines glücklichen Lebens für Trans*-Subjekte darstellen, also eines Lebens, das trotz deren moralischen Verfalls glücklich geführt wird. Im zweiten Absatz wird bspw. die Verlinkung zwischen Trans*-Identität und Kriminalität dadurch hergestellt, dass die operative Geschlechtsangleichung als ein Skandal – ähnlich wie Dokumentenfälschung, Kindesmissbrauch oder Sexarbeit – dargestellt wird. Der Artikel berichtet davon, dass sich die Englischlehrerin damals als Engländer, also als Mann, vorgestellt habe, was sich als Dokumentenfälschung deuten lässt. In der Art, wie die Veranstaltung, bei der sich die Jungen Mädchenkleider anzogen, dargestellt wird, erzeugt sie das Bild einer Gefahr und kann als Kindesmissbrauch decodiert werden. Die Frage, ob eine solche Veranstaltung bzw. die Präsenz einer Trans*-Lehrkraft eine Gefahr für Kinder darstellt, wird mit der Angabe über die ausgeübte Sexarbeit sowie mit der Geschichte über ihre Tochter beantwortet. Die Tochter, die sich ebenfalls als Trans* definiert, wird als Beweis dafür angeführt, welche negativen Folgen eine solche Veranstaltung für ein Leben eines Jungen haben kann. Der Text konstruiert die Konstellation dieser Familie als Ergebnis von moralischem Verfall. Trotzdem eröffnet er Raum für die Selbstdefinition sowie Integration des Trans*-Subjekts. Zunächst wird durch die Darstellung der Trans*-Familie der heteronormative Alleinanspruch auf biologische Reproduktion gebrochen: Der Text liefert einen Beweis dafür, dass auch nicht-heteronormative Menschen Kinder bekommen und erziehen können. Danach wird angegeben, dass sich die Selbstdefinition auf eine innere Essenz gründe, die von Natur aus gegeben sei und von jedem Menschen selbst entdeckt werden müsse. Als Beispiel dafür wird wiederum die Tochter angeführt, die den medizinischen Eingriff am Subjekt als ergebnislos bezeichnet. Dabei entstehen zwei Lesarten, die in Widerspruch zueinander stehen: Die Performanz in dem Sommercamp stellt in der ersten Lesart deswegen eine Gefahr dar, weil die Jungen dadurch ihre innere Essenz entdecken könnten, die nicht in die Heteronormativität passt. Die zweite Lesart besteht darin, dass das Verkleiden als das andere Geschlecht keine Gefahr darstellt, weil Gender und Sexualität etwas Innerliches sind und nicht von außen gestaltet werden können. Selbst die Medizin hat diese Kraft nicht. Sexarbeit, die im Verlauf des Diskurses häufig als kriminell dargestellt und des Weiteren mit Scham in Verbindung gebracht wurde, wird hier durch die Stimme von Donna zu einem politischen Akt gegen Homophobie sowie Transphobie. Dabei zeichnet ihre Stimme das Bild einer Familie, die sich nicht wesentlich von herkömmlichen Familien unterscheidet. Der Text schließt mit dieser Stimme, was eine normalisierende Stimmung erzeugt. Auch die hier gelieferten Definitionen bzw. Begrifflichkeiten, die bis zu einem gewissen Grad die Selbstdefinition des Subjekts
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anerkennen, sind bedeutsam. Die Transfrau ist nach diesen Begrifflichkeiten nicht mehr „ein Homosexueller, der sich operieren lassen“ habe, wie es in Artikeln über Bülent Ersoy aus den 1980er-Jahren hieß, sondern eine Person, die sich innerhalb einer Familie verwirklichen kann.
DIE EROTISIERUNG VON TRANS*-PERSONEN Der männliche Blick (vgl. Mulvey 1990), der die Frau zum Objekt einer erotisierenden Repräsentation macht, wie ich bereits in der Analyse der Repräsentation der Lesbe aufgezeigt habe, ist ebenfalls in etlichen Texten der beiden untersuchten Zeitungen präsent, die von Transfrauen handeln. Anders als die anderen Repräsentationsmuster, die sich in bestimmten Zeiträumen konzentrieren, sind diese Texte bzw. Diskursfragmente im gesamten diachronen Schnitt unregelmäßig verteilt. Dennoch kann man einige Ähnlichkeiten sowohl im diachronen als auch im synchronen Schnitt eruieren. Entscheidend für dieses Repräsentationsmuster ist dabei das Passing als Frau, das mit einer Enthüllung eines Geheimnisses einhergeht, und zwar mit der Enthüllung der Geschlechtsangleichung. Ein englischer Adliger lässt sich von seiner Frau, die sich als Mann entpuppte, scheiden. Ein Adliger namens Arthur Corbett, dem nach der Heirat auffiel, dass seine hübsche Frau April Ashley (oder, mit seinem alten Namen, George Jamienson) ein Mann ist, reicht die Scheidung ein. Die schöne, großgewachsene als Mannequin bekannte Frau Corbett mit rabenschwarzem Haar sagte bei Gericht aus, dass sie sich 1960 einer Geschlechtsumwandlung unterzog und Arthur Corbett nach dreijährigem Flirt 1963 in Gibraltar heiratete. Weiter sagte sie, dass sie kein Mann, sondern eine Frau sei und dies, wenn nötig, beweisen könne. Um herauszufinden, ob Frau Corbett ein Mann oder eine Frau ist, gab der Gerichtsausschuss diesen Fall an eine Kommission weiter. (H, „Bir ingiliz asılzadesi…“ 14.10.1969)
Ähnlich wie im erotisierenden Repräsentationsmuster der Lesbe wird hier der Fokus auf den Körper gelegt. Die Darstellung des Körpers bzw. der Schönheit des Subjekts dient dabei nicht nur der Erotisierung, sondern auch der Unterstreichung des Passings als Frau. Parallel dazu wird auch die Geschichte der Beziehung erzählt, die darauf hindeutet, dass sich Ashley nicht von einer Cis-Frau unterscheide bzw. ihre Trans*-Identität ein Geheimnis sei. Eine Spannung zwischen Definition und Selbstdefinition ist ähnlich wie in den kriminalisierenden Repräsentationen auch hier wahrnehmbar: Obwohl sich Ashley als Frau definiert, wird sie in dem Text als Mann konstruiert. Zudem wird das Männliche als eine innere Essenz konstruiert: Die Enthüllung des Geheimnisses heißt in diesem Zusammenhang die Entdeckung der inneren Männlichkeit, was Ashleys Selbstdefinition widerspricht. Das Gericht bzw. Gesetz kristallisiert sich dabei als diejenige Institution heraus, die diesbezüglich das letzte Wort hat. In dem folgenden Bericht wird jedoch deutlich,
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dass weder das Gericht noch die Expert_innen entscheiden konnten, ob das „sehr schöne Modell“ April Ashley eine Frau oder ein Mann ist (H, „Güzel manken için...” 19.11.1969). Ein Mann wird immer ausgelacht Ein Amtsrichter hat einem Mann empfohlen, zur Frau zu werden. Als vollbusige Brünette hatte der tiefverschuldete Kurt G. (29) aus Düsseldorf vor Gericht gestanden, um einen Offenbarungseid zu leisten. Die „Dame“: Mein Problem ist, daß ich mich seit Jahren als Frau fühle und deshalb keine Arbeit finde. Wenn ich mich nämlich als Mann vorstelle, werde ich ausgelacht und weggeschickt. Trete ich aber als Frau auf und zeige meine „männlichen Papiere“, dann passiert dasselbe. Der Richter: Lassen Sie sich doch operieren und ganz zur Frau machen. Dann können Sie auch Ihre Schulden abarbeiten. (B, „Richter: Werden Sie ...“ 18.12.1970)
Der Fokus auf den Körper dient hier, ähnlich wie in den Artikeln über Ashley in Hürriyet, einerseits der Erotisierung, andererseits der Darstellung des geglückten Passings als Frau. Dennoch ist das Passing bzw. die Geschlechtsangleichung nicht „vollendet“. Das Subjekt befindet sich zwischen den Geschlechtern, was auch durch die Anführungszeichen deutlich gemacht wird. Es ist von einer Person die Rede, die weder eine „Dame“ noch ein Mann ist. Die ebenfalls in Anführungszeichen gesetzten „männlichen Papiere“ stellen, ähnlich wie die feminine Erscheinung der Person, ein Hindernis dar, das eine Teilnahme am Arbeitsmarkt unmöglich macht. An dieser Stelle kommt das Deutungsmuster „Profit“ ins Spiel. Eine operative Geschlechtsangleichung soll es ihr nicht nur ermöglichen, als Frau zu passen, sondern auch, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Anders als in anderen Texten, in denen eine Integration durch eine operative Geschlechtsangleichung negativ konnotiert ist, wird die Operation hier als mögliche Lösung des Problems dargestellt. Da dieser Lösungsvorschlag von der Subjektposition Richter gemacht wird, gewinnt die Geschlechtsangleichung Anerkennung. Als Trans*-Sexarbeiter_innen 1987 in den Hungerstreik traten, um öffentlich auf die in der damaligen Zeit regelmäßig ausgeübte Polizeigewalt aufmerksam zu machen, berichtete auch Hürriyet darüber. Das öffentliche Interesse war groß, der staatliche Fernsehsender TRT hatte sogar eine Sendung über die Trans*Community in Istanbul gedreht. Von großer Bedeutung ist hier, dass in einem Bericht über dieses Programm das Repräsentationsmuster „Erotisierung des Trans*Subjekts“ deutlich wird. Ihre Königin Die Königin der Nüsse, die Königin der Kirschen – das alles gibt es. Soll es keine „ Homosexuellen-Königin“ geben? Die Homosexuellen, die hinter verschlossenen Türen mit Güngör Bayra, Ajda, Banu Alkan eine Welt erschaffen haben, öffneten ihre Tür erstmals dem Produzenten Ertürk Yöndem vom Ankara-Fernsehen.
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Die Homosexuellen waren durch einen Hungerstreik täglich in den Medien. Ertürk Yöndem, der für „Haberden Habere“ eine Sendung machen wollte und deswegen nach Istanbul kam, konnte sein Erstaunen nicht verbergen, als er hinter jeder Tür, an der er klingelte, Homosexuelle sah. Während Seyhan, die Königin der Homosexuellen, „Güngör Bayram“ Sebnem, „Ajda Pekkan“ Gülistan, mit Ertürk Yöndem sprachen, sagten sie: „ Wir sind zufrieden in unserer Welt. Es ist auch unser Recht, wie Menschen zu leben.“ Inwiefern die Klagen der Homosexuellen im Fernsehen ausgestrahlt werden, weiß man nicht, aber es könnte möglich sein, dass die Königin der Homosexuellen Seyhan ins Fernsehen kommt, mit ihrer Schönheit, Anziehungskraft und der Art, wie sie posiert – die Menschen auf der Straße werden sie anschauen, als sei sie ein Star. „Meine Familie ist sehr stolz darauf, eine so schöne Tochter wie mich zu haben“, sagte Seyhan. (H, „Onların kraliçeleri“ 24.05.1987)
Hier entsteht das Bild einer erotischen, schönen Transfrau. Ähnlich wie in anderen Texten, die sich zu dem gleichen Repräsentationsmuster verdichten lassen, wird ihre Schönheit nicht nur im Detail beschrieben, sondern auch bildlich dargestellt. Auf der Titelseite dieser Ausgabe befindet sich der erste Teil des Berichts, zu dem drei Bilder gehören, auf denen Transfrauen zu sehen sind, deren Posen, Blicke und Bekleidung der dominanzgesellschaftlichen Vorstellung von Schönheit entsprechen. Dabei weisen im Text die „Blicke auf der Straße“, „der Stolz der Familie“ sowie die Repräsentation in der Fernsehsendung auf die Anerkennung hin, die die Transfrauen für ihre Schönheit erhalten. Während der Text eine Stimmung des Zweifels in Bezug auf die politischen Forderungen der Transfrauen erzeugt, wird ihre Schönheit dennoch als selbstverständich dargestellt, was zu einer Objektivierung durch die erotisierende Darstellung führt. Die Transfrau kann also aufgrund ihrer Schönheit als reizvoll angesehen werden und diesbezüglich als ein Teil der dominanzgesellschaftlichen Kultur gelten, ihr Sprechen sowie ihre Kritik an der Heteronormativität bleiben jedoch weiterhin unerwünscht. Die Schönheit der Transfrau wird in dem Text mit Bezug auf Codes der dominanzgesellschaftlichen Kultur konstruiert. Populäre Persönlichkeiten wie Banu Alkan, eine Schauspielerin, die insbesondere in den 1980er-Jahren als schön, attraktiv und erotisch dargestellt wurde, dienen als Bezugspunkte für das Konstrukt der Schönheit der Transfrau. Obwohl sich die Transfrau auf die dominanzgesellschaftliche Kultur bezieht, ist sie von dieser ausgeschlossen. In dem Bericht geht es in der Tat um „die Entdeckung einer Welt“, die außerhalb der heteronormativen Nutzung des Raumes steht. Dabei wird die Metapher der „Tür“ verwendet, die die beiden Welten, beide Räume sowie beide Kulturen voneinander trennt. Während in dem oben besprochenen Bericht über die Spannungen in der Nachbarschaft Cihangir mit der Tür-Metapher ausgedrückt werden soll, dass die Trans*-Sexarbeiterinnen vor dem Eindringen der Journalist_innen in ihre geschützten Räume bewahrt werden (Kapitel 4.3.2.), hat sie hier die gegenteilige Funktion: „Ihre Türen sind offen“ für die Journalist_innen.
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Bei Einbezug des Kontextes gewinnen „die offenen Türen“ eine weitere Bedeutung. Wie ich im ersten Kapitel im Detail aufgezeigt habe, waren die Hungerstreiks im Jahr 1987 eine der ersten politischen Aktionen der queeren Bewegung in der Türkei. Die Bewegung wollte dadurch die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen und eine mediale Darstellung ihrer politischen Forderungen erreichen. Die erotisierende Repräsentation lässt jedoch die politischen Fordeungen der Bewegung unwichtig erscheinen, und das Subjekt, das eigentlich mit seiner Kritik gehört werden will, wird stattdessen auf einen im Sinne der dominanzgesellschaftlichen Kultur reizvollen, weil schönen Gegenstand reduziert. In einem weiteren Bericht wird klar, dass die von TRT produzierte Fernsehsendung nicht den Erwartungen der Trans*Community entsprach und daher Proteste auslöste. In dem Kapitel über die Darstellung des Trans*-Subjekts als politische Figur werde ich auf dieses Thema zurückkommen. In etlichen Texten aus den 1990er-Jahren geht die Darstellung der Schönheit einer Transfrau mit dem Motiv der Enthüllung eines Geheimnisses einher. Einer dieser Texte berichtet von einem Schönheitswettbewerb in Deutschland, bei dem eine Transfrau zur Schönheitskönigin gewählt wurde. Dass es sich um eine Transfrau handelte, wurde jedoch laut dem Bericht erst nach der Entscheidung des Wettbewerbskomitees entdeckt, und zwar nachdem die „aufmerksamen Zuschauer“ „die dicken Handgelenke“ und „den Adamsapfel“ der Schönheitskönigin bemerkt hatten. „Die blonde Sexbombe“ war, laut dem Bericht, „in der Tat ein Mann“, der sich hatte operieren lassen (H, „Kraliçe erkekten dönme...“ 01.06.1991). In solchen Artikeln wird wiederholt darauf hingewiesen, dass Transfrauen wie CisgenderFrauen aussehen und die Zuschauer_innen täuschen würden, wie etwa in einem Artikel über eine Aufführung im „Sex-Paradies“ Thailand. Der Artikel berichtet darüber, dass die Trans*-Peformer_innen aufgrund „ihres schönen Körpers“ für die Show ausgesucht werden. Laut dem Artikel können sich die Zuschauer_innen nach der Vorstellung mit den Performer_innen fotografieren lassen. „Wegen der Stimme der Performer_innen“ merke man jedoch, dass diese „keine echten Frauen, sondern Männer“ seien (H, „Dönmeler tiyatrosu“ 21.06.1991).
DIE NORMALISIERUNG VON TRANS*-PERSONEN Im Gegensatz zu Deutschland, wo Transsexuelle seit 1978 das Recht auf Namenssowie Geschlechtsänderung im Ausweis haben, trat das entsprechende türkische Gesetz erst zehn Jahre später in Kraft. Das Gesetz wurde hauptsächlich für Bülent Ersoy verabschiedet, die nach der Militärjunta von 1980 nicht mehr öffentlich auftreten durfte (Toklukcu 2014, 206). Aufgrund des zeitlich verzögerten Inkrafttretens des Gesetzes in der Türkei ist eine Spannung zwischen Definition und Selbstdefinition in den Hürriyet-Texten zu beobachten. Wie ich bereits im Kapitel über das Repräsentationsmuster „Kriminalisierung des Trans*-Subjekts“ ausgeführt habe,
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können auch die im Zuge des Militärputsches verabschiedeten Gesetze, die die Präsenz der Transfrau kriminalisierten, als weitere Gründe für die Abwehr der Selbstdefinition in der Berichterstattung gesehen werden. An dieser Stelle ergibt sich eine Anschlussmöglichkeit an Foucault. Er vertritt die These, dass der Diskurs über Sexualität diese durch Beschreibungen, Einordnungen sowie Erklärungen einerseits normalisiert und diszipliniert, andererseits die Entstehung eines Gegendiskurses ermöglicht habe. Foucault nennt das Beispiel der frühen Homosexuellenbewegung, die bei der Forderung nach Emanzipation die Begrifflichkeiten der Medizin verwendete, also einer Institution, die Körper und Sexualität disziplinierte (Foucault 1979, 123). Bei der Entstehung der queeren LSBTI*- Bewegung in der Türkei kann man diesbezüglich den Diskurs über Sexualität in den 1980er-Jahren als Initialzündung für die Entstehung eines Gegendiskurses sehen. Die Regierung der 1980er-Jahre, die sehr stark vom Militärputsch beeinflusst war, kristallisierte sich als diejenige Institution heraus, die die Sexualität disziplinierte (vgl. Eşsiz 2012) sowie normalisierte (vgl. Gürbilek 1992). Diese Disziplinierungs- und Normalisierungsprozesse spiegelten sich in regelmäßiger Polizeigewalt gegen Transfrauen sowie in zahlreichen medialen Darstellungen von Transfrauen in den späten 1980er- sowie frühen 1990er-Jahren wider (Kandiyoti 2003, 278). Das Trans*-Subjekt, das als aktivistische Figur für seine Anerkennung kämpft, entstand in Hürriyet durch die Darstellung dieser Normalisierungs- und Disziplinierungsprozesse und stellte zugleich einen Gegendiskurs dar, der diese Normalisierung und Disziplinierung in der dominanzgesellschaftlichen Kultur infrage stellte. Dabei lässt sich als Beispiel der Hungerstreik der Trans*Sexarbeiter_innen im Jahre 1987 anführen, der sich gegen die Polizeigewalt richtete. Dies führte schließlich in Hürriyet zu einer Repräsentation des Trans*-Subjekts, die sich von den frühen Repräsentationen wesentlich unterschied. Homosexuelle Solidarität Für die Homosexuellen in Istanbul, die sich im Todesfasten befinden, gibt es Unterstützung aus Ankara. Die Homosexuellen in Ankara haben mit einem dreitägigen Hungerstreik begonnen. Die Homosexuellen teilten gestern bei einer von ihnen einberufenen Pressekonferenz mit, dass sie nicht mal den Wert von Schildkröten hätten. Sie wollen Arbeitserlaubnisse. Ebru Çağlar, die für die acht hungerstreikenden Homosexuellen in Ankara sprach, betonte, dass sie aus Solidarität zu ihren Freunden in Istanbul, die unterdrückt, geschlagen und gefoltert werden, protestieren. Çağlar: „Die Menschen in der Türkei werden wie nirgends auf der Welt aufgrund ihrer Homosexualität Opfer von Gewalttaten und Folter. Während der Hitlerzeit wurden den Homosexuellen rosa Dreiecke angesteckt und sie wurden verbrannt, das haben wir heute nicht. Aber die Unterdrückungen, Folter, Schläge, denen unsere Freunde ausgesetzt sind, lassen die Hitlerzeit nicht missen.“ Çağlar gibt an, dass die Korruption bei der Polizei in Istanbul einen Höhepunkt erreicht hat: „Sie greifen Homosexuelle auf, nehmen Schmiergeld und lassen sie wieder frei. Sie zwingen uns zur Prostitution.“
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Und aus den europäischen Medien Die Medien in Europa erfuhren durch die türkische Presse von den acht Homosexuellen, die in Ankara im Hungerstreik sind, und zeigten großes Interesse an ihrem Widerstand. Während die französische Tageszeitung Le Monde ihren Lesern das in großen Lettern vortrug, führte die englische Nachrichtenagentur Interviews mit den Homosexuellen. Währenddessen bekundeten die europäischen Homosexuellen in Telegrammen ihre Solidarität. Der Homosexuelle Beyhan Arslan, der aus Ankara kommt, nimmt aus Solidarität zum Widerstand der Homosexuellen in Istanbul an dem Todesfasten teil. (H, „Eşcinsel Dayanışması“ 07.05.1987)
Es ist ein Bericht über ein Ereignis, das sich als Wendepunkt deuten lässt. Denn das Bild des Trans*-Subjekts, das der Text konstruiert, unterscheidet sich grundlegend von dem in den anderen Texten. Während in den frühen Texten das Subjekt als Gefahr für die Werte der Öffentlichkeit dargestellt wurde, entsteht hier das Bild eines Trans*-Subjekts, das sich gegen diese Werte wehrt und dabei einen Raum zum Sprechen findet. Entscheidend ist, dass sich in dem Text ein Raum ausschließlich für das Sprechen des Trans*-Subjekts eröffnet. Die repräsentierte Stimme der Trans*-Aktivist_innen wird dabei nicht von den denjenigen Subjektpositionen unterbrochen, die in Widerspruch zu ihr stehen. Wie die Analyse der vorherigen Texte zeigte, repräsentiert die Berichterstattung von Hürriyet oft die Stimmen von Subjektpositionen wie Ärzt_innen, Politiker_innen sowie Bürger_innen, um das Image eines kriminellen bzw. kranken Trans*-Subjekts zu festigen. Hier jedoch ist selbst die Stimme der Polizei, die von den Trans*-Aktivist_innen der Menschenrechtsverletzung beschuldigt wird, abwesend. Im Gegensatz zu den frühen Texten werden hier Stimmen repräsentiert, wie z.B. die von „europäischen Homosexuellen“, die sich mit den Trans*-Aktivist_innen solidarisch zeigen. Die Repräsentation der Stimmen der ausländischen Presse dient dabei nicht nur dazu, das Ereignis als wichtig zu bewerten, sondern bis zu einem gewissen Grad auch dazu, Anerkennung auszusprechen. In diesem Zusammenhang ist das Trans*-Subjekt nicht mehr das Kriminelle bzw. das Kranke, sondern Opfer einer Gewalt, die vom Staat ausgeübt wird. Die Angabe zur Aufmerksamkeit der Medien dient also dazu, die Gewalt als solche zu betrachten und eine Stimmung der Solidarität zu erzeugen, was den Text besonders macht. Der Bericht wird zudem ergänzt durch ein Bild, das die acht hungerstreikenden Aktivist_innen zeigt. Als Zeichen der Solidarität fassen sie sich an den Händen und halten dabei die Arme empor. Das Sich-an-den-Händen-Halten zeigt die Aktivist_innen nicht nur solidarisch miteinander, sondern auch stark im Kampf gegen die Polizeigewalt. Darüber hinaus entsteht der Eindruck von Stolz. Im Gegensatz zu den bildlichen Darstellungen anderer Artikel, in denen sich das Trans*-Subjekt in der Polizeistation, im Gerichtssaal oder im Krankenhaus befindet und versucht, sein Gesicht zu verstecken, sehen wir hier Aktivist_innen, die sich stolz und solidarisch gegen die Polizeigewalt wehren. Da Hungerstreik eine Form des passiven Wider-
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stands ist, werden die Deutungsmuster von Gewalt nicht mit der Präsenz des Trans*-Subjekts, sondern mit der Polizei ins Verhältnis gesetzt. In diesem Zusammenhang gewinnt die Repräsentation des Trans*-Subjekts Anerkennung, und die Gewalt gegen Trans*-Sexarbeiter_innen wird als solche betrachtet. Was den Text zu einer normalisierenden Repräsentation macht, ist auch die Bereitschaft des Subjekts zur Integration in die Norm. Laut dem Bericht fordern die Aktivist_innen nicht nur, dass die Gewalt beendet wird, sondern auch, dass sie am registrierten Arbeitsmarkt teilhaben können. Das zentrale Deutungsmuster von Transfrauen in der damaligen Zeit war die unregistrierte Sexarbeit. Darüber hinaus kann man diese Forderung als eine nach registrierter Sexarbeit lesen. Im soziohistorischen Kontext der Türkei weist dies auf vom Staat kontrollierte und regulierte Sexarbeit hin (vgl. Zengin 2011). Diese Bereitschaft der Integration in die Norm wird auch im nächsten Bericht über den Hungerstreik deutlich. Hier wird berichtet, dass die Aktivist_innen am Mausoleum von Mustafa Kemal Atatürk einen Blumenstrauß niederlegten, was ein Zeichen für Nationalismus ist und somit einen Anspruch auf Anerkennung als Bürger_innen ausdrückt. Dies findet jedoch in diesem Text, anders als in dem vorhergehenden, eine abwertende Repräsentation. Die Homosexuellen sind in Ankara Am vergangenen Sonntag wurde Ankara Zeuge einer Demonstration von Feministinnen, ähnlich haben gestern auch Homosexuelle verschiedene Shows dargeboten. Bei diesen Protesten der Homosexuellen gab es Hungerstreik, Bemühungen um ein Treffen mit dem Ministerpräsidenten und das Bestreben, Blumen am Mausoleum Atatürks niederzulegen. […] Das Ziel dieser Aktion war es, „gegen die Unterdrückung der Homosexuellen in der Türkei zu protestieren.“ Die gestrigen Ereignisse begannen mit den sieben Homosexuellen, die im Hungerstreik sind und aus Istanbul nach Ankara kamen, um ihren Protest hier weiterzuführen. Währenddessen haben sie entschieden, dass die drei Vertreter, die sie gewählt hatten, zum „Quartier“ gehen, um mit dem Ministerpräsidenten zu sprechen. Die Bestrebungen wurden vor dem Quartier von Polizisten verhindert. Daraufhin entschieden dieselben Personen, zum Mausoleum zu gehen, um dort Blumen niederzulegen. Dieses Vorgehen planten sie taktisch. Getarnt als Besucher, gingen die drei „Vertreter“ direkt vor das Mausoleum und legten dort, wo die Kränze liegen, eine Rose nieder. Auch die Schweigeminute versäumten sie nicht. Auf dem Tagesprogramm stand noch eine amüsante Pressekonferenz. Aber weil sie in Ankara stattfand, musste es selbstverständlich auch politische Punkte geben. Kemal Yılmaz, der im Namen der sich noch in Gründung befindenden Partei „Radikal-Demokratische Union“, sprach, schaffte es, dem Ganzen eine politische Note zu geben. […] Eine Gruppe der Homosexuellen ging später zum Hauptsitz der SHP, um den Präsidenten Erdal Inönü zu treffen. Indes lehnte Inönü das Treffen ab und beauftragte seinen Hauptsekretär Ibrahim Taşdemir damit. Die Homosexuellen, die mit Taşdemir sprachen, gaben an, dass sie auf den Polizeirevieren unterdrückt und ihnen die Haare abgeschnitten wurden.
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(Bildunterschrift) ES GIBT AUCH KAHLKÖPFE Homosexuelle haben in Ankara eine Pressekonferenz organisiert. Eine der bunten Personen auf der Pressekonferenz war eine „bedeckte“ Homosexuelle. Nachdem die Homosexuellen mit den Reportern gesprochen hatten, gaben sie ihre Mitteilung an den Ministerpräsidenten bekannt. (H, „Eşcinsellere Ankara’da kapılar…” 16.05.1987)
Der Fokus des Textes liegt auf der Tatsache, dass die Trans*-Aktivist_innen eine Pressekonferenz veranstalteten bzw. sich mit Politiker_innen treffen wollten. Während im Detail dargestellt wird, wie sie versucht haben, den Ministerpräsidenten zu treffen und das Mausoleum zu besuchen, werden die Inhalte der Pressekonferenz sowie ihre Forderungen sehr knapp zusammengefasst. Ein weiterer Unterschied zum vorigen Artikel besteht darin, dass hier eine Stimmung von Ablehnung erzeugt wird, während zuvor auf eine Solidarität hingewiesen worden war. Sowohl in der Überschrift als auch im Text wird die Information in den Vordergrund gerückt, dass die Politiker_innen ein Treffen ablehnten. Dadurch wird signalisiert, dass Institutionen wie die Ministerpräsidentschaft oder die Oppositionspartei die Aktionen der Trans*Aktivist_innen nicht als wichtig betrachten. Dies deutet wiederum darauf hin, dass die gegen Trans*-Bürger_innen verübte Polizeigewalt, die am Ende des Textes nur kurz erwähnt wird, von der Seite des Staates nicht als Gewalt betrachtet wird. Die Diskursposition des Textes nimmt die Stellung des Staates sowie der Polizei ein. Dies lässt sich insbesondere an zwei Stellen erkennen. Erstens wird, wie oben bereits erwähnt, der Tatsache, dass Polizeigewalt gegen die Trans*Bürger_innen stattgefunden hat, kein großer Informationswert beigemessen, vielmehr wird besondere Aufmerksamkeit auf die Ablehnung des Treffens gelegt. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass ein Treffen der Oppositionspartei mit den Aktivist_innen dennoch stattgefunden hat. Die Überschrift und der Text lassen diese Information jedoch in den Hintergrund treten. Des Weiteren wird die Pressekonferenz als „amüsant“ beschrieben, als ginge es um eine Show und nicht um Menschenrechtsverletzungen. Der Text erweckt den Eindruck, dass die Trans*Aktivist_innen zu Unterhaltungszwecken zur Schau gestellt werden. Das Sprechen der Aktivist_innen, also deren Forderung auf Beendigung der Polizeigewalt, wird durch diese spöttische Darstellung zum Schweigen gebracht. Dies wird auch in der Bildunterschrift deutlich. Mit großen Buchstaben wird erläutert, dass es unter den „Homosexuellen“ auch eine „mit Glatze“ gebe. Die Schlussbemerkung, dass die Haare der Transfrauen in Gewahrsam zwangsweise abrasiert werden, lässt darauf schließen, dass auch die Haare der Transfrau auf dem Bild von der Polizei abrasiert wurden. Die Frage, weshalb sie keine Haare mehr hat, wird in dem Text nicht gestellt. Trotzdem stellt der Text die Frau als „amüsant“ zur Schau. An diese Rekonstruktion der Deutungsmuster schließt sich die Diskursposition des Textes an, die sich grundlegend von dem vorherigen Bericht über den Hungerstreik unterscheidet. Die Polizeigewalt gegen die Trans*-Bürger_innen wird in diesem Zusammenhang so konstruiert, als ob es sich dabei nicht um eine Menschenrechtsverletzung handle.
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In den folgenden Artikeln über den Hungerstreik wird sogar infrage gestellt, dass es überhaupt Polizeigewalt gegeben hat. Die Formulierung lautet, dass die Trans*Aktivist_innen „behaupten“, dass es Polizeigewalt gebe. Das dabei verwendete Wort „Behauptung“, auf Türkisch „iddia etmek“ lässt die Angabe, es habe Polizeigewalt gegeben, zweifelhaft erscheinen (H, „Eşcinseller ölüm orucuna...“ 18.05.1987; H, „Eşcinsellerin eylemi bitti“ 19.05.1987). Der Text liefert keine Begründung, warum die Aktivist_innen das Mausoleum besuchen wollten. Man kann jedoch davon ausgehen, dass diese Aktion wiederum dazu diente, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken. Der Besuch des Mausoleums, der als Teil der Aktionen dargestellt wird, lässt sich diesbezüglich als Wunsch nach Anerkennung sowie Integration in die dominanzgesellschaftliche Kultur deuten. Der Hungerstreik und die darauffolgenden Aktionen aus dem Jahr 1987 brachten den queeren Gruppen in der Türkei tatsächlich viel öffentliche Aufmerksamkeit. Kurz danach strahlte sogar der staatliche Fernsehsender TRT eine Reportage aus, in der es um Homosexualität ging. Wie ich in den vorherigen Kapiteln dargelegt habe, wurde im Diskurs der 1980er-Jahre „Homosexualität“ mit „Trans*-Sexarbeit“ in Verbindung gebracht. In einem Artikel kündigte Hürriyet an, dass die Reportage Interviews enthalte, die Antwort auf die Fragen geben, was „Homosexualität“ sei, warum „Homosexuelle“ existieren sowie in welchen soziologischen und psychologischen Umständen sie sich befinden (H, „Eşcinseller TV’de“ 15.05.1987). Obwohl der Hungerstreik die öffentliche Aufmerksamkeit auf Homosexuelle bzw. Trans*-Identität lenkte, fanden die Menschenrechtsverletzungen bzw. die Polizeigewalt keinen Raum mehr im Diskurs. Wie ich im vorherigen Kapitel aufgezeigt habe, ging es nun sogar darum, den Fokus auf die Schönheit sowie erotische Attraktivität der Transfrauen zu legen (H, „TV Eşcinselleri ekrana...“ 24.05.1987). Der Hungerstreik führte also einerseits zu einer größeren Sichtbarkeit in der Berichterstattung von Hürriyet, andererseits löste diese Sichtbarkeit einen Prozess aus, der die politischen Forderungen der Trans*-Community wieder aus dem Feld des Sichtbaren und Lesbaren hinausdrängte. Nicht nur Hürriyet, sondern auch andere Zeitungen und Zeitschriften schenkten der Trans*-Community nun größere Aufmerksamkeit. Nurdan Gürbilek ist der Meinung, dass die öffentliche Aufmerksamkeit in den 1980er-Jahren einerseits einen Raum für die Sichtbarkeit von queeren Gruppen schuf, dass aber andererseits durch diese Sichtbarkeit Disziplinierungs- sowie Normalisierungsprozesse der Heteronormativität in Gang gesetzt wurden (Gürbilek 1992, 43-44). Diese Spannung zwischen der Repräsentation in der dominanzgesellschaftlichen Kultur und dem Interesse der queeren Gruppen in den 1980er-Jahren ermöglichte jedoch die Entstehung eines Gegendiskurses, was diese Zeit zu einem Wendepunkt macht. Und dadurch wurde nicht nur das Trans*Subjekt, sondern zum ersten Mal auch das schwule Subjekt als politische bzw. aktivistische Figur sichtbar. Die Reportage von Ertürk Yöndem, die auf TRT ausge-
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strahlt wurde und über die auch in Hürriyet berichtet wurde, markiert diesen Wendepunkt. Nachdem TRT die Reportage ausgestrahlt hatte, wurde jedoch Kritik vonseiten der Trans*- sowie der schwulen Community laut. In Hürriyet erschien ein Bericht über eine Pressekonferenz, in der Aktivist_innen die Reportage kritisierten (H, „Eşcinsellerden TV’ye 100 milyonluk...“ 18.06.1987). Laut dem Bericht fühlte sich die Community wegen der negativen Darstellung schwer beleidigt, und aus Protest verlangten einige Aktivist_innen einen Schadenersatz in Höhe von 100 Millionen TL. Der Bericht stellt zunächst die Kritik von Arslan Yüzgün vor, der eine Studie zu Homosexualität in der Türkei veröffentlicht hatte. Yüzgün, den der Text als Vertreter der Community vorstellt, richtet seine Kritik an Prof. Dr. Ayhan Songar und Prof. Dr. Adnan Ziyalar, zwei Professoren, die in der Reportage Homosexualität als Krankheit und Gefahr für die Gesellschaft beschreiben, und nennt sie „die eigentlichen Psychopathen“. Yüzgün erachtet die Reportage laut dem Bericht auch deswegen als problematisch, weil darin nur „die hässlichen Homosexuellen in den Vordergrund gestellt“ würden. In Istanbul leben „eine Million Homosexuelle. Darunter sind sogar bekannte Geschäftsleute, Schauspieler, Parteimitglieder, Abgeordnete und Politiker“. Wenn die Reportage nicht nur von „hässlichen Homosexuellen“, sondern auch von „Homosexuellen mit unterschiedlichem Hintergrund“ handeln würde, so Yüzgün, dann hätten sie „nichts dagegen gehabt“. Die „hässlichen Homosexuellen“ lassen sich in diesem Zusammenhang als Trans*-Sexarbeiter_innen interpretieren, was die Kritik von Yüzgün, ähnlich wie beim Besuch des Mausoleums als integrationsbereit repräsentiert. Dadurch entsteht ein Bild von Homosexuellen bzw. Trans*, die als gute Bürger_innen anerkannt werden und sich von den „hässlichen Homosexuellen“, die mit Sexarbeit, Drogen und AIDS konnotiert werden, unterscheiden wollen. In dem Text werden zwei weitere Stimmen repräsentiert, die die Reportage und den Produzenten Ertürk Yöndem kritisieren. Der Parteiführer der Radikal Parti, Ibrahim Eren, der sich während des Hungerstreiks solidarisch mit den Aktivist_innen gezeigt hatte, kritisierte Yöndem, also den Produzenten und Moderator der Reportage, für die Fragen, die er den Homosexuellen gestellt hatte, da es seine Intention gewesen sei, Homosexuelle bzw. Transfrauen als unglücklich darzustellen. Seine Kritik an diesen Fragen wird in dem Bericht in direkte Rede formuliert, was es ermöglicht, einen Blick auf den Gegendiskurs der damaligen Zeit zu werfen. „Ertürk Yöndem: Als jemand, der die Welt pessimistisch betrachtet, der ein gleichgültiger und depressiver Mensch ist, müsste er eine Lektion von uns lernen. Wir sind zufrieden mit unserem Leben. Er versuchte uns während des ganzen Programms mit seinen Fragen in die Ecke zu drängen, wir würden ein unglückliches Leben führen. Wir haben einen freundlichen Blick auf die Welt, wir möchten Glück versprühen. Der Staat aber möchte über TRT als Mittler verhindern, dass wir glücklich sind und nach Frieden streben. Wir schlagen ihnen vor, dass sie wie wir leben und unserem Weg folgen sollen. Vielleicht wird Ertürk Yöndem dann seine Depression überwinden.“ (H, “Eşcinsellerden TV’ye 100…“ 18.07.1987)
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Dies kann man auch als queere Kritik an der Öffentlichkeit lesen. Während der Diskurs der Öffentlichkeit versucht, Transfrauen und Schwulen ein Schamgefühl aufzuzwingen, wird von der Community ein Gegendiskurs hervorgebracht, der das Leben der queeren Gruppen als Vorbild für die ganze Gesellschaft zeigt. Interessanterweise ist dies in den untersuchten Ausgaben von Hürriyet das älteste Diskursfragment, das den Gegendiskurs der queeren Gegenöffentlichkeit darstellt. Michael Warner ist der Meinung, dass die queere Gegenöffentlichkeit, also die queer counterpublics, durch den Konflikt mit den Normen und Werten der kulturellen Umgebung entstehen, in der sie sich befinden (Warner 2002, 63). Darüber hinaus kann man dieses Diskursfragment nicht nur als Zeichen für die Präsenz der queeren Gegenöffentlichkeit in den späten 1980er-Jahren in der Türkei lesen, sondern auch als Protest gegen das Einmischen der Öffentlichkeit, mit der sie in Konflikt geraten sind. Bei diesem Protest, bei dem sich die queere Gegenöffentlichkeit in die Öffentlichkeit einmischt, geht es laut Warner tatsächlich darum, die Öffentlichkeit so umzugestalten, dass auch neue Formen von Intimitäten, Körper, Sprache, Individuen sowie Staatsangehörigkeiten darin einen Platz finden können (ibid., 23). Zum Schluss möchte ich die Kopplung von Homosexualität und Trans*Identität diskutieren. Von großer Bedeutung ist, dass in dem Text aufgrund der Darstellung der schwulen Aktivisten die Kopplung von Homosexualität und Trans*-Identität sowie der damit in Beziehung gesetzten Sexarbeit allmählich verschwinden. Ibrahim Eren sowie Arslan Yüzgün erzeugen hier eine neue Repräsentation, und zwar die Repräsentation des schwulen Aktivisten. Wenn man die Berichte seit dem Hungerstreik in Betracht zieht, fällt auf, dass dessen Darstellung und insbesondere die der Radikal Parti zur Konstruktion eines schwulen Mannes führen, der nicht mit Sexarbeit in Verbindung gebracht werden will. Diese Partei war von einigen Schwulen und Transfrauen gegründet worden und unterstützte die Forderungen, die mit dem Hungerstreik durchgesetzt werden sollten. Trotz dieser neuen Darstellung bleibt die Kopplung von Homosexualität und Trans*-Identität bei den repräsentierten Stimmen bestehen. Ziyalars Aussage „die Männer, die mit den Homosexuellen Geschlechtsverkehr haben“ deutet auf Sexarbeit hin, die von Transfrauen geleistet wird. Und Yüzgün verwendet als schwuler Aktivist den Begriff „hässliche Homosexuelle“, um auf die Trans*-Sexarbeit hinzuweisen. Die Radikal Parti, die für die Rechte der queeren Gruppen in der Türkei kämpfte, veranstaltete weitere Konferenzen, in denen das Trans*-Subjekt, das für Menschenrechte kämpft, sichtbar wurde. Im November 1987 organisierten Transfrauen, die sich als Mitglieder der Radikal Parti beschrieben, anlässlich der Polizeigewalt eine Pressekonferenz und forderten wiederholt das Recht, in Bordellen registriert arbeiten zu können. Dabei gaben sie bekannt, dass es unter ihren Kunden auch Abgeordnete gebe (H, „Eşcinselin elinde Anaplı...“ 18.06.1987). In den späten 1980er- sowie frühen 1990er-Jahren wurde dieses zentrale Argument immer wieder von den Transfrauen vorgebracht, um gegen die Menschenrechtsverletzungen zu protestieren (H, „Konuşursam bakanlar yanar...“ 22.06.1991).
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Normalisierung in der Repräsentation berühmter Persönlichkeiten Als Bülent Ersoy im April 1981 nach London flog, um eine operative Geschlechtsangleichung durchführen zu lassen, wurde sie von Hürriyet-Korrespondent_innen begleitet. Von April bis Juni 1981, also bis zu der Zeit, als die Regierung ein Gesetz verabschiedete, das es ihr unmöglich machte, auf der Bühne aufzutreten, berichtete Hürriyet mit besonderer Aufmerksamkeit über ihre Geschlechtsangleichung. Noch zwei Tage, bis Bülent Ersoy eine Frau wird Bevor Bülent Ersoy in dem bekannten Krankenhaus Charring Cross in England operiert und offiziell eine Frau wird, verbrachte er die letzten beiden Tage mit einkaufen. Um die Aufregung zu überwinden und die Operation am Dienstag zu vergessen, gab sich die berühmte Sängerin dem Einkaufen hin und kaufte in einem indischen Laden drei bunte Saris aus Seide. […] Die Ärzte des weltweit ersten Retortenbabys, Patrick Steptoe und Robert Edwards, eröffneten in der Nähe von Cambridge die erste Retortenbaby-Klinik. Ergebnisse einer Untersuchung ergaben: „Frauen, die Männer waren, haben keine Chancen ein Baby zu bekommen, da sie keinen Uterus haben und ein Baby in einer künstlichen Vagina nicht wachsen kann.“ Bülent Ersoy, der das von einem Hürriyet-Reporter erfuhr, war sichtlich enttäuscht, sagte: „Vielleicht entwickelt sich die Wissenschaft in dieser Hinsicht noch“ und gab weiter an, sich in der Retortenbaby-Klinik vorstellen zu wollen. […] Bülent Ersoy, der für 160 Pfund Sterling die Woche ein Apartment in der Nähe der Gloucester Road gemietet hat und dieses mit einer Freundin bewohnt, bat das verehrte türkische Volk, bevor er ins Krankenhaus geht, für ihn zu beten. (H, „Bülent Ersoy’un kadın...“ 12.04.1981)
Am Beispiel dieses Berichts lässt sich aufzeigen, dass in der Berichterstattung von Hürriyet eine Anerkennung von Ersoys Selbstdefinition als Frau erfolgt. Die Details über feminin konnotierte Eigenschaften, die in der pathologisierenden Repräsentation spöttisch aufgenommen werden, bekräftigen hier die Konstruktion von Ersoys Weiblichkeit. Es wird darauf hingewiesen, dass Ersoy, ähnlich wie andere Frauen, shoppen geht, um sich besser zu fühlen. Ebenfalls wird davon berichtet, dass Ersoy „sich endlich“ glücklich gefühlt habe, als sie den richtigen Sari fand. Laut dem Bericht zieht sie dieses Gewand der indischen Frauen an und „begrüßt die Inderinnen“, die ihr auf der Straße begegnen. Der Text berichtet, Ersoy habe das Herz der Inderinnen, mit denen sie auf der Straße sprach, erobert. Sie wird damit nicht nur als Frau anerkannt, sondern gewinnt auch die Liebe und den Respekt der Gesellschaft. Am Schluss des Textes wird wiederum die Normalisierung der Geschlechtsangleichung durch Adressierung der Gesellschaft, die in dem Text als „türkisches Volk“ bezeichnet wird, deutlich. Dabei wird durch die Stimme von Ersoy ein religiöser Diskurs hervorgebracht: Ersoy fühle sich verbunden mit der türkischen Nation sowie mit der (islamischen) Religion. Ihre Geschlechtsangleichung schließt also die Gefühle für Nation und Religion nicht aus. Anders gesagt, ihre Trans*-Subjektivität verletzt keine nationalistischen oder religiösen Gefühle.
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Das Diskursfragment über künstliche Befruchtung weist darauf hin, dass Ersoy trotz ihres Passings als Frau und trotz ihrer Geschlechtsangleichung nicht an der biologischen Reproduktion teilnehmen kann. Wenn man die biologische Reproduktionsfähigkeit als Zeichen der Weiblichkeit liest, bedeutet die Erwähnung der Befruchtungsthematik, dass Ersoy keine biologische, also keine „echte“ Frau, sei. Dies wird jedoch, aufgrund von Ersoys Stimme, die eine Atmosphäre der Hoffnung auf die künftige Möglichkeit einer biologischen Reproduktion erzeugt, nicht als ein Hindernis für die Konstruktion der Weiblichkeit gesehen. In einem Artikel, der am nächsten Tag erschien und darüber berichtet, dass Ersoy wegen der Operation nicht mehr essen darf, wird Ersoys Geschlechtsangleichung wiederholt in einen religiösen Diskurs eingebettet. Es wird berichtet, dass sie „zunächst ihr Make-up entfernte und danach betete“. Sie habe, laut dem Bericht, in einem der teuersten Läden Londons ein weißes Nachthemd gekauft. Sie war so schön in dem Nachthemd, dass „die Augen der Krankenschwestern von ihrer Schönheit geblendet“ waren (H, „Bülent Ersoy 6...“ 13.04.1981). Ähnlich wie die Inderinnen, die Ersoy während einer Shoppingtour auf der Straße traf, deutet hier die Subjektposition der Krankenschwestern, die Ersoys Schönheit bewundern, auf Anerkennung hin. In gleicher Weise wird im nächsten Bericht, der die Überschrift „Heute ist der letzte Tag von Herrn Bülent Ersoy“ trägt, Ersoys Selbstbestimmung sowie Selbstdefinition anerkannt, und zwar mit der Angabe, dass die Ärzte Ersoys Namensschild an der Krankenzimmertür in „Frau Ersoy“ geändert haben (H, „Bay Bülent Ersoy’un...“ 14.04.1981). Die Anerkennung der Selbstbestimmung sowie Selbstdefinition wird in diesem Bericht, der nach der Operation erschien, mit dem Wissen der Medizin begründet. Im Folgenden sind einige Diskursfragmente aus diesem langen Artikel zu sehen. Und Frau Bülent Ersoy Der Oberarzt im Charring Cross-Krankenhaus, Peter Philip, sagte gestern um 14:00 Uhr türkischer Zeit, dass es in seinem Krankenhaus keinen Herrn Bülent Ersoy mehr gebe, stattdessen gebe es eine Frau Bülent Ersoy. Er gab offiziell bekannt, dass die Operation erfolgreich verlief und dass die Künstlerin eine Frau ist. […] Bülent Ersoy äußerte vor der Operation ihr Vertrauen den Ärzten gegenüber: „Seitdem ich mich kenne, fühlte ich mich als Frau. Ich habe mich niemals als Homosexuellen akzeptiert. Hätten die Spezialisten hier in eine Operation eingewilligt, wenn sie das nicht genauso gesehen hätten? Zudem haben sie mich den Ärzten als jemanden vorgestellt, der viel Geld hat. Mit Geld kann man nichts regeln. Man kann die Wissenschaft nicht kaufen. Ich erstelle Diagnosen, danach wird über die Operation entschieden“, sagte der Arzt und entschied mich zu operieren. […] Bülent Ersoy, der als Mann in die OP ging, kam nach einer 3 ½ stündigen erfolgreichen Operation als Frau wieder heraus. […] Die Krankenhausverwaltung sagte bezüglich Bülent Ersoy, dass Ersoy nicht „homosexuell“, sondern „transsexuell“ sei. Diese Menschen sind sich sicher, dass sie „im physischen Sinn im falschen Körper sind“, sagte er weiter. Es wurde bekannt gegeben, dass nach der im Charring Cross realisierten 3 ½ stündigen Ope-
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ration Bülent Ersoy, der als biologischer Mann in die Operation ging, das männliche Geschlechtsorgan abgenommen und später ein Teil davon in eine künstliche Vagina umgewandelt wurde. […] Bei dieser Art von Krankheiten werden in der Regel vor der Operation spezifische Maßnahmen vorgenommen und mit Medikamenten die Brüste künstlich vergrößert. „Nach solchen Operationen fühlen sie sich vom Gefühl, jahrelang im falschen Körper zu sein, befreit und sind daher viel glücklicher“, gaben die Ärzte bekannt. Bülent Ersoy, die vor der Operation betete, sich von ihren beiden Freundinnen verabschiedete und eine ihrer Freundinnen dreimal küsste – „einmal für die Mutter, einmal für den Vater und einmal für ihren Geliebten, einen Fußballspieler“ – ging es sichtlich gut. Mit der überstandenen Operation hat sich Bülent Ersoy von den widersprüchlichen Gefühlen und Gedanken, die er 29 Jahre lang in sich hatte, befreit, teilte Bülent Ersoys Arzt mit und sagte weiter: „Wir hoffen, dass Frau Bülent froh sein wird.“ […] Auch BBC hat in den türkischen Nachrichten von 18.15 bis 19.00 Uhr der Geschlechtsumwandlung von Bülent Ersoy Platz eingeräumt. Zuerst wurde in der türkischen Sendung von BBC eine Platte von Bülent Ersoy gespielt, danach wurde offiziell bekannt gegeben, dass Bülent Ersoy eine Frau ist. „Finde ich nicht angemessen“ Die großartige Stimme der türkischen Musik Bülent Ersoy verabschiedete sich nach einer Operation in London vom Mannsein. Seine Mutter sagte, dass sie der Operation nicht zugestimmt hat. Necla Poyraz, die Mutter von Bülent Ersoy, die gestern früh zu ihrer Schwester nach Izmir fuhr, sagte: „Ich finde es nicht angemessen, dass Bülent diese Operation vollzog. Aber er ist ja kein Kind. Er ist ein riesiger Mann. Ich kann nicht über einen 29-jährigen Menschen herrschen. Möge es gut ausgehen.“ (H, „Ve Bayan Bülent...” 15.04.1981)
In dem Text steht die Operation als Beweis für Ersoys Weiblichkeit. Ersoy bringt dabei einen medizinischen Diskurs hervor, der dazu führt, Ersoys Subjektivität von Homosexualität zu unterscheiden. Die Frage, wie dieser Unterschied zustande kommt, und die darauffolgende Antwort sind im sozio-historischen Kontext dieses Textes verankert, in dem, wie ich auch an anderen Texten aufgezeigt habe, die Begriffe „Transsexualität“ und „Homosexualität“ gekoppelt werden, was in der damaligen Zeit zur Ablehnung der Selbstdefinition der Transfrauen fungierte. In ihrer Antwort weist Ersoy darauf hin, dass sie nicht reich sei, und selbst wenn sie reich wäre, nicht willkürlich eine Operation durchführen lassen könnte. Warum diese Angabe gemacht wird, erklärt sich vor dem Hintergrund des juristischen und medizinischen Diskurses über Transfrauen. Diese wurden als homosexuelle Männer konstruiert, die sich allein aus Gründen des „Profits“ operieren lassen, was noch viel später, im Jahr 1999, das Gesetz über Geschlechtsangleichung prägte (Kurtoğlu 2013, 131). In diesem Zusammenhang deutete Profit häufig auf Sexarbeit hin, die als ein einfacher Weg gesehen wurde, um Geld zu verdienen (H, „Eşcinsellerden erkekliğe dönüş“ 02.10.1989). Diesbezüglich funktioniert hier die Stimme der englischen Ärzt_innen als Beweis dafür, dass Ersoy sich nicht aufgrund des Profits bzw. zur Steigerung ihres Bekanntheitsgrads operieren lassen wollte, sondern aufgrund ihrer „Krankheit“, die dazu führte, dass sie sich in ihrem eigenen Körper
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fremd fühlte. Dies wird in dem Text als „Transsexualität“ beschrieben, was den Text zum ältesten Text im diachronen Schnitt macht, der den Begriff Transsexualität enthält. An dieser Stelle ist eine Verschränkung mit dem Repräsentationsmuster „Pathologisierung des Trans*-Subjekts“ zu sehen, in dem das Subjekt zu einem Objekt des medizinischen bzw. psychiatrischen Wissens wird und die Operation sowie die psychiatrische Behandlung als Lösungen eines Problems dargestellt werden. Des Weiteren funktioniert die Operation als Sieg und erreichtes Ziel eines Trans*-Subjekts. Die Titelseite der Ausgabe zeigt ein Foto von Bülent Ersoy, die sich mit einer Krankenschwester in einem Krankenhauszimmer befindet. Ersoy macht mit ihrer Hand das Zeichen für „Victory“, das die Deutung der operativen Geschlechtsangleichung als „Sieg“ bekräftigt. Das gleiche Deutungsmuster taucht viel später noch einmal in Hürriyet auf, und zwar in Artikeln aus den 2000erJahren, die die operative Geschlechtsangleichung als einen Erfolg, Sieg bzw. ein Ziel codieren und dadurch normalisieren. Damit komme ich zur normalisierenden Repräsentation, die in diesem Text produziert wird. Als deren typisches Merkmal geht hier zunächst die Integration einer Subjektposition in die Norm mit der Ausschließung einer anderen einher. Die pathologisierende Repräsentation wird hier zu einem Vehikel, das Ersoys Subjektivität Anerkennung verleiht. Sie erhält dadurch eine medizinische Definition, und zwar die der „Transsexualität“, womit sie von Homosexualität unterschieden wird, und dadurch entfällt auch die Konnotation von Profit sowie Sexarbeit. Zweitens wird Ersoy inmitten von traditionellen Subjektpositionen sowie Institutionen gezeigt, von denen sie Anerkennung erhält. In der bildlichen Darstellung auf der ersten Seite, in der eine Krankenschwester zu sehen ist, die Ersoy stützt und dabei lächelt, führt die Medizin nicht mehr zu einer pathologisierenden Darstellung, sondern zeigt Akzeptanz und Respekt gegenüber dem Subjekt. Ersoys Freundinnen begleiten sie bei der Operation, und Ersoy schickt Grüße an ihre Eltern sowie ihren Freund, einen Fußballspieler. Dadurch wird sie als populäre Sängerin dargestellt, die eine Beziehung mit einer anderen prominenten Persönlichkeit der Populärkultur führt und ihre Eltern respektiert. Ersoy steht damit nicht mehr außerhalb der dominanzgesellschaftlichen Kultur, sondern ist ein Teil dieser Kultur, oder anders gesagt, sie zeigt den Wunsch, sich in diese Kultur zu integrieren. Der Text ist daher ein gutes Beispiel dafür, dass auch von der Seite der dominanzgesellschaftlichen Kultur die Bereitschaft besteht, Ersoy als ihr zugehörig zu akzeptieren. Sowohl die Stimme der internationalen Medien als auch Hürriyet erkennen sie offiziell als Frau an. Selbst die Stimme ihrer Mutter, die zwar versucht hatte, sie von der Operation abzuhalten, respektiert am Ende ihre Entscheidung. In dem folgenden Artikel bekräftigt sich die normalisierende Repräsentation dadurch, dass auch die Leserschaft zu ihrer Meinung befragt wird, wobei sich eine allgemeine positive Einschätzung der operativen Geschlechtsangleichung zeigt. Es werden vier Subjektpositionen repräsentiert: eine Gynäkologin, eine Kassiererin, eine Beamtin und eine Verkäuferin. Auf der Titelseite werden alle Subjektpositio-
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nen außer der Beamtin bildlich dargestellt, alle lächeln und erzeugen so eine positive Stimmung. Dies wird zusätzlich bekräftigt durch die Bildunterschriften, die eine kurze Zusammenfassung der jeweiligen Meinung zur Operation geben. Im Folgenden werde ich den Blick auf die in diesem Artikel repräsentierten Stimmen werfen und diskutieren, warum sie eine normalisierende Repräsentation darstellen (H, „Bülent Ersoy acı...“ 16.04.1981). Als Erstes wird die Meinung einer Kassiererin repräsentiert. Sie beschreibt die Weiblichkeit, die Ersoy mithilfe der operativen Geschlechtsangleichung erreicht hat, als „natürliches Recht“, das Ersoy „endlich“ gewonnen habe. Des Weiteren ist sie der Meinung, dass Ersoy nun so schnell wie möglich heiraten solle. Die Operation wird dadurch zu einem Vehikel der Integration in die Norm: Ersoy tritt mit der Operation nicht nur in den Bereich der anerkannten Weiblichkeit ein, sondern auch in den Bereich der Ehe, also in einen Bereich, der sehr stark mit Heteronormativität verbunden ist. In dem Artikel wird auch berichtet, dass Ersoys Londoner Fans „eine Menge Blumensträuße“ ins Krankenhaus geschickt haben und dass ein Fan aus Deutschland ihr gleich nach der Operation einen Heiratsantrag gemacht habe. Die Verkäuferin sieht die Operation als Heilung für Ersoys „gestörte Seite“ und verwendet das Wort „çarpık”, das man als „schief“ ins Deutsche übersetzen kann – „selbst die Leute, die sie mochten, verwiesen auf ihre schiefe Seite“. Das heißt, die Operation wird hier aufgefasst als Eingreifen in eine Situation, die „schief“ ist und folglich in Ordnung gebracht werden muss. Die Verkäuferin ist schließlich der Meinung, dass sich die Operation positiv auf Ersoys Karriere auswirken wird. Hier ist wiederum zu sehen, dass die projektive Integration (vgl. Engel, 2009) dadurch funktioniert, dass eine Form des Anderen, hier die transsexuelle Sängerin, die eine Operation durchführen lässt, in die Norm integriert wird und so Anerkennung erhält. Das Trans*-Subjekt hingegen, das keine medizinische Behandlung an sich vornehmen lässt, und der Homosexuelle, der mit Transsexuellen in Verbindung gebracht wird, stehen jedoch außerhalb der Ordnung und befinden sich weiterhin in einer als „schief“ empfundenen Situation. Zum Schluss merkt die Stimme der Gynäkologin an, dass die Operation deswegen eine „positive Entscheidung“ gewesen sei, weil Ersoys „Charakter“ und „Körper“ nun „zueinander passen“. Damit stehen alle Stimmen miteinander im Dialog und konstruieren die operative Geschlechtsangleichung als Lösung für eine Störung der Einheit von Charakter und Körper, die als „Schiefsein“ beschrieben wird. Diesbezüglich ermöglicht Ersoys Entscheidung es ihr, sich in die Heteronormativität zu integrieren, über das Recht auf Ehe zu verfügen sowie Anerkennung in der dominanzgesellschaftlichen Kultur zu finden (H, „Bülent Ersoy acı...“ 16.04.1981). Bis zur Verabschiedung des Gesetzes, das es Ersoy verbot, öffentlich aufzutreten, berichtete Hürriyet regelmäßig über den Verlauf ihrer Geschlechtsangleichung und stellte diese dabei wiederholt normalisierend dar. Von großer Bedeutung ist, dass auch in diesen Artikeln, ähnlich wie in den oben erwähnten Artikeln, eine Anerkennung ihrer Selbstdefinition zu sehen ist. Am 17. April 1981 erschien bei-
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spielsweise das erste Foto von Ersoy nach ihrer Operation, auf dem sie lächelnd gezeigt wird, und die Überschrift lautet: „Frau Bülent Ersoy ist zufrieden mit ihrem Leben“ (H, „Bayan Bülent Ersoy...“ 17.04.1981). Hürriyet behält diese Darstellung in den nächsten Tagen bei, indem Ersoy jeweils als „Frau Bülent Ersoy“ beschrieben wird. In einem folgenden Artikel wird deutlich, dass Ersoy ihre Weiblichkeit nun auch amtlich machen möchte. Hürriyet berichtet, dass das Krankenhaus ihr eine „Weiblichkeitsurkunde“ ausstellen wird (H, „Bülent Ersoy hastaneden...“ 18.04.1981). Hürriyets Interesse an Ersoys Operation war so groß, dass jeder Schritt der Operation einen Platz in der Berichterstattung fand: Hürriyet berichtete beispielsweise, dass die Fäden der Sängerin gezogen wurden (H, „Bülent Ersoy’un dikişleri...“ 19.04.1981); dass sie ihre ersten Schritte nach der Operation mit Champagner gefeiert habe (H, „Bayan Bülent Ersoy yürümesinin...“ 21.04.1981); dass sie hunderte von Heiratsanträgen aus der Türkei bekam (H, „Bayan Bülent Ersoy’a Türkiye’den...“ 22.04.1981); dass sie endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde (H, „Bülent Ersoy bugün...“ 23.04.1981). In diesen Texten wiederholen sich die gleichen diskursiven Strukturen, die ich bereits oben aufgezeigt habe: Repräsentation der Subjektpositionen, die Ersoys Geschlechtsangleichung unterstützen bzw. in die Norm integrieren, Anerkennung der Selbstdefinition sowie Repräsentation der traditionellen Institutionen, die sie als innerhalb der Norm befindlich darstellen. In einem Artikel, der über Ersoys Entlassung aus dem Krankenhaus berichtet, gipfelt die Normalisierung in einer bildlichen Darstellung von Ersoy, die den Koran, das heilige Buch des Islam, küsst. In dem Artikel wird auch darüber berichtet, dass sie endlich ihre Weiblichkeitsurkunde erhalten habe. Dadurch symbolisiert dieses Bild, das Hürriyet auf der Titelseite veröffentlichte, Dankbarkeit gegenüber Gott (H, „Bülent Ersoy kadınlık...“ 24.04.1981). Als Ersoy in Frankfurt zum ersten Mal nach der Operation auftrat, veröffentlichte Hürriyet diesmal Bilder von dem Konzert, auf denen Ersoy von ihren Fans freudig geküsst und umarmt wird. Der Text berichtet, dass Ersoy das Publikum gefragt habe, ob sie schön sei. „Tausende von“ Zuschauer_innen gaben die Antwort: „Du bist schön, sogar sehr schön!“ (H, „...Ve Bayan Ersoy...“ 25.05.1981). Danach stellte Ersoy die gleiche Frage erneut, diesmal ihren Fans, die auf ihre Ankunft am Flughafen in Istanbul warteten (H, „Bayan Bülent Ersoy Ablanızı...“ 05.06.1981). Wenn man die Berichterstattung über Bülent Ersoys operative Geschlechtsangleichung in ihrem zeitlichen Verlauf betrachtet, fällt auf, dass die Normalisierung immer wieder auf die dominanzgesellschaftliche Kultur sowie traditionelle Institutionen hinweist. Ersoy versichert sich ihrer Schönheit durch die wiederholt an das Publikum und ihre Fans gerichtete Frage, was ihren Wunsch nach Anerkennung ausdrückt. Hürriyet veröffentlicht Bilder, auf denen sich Ersoy inmitten von Subjektpositionen befindet, wie Krankenschwestern oder Fans, die sie umarmen und küssen, also ihr Anerkennung verleihen. In der Berichterstattung wird wiederholt
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erwähnt, dass Ersoy betet und Grüße an das „türkische Volk“ schickt, wodurch Ersoy nicht mehr als Gefahr für die Werte und Normen der Dominanzgesellschaft gesehen wird, sondern als Repräsentantin dieser Werte und Normen. All diese Texte von 1981 versuchen also, Ersoys Selbstdefinition und Selbstbestimmung mit Anlehnung an dominanzgesellschaftliche Institutionen sowie Subjektpositionen anzuerkennen. Kurz bevor diese normalisierende Repräsentation von einem Gesetz unterbrochen wurde, veröffentlichte Hürriyet einen Bericht über den Prozess, mit dem Ersoy die Änderung ihrer Geschlechtsangabe sowie ihres Namens auf ihrem Ausweis erkämpfen wollte. Der Text berichtet, dass das Krankenhaus in London die Operation als erforderlich für ihre geistige Gesundheit erachtet habe. Hier ist wiederum eine Verschränkung mit dem Repräsentationsmuster „Pathologisierung“ zu sehen, indem die pathologisierende Darstellung zu einem Anspruch auf Anerkennung wird. Laut dem Bericht geht Ersoy auch in der Türkei ins Krankenhaus, um eine Urkunde über ihre Weiblichkeit zu erhalten. Die Überschrift gibt bekannt, dass Ersoy nun auch juristisch zu einer Frau geworden sei (H, „Bülent Ersoy Mahkeme...“ 06.06.1981). Eine Woche später erschien ein Bericht über das Gesetz, das Ersoy verbot, öffentlich aufzutreten (H, „Bülent Ersoy’un sahneye...“ 12. 06. 1981). Wie ich in dem Kapitel über kriminalisierende Repräsentationen genauer aufgezeigt habe, unterbrach dieses Gesetz den Verlauf der Normalisierung, die in der Berichterstattung in Hürriyet 1981 in Gang gesetzt worden war. Die gleichen diskursiven Strukturen, die Ersoys Selbstdefinition als Frau anerkannten, hatten von dieser Zeit an die Funktion der Ablehnung. Wie ich in Kapitel 4.3.2. gezeigt habe, verlor Ersoy ihre Stimme in diesen Texten, und die Institutionen sowie Subjektpositionen, die bis zur Verabschiedung des Gesetzes Ersoys operative Geschlechtsangleichungen normalisierten, stellten sie plötzlich als Gefahr für die Werte und Normen der Dominanzgesellschaft dar. Die Normalisierung des Trans*-Subjekts in der Darstellung einer berühmten Persönlichkeit taucht ab den späten 1980er-Jahren wieder auf, als Ersoy im Januar 1988 wieder auftreten durfte (H, „Bülent Ersoy İzmire...“ 26.08.1988). Mit der Unterstützung von Turgut Özal konnte sie auch die Geschlechtsangabe auf ihrem Ausweis und Pass ändern lassen. Während des Prozesses sagte sie, dass sie „kein homosexueller Perverser“ sei, „sondern eine Frau“ (Toklucu 2014, 207). Als Dana International, eine israelische Sängerin, 1998 beim Eurovision Song Contest den ersten Preis gewann, merkte Hürriyet an, dass dies auch ein Sieg über „die orthodoxen Juden“ gewesen sei (H, „Travestinin zaferi“ 10.05.1998). Die „orthodoxen Juden“ und „Konservativen“ waren, laut Hürriyet, gegen Danas Auftritt, weil sie der Meinung waren, eine Person, „die mit einer Operation das andere Geschlecht bevorzugt“, schade „dem Image des Landes“ (H, „Travesti şakıcının İsrail...“ 08.05.1998). An dieser Stelle möchte ich den Fokus auf einen Artikel legen, der am 11. Mai 1998 erschien. Die in diesem Text hervorgehobene Figur
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unterscheidet sich grundsätzlich von den anderen Figuren aus demselben diachronen Schnitt, was den Text zu einem der Brüche im Verlauf des Diskurses macht. In den untersuchten Ausgaben von Bild wurde nur ein Bericht entdeckt, der das Trans*-Subjekt in Gestalt einer bekannten Person des öffentlichen Lebens normalisierend darstellt. Im Unterschied zu den Artikeln in Hürriyet dient hier die Männlichkeit als Norm, in die sich das Trans*-Subjekt integriert. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass nicht das Subjekt selbst den Wunsch äußert, sich in die Norm zu integrieren, sondern der Text einen solchen Wunsch konstruiert. Während die Berichte über Bülent Ersoy oder Dana International durch die Repräsentation ihrer Stimmen den Wunsch auf Anerkennung als Teil von Religion, Nationalismus oder dem internationalen Markt ausdrücken, steht die Stimme des Subjekts in dem Bild-Bericht im Gegensatz zum Konstrukt des Textes. In dem Bericht geht es um Christian Schenk, einen Politiker, der 2002 mit seiner Geschlechtsangleichung begann und 2007 seinen Namen rechtlich ändern ließ. FRAU Abgeordnete ist jetzt ein MANN! Er kam den Abgeordneten irgendwie bekannt vor, der freundliche grauhaarige Herr im gedeckten Sakko und Krawatte, der letzten Mittwoch im Bundestags-Innenausschuss als Sachverständiger zum „Transsexuellen-Gesetz“ auftrat ... Gestatten: Christian Schenk (54) – Physiker und Politiker aus Berlin. Im Bundestag kennen ihn viele Abgeordnete – allerdings unter seinem früheren Namen – CHRISTINA! [...] Im früheren Leben hielt Christina im Bundestag flammende Reden für die Rechte der Frau (Schenk: „Der Mann in meinem Körper feixte: Wenn ihr wüsstet ...!“), machte sich für die Rechte von Schwulen und Lesben stark – doch seitdem Christina ein Mann ist, sind Frauencafé und Lesbengruppe absolut tabu. In der Lesbenszene fand Christina Schenk eine neue Liebe („Es hat einfach bum gemacht“). Die neue Partnerin akzeptierte, dass aus ihrer lesbischen Liebe durch die Verwandlung von Christina in Christian eine ganz normale heterosexuelle Beziehung wurde. Doch die 43-jährige Lebensgefährtin des Politikers fragt sich oft: „Wird Christian irgendwann riechen wie ein Mann? Wird er sich benehmen wie ein ruppiger Kerl ...?“ Aber auch als Mann wird Christian Schenk offenbar kein Macho: Künftig wird er für die Frauenorganisation der PDS/Linkspartei in Berlin arbeiten. [...] (B, „FRAU Abgeordnete jetzt...“ 05.05.2007)
In dem Text wird der Eindruck erweckt, Schenk würde aufgrund der Geschlechtsangleichung sein politisches Engagement verändern. Männlichkeit wird hier als Gegensatz zu Feminismus sowie queerer Politik konstruiert und mit der sogenannten Macho-Kultur in Verbindung gebracht. Der Text repräsentiert dabei den Transmann als Subjekt, das sich in die Männlichkeit integrieren möchte. Mit der Integration geht in diesem Zusammenhang eine Abwehr des Feminismus einher, dadurch entsteht das Bild, dass Schenk mit seiner Transition möglicherweise dem Feminismus sowie der queeren Politik den Rücken gekehrt und sich in die Männlichkeit integriert habe. Wie am Schluss des Textes zu sehen ist, hat Schenk sein politisches
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Engagement jedoch nicht verändert. Wenn man den Text decodiert, fällt auf, dass sich Schenk nicht in die dominanzgesellschaftliche Vorstellung von Männlichkeit integrieren möchte. Dieser Wunsch entspricht nicht dem des Subjekts, sondern er wird in dem Text konstruiert. Die Stimme von Schenk, die in dem Text repräsentiert wird, steht also in Widerspruch zu dem von der Berichterstattung hervorgebrachten Konstrukt. Der Text beschreibt paradoxerweise die Räume sowie Politiken der Frauen einerseits als Tabu für Schenk, andererseits wird berichtet, dass er sich weiterhin für Frauenrechte politisch engagieren wird. Die Geschlechtsbezeichnungen – von der „FRAU“ zum „MANN“ – sind in dem Text in Großbuchstaben geschrieben. Dies erfüllt nicht nur die Funktion, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass Schenk eine Geschlechtsangleichung vollzogen hat, sondern auch, die Transition als „außergewöhnlich“ zu unterstreichen. Des Weiteren wird darauf hingedeutet, dass die Integration nicht nur in Richtung Männlichkeit erfolgte, sondern auch in die Heterosexualität bzw. heterosexuelle Beziehung.
ZWISCHENFAZIT Dieses Kapitel diskutierte die Trans*-Repräsentation und ihren Verlauf in der Berichterstattung beider Zeitungen. Dabei wurde festgestellt, dass das Material aus der Bild-Zeitung zu knapp ist, um einen synchronen Vergleich mit Hürriyet zu erlauben, und auch im diachronen Schnitt ließ sich daher keine Transformation des Diskurses erkennen. In Hürriyet wurde jedoch reichhaltiges Material entdeckt, was es ermöglichte, die Transformationen im Diskurs und Ähnlichkeiten, Unterschiede sowie Verschränkungen zwischen den Repräsentationsmustern ins Auge zu fassen. Nun möchte ich die in diesem Kapitel durchgeführte Analyse und ihre Ergebnisse zusammenfassen und dabei versuchen, einen Vergleich zu ziehen zwischen der Konstruktion der Trans*-Repräsentation und der Konstruktion der lesbischen Repräsentation, die eine zentrale Position in den untersuchten Ausgaben von Bild einnimmt. Wie die Analyse gezeigt hat, spielt die „Operation“ als Deutungsmuster in Bezug auf Trans* eine zentrale Rolle in der Repräsentation. Bezüglich des soziohistorischen Kontextes ändert sich jedoch die Deutung der „Operation“. In etlichen Diskursfragmenten konnte beispielsweise festgestellt werden, dass die Operation bzw. operative Geschlechtsangleichung als Heilung einer geistigen Störung dargestellt wird. Das Subjekt wird dabei, insbesondere in den Artikeln aus den 1970erJahren, zu einem Gegenstand des medizinischen Diskurses, in dem es über keine Stimme verfügt. Dies ändert sich jedoch grundsätzlich, als Bülent Ersoy, eine Trans-Sängerin, bekannt gab, dass sie kein Mann, sondern eine Frau sei, und darauffolgend ihre Transition durchführen ließ. In diesen Artikeln gewann das Trans*Subjekt ein Bild, einen Namen, sogar eine Stimme, was in der intertextuellen Struk-
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tur der Texte sichtbar wurde: Es war kein namenloser, stummer Gegenstand des medizinischen Diskurses mehr, sondern eine berühmte Persönlichkeit, die eine Selbstdefinition liefert, die sich sehr oft von der Definition des Textes unterscheidet. Diese Spannung zwischen der Selbstdefinition und der Definition des Textes ging mit einer pathologisierenden Repräsentation einher. Bis zu ihrer Operation im April 1981 wird Ersoy in der Berichterstattung wiederholt als „hysterische“, „aggressive“ Person gezeigt, deren Verhalten „außer Kontrolle geriet“, wie zum Beispiel, als sie im September 1980 eine Brust auf der Bühne entblößte. Von großer Bedeutung ist die Entdeckung, dass eine Normalisierung stattgefunden hatte, als Ersoy im April 1981 zusammen mit Hürriyet-Korrespondent_innen nach London fuhr: Das Konstrukt der Pathologisierung wird während der Operation zu einem Vehikel der Integration in die Norm. Sowohl in den Artikeln über ihre Operation in London als auch nach dem Auftrittsverbot verschränkt sich das Repräsentationsmuster „Pathologisierung des Trans*-Subjekts“ mit der „Normalisierung“, indem die Operation als eine notwendige Lösung für das Problem der seelischen Störung konstruiert wird. Einer der beiden Texte aus Bild deutet die „Operation“ in einer ähnlichen Weise als Heilung einer seelischen Störung, die sowohl zu einer Verwirrung in der Gesellschaft führt, als auch dazu, dass sich das Subjekt im eigenen Körper „fremd“ fühlt. Darüber hinaus konstruiert die Bild-Berichterstattung das Leben des Trans*Subjekts als „Doppelleben“, was wiederum auf ein Problem deutet, das mit der „Operation“ gelöst werden muss. Die pathologisierende Repräsentation in Hürriyet gewann dabei ab den späten 1980er-Jahren eine weitere Dimension, als AIDS auch in der Türkei bekannt wurde. In den Artikeln über Trans*-Sexarbeiter_innen wurde Trans* mit HIV/AIDS in Verbindung gebracht, und die Präsenz des Trans*Subjekts als Gefahr für die öffentliche Gesundheit dargestellt. Eines der zentralen Repräsentationsmuster war die „Kriminalisierung“, das insbesondere nach den Auftrittsverboten für Trans*-Sänger_innen und -Performer_innen im Jahre 1980 in Hürriyet erkennbar wird. Wie anhand des Materials gezeigt werden konnte, wurde das Trans*-Subjekt als Störung der Ordnung des öffentlichen Raumes dargestellt. Das Deutungsmuster „Raum“ bzw. „öffentlicher Raum“ spielt bei den kriminalisierenden Repräsentationen eine zentrale Rolle, da der Raum auf die Werte und Normen der türkischen Dominanzgesellschaft deutet. In diesem Zusammenhang konnte in der Berichterstattung über Ersoy eine Unterbrechung der Normalisierung festgestellt werden: Sie wurde nun als Störung der Werte des öffentlichen Raumes konstruiert. Diese Unterbrechung der Normalisierung wird in den Texten über Ersoy dadurch erkennbar, dass eine Rekontextualisierung der Stimme aufgebaut wird, die ihre Stimme verstummen lässt. Dadurch wird ausschließlich den Stimmen der juristischen, medizinischen sowie theologischen Subjektpositionen ein Raum eröffnet, die einstimmig Ersoys Selbstdefinition als Frau nicht anerkennen bzw. sie als einen homosexuellen Mann konstruieren. In diesen Artikeln überlappten nicht nur die symbolische Bedeutung der Genehmigung
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des Singens mit der Anerkennung als Frau, sondern es wurden auch die Begrifflichkeiten „Homosexualität“ und „Trans*“ gekoppelt. Diesbezüglich ist in den Texten bis in die 1990er-Jahre weiterhin eine Spannung zwischen der Selbstdefinition des Subjekts, dessen Definition durch den Text sowie durch die Dominanzgesellschaft zu sehen. Das Trans*-Subjekt, oft eine Transfrau, definiert sich als Frau, der Text hingegen konstruiert es als homosexuellen Mann. Dieses Konstrukt bzw. die Kopplung von Begrifflichkeiten führen, wie ich in den Artikeln im Detail dargelegt habe, zu zweierlei Kriminalisierung: Die Texte konstruieren das Subjekt als „homosexuellen Mann“ bzw. als „Mann in Frauenkleidern“, was darauf hindeutet, dass das Subjekt mit seinem Auftritt gegen das Gesetz aus dem Jahr 1981 verstoße, das „Männern in Frauenkleidern“ verbot, öffentlich aufzutreten. In weiteren Artikeln, die nicht von berühmten Trans-Sängerinnen wie Bülent Ersoy handeln, ist eine zweite Form der Kriminalisierung zu sehen, in der das Deutungsmuster „Sexarbeit“ erkennbar wird. In solchen Texten wird ein Zusammenhang zwischen Sexarbeit bzw. illegaler Sexarbeit und Homosexualität / Trans* hergestellt. Das Trans*-Subjekt, das Sexarbeit nachgeht, die außerhalb der registrierten Bordelle heimlich stattfindet, begeht eine Straftat gegen die „Ordnung des öffentlichen Raumes“, was somit gegen die Werte und Normen der türkischen Dominanzgesellschaft verstößt. Hürriyet berichtet dabei sowohl über die Transfrauen, die in die Großstädte, wie Istanbul, kommen, um dort Halt zu finden, als auch über die Vertreibung der Transfrauen aus Istanbul in ländliche Kleinstädte, die mit Tradition, Patriarchat und Transphobie konnotiert sind. In den Artikeln über die Trans*-Communities in Istanbul steht „die Stadt“ für die Möglichkeit einer Anerkennung bzw. Selbstdefinition. In solchen Texten zeigt Hürriyet, dass „der öffentliche Raum“ anders gestaltet wird, was ich mit Anlehnung an Halberstam (2005) als „queere Benutzung des öffentlichen Raumes“ beschrieben habe. Dies wird wiederum in der Berichterstattung mit dem „Verfall“ des öffentlichen Raumes konnotiert, insbesondere mit dem „Verfall“ einer Nachbarschaft, in der Trans* bzw. queere Communities wohnen und der Sexarbeit nachgehen. Hürriyet repräsentiert dabei sehr oft die Stimme der Bürger_innen, die die Vertreibung der Trans*-Community aus der Nachbarschaft fordern. Das Deutungsmuster „Sexarbeit“ ist auch in den Texten aus den 1990er-Jahren zu sehen. In dieser Zeit berichtet Hürriyet darüber, wie die Regierung versucht, die von Trans*-Personen ausgeübte Sexarbeit „unter Kontrolle“ zu halten. In etlichen Artikeln über Polizeirazzien wird das Trans*-Subjekt zu einer Ressource der Gewalt, die gegen die Polizei und gegen die Bürger_innen der Nachbarschaft gerichtet ist. Ab dieser Zeit lässt die Kopplung von Homosexualität und Trans*-Identität allmählich nach, und ein neuer Begriff, und zwar „travesti“, dominiert die Repräsentation. Das Deutungsmuster „Sexarbeit“ spielt nun eine große Rolle in der Repräsentation von „travesti“, die immer noch als Störung der Werte des öffentlichen Raumes codiert wird. In der Berichterstattung über HABITAT werden „travestis“
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zu kriminellen Gegenständen, die der internationalen Öffentlichkeit verheimlicht werden müssen. In Hürriyet wurde nur knappes Material über die Polizeirazzien in der Zeit während HABITAT entdeckt. Dies zeigt, dass der Diskurs in Hürriyet einen anderen Verlauf nimmt als derjenige der queeren Geschichtsschreibung, da die Razzien gegen die Trans*-Community in Istanbul als eines der wichtigsten Ereignisse in der queeren Geschichte der Türkei gesehen werden. Diese Abwesenheit der Ereignisse auf der Ebene des Diskurses in Hürriyet habe ich in Anlehnung an Butlers Konzept des „betrauernswerten Lebens“ (2000) diskutiert: Menschenrechtsverletzungen gegen die Trans*-Community verfügen über keinen ausreichenden Informationswert, um in der Berichterstattung von Hürriyet einen Platz zu finden, da die Gewalt gegen Trans* nicht als solche anerkannt wird. Das Bild des Trans*-Subjekts, das als kriminell konstruiert wird, ändert sich im zeitlichen Verlauf. Wie ich in der Analyse der bildlichen Darstellungen gezeigt habe, wurde die Darstellung der Trans*-Identität bis in die späten 1980er-Jahre mit „Schamgefühl“ konnotiert. Diese Darstellung ändert sich jedoch ab dieser Zeit, in der das Trans*-Subjekt sein Gesicht nicht mehr verbirgt. Parallel dazu wird auch ein weiteres Repräsentationsmuster, und zwar „Erotisierung des Trans*-Subjekts“, erkennbar, in dem die Transfrau nicht mehr mit Scham, sondern mit Stolz auf ihre Schönheit sichtbar wird. In solchen Texten wird der Fokus auf den Körper bzw. die Schönheit des Trans*-Subjekts bzw. der Transfrau gelegt. „Schönheit“ fällt jedoch in das Deutungsmuster „Täuschung“: In etlichen Texten deutet Hürriyet die Schönheit einer Transfrau als Täuschung. Parallel dazu erscheint die Integration in die dominanzgesellschaftliche Kultur. In solchen Texten wird die „Schönheit“ zu einem Vehikel für Anerkennung. Insbesondere in den Artikeln über Ersoy während ihrer Operation unterstreicht die Berichterstattung Ersoys Schönheit. „Schönheit“ wird zu einem Motiv für die Anerkennung in der Öffentlichkeit: Hürriyet wiederholt in etlichen Texten, wie das Publikum, die Menschen auf der Straße, die Ärzt_innen usw. Ersoys Schönheit bewundern. Diese Bewunderung mündet in ihre Anerkennung als Frau. Ein wichtiges Ergebnis der Analyse ist, dass die „Schönheit“ in den späten 1980er-Jahren, als sich die Trans*-Community zunehmend politisch engagierte, zu einer Ausblendung der politischen Forderungen führte. Obwohl die politischen Forderungen auf der Ebene des Diskurses anfangs noch einen Platz fanden, insbesondere der Hungerstreik von 1987 führte zu einer größeren Sichtbarkeit, wurden diese im Laufe der Zeit jedoch ausgeblendet, und der Fokus richtete sich auf den Körper der Transfrau. Zum Schluss wurden diejenigen Texte analysiert, die zu dem Repräsentationsmuster „Normalisierung“ verdichtet werden konnten. Dabei konnte festgestellt werden, dass das Trans*-Subjekt dann in die Norm integriert wird, wenn es sich von der Sexarbeit distanziert bzw. die Sexarbeit aus seiner Repräsentation beseitigt wird. Für die Normalisierung war das Trans*-Subjekt als eine aktivistischpolitische Figur von großer Bedeutung, da diese eine Transformation in der Reprä-
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sentation aufzeigte, die sich vom Bereich der Sexarbeit in den der Politik verlagerte. In diesem Zusammenhang habe ich die Berichterstattung über den Hungerstreik von 1987 diskutiert und festgestellt, dass diese Aktion in der Berichterstattung zwar einen Raum schuf für die politischen Forderungen, diese allerdings im Lauf der Zeit allmählich zum Verstummen gebracht wurden. Hürriyets Diskursposition in jener Zeit war zwiespältig. Einerseits erzeugte sie das Bild eines Trans*-Subjekts, das für seine Rechte kämpft, andererseits beschrieb sie dieses Bild als „amüsant“, wodurch die Forderungen nicht als politisch bzw. seriös genug eingestuft wurden. Dennoch habe ich diese Ambivalenz in Anlehnung an Gürbilek (1992) als eine Möglichkeit zur Schaffung eines Raums für den Gegendiskurs beschrieben, die durch die Spannung zwischen Disziplinierung und Normalisierung der 1980er-Jahre entstanden ist. Obwohl Hürriyet mit der Repräsentation der abwehrenden Stimmen von Expert_innen die Legitimität der politischen Forderungen der Trans*-Community infrage gestellt hatte, repräsentierte sie auch die Stimme der Trans*-Community und eröffnete damit einen Raum für den Gegendiskurs. Dieser Gegendiskurs, von Michael Warner (2002) auch als queere „Gegen-Öffentlichkeit“ bezeichnet, ist durch den Konflikt mit der Berichterstattung der dominanzgesellschaftlichen Medien entstanden. Dies spiegelt sich auch in der Spannung zwischen dem Gegendiskurs, der in den Texten in Hürriyet repräsentiert wird, und der Konstruktion des Textes wider. Ähnlich wie bei der Analyse der Repräsentation des lesbischen Subjekts bot Antke Engels Konzept der „projektiven Integration“ (2009) einen fruchtbaren Boden, auf dem die Frage entstehen konnte, weshalb einige Subjekte in die Norm integriert werden, während andere abgewehrt und als negativ dargestellt werden. Die Berichte über berühmte Persönlichkeiten gaben einige Antworten auf diese Frage, und insbesondere die Berichte über Ersoy zeigten, wie sehr die projektive Integration vom sozio-historischen Kontext des jeweiligen Textes abhängig ist. Wichtig war dabei die Erkenntnis, dass vor dem letzten Jahrzehnt des diachronen Schnittes eine projektive Integration bzw. Normalisierung stattgefunden hatte, die jedoch durch den einsetzenden Militarismus in der Türkei unterbrochen wurde. In diesen Artikeln aus dem Jahr 1981 wird die Repräsentation von Ersoy in die dominanzgesellschaftlichen Institutionen wie Religion, Nation und Familie integriert. Das heißt, Ersoy stellte keine Gefahr mehr für die Werte der Dominanzgesellschaft dar, im Gegenteil, ihre Anerkennung durch die Dominanzgesellschaft wurde wiederholt in den Vordergrund gerückt. Ersoy wurde dabei zu einer Figur, die die Werte und Normen der dominanzgesellschaftlichen Kultur respektierte. Ab den späten 1990er-Jahren änderten sich jedoch diese Werte und Normen, in die das Subjekt sich integriert. Etliche Artikel in Hürriyet lassen darauf schließen, dass der „neoliberale Markt“ die neue Norm formt. Insbesondere fällt diese Deutung in den Artikeln über Trans*-Sänger_innen wie Dana International auf, in denen das Subjekt dafür Anerkennung erhält, dass sich seine Werke „gut verkaufen“ und es „international bekannt“ ist. Bei der projektiven Integration des Subjekts, bei dem es
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sich nicht um eine berühmte Persönlichkeit handelt, erfolgte eine Normalisierung dadurch, dass es von der Assoziation mit Sexarbeit befreit wurde. Die „Erfolgsgeschichte“ dominierte dabei solche Berichte als zentrales Motiv. Die Transfrau, die es „geschafft“ habe, keiner Sexarbeit nachzugehen, wurde als erfolgreich beschrieben, und sie wurde innerhalb von dominanzgesellschaftlichen Institutionen gezeigt, die ihr Anerkennung gaben. Das Material enthält hauptsächlich Texte über Transfrauen. Nur zwei Berichte aus den 2000er-Jahren konnten entdeckt werden, in denen von einem Transmann die Rede war. Beide konnten zu dem Repräsentationsmuster „Normalisierung des Trans*-Subjekts“ verdichtet werden. Einer dieser Berichte stammt aus Hürriyet, der andere aus Bild. In dem Artikel in Hürriyet war wiederum das Motiv der Erfolgsgeschichte erkennbar. Die Integration fand darin in Richtung der neuen Gesellschaft, der neuen Nation statt, da eine Emigration aus der Türkei nach Großbritannien thematisiert wurde. Der Artikel in Bild integrierte den Transmann dagegen in die dominante Vorstellung der Männlichkeit, die als Widerspruch zum Feminismus konstruiert wurde.
Die mediale Konstruktion von Schwulen
DIE SKANDALISIERENDE REPRÄSENTATION VON SCHWULEN In den beiden untersuchten Medien lassen sich einige Texte zu einer Repräsentation verdichten, die das Schwulsein als Geheimnis konstruiert, dessen Entdeckung als empörend, verwirrend und beschämend für das Subjekt selbst, aber viel mehr noch für die Dominanzgesellschaft dargestellt wird. In solchen Texten findet die Offenbarung der schwulen Subjektivität ohne die Zustimmung des Subjekts statt. Es erfolgt also keine Selbstdefinition des Subjekts wie in den normalisierenden Repräsentationen. Als typisches Beispiel für solche Repräsentationen gilt die Festnahme des britischen Sängers George Michael beim Cruising1 in einer öffentlichen Toilette. Sowohl in Hürriyet als auch in Bild wurde in der damaligen Berichterstattung das Deutungsmuster „Scham“ erkennbar, das die Enthüllung von George Michaels „Geheimnis“ als schädlich für seinen Ruf konstruierte. Dennoch taucht das Deutungsmuster „Enthüllung des Geheimnisses“ schon vor den Artikeln über Outings prominenter Persönlichkeiten in den untersuchten Ausgaben der Bild-Zeitung auf: und zwar in Geschichten über die Sexualität nichtprominenter Personen. Obwohl die Entdeckung von deren Sexualität keinen großen medialen Skandal herbeiführt, wie bei George Michael 1998 oder bei Tarkan 2001, weisen die Texte auf ähnliche Narrationen bzw. Repräsentationen hin. Wie ich im Folgenden konkretisieren werde, wiederholt sich in diesen Texten eine Narration, bei der die „Enthüllung des Geheimnisses“, also das Bekanntwerden des Schwulseins, beim heterosexuellen Subjekt bzw. der heterosexuellen Frau Verwirrung und Panik auslöst. Von großer Bedeutung ist hierbei, dass die schwule Subjektivität in solchen Texten zum Gegenstand einer Diskussion wird, die ohne Präsenz des schwulen Mannes geführt wird. Der Fokus liegt jedoch nicht auf dem schwulen
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„Cruising“ steht im Kontext schwuler Sexualität für die mobile Suche nach einem Sexualpartner.
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Subjekt, sondern auf dem „Schock“ der heterosexuellen Frau sowie auf ihrer Auseinandersetzung mit dem Schock. Zum Einstieg möchte ich am Beispiel des folgenden Textes von 1972, der in der Serie Liebe Lisse! erschien – einer Beratungsserie, in der von Leser_innen geschickte Fragen diskutiert werden – , zeigen, wie das schwule Subjekt im Diskurs Verwirrung und Panik angesichts der heterosexuellen Subjektivität auslöst. „Mein Mann hat sich in einen jungen Mann verliebt“ LIEBE LISSE: Wir sind seit zwei Jahren verheiratet und haben bisher eine gute Ehe geführt. Aber gestern hat mir mein Mann gestanden, daß er sich verliebt hat. Ich hatte den Schock noch gar nicht überwunden, als er mir in Tränen noch etwas gestand: Er hat sich in einen jungen Mann verliebt. Was kann man da tun? MARGRET LIEBE MARGRET: Sich in Freundschaft trennen. (B, „Mein Mann hat...“ 05.04.1972)
In dem Text verkörpert der schwule Mann die Position des Gegenstands des Gesprächs, das ohne seine Anwesenheit geführt wird. Die Subjektivität des Mannes führt zu einem „Schock“ bzw. zu einem Problem, das seine Ehefrau ratlos macht. Dieser Schock bildet den Fokus des Textes, und bei dem Versuch, eine Lösung zu finden, wird der Mann einfach nach außerhalb der Repräsentation verschoben. Beachtenswert ist auch die Struktur der Narration, die sich in weiteren Texten in Bild wiederholt. In dieser Struktur wird häufig von einer glücklichen Ehe berichtet, die durch die Enthüllung des Geheimnisses, des Schwulseins, entweder zerstört wird oder in eine Krise gerät. Dabei wird der Schock auf zwei Ebenen erlebt: Zunächst ist die Ehefrau schockiert zunächst aufgrund der Tatsache, dass sich der Mann in eine andere Person verliebt hat, und danach, weil es sich bei dieser Person um einen Mann handelt. In gleicher Weise ist die schwule Subjektivität eines Ehemanns in einem Artikel von 1979 zwar ein Grund für Panik und Verwirrung, doch kein Grund für eine Ehescheidung, was am Schluss des Textes als Befreiung gedeutet wird. Es handelt sich um einen Artikel aus der Serie Wilde und andere Ehen, in dem von der Beziehung zwischen zwei Männern und einer Frau berichtet wird. Es handelt sich dabei um das Ehepaar Marion und Gustav Treuchter, das seit drei Jahren mit einem Mann namens Gérard zusammenwohnt. Die Struktur der Narration, die zur Skandalisierung des Schwulseins führt, weist auch hier auf die Ähnlichkeiten. Zunächst wird die glückliche Ehe geschildert: Marion Treuchter erzählt, dass sie nie etwas von den „homosexuellen Neigungen“ ihres Ehemanns geahnt habe. Gustav war nämlich „immer gut im Bett, ein besonders zärtlicher Liebhaber...“ Typisch für die BildBerichterstattung wirft der Text auch einen interessierten Blick auf das Sexualleben des Ehepaars, indem berichtet wird, dass Gustav „überhaupt nichts ‚Weichliches und Weibliches‘ an sich“ habe, „dreimal in der Woche“ mit Marion Treuchter schlafe und dass es in den ersten vier Ehejahren „praktisch täglich dazu gekommen“ sei. „Er war einfach ein idealer Ehemann“, weil er nicht nur gut im Bett war, sondern auch hilfreich bei der Hausarbeit, liebevoll zu den Kindern und freundlich zu
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Marion Treuchter. Nach der Schilderung der glücklichen Ehe kommt der Text zur „Enthüllung des Geheimnisses“, indem berichtet wird, wie Marion Treuchter herausgefunden habe, dass ihr Ehemann eine Affäre mit einem Mann hatte. Der Text stellt die Frage: „Wie verhält sich eine Ehefrau, wenn sie mit ‚so etwas‘ konfrontiert wird?“ und berichtet davon, dass sich Marion Treuchter damit zunächst nicht auseinandersetzen konnte und darüber hinaus das Haus verlassen habe. Nach einiger Zeit kam Marion Treuchter jedoch zurück und akzeptierte die neue Beziehung ihres Ehemanns. Eine ähnliche Verwirrung, Panik bzw. Skandalisierung ist auch am Anfang des Textes erkennbar, als berichtet wird, dass die Nachbar_innen seit drei Jahren über das Ehepaar tratschen. Laut Bild denken diese nämlich, dass Gustav seiner Ehefrau „ganz offiziell einen Liebhaber“ erlaube. Damit wird die erste Stufe des Schocks, des Skandals in der Nachbarschaft aufgebaut. Dann kommt die zweite Stufe: „Wenn sie wüßten, was in der Ehe der Trauchters wirklich los ist, würden sie Schreikrämpfe kriegen“ (B, „Zwei Männer die...“ 31.07.1979). Eine weitere Ähnlichkeit mit den vorherigen Texten besteht neben diesem zweistufigen Aufbau darin, dass das schwule Subjekt in dem Text keine Stimme hat und seine Subjektivität zum Gegenstand einer Diskussion bzw. Auseinandersetzung unter Heterosexuellen wird. Die Geschichte wird mit der Stimme einer heterosexuellen Frau erzählt, sodass der Fokus auf deren Auseinandersetzung mit der schwulen Subjektivität gelegt wird anstatt auf die Subjektivität des schwulen Mannes selbst. Mit Blick auf die Berichte aus den 1970er-Jahren, die zu dem Repräsentationsmuster „Skandalisierung der schwulen Repräsentation“ verdichtet wurden, kann festgestellt werden, dass die Skandalisierung immer durch die Wiedergabe der Geschichte aus der Sicht der Heterosexuellen konstruiert wird. Die heterosexuelle Frau ist in solchen Texten sehr verliebt in einen Mann, der „heimlich“ schwul ist. Die Enthüllung dieses Geheimnisses führt zu einer Enttäuschung sowie zu Verwirrung und Panik, was das Gerüst des Textes bildet. Bild erzählt jedoch jeweils die Weiterentwicklung der Geschichte nach der Enthüllung des Geheimnisses. Damit entsteht, ähnlich wie in den Repräsentationen von Lesben, ein heterosexueller Kontext, der einerseits das queere Subjekt zurück in die Heteronormativität verschiebt und andererseits die Frau in der Geschichte erotisierend darstellt. Im Beispiel von Wilde und andere Ehen zeigt sich diese erotisierende Repräsentation dadurch, dass berichtet wird, Marion Treuchter habe, nachdem sie die Beziehung zwischen ihrem Ehemann und Gérard akzeptiert habe, nicht nur weiter mit ihrem Ehemann, sondern auch mit anderen Männern geschlafen. Bild deutet ebenfalls die Möglichkeit einer sexuellen Beziehung zwischen Marion und Gérard an. Diese besondere Aufmerksamkeit für die Sexualität der Frau führt zur Erotisierung der Frau bzw. zur Erotisierung ihrer Sexualität mit anderen Männern, während die Sexualität der schwulen Männer nicht repräsentiert wird. Am Beispiel des folgenden Textauszugs möchte ich diesen heterosexuellen Kontext, der den Fokus von der Homoerotik auf die Erotisierung der Frau verschiebt, konkretisieren.
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Beide Männer sind sehr lieb zu ihr, und Gérard kümmert sich aufopfernd um die drei Kinder, die jetzt 11, 8 und 2 Jahre alt sind. „Ich habe praktisch zwei Männer, und das Leben ist sogar irgendwie leichter geworden: Den Haushalt besorgt Gérard inzwischen allein, er ist die geborene Hausfrau!“ „Ich kann jetzt allein in Urlaub fahren und mit anderen Männern schlafen, die zwei erwarten das direkt von mir, und ich erlebe auch dauernd so etwas, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen...“ Sie fliegt auf die Bahamas und nach Hawaii, es ist genug Geld da, und die Kinder lassen sich derweil von Gérard verwöhnen, den sie vorläufig für einen Freund halten, der bei ihnen wohnt. Gérard arbeitet hauptberuflich jetzt im Haushalt, sorgt sich um Gustavs Wohlergehen – aber mit Marion schlafen, das tut er nicht. „Das lehnt er ab!“ sagt Marion lachend. Wenn wie bedenken, wieviel stille Tragödien sich in früheren Jahrhunderten abgespielt haben, weil ein Ehemann sich zu seinem eigenen Geschlecht hingezogen fühlte – dann leisten Gustav, Marion und Gérard mit ihrer offenen Ehe zu dritt Pionierarbeit. Ob es allerdings ewig gut geht? (B, „Zwei Männer die...“ 31.07.1979)
Der in diesem Abschnitt sichtbare heterosexuelle Kontext verschiebt nicht nur den Fokus von nicht-heterosexueller Subjektivität auf die heterosexuelle Subjektivität, er bildet auch eine Narration, in der die nicht-heterosexuelle Subjektivität deshalb sichtbar bzw. lesbar wird, weil sie das konstruierende Andere für die heterosexuelle Subjektivität verkörpert. Wie auch hier zu sehen ist, liefert der Text einige Details über die Sexualität der heterosexuellen Frau, während die der schwulen Männer einfach ausgeblendet ist. Dies wird dadurch gewährleistet, dass nicht das schwule Subjekt, sondern das heterosexuelle Subjekt zum Sprechen kommt. Marions Stimme deutet auf eine Befreiung hin, die ihr durch die Beziehung zwischen Gustav und Gérard ermöglicht wurde. Die schwule Beziehung führt also nicht mehr zu Panik und verursacht kein Problem mehr, stattdessen befreit sie die Frau vom Haushalt, von der Kindererziehung sowie der Monogamie, indem die schwulen Männer die Rolle der Frau übernehmen. Dies wird in dem Text, mit einem vergleichenden Blick auf die Vergangenheit, als sozialer Fortschritt dargestellt. Artikelserien wie Wilde und andere Ehen sowie Liebe am Netz erzählen meist Geschichten über die Sexualität einfacher Leuten. Insbesondere in den 1970erJahren ist das Interesse an Sexualität zu spüren, wobei versucht wird, die Grenzen der konservativen Vorstellung von Sexualität infrage zu stellen. Dabei ermöglichen Geschichten wie die von Marion, Gustav und Gérard eine Auseinandersetzung mit der konservativen Vorstellung von Ehe und Sexualität, die jedoch ausschließlich unter Heterosexuellen stattfindet. Ich bin der Meinung, dass diese Berichterstattung die besondere Aufmerksamkeit auf Sexualität, die die westdeutsche Kultur ab den späten 1960er-Jahren geprägt hat, widerspiegelt. Dagmar Herzog schreibt in ihrem Buch Sex after Fascism (2005), dass ab den späten 1960er-Jahren die Sexualität, insbesondere die der Frau, sowie der Körper der Frau eine zentrale Position in der populären Kultur
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einnahmen. Vor allem handelte sich dabei um einen Angriff auf die konservativen Werte in Bezug auf Sexualität, was auch in der Berichterstattung der Massenpresse zu spüren war. Themen wie „Gruppensex“ oder „Untreue“ wurden nicht nur in der rechten politischen Presse wie Bild verhandelt, sondern auch in linken politischen Zeitschriften für ein jüngeres Publikum wie konkret, was zeigt, wie stark sich die „Sexwelle“ auf die westdeutsche Kultur auswirkte (Herzog 2005, 143). Die skandalisierende Repräsentation gewann eine weitere Dimension, als ab den 1980er-Jahren Berichte über die Homosexualität prominenter Persönlichkeiten erschienen. In solchen Texten, in denen die Medien die schwule Subjektivität prominenter Persönlichkeiten als „Skandal“ enthüllten, war nun nicht mehr die heterosexuelle Frau empört bzw. verwirrt aufgrund der Enthüllung des Geheimnisses des schwulen Mannes, sondern die Masse. Die ersten skandalisierenden Repräsentationen von prominenten Personen in den untersuchten Medien stammen aus dem Jahr 1982. Es handelte sich um Berichte über männliche Abgeordnete sowie Angestellte des amerikanischen Kongresses, die beschuldigt wurden, Sex mit jungen Praktikanten gehabt zu haben. Hürriyet schrieb von einem „Sex-Skandal“ (H, „Kongrede seks skandalına...“ 03.07.1982) und thematisierte die mögliche Homosexualität mancher Abgeordneter (H, „Amerikan kongresinde skandal“ 02.07.1982). Ein typisches Beispiel für die Skandalisierung der schwulen Subjektivität prominenter Persönlichkeiten ist insbesondere die in beiden Zeitungen auftauchende Berichterstattung über George Michaels Festnahme 1998 beim Cruising in einer öffentlichen Toilette in Los Angeles. Sowohl in den Texten in Hürriyet als auch in Bild spielte das Deutungsmuster „Scham“ hierbei eine zentrale Rolle. Während in Bild die „Scham“ mit der Beschädigung des Images eines Weltstars einherging, legte Hürriyet den Fokus auf die Scham, und zwar aufgrund der Beschädigung der nationalen Identität. In beiden Repräsentationen bedeutete „Sex in der Öffentlichkeit“ einen Skandal und führte zu Empörung, da dieses Verhalten nicht zu dem Bild, das George Michael repräsentieren sollte, passte. Am 9. April 1998 gab Bild bekannt, dass George Michael beim „Sex im Park“ „ertappt“ worden sei (B, „Sex im Park – George...“ 09.04.1998), und fragte am 11. April, was einen „Weltstar“ zum Sex in einer Parktoilette treiben könnte. Es wurden auch Bilder von der Toilette veröffentlicht, die als „Tat-Örtchen“ bezeichnet wurde, an dem George Michael Sex hatte. Diese Toilette sei, laut dem Bericht, George Michael zum „peinlichen Verhängnis“ geworden. Im Folgenden ist ein Auszug aus dem Text zu sehen, der einerseits auf eine skandalisierende Repräsentation deutet, andererseits George Michaels Tat „Scham“ zuschreibt. Ein Mann, ein Park, ein Klo. Popsänger George Michael (34, „I Want Your Sex“) und die Nummer im Park. Was treibt einen Weltstar dazu, in einer öffentlichen Toilette die Hosen runterzulassen?
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Mein Gott, George! Geschehen ist es im kalifornischen Beverly Hills. Ein Polizist hatte den homosexuellen Plattenkönig (210 Mio. Mark reich) am Tat-„Örtchen“ bei einer „Handlung“ beobachtet, die in den USA wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses unter Strafe steht. Nicht zum erstenmal. Ein Fotograf besitzt Bilder, die George Michael zeigen. Aufgenommen an einem schwülen Abend im letzten Sommer, als er zehnmal verschiedene Toiletten des Parks besucht hatte. Jeweils mit einem anderen Mann. Ob er dieses Mal allein war (sagt die Polizei) – oder ob mit einem Strich-Jungen (andere Quellen) – egal. Peinlich ist es so oder so. Mein Gott, George! Sein Bedürfnis nach schnellem Sex ist zwar menschlich – aber mußte es gerade im Park sein? Noch dazu, wo er eine Villa ganz in der Nähe besitzt? Und wenn er’s schon nicht mehr nach Hause schafft, hätte er nicht ins nächste Hotel gehen können? Der Popstar schweigt [...] (B, „Was treibt einen...“ 11.04.1998)
Die öffentliche Toilette wird hier als ein Raum konstruiert, in dem der sexuelle Akt als unpassend für eine prominente, reiche Person gesehen wird. Die öffentliche Toilette wird nicht nur aufgrund der möglichen Rufschädigung negativ konnotiert, sondern auch deswegen, weil sie als ein Raum konstruiert wird, dessen (queere bzw. sexuelle) Benutzung in Widerspruch steht zu der Subjektivität einer wohlhabenden Person wie George Michael, der ein „210 Mio. reicher Plattenkönig“ sei und in einer „Villa“ wohne. Was als schädlich gesehen wird, ist also eher der Raum als die Tat. Der Text unterstreicht nämlich, dass schneller Sex, den man auch als Anspielung auf Promiskuität lesen kann, menschlich sei, solange er nicht in der Öffentlichkeit ausgeübt wird. Der Skandal wird also ausgelöst, da George Michael die Ordnung von Räumlichkeiten bricht. Warner weist darauf hin, dass Heteronormativität den sexuellen Akt als etwas Intimes, Privates konstruiert, das nicht in der Öffentlichkeit, sondern in geschlossenen Räumen geschehen soll (Warner 2002, 195). Mit seinem Akt bricht also George Michael die heteronormative Vorstellung von Sexualität. Darüber hinaus wird von ihm erwartet, dass er sich nun schämen soll. In dem Text wird durch Wiederholung des fettgedruckten Satzes „Mein Gott, George!“ die Stimmung von Scham erzeugt. Diese Stimmung wird noch bekräftigt durch die Angabe, dass George Michael schweige. Ähnlich wie in den früheren skandalisierenden Repräsentationen hat also das Subjekt auch hier keine Stimme bzw. wird seine Subjektivität ohne seine Präsenz zum Gegenstand einer Diskussion. Während die Entdeckung des Geheimnisses in den Texten aus den 1970er-Jahren Panik bzw. Verwirrung in der heterosexuellen Welt auslöste, verursacht sie nun ein Schamgefühl im Subjekt selbst, worauf ich in den folgenden Texten zurückkommen werde. Das enthüllte Geheimnis ist auf den ersten Blick nicht mehr die schwule Subjektivität, sondern eine Tat, die in dem Konstrukt des Textes in Widerspruch zu der Position steht, die das Subjekt in der Gesellschaft einnimmt. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass nicht nur die Tat als „beschämend“ für das Subjekt gesehen wird, sondern auch die Subjektivität selbst. Für eine derartige Lesart hat „die öffentliche Toilette“ eine zentrale
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Bedeutung. Sie verweist nämlich auf eine bestimmte Art von schwuler Subjektivität, die mit Promiskuität, schnellem und schmutzigem Sex sowie mit HIV/AIDS in Verbindung gebracht wird. Die Toilette mag zwar ein ungeeigneter Raum für die heteronormative Sexualität sein, sie ist aber dennoch ein Raum für Cruising, also für promiskuitiven Sex unter Männern. Was dabei enthüllt wird, ist bei diesem Beispiel nicht George Michaels „zufälliger“ Sex mit seinem Partner, sondern seine Teilnahme am Cruising auf einer öffentlichen Toilette. Dabei ist in dem Text der Absatz bedeutend, in dem angegeben wird, dass Michael mehrmals von anderen Leuten beim Crusing gesehen wurde. Er führt also eine Handlung aus, die nicht betreffend für die dominanzgesellschaftliche Kultur ist, aber als ein Teil der queeren bzw. schwulen Subkultur gesehen werden kann. Man kann den Sex in der Öffentlichkeit bzw. auf einer öffentlichen Toilette in Anlehnung an José Esteban Muñoz als eine queere Handlung verstehen, die auf eine andere Art von Sexualität hinweist, als es der heteronormativen Vorstellung entspricht. Muñoz zufolge gewann „die öffentliche Toilette“ zusätzlich zu ihren negativen Konnotationen nach der HIV/AIDS-Krise eine weitere Dimension von Stigmatisierung. Nach der HIV/AIDS-Krise waren öffentliche Toiletten nicht nur Räume für schnellen, promiskuitiven bzw. „perversen“ Sex unter Männern, sondern auch Räume, in denen sich HIV verbreitete. Viele Toiletten in den Vereinigten Staaten, in denen sich Männer zum Cruising trafen, wurden in dieser Zeit geschlossen, was eine Maßnahme gegen die Verbreitung der Krankheit bezeichnet wurde (Muñoz 2009, 40). Somit wird „die öffentliche Toilette“ aus mehreren Gründen als schmutziger Raum gedeutet, von dem sich ein prominenter Schwuler distanzieren sollte. In diesem Zusammenhang wird nicht das Schwulsein an sich entdeckt, sondern das Schwulsein, das sich außerhalb der Grenzen der dominanzgesellschaftlichen Kultur positioniert. Diese Position wird in dem Text als unpassend und auch als „beschämend“ für George Michael gekennzeichnet. Auch Hürriyet repräsentierte Michaels Festnahme als „beschämend“. Was in dem Text als „beschämend“ dargestellt wurde, war jedoch nicht die Auswahl der Räumlichkeit, sondern das Schwulsein an sich. Während in Bild eine Art Unterscheidung zwischen schwulen sexuellen Akten in der Öffentlichkeit und in der Privatsphäre getroffen wird, ist in Hürriyet keine derartige Ordnung der Räumlichkeiten bezüglich der Sexualität zu sehen. Der türkische Text verortet „den Sex in der öffentlichen Toilette“ nicht in einem Kontext von Cruising, also von schwuler Subkultur. Zwar kommt „die öffentliche Toilette“ in dem Bericht vor, es wird jedoch eher so dargestellt, als habe sich Michael zufälligerweise in diesem Raum befunden; somit hat „die öffentliche Toilette“ in dem türkischen Text keine derart starken Konnotationen wie in Bild. Was die beiden Berichterstattungen ähnlich macht, ist das Deutungsmuster „Schande“, das jedoch in Hürriyet anders begründet wird als in Bild.
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Nachdem der englische Sänger griechischer Abstammung George Michael auf der Toilette in einem Park in Los Angeles einem Mann, der sich als Polizist entpuppte, Sex anbot, wurde er angeklagt und brachte die Griechen somit in Verlegenheit. Viele griechische Zeitungen ignorierten das unangemessene Verhalten, bei dem der berühmte Sänger, richtiger Name Yorgos Panayiotu aus Limasoll, erwischt wurde. Die Zeitungen, die darüber berichteten, sprachen von dem 34-Jährigen George Michael als englischem Sänger und verschwiegen seine griechische Herkunft. Auch die griechischen Fernsehanstalten gaben dieser Nachricht keinen Platz. Die griechischen Zyprioten, die dem Sänger mit Stolz erfüllt beim MTV-Award 1996 zusahen, wo er als bester männliche Künstler eine Auszeichnung bekam, hatten ihn (damals) zum Nationalhelden Südzyperns ernannt und in den Medien seine griechische Herkunft besonders hervorgehoben. (H, „George Michael Rumları…“ 11.04.1998)
Die schwule Subjektivität wird in dem Text als etwas Widersprüchliches konstruiert, das sich gegen die nationale Identität bzw. Herkunft richtet. Dabei wird eine Stimmung der „Schande“ dadurch erzeugt, dass ein diachroner Vergleich gezogen wird. Wir erfahren durch diesen Vergleich, dass Michaels Erfolg ein Jahr zuvor auch als Erfolg des griechischen Volkes gesehen wurde. Nun berichtet die griechische Presse jedoch kaum mehr über ihn, und er wird auch nicht mehr als ein der Nation Zugehöriger dargestellt. Im Gegensatz zu dem Bericht in Bild hat seine Tat in der öffentlichen Toilette keine starke Konnotation mit Cruising. Der Text verweist auf keine wiederholte Tat, daher auch auf keinen subkulturellen Kontext. Die Tat wird eher als etwas Zufälliges konstruiert. In einem weiteren Text in Hürriyet wird die Deutung „Subkultur“ erkennbar, weil davon berichtet wird, dass es George Michael verboten wurde, „den Park, wo Homosexuelle sich treffen“, zu betreten. Laut dem Bericht müsse er eine Therapie erhalten (H, „George Michael’a tedavi...“ 15.05.1998). Parallel zur Skandalisierung seiner Tat erfolgt in den folgenden Tagen auch eine Pathologisierung.
DIE PATHOLOGISIERUNG VON SCHWULEN In diesem Kapitel werden zwei Repräsentationen betrachtet, die im diachronen Schnitt wiederholt auftreten. Zunächst wird die Repräsentation des schwulen Mannes als „Perverser“ betrachtet, die ausschließlich in dem Material aus Hürriyet zu sehen ist. Wie ich im Folgenden genauer darlegen werde, wird der „Perverse“ in den Texten aus Hürriyet mit sexueller Abweichung sowie Homosexualität und Pädophilie verbunden. Die Repräsentation des schwulen Mannes als Perverser führt dazu, dass Homosexualität als Störung des Moralempfindes konstruiert wird. Interessant ist hier zu beobachten, dass in den abwertenden Repräsentationen des „Perversen“ eine journalistische Neugier für normabweichende Sexualität erkennbar ist. Wie ich im Folgenden darlegen werde, haben insbesondere die Texte, in denen der Okzident als ein Ort für jegliche Art von Perversität konstruiert wird, einen hybri-
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den Charakter: Einerseits deutet der Perverse auf das abwertende Andere, von dem sich die türkische Gesellschaft distanzieren solle, andererseits auf eine Figur einer sexuellen Fantasie, die, genau aufgrund dieser Deutung als Fantasie, unrealisierbar für die türkische Gesellschaft sei, aber in der Darstellung von Perversen dennoch den Wunsch mit ausdrücke, sie zu realisieren bzw. zu normalisieren. Eine ähnliche hybride Repräsentation findet sich im zentralen Diskursstrang „HIV-AIDS“. Die Berichterstattung während der AIDS-Krise in den 1980er-Jahren stellte, wie ich im zweiten Unterkapitel konkretisieren möchte, einen Zusammenhang zwischen AIDS und Homosexualität her. Ähnlich wie in den Texten über „Perverse“, in denen Homosexualität mit seelisch unmoralischem Verhalten in Verbindung gebracht wird, wird AIDS in diesen Texten als eine kausale Folge unmoralischen Verhaltens dargestellt. Sowohl in Bild als auch in Hürriyet wird diesbezüglich die Lebensweise des schwulen Mannes in den Vordergrund gerückt, die einem „tödlichen Zirkel“ ähnle. Dennoch eröffnen diese Texte, in denen das Leben der schwulen Männer einem tödlichen Zirkel ähnelt, Räume für Darstellungen von Intimität, subkulturellen Orten der Begegnung sowie von schwulen Stimmen, die den Wunsch nach Integration und Anerkennung widerspiegeln. Durch diese Entwicklung findet eine Transformation im diskursiven Verlauf statt: Die abwertenden Repräsentationen der AIDS-Krise führen paradoxerweise zur Normalisierung der Repräsentationen. Der schwule Mann als „Perverser“ In den untersuchten Ausgaben von Hürriyet aus dem Jahr 1969 sowie den frühen 1970er-Jahren taucht wiederholt ein türkischer Begriff auf, nämlich „cinsî sapık“, den man mit „sexuell Perverser“ ins Deutsche übersetzen kann; er verweist in dem damaligen Diskurs unter anderem auf Homosexualität, insbesondere auf den schwulen Mann. Die ersten Texte, die zu diesem Repräsentationsmuster verdichtet wurden, berichten über das Ausland. Im November 1969 erschien der folgende Artikel über eine Erotikmesse in Dänemark. Perverse und Sadisten wurden auf der Messe nicht vergessen Es ist möglich, sich stundenlang auf der Sex-Messe 69 aufzuhalten. Dies ist abhängig von Ihrem Gefühl und Ihrer Begeisterung. Die farbigen Filme, die in den Kabinen gezeigt werden, lassen den Menschen seltsame Dinge denken. Mit Parolen wie „Freie Liebe“ dachten die Organisatoren dieser Messe auch an die Perversen, die zwar ein Bestandteil dieser Gemeinschaft – jedoch eher heimlich aktiv sind. Daher wurde Filmen dieser Art viel Raum geboten. Homosexuelle Die Messe Sex -69 hat manche bislang heimliche Realitäten ins Licht geholt. Viele der Sexfilme, die auf der Messe gezeigt wurden, thematisierten Homosexualität.
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He and He Das, was man im Westen „He and He“ nennt, also wenn ein Mann mit einem Mann Sex hat, dieses perverse Verhalten, hat verständlicherweise einen Zustand der extremen Verbreitung erreicht. Die Tolerierung des freien Sexes, die in Dänemark durch Gesetzesänderungen erreicht wurde, diente diesem Typus von Menschen. Dieser Typ von Perversen hat private Gemeinschaften und Clubs gegründet, in denen nur sie wie gehabt weitermachen können. In diese Klubs werden Fremde nicht reingelassen. Sie haben untereinander Sex, in ihrem Privatleben und im Arbeitsleben begünstigen sie einander. Unter ihnen sind auch welche, die eine normale Ehe führen und trotzdem Mitglied in diesem Club sind. Sie haben in Kopenhagen bestimmte Tanzlokale. Das Tanzlokal Eltoro-Negre, das genau dem Parlament gegenüber liegt, ist einer der berühmtesten Clubs für Homosexuelle. Hier können Homosexuelle tanzen und sich amüsieren. Mindestalter für den Eintritt in diesen Club ist 18 Jahre. Nach Aussagen der Interessierten steigt die Zahl der Homosexuellen aufgrund der Akzeptanz des verbrecherischen sexuellen Missbrauchs an Kindern. Wenn ein Kind vergewaltigt wird, ist der Perverse, der diese Straftat begann, aus rechtlicher Sicht freigesprochen, sofern die Mutter und der Vater keine Anzeige erstatten. Die Staatsanwaltschaft kann kein Verfahren eröffnen. (H, “Fuarda cinsi sapıklar...” 02.11.69)
Der Text hat die Funktion, eine Definition von Homosexualität zu liefern. Dabei verweist diese auf etwas in der Gesellschaft bzw. in der türkischen Gesellschaft Unbekanntes. Es sei ein Phänomen, das sich ähnlich wie eine Krankheit in der westlichen Welt verbreite. Als Grund für die Verbreitung der Homosexualität werden gesellschaftliche Freiheiten angeführt, insbesondere die sexuelle Freiheit. Darüber hinaus wird auch auf die neuen Gesetze hingewiesen, die es laut dem Bericht schwulen Männern ermöglichten, eine geschlossene Community zu gründen, die sich jedoch im Zentrum der Gesellschaft heimlich verbreite. Zum Schluss wird das gesamte Bild des homosexuellen Mannes mit Pädophilie in Verbindung gebracht, und auch die Entstehung der schwulen Community wird als eine Folge der Pädophilie-Gesetze gesehen. Neben der Repräsentation des schwulen Mannes als Perverser ist in dem Artikel auch eine Stimmung der Bewunderung dieser sexuellen Freiheiten zu spüren. Im weiteren, oben nicht zitierten Verlauf berichtet der Artikel detailliert, wie nackte Frauen im Rahmen der Messe Musik gemacht haben. Ebenfalls wird berichtet von Lesben und Sadisten, die, laut dem Bericht, ihren eigenen Stand auf der Messe hatten. Die Lesben zeigten, so der Bericht, an ihrem Stand lesbische Pornofilme, die die Aufmerksamkeit der Besucher_innen erregt hätten. Obwohl der Artikel all dies als eine seelische Störung sowie unmoralisches Verhalten definiert, liefert er aufgrund des besonderen Fokus auf einzelne Details eine erotisierende Darstellung der sexuellen Freiheiten in der westlichen Welt. Tatsächlich wird in einem weiteren Text Dänemark als „Sex-Paradies“ beschrieben. In diesem Text, der einen Monat später erschien, wird über Kanada berichtet, ein Land, das einen Schritt weiter sei als Dänemark, „das Sex-Paradies“ (H, „Kanada seks cenneti...“ 17.12.1969). In einem kurzen Bericht von 1996 taucht die Repräsentation des schwulen Mannes als Perverser erneut auf. Der Bericht ist von großer Bedeutung, da er den
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schwulen Mann als Opfer einer Mordtat zeigt. Die Mordtat wird jedoch aufgrund seiner Perversität gerechtfertigt. Fahrer ist Opfer einer perversen Beziehung Es ist offensichtlich, dass der in seiner Wohnung mit Messerstichen ermordete 48jährige Mustafa Benli Opfer einer perversen Beziehung ist. Die in dem Mordfall ermittelnde Polizei hat in der Mordnacht den 17- jährigen S.H. festgenommen. Mit ihm war der Fahrer, der in einem Unternehmen arbeitete 48-jährige Mustafa Benli. S.H. gestand bei der ersten Vernehmung, „Mustafa und ich haben uns auf der Straße kennengelernt. Danach sind wir in seine Wohnung. Plötzlich hat er die Tür abgeschlossen und ist auf mich los. Um mich zu schützen, habe ich eine Flasche auf seinen Kopf geschlagen. Als er nicht bewusstlos wurde, habe ich ihn mit dem Messer ermordet, das ich aus der Küche hatte. ” (H, „Şoför sapık ilişki...” 28.04.1996)
Etliche diskursive Strukturen des Berichts konstruieren die Mordtat als Selbstverteidigung. Zunächst wird der Mann als „Perverser“ bezeichnet, was hier, ähnlich wie in dem Text von 1969, sowohl auf Homosexualität als auch auf Pädophilie hindeutet. Die Angaben über das Alter des Täters bekräftigen diese Deutung. Parallel dazu stellt die Überschrift einen Zusammenhang zwischen Perversität und der Mordtat her. Gemäß diesem Konstrukt wurde der Mann ermordet, weil er ein Perverser war. Da dieser tot ist, gibt der Text nur die Stimme des Jungen wieder, der den Mann ermordet habe, und fasst das Ereignis als Selbstverteidigung auf. Obwohl der Textkorpus aus Hürriyet nicht genügend Material enthält, um die Deutungsmuster, die in diesem Text vorkommen, zu rekonstruieren, stellt die Sekundärliteratur einen Kontext her, der es ermöglicht, die Repräsentations- sowie Deutungsmuster dieses Textes zu decodieren. Sowohl in den späten 1990er-Jahren, aus denen dieser Text stammt, als auch in den 2000er-Jahren gibt es häufig Fälle von solcher Hasskriminalität gegen schwule Männer in der Türkei. Wie in den jährlichen Berichten, die von LSBTI*-Organisationen in der Türkei veröffentlicht werden, zu sehen ist, konstruiert der journalistische Diskurs den schwulen Mann, der zum Opfer eines Hassverbrechens geworden ist, als „Perversen“ und den Mörder als Opfer sexuellen Missbrauchs. Dabei bringen die Stimmen der Mörder wiederholt das gleiche Argument vor, das in den Texten auch unterstrichen wird: Selbstverteidigung (Kaos GL 2010, 7-13). Der Grund, weshalb dieses Argument wiederholt auftaucht, ist das türkische Strafrecht, das in solchen Fällen von Selbstverteidigung eine Strafmilderung vorsieht. Selbst bei Hassverbrechen bekommen die Täter eine Strafmilderung, falls der schwule Mann dem Täter Sex angeboten hat (ibid., 15). Repräsentationen im Diskursstrang „HIV/AIDS” Einen zentralen Diskursstrang für das Repräsentationsmuster „Pathologisierung“ bildet „HIV/AIDS“, also die AIDS-Krise, die in den beiden untersuchten Zeitungen
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insbesondere ab Mitte der 1980er-Jahre in Erscheinung tritt. Es gibt bereits einige Studien darüber, wie die Medien der untersuchten Länder das Virus und die Krankheit konstruiert haben. Eine dieser Studien zeigt, dass der journalistische Diskurs der westdeutschen Medien in den frühen 1980er-Jahren HIV/AIDS als eine Gefahr darstellte, die Schwule und insbesondere Schwule im Ausland bedrohte (Jones 1992, 367). Bei diesen ersten Repräsentationen ging es dabei oft um den Ausbruch von HIV/AIDS in Bezug zu Moral bzw. Werten der Heteronormativität. Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel erschien 1982 einer der ersten Berichte über HIV/AIDS. Wie Eberhard Hübner darlegt, brachte dieser Bericht das Virus nicht in Zusammenhang mit gesundheitlichen Fakten, sondern vielmehr mit gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber Schwulen. AIDS wurde hier als Folge einer sozialen Störung der Schwulen angesehen (Hübner 1987). Auch in der türkischen Presse wurde diese neue Krankheit als Folge einer sozialen Störung der Schwulen konstruiert, die jedoch zunächst die westliche Welt bedrohe. Murat Toklucu weist in seinem Buch über die Männlichkeitskonstruktion in der türkischen Populärkultur darauf hin, dass der journalistische Diskurs der 1980er-Jahre HIV/AIDS als eine Gefahr für Schwule konstruierte, von der „richtige“ Männer nicht betroffen waren (Toklucu 2014). Da es in den frühen 1980erJahren keine bekannten AIDS-Fälle in der Türkei gab, berichteten Zeitungen ausschließlich über AIDS-Fälle im Ausland. Mitte der 1980er-Jahre bestand jedoch in der Presse ein großes Interesse daran, die erste als HIV-positiv diagnostizierte Person in der Türkei zu finden. Hürriyet spielte dabei eine wichtige Rolle, weil ihr das gelang– und zwar ohne Erlaubnis der betreffenden Person (Yüzgün 1986, 382). Wie ich im Folgenden anhand des empirischen Materials aufzeigen möchte, konstruierte Hürriyet Murtaza Elgin, ihr zufolge der erste AIDS-Kranke in der Türkei, als einen schwulen Mann. Von großer Bedeutung ist hier, dass sich Elgin am Anfang nicht selbst als schwul bezeichnete. Er widersprach nicht nur der Behauptung, homosexuell zu sein, sondern auch der Behauptung, HIV-positiv bzw. AIDS-krank zu sein, und führte dabei seine Heterosexualität als Beweis dafür an, dass er nicht an AIDS leide (Toklucu 2004, 192). Hürriyet gab am 4. November 1985 auf der Titelseite bekannt, dass „das erste türkische Opfer von AIDS“ aus dem Prominentenkreis stamme. Elgin war tatsächlich mit vielen prominenten türkischen Sänger_innen befreundet, was zu einem großen medialen Interesse an dem Fall führte. Laut Hürriyet stellten die prominenten Personen, nachdem sie erfahren hatten, dass Elgin AIDS habe, die „schreckliche“ Frage, „wie er sich angesteckt“ habe. Die folgenden Fragmente verdeutlichen die Bedeutung dieser Frage in dem Text. Auf der anderen Seite wurde die grausame Frage thematisiert: „Durch wen hatte sich ‚M.‘ mit AIDS infiziert?“ Hat er eine Person oder mehrere angesteckt? Ungewiss ist: Wer die AIDS-Person, oder wer sind die AIDS-Personen?
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Während die Künstler, die dem AIDS-kranken M. nahestehen, nicht wussten, was sie tun sollten, und über diese Sache stritten, zog sich der unglückliche Kranke in die Wohnung eines Freundes zurück, in seine Schale. [...] Feminine Freunde... Auf der anderen Seite gaben die seltsamen Verhaltensweisen der engen Freunde von M. Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen, so die Bekannten: „Diese Freunde kamen in die Kanzlei, in der er gearbeitet hat. Sie saßen, unterhielten sich lange, machten Witze untereinander und amüsierten sich. Von Zeit zu Zeit trafen sie sich auch zu Hause und feierten. Er hatte viele feminine Freunde, aber er war nicht so ein Junkie.“ (H, „M Paniği“ 04.11.1985)
Auf den ersten Blick resultiert die Frage aus der Sorge bzw. der panischen Angst unter Künstler_innen sowie Sänger_innen aufgrund der Möglichkeit, Elgin könne sich bei einem von ihnen mit HIV angesteckt haben. In dem weiteren Text wird tatsächlich Ibrahim Tatlises, ein prominenter Sänger, der eine kurze Zeit mit Elgin zusammengearbeitet hatte, befragt, ob er Angst davor habe, von diesem infiziert worden zu sein. Aufgrund der Kopplung von „HIV/AIDS“ und „Homosexualität“, die ich in den folgenden Texten wieder aufgreifen werde, verweist diese Frage auf mögliche sexuelle Handlungen zwischen den beiden Männern, was jedoch von Tatlises bestritten wird. Die Frage gewinnt dadurch eine weitere Bedeutung, die in dem zweiten Diskursfragment unterstrichen wird. In diesem Teil des Textes wird eine Antwort auf die „schreckliche“ Frage gegeben. Durch die Schilderung der „femininen Freunde“ wird nahegelegt, dass sich Elgin bei seinen schwulen bzw. Trans*-Freund_innen mit dem Virus angesteckt habe. Dabei wird, ähnlich wie auch in den Texten aus Bild, „das fröhliche“ Leben eines schwulen Subjekts geschildert, das nun zu einem tragischen Ende komme. Diese Narration des schwulen Mannes, der ein fröhliches, sorgloses, hedonistisches Leben führt, spielt eine zentrale Rolle in der Berichterstattung beider Zeitungen über HIV/AIDS. In diesem Zusammenhang werfen die Texte den Blick zunächst auf etliche Details aus dem Leben des schwulen Mannes, die auf Hedonismus deuten, und schildern im Anschluss die Trauer, Scham und Reue des Mannes. Damit entsteht eine Lesart, die die Schuld für die Krankheit sowie für ihre Verbreitung in der Gesellschaft auf die Lebensweise des schwulen Mannes verschiebt. In demselben Bericht, in dem Elgin als erster AIDS-Kranker bekannt gemacht wird, wird diese Deutung eines hedonistischen Lebens, das tragisch zu Ende geht, durch eine Bildunterschrift erkennbar. „Ich will leben“ In seinem Privatleben war ‚M.‘ sehr leidenschaftlich. Er begeisterte sich für das Nachtleben, war verliebt in das Tanzen, kleidete sich modisch, lebte schnell. Hatte einen großen Bekanntenkreis. Mit vielen Künstlern teilte er Speis und Trank. ‚M.‘ zog sich in die Abgeschiedenheit zurück. Seinen Nächsten, die ihn anrufen, antwortet am Ende der Leitung eine zittrige Stimme: „Ich habe Angst. Ich möchte nicht sterben… Ich will leben…“ (H, „M Paniği“ 04.11.1985)
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Die Verschiebung der Schuld auf die Lebensweise der AIDS-Kranken wird in der nächsten Ausgabe deutlicher. In großen Buchstaben gibt Hürriyet auf der Titelseite bekannt, dass AIDS in Beyoğlu Angst ausgelöst habe, einem Istanbuler Stadtteil, in dem sich das Nachtleben sowie queere Communities konzentrieren: „AIDS-Schlag in Beyoğlu“, so lautet der Titel. Für „Schlag“ verwendet die Zeitung das türkische Wort für „Putsch“, also „darbe“. Damit wird das Bild erzeugt, dass AIDS in Beyoğlu nun die Macht übernommen habe, in einem Stadtteil, der von „Prostituierten“ und „homosexuellen Sängern“ geprägt sei, eine Bezeichnung, die man im soziohistorischen Kontext auch als „Trans*-Sänger_innen“ lesen kann. Der Text berichtet davon, dass „Homosexuelle“ in Beyoğlu nun nicht mehr auf Bühnen auftreten würden, dass sie sich zurückzögen und deprimiert seien. In gleicher Weise habe sich Elgin, so der Bericht, von Menschen zurückgezogen. In seiner Wohnung, „wo man früher Gelächter hörte und Freude erlebte“, gebe es nun „nur die Angst vor AIDS, die schreckliche Angst des Jahrhunderts“ (H, „Beyoğlu’na AIDS darbesi“ 05.11.1985). In der gleichen Ausgabe gibt es einen Bericht über den damaligen Ministerpräsidenten Turgut Özal, dessen Meinung über AIDS erfragt wird. Özal beschreibt die Krankheit als eine Folge unmoralischen Verhaltens, die jedoch nicht die türkische Gesellschaft, sondern den Westen betreffe. Dabei stellt er eine Verlinkung zwischen der Krankheit und der schwulen Subjektivität her. Özal berichtet, dass sich die Krankheit hauptsächlich unter „Homosexuellen“ verbreite und man dies als Lehre verstehen solle. In den Vereinigten Staaten sei die Angst größer, dadurch müsse man die Bedeutsamkeit der „normalen“ Familie respektieren (H, „Bir musibet bin...“ 05.11.1985). Die Verschiebung der Angst auf die westliche Welt mit der Begründung, dass die moralischen Werte der türkischen Gesellschaft die Individuen vor sexuellen Verhältnissen schützten, von denen ein besonderes AIDS-Risiko ausgehe, prägte den damaligen Diskurs. Nicht nur der Ministerpräsident, sondern auch das Gesundheitsministerium veröffentlichten Pressemitteilungen mit der Botschaft, dass es in der Türkei kein AIDS gebe (Toklucu 2014, 192). In diesem Zusammenhang war der Fall Elgin von großer Bedeutung, da er beweisen sollte, dass AIDS nun auch in der Türkei vorkam. Aus diesem Grund begann Hürriyet täglich über Elgin zu berichten, was dessen Leben sehr erschwerte. Am 5. November 1985 veröffentlichte Hürriyet ein aktuelles Foto von Elgin mit einer Bildunterschrift, die seine Stimme repräsentiert. Diese Bildunterschrift ist auch deswegen wichtig, weil Elgin sich nun als „homosexuell“ definiert. „Niemand akzeptiert mich“ Der mit AIDS infizierte Murtaza Elgin erfuhr aus unserer Zeitung von den Geschehnissen. Er floh barfuß mit seiner Frau aus seiner Wohnung in Moda zu seinen Freunden, die ihn seither in unterschiedlichen Wohnungen verstecken. Er sagte: „Ich bin kein Dieb, kein Betrüger und auch nicht zum Hängen verurteilt. Ich kann nicht unter Menschen gehen. Ich mag homosexuell sein. Doch wurde ich durch einen unglücklichen Zustand mit AIDS infiziert. Niemand
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akzeptiert mich. Ich bin so weit, dass ich mich jederzeit umzubringen kann.“ In der Wohnung in Dördüncü Levent Çiçek Sokak Nummer 26 traf das AIDS-Opfer unseren Reporter und sagte: „Der Arzt meinte, ich sei fit wie Rettich. 2 “ (H, „Beyoğlu’na AIDS darbesi“ 05.11.1985)
Dieses Fragment verdeutlicht einiges über die Beziehung zwischen der Zeitung (Diskurs) und Elgin (Subjekt), die am Ende zu einer Verletzung des Subjekts führt. In Anlehnung an Butlers (1998) Überlegungen zur Verletzbarkeit eines Diskurses gewinnt dieses Fragment in zweierlei Hinsicht an Bedeutung. Der Text informiert darüber, dass die Zeitung ohne Elgins Kenntnis von dessen Krankheit berichtet habe. Dem Bericht zufolge hatte Elgins Arzt die Information über dessen Erkrankung an die Zeitung weitergegeben, ihn selbst jedoch nicht über die Infektion informiert. Die Folgen dieser Beziehung zwischen „Arzt“, „Patient“ und „Journalist_in“ werden durch die repräsentierte Stimme von Elgin erkennbar. Elgin berichtet von einer sozialen Ausgrenzung, die viel schmerzhafter sei als die Krankheit selbst. Seine repräsentierte Stimme deutet auch darauf hin, dass er sich vor der Gesellschaft verbergen möchte: Er versteckt sich nämlich in den Wohnungen seiner Freund_innen. An dieser Stelle wird wiederum die gleiche Beziehung wiederholt, die das Subjekt verletzbar macht: Trotz der Angabe, dass sich Elgin verstecken möchte, wurde im Text seine Adresse veröffentlicht. Der Stadtteil, die Straße, sogar die Hausnummer erscheinen in dem Text, was man auch als Anzeige lesen kann. Das Gesundheitsministerium fasste tatsächlich am nächsten Tag den Beschluss, ihn in Quarantäne zu stecken. In den ersten Artikeln vermeidet es Hürriyet, Elgins Namen explizit weiterzugeben. Anstatt „Murtaza Elgin“ wurde nur der Buchstabe „M“ verwendet. Auf den ersten Bildern sind seine Augen von einem schwarzen Balken verdeckt (H, „M Paniği“ 04.11.1985). Da er jedoch aus der „prominenten Welt“ stammte und die Berichte viele Details über seine Persönlichkeit verrieten, war es am Ende doch deutlich, dass sich hinter „M“ Murtaza Elgin verbarg. Am folgenden Tag gab Hürriyet die eigentliche Identität von „M“ bekannt. Dennoch blieb die Bezeichnung „M“ in den Überschriften bestehen und wurde später noch häufig synonym für AIDS verwendet; so wählte die Zeitung anstatt „Panik vor AIDS“ die Überschrift „Panik vor M“, oder anstatt der Überschrift „AIDS-Diagnose“ titelte sie „MDiagnose“, was eine weitere verletzende Beziehung aufbaute. Murtaza Elgin bzw. „M“ wurde in diesen Artikeln zu einem Bild der AIDS-Epidemie. Die Berichte, die in den folgenden Tagen in der Zeitung erschienen, deuten in ähnlicher Weise auf die verletzende Beziehung hin, durch die Elgin schlicht zu einem Objekt gemacht wird, das über kein Recht auf seine Subjektivität mehr verfügt. Am 6. November erschien ein Bericht darüber, dass Elgins Arzt Prof. Dr. Hüseyin Sipahioğlu offiziell Anzeige beim Gesundheitsministerium erstattet habe,
2
Türkische Entsprechung der Redewendung „Fit wie ein Turnschuh“.
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um Elgin unter Quarantäne stellen zu lassen. Der Arzt war aufgrund „seiner zweijährigen Bemühungen, den ersten AIDS-Kranken zu finden“, mittlerweile berühmt geworden. (H, „M için tecrit...“ 06.11.1985). In der gleichen Ausgabe wird berichtet, dass Elgin nach einem erneuten Test abermals als HIV-positiv diagnostiziert worden sei. Er glaube jedoch nicht, dass er HIV-positiv sei. Deshalb wolle er nach Deutschland fahren, um sich dort noch einmal testen zu lassen. Da nun das türkische Gesundheitsministerium den Beschluss zu einer Quarantäne gefasst hatte, durfte er jedoch nicht mehr ausreisen. Hürriyet berichtet über Elgins Wunsch, nach Deutschland zu fahren, als „vergeblichen Versuch zu entkommen“ (H, „Ve Murtaza’nın ümitsiz...“ 06.11.1985). Dennoch gelang es ihm zumindest ein paar Tage, dem Staat zu entkommen. Hürriyet berichtet beispielsweise in den folgenden Tagen darüber, dass Elgin an seiner Adresse nicht angetroffen werden konnte. Sein Arzt warnte, dass diejenigen, die Elgin versteckten, auch von der AIDS-Gefahr bedroht seien (H, „M’yi saklayanlar AIDS...“ 07.11.1985). Erst nach drei Tagen konnte Elgin gefunden werden. Die Zeitung veröffentlichte Bilder von Elgin, der von der Polizei ins Krankenhaus gebracht wird, wo er unter Quarantäne gestellt wird. Das Krankenhaus wurde dabei dem Bericht zufolge desinfiziert, und den Raum, in dem sich Elgin befand, durften nur Ärzt_innen in „spezieller Kleidung“ betreten (H, „Murtaza tecritte“ 07.11.1985). Parallel zu der Geschichte, wie Elgin unter Quarantäne gestellt wurde, veröffentlichte Hürriyet eine Serie von Artikeln über die ersten AIDS-Kranken in der Türkei, die alle schwul waren. Am 7. November erschien ein Bericht über den Tod eines schwulen Mannes aus der Türkei, der jedoch in der Schweiz wohnte. Dem Bericht zufolge war er die erste türkische Person, die an AIDS starb. Auf der Titelseite veröffentlichte Hürriyet ein Porträtfoto, ein Bild von seinem Grab sowie ein Foto eines schweizerischen Dokuments. Angeblich steht in diesem „Achtung! Infektionskrankheit“. Mit der gleichen Aufschrift wurde dem Bericht zufolge seine Leiche versehen, die in die Türkei überführt wurde. Dabei war Hürriyets Interesse nicht nur, über den ersten AIDS-Toten, sondern auch über dessen Erbe zu berichten. Laut dem Bericht erbte „sein schwuler Freund“ 70 Millionen Lira von ihm. Nachdem der Freund ebenfalls an AIDS gestorben war, ging das Geld an eine schwul-lesbische Hilfsgruppe in Lausanne (H, „AIDSten acı haber“ 07.11.1985; H, „AIDSten ölen Türk...“ 08.11.1985; H, „200 Milyonluk miras...“ 09.11.1985). In der Berichterstattung über die ersten AIDS-Kranken fällt auf, dass 1985 eine neue schwule Figur im journalistischen Diskurs erscheint, nämlich diejenige einer Person, die aufgrund ihrer schwulen Subjektivität an AIDS erkrankt war bzw. starb. Während die ersten Berichte in Hürriyet die Angst vor AIDS in die westlichen Gesellschaften verschieben, die für sexuelle Freiheit und Homosexualität stünden, konstruieren die späteren Berichte über türkische Schwule die Krankheit als eine Gefahr, die hauptsächlich solche Personen bedrohe, die die Werte der türkischen Gesellschaft verachteten oder ein schlimmes Schicksal hätten.
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Die gleichen Deutungsmuster, die einen Zusammenhang zwischen AIDS und der schwulen Subjektivität aufbauen, sind auch in der Bild-Berichterstattung zu sehen. Der Verlauf des Diskurses weist auch hier auf Ähnlichkeiten. Während die ersten Berichte über HIV/AIDS die Gefahr als außerhalb der deutschen Gesellschaft liegend konstruierten, verschoben die folgenden Berichte die Schuld auf das Leben des schwulen Mannes bzw. auf die Promiskuität. Eine Narration über ein hedonistisches Leben, das auf eine Struktur eines „tödlichen Zirkels“ deutet, taucht wiederholt in der Berichterstattung auf, was ich im Folgenden konkretisieren möchte. In den untersuchten Ausgaben von Bild taucht HIV/AIDS zunächst als „Lustseuche“ auf, die wie eine moderne Pest erscheint, die zunächst die Gesellschaft in den Vereinigten Staaten bedrohte (B, „AIDS-Kranke wie...“ 16.06.1982). Als Beispiel lässt sich dabei ein Artikel von 1982 anführen, in dem Bild über die „panische Angst“ in Städten wie New York, San Francisco und Los Angeles berichtet. Um diese panische Angst zu schildern, wird angegeben, dass Richter und Geschworene Operationsmasken trugen, als eine AIDS-Kranke in New York vor Gericht stand. Im selben Artikel wird ebenfalls davon berichtet, dass sich in einer Klinik Pfleger_innen weigerten, einer HIV-positiven Person zu helfen, und ein 24-Jähriger von seinen Eltern auf die Straße gesetzt wurde, weil er sich mit HIV infiziert hatte. Bild schilderte also eine gesellschaftliche Angst, die sich auf unterschiedlichen Ebenen verbreitete. Was für eine Rolle dem schwulen Subjekt für diese Lage zugeschrieben wird, die einer sich rasant verbreitenden Katastrophe ähnelt, zeigt der erste Absatz des Textes, den ich im Folgenden genauer untersuchen möchte. AIDS wird wahrscheinlich durch Viren übertragen. Sie lösen eine meist tödliche Abwehrschwäche aus. Zuerst erkrankten nur Homosexuelle, die sich beim Sex ansteckten – inzwischen haben in den USA auch Frauen und Kinder AIDS, sogar eine Großmutter starb an der Seuche. Ein Heilmittel gibt’s nicht – deshalb die panische Angst. (B, „AIDS: Eltern werfen...“ 16.06.1982)
Wie in diesem Abschnitt deutlich wird, verkörpert AIDS eine Gefahr, die nun nicht mehr nur Schwule betrifft, sondern auch die Dominanzgesellschaft. Um das Ausmaß der Gefahr zu schildern, wird in dem Text die Angabe gemacht, dass Frauen, Kinder und „sogar“ Großmütter gefährdet seien. Diesbezüglich drängt sich die Leseart auf, dass die Gefahr erst dann als solche gedeutet wird, wenn sie die heterosexuelle Gesellschaft bedroht. Des Weiteren werden die Homosexuellen als diejenige Gruppe bezeichnet, in der die Krankheit ausbrach. Dies ermöglicht eine weitere Lesart, nach der dieser Text die Homosexuellen nicht nur als die erste Gruppe deutet, die von der Krankheit betroffen war, sondern auch als diejenige Gruppe, von der aus sich die Krankheit weiter in die Gesellschaft verbreitete. Laut Paul Pagin zeigt diese Art des irrationalen, hysterischen, übertriebenen Umgangs mit AIDS, der nicht nur in der Boulevardpresse, sondern auch im politischen, medizinischen sowie wissenschaftlichen Diskurs der damaligen Zeit herrschte, eine Verschiebung des Bedrohlichen auf ein Objekt, in diesem Fall auf die
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Gruppe der Schwulen, was einerseits aktives Handeln für die Mehrheitsgesellschaft, andererseits die Mobilisierung von Hass zulässt. Das heißt, die schwule Subjektivität, so Parin, und die ihr zugeschriebene Lebensweise (z.B. Promiskuität) werden zu einem Ersatzobjekt, wodurch der Gesellschaft ermöglicht wird, sich von ihren verdrängten Ängsten und Ohnmachtsgefühlen zu entlasten. In diesem Zusammenhang wird die Schuld an der Krankheit auf das Leben des schwulen Subjekts verschoben und so die Entlastung von heteronomativen Ängsten ermöglicht (Pagin 1987). Der Zusammenhang zwischen AIDS und der Lebensweise der schwulen Subjektivität, der in der Berichterstattung aufgebaut wird, wurde insbesondere nach dem Tod des US-amerikanischen Schauspielers Rock Hudson erkennbar. Mit seinem Sterben an den Folgen von AIDS geht im Diskurs der beiden Zeitungen die Repräsentation von Hudsons Homosexualität einher, was zu einer Überlappung bzw. einem Zusammenhang zwischen AIDS und Homosexualität führt. Darüber hinaus vermehrten sich auch die Berichte über AIDS in beiden Zeitungen. Bild berichtet am 3. Oktober 1985 auf der Titelseite, dass Hudson nach zweijährigem Kampf gegen „die schreckliche Seuche AIDS“ im Schlaf verstorben sei (B, „Aids! Rock Hudson...“ 03.10.1985). Von großer Bedeutung ist hier, dass der Artikel nicht nur von seinem Tod berichtet, sondern auch von seiner Beziehung mit Tom Clark. In dem Text wird beispielsweise sein letzter Tag geschildert, den er mit seinem Freund zusammen verbrachte. Dabei legt der Text den Fokus auf einige private Momente zwischen den beiden Männern, wie sie z.B. zusammen beteten oder wie Clark Hudsons Hand hielt, während dieser einschlief. Im Folgenden sind Abschnitte aus dem Text zu sehen, die ich deswegen diskutieren möchte, weil sie den diskursiven Zusammenhang zwischen AIDS und Homosexualität erhellen. Ein Arzt stellte den Tod des Filmstars fest. Liz Taylor weinte. „Rocky war so ein wertvoller Mensch. Es zerreißt mir das Herz, daß er gestorben ist.“ Sie hatte ihn vor kurzem besucht und ihm zärtlich die Wange geküßt – Angst vor Aids hatte sie nicht. Der Manager Tom Clark war seit vielen Jahren Rock Hudsons Lebensgefährte. Aber als der Star Aids bekam, bekam Clark einen Eifersuchtsanfall, packte die Koffer und flog nach New York. Vor zwei Monaten rief er nachts an und fragte: „Rock, brauchst Du mich?“ Er flog wieder nach Beverly Hills und pflegte Rock Hudson aufopferungsvoll. Clark wachte am Bett, wenn sein Freund hinter zugezogenen Gardinen 16 Stunden am Tag im Dämmerschlaf lag. Nur abends wurde er oft wach. Dann saßen sie gemeinsam vor dem Fernseher – bis der Todkranke wieder einschlief. Clark: „Ich habe dann seine Hand gehalten.“ Er bekannte sich öffentlich zu Aids Im Juli ließ er sich in Paris gegen AIDS behandeln. Die Öffentlichkeit war schockiert. Die Fans wußten nicht, daß der Frauenheld homosexuell war. Es gab heftige Diskussionen über Rock Hudsons Bekennermut. Sie führten vor allem dazu, daß AIDS auch ins Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit drang. [...]
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Seine homosexuelle Neigung war das bestgehütete Geheimnis in Hollywood. Er hat sogar geheiratet. Aber die Ehe mit der Sekretärin Phyllis Gates (1955 bis 58) blieb kinderlos. (B, „Rock Hudson: Letztes...“ 03.10.1985)
Entscheidend für die Kopplung von AIDS und Homosexualität sind hier die Rolle des Raumes, in dem Hudson im Sterbebett liegt, sowie die Angaben, die vor und nach der Schilderung dieses Raumes gemacht werden. Hudsons Zimmer verkörpert nämlich einen Raum, in dem nicht nur das Sterben an den Folgen von AIDS stattfindet, sondern auch Hudson die Nähe und Liebe zu seinem Freund, versteckt vor der Öffentlichkeit, erlebt. In diesem Zusammenhang wird „hinter zugezogenen Gardinen“ nicht nur das Sterben an AIDS, sondern auch die schwule Subjektivität verborgen. An mehreren Stellen in dem Text ist eine Nebeneinanderdarstellung von schwuler Subjektivität und AIDS zu sehen, die sich miteinander verweben. Zunächst wird die Information angegeben, dass Tom Clark, Hudsons Freund, einen Eifersuchtsanfall bekommen habe, als er herausfand, dass Hudson HIV-positiv war; denn „HIVpositiv sein“ weist an dieser Stelle des Textes auf promiskuitiven Sex mit Männern hin. Hudson hatte also nicht nur Sex mit seinem Freund, sondern auch mit anderen Männern. An einer zweiten Stelle wird aufgrund der Reihenfolge der Stimmen die Überlappung zwischen AIDS und Promiskuität mit Männern bekräftigt: Gleich nach der Schilderung eines intimen Moments (Clark hält Hudsons Hand, während dieser einschläft) kommt die Zwischenüberschrift, die auf die Handlung „sich öffentlich zu AIDS bekennen“ hinweist, was in der Tat das Coming-out als Schwuler konnotiert. Diese Konnotation zwischen „sich öffentlich zu AIDS bekennen“ und „sich öffentlich als homosexuell bekennen“ wird tatsächlich gleich nach der Überschrift bekräftigt, als die Erwähnung von AIDS und Homosexualität hintereinander so dargestellt werden, dass sie in dem Text synonym funktionieren. Diese Angaben kann man wie folgt zusammenfassen: Hudson wird wegen AIDS behandelt / die Öffentlichkeit ist schockiert / die Öffentlichkeit wusste nichts von seiner Homosexualität. Genau diese Nebeneinanderstellung führt zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Homosexualität und AIDS. Warum ist die Öffentlichkeit schockiert? Die Zwischenüberschrift gibt darauf die Antwort, dass sie deswegen schockiert ist, weil Hudson AIDS habe. Dennoch liefert der Absatz nach der Zwischenüberschrift eine andere Antwort: „Sie ist deswegen schockiert, weil er homosexuell ist.“ Dennoch führt die Überlappung der beiden Begrifflichkeiten beim Lesen des Textes zu keiner Störung. Wie ich im Folgenden zeigen werde, ruft nämlich die Bezeichnung „homosexueller Mann“ in den Artikeln über AIDS der damaligen Zeit das Deutungsmuster „ AIDS-infiziert“ auf. Des Weiteren wird in diesem Text deutlich, dass selbst der kleinste physische Kontakt (Küssen) mit einer Person, die AIDS hat, mit Todesgefahr konnotiert wird. Die gleiche Konstruktion ist in der türkischen Presse zu sehen. Nachdem Hürriyet 1985 bekannt gegeben hatte, dass Murtaza Elgin HIV-positiv war, berichtete Sabah,
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eine ebenfalls überregionale Boulevardzeitung, auf ihrer Titelseite, dass Mehmet Şehirli, ein Korrespondent der Zeitung, Elgin ohne Angst vor AIDS „heldenhaft“ begrüßt und ihm die Wange geküsst habe (Toklucu 2014, 193). Wie ich am Beispiel von anderen Texten konkretisieren werde, spielen auch die kleinsten Berührungen unter schwulen Männern eine besondere Rolle, um eine Atmosphäre panischer Angst in dem Text zu erzeugen. In dem Bericht, der am folgenden Tag in Bild erschien, zeigt sich ebenfalls die Angst vor physischem Kontakt, also vor einer Infizierung mit dem Virus. Der Text berichtet, dass die Leiche Hudsons eilig „in einen luftdichten Spezialsack“ verpackt wurde. Der Wagen, der Hudsons Leiche transportierte, „raste“, laut dem Bericht, „mit Vollgas zum Krematorium für Aids-Tote“. Die Überschrift spiegelt ebenfalls diese Panik wider: „Rock Hudson drei Stunden nach dem Tod verbrannt“ (B, „Rock Hudson drei...“ 04.10.1985). Die Deutung „Panik“ wiederholt sich in einem weiteren Bericht, in dem ebenfalls eine Überlappung von „AIDS“ und „Homosexualität“ besteht. Dabei handelt es sich um einen Bericht über Hudsons Promiskuität, die nun laut dem Bericht eine Panik unter den Männern ausgelöst habe, die Sex mit ihm hatten. Bild berichtet, dass Rock Hudson „mindestens 100 Jungs angesteckt“ habe. Laut dem Bericht hätten seine Freunde aus Hollywood eine „entsetzliche Befürchtung“, weil sich Hudson „bis zuletzt schöne junge Männer von den Boulevards und aus den Bars zu wilden Partys in sein Haus geholt“ und dabei seine „Krankheit“ verschwiegen habe. Nun wollten, so der Bericht, einige Männer, mit denen Hudson Sex hatte, „wenigstens seine Millionen“ (B, „Rock Hudson steckte...“ 21.10.1985). Abends ist er losgefahren in seinem babyblauen Cadillac, hat sich auf dem Santa-Monica Boulevard Partner für Partys in der Villa geholt. Bei Strömen von Whisky und Wasserballspielen suchte er sich einen nächsten Geliebten aus. Am schlimmsten trieb er es nach der tödlichen AIDS-Diagnose. Ein Freund: „Er griff sich junge Männer wie Konfetti.“ 100, 200, 500? Einer von ihnen, Tony (28) aus Michigan, hat dem Wochenblatt „Examiner“ gestanden: „Bei mir hat er sich AIDS geholt. Im Juli 1983 hat er mich mitgenommen in seine Villa, ich habe ihn infiziert, ich bitte ihn um Verzeihung.“ Tony ist kurz vor Hudson gestorben. (B, „Rock Hudson verschwieg...“ 21.10.1985)
Die Schilderung der Partys, die Hudson in seiner Villa veranstaltet haben soll, deutet nicht nur auf seinen Reichtum hin, sondern auch auf einen „tödlichen Zirkel“, der mit Hedonismus, Egoismus, Suche nach vorübergehender Liebe und insbesondere mit Risiko geformt wird. Die Deutung „tödlicher Zirkel“ ist nicht nur in diesem Text, sondern auch in etlichen Artikeln zu sehen, die wiederholt nicht nur das schwule Subjekt pathologisierend und stigmatisierend darstellen, sondern die gesamte schwule Subkultur mit Hedonismus und mit potenziellem Tod in Verbindung bringen. Hier wird der „tödliche Zirkel“ an zwei Stellen erkennbar: bei der Suche nach „schönen jungen Männern“ sowie beim „Verschweigen des HIVStatus“. Der Text liefert eine Narration, derzufolge Hudson immer wieder Männer für seine hedonistischen Partys aussuchte. Das Schweigen ist dabei das sich wie-
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derholende Element. Von großer Bedeutung ist, dass nicht nur Hudson seine Krankheit verschweigt, sondern auch die anderen Männer, die an den Partys teilnehmen. Das schwule Subjekt verkörpert in diesem Zusammenhang Hedonismus sowie Bösartigkeit. Es schätzt die Gesundheit und vor allem das Leben der anderen nicht und infiziert diese anderen mit dem Virus. Sein Interesse besteht lediglich darin, eine vorübergehende hedonistische Zeit zu genießen. Erwähnenswert ist auch die Struktur der Narration des Textes, die ebenfalls zu einem Muster in den Artikeln über schwule Männer wird. Gemäß dieser Struktur wird zunächst das fröhliche, hedonistische Leben des schwulen Mannes erzählt. Dann schließt der Text damit, dass sich der schwule Mann schämt, leidet und schließlich stirbt. Der tödliche Zirkel schließt sich also, indem der schwule Mann wegen seiner Promiskuität sterben muss. Gleich nach dem Tod von Rock Hudson startete Bild eine neue Artikelserie, in der nun von der panischen Angst vor HIV/AIDS in Deutschland berichtet wurde. In der letzten Ausgabe, die vor dem Start der Artikelserie erschien, berichtete Bild auf der Titelseite in großen Buchstaben von einer „neuen schrecklichen Warnung“, dass sich die „Todesviren“ auch in Deutschland überall verbreiteten. Bild sagte sogar voraus, dass sich an den Wochenenden jeweils 300 Deutsche anstecken und mindestens 30 davon später sterben würden (B, „Aids: Neue schreckliche...“ 26.10.1985). Der Artikel berichtete von einer neuen Studie, die bewiesen habe, dass die Viren bei Zimmertemperatur zehn Tage weiterleben könnten. Das bedeute, laut dem Arzt, der in dem Text zum Sprechen kommt, „dass überall dort, wo ein AidsKranker war, Erreger überleben können – bis ein anderer sich damit ansteckt“. Damit seien sogar Badeanstalten und öffentliche Verkehrsmittel nicht sicher (B, „Neue schreckliche Warnung“ 26.10.1982). Die Stigmatisierung der HIV-positiven Personen ging in der Berichterstattung mit einer Verschiebung der Schuld auf promiskuitive Menschen einher, als die Artikelserie Aids in Deutschland anfing zu erscheinen. Eine der im ersten Artikel der Serie repräsentierten Stimmen sagt, es sei verrückt, wie stark die Sexualität sei, „da gibt es keine Verantwortung mehr“. In gleicher Weise wie in dem Bericht über Rock Hudson wird auch hier auf einen tödlichen Zirkel gedeutet, der sich innerhalb der schwulen Community wiederhole. Einer der schwulen Männer, die für die Artikelserie interviewt wurden, sagt, dass die Lust die Angst übertreffe. Nachts sei diese „Lust, die stärker ist als Angst“, überall zu beobachten. „Tatsächlich, einmal im Monat bremst mich das Wissen über Aids“, sagt er. Er erzählt, dass er trotz dieses Wissens doch öfter in der schwulen Nachtszene unterwegs sei, wo er mitbekomme, wie sich die Schwulen gegenseitig infizierten. Es wird wiederum das Bild von schwuler Subjektivität konstruiert, die das Leben der anderen nicht schätzt: Neulich sah ich in München einen in der Kneipe, von dem ich wußte, er hat Aids. Ich sagte ihm: „He, du, an deiner Stelle würde ich ein bißchen vorsichtiger sein...“ Mit ihm war ein
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Junge, die küßten sich und ich dachte: Merk dir das Gesicht! (B, „Aids in Deutschland“ 28.10.1985)
Bild greift immer wieder auf die Narration von einem hedonistischen schwulen Mann zurück, der trotz der panischen Angst weiter promiskuitiven Sex mit Männern hat und so die Krankheit verbreitet. Dabei wird wiederholt „das wilde und fröhliche Leben der Homosexuellen“ geschildert. Die Texte legen den Fokus auf die Bars, Kneipen und Partys, um ein Bild von diesem „wilden Leben“ zu erzeugen. Dies sind die Orte, an denen die Männer „Körper an Körper“ tanzen, „Händchen halten“ und keine Angst vor AIDS haben. Wenn der Bild-Redakteur fragt: „Angst vor Aids?“, geben die Schwulen an diesen Orten entweder die Antwort: „Oh man, du langweilst“ oder: „Jetzt um halb drei? Keine! Morgen früh vielleicht“. Dabei deuten die Texte immer wieder auf den tödlichen Zirkel, der sich jede Nacht wiederhole. „Irgendwas läuft falsch. Sind sie alle Selbstmörder?“, fragt der BildArtikel. Um diesen tödlichen Zirkel zu unterbrechen, brauchen die schwulen Männer, so einer der AIDS-Experten, der nach seiner Meinung gefragt wird, sexuelle Abstinenz. „Das mag für einige Zeit sein, es kann aber ein ganzes Leben lang sein“ (B, „Aids-Tote? Wieviel...“ 01.11.1985). Bild bezeichnet sogar HIV-positive Männer, die trotzdem weiter Sex mit Männern haben, als „Aids-Mörder“. Diese seien Männer, die „unter uns“ sind und „den Tod bedenkenlos weitergeben“. Um diesen tödlichen Zirkel zu unterbrechen, müsse man ein Leben „ohne Liebe führen oder schuldig werden“, wie es in der Überschrift eines Textes lautet (B, „Ohne Liebe leben...“ 05.11.1985). Obwohl oft angegeben wird, dass auch Heterosexuelle mit HIV infiziert werden können, bleiben Homosexuelle die „Risikogruppe“, die nicht nur sich selbst in Gefahr bringt, sondern auch die heterosexuelle Gesellschaft. Dabei verschwinden sehr oft die Grenzen zwischen „homosexuell“ und „Aids“: An der Bar eine fröhliche Gruppe, Charles, der Chef, mixt einen exotischen Drink. Ein Schauspieler probiert als erster. Er will das Glas weiterreichen. Niemand nimmt es. Der Schauspieler, jeder weiß es, ist homosexuell. (B, „Aids in Deutschland“ 30.10.1985)
Wenn man den zeitlichen Verlauf der Berichterstattung in den 1980er-Jahren betrachtet, fällt auf, dass Bild durch die Repräsentation der Stimmen von Ärzt_innen und Sexualwissenschaftler_innen versucht, die Rolle der „Aufklärung“ zu übernehmen. In ähnlicher Weise übernimmt auch die Subjektposition „Reporter_in“/“Journalist_in“ diese Rolle. In den Interviews mit schwulen Männern, die entweder HIV-positiv sind oder sich in einer „Homo-Szene“ befinden, verschmelzen jedoch die Grenzen zwischen „Aufklärung“ und „Moral“, die von der Subjektposition „Reporter_in“ verkörpert werden. Als Beispiel sei ein Text aus der Artikelserie Aids in Deutschland (01.11.1985) genannt, in dem der „Reporter“ heimlich in die „Homo-Szene“ eintritt und Fragen wie „Angst vor Aids?“ stellt. Wie ich bereits zuvor erwähnt habe, bezeichnet er Schwule als „Selbstmörder“ (B, „Aids-Tote?
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Wieviel...“ 01.11.1985). In einem zwei Jahre später erschienenen Text verkörpert wieder eine Bild-Reporterin die heteronormative Moral. Dabei handelte es sich um ein Interview mit dem Schauspieler Marco Brendel, bei dem HIV diagnostiziert wurde. „Wie denken Sie heute über Ihr Sexualleben?“, fragte BILD-Reporterin Heidede Weidle ihren homosexuellen Interviewpartner, den Frankfurter Schauspieler Marco Brendel, 25. Er hat Aids im zweiten, guten Stadium, wo der Durchfall aufhört, das Fieber verschwindet, der Kranke ohne Nachtschweiß schlafen kann. „Ob ich es bereue, meinen Sie. Bitte nicht so eine Reportage“, sagt Brendel. Es dauerte einige Zeit, bis sich die Reporterin und der Aidskranke im Operncafe an der Alten Oper, wo sie sich verabredet haben, einigen können, daß Aids mit der freien, unbedenklichen Liebe anfängt und zu 70 Prozent mit dem Tod endet. „In der ersten Phase, wo es mir dreckig ging, habe ich natürlich gedacht: Mein Gott, das hättest du dir eigentlich sparen können... Aber dann sagst du: Was sparen? Wenn du dich betrunken ans Steuer setzt und einen Unfall verursachst, dann mußt du dir zu Recht Vorwürfe machen. Aber wir, wir haben es doch nicht gewußt.“ (B, „Wir haben es...“ 14.02.1987)
Parallel zu der Rolle als Vertreterin der heteronormativen Moral, die in dem Text von der Subjektposition „Reporterin“ ausgefüllt wird, ergibt sich eine Korrelation zwischen Scham und Tod. An mehreren Stellen wird eine Beziehung zwischen dem Schamgefühl und der gesundheitlichen Situation der AIDS-Kranken hergestellt. Bedeutsam für diese Korrelation ist hier, an welcher Stelle des Textes die gesundheitliche Situation von Brendel genannt wird: Und zwar wird sie beschrieben zwischen der Frage, was Brendel über sein Sexualleben denkt, und seiner Antwort, die die Deutung der Frage in den Vordergrund rückt und einen Widerspruch zu dieser Deutung darstellt. Ich bin der Meinung, dass dies als Gegenargumentation zu Brendels Standpunkt dient und die heteronormative Moral infrage stellt. Durch die Angaben Brendels zu seinem derzeitigen Gesundheitszustand erfährt man, dass er sich nun in einer guten Phase der Krankheit befinde. Anders als in der ersten Phase spüre man hier die Krankheit nicht mehr so stark. Die Sorgen um den Tod seien also beseitigt oder mindestens nicht mehr so stark wie zuvor. Brendel berichtet tatsächlich an anderen Stellen in dem Interview, sein Arzt habe ihm gesagt, dass er sehr gesund sei, dass die Krankheit vielleicht nicht so schnell ausbreche. Brendels Stimme deutet damit die Hoffnung an, dass man doch nicht an der Krankheit sterben müsse. Diese Hoffnung, dieses positive Denken, wird in dem Text als Grund gedeutet, weshalb man seine Kritik nicht ernst nehmen sollte. Er fühle sich gesund und stark, deswegen spüre er den Tod, der als Folge seines „Sexuallebens“ konstruiert wird, nicht, und dadurch, so lässt sich zwischen den Zeilen lesen, bereue und schäme er sich nicht für seine Promiskuität. Entscheidend für diese Lesart ist die Angabe, dass er die Reue sowie die Scham tatsächlich gefühlt habe, als es ihm gesundheitlich nicht gut ging. Er fühlte sich in dem Moment „dreckig“ und stellte seine Lebensform infrage. Es entsteht also dadurch eine Korrelation zwischen Tod
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und Scham, wie sie auch in den frühen Texten zu sehen war, die zunächst über das hedonistische Leben des schwulen Mannes und danach über seinen Tod berichteten. Diese Korrelation führt zu einem Konstrukt des schwulen Subjekts, das seine „hedonistische“ Lebensweise nicht infrage stellt bzw. erst dann bereut und sich schämt, wenn es ihm gesundheitlich nicht gut geht. Die Analyse des Materials aus der Bild-Zeitung zeigt, dass im zeitlichen Verlauf des Diskurses über AIDS eine schwule Figur entstanden ist, die einerseits wegen ihrer Lebensweise und Identität verantwortlich gemacht wird für die Krankheit und deren Verbreitung in der Gesellschaft und von der andererseits aufgrund dieser unterstellten Verantwortung Schuldgefühl sowie Scham erwartet wird. Der hier erkennbare dominanzgesellschaftliche Diskurs, der dem schwulen Subjekt Scham zuschreibt, ist im Zug der AIDS-Epoche zu einer konstitutiven Kraft für die schwule Subjektivität geworden. Damit ging eine Transformation des schwulen Gegendiskurses einher. Mit einer derartigen Erklärung des sozio-historischen Kontexts dieser Texte schließe ich mich Eve Kosofsky Sedgwicks Überlegungen zur Scham als wesentlichem Bestandteil schwuler Subjektivität an. Sedgwick schreibt, dass Scham und Subjektivität miteinander in einer zerstörenden und fundierenden Weise in Beziehung stünden. Dies erklärt sie am Beispiel der Kommunikation zwischen der Mutter bzw. der Bezugsperson und ihrem Säugling, die auf der Angst vor einem Abbruch dieser Kommunikation beruht. In Anlehnung an psychoanalytische Ansätze zeigt sie, dass bei der Entwicklung des Säuglings die Protoform von Scham, also „der gesenkte Blick“ und „der abgewinkelte Kopf“ der Bezugsperson, als Moment des Abbruchs der weitergeführten Kommunikation mit der Bezugsperson wahrgenommen werde. In diesem Moment erlebe der Säugling durch den Abbruch der Anerkennung Schamgefühl und Angst zugleich. Mit diesem Moment, der durch den „gesenkten Blick“ der Bezugsperson geprägt sei, trete auch, so Sedgwick, das Begehren des Säuglings nach einer Wiederherstellung der Beziehung zur Bezugsperson sowie Anerkennung in Erscheinung (vgl. Sedgwick 2003). Sedgwick stellt dabei die Frage, was dieses Schamgefühl für die Politiken der queeren Bewegung bedeutet. Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Fragen untersucht Deborah B. Gould (2009) die Transformation der Politiken der schwul-lesbischen Bewegung nach der AIDS-Epoche. Gould ist der Meinung, dass die Scham aufgrund der eigenen Identität und die in den 1980er-Jahren noch bestehende Angst vor sozialer Nichtanerkennung sowie sozialer Ablehnung aufgrund von AIDS zu einer Wandlung des Diskurses der schwul-lesbischen Bewegung in die Richtung der normalisierenden Politiken geführt habe. Statt Stolz war nun Schuld das Leitmotiv. Die Abwendung eines Diskurses, der für die sexuelle Freiheit plädierte, prägte die Politiken der schwulen und lesbischen Bewegung sowohl in den Vereinigten Staaten, wo AIDS zunächst ausgebrochen war, als auch in Deutschland. Mit dieser Transformation, die vom Diskurs über AIDS ausgelöst wurde, ging auch, so Rodger Streitmatter, eine gestiegene Anerkennung Homosexueller in den Massenmedien einher (Streitmatter 2009, 63). Anerkannt wurden dabei die „guten Schwulen“, die
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kein promiskuitives Leben führten und sich regelmäßig testen ließen (Jones 1992, 366). In diesem Konstrukt entstand zunächst aus Scham wegen der eigenen schwulen Subjektivität und danach aufgrund der eigenen Promiskuität eine neue Figur, die eine Integration in das Wertesystem der heterosexuellen Gesellschaft anstrebte. Insbesondere ein Text aus Bild, der die Stimme AIDS-kranker Menschen repräsentiert, markiert diese Entstehung der normalisierenden Repräsentation, die sich auf Scham und Reue zurückführen lässt. Richard G. (30) Drogist, München: „Ich bin homosexuell. Seit 15 Jahren lebe ich mit meinem Freund zusammen. 1984 habe ich Urlaub in Gambia, West-Afrika, gemacht. Da muß es passiert sein. Die Krankheit ist bis jetzt nicht ausgebrochen. Ich habe mich nur testen lassen, weil ich zu einer Risikogruppe gehöre. Als ich das Ergebnis erfuhr, habe ich drei Tage und drei Nächte geweint. Den Untersuchungsbefund legte ich meinem Chef, einem Apotheker, vor. Er entließ mich. Nur mein Freund, meine Eltern und Geschwister halten zu mir. Ich weiß heute: Treue ist das wichtigste im Leben. Ohne mein Gambia-Abenteuer wäre ich noch gesund.“ (B, „Aids: So haben...“ 16.02.1987)
Auf der Titelseite veröffentlichte Bild diesen Artikel, der die Geschichten von sieben Menschen, von „sieben schlimmen deutschen Schicksalen“, enthält. Die Texte sind jeweils mit einem Porträtbild der Person, deren Stimme in dem Text repräsentiert ist, veröffentlicht. Die Augen der drei Personen, darunter auch Richards, werden von einem schwarzen Balken verdeckt. Und ein Mann, der davon berichtet, dass er „vorübergehend homosexuelle Kontakte“ hatte und nun Angst davor hat, auch seine Freundin angesteckt zu haben, verbirgt sein Gesicht in den Händen. Womöglich weint er, was wiederum als Geste lesbar ist, die auf Reue sowie Scham deutet. Ähnlich wie Richard erzählen alle Personen von einem Moment, in dem sie ihr Leben zerstört haben. Die Texte deuten auf keine Hoffnung, auf keinen Ausweg aus der Situation, in der sie sich befinden. Sie dienen lediglich als Ratgeber für HIV-negative Menschen. Aufschlussreich ist, dass die porträtierte heterosexuelle Frau, die auf ihrer Reise nach Schweden mit HIV infiziert wurde, die Verwendung von Kondomen als Schutz vor HIV beschreibt, während Richard, das schwule Subjekt, die Treue als einzigen Schutz nennt.
DIE KRIMINALISIERUNG VON SCHWULEN Als der prominente Modedesigner Gianni Versace am 15. Juli 1997 ermordet wurde, geriet dies in die Schlagzeilen der beiden Zeitungen. Seine Ermordung ging mit der Repräsentation seiner Homosexualität einher, da kurz danach festgestellt wurde, dass der Täter ein schwuler Mann war. Der Mordanschlag fand tagsüber auf der Straße statt. Es war „ein rätselhafter Mordanschlag“ (B, „Modekönig Versace ermordet“ 16.07.1997), und es wurde auch spekuliert, ob die Mafia dahinter stand (B,
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„Versace Mörder schoß...“ 16.07.1997). Als zwei Tage später festgestellt wurde, dass der Täter schwul war, konzentrierte sich die Berichterstattung beider Zeitungen von nun an auf die Homosexualität beider Männer. In den Artikeln wurde der Täter nicht mehr als „Killer“ bezeichnet, sondern als „Schwulen-Killer“ sowie „Homo-Killer“, womit sowohl in Bild als auch in Hürriyet ein Zusammenhang zwischen der Mordtat und der schwulen Subjektivität hergestellt wurde. Die Berichte in Bild rekonstruierten dabei die Lebensgeschichte des Täters und führten zu einigen Spekulationen über die möglichen Hintergründe für den Mord, die in den Texten eigentlich als Bestandteile seiner schwulen Subjektivität aufgezeigt werden. FBI und Polizei Miami jagen den Serien-Killer Andrew Phillip Cunanan (27). Er tötet reiche Männer. Äußerst grausam. Mit Messer, Pistole, Hammer und Säge. Er hat vermutlich Aids. Die Morde – will er sich an seinen homosexuellen Opfern rächen, treibt ihn Geldgier? Das FBI: „Er hat nachweisbar bereits vier Männer umgebracht. Wir sind überzeugt, daß er auch Mr. Versace erschossen hat.“ (B, „Versace-Mord FBI...“ 17.07.1997)
Ähnlich wie in dem Repräsentationsmuster „Kriminalisierung der lesbischen Repräsentationen“ liefert die Berichterstattung einige Theorien darüber, weshalb der Mord geschah und legt dabei den Fokus auf die schwule Subjektivität. Dabei ist eine Verschränkung pathologisierender Repräsentationsmuster mit kriminalisierender Repräsentation festzustellen: AIDS wird als eines der möglichen Motive für den Mord konstruiert. Wie ich im letzten Kapitel aufgezeigt habe, konstruiert die Bild-Berichterstattung über HIV/AIDS das schwule Subjekt nicht nur als hedonistische, sondern auch als egozentrische Person, die das Leben anderer nicht schätzt, sogar bewusst andere Männer mit HIV infiziert. Dieses Bild des schwulen Mannes gewinnt hier eine weitere Dimension, die auf Rache sowie Wut aufgrund von AIDS deutet. Des Weiteren kommt Geldgier als Grund für den Mord ins Spiel. Bild liefert in der gleichen Ausgabe die Lebensgeschichte von „dem schönen Strichjungen“ Cunanan, der unter Mordverdacht stand. Der Text beginnt mit der Schilderung seiner Schönheit, was in der Narration der Bild-Berichterstattung eine Schlüsselrolle spielt. Um seine Schönheit zu schildern, wird Cunanan in dem Text als feminin konnotiert. Laut dem Artikel war er der teuerste Strichjunge, der „seine Augenwimpern in den schönsten Farben tuscht“. Seine „Liebhaber“ schwärmten „von dem rehbraunen Glanz seiner Haut“. „Er war begehrt wie eine Primadonna.“ Neben der Feminisierung seiner Schönheit weisen auch die Angaben über Alterssowie Klassenunterschiede zwischen Cunanan und seinen Kunden auf Ähnlichkeiten mit der klassischen Narration von einer schönen jungen Frau, die aus finanziellen Gründen eine Beziehung mit einem alten Mann führt. Bild berichtet, dass „seine Liebhaber“ ihn „mit Geld überschütteten“. „Tauchte er in einer Bar auf, flogen die Hundert-Dollar-Noten nur so herum.“ Für die Erklärung des Mordes wird die Schönheit Cunanans als Bestandteil seiner Existenz konstruiert. Diesem Konstrukt zufolge entdeckt Cunanan, dass er
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dank seiner Schönheit auf einfachem Weg Geld verdienen kann. Die Geschichte, die der Text liefert, fängt mit den Schuljahren an. Obwohl er ein erfolgreicher Student war, unterbrach er sein Studium und „taucht als Party-Boy in der SchwulenSzene von San Diego auf“. Laut dem Artikel war er in der „Schwulen-Szene“ immer mit reichen Männern unterwegs. Dadurch habe er auch Beziehungen „zu Künstlerkreisen, zu Architekten und Designern“ aufgebaut. In dem Text ist also das Konstrukt eines schwulen Subjekts zu sehen, das mit seiner Schönheit „Profit“ macht. In der Rekonstruktion seiner Lebensgeschichte entdeckt also Cunanan, dass er mit seiner Schönheit nicht nur besser Geld verdienen, sondern sich auch in einem „High-Class“-Kreis bewegen kann. Es entsteht diesbezüglich auch die Lesart, dass sein Studienabbruch aufgrund seiner Entdeckung der reichen schwulen Kreise erfolgt. Der Text stellt dabei einen Bruch in seinem Lebenslauf dar, der ihn zu mörderischen Taten geführt haben soll: Jetzt im Januar: eine auffällige Veränderung bei ihm. Er trinkt viel, setzt Fett an, will nur noch Sado-Maso-Praktiken und Leder-Sex. In der Szene heißt es: Er hat sich mit Aids angesteckt.“ (B, „4 Morde! Tötete...“ 17.07.1997)
AIDS wird damit als Unglück konstruiert, das Cunanans Schönheit, die sich in dem Text als Existenzgrundlage seines Lebens deuten lässt, zerstört, Tatsächlich wird in einem weiteren Text, in dem „drei Mord-Theorien“ aufgelistet werden, AIDS als einer der möglichen Gründe aufgezeigt, weshalb Versace ermordet wurde. Der Text spekuliert, dass der „Homo-Killer“ von dem „Männer-Freund“ Versace mit HIV angesteckt wurde. Laut dieser Narration nahm also Cunanan Rache für die Zerstörung seiner Schönheit sowie seines Lebens. Diese Rekonstruktion ist jedoch eine Spekulation der Bild-Zeitung. In dem Text wird nämlich berichtet, dass laut der Polizei noch unklar sei, ob sich die beiden Männer überhaupt kannten (B, „Die drei Mord...“ 17.07.1997). Ein Vergleich mit der Hürriyet-Berichterstattung verdeutlicht die Charakteristik der Bild-Berichterstattung, die auf einer Spekulation beruht und dabei fiktiver Narration ähnelt. Während Bild einige Details zur Schönheit von Cunanan sowie darüber liefert, wie er mit ihr „Profit“ machte, berichtet Hürriyet weder von seiner Schönheit noch von HIV/AIDS. Eine Rekonstruktion des Lebens von Cunanan, wie es in Bild vorkommt, ist in Hürriyet nicht zu sehen. Bild schildert Szenen, fiktiver Narration ähnlich, in denen Cunanan beispielsweise seine Wimpern tuscht, während Hürriyet vielmehr die Angaben der Polizei wiedergibt, ohne Szenen aus Cunanans Leben zu rekonstruieren. Obwohl in Hürriyet davon berichtet wird, dass Cunanan schwul war, unterstreicht der Text, dass es unklar sei, ob sich die beiden Männer überhaupt kannten. Von großer Bedeutung ist, dass der Tatverdächtige Cunanan in dem Artikel aus Hürriyet als Gefahr konstruiert wird, die die gesamte schwule Community bedrohe. Der Artikel berichtet nämlich davon, dass die Polizei zweitausend Flugblätter verteilt und die schwule Community gewarnt habe. Er sei „extrem
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gefährlich“, und unter diesen Umständen sei niemand sicher. Er habe innerhalb eines Monats viele schwule Männer ermordet (H, „FBI eşcinsel katili…“ 17.07.1995). Die beiden Zeitungen erzeugen damit zwei unterschiedliche Bilder, diesbezüglich auch zwei unterschiedliche Subjekte. In Bild ist Cunanan ein Mörder, der Rache dafür übt, dass er AIDS hat, und womöglich die Männer ermordet, die ihn mit HIV angesteckt haben. In Hürriyet ist er ein Mörder, der aus einem unbekannten Grund angefangen hat, schwule Männer zu ermorden, und somit eine Gefahr für die schwule Community, insbesondere für reiche schwule Männer, darstellt. Was die beiden Repräsentationen gemeinsam haben, ist der Fokus auf die Tatsache, dass er schwul ist. Die in beiden Zeitungen zu sehende Nebeneinanderdarstellung von Mord und Cunanans schwuler Subjektivität erzeugt den Eindruck, dass die Mordtat eine natürliche Folge seiner Subjektivität sei. In der Bild-Berichterstattung ist der Mord eine natürliche Folge der Zerstörung seiner femininen Schönheit sowie eine Rache für AIDS. Zwei Tage später berichtet Hürriyet, die Polizei befürchte, die Berichterstattung über Cunanan, die ihn als „Strichjungen, der sich reiche Männer aussucht und ermordet“, repräsentiert, könne diesen am Ende noch aggressiver bzw. gefährlicher machen (H, „Versace’de satış patlaması“ 19.07.1997). In Bild wurde dabei in großen Buchstaben auf der Titelseite die Frage gestellt, ob „der schwule Serienkiller“ im Bett von Versace war. Laut dem Bericht warne der Kriminaldirektor des FBI „prominente Homosexuelle: Niemand ist sicher“. Der Text berichtet darüber, dass kürzlich ein Kinderarzt, der ebenfalls schwul gewesen sei, in gleicher Weise erschossen wurde. Nun bestehe der Verdacht, dass er ebenfalls von Cunanan ermordet wurde (B, „War der Killer...“ 18.07.1997). Als typische Bild-Berichterstattung liefert der Text weitere Angaben über das Leben von Cunanan, die die Funktion haben, eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Warum der Mordtat zu liefern. Der Text wiederholt die Theorie, dass sich Cunanan an seinen letzten „Sexualpartnern“ aufgrund von AIDS rächen wollte. Für die Frage, wie die Bild-Berichterstattung das schwule Subjekt kriminalisierend darstellt, ist dabei folgendes Fragment aus dem gleichen Text von großer Bedeutung: Modesto Cunanan, der Vater des mutmaßlichen Versace-Mörders, ein Marineoffizier a. D., war 1988 nach gescheiterten, illegalen Finanzgeschäften aus den USA geflüchtet. Seine Mutter Mary Ann lebt seitdem von Lebensmittelmarken in einer Sozialwohnung in Eureka, Illinois. Ein Marine-Offizier: „Andrew war ziemlich scharf auf Typen vom Militär – Er wußte immer genau, wann bestimmte Schiffe in den Hafen einliefen und wo die Matrosen und Marineoffiziere ihren Spaß haben wollten. Wir haben uns ziemlich von ihm einwickeln lassen. Ständig gab er vor, etwas zu sein, was er nicht war. (B, „Versace-Killer: Ein...“ 18.07.1997)
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Auf den ersten Blick fällt die Information zum sozialen Hintergrund von Cunannan auf. Es wird spekuliert, weshalb Cunanan Versace ermordete; dabei wird seine Kriminalität auf seinen „sozialen Hintergrund“ bzw. seine Kindheit und Erziehung zurückgeführt. Entscheidend ist hier, dass der Text diejenigen Momente aus Cunanans Leben rekonstruiert, die als prägend für seine schwule Subjektivität gedeutet werden, jedoch in dem Text seine Kriminalität begründen. Ähnlich wie in dem Repräsentationsmuster „kriminalisierende Repräsentation von Lesben“, das insbesondere in den 1970er-Jahren in Bild zu sehen war, konstruiert der Text die schwule Subjektivität als Beweggrund einer kriminellen Handlung. In den Artikeln über Marion Ihns und Judy Andersen, die 1973 beschuldigt wurden, zusammen den Ehemann von Ihns ermordet zu haben, tauchten immer wieder Szenen aus Ihns Leben auf, die als Brüche gedeutet wurden, die ihre lesbische Subjektivität formten. Dabei hatten die damaligen Berichte, ähnlich wie der Bericht über Cunanan, das Ziel, eine Erklärung für ihre Kriminalität zu liefern. Dies führte sowohl in der Berichterstattung über kriminelle Lesben wie auch hier zu einem Verschwinden der Grenzen zwischen Kriminalität und queerer Subjektivität. In diesem Zusammenhang funktionieren die Momente des Scheiterns der Heterosexualität gleichzeitig als Momente, die das Subjekt zur Kriminalität führen. Auch Hürriyet versucht, die Motive für die Morde zu rekonstruieren. Oft werden dabei die Stimmen von Expert_innen sowie der Polizei repräsentiert. In einem Bericht, erschienen am 22. Juli, wird Jack Levin, ein Experte für die Erklärung der Mordserien, befragt. Der Text legt den Fokus eher auf die möglichen seelischen Störungen, die zum Mord geführt haben könnten. Selbst Levin sei jedoch nicht in der Lage, einen klaren Beweggrund festzustellen, da Cunanan ein besonderer Fall sei. Die einzige Stelle des Textes, in der eine Verlinkung zur schwulen Subjektivität aufgebaut wird, ist die folgende: Cunanan sorgt durch seinen Lebensstil für Verwirrung. Denn er passt nicht in das weit verbreitete Bild, wonach Serienmörder mit der Gesellschaft nicht konform und eher introvertierte Typen sind. Es war auffällig, dass Menschen, die Cunanan kennen, ihn, wie folgt beschrieben: „Er war in der Gay-Szene in San Diego sehr beliebt…Er war sehr süß. Jemand, der sehr humorvoll und attraktiv war.“ Die Äußerungen der FBI-Spezialisten und der pensionierten FBI-Mitarbeiter sind sowieso sehr verwirrend. (H, “Durdurulmazsa yine öldürecek“ 22.07.1997)
Im Gegensatz zu Bild verweist Hürriyet auf die Schwierigkeiten sowohl einer Rekonstruktion der Motive für den Mord als auch einer Rekonstruktion der Subjektivität Cunanans, die als eine mögliche Ursache seiner Kriminalität dargestellt wird. Der Experte ist nämlich der Meinung, dass Cunanan keine typischen Merkmale eines „Serien-Killers“ habe. Seine Anerkennung in der schwulen Szene dient dabei als Beweis dafür, dass er mit sozialen Verhältnissen keine Schwierigkeiten hat. Am 21. Juli erschien in Bild ein Bericht darüber, dass Cunanan nun in Frauenkleidern auf der Flucht sei. Die Polizei habe in der Wohnung, in der er unterge-
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bracht war, „Enthaarungscreme und Haar-Färbemittel“ gefunden, was zeigen sollte, dass er sich die ganze Körperbehaarung abrasiert habe (B, „Versace-Killer: In Frauenkleider...“ 21.07.1997). Drei Tage später veröffentlichte Bild eine Abbildung von Cunanan als Frau und stellte die Frage, ob sich dieser nun als Frau verkleidet habe. Ein smarter Killer verwandelt sich in eine hübsche Frau. Narrt der Versace-Mörder so die Polizei? Die Jagd auf Andrew Cunanan (27) – jetzt wurden diese Computer-Bilder veröffentlicht. Sie zeigen, wie leicht der Serienmörder sein Aussehen verändern könnte. Schon mehrfach hatte sich der homosexuelle Callboy als Frau verkleidet. „Einfach so zum Spaß als Partygag“, sagen Bekannte. Cunanan rasierte sich die Körperhaare ab, setzt eine Perücke auf, schminkte sich. „Tarnt er sich als Frau, wird es verdammt schwer“, sagte ein Ermittler. (B, „Hat sich der Versace...“ 24.07.1997)
Wiederum greift Bild auf ein Moment in Cunanans Leben zurück, das man als ein queeres Moment bezeichnen kann, um von seiner kriminellen Tat zu berichten. In diesem Fragment wird darauf hingedeutet, dass Cunanan dank seiner schwulen bzw. queeren Subjektivität die Möglichkeit habe, sich zu verwandeln und damit der Polizei zu entkommen. Die Tarnung, die dem kriminellen Subjekt beim Entkommen hilft, gewinnt somit eine Dimension, die auf „essenzielle Bestandteile“ des Subjekts hinweist. In diesem Zusammenhang wird Cunanans Fähigkeit, sich als Frau zu tarnen, mit seinem schwulen Dasein in Verbindung gebracht. Am 25. Juli berichteten beide Zeitungen über Cunanans Suizid. Die Polizei hatte ein Hausboot entdeckt, in dem er sich versteckte. Es lag fünf Kilometer entfernt von Versaces Villa. Cunanan erschoss sich selbst, kurz bevor die Polizei ins Hausboot kam (B, „Der Versace-Killer“ 25.07.1997). Das Hausboot gehörte einem Deutschen namens Torsten Reineck. Da Reineck zu dem Zeitpunkt jedoch verschwunden war, war es noch unklar, ob er und Cunanan sich kannten. Es war auch unklar, ob Reineck schwul war. Dennoch thematisierte Bild parallel zu Reinecks krimineller Vergangenheit auch seine eventuelle Homosexualität. Der mysteriöse Deutsche In Las Vegas betreibt er einen Fitneß-Club für Homosexuelle Der Serienkiller und der Deutsche – wer ist der mysteriöse Mann, auf dessen Hausboot der meistgesuchte Mörder Amerikas starb? Torsten Reineck (49) – ein gebürtiger Hamburger, der per internationalem Haftbefehl gesucht wird. Die Leipziger Staatsanwaltschaft fahndet nach ihm wegen Betruges und Steuerhinterziehung. Reineck schuldet dem Fiskus fast eine Million Mark. Seine Vergangenheit, ein dunkles Kapitel. [...] Als ihm im Oktober 1992 der Staatsanwalt auf die Schliche kam und einen Haftbefehl ausstellte, tauchte Reineck unter. In Florida fühlte er sich sicher – der Haftbefehl war nur auf die EU beschränkt.
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Er kaufte in Miami Beach für 150 000 Dollar ein Hausboot am noblen Indian Creek, eröffnete in Las Vegas den Homosexuellen-Fitneßclub „Apollo Health Spa“. Sein Fuhrpark: ein weißer „Excalibur“ (200 000 Mark teuer), ein S-Klasse-Mercedes, eine Harley-Davidson. Die Autos trugen Diplomaten-Kennzeichnen des „Fürstentums Seeland“. Ein Phantasie-Staat. Lernte er in Las Vegas den smarten Andrew Cunanan kennen? Der Serienkiller lebte in Kalifornien, verkehrte dort in der Schwulen-Szene. Reineck umgab sich in seinem Club mit Homosexuellen. Noch vor vier Wochen wurde er in „Haralds Hotel“ auf der Reeperbahn gesehen. Geschäftsführer Harald Meier: „Er hatte drei hübsche Jungs dabei, feierte mit Sekt und Champagner.“ BILD sprach mit der Mutter von Torsten Reineck, die auch in Hamburg lebt. Sie sagt: „Ich habe zuletzt vor fünf Wochen mit meinem Sohn gesprochen. Er wollte in Urlaub fahren, nach Mexiko. In seine geschäftlichen Dinge bin ich nicht eingeweiht. Und schwul ist er nicht. Er hat immer mit Frauen gelebt. Er hatte viele Frauen. Er kann nichts mit dieser Sache zu tun haben. (B, „Der mysteriöse Deutsche“ 25.07.1997)
Der Text berichtet hauptsächlich über Reinecks kriminelle Vergangenheit. Da diese für die Analyse nicht bedeutend ist, wurde der entsprechende Teil in diesem Abschnitt ausgelassen. Von großer Bedeutung ist hingegen, dass der Text nach der Zusammenfassung der kriminellen Vergangenheit über Reinecks Sexualität spekuliert. Es ist also wiederum eine Nebeneinanderdarstellung von Kriminalität und schwuler Subjektivität zu sehen, was auch in der Überschrift deutlich wird. Darüber hinaus werden zwei Deutungen angeboten: Reineck ist entweder Opfer von Cunanan oder mit ihm verbündet. Aus diesem Grund ist er auch „mysteriös“, denn es bleibt unklar, welche Rolle er in der Geschichte spielte. Zentral für die beiden Deutungen sind dabei das „Fitness-Studio“ und die damit in Verbindung stehende schwule Subjektivität. Die repräsentierten Stimmen bekräftigen dabei diese Art von Spekulation; er soll mehrmals in der Schwulen-Szene gesehen worden sein. Das erwähnte Fitness-Studio deutet aber auch auf eine mögliche Bekanntschaft der beiden Männer hin. Vielleicht haben sie sich im FitnessStudio bzw. in der „Schwulen-Szene“ kennengelernt? Um auf die Frage, was diese Bekanntschaft für die Geschichte bedeutet, eine Antwort zu liefern, wird Reinecks Vermögen erwähnt. Er ist reich und führt ein hedonistisches Leben. Damit entsteht eine Lesart, die Reineck auch als ein mögliches Opfer Cunanans konstruiert. Er ähnelt Versace und anderen seiner Opfer. Doch es ist noch unklar, ob er ermordet wurde oder nicht. Auf der anderen Seite unterscheidet ihn seine kriminelle Vergangenheit von den Opfern. Auch in dieser Lesart spielt das Fitness-Studio eine zentrale Rolle. Es ist nämlich die letzte Investition, der letzte Schritt eines kriminellen Mannes, der sein Vermögen durch Betrug und Steuerhinterziehung aufbauen konnte. Damit symbolisiert das Fitness-Studio die Verdeckung einer kriminellen Vergangenheit. Auch in einer solchen Lesart weist das Fitness-Studio auf eine Bekanntschaft beider Männer hin. Da es nun einen gemeinsamen Bezugspunkt gibt, nämlich die „Kriminalität“, lässt diese Bekanntschaft kein Mörder-Opfer-Verhältnis vermuten, sondern ein Bündnis sowie eine Zusammenarbeit der beiden „kriminellen Schwulen“.
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Es ist jedoch unklar, ob Reineck überhaupt schwul ist. Die Stimme seiner Mutter widerspricht nämlich der in dem Bericht gemutmaßten Homosexualität. Dennoch schreibt der Text seiner möglichen schwulen Subjektivität die Schlüsselrolle für die Lösung der Mordserien zu. Die Frage, ob er schwul ist oder nicht, gewinnt also eine Bedeutung für die Lösung eines kriminellen Ereignisses.
DIE NORMALISIERUNG VON SCHWULEN Ein großer Teil des Materials aus den beiden Zeitungen lässt sich als normalisierende Repräsentation einordnen, was als Folge zunehmender Sichtbarkeit der Schwulen in der dominanzgesellschaftlichen Kultur betrachtet werden kann. In diesem Kapitel wird diesbezüglich der Frage nachgegangen, welche Bedeutungsstrukturen dazu beitragen, dass die Repräsentation nicht mehr in Widerspruch zu den Werten und Normen der Öffentlichkeit konstruiert wird. Dabei lassen sich vier Repräsentationsmuster feststellen, die es in der Analyse ermöglichen, den diskursiven Verlauf zu rekonstruieren. Durch die Repräsentation des schwulen Mannes als aktivistische Figur gewinnt der Gegendiskurs der schwulen Bewegung einen Platz in der Berichterstattung von Bild und Hürriyet. Die politischen Forderungen dieses Gegendiskurses verlieren insbesondere in der Bild-Berichterstattung durch karnevaleske Darstellung an Bedeutung bzw. werden nicht ernst genommen, was als „Karnevalisierung“ beschrieben werden kann. Outings von Prominenten bilden dabei eines der wichtigsten Momente im diachronen Schnitt, da sie zeigen, dass sich Schwule in der Tat nicht außerhalb der dominanzgesellschaftlichen Kultur befinden. Letztendlich wird mit den Diskussionen über Integration in die Religion, die gleichgeschlechtliche Ehe sowie den Profit durch den schwulen Tourismus gezeigt, dass die Darstellung des schwulen Mannes die Werte der Öffentlichkeit nicht gefährdet, sondern als ein Kapital diese Werte weitersteuert. Der Schwule als aktivistische Figur Die Diskussionen über Menschenrechte von Schwulen fanden viel früher einen Platz in der Bild-Berichterstattung als in Hürriyet, was auf die sozio-historischen Unterschiede beider Gesellschaften zurückzuführen ist. Harald Rimmele berichtet zum Beispiel, dass gegen Ende der 1970er-Jahre die Frage, ob Homosexualität ein Bürgerrecht sei, immer häufiger in der westdeutschen Presse diskutiert wurde. Insbesondere die neuen überregionalen Zeitungen wie Neue Zeitung und Tageszeitung spielten, so Rimmele, eine wichtige Rolle in diesen Diskussionen, in denen der Gegen-Diskurs der Schwulenbewegung allmählich sichtbar wurde. Parallel dazu versuchten die ersten Journalist_innen, die sich zu ihrer Homosexualität bekannten, eine größere Sichtbarkeit in der Berichterstattung zu schaffen, was Rimmele zufolge dazu führte, dass auch Zeitungen wie Bild über die ersten großen schwulen Ver-
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anstaltungen, wie den Schwulenkongress Homolulu von 1979 in Frankfurt a.M., berichteten (Rimmele 1997, 148). In den untersuchten Ausgaben beider Zeitungen taucht ein Bericht über Homolulu als ältester Text auf, in dem eine aktivistische Figur sichtbar wird. „Homolulu:“ – kein Druckfehler, sondern ein heißes Thema Auf dem Schwarzen Brett vor dem „Schmuse-Tempel“ hängt seit gestern ein kleiner Zettel: „Als mein Vater es erfuhr, jagte er mich mit den Worten „Schwule dulde ich nicht“ aus dem Haus – Unterschrift: Thomas D. ... (17), Frankfurt. Lila Transparente im „Schmuse-Tempel“ Der „Schmuse-Tempel“ ist ein Aufenthaltsraum, den die Uni Frankfurt für „Homolulu“, ein internationales Treffen von Homosexuellen, zur Verfügung stellt hat. Drinnen ist ein lila Transparent gespannt, Text: „Nieder mit der Diktatur der Normalität“. Darunter sitzen Männer in grauen Straßenanzügen, aber auch in rosa Satin- oder schwarzen Lacklederhosen, plaudern, halten Händchen. „Unser Treffen soll auf die vielen Probleme aufmerksam machen, die Homosexuelle noch immer in der Bundesrepublik haben“, sagt einer der Veranstalter, Joachim (24), wissenschaftlicher Mitarbeiter der Uni Frankfurt. [...] Höhepunkt sind Demonstrationen von jeweils 4000 durch die Frankfurter City. Motto: „Ein Vulkan bricht aus.“ Danach geht’s in ein Zirkuszelt im Biegwald, wo Pop-Gruppen wie „Brühwarm“ heiß aufspielen. „Homolulu“ (in Anlehnung an die paradiesische Stadt in Hawaii) dauert bis Sonntag. Wie sehr viele der drei Millionen deutschen Homosexuellen unter ihrer Neigung leiden, sagen sie selbst: Neun Prozent hätten deshalb ihren Arbeitsplatz verloren, 60 Prozent haben Angst, ihre Veranlagung einzugestehen; 13 Prozent haben schon mal einen Selbstmordversuch gemacht. „Homosexualität ist niemals angeboren, sie entsteht durch Umwelteinflüsse, zum Beispiel durch falsche Erziehung“, schrieb Amerikas berühmtester Sexualforscher, Dr. Masters. (B, „‚Homolulu‘ – kein Druckfehler...“ 25.07.1979)
Der Text enthält sowohl den dominanzgesellschaftlichen Diskurs über Homosexualität als auch den Gegen-Diskurs der schwulen Bewegung der damaligen Zeit. Der Gegen-Diskurs gewinnt in dem Text durch Beschreibung der Räumlichkeiten Sichtbarkeit. Wie eine Kamera, die sich langsam von außen nach innen in den Raum bewegt, beschreibt der Text zunächst das Äußere, danach das Innere des Raumes (Schmuse-Tempel). Diese Reihenfolge in der Beschreibung von Räumlichkeiten führt die Leser_innen von außen nach innen, was dazu führt, sowohl den Autor als auch die Leserschaft des Textes außerhalb des Raumes zu positionieren, in dem die Veranstaltung stattfindet. Diese Positionierung des Autors und der Leserschaft außerhalb des Raumes führt dazu, dass sie die Dominanzgesellschaft verkörpern, die erst dank dieser Veranstaltung dem Gegen-Diskurs begegnet. Auch die Überschrift hat die gleiche Funktion: Mit ihr wird unterstellt, dass die Leser_innen zum ersten Mal von Homolulu hören und so eine Position des Außenstehens geschaffen.
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Bei der Bewegung von außen nach innen legt der Text den Fokus auf etliche Medien (Zettel, Transparent), durch die der Gegen-Diskurs in den Vordergrund gerückt wird. Der ganz am Anfang des Textes beschriebene kleine Zettel weist auf die Diskriminierung sowie die Gewalt hin, mit der sich Schwule selbst in ihren eigenen Familien auseinandersetzen müssen. Anhand des Transparents wird der Gegen-Diskurs der damaligen Schwulenbewegung erkennbar, der anstatt einer integrativen eine queere Politik befürwortete, die jegliche Art der Normativität infrage stellte. Die Farben des Transparents (lila) sowie der Bekleidung der Männer (rosa), die unter dem Transparent Händchen halten, haben weibliche bzw. schwule Konnotationen. Die Positionierung der Männer unter dem Transparent führt dazu, sie als Visualisierung der Aussage des Transparents zu lesen: Sie wollen die Heteronormativität abschaffen, also die Freiheit haben, „Händchen halten“ zu können, wann und mit wem sie wollen. Die Stimme des Veranstalters weist dabei auf den Wunsch nach einer Begegnung der Dominanzgesellschaft und der schwulen Community hin. Dies sei keine geschlossene Veranstaltung unter Schwulen, sondern eine Veranstaltung, die sich an die Dominanzgesellschaft richte, sodass die Diskriminierung von Schwulen in der westdeutschen Gesellschaft Aufmerksamkeit erregen soll. Die geplanten Demonstrationen, an denen Tausende von Menschen teilnehmen sollen, zeigen dieselbe Bereitschaft, den Gegen-Diskurs, der bis jetzt unterdrückt wurde, in die Öffentlichkeit zu tragen. Dieser Prozess, in der Öffentlichkeit „endlich“ über das sprechen zu können, was unterdrückt, verheimlicht, unsichtbar gemacht bzw. diskriminiert wird, wird mit der Metapher des Vulkans, der nun ausbricht, beschrieben. Der Text repräsentiert sowohl diesen Wunsch, den Gegen-Diskurs in die Öffentlichkeit zu tragen, als auch den Gegen-Diskurs selbst. Dennoch ordnet er am Schluss alles in den dominanzgesellschaftlichen Diskurs ein. Obwohl in dem Text von einer Veranstaltung die Rede ist, die die in der Gesellschaft dominierende Heteronormativität sowie die Homophobie kritisiert bzw. in der die Schwulenbewegung sowie die schwulen Subjekte repräsentiert werden, hat das letzte Wort ein sogenannter Experte, der Homosexualität als Scheitern und als Folge einer Störung in der heterosexuellen Entwicklung eines Subjekts definiert. Durch diese Repräsentation der Stimme eines Experten am Schluss wird die Wahrheit und Legitimität des Gegen-Diskurses, der durch die Schwulenbewegung repräsentiert wird, infrage gestellt, darüber hinaus wird ausschließlich dem von ihm repräsentierten Diskurs Wahrheit zugeschrieben. Während in den untersuchten Ausgaben von Bild das schwule Subjekt den Gegen-Diskurs hervorbringt, erfolgt dies in Hürriyet als Erstes mittels der Repräsentation des Trans*-Subjekts als aktivistische Figur. Wie ich in Kapitel 4.2.4.1 dargelegt habe, führten die Kriminalisierung der Sexarbeit bzw. die Polizeigewalt zu den Demonstrationen, deren Ziel es, ähnlich wie bei Homolulu, war, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Kurz nachdem die Trans*-Subjekte in der Öffent-
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lichkeit die Diskriminierung und Gewalt kritisierten, denen sie ausgesetzt waren, wurden auch schwule Subjekte, die eine aktivistische sowie politische Figur verkörperten, in der Berichterstattung sichtbar. Die Veröffentlichung des Buches Türkiye’de Eşcinsellik, also „Homosexualität in der Türkei“, von Arslan Yüzgün im Jahre 1987 stellte dabei eine Zäsur dar. Das Buch war das erste seiner Art, das sowohl über Trans* als auch über die schwule Community in der Türkei berichtete. Von großer Bedeutung ist, dass Yüzgün in der Hürriyet-Berichterstattung nicht nur als Verfasser dieses Buches repräsentiert wird, sondern auch als aktivistische bzw. politische Figur, die den Gegen-Diskurs verkörpert. In Istanbul soll es 500.000 Homosexuelle geben „Der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Arslan Yüzgün, der in der Türkei zum Thema Homosexualität forscht, gab an, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland eine neue politische Partei, „Die Grünen“ gründet, die sich für die Rechte der Homosexuellen einsetzt. Der Abgeordnete der Grünen Uli Fischer, der in der Türkei Untersuchungen zur Unterdrückung von Homosexuellen durchführt, zeigte großes Interesse an der Forschung des Dr. Yüzgün. Dieser sagte: „Mit meinen Untersuchungen habe ich festgestellt, dass Homosexuelle tendenziell für die Sozialdemokraten sind. Wenn die Sozialdemokraten nicht an ihrer Seite stehen, werden die Homosexuellen eine neue politische Partei gründen.“ […] „Es scheint, als ob die Sozialdemokraten sich für die Probleme der Homosexuellen interessieren. Indes schaffen auch sie den ersten Schritt nicht, nämlich die Probleme zur Sprache zu bringen und nach Lösungswegen zu suchen. So bleibt es eine Einbahnstraße – eine neue Partei zu gründen oder einen Verein. […] Der Weg, eine Partei statt einen Verein zu gründen, könnte sich als erfolgreich erweisen. Auf der politischen Ebene gibt es diesbezüglich keine Hindernisse. […] Eine neue, von Homosexuellen gegründete Partei könnte sich über die ganze Türkei hinweg organisieren, sagte Dr. Arslan Yüzgün. Allein in Istanbul gebe es 500.000 Homosexuelle, führte er weiter aus. Neben den verschiedenen europäischen Städten gibt es auch in der Stadt Thessaloniki eine Gemeinde, die sich für den Schutz der Rechte der Homosexuellen einsetzt, erinnerte Dr. Arslan Yüzgün: „Bei meinen Untersuchungen wurde deutlich, dass, was auch immer sie an Unterdrückungen erleben, die Homosexuellen in der Türkei diese Lebensform weiterführen werden und es nicht bereuen, homosexuell zu sein“, sagte er. (H, „İstanbul’da 500Bin eşcinsel...“ 07.07.1986)
Was den Text besonders macht, ist die Repräsentation des sprechenden Subjekts, das trotz des Gegen-Diskurses, den es hervorbringt, als Experte ausgewiesen wird. Wie ich anhand mehrerer Texte aufgezeigt habe, repräsentiert die Subjektposition „Experte“ häufig den dominanzgesellschaftlichen Diskurs bzw. hat die Funktion von Wahrheitsanspruch, und sein Sprechen führt oft dazu, dass das queere Subjekt, das zum Sprechen kommt, seinen Wahrheitsanspruch verliert. Hier ist jedoch zu sehen, dass das Subjekt, das den Gegen-Diskurs hervorbringt, gleichzeitig auch als Experte dargestellt wird. Des Weiteren eröffnet der Text Raum ausschließlich für sein Sprechen und verleiht ihm an mehreren Stellen einen Wahrheitsanspruch.
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Zunächst wird er als Finanzexperte beschrieben, und sein Doktortitel wird in dem Text wiederholt erwähnt. Auch die Tatsache, dass er eine Untersuchung durchgeführt hat, bekräftigt seine Position als Experte. Die Angabe über die Grünen in der Bundesrepublik Deutschland zeigt dabei die Qualität seiner Forschung, die auch auf internationaler Ebene Aufmerksamkeit gewonnen habe. Yüzgün ist in dem Text jedoch nicht nur ein Experte, sondern auch eine aktivistische bzw. politische Figur. Dabei dient seine Erkenntnis, die er als Experte gewonnen hat, als Ausgangspunkt und Legitimation für eine emanzipatorische Bewegung. Für die Legitimierung der emanzipatorischen Bewegung wird des Weiteren ein Vergleich mit Europa gezogen, insbesondere mit Griechenland. Dieser Vergleich schreibt Europa Fortschritt, Demokratie sowie Freiheiten zu, während die Türkei mit Konservatismus und Unterdrückung von Schwulen konnotiert wird. Die Stimme am Schluss des Textes weist auf die Bereitschaft der schwulen Community zu einem emanzipatorischen Kampf hin. Zum Schluss möchte ich den Fokus auf die Überschrift und deren Beziehung zum Text legen. Auffällig ist hier, dass die Überschrift nicht der Zusammenfassung des Ereignisses, über das in dem Text berichtet wird, dient. Denn der Text handelt davon, dass eine politische Partei mit dem Ziel der Anti-Diskriminierung gegründet wird, und nicht von der Zahl der schwulen Einwohner von Istanbul. Ich bin der Meinung, dass die Überschrift die hohe Anzahl schwuler Einwohner von Istanbul betonen und damit Leser_innen überraschen soll. Die Überschrift macht also eine Angabe, die bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt war und nun dank Yüzgüns Forschung an die Oberfläche kommt: In Istanbul wohnen sehr viele Schwule, und viele von ihnen wollen sich nun gegen Unterdrückung und Diskriminierung zusammenschließen. An dieser Stelle werden auch Ähnlichkeiten zwischen den beiden Texten erkennbar. Sowohl Bild als auch Hürriyet berichten über ein Ereignis, das sich von früheren Vorkommnissen unterscheidet: Schwule wollen keine geschlossene unterdrückte Community mehr bilden, sondern sich politisch engagieren und gegen Diskriminierung kämpfen. Im Unterschied zur Bild-Berichterstattung tauchen dabei in Hürriyet Deutungsmuster von Experten sowie aus Europa auf, die zur Legitimierung des Gegen-Diskurses führen, was ich im Folgenden mit Blick auf andere Texte konkretisieren werde. Die Konstruktion von Yüzgün als Experte ist auch in einem weiteren Artikel über die Gründung der schwulen politischen Partei zu sehen. Der Artikel handelt von der Spannung zwischen Yüzgün und Ibrahim Eren, die beide als Parteivorsitzende kandidieren. Yüzgün wird in dem Text als „Gehirn“ der Partei beschrieben. Laut dem Bericht ist er der Meinung, dass Ibrahim Eren kein guter Kandidat sei, da er kein bemerkenswertes Werk produziert habe. Darüber hinaus wird seine Subjektposition als Experte bzw. sein Fachwissen als eine Qualifikation für die Führung einer neuen emanzipatorischen Bewegung konstruiert (H, „Eşcinsel-Radikal pari...“ 22.07.1987).
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Die Texte, in denen eine aktivistische Figur zu sehen ist, beschäftigen sich mit der Frage der Auseinandersetzung des schwulen Mannes mit der Dominanzgesellschaft. Das schwule Subjekt und die Dominanzgesellschaft stehen sich in solcher Konstruktion gegenüber. Dies gewinnt in den 1990er-Jahren in der BildBerichterstattung eine weitere Dimension, als die Diskussionen über die gleichgeschlechtliche Ehe zunehmen. Der schwule Mann als aktivistische Figur verkörpert in solchen Artikeln den Wunsch nach dem Eherecht, worauf ich im Kapitel über Integration und Anerkennung genauer eingehen möchte. Während in Bild die aktivistische Figur immer häufiger auf eine Integration in die normativen Institutionen wie Ehe hinwies, brachte die Repräsentation der aktivistischen Figur in den 1990erJahren in Hürriyet die Frage nach grundsätzlichen Bürgerrechten wie Versammlungsfreiheit auf, die wiederum mit der Begründung des Schutzes der öffentlichen Moral keine Anerkennung findet. Von Bedeutung ist dabei, dass in der Berichterstattung wiederholt Europa als Maßstab hervorgebracht wird, um die Bürgerrechte der Schwulen anzuerkennen. Im Folgenden ist ein Bericht über den ersten Versuch dargestellt, einen schwul-lesbischen Kongress in Istanbul zu veranstalten, den der Gouverneur jedoch verbot, da er die öffentliche Moral verletzt hätte. Gouverneur erlaubt Homosexuellen-Kongress nicht Der für heute geplante 1. Kongress der Homosexuellen wurde vom Gouverneur von Istanbul nicht gestattet, da er der Moral, der Tradition und den Sitten wiederspreche. Der Istanbuler Vize-Gouverneur Nihat Kemal Eren sagte, dass der Gouverneur Hayri Kozakcıoğlu die Sache genauestens geprüft und festgestellt habe, dass dieser Kongress Sitte, Moral und Werte der Gesellschaft gefährden und ferner auf den Widerstand der Gesellschaft stoßen würde und dass er befürchte, es könnte zu Auseinandersetzungen kommen. Daher erklärte er, dass er die nötige Erlaubnis gemäß Paragraf 17 des Versammlungsgesetzes 2911 nicht erteile. Der Vorsitzende der Arbeitsgruppe der Homosexuellen, Hüseyin Kuşkaya, gab bekannt, dass er vergangene Woche eine Pressekonferenz organisiert habe. Dort hatte er angekündigt, dass Homosexuelle und Demokraten aus mehreren Ländern Europas teilnehmen wollten, um die unterschiedlichen Dimensionen der Homosexualität zu diskutieren. Kuskaya sagte auch, dass sie Themen wie das Erlangen der Homosexuellen von Selbstvertrauen und von Selbstachtung in die Hand nehmen wollten. Zugleich erklärte Kuşkaya, gegen den Beschluss des Gouverneurs werde Widerspruch eingelegt. Er teilte mit, dass heute auf einer Pressekonferenz die aktuellen Entwicklungen bekannt geben würden, an der auch Christian Puls, Abgeordneter der Grünen in Berlin, Anette Detering (UN) und Hennig Nichelson, Mitglied der Weltgesundheitsorganisation, teilnehmen würden. (H, „Eşcinsellik kongresine valilik...“ 02.07.1992)
Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie Normalisierung durch die Repräsentation einer aktivistischen Figur stattfindet. Der Text beginnt mit der Angabe, dass das Gouverneursamt den Antrag, einen schwulen Kongress zu veranstalten, ablehnte und dies mit dem Schutz der öffentlichen Moral begründete; es heißt, mögliche Unruhen in der Öffentlichkeit, die aufgrund der Veranstaltung entstehen könnten, sollten verhindert werden. Dies ist wiederum ein Argumentationsmuster, das sehr oft, wie ich im Kapitel über Kriminalisierung der Trans*-Personen gezeigt habe, mit der Stim-
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me des Staates in den türkischen Artikeln auftaucht. Was den Text jedoch beachtenswert macht, ist die Reihenfolge der Stimmen, die das Argument infrage stellt, das von der Stimme des Gouverneursamts angeführt wird. Dies gelingt zunächst mit der Repräsentation des schwulen Subjekts, das die Angabe, die Veranstaltung würde öffentliche Unruhen verursachen, als irrelevant bezeichnet. Dabei wird darauf hingewiesen, dass es sich um eine intellektuelle internationale Veranstaltung handle. Es ist also nicht von einer Veranstaltung die Rede, die die öffentliche Moral verletzt sowie Unruhen verursacht, sondern von einer, die Fragen der Bürgerrechte von Schwulen an einem legitimen Ort diskutiert. Um den Kongress als einen legitimen Ort zu konstruieren, werden wiederum die Politiker_innen aus europäischen Ländern, die wegen des Kongresses nach Istanbul kamen, als ein Beweis angeführt. Ähnlich wie in dem Bericht aus den 1980er-Jahren wird also auch hier ein internationales Bündnis genannt, das zur Legitimation der Repräsentation von Schwulen dient. Damit kommt der Text zum Schluss, was zeigt, dass das schwule Subjekt Widerstand gegen Unterdrückung leistet. Einen Tag später erschien ein Bericht darüber, dass trotz des Verbots durch das Gouverneursamt schwule Kongressteilnehmer aus dem Ausland nach Istanbul kamen. Nun planen die internationalen Teilnehmer laut dem Bericht, Urlaub in der Türkei zu machen. Es ist auch ein Bild von zwei schwulen Männern zu sehen, die dem Bericht zufolge aus Deutschland kamen. Die Bildunterschrift repräsentiert die Stimme der beiden, die mitteilen, dass das Gouverneursamt ihnen nicht verbieten könne, in Istanbul Urlaub zu machen (H, „Eşcinseller kongre yerine...“ 03.07.1993). In einem folgenden Bericht ist diesmal eine kriminalisierende Repräsentation zu sehen. Danach habe die Polizei aufgrund einer Anzeige eine Razzia in einer Disko durchgeführt. Die Überschrift lautet: „Homosexuellenjagd in der Disko“. Es wird berichtet, bei der Razzia sei nach schwulen Teilnehmern des Kongresses gesucht worden. Dennoch habe die Polizei keinen Teilnehmer gefunden (H, „Diskotekte eşcinsel avı“ 04.07.1993). Der in der Hürriyet-Berichterstattung nicht in Erscheinung tretende Teil des Ereignisses, der sich erst anhand von Sekundärliteratur rekonstruieren lässt, zeigt dabei, dass das Verbot des Kongresses zur Gründung einer Bewegung geführt hat. Lambdaistanbul, die erste türkische LSBTI*Organisation, wurde als Folge dieses Verbots gegründet. Kurz danach kamen auch die ersten schwulen Zeitschriften heraus (Cingöz und Gürsu 2013, 13). Von großer Bedeutung für die Analyse ist, dass die Normalisierung, die durch die Repräsentation einer aktivistischen Figur in Gang gesetzt wird, nicht nur bestimmte Subjektpositionen als essenzielle Bestandteile der pluralistischen Gesellschaft konstruiert, sondern auch Diskussionen über Homophobie und Transphobie, die bis zu diesem Punkt im Bereich des Gegen-Diskurses zu sehen waren, in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs integriert. Ein gutes Beispiel dafür ist die Preisverleihung mit dem Namen Hormonlu Domates Homofobi ve Transfobi Ödülleri, „genmanipulierte Tomate-Preis für Homophobie und Transphobie“. Lambdaistanbul verleiht diesen Preis seit 2005 in verschiedenen Kategorien an Personen und
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Institutionen, die sich transphob und homophob geäußert haben, und macht so auf Trans- und Homophobie aufmerksam. (H, „Hormonlu Domates Ödülleri” 26.06.2005). In manchen Jahren überwogen Deutungsmuster von großen Preisverleihungen, wie den Oscar Academy Awards, indem bspw. als Überschrift „Hormonlu Domates3 goes to...“ verwendet wurde, was auf den berühmten Satz „And the Oscar goes to“ anspielte (H, „Hormonlu Domates goes to...“ 18.06.2006), sowie die Meinung der Preisträger_innen repräsentiert wurde (H, „Hormonlu domates tepkisi“ 30.06.2005). Diese Integration der Diskussionen über Homophobie in den dominanzgesellschaftlichen Diskurs durch die Thematisierung der Unterdrückung des schwulen Subjekts ist auch in der Bild-Berichterstattung zu sehen. Von Bedeutung ist hier, dass nicht nur eine Anerkennung des schwulen Subjekts vonseiten der Dominanzgesellschaft zu sehen ist bzw. die Diskussionen über Homophobie in der Dominanzgesellschaft in Erscheinung treten, sondern auch das schwule Subjekt sich nicht mehr außerhalb des Bereichs der Normalität bzw. normativer Institutionen positioniert. Beispielhaft ist hier die Berichterstattung über die Eröffnung des Mahnmals für die während des Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen zu nennen. Mahnmal für Homosexuelle Gestern wurde das nationale Denkmal für verfolgte Homosexuelle während der NS-Zeit in Berlin zugänglich gemacht. Die Betonstelle steht am südlichen Rand des Tiergartens gegenüber dem Holocaust-Denkmal. Es kostete 600 000 Euro. Entworfen wurde es von dem in Berlin lebenden dänisch-norwegischen Künstlerduo Michael Elmgreen und Ingar Dragset. Durch ein Fenster sieht man die Kuss-Szene eines gleichgeschlechtlichen Paares, im ZweiJahres-Rhythmus Männer oder Frauen. (B, „Mahnmal für Homosexuelle“ 28.05.2008)
Der Text zeigt die Veränderung, die sich seit dem Bericht über Homolulu im Diskurs vollgezogen hat. Während das Subjekt, das versuchte, mit einer Veranstaltung die öffentliche Aufmerksamkeit zu errengen, im Jahr 1979 in der Berichterstattung über den Kongress außerhalb der Dominanzgesellschaft postioniert wurde, zeigt sich hier eine Positionierung innerhalb der Dominanzgesellschaft. Das Ereignis selbst wird von staatlicher Seite veranstaltet, was man als Zeichen für die Wahrnehmung der Unterdrückung, Verfolgung und Diskriminierung von Homosexuellen verstehen kann. „Karnevalisierung“ als Repräsentation von schwulen Männern In den in Bild erschienenen Texten taucht sehr oft das Wort „Karneval“ auf, um den CSD zu beschreiben. Es wird von einer Feier berichtet, die es dem schwulen Subjekt ermögliche, „bunt und schrill“ in die Öffentlichkeit zu treten. Bevor ich genau3
„Genmanipulierte Tomate“.
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er darauf eingehe, wie diese Form der Berichterstattung das Subjekt im Rahmen des Karnevals konstruiert, möchte ich die gesellschaftliche Bedeutung des Karnevals für die christlich geprägten Gesellschaften erläutern, da dies den Hintergrund meiner Analyse bildet. Als Ausgangspunkt dient dabei Michail Bachtins Analyse der literarischen Texte über mittelalterliche Karnevale (Bachtin 1998). Bachtin vertritt die These, dass der Karneval die Funktion einer vorübergehenden Befreiung von Hierarchien, Tabus und Unterdrückungsmechanismen, die die Gesellschaft regeln, hat. Ausschließlich in der Karnevalszeit hatten Subjekte die Möglichkeit, sich mittels Parodien über das strenge, ernsthafte Leben des Alltags, das von der Macht der Kirche geformt wurde, lustig zu machen. Die Karnevalszeit, in der das Subjekt nicht nur tanzen und singen konnte, sondern auch das Gefühl von Freiheit hatte, bewirkte eine Art Katharsis. Parallel dazu ermöglichte der Karneval auch eine vorübergehende Gleichberechtigung von Angehörigen aller Klassen, da Subjekte mit unterschiedlichen Positionen und Status mitfeierten, wodurch die strengen Hierarchien in der Gesellschaft für diese Zeit vergessen werden konnten. Auch „abnormale“ Subjekte, wie „Irre“, waren Teil der Feier. Der Karneval ermöglichte einen begrenzten Raum für die Subjektpositionen, aber auch für die Gegen-Diskurse, die der Normativität nicht entsprachen. Bachtins Theorie beruht darauf, dass eine derartige Unterbrechung des Alltags der offiziellen Welt und ihrer Normen erforderlich für die Aufrechthaltung der Normativität war, da die Subjekte dadurch die Kraft erhielten, die Disziplinierung sowie Hierarchisierung der normativen Welt weiter zu erdulden. Mir erscheint Bachtins Theorie hilfreich, nicht nur, um die Funktion des mittelalterlichen Karnevals zu verstehen, sondern auch des gegenwärtigen Karnevals. Damit meine ich jegliche Art von Sichtbarmachung, die in einer ähnlichen Weise zu einer Unterbrechung der Normen sowie zur Teilnahme „norm-abweichender“ Subjektpositionen an der Öffentlichkeit führt. Auf Bachtins Konzept Bezug nehmend, verwendet Sushila Mesquita (2008) den Begriff „Karnevalisierung“, um die zunehmende Sichtbarkeit der normabweichenden Subjektpositionen sowie die vorübergehende Übertretung gesellschaftlicher Normen zu beschreiben. Mesquita ist der Meinung, dass durch Prozesse der Karnevalisierung die Bedrohlichkeit der Subjektpositionen schwindet, die das noch nicht integrierte Andere markieren. Dies gelingt dadurch, dass bestimmte Subjektpositionen mit den Bedeutungsstrukturen von Karneval in Verbindung gebracht, also karnevalisiert werden. Des Weiteren verlieren die Subjektpositionen im Bereich der Sichtbarkeit ihre politische Bedeutung, d.h. parallel zur der erzielten Sichtbarkeit werden sie politisch nicht ernst genommen. Tatsächlich ist eine derartige Sichtbarmachung des schwulen Subjekts in der Berichterstattung der untersuchten Medien zu sehen. Als Beispiel dient dabei der folgende Text, der die typischen Merkmale dieser Repräsentation markiert.
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Wie im Karneval: Tunten tanzten durch die City Karneval im Sommer – und das in Berlin. 10 000 Schwule und Lesben zogen am Sonnabend bei regnerischem Wetter singend und tanzend zur Gedächtniskirche. Grund: Der „Christopher Street Day“, benannt nach einer Straße in New York, wo 1969 die erste homosexuelle Demonstration stattfand. „Selbstbewusst andersherum“ hieß das Motto des Umzugs. Und entsprechend schrill waren die Verkleidungen: Halbnackte Tunten mit Wagenrad-Hüten, ältere Herren in bunten Kleidchen und roten Netzstrümpfen. Konfetti und Flitter flogen von den Pritschenwagen, Clowns und Männchen warfen Bonbons in die lachenden Zuschauer. Und über allem dröhnte der Marianne-Rosenberg-Schlager „Ich bin wie du“, der Kult-Song der Schwulen-Szene. Mehr als flau dagegen abends die Fete in der Werner-Seelenbinder-Halle: Die Helden hatten sich schon tagsüber müde getanzt... (B, „Wie im Karneval...“ 01.07.1991)
In diesem Bericht wird deutlich, dass die Karnevalisierung die Repräsentation einer Demonstration zu der einer Party umwandelt. Obwohl im ersten Absatz erwähnt wird, dass die Veranstaltung auf eine Demonstration (Stonewall-Unruhen) zurückgeht, wird durch einen besonderen Fokus auf Details wie Singen, Tanzen sowie bunte Verkleidungen der Anlass der Demonstration in Berlin ebenso wie in New York unlesbar gemacht. In ähnlicher Weise führt die Beschreibung der Verkleidung bzw. der Feier dazu, das Motto „selbstbewusst andersherum“ als eine Differenz auf der Ebene der Feier zu interpretieren, also als „anders feiern“. Der Text ermöglicht es diesbezüglich nicht, einen politischen Kontext der Schwulen, die „anders feiern“, herzustellen. Die gesamte Demonstration wird zu einem bunten Karneval. In solchen Texten wird wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass die Demonstrationen „bunt, schrill, laut, fröhlich und frivol“ seien. Immer wieder tauchen Beschreibungen von den Kostümen der Männer in den Artikeln auf (B, „Janz Berlin is...“ 18.06.1994). Als weitere Ähnlichkeit ist im diachronen Schnitt zu eruieren, dass in den Texten die Zahlen der Schwulen und Lesben angegeben werden, was die Größe der Demonstration unterstreicht. Dieselbe Narration wird auch durch die Angabe, dass die ganze Stadt „mitgefeiert“ habe, betont. Darüber hinaus werden Anerkennung und Normalisierung konstruiert. Obwohl auch von Lesben berichtet wird, tauchen sie kaum in der bildlichen Darstellung auf. Die Bilder zeigen ausschließlich Männer bzw. schwule Männer in bunten Party-Kostümen (B, „Christopher Street Day in Köln“ 07.07.1997). Obwohl in manchen Texten der politische Kontext der Demonstrationen, wie Überfälle auf sowie Diskriminierung von Homosexuellen, knapp erwähnt wird, richten sich die Texte wiederholt auf die Tatsache, dass gefeiert bzw. „anders“ gefeiert werde (B, „Berlin feierte andersrum“ 25.07.2001; B, „Die Party der schrillen...“ 19.06.2010). Karnevalisierung funktioniert in der Hürriyet-Berichterstattung in ähnlicher Weise. Die gleichen Narrationen, Bilder und Beschreibungen sind in den Texten aus Hürriyet zu sehen. Dabei liegt der Unterschied darin, dass die LSBTI*Bewegung in der Türkei viel später als in Deutschland anfing, in der Öffentlichkeit
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zu demonstrieren. Dennoch fließen schon früher Berichte aus dem Ausland in die Berichterstattung ein. Homosexuelle Party bis in den Morgen In der vergangenen Woche wurde Paris, die Hauptstadt Frankreichs, Zeuge eines Gipfels der Homosexuellen. 200 000 Homosexuelle, Frauen und Männer aus allen vier Himmelsrichtungen der Welt, strömten nach Paris und demonstrierten sehr bunt und bewegt. Die tanzenden und singenden Homosexuellen verurteilten, am Jahrestag des CSDs in Los Angeles, Homophobie in jeglicher Form. Später organisierten die Homosexuellen eine wilde Party. Als die Party zu Ende war und mit dem Putzen begonnen wurde, feierten sie dennoch weiter. (H, „Eşcisel alemi sabaha... “ 01.07.1997)
Hier wird deutlich, dass, ähnlich wie in den Texten in Bild, der politische Kontext der Demonstration, von der berichtet wird, durch den besonderen Fokus auf der Tatsache, dass Schwule und Lesben lange gefeiert haben, ebenso verloren geht wie derjenige der ursprünglichen Demonstration (die hier fälschlich nach Los Angeles verlegt wird). Auf dem Bild ist ein Männerpärchen zu sehen, das sich auf dem Boden, vermutlich einer Diskothek, umarmt und küsst. Daneben steht eine Frau, die gerade den schmutzig scheinenden Boden fegt. Das Bild steht im Dialog mit dem Text und erweckt den Eindruck, dass sehr lange gefeiert, geflirtet und getrunken wurde. Outing von Prominenten In der Berichterstattung der beiden untersuchten Medien konzentriert sich der Diskurs über die mutmaßliche bzw. tatsächliche Homosexualität der prominenten Personen auf drei Kategorien. Diese sind Berichte über erzwungene Outings, d.h. Outings gegen den Willen des Subjekts, Gerüchte über die Homosexualität Prominenter und drittens selbstbestimmte Coming-outs schwuler Prominenter in der massenmedialen Öffentlichkeit. Wie ich anhand der Berichterstattung beider Zeitungen über Rock Hudson gezeigt habe, führte insbesondere die AIDS-Krise zum Outing bzw. zu Gerüchten über die Homosexualität einiger Prominenter. In den untersuchten Ausgaben beider Zeitungen wird die Homosexualität berühmter Personen erst ab den frühen 1990er-Jahren ohne Bezug auf AIDS thematisiert. Als Klatschnachricht wird immer wieder die Frage der mutmaßlichen Homosexualität berühmter Schauspieler und Sänger thematisiert (B, „Sind Sie schwul...“ 18.06.1990; B, „Schwul? Rex Gildo...“ 31.08.1992; H, „Richard Burton erkeklerle...“ 15.04.2000). Von Bedeutung sind hier jedoch insbesondere die Berichte über das Coming-out sowie das erzwungene Outing von Prominenten, da in diesen Texten die eigene Stimme des Subjekts den wesentlichen Bestandteil des diskursiven Ereignisses bildet. Bevor Prominente angefangen haben, freiwillig über ihre Homosexualität zu
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sprechen, wurden sie manchmal dazu gezwungen. Die AIDS-Krise war dabei eine Motivation für das erzwungene Outing. Zunächst begannen schwule Organisationen in den Vereinigten Staaten und danach auch die Schwulenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland, Prominente ohne ihre Zustimmung in der massenmedialen Öffentlichkeit zu outen. Dies war damals als politische Strategie gegen die wachsende Stigmatisierung HIV-positiver Menschen gerichtet sowie gegen die negative Darstellung von Schwulen, die in den Massenmedien mit AIDS in Verbindung gebracht wurden. Die Organisationen wollten damit positive Bilder in der dominanzgesellschaftlichen Kultur erzeugen bzw. zeigen, dass sich auch im Zentrum der Gesellschaft Schwule befinden. Wie Larry Gross (1991) in seiner Analyse aufzeigt, waren die Meinungen jedoch gespalten: Manche sahen es als Verletzung der Privatsphäre, andere sahen es als politischen Akt in einer Zeit, in der Homosexualität aufgrund von AIDS stark negativ dargestellt wurde. Diese Outing-Strategie barg in sich also einige ethische Probleme, und am Ende profitierte, so Gross, die Boulevardpresse am meisten davon (Gross 1991, 353). Anfang der 1990er-Jahre verfolgten Aktivist_innen in der BRD dieselbe Strategie mit dem Ziel, ein positives Bild von Homosexualität in der dominanzgesellschaftlichen Kultur zu etablieren. Diesbezüglich nahm von dieser Zeit an auch der Begriff „Outing“ einen Platz in der Berichterstattung der westdeutschen Medien ein (Heilmann 2011, 135). Der Regisseur Rosa von Praunheim spielte dabei eine wichtige Rolle, da er in einer TV-Show den Schauspieler und Komiker Hape Kerkeling zwang, sich zu outen. Dies verursachte einerseits Diskussionen über die Respektierung des Privatlebens, andererseits eröffnete es Raum für die Infragestellung gesellschaftlicher Strukturen, die es dem schwulen Subjekt nicht ermöglichten, öffentlich über seine Identität zu sprechen. Bild beschrieb die Situation, also Praunheims Druck auf Kerkeling in der Öffentlichkeit, als einen „Schwulen-Verrat“. Die Überschrift des Textes, der auf der Titelseite erschien, lautete „Pfui, Rosa!“, was zu dem Deutungsmuster „Scham“ verdichtet werden kann. Darüber hinaus entsteht eine Lesart, die Praunheims Tat als inakzeptabel decodiert (B, „Pfui Rosa!“ 12.12.1991). Tatsächlich wird diese in der Fortsetzung des Textes als negativ beurteilt. Fernsehen als Pranger mißbraucht. Wie weit darf das Fernsehen gehen? RTL-plus war bekannt, daß Rosa von Praunheim rücksichtslos Menschen bloßstellen will. Bekannt war auch, daß Praunheim in einer Schweizer Zeitschrift bekannte westdeutsche Politiker als schwul denunzierte. Der Sender ließ ihn gewähren. Und so diskriminierte Praunheim munter drauflos. Mit Sätzen wie: „Hypothetisch! Was wäre, wenn Grauweiler sich bekennt, er sei schwul – würde er gewählt werden?“ Eine Äußerung, an der nichts stimmen muß, die aber garantiert hängenbleibt. Praunheim über die CSU: „Die meisten Schwulen im Bundestag sind von der CSU.“ Und: „Warum sagt Bio nicht, daß er schwul ist? Er hat doch Vorbildfunktion.“
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Schließlich die Bloßstellung Hape Kerkelings. [...] „Mit ihm kann man positiv Homosexualität darstellen. Ich habe mit Hape telefoniert, ob er sein Schwulsein öffentlich machen würde. ‚Jetzt noch nicht, vielleicht später‘, sagte mir Hape. Sei ein Vorbild!“, enthüllte Rosa, was die ureigenste Angelegenheit von Publikumsliebling Kerkeling ist. „Ich finde es eine Taktlosigkeit, so etwas im Fernsehen zu sagen“, so Hapes Vater Karl-Heinz Kerkeling (54), Tischler aus Recklinghausen, zu BILD. Hape selbst zu BILD: „Ich bin schwul! Aber das geht doch eigentlich niemanden etwas an. Und ich stehe einfach nicht auf Rosa. Er schickt mir ständig Rosenbouquets ins Studio. Enttäuschte Liebe. Ich bin momentan in einer sehr glücklichen Beziehung. Der Rest ist mir schnurzegal.“ [...] (B, „Fernseher als Pranger...“ 12.12.1991)
Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass in dem Text nicht nur das erzwungene Coming-out in der Öffentlichkeit als negativ dargestellt wird, sondern auch das Schwulsein an sich. Die negative Darstellung von Praunheims Tat geht mit der negativen Darstellung mutmaßlicher Homosexualität einher. Von Bedeutung ist dabei die Wortwahl: Das Outing von Prominenten wird als „Attacke“ beschrieben, was dazu führt, nicht nur die Handlung selbst, sondern auch die Behauptung des Schwulseins als beleidigend und schädlich zu deuten. Des Weiteren wird Homosexualität als Geheimnis konstruiert, dessen Enthüllung als schädlich für den Ruhm des Prominenten gesehen wird. In Fällen, in denen der Prominente entgegen der Behauptung nicht schwul ist, bleibt die Behauptung von Homosexualität Bild zufolge an seinem Image „hängen“, was sich wiederum als negativ für seinen Ruf deuten lässt. Die „Pranger“-Metapher in der Überschrift fasst in ähnlicher Weise sowohl die Behauptung als auch das erzwungene Coming-out als schädlich, unerwünscht und somit negativ für das Subjekt selbst zusammen. Sie konnotiert damit Strafe sowie Schuld: Das Schwulsein lässt sich in diesem Zusammenhang als verheimlichte Schuld deuten bzw. als eine „ureigenste Angelegenheit“, über die in der Öffentlichkeit nicht gesprochen werden sollte. Dennoch findet in dem Text eine Normalisierung der schwulen Repräsentation bzw. eine Neugestaltung von Grenzen der Sichtbarkeit statt. Im Grunde berichtet der Text, dass der Schwule auch ein Teil der dominanzgesellschaftlichen Kultur ist. Kerkeling wird als „Publikumsliebling“ bezeichnet, und die Stimme seines Vaters weist auf eine Anerkennung hin. Kerkeling selbst wird nicht negativ dargestellt. Der Fokus des Textes liegt auf Praunheims Tat, nicht auf Kerkelings Identität. Durch die Repräsentation von Praunheims Stimme taucht auch die Frage des schwulen Vorbilds auf. Seine Stimme verweist, trotz seiner negativen Darstellung, auf die positive Rolle des Outings für die Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen, die das schwule Subjekt unterdrücken. Praunheim möchte die Regeln der Sichtbarkeit verändern. Dementsprechend zeigt Kerkelings Reaktion auf sein Outing auch Merkmale einer normalisierenden Repräsentation: jetzt verbirgt Kerkeling seine schwule Identität nicht mehr. Das Problem sei nicht seine Identität und auch nicht die Tatsache, dass er diese bis jetzt verbergen musste, sondern Praunheims
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Handlung, so zitiert ihn der Text. Dennoch macht erst diese es ihm möglich, offen über seine Beziehung zu sprechen bzw. das Ganze als Liebesdrama zu beschreiben. Ein weiterer Artikel auf der gleichen Seite bezeichnet die Strategie des „Outings“ als „neue Inquisition“. Bild behauptet, dass „radikale Schwulen-Gruppen“ mit dieser „Hexenjagd“ positive Leitbilder sowie Solidarität in der Zeit der „Lustseuche Aids“ erzeugen möchten. Deshalb „zerren“ sie „den menschlichen Intimbereich“ schwuler Prominenter an die Öffentlichkeit. Im Abschlussteil des Textes wird die Stimme eines Sozialethikers repräsentiert, der meint, dass eine Bloßstellung in den Massenmedien die Unantastbarkeit des Lebens eines Subjekts verletze (B, „Outing: darf ein...“ 12.12.1991). Kerkelings erzwungenes öffentliches Outing wird somit auch als Verletzung seiner Privatsphäre gewertet. Trotzdem wird im zeitlichen Verlauf der Berichterstattung deutlich, dass das Outing zu einer normalisierenden Repräsentation des schwulen Subjekts führte. Im August 1992 erschien ein Interview mit Kerkeling, in dem die Normalisierung deutlicher wird. Bild stellt ihm die Frage, wo er ein halbes Jahr lang gesteckt habe, und Kerkeling erzählt, dass er sich mit seinem Freund in der Toskana „verkrochen“ habe. Es wird berichtet, dass Kerkeling mit seinem Freund in Düsseldorf wohnt und es werden auch Angaben zu seiner Wohnung gemacht: „200 qm, 6 Zimmer, Altbau“. Auf die Frage, wie seine Mutter an jenem TV-Abend reagiert habe, erzählt er, dass seine Eltern schon wussten, dass er schwul ist. Kerkeling äußert auch, dass das Outing sein Leben nicht verändert habe, Fans hätten ihm Briefe gesendet und ihre Unterstützung mitgeteilt (B, „Kerkeling: Mami weiß...“ 27.08.1992). Durch das Outing wird also am Ende doch ein Vorbild geschaffen, das der normalisierenden Sichtbarkeit entspricht. Kerkeling ist ein erfolgreicher Schwuler, der eine glückliche Beziehung führt, der die Oberschicht repräsentiert und sowohl von seiner Familie als auch von seinen Fans anerkannt, akzeptiert und geliebt wird. Sein Bild steht also nicht außerhalb der Normativität, sondern zeigt eine Integration in die Normativität der neoliberalen Gesellschaft. In einer ähnlichen Weise konstruiert Bild die normalisierende Repräsentation von Erfolg, Karriere, Beziehung sowie Vermögen viel später, als sich Guido Westerwelle outete, worauf ich später genauer eingehen werde. Ein ähnliches erzwungenes Outing fand in der Türkei statt, als der türkische Popsänger Tarkan öffentlich geoutet wurde. Im Juni 2001 zeigte Show TV, ein türkischer privater Fernsehsender, Nackt- bzw. homoerotische Fotos von Tarkan, die aus seinem Privatarchiv entwendet worden waren. Dies verursachte in der Türkei einen großen Skandal, der, ähnlich wie bei Kerkelings Outing, mit Diskussionen über das Recht auf Privatsphäre sowie über Tarkans sexuelle Identität einherging. Obwohl Hürriyet sehr oft Stimmen repräsentierte, die die Veröffentlichung der Fotos gegen seinen Willen kritisierten, erschienen sie am 8. Juni 2001 auf der Titelseite mit der Überschrift „Tarkans schockierende Fotos“. Des Weiteren wird im
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folgenden Text deutlich, dass Hürriyet diese Bilder als Beweis seines Schwulseins anführte. Tarkans schockierende Fotos Gestern Nacht wurden in den Nachrichten von Show TV Fotos von dem berühmten Popstar Tarkan veröffentlicht, auf denen er nackt und eng umschlungen mit seinen Freunden abgebildet ist. Die Fotos stammen von dem 32-jährigen Süleyman Şahin, einem amerikanischen Staatsbürger. Şahin hat die Fotos in Amerika in die Hände bekommen. Er sagte weiter: „Ich habe noch einige Bilder. Sie zeigen manche Dinge sehr offen.“ Şahin behauptet, dass ihm aus Tarkan Umfeld 130.000 Dollar geboten wurden, um an die Fotos zu kommen. Auch sagte Şahin, dass der Manager von Tarkan, Uygar Ataş, ihn mehrmals angerufen habe, um sich mit ihm zu treffen und das Thema zu beenden. Ataş: „Es gab einige Treffen. Er erzählte von den Fotos. Wenn er in Istanbul sei, wolle er sich treffen. Wir wollten die Fotos sehen, die er besitzt. Er wollte Geld. Zuerst 250.000 Dollar. Später ist er auf 135.000 Dollar runtergegangen. Als wir ihm nicht das nötige Interesse entgegenbrachten, beschritten sie diesen Weg. Alle Gespräche, die wir mit ihnen geführt haben, haben wir aufgenommen. Wir haben Tonaufnahmen. Bezüglich der Fotos gibt es nichts zu sagen. Das sind Fotos von Tarkan, die während eines Urlaubs mit seinem Freund entstanden sind. Dies ist eine organisierte Geschichte, und wir werden sehr bald rechtliche Schritte einleiten. (H, „Tarkan’ın şok fotoğrafları“ 08.06.2001)
Obwohl Tarkan in dem Text nicht offen als Schwuler bezeichnet wird, fungieren sowohl die Inhalte der Bilder als auch die Darstellung ihrer Herkunft im Text als Signifikanten für seine Homosexualität. Zunächst wird die auf den Fotos zu sehende Intimität und Nacktheit im Text unterstrichen. Die Stimme von Şahin deutet dabei darauf hin, dass die nicht veröffentlichten weiteren Fotos ohne Zweifel beweisen, dass Tarkan schwul ist. Trotz der homoerotischen Stimmung der Fotos ist nämlich unklar, in welchem Kontext sie aufgenommen wurden. Eines der Bilder zeigt ihn nackt mit einem Mann am Strand, auf dem zweiten umarmt ihn ein anderer Mann am Strand, und auf dem letzten Bild ist er in einer Wohnung zu sehen, wo ihn ein Mann in Frauenkleidern umarmt. Es ist also tatsächlich unklar, ob es sich um freundschaftliche Szenen handelt oder ob diese Männer eine Beziehung mit Tarkan hatten. Dennoch konstruiert die Berichterstattung die Bilder als Beweis für seine Homosexualität, was sich auch in folgenden Artikeln fortsetzt. Auch die Angabe, dass Tarkans Team Şahin Geld geboten habe, um ihn vom Verkauf der Fotos an die Medien abzuhalten, dient als Beweis für den homoerotischen Kontext der Bilder. Hürriyet widmet dem Ereignis auch in den folgenden Tagen große Aufmerksamkeit. In einem folgenden Artikel werden Journalist_innen nach ihrer Meinung zur Veröffentlichung der privaten Fotos gefragt (H, „Benim çıplak fotoğraflarmı...“ 24.06.2001). Die Veröffentlichung der Fotos führte also zu medialen Diskussionen, die sich in zwei Diskurssträngen entwickelten: Homosexualität und die Frage des Respekts gegenüber dem Privatleben. Journalist_innen, Tarkans Anwälte, Promi-
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nente, Tarkans Familie, Abgeordnete sowie Vertreter_innen der Polizei nahmen im Verlauf der Berichterstattung an der Diskussion teil. Von großer Bedeutung für die Analyse ist, dass die Stimmen, selbst die negativen, wiederholt das Argument vorbrachten, dass es um Tarkans Privatleben gehe, das man respektieren solle. Erst später gewann Tarkan selbst eine Stimme in den Texten. Die Texte, in denen er zum Sprechen kommt, konstruieren ihn auf zwei Weisen: Erstens als Subjekt, das sich verletzt fühlt, zweitens als Subjekt, das weder Schamgefühl noch Reue zeigt. Letzteres Konstrukt verweist, so meine These, auf einen der Momente im Verlauf des Diskurses, die zu einer Transformation führten. Am Beispiel des folgenden Textes möchte ich dies etwas näher erläutern. Die Art und Weise, wie Hürriyet über das gesamte Ereignis berichtet, ähnelt der Bild-Berichterstattung über Kerkelings Outing. Die beiden Zeitungen legten den Fokus besonders auf die Verletzung der Privatsphäre und repräsentierten die Diskussionen über Journalismus sowie die Rolle der Medien in solchen Fällen. Eine weitere Ähnlichkeit besteht darin, dass in den Texten der beiden Zeitungen Expert_innen sowie Vertreter_innen der Öffentlichkeit viel stärker zum Sprechen kamen als die betroffenen Subjekte. In Bild wurde dabei die Deutung „Homosexualität“ als Schädigung des Rufes konstruiert, in Hürriyet als schockierend für die Öffentlichkeit. Die Subjekte fühlten sich verletzt und betroffen: Sowohl Kerkeling als auch Tarkan verließen ihr Land, um Abstand zu haben. In beiden Fällen besteht also das Ereignis darin, dass öffentliche Diskussionen stattfinden, sowohl über die Homosexualität einer berühmten Persönlichkeit als auch über die Rolle der Medien in Bezug auf die Privatsphäre. Diese Diskussionen kann man auch als Diskussionen über eine Verschiebung der Grenzen der Sichtbarkeit betrachten. Das Outing führt zu einer Veränderung der schwulen Figur in der Berichterstattung. Die Berichte über das Outing von Prominenten zeigen, dass Schwule nicht nur als am Rande befindlich, wie bspw. in der pathologisierenden Repräsentation, gedeutet werden, sondern als im Zentrum der dominanzgesellschaftlichen Kultur gesehen werden. Dennoch sind auch Unterschiede in der Darstellung beider Ereignisse zu erkennen. Obwohl in beiden Fällen die Personen, die die Prominenten dazu gezwungen haben, sich in der Öffentlichkeit zu outen, aufgrund der Verletzung der Privatsphäre als negativ konstruiert werden, verkörpern sie unterschiedliche Subjektivierungen in der Berichterstattung. Süleyman Şahin, der die Fotos von Tarkan an Show TV verkaufte, war nicht von einer politischen Agenda motiviert wie Rosa von Praunheim. Diesbezüglich kann die Art und Weise, in der Şahin versuchte, Tarkan in der Öffentlichkeit zu outen, als Exklusionsstrategie bezeichnet werden. Damit beziehe ich mich auf Andreas Heilmanns Analyse von Outing-Praxen in den Massenmedien (2011). Heilmann zufolge wird dabei die Homosexualität einer berühmten Person genutzt, um deren Ruf zu schädigen. Diese Art von Outing eröffnet, so Heilmann, keinen Raum für den Betroffenen, um seine Homosexualität offen zu bekennen, da es oft zu einem großen Skandal sowie negativer Darstellung führt. Dem Geouteten bleibt diesbezüglich nichts anderes übrig als sein Schwulsein zu bestreiten (Heil-
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mann 2011, 143-144). Wie die Analyse gezeigt hat, verwendet Tarkan jedoch eine andere Strategie, die auch in der Berichterstattung wiederholt auftaucht: Nämlich den Fokus auf die Verletzung der Privatsphäre zu verschieben, anstatt seine mutmaßliche Homosexualität zu bestreiten. Er bedankt sich bspw. in seiner Pressekonferenz bei den Zeitungen sowie bei denjenigen Journalist_innen, die die Gerüchte über sein „Privatleben“ nicht weiter in Umlauf brachten, sondern den Fokus auf die Verletzung seiner Privatsphäre legten (H, „Gidiyorum ne zaman...“ 12.06.2001). Im Vergleich zur Berichterstattung im Zuge der Veröffentlichung homoerotischer Bilder von Tarkan ist in den Artikeln über Kerkelings Zwangs-Outing eine andere Art von Outing, und zwar das Outing als transgressive Strategie zu sehen: Heilmann bezeichnet Zwangs-Outings, die mit dem Ziel der Reklamation von gesellschaftlicher Anerkennung und Solidarität mit Homosexuellen durchgeführt werden, als eine transgressive Strategie. Bei dieser relativ neuen und umstrittenen Strategie zeigen Schwule, dass auch Prominente Angehörige ihrer Gruppe sind, um ein positives Bild von Homosexualität in der dominanzgesellschaftlichen Kultur zu erzeugen. Für den Geouteten geht dies mit erheblichen Risiken für sein Image in der Öffentlichkeit einher, da er das Recht auf bzw. die Kontrolle über seine Selbstdefinition verliert (Heilmann 2011, 152-153). Als weitere Kategorie nennt Heilmann das Outing als Ermächtigungsstrategie, die man auch als freiwilliges Coming-out in der Öffentlichkeit zusammenfassen kann. Im Zentrum dieser Strategie, die von den Massenmedien verfolgt wird, steht das Ziel der Anerkennung von Differenzen. Dabei werden politische Forderungen mit dem Outing in Verbindung gebracht (Heilmann 2011, 141). Als typische Beispiele lassen sich dabei Coming-outs von Politikern wie Klaus Wowereit und Guido Westerwelle anführen, denen auch Bild besondere Aufmerksamkeit schenkte. Im diachronen Schnitt des Analysematerials taucht als ältestes Beispiel für diese Strategie der folgende Bericht über das Coming-out des Bundestagsabgeordneten Herbert Rusche auf. Grüner: Bekenne mich zur Homosexualität Der einzige Bundestagsabgeordnete, der sich offen zu seiner homosexuellen Veranlagung bekennt, wird sich keinem Aids-Test unterziehen. Herbert Rusche (33), Nachrücker der Grünen im Bonner Parlament zu BILD: „Ich erfreue mich strahlender Gesundheit. Ich habe eine feste Beziehung. Wenn jemand meint, ich solle wegen meiner sexuellen Orientierung zum Aids-Test, dann müßten dies alle Bonner Politiker tun. Denn diese Krankheit ist nicht nur auf Homosexuelle oder Drogenabhängige beschränkt, sondern kann jeden Menschen treffen. Die Stellung verloren Der Grüne Bundestagsabgeordnete weiter: „Ich kann nur allen raten, bei sexuellen Kontakten – und nur so kann Aids übertragen werden – vorsichtig zu sein. Im übrigen bekenne ich mich offen zur Homosexualität. Ich habe in meinem Leben schon Riesenprobleme gehabt. Mit 17 Jahren habe ich alles meinen Eltern erzählt. Sogar eine Stellung als Krankenpfleger habe ich wegen meiner Veranlagung verloren. Ich kann nur an die Gesellschaft appellieren, jeden nach
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seiner Vorstellung glücklich werden zu lassen. Ich bin und werde auch glücklich sein.“ (B, „Grüner: Bekenne mich...“ 05.10.1985)
Rusches Outing siedelt sich im Kontext der AIDS-Krise an, deren Darstellung sich in der massenmedialen Öffentlichkeit 1985 zuspitzte. Wie ich im Unterkapitel zur Berichterstattung über HIV/AIDS genauer aufgezeigt habe, gab es auch in Bild eine diskursive Kopplung von AIDS und Homosexualität. In dieser Hinsicht steht der Text in Widerspruch mit dem Kontext der damaligen Zeit bzw. der damaligen Berichterstattung. Das Coming-out von Rusche bezieht sich also auf den Kontext, der zur Stigmatisierung von Schwulen führte, und versucht, diese Stigmatisierung zu brechen. Als Beweise dafür, dass er „trotz“ seiner Homosexualität HIV-negativ sei, benutzt er zwei Argumentationsmuster, die in der damaligen Zeit häufig auftauchen: Von außen betrachtet scheint er gesund zu sein, und er habe eine monogame Beziehung, daher brauche er keinen Test. Diese Argumentationsmuster erzeugen in dem Text eine normalisierende Repräsentation: Es wird ein Bild von einem schwulen Mann konstruiert, der mit Erfolg, Gesundheit, Liebe sowie Lebensfreude in Beziehung gebracht wird, was während der AIDS-Krise selten vorkam. Als typisches Beispiel für Outing als Ermächtigungsstrategie taucht parallel zur Entstigmatisierung von Homosexuellen als potenzielle AIDS-Kranke auch die politische Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung auf. Um an die soziale Anerkennung von Differenzen zu appellieren, führt Rusche seine eigenen Diskriminierungserfahrungen als Beispiel an. Als der sich der SPD-Politiker Klaus Wowereit auf dem Sonderparteitag im Juni 2001 als Schwuler outete, berichtete Bild darüber auf der Titelseite mit dem mittlerweile berühmt gewordenen Satz „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“ in der Überschrift (B, „Ich bin schwul...“ 11.06.2001). Auffällig ist hier, dass sich die Berichterstattung über das Coming-out von Wowereit im Vergleich zu Rusches Coming-out bezüglich der Normalisierung unterscheidet, was ich mit Blick auf den folgenden Text diskutieren möchte. „Ich mache kein Geheimnis aus meiner Homosexualität“ Klaus Wowereit (47), wahrscheinlich Berlins nächster Regierender Bürgermeister. Gestern brach er mit einem Tabu in der Politik und outete sich als homosexuell. Der erste deutsche Spitzenpolitiker, der sich traut. „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“, sagte er auf dem Sonderparteitag der Berliner SPD. Tosender Applaus, Jubel und eine einstimmige Nominierung zum neuen SPD-Spitzenkandidaten für Berlin. Am Samstag soll er mit den Stimmen von SPD und Grünen zum 13. Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt werden, Eberhard Diepgen (CDU) ablösen. Wowereit wird damit großen Politikern, auch seinem persönlichen Vorbild Willy Brandt, folgen. Er sagt: „Ich trau mir das zu.“ BILD sprach mit dem Juristen. Warum jetzt das Outing? Wowereit: „Es ist kein Outing. Ich habe nie ein Geheimnis aus meiner Homosexualität gemacht.“
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Kann Ihnen Ihre Ehrlichkeit im Wahlkampf schaden? „Ich glaube nicht. Wir leben in einer weltoffenen Stadt. Homosexualität ist für viele Berliner eine Normalität.“ Seine Entscheidung: „Bislang dachte ich, das sei Privatsache, aber ich habe dazugelernt.“ Über seinen Freund, einen Angestellten, mit dem er schon seit Jahren zusammenlebt, mag er nicht sprechen. Auch politisch hat sich Wowereit nie als schwuler Vorkämpfer profiliert. Eine Rede beim Jahresempfang sozialdemokratischer Homosexueller, ein Ja zur Schwulen-Ehe – das war’s. Wowereit: „Ich habe nie Schwulenpolitik gemacht, sondern als Schwuler Politik.“ (B, „Ich mache kein...“ 11.06.2001)
Die Außergewöhnlichkeit der Situation entsteht durch den „Tabubruch“. Dass sich vor Wowereit kein Spitzenpolitiker „traute“, sich zu outen, lag an den nicht abschätzbaren Risiken, die ein Outing für das öffentliche Image bedeutete. Wowereits Satz weist somit auf Normalisierung hin. Hier ist von Bedeutung, dass die Normalisierung nicht nur durch die Konstruktion seiner eigenen Identität erfolgt, sondern auch durch die Angabe, dass sein Outing positiv aufgenommen wurde: „Jubel“ und „Applaus“ lassen sich diesbezüglich als Bekräftigung der Normalisierung deuten. Wowereit distanziert sich jedoch von dem Begriff „Outing“, was man auch als eine Strategie lesen kann, die es ihm ermöglicht, sein Image von Konnotationen des Verschweigens bzw. der Unehrlichkeit abzugrenzen. Er war also schon immer ehrlich mit seiner Identität, habe sie jedoch als „Privatsache“ gesehen, die also kein Thema in der Öffentlichkeit sein sollte. In ähnlicher Weise konstruiert er seine Beziehung als „Privatsache“ und möchte nicht in der Öffentlichkeit darüber sprechen. Seine Distanzierung von dem Begriff „Outing“, der im Übrigen ein Begriff aus der Schwulenbewegung ist, gewinnt eine weitere Dimension mit seiner Distanzierung von „Schwulenpolitik“. Er möchte, abgesehen von der Befürwortung der „Schwulen-Ehe“, keine politischen Forderungen der schwulen Bewegung vertreten, sondern Politik für die Mehrheit der Bevölkerung machen. Beschreibungen wie „weltoffene Stadt“ sowie „Homosexualität ist Normalität“ führen dazu, dass politische Forderungen Schwuler bezüglich der Probleme Schwuler in der Gesellschaft ihre Relevanz verlieren. Die Öffentlichkeit wird als tolerant, offen und liberal beschrieben, was die Relevanz einer Schwulenpolitik infrage stellt. An dieser Stelle wird auch der Unterschied zur Repräsentation von Rusche deutlich. Während in dem Text über das Coming-out von Rusche ein schwuler Politiker zu sehen war, der soziale Diskriminierung, Stigmatisierung sowie Unsichtbarkeit von Schwulen thematisierte, ist hier nun ein schwuler Politiker zu sehen, der sich bei seinem Coming-out gleichzeitig von politischen Forderungen der Schwulenbewegung distanziert. Seine schwule Identität gewinnt Anerkennung, und er zeigt Bereitschaft zur Integration in die Politik für die Mehrheitsgesellschaft, anstatt eine Politik für minorisierte Gruppen wie Schwule zu machen. Manche vermuteten hinter Wowereits Outing eine PR-Strategie, denn bis dahin war der SPD-Politiker kaum bekannt gewesen (Heilmann 2011, 179-180). Noch mehr wurde jedoch darüber spekuliert, dass Wowereit in Wirklichkeit gezwungen
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war, sich zu outen, da angeblich Denunziations-Kampagnen gegen ihn geplant waren. Inmitten der Spekulation stand der Springer-Verlag, insbesondere Bild, in der den Gerüchten zufolge eine Denunziation stattfinden sollte (ibid., 182). Heilmann zufolge wollte Wowereit sich selbst outen, bevor Bild ihn denunzierte, um seine Handlungsautonomie nicht zu verlieren (ibid., 183). Einen der wichtigen Momente im Verlauf der Berichterstattung über Comingouts von Prominenten, die auf eine Normalisierung der schwulen Repräsentation hinweisen, bildet Guido Westerwelles Coming-out. Am 21. Juli 2004 berichtete Bild auf der Titelseite mit der Überschrift: „FDP-Chef Westerwelle liebt diesen Mann“. Unter der Überschrift waren Westerwelle und sein Freund Michael Mronz zu sehen, die sich auf der Geburtstagsfeier von Angela Merkel in Berlin befanden. Bild berichtete darüber, dass Westerwelle zum ersten Mal öffentlich „seine große Liebe“, „den gutaussehenden“ „Geschäftsführer des weltbekannten Reitturniers CHIO“, zeigte (B, „Westerwelle liebt diesen...“ 21.07.2004). Im Unterschied zu Rusches und Wowereits Coming-out fand hier ein Outing statt, in dem ein erfolgreiches schwules Paar in den Bereich der massenmedialen Sichtbarkeit eintritt. Der Text berichtet, dass der „Mann an der Seite des FDP-Chefs“ zunächst ein „Tuscheln bei den Ehrengästen ausgelöst“ habe. Bild beschreibt Mronz als einen „jungen Mann mit Michael-Schumacher-Kinn, leicht gewelltem dunklen Haar und modischem Nadelstreifen-Anzug“, und danach fasst die Zeitung seinen erfolgreichen Lebenslauf zusammen (B, „An Merkels 50...“ 21.07.2004). Diesbezüglich entsteht das Bild eines schwulen Subjekts, dessen Existenz im öffentlichen Raum bzw. im Feld des Sichtbaren mit individuellem Erfolg in Verbindung gebracht wird. Ähnlich wie bei Wowereits Outing entsteht hier die Sichtbarkeit in der massenmedialen Öffentlichkeit ohne Bezug zu den politischen Forderungen der LSBTI*-Bewegung. Das als sowohl im Bereich der Politik wie auch der Finanzen erfolgreich konstruierte schwule Paar wird von der dominanzgesellschaftlichen Kultur einerseits anerkannt, andererseits wird so implizit angedeutet, dass Regelungen zur sozialen und rechtlichen Gleichstellung unnötig seien. Ähnlich wie Wowereits Outing weist nämlich Westerwelles öffentliches Coming-out auf einen für die Neoliberalen typischen Umgang mit der Sexualität hin: Obwohl beide Politiker auf der Ebene der massenmedialen Sichtbarkeit als schwul repräsentiert werden, wird ihre Sexualität nicht als Thema der öffentlichen Politik, sondern als persönliche Präferenz konstruiert. Des Weiteren wird Westerwelles Coming-out als „stilles Outing“ bezeichnet, da er sein Schwulsein nicht explizit verbalisierte. Dies erinnert wiederum an Wowereits Zurückweisung der „Schwulenpolitik“, da er als schwuler Mann in einer Machtposition nicht über die rechtliche Regulierung seiner eigenen Identität sprechen möchte.
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Intergation und Anerkennung Ab den frühen 1990er-Jahren taucht in der Bild-Berichterstattung immer wieder der Diskurs über die gleichgeschlechtliche Ehe auf. Auffällig ist dabei, dass sich in den früheren Texten der Diskurs über Ehe mit dem Diskurs über die Institution Religion verschränkt. Die Repräsentation des schwulen Subjekts verkörpert dabei den Wunsch sowohl nach einer Integration in die Institution Ehe als auch nach Anerkennung durch die Kirche. Die Rolle der Kirche in der Berichterstattung ist wesentlich, da sie als Maßstab für gesellschaftliche sowie juristische Anerkennung funktioniert. Am 14. Mai 1991 berichtet Bild beispielsweise über eine „Schwulenhochzeit“, an der ein Pfarrer teilnahm. Bild beschreibt die Situation als rätselhaft, da sich die offizielle Stellungnahme der Kirche von der des Pfarrers unterscheidet. Die Zeitung diskutiert dabei die Wahrhaftigkeit der Ehe: Das schwule Paar, so Bild, sei nämlich „echt“, auch die Kneipe, in der die Hochzeit stattfindet. Bild stellt die Frage: „Aber wie echt ist der Pfarrer?“ (B, „Rätsel um Berliner...“ 14.05.1991). In der Fortsetzung des Berichts wird dieser Frage nachgegangen. [...] Der füllige Mann (dunkle Haare, Vollbart) nennt sich Pastor der Evangelischen Freikirchlichen Gemeinde Berlins. Seltsam: Dort kennt ihn keiner. Der Sprecher des Bischofs: „Und selbst wenn – diese religiöse Gemeinschaft hat Sekten-Charakter. Daß er sich Pastor nennt – bitte sehr.“ Im Berliner Telefonbuch steht „Pastor Wolter“ unter der Berufsbezeichnung: „Redner und Theologe.“ Aber warum suchte das Paar Zuflucht bei diesem mysteriösen Theologen? Die beiden: „Wir sind beide gläubig, deshalb wollten wir auch den christlichen Segen.“ „Klar, die Diskriminierung muß aufhören.“ Mit diesem Problem werden beide großen Konfessionen immer häufiger konfrontiert. Peter Kollmar vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland: „In verschiedenen Landeskirchen sind bereits Ausschüsse mit diesem Thema beschäftigt. Klar ist, daß die Diskriminierung der Homosexuellen aufhören muß.“ Der schwule Gastronom Frank B. (36, drei Lokale in Stuttgart): „Mein Partner und ich denken ebenfalls schon über eine Heirat nach – schon aus steuerlichen Gründen.“ „Schmusebär“ und „Teddy“, die sich seit fünf Jahren kennen und schon vor der „Trauung“ in der Berliner Juliusstraße zusammenlebten, kommen jedoch (wie alle Schwulenpaare) nicht in den Genuß von Steuervorteilen. Das Bundesfinanzministerium: „Eine gemeinsame steuerliche Veranlagung von Homosexuellen ist nicht möglich.“ [...] (B, „Schwulen-Hochzeit: Schmusebär...“ 14.05.1991)
Die Frage nach der Wahrhaftigkeit des Pfarrers, also die Frage, ob er tatsächlich die Institution Kirche repräsentiert, ist in dem Text deswegen wichtig, weil die Kirche als Deutungsmuster für die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe agiert. Mit der offiziellen Stimme der Kirche wird zuerst die Rolle des Pfarrers als Repräsentant der Kirche abgewiesen und danach die Legitimität der Ehe auf der Ebene der institutionellen Religion. Der Wunsch nach Anerkennung wird in dem Text mit der Frage der Diskriminierung verknüpft. Schwule wollen von der Kirche anerkannt
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werden und sich dadurch in die Institutionen Ehe und Religion integrieren. Bedeutend ist dabei, dass die Kirche diese Diskriminierung als Problem bezeichnet und bereit ist, Schwulen Anerkennung zu verleihen. Ganz zum Schluss taucht der Diskurs über Ehe als finanzielle Institution auf. Hier wird wiederum deutlich, dass die gleichgeschlechtliche Ehe auch auf der finanziellen bzw. juristischen Ebene nicht ganz anerkannt wird. Die Frage der Wahrhaftigkeit des Pfarrers verknüpft sich also mit der Frage der Wahrhaftigkeit bzw. Ernsthaftigkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe. Sowohl die Institution Kirche als auch das Bundesfinanzministerium verleihen Anerkennung nur in einer bestimmten Hinsicht. Diese begrenzte Anerkennung spiegelt sich auch auf der Ebene der Sprache wider: Die Männer werden mit ihren Spitznamen repräsentiert, was die Ernsthaftigkeit der Diskussionen über das Recht auf Ehe sowie die Diskriminierung von Schwulen, die in dem Text erwähnt werden, verringert sowie die Männer und ihren Wunsch auf Anerkennung als lächerlich darstellt. In der Fortsetzung des Berichts wird detailliert die Zeremonie beschrieben, die sich von einer heterosexuellen Hochzeit kaum unterscheidet. Der Unterschied liegt allein darin, dass alles „nachgemacht“ wird. So wird berichtet, dass in der Eckkneipe ein Altar mit Kruzifix, Blumen, Kerzen und Bibel aufgebaut wurde. Es wurde also das Interieur einer Kirche nachgeahmt. Auch die Zeremonie ist eine Kopie einer heterosexuellen Hochzeit. Die beiden Männer knien und der Pastor fragt, ob sie „den Bund fürs Leben schließen“ möchten. Bild berichtet, dass die beiden Männer mit „kräftigen Männerstimmen“ die Antwort „Ja“ gegeben haben. Der Wunsch nach Anerkennung sowie Integration im Rahmen der Ehe prägt das Bild des schwulen Mannes in den frühen 1990er-Jahren. Im Dezember 1991 erschien ein Bericht in Bild über die Europakonferenz der Internationalen Lesbenund Schwulenvereinigungen in Berlin. Volker Beck, damals Sprecher des Schwulenverbandes in Deutschland (heute Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, LSVD), fordert in dem Text, dass „Hochzeitsglocken“ auch für Schwule und Lesben läuten sollen (B, „Schwule und Lesben fordern...“ 31.12.1991). Als im August 1992 im Berliner Standesamte 70 gleichgeschlechtliche Paare in der Aktion Standesamt Antrag auf Eheschließung stellten, berichtete Bild darüber mit Fokus auf einem schwulen Paar. In dem Text sind typische Narrationen erkennbar, die sich im Diskurs über die gleichgeschlechtliche Ehe wiederholen. Bild berichtet darüber, dass die Männer „seit eineinhalb Jahren“ zusammenwohnen. „Sie teilen sich die Miete, besorgen zusammen die Einkäufe und gehen abends gemeinsam ins Bett. Sie lieben sich – und wollen heiraten.“ Das Zusammenleben, die Finanzgemeinschaft, also „das gemeinsame Leben“, fungiert in Berichten, in denen das schwule Paar eine Eheschließung fordert, häufig zur Begründung dieses Wunsches. Diese Narration dient jedoch nicht nur zur Begründung der Forderung nach dem Recht auf Eheschließung, sondern auch zur Normalisierung. Es wird dadurch signalisiert, dass schwule Paare, die heiraten wollen, das gleiche „normale“ Leben führen wie Heterosexuelle, womit die Angst vor den Gefahren abgebaut werden soll, die potenzielle
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Differenzen für die gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen bedeuten würden. (B, „Wolfgang und Thomas...“ 19.08.1992). Dabei verschränken sich häufig die Diskurse über Religion und Ehe. Bild stellt nach der Aktion Standesamt die Frage, ob Gott die „schwule Ehe“ gewollt habe. Der Text beruht auf dem Frage-Antwort-Prinzip, indem Fragen aufgelistet werden wie etwa, wie viele Deutsche schwul seien, was die Bibel dazu sage oder ob Schwulsein eine Sünde sei. Auf die Frage, wo Schwule heiraten dürfen, wird die Antwort gegeben, dass sie nur in Dänemark das Recht auf Eheschließung haben. „Hochzeit allerdings nur im Standesamt“, so teilt Bild mit (B, „Schwulen-Ehe – hat Gott...“ 20.08.1992). Der Diskurs über Religion verliert in Artikeln über die gleichgeschlechtliche Ehe ab den späten 1990er-Jahren an Bedeutung. Als im August 2001 das Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft, kurz Lebenspartnerschaftsgesetz in Kraft getreten war, kam die Frage der Räumlichkeit auf, und Bild stellte die Frage, wo Schwule heiraten dürfen. „Im Standesamt, in der Gesundheitsbehörde oder gar im Straßenverkehrsamt?“ (B, „Wo dürfen schwule...“ 15.07.2001). Die Kirche spielt also bei den Diskussionen über Eheschließung keine große Rolle mehr. Über das neue Lebenspartnerschaftsgesetz in Deutschland berichtete auch Hürriyet. Dank dem Gesetz hätten, so Hürriyet, Schwule und Lesben nun die gleichen Rechte wie Heterosexuelle. Hürriyet berichtet, dass die gleichgeschlechtlichen Paare seit der Verabschiedung des Gesetzes in die deutschen Standesämter „fluteten“. Die Anträge seien so zahlreich, dass die Standesämter in manchen Orten Schwierigkeiten hätten, alle Anträge zu bearbeiten (H, „Almanya’da eşcinsel evliliklerde...“ 27.07.2001). Da es in der Türkei kein Gesetz gibt, das es gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglicht, eine Ehe zu schließen, handeln alle diesbezüglichen Berichte von gleichgeschlechtlichen Eheschließungen im Ausland. Erwähnenswert ist, dass Hürriyet die Vorteile einer gleichgeschlechtlichen Eheschließung anders konstruiert als Bild. Wie ich anhand des Materials aus Bild zusammengefasst habe, tauchen in der Narration der Bild-Berichterstattung sehr oft finanzielle sowie juristische Vorteile der Eheschließung auf. Diese Narration hat in Hürriyet einen weiteren Aspekt, und zwar die Erleichterung der Immigration. Hürriyet berichtet, dass deutsche Schwule im Falle einer Eheschließung mit einem Mann aus einem anderen Land es diesem ermöglichen, nach Deutschland zu immigrieren. In diesem Zusammenhang bedeutet Ehe also nicht mehr „unendliche Liebe“ sowie ein „gemeinsames Leben“, sondern die Möglichkeit, in einen anderen Raum zu emigrieren (H, „Gaylerle evlenenlere Alman...“ 31.07.2001). Selbst im Fall einer Eheschließung zwischen zwei türkischen Schwulen legt Hürriyet in ähnlicher Weise den Fokus auf die Erleichterung der Emigration. Gemeint ist hier die Berichterstattung über eine Eheschließung zwischen einem deutsch-türkischen und einem türkischen Mann im Jahr 2004, die in Deutschland stattfand. Hürriyet berichtete auf der Titelseite über das Ereignis, der ersten türki-
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schen schwulen Eheschließung, mit der Überschrift „Aufenthaltserlaubnis aufgrund Eheschließung“ (H, „Eş durumundan oturma...“ 17.02.2004). In dem Text wird berichtet, dass Ulaş Yılmaz zunächst mit einem Geschäftsvisum nach Deutschland einreist sei und dann Koray Günay geheiratet habe. Nun habe er eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis erhalten. Parallel dazu erscheinen in dem Text Deutungsmuster sowie Narrationen einer normalisierenden Repräsentation, die auch in Bild festzustellen waren, wie ich im Folgenden genauer aufzeigen möchte. Türkisches homosexuelles Paar hat durch Heirat einen Aufenthaltsstatus erlangt Der in Berlin geborene und aufgewachsene 29-jährige deutsche Staatsbürger Koray Günay und der 26-jährige aus Ankara stammende Ulaş Yılmaz sind durch die Eheschließung beim Standesamt in Schöneberg als „Paar“ akzeptiert worden. […]Yılmaz und Günay, die vor Glück schweben, sagten: „Wir lieben uns sehr und wünschen uns, dass wir bis ans Ende unseres Lebens zusammen sind. Durch dieses Gesetz müssen wir nicht mehr getrennt bleiben“. Da sein Partner deutscher Staatsbürger ist und sein Visum zu einer Aufenthaltserlaubnis von drei Jahren umgewandelt wurde, machte Yılmaz deutlich, dass er seit fünf Jahren als Homosexueller lebe. Er sagte Folgendes: „Als ich feststellte, dass ich homosexuell bin, sagte ich das sofort meiner Familie. Mein Vater brach zuerst zusammen, später akzeptierte er es. Meiner Mutter habe ich es bis zu meiner Heirat nicht gesagt. Nach Berlin kam ich mit einem Geschäftsvisum. Koray hatte schon alle Formalitäten geklärt, und wir warteten nun auf den Verpartnerungstermin. Ich scheute mich vor meiner Mutter, daher sagte ich es ihr erst nach unserer Trauung. Ihre erste Reaktion war: „Wo habe ich einen Fehler gemacht? Mittlerweile schaut sie sehr positiv auf unsere Ehe. Wir denken daran, später ein Kind zu adoptieren.“ Koray Yılmaz-Günay, der nach der Eheschließung den Namen seines Gattens angenommen hat, sagte, dass er seit 11 Jahren homosexuell sei. Seit sie sich verliebt hätten, planten sie eine Hochzeit, um zusammensein zu können, sagte er. Koray Yılmaz-Günay sagte: „Unsere Ehe ist nicht international anerkannt, sie ist nur in Deutschland offiziell anerkannt, Ulaş gilt z.B. in der Türkei als ledig.“ (H, „Türk eşcinsel çift...” 17.02.2004)
Ähnlich wie in den Texten in Bild taucht hier die „Eheschließung“ als Deutungsmuster „soziale Anerkennung“ auf. Im ersten Absatz wird deutlich, dass Yılmaz und Günay durch ihre auf dem Standesamt geschlossene eingetragene Lebenspartnerschaft offiziell als „Paar“ anerkannt werden. Die grammatische Struktur des Satzes führt zu einer Lesart, nach der das Paarsein erst dann Echtheit sowie Wahrhaftigkeit gewinnt, wenn es juristisch anerkannt wird. Hier wird auch der Unterschied zwischen den Berichterstattungen von Bild und Hürriyet deutlich. In dem Bericht über die Hochzeit in der Kneipe (B, „Schwulen-Hochzeit: Schmusebär...“ 14.05.1991) wurde die Wahrhaftigkeit der Ehe sowie des Pfarrers infrage gestellt, während das schwule Paar als „echt“ beschrieben wurde. Die Frage der Anerkennung richtete sich also nicht auf das Paar-Sein, sondern auf die Ehe, während in Hürriyet die Echtheit sowie Wahrhaftigkeit des schwulen Paares vor der Eheschließung bestritten wird. Außerdem wird angegeben, seit wann sie schwul sind. Es wird also angezweifelt, dass die schwule Subjektivität angeboren ist bzw.
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dass die schwule Orientierung von dem Subjekt inhärent und körperlich gespürt wird. Damit wird die schwule Subjektivität als nicht essenziell konstruiert (Ahmed 2006, 79). Die Eheschließung wird also unter mehreren Aspekten gesehen: Durch sie werden das Paar-Sein sowie das Schwulsein offiziell anerkannt. Des Weiteren verdankt Yılmaz, der aus Ankara nach Berlin zieht, ihr das Bleiberecht in Deutschland. Es sind auch Deutungsmuster sowie Narrationen festzustellen, die das schwule Subjekt normalisierend darstellen. Die Narration der Eheschließung wird mit „ewiger Liebe“, „Zusammenleben“ sowie „Kindererziehen“ aufgebaut, was die Ehe zwischen Schwulen entsprechend der normativen Vorstellung einer Ehe konstruiert. Durch die Geschichte über das Coming-out wird dabei die angedeutete Anerkennung bekräftigt. In den folgenden Tagen berichtet Hürriyet, dass die Verpartnerung von Günay und Yılmaz die Meinung der Öffentlichkeit in der Türkei gespalten habe (H, „Bu nikah Türkiye’yi...” 22.02.2004). Da Hürriyet die erste Zeitung war, die über diese Eingetragene Lebenspartnerschaft berichtete, schenkte sie diesem Thema auch in den folgenden Tagen weitere Aufmerksamkeit. Die Journalistin Ayşe Arman, die den Bericht über die Verpartnerung geschrieben hatte, veröffentlichte in den folgenden Tagen in Hürriyet einen großen Artikel über die Diskussionen. Sie bezeichnete es als „unerwartet“, dass die Öffentlichkeit nun angefangen habe, über dieses Thema zu diskutieren. Sie deutete diese für sie überraschende Entwicklung als positiv. „Alle müssen nicht der gleichen Meinung“ sein, so Arman, aber zu diskutieren und seine Meinung zu sagen sei besser als zu schweigen. In diesem Zusammenhang fasste sie die Leserbriefe, die Hürriyet anlässlich des Berichts bekommen hatte, zusammen. Die positiven Meinungen waren auf der linken Seite aufgelistet und die negativen auf der rechten Seite. Der erste Leserbrief auf der linken Seite stammte von einem Schwulen, der schrieb, dass es zwischen Heterosexuellen und Schwulen keinen Unterschied gebe. Die gleichen romantischen Momente gebe es auch in schwulen Beziehungen. Eine der repräsentierten Stimmen beurteilt den Bericht deswegen positiv, weil er zeige, dass es auch ein „drittes Geschlecht“ gebe: „Egal ob wir es akzeptieren oder nicht, dies ist die Realität.“ In einem der Briefe stand, dass man die „sexuelle Präferenz“ respektieren solle. Eine:r der Leser_innen schrieb, dass weder die Liebe noch der Respekt gegenüber Differenzen gegen die Moral verstoßen könne. Die negativen Stimmen urteilten mit Argumentationsmustern wie: Homosexuelle seien gegen die Ordnung der Natur bzw. gegen die Moral der Öffentlichkeit. Eine_r der Leser_innen war dabei der Meinung, dass dies kein guter Journalismus sei, da ein solches Thema in die Öffentlichkeit zu tragen gleichzeitig dazu führe, dieses zu normalisieren (H, „İki Türk erkek...“ 22.02.2004). In dem Diskurs über die gleichgeschlechtliche Ehe ist zwischen den beiden Zeitungen jedoch ein wesentlicher Unterschied festzustellen. Wie ich oben am Beispiel der Verpartnerung von Günay und Yılmaz deutlich gemacht habe, verschränkt sich der Diskurs über die Ehe mit dem über die öffentliche Moral. Der
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Diskurs über Religion erscheint jedoch weder in dem oben erwähnten Bericht noch in anderen Texten aus den analysierten Ausgaben von Hürriyet. Die „öffentliche Moral“ agiert dabei, anstelle der „Religion“, als ein Maßstab für Anerkennung. Wie ich aufgezeigt habe, spielte die Religion in der Bild-Berichterstattung in den 1990er-Jahren eine wesentliche Rolle für die Bewertung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die damals in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Dies hat jedoch im Lauf der Zeit an Bedeutung verloren. Wie ich in den vorherigen Kapiteln anhand des Materials diskutiert habe, dienen Deutungsmuster wie „Werte der Öffentlichkeit“, „Tradition“ und „öffentliche Moral“ in der Hürriyet-Berichterstattung häufig der Legitimierung der Heteronormativität sowie der Abwertung des queeren Subjekts. In den 2000er-Jahren erfolgt eine große Verschiebung in den Bedeutungsstrukturen, sodass die gleichen Deutungsmuster zur normalisierenden Repräsentation des schwulen Mannes führen. An zwei Ereignissen lässt sich beispielhaft zeigen, wie sich die Funktion dieser Deutungsmuster von Abwertung hin zur Normalisierung des schwulen Subjekts verändert hat: Im April 2000 veranstaltete eine türkische schwule Organisation eine Reise zum traditionellen Ölringkampf in Edirne, der sehr oft als homoerotisch gesehen wird, und im September besuchte ein ausländisches Kreuzfahrtschiff mit schwulen Touristen die Türkei, was zu medialen Diskussionen führte. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, spielte die Deutung „Profit“ bei der Veränderung der Deutungsmuster eine wesentliche Rolle. Im April 2000 veranstaltete die türkische schwule Organisation „ayilar.com“ eine Reise nach Edirne, wo ein Turnier des traditionellen Ölringkampfs stattfand. An der Reise nahmen auch ausländische schwule Touristen teil. Dies führte zu einer großen medialen Diskussion, da sowohl die türkische Presse als auch internationale Nachrichtenagenturen wie Reuters berichteten, dass einige Veranstalter_innen die Reise als rufschädigend für den Ölringkampf sahen (H, „Reuters dünyaya duyurdu“ 08.04.2000). Bevor die Reise überhaupt stattfand, berichtete Hürriyet, dass einige Bilder vom Ölringkampf auf der Webseite der schwulen Organisation veröffentlicht worden seien, was ein Auslöser der Diskussionen war. Die Veranstalter des Ölringkampfes waren empört, dass die Bilder in einem schwulen Kontext verwendet wurden. Sie sahen es als Beleidigung der Tradition, die ein Teil der „Legenden der Türken, die aus Zentralasien nach Anatolien und Rumelien gewandert sind“, sei. In dem Bericht erschien auch ein Bild von der Webseite, auf der ein Foto von Ölringkämpfern zu sehen war. Außer über die Veröffentlichung der Bilder wurde auch darüber diskutiert, ob Schwule bei dem traditionellen Ölringkampf zuschauen dürfen (H, „Gay’ler er maydanına...“ 08.04.2000). Diese Frage war von großer Bedeutung, da sie zu einem Diskurs führte, in dem der sogenannte „schwule Tourismus“ als profitabel für den besuchten Ort gesehen wurde. Bezüglich der Frage, ob Schwule beim Ölringkampf zuschauen dürfen, repräsentierte Hürriyet am nächsten Tag Stimmen unterschiedlicher Subjektpositionen, die in dem Text Normalisierung erzeugen.
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Türkische Homosexuelle organisierten eine Tour, um dem historischen Kırkpınar-Ölringen zuzuschauen. Ihr Aufruf auf einer Internetseite rief in der Stadt unterschiedliche Reaktionen hervor. Wir sind tolerant Der ehemalige Bürgermeister von Edirne, Hamdi Sedefci, machte darauf aufmerksam, dass Menschen nicht aufgrund ihrer Sexualität, Religion oder Rasse diskriminiert werden dürfen. Sedefci: „Wir Türken sind gastfreundlich. Wir haben uns unseren Gästen gegenüber immer tolerant zu verhalten. Wir reichen ihnen freundschaftlich unsere Hand. Das Schwulsein ist deren Problem, das hat uns nichts anzugehen. Wie andere Menschen auch, können sie sich hinsetzen und sich das Ringen anschauen. Rechtliche Sicht Naim Bildik, der Vorsitzende von Baro in Edirne, sagte, dass jeder den Ringkampf sehen könne. „Ihr dürft nicht“ sei rechtlich nicht vertretbar. Touristische Sicht Aydın Ertuğrul, ein Reiseveranstalter aus Edirne, sagte, dass die sexuellen Vorlieben der Menschen, die nach Kırkpınar kommen, niemanden etwas angingen, und sagte weiter: „Man kann sie auch nicht diskriminieren, indem man sagt, dass sie sich das nicht anschauen dürfen. Sie können sich, wie Frauen, Männer, Kinder, wie jeder Mensch, als Menschen hinsetzen und den Kampf anschauen.“ Sie werden viel Geld ausgeben Der Präsident des gemeinnützigen Umweltvereins machte darauf aufmerksam, dass Gays Menschen sind, die viel Geld ausgeben: „Sie werden einen Beitrag zum Tourismus und zur Wirtschaft leisten. Eine Person macht Werbung für 13 Personen. Wenn sie hier eine Umgebung finden, in der sie sich menschlich amüsieren, dann werden sie einen großen Beitrag dazu leisten, dass in Europa das Image des barbarischen Türken verschwindet.“ (H, „İsteyen gay Kırkpınar...“ 09.04.2000)
In dem Text tauchen Deutungsmuster wie „Profit“ sowie „Privatleben“ auf, die man als typisch für die neoliberale Repräsentation des schwulen Mannes sehen kann. Was den Text besonders macht, ist die veränderte Funktion des Deutungsmusters „Tradition“. Die Werte der türkischen Öffentlichkeit sowie die Traditionen, die im Diskurs häufig zur Abwertung des schwulen Subjekts herangezogen werden,, werden hier durch die Stimme des ehemaligen Bürgermeisters anders konstruiert. „Gastfreundschaft“ wird zu einem Grund für die Normalisierung des schwulen Subjekts. Ein weiterer Grund für die Normalisierung wird durch die Stimmen der Experten für Tourismus erkennbar, und zwar „der Profit“. Mit dem Argumentationsmuster, Schwule seien gute Konsumenten bzw. gute Touristen, wird die Reise der Schwulen nach Edirne als positiv für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt betrachtet. Der vorübergehende Aufenthalt der Schwulen in Edirne könne auch zur Veränderung des Images der Türken in Europa beitragen, was auch in einem ökonomischen Kontext gelesen werden kann. Die Veränderung des Images von „Barbaren“ zu „gastfreundlich“ würde in diesem Zusammenhang mehr Touristen für die Stadt implizieren. Das schwule Subjekt ist also keine Gefahr mehr für die Gesellschaft, im Gegenteil, es dient als Kapital für den Fortschritt und den Profit der Gesellschaft. Es gibt jedoch auch Grenzen der Normalisierung, die durch
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Nichteinmischen in das Privatleben gezogen werden. Sexualität wird anerkannt und akzeptiert, solange sie „Privatsache“ bleibt. Das heißt, Schwule können die Stadt besuchen, solange sie ihre Sexualität nicht in der Öffentlichkeit sichtbar machen. Als im September 2000 ein amerikanisches Kreuzfahrtschiff die türkische Stadt Kuşadası besuchte, löste das eine ähnliche Diskussion in der medialen Öffentlichkeit aus. Nachdem das Schiff in den Hafen eingelaufen war, wollte die schwule Reisegruppe die antike Stadt Ephesus besuchen. Der Bus, der auf dem Weg nach Ephesus war, wurde auf Befehl des Innenministeriums zurückbeordert. Daraufhin wollten die Reiseveranstalter_innen den schwulen Touristen das Stadtzentrum zeigen, wo sie auch hätten einkaufen können. Als die türkische Polizei auch das nicht genehmigte, protestierten die Touristenführer_innen sowie Ladenbesitzer_innen, die „seit frühen Stunden auf die Ankunft der großen Gruppe von Schwulen“ warteten, gegen diese Regulierung. Diese sei „ein Skandal“ und führe dazu, dass die amerikanischen Touristen in Zukunft nicht mehr die Stadt besuchen würden. Es wird also wiederum das Deutungsmuster „Profit“ erkennbar, das den Besuch der schwulen Touristen als wirtschaftlich wünschenswert für den besuchten Ort decodiert. Mit der Darstellung des Tourismus rückt auch die Veränderung des Deutungsmusters „öffentliche Moral“ in den Vordergrund: Die Reiseveranstalterin äußerte, dass, falls der Besuch von Schwulen sowie „Transvestiten“ gegen die Moral verstoße, es auch Bülent Ersoy nicht mehr erlaubt sein sollte, auf der Bühne aufzutreten. Wie ich im Kapitel über die Kriminalisierung des Trans*-Subjekts genauer gezeigt habe, hatte es tatsächlich ein Gesetz gegeben, das ihr ein Auftrittsverbot erteilte; als Grund dafür wurde die Verletzung der öffentlichen Moral angeführt. Das Gesetz war bis 1988 in Kraft gewesen, und als das Kreuzfahrtschiff Kuşadası besuchte, war Ersoy längst eine prominente Persönlichkeit. In diesem Kontext deutet ihre Erwähnung auf eine Veränderung der öffentlichen Moral, die nun eine transsexuelle Sängerin nicht mehr abwertend betrachtet. Dies wird wiederum zu einem Maßstab für die Normalisierung der schwulen Repräsentation, die nun als profitabel für den Tourismus angesehen wird. Hürriyet berichtet, dass sowohl der Bürgermeister der Stadt als auch die Touristenführer_innen sich im Namen „des türkischen Volkes“ bei den „Schwulen“ entschuldigt hätten. Mit dem Deutungsmuster „Profit“ ergibt sich dann die Frage „des Images“ des „türkischen Volkes“. Zusammenfassend heißt das, dass es schlimme Folgen für den Tourismus sowie die Ökonomie des Landes haben würde, wenn schwule Touristen einen negativen Eindruck von der Türkei hätten (H, „800 Eşcinsel turist...“ 07.09.2000). Die Angst vor Beschädigung des Images der Türkei in der internationalen Öffentlichkeit führte dazu, dass die schwulen Touristen beim nächsten Halt des Kreuzfahrtschiffs, nämlich in Istanbul, mit einem „roten Teppich“ empfangen wurden. Laut Hürriyet verursachte die Zurückweisung des Kreuzfahrtschiffs eine internationale Krise. Die amerikanische Botschaft kritisierte das Eingreifen der türkischen Polizei, die es den amerikanischen Bürgern nicht erlaubte, das Schiff zu verlassen. Auch der türkische Minister für Tourismus kritisierte die Behörden: „Wir können
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niemanden nach seiner sexuellen Präferenz beurteilen“, so der türkische Minister. Er behauptet auch, dass dies nicht gut für das Image des Landes sei. Des Weiteren berichtet einer der Touristen, dass sie in Ägypten kein Problem gehabt hätten, die Türkei sie aber wie kranke Menschen behandelt habe (H, „Şimdi de gay...“ 08.09.2000). Dieses Ereignis führte zu großen medialen Diskussionen, in denen immer wieder Deutungsmuster wie „Image“ der Türkei, „Profit“ sowie „öffentliche Moral“ auftauchten. Der Journalist Emin Çölaşan diskutierte beispielsweise den Fall in Kuşadası im Vergleich mit Griechenland, dessen Regierung eine Insel (Mykonos) für den schwulen Tourismus reserviert habe und dadurch sehr viel Profit mache, als Zeichen von „Primitivität“. Er stellte die Frage, ob dies nun „Moral“ sei oder „Primitivität“. Er war empört darüber, dass die schwulen Touristen in einem touristischen Ort wie Kuşadası, wo sie „sowieso nur ein paar Tage untergekommen wären“, zurückgewiesen wurden (H, „Bay Başkan!“ 08.04.2000). Seit diesen Ereignissen erschienen in Hürriyet immer wieder Berichte über die positive Wirkung des schwulen Tourismus auf die Wirtschaft. In einem Artikel wird beispielsweise berichtet, dass Schwule und Lesben einen wichtigen Markt für viele finanzielle Sektoren bildeten, da sie fünfmal mehr Geld ausgäben als andere Tourist_innen (H, „Gay turizmi 47...” 09.09.2000). In einem weiteren Artikel wird von speziellen Kursen berichtet, die Geschäftsführer_innen das Zertifikat „gayfriendly“ geben. In dem Kurs lernen Geschäftsführer_innen aus der Tourismusbranche, „wie man mit schwulen Kunden umgeht“ (H, „Gay turist getirme...“ 10.10.2000). Und im Sommer 2001 gab Hürriyet bekannt, dass nun auch „pinke Reisen“ für türkische Schwule veranstaltet würden (H, „Türk gayler pembe...“ 19.07.2001). Im Verlauf der Berichterstattung fällt also auf, dass der schwule Tourist im Diskurs zunehmend als erwünscht für die Wirtschaft gelesen wird. Von Bedeutung ist, dass der schwule Mann in den oben aufgezeigten Texten nicht nur den Profit verkörpert, sondern auch das kulturelle bzw. nationale Äußere, das keine Zugehörigkeit zu dem Raum verkörpert, in dem es sich vorübergehend befindet. Die Anerkennung und der Wunsch nach der Ankunft des schwulen Touristen ist mit der zeitlichen Begrenztheit seines Besuchs verbunden. Die Normalisierung findet in diesem Rahmen deswegen statt, weil der Besuch nur vorübergehend ist und mehr Profit als Gefahr für den besuchten Ort bedeutet. Aber wie findet die Normalisierung statt, wenn das schwule Subjekt nicht das kulturelle Äußere repräsentiert, bzw. wie gewinnt das schwule Subjekt Anerkennung als Teil der Gesellschaft? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich einen der letzten Momente im diachronen Schnitt, die eine Transformation des Diskurses aufzeigen, als Beispiel in die Analyse einbringen. In Hürriyet erschien 2010 ein Interview mit der damaligen Familienministerin Selma Aliye Kavaf. Es war ein langes Interview, und obwohl nur eine der Fragen Homosexualität betraf, hob Hürriyet Kavafs Meinung zu Homosexualität in der Überschrift hervor, was in den kommenden Tagen zu einer
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medialen Diskussion führte. Kavaf war nämlich der Meinung, dass Homosexualität eine biologische Störung bzw. eine Krankheit sei und Homosexuelle behandelt werden sollten. Aus diesem Grund sei sie gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, die, so Kavaf, sowieso nicht auf der Tagesordnung des Ministeriums stehe bzw. habe auch niemand einen Antrag auf Eheschließung gestellt. Kavaf fügt hinzu: „Wir behaupten nicht, dass es in der Türkei Homosexuelle nicht gebe“ (H, „Eşcinsellik bir hastalık...“ 07.03.2010). Das Interview ist deswegen von großer Bedeutung, da in den Diskussionen nach dem Interview der Unterschied zwischen dem Diskurs des Staates und dem Diskurs der medialen Öffentlichkeit deutlich wurde. Zwei Tage später repräsentierte Hürriyet mit der Überschrift „Die Ministerin hat uns 40 Jahre zurückgeworfen“ die Stimmen von Subjektpositionen wie Ärzt_innen, Aktivist_innen und Prominenten. Hier werden auch Unterschiede in diachroner Hinsicht deutlich: Die Stimme der Medizin, die in den 1980er-Jahren in der Hürriyet-Berichterstattung zu einer abwertenden Repräsentation führte, führt hier zu einer Normalisierung des schwulen bzw. queeren Subjekts. Eine Psychiaterin, deren Stimme als erste in dem Text auftaucht, erklärt nämlich, dass es die Vorstellung, Homosexualität sei eine Krankheit, im medizinischen Diskurs seit 40 Jahren nicht mehr gebe. Ein Professor am Fachbereich Psychiatrie der Universität Gazi erklärt, dass die sexuelle Orientierung angeboren sei bzw. sich in einem Porzess konstruiere, der ohne eigene Entscheidungen verläuft. Deswegen ist er der Meinung, dass man nicht von „sexueller Präferenz“, sondern von „sexueller Orientierung“ sprechen solle. Die Frage, was die Gründe für Homosexualität sind, sei nicht anders als die Frage, warum manche Menschen blond und manche dunkelhaarig sind. Ein Aktivist der Lambdaistanbul-LGBTOrganisation kritisiert Kavafs Stellungnahme mit einer ähnlichen essenziellen Erklärung: „Homosexualität ist ähnlich wie Heterosexualität und Bisexualität eine natürliche Orientierung.“ Er teilt mit, dass solche öffentlichen Stellungnahmen nichts Neues seien und nur negative Folgen für queere Gruppen hätten, wie z.B. Hassverbrechen oder sogar Hassmorde. Eine Sprecherin der LISTAG, einer Unterstützungsgruppe für Familien mit queeren Kindern, bezeichnet die Ministerin als uninformiert. Homosexualität sei keine Präferenz, so die Sprecherin, sondern eine angeborene Eigenschaft. Die Ministerin wird ebenfalls von prominenten Persönlichkeiten kritisiert, die alle einig sind, dass Homosexualität keine Krankheit sei (H, „Sayın bakan 40...“ 09.03.2010).
ZWISCHENFAZIT Da in den beiden untersuchten Medien ausreichend Material vorhanden war, konnten sowohl der diachrone Verlauf der Repräsentationen des schwulen Mannes als auch die Unterschiede sowie Ähnlichkeiten der Berichterstattung in den synchronen Schnitten mittels komparativer Aspekte untersucht werden. In dieser Hinsicht
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unterscheidet sich die Konstruktion des schwulen Mannes in der Berichterstattung von den Repräsentationen des Trans*-Subjekts, die eine komparative Analyse nicht ermöglichte. Historisch gesehen scheinen die ältesten Repräsentationsmuster des schwulen Mannes „Pathologisierung“ und „Skandalisierung“ zu sein. In den späten 1960ersowie frühen 1970er-Jahren taucht in der Hürriyet-Berichterstattung die Figur des „Perversen“ auf, die insbesondere auf den homosexuellen Mann hinweist. Der schwule Mann als „Perverser“ wird als seelisch sowie moralisch gestört dargestellt und wird oft mit Pädophilie gleichgesetzt. In diesem Zeitraum wurden Berichte aus dem Ausland entdeckt, die die in der westlichen Welt ausgelöste „Sexwelle“ widerspiegelten. Hürriyet berichtet über Sexmessen, erotische Publikationen, schwule Kneipen sowie sexuelle Freizügigkeit in Europa und Nordamerika, einerseits mit einer pathologisierenden Darstellung, andererseits mit Bewunderung und Okzidentalismus, da die sexuelle Revolution in der Türkei nicht stattfand. In Deutschland fand dagegen die „Sexwelle“ statt und prägte die zeitgenössische Berichterstattung von Bild. In den Artikelserien aus dieser Zeit, die Geschichten von der Sexualität einfacher Leute erzählen, taucht immer wieder der schwule Mann auf, der bei den heterosexuellen Subjekten Empörung, Verwirrung sowie Panik auslöst, was ich als skandalisierende Repräsentation bezeichnet habe. Oft wird der schwule Mann zum Gegenstand einer Diskussion, die in den Texten ohne seine Anwesenheit unter Heterosexuellen geführt wird. Dies sind meistens Geschichten von heterosexuellen Frauen sowie deren Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass sie mit einem schwulen Mann zusammen waren. Daher verkörpert der schwule Mann in der Berichterstattung der 1970er-Jahre das konstitutive Andere für die heterosexuelle Sexualität. Einer der wichtigsten Momente im diskursiven Verlauf, in dem die Repräsentation der Schwulen in der Berichterstattung beider Zeitungen einen Bruch erkennen lässt, scheinen die 1980er-Jahre zu sein. Es ist ein Bruch, in dem der Schwule einerseits durch die AIDS-Krise pathologisiert und stigmatisiert wird, andererseits in paradoxer Weise eine Stimme in den Texten gewinnt, die nun auf den Wunsch nach Integration in das Wertesystem der Dominanzgesellschaft hinweist. Dennoch hat die Repräsentation der Stimme des schwulen Mannes zunächst eine abwertende Funktion, insbesondere in der Bild-Berichterstattung. In den in Bild erschienen Texten hat das Sprechen der Schwulen die Funktion, die schwule Subkultur abzuwerten, da sie für die AIDS-Krise verantwortlich gemacht wird. Zentral für eine derartige Berichterstattung ist dabei das Deutungsmuster „tödlicher Zirkel“, das das Leben der Schwulen als hedonistisch, egoistisch sowie selbstzerstörerisch darstellt. Das gleiche Deutungsmuster konnte auch in den ersten Artikeln über HIV/AIDS in Hürriyet aufgezeigt werden, das die Verbreitung von AIDS als Folge einer moralischen Störung konstruierte. Durch dieses Deutungsmuster entstand in beiden Zeitungen eine Narration über das Leben der Schwulen, das aufgrund der „wilden“ bzw. sexuell freizügigen Vergangenheit zu Ende geht. Des
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Weiteren wurde in der Berichterstattung beider Zeitungen ein Zusammenhang zwischen AIDS und Homosexualität hergestellt, was insbesondere in den Artikeln über Rock Hudsons Tod zu sehen war. Rock Hudsons Tod als Folge von AIDS wurde gleichzeitig als sein öffentliches Coming-out als Schwuler konstruiert. Ein weiteres Deutungsmuster, das typisch für diesen Zeitraum war und zur Transformation der Repräsentation des schwulen Subjekts führte, war „die Scham“. Die Repräsentation des schwulen Mannes, der sich seiner sexuellen Freizügigkeit aufgrund der AIDS-Krise schämte, führte zu einer Integration in das Wertesystem der Dominanzgesellschaft. Diese Repräsentation bildet den zentralen Strang im diskursiven Verlauf der Berichterstattung in Bild ab den späten 1980er-Jahren und bereitet den Weg zur Normalisierung. „Scham“ spielte auch in der skandalisierenden Repräsentation der Festnahme von George Michael in einer öffentlichen Toilette eine wichtige Rolle. In der Bild-Berichterstattung wurde „die Scham“ mit der Beschädigung seines Rufes als Prominenter in Bezug gesetzt, während in Hürriyet „Scham“ auf eine Beschädigung seiner Repräsentation als Angehöriger einer nationalen Identität hindeutete. Ein weiteres Repräsentationsmuster bildete dabei die Kriminalisierung, was insbesondere am Beispiel der Berichterstattung von Bild und in Hürriyet über die Ermordung von Gianni Versace erkennbar wurde. Ähnlich wie im Repräsentationsmuster „Kriminalisierung der lesbischen Frau“ beruhte die Narration in der Bild-Berichterstattung auf der Rekonstruktion des Lebens des Mörders, in dem die Momente hervorgehoben wurden, die sich als Scheitern der Heterosexualität deuten ließen. Hervorgehoben wurden außerdem solche Momente, die das Subjekt zur Kriminalität führten. Die komparative Analyse ermöglichte es auch, die Unterschiede in der Berichterstattung der beiden Zeitungen hinsichtlich des gleichen Ereignisses zu eruieren: Während in Bild die Berichterstattung dem fiktiven Genre ähnelte, berichtete Hürriyet über das gleiche Ereignis in Form der Repräsentation der Stimmen von Expert_innen. Auch für den diskursiven Wandel von den abwertenden Repräsentationen hin zur Normalisierung waren wiederum die 1980er-Jahre von großer Bedeutung. In Hürriyet taucht in dieser Zeit zum ersten Mal „die aktivistische Figur“ auf, die den Gegen-Diskurs der kurz zuvor entstandenen Schwulenbewegung in den Bereich der dominanzgesellschaftlichen Sichtbarkeit projiziert. Um überhaupt über Menschenrechte sprechen zu können, werden dabei oft Vergleiche mit Europa gezogen, in denen Europa den Fortschritt und die Türkei den Konservatismus verkörpert. Im zeitlichen Verlauf verschiebt sich sowohl in Hürriyet als auch in Bild die Positionierung des Gegen-Diskurses vom gesellschaftlichem Abseits in die Richtung der dominanzgesellschaftlichen Kultur, was den Diskurs über Homophobie normalisiert. Die politischen Forderungen schwuler Aktivisten verlieren jedoch insbesondere in der Bild-Berichterstattung durch eine „Karnevalisierung“ schwuler Demonstrationen ihre Ernsthaftigkeit und Relevanz. Wie die Analyse dargelegt hat, legt die Berichterstattung der Bild über den CSD den Fokus auf karnevaleske Details, wäh-
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rend der politische Gehalt des Ereignisses kaum einen Platz in den Artikeln findet. In Bild wird ab den 1990er-Jahren die Repräsentation von Schwulen von den Diskussionen über die gleichgeschlechtliche Ehe dominiert. Dabei verschränken sich die Diskurse über Religion und Ehe, indem die Religion bzw. Kirche zu einem Deutungsmuster der sozialen Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe wird. Hürriyet konstruiert die gleichgeschlechtliche Ehe als eine Möglichkeit, in ein anderes Land zu emigrieren, anders formuliert, in die westliche Welt, der wiederum Demokratie, Fortschritt sowie Freiheit zugeschrieben werden. Für die normalisierende Repräsentation in den beiden Medien waren die Outings der Prominenten von großer Bedeutung. Der Schwule verkörperte dabei nicht mehr den gesellschaftlichen Rand, sondern die dominanzgesellschaftliche Kultur und im Fall von Comingouts deutscher Politiker sogar die Macht. Dabei wird die Sichtbarkeit von schwulen Prominenten im Laufe der Zeit bezüglich der Sexualität entpolitisiert. Die Darstellung der Prominenten geht mit einer Distanzierung von politischen Forderungen der Schwulenbewegung einher, und das Schwulsein wird als private Angelegenheit konstruiert. In Hürriyet gewinnt der Schwule Anerkennung insbesondere durch Diskussionen über schwulen Tourismus. Der schwule Tourist repräsentiert nicht nur den Profit für die Wirtschaft des Landes, sondern auch die Möglichkeit, ein besseres Image in der internationalen Öffentlichkeit zu erzielen. Angesichts des Profits, den der schwule Tourist der Wirtschaft bringen soll, verändert sich die Funktion der Deutungsmuster „öffentliche Moral“ sowie „türkische Tradition“: von Abwertung hin zur Normalisierung des schwulen Subjekts. In den Texten wird der Besuch des schwulen Touristen mit „türkischer Gastfreundschaft“ begrüßt und als erwünscht gedeutet, und dies führt oft zur Diskussion über öffentliche Moral. Im zeitlichen Verlauf der Hürriyet-Berichterstattung spitzt sich die Veränderung der Repräsentation insbesondere in den Diskussionen über die Stellungnahme der Ministerin Selma Aliye Kavafs zu Homosexualität zu, da Homophobie nun nicht mehr als zeitgemäß angesehen wird.
Fazit
Diese Publikation hat gezeigt, dass Boulevardjournalismus seit 1969 sowohl in der Türkei als auch in Deutschland ein vielfältiges und großes Repertoire von queeren Repräsentationen produziert hat. Es ist nicht ausreichend, die unterschiedlichen Formen von Repräsentationen schlicht als Stereotypisierungen zu verstehen und zu argumentieren, dass solche Repräsentationen die Realität nicht widerspiegeln würden. Ebenfalls zu kurz gegriffen ist es, die Darstellungen in die dichotomen Kategorien „gut“ und „schlecht“ aufzuteilen. Es scheint sich vielmehr um ein Spannungsfeld zu handeln, das sich wiederholt zwischen der diskursiven Konstruktion von Heteronormativität und widerständigen, alternativen queeren Deutungen bildet. Durch dieses Spannungsfeld werden die Grenzen des Sagbaren und Sichtbaren in den Medien ständig neu gezogen bzw. verschoben. Des Weiteren scheinen sich die konträren Deutungen gegenseitig zu beeinflussen: Während der boulevardjournalistische Versuch, queere Identitäten abwertend darzustellen, oft Räume für queere Repräsentationen eröffnet, führen „positive“ Darstellungen von queeren Subjekten in den Boulevardformaten oft dazu, dass kritische und politische Potenziale der queeren Deutungen gezähmt oder gelöscht werden. Eine der Thesen dieser Publikation ist, dass ein boulevardjournalistisches Interesse an der Skandalisierung von normabweichenden sexuellen und geschlechtlichen Identitäten oft Räume für queere Repräsentationen eröffnet, die im seriösem Journalismus nicht in den Bereich der Sichtbarkeit eintreten können. Der Versuch, die Sexualität zu skandalisieren, geht, wie ich anhand des Materials gezeigt habe, mit einer Sprache einher, die die Norm unterlaufende sexuelle und geschlechtliche Kategorien in den Fokus nimmt. So eröffnen Texte Räume für Stimmen, Erfahrungen und Geschehen, die über geringe Chancen auf eine Teilhabe an der dominanzgesellschaftlichen Kultur verfügen. Insbesondere die früheren Repräsentationen in Artikelserien wie Wilde und andere Ehen (1979) sowie die türkischen Berichte über kriminelle Handlungen von queeren Subjekten aus den früheren 1970ern Jahren bieten solche Potenziale. Obwohl der journalistische Diskurs dieser Texte dazu dient, die queeren Subjekte, Erfahrungen sowie Geschichten abzuwerten, dringen dadurch Figuren wie „Frauen in Männerkleidern“ sowie ihre Geschichten in den Bereich der Repräsentation ein.
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Solche Texte betten das queere Subjekt oftmals in einen kriminellen Kontext ein und stellen dabei einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und queerer Subjektivität her. Dennoch ermöglichen sie eine queere Leseart, die der Normativität entkommt bzw. diese dekonstruiert. Das boulevardjournalistische Interesse an Formen von Sexualität und Gender, die der Norm nicht entsprechen, führt, wie die Analyse gezeigt hat, oft dazu, dass der Fokus von dem eigentlichen Ereignis zur queeren Subjektivität verschoben wird. Genau durch diese Verschiebung werden Details aus dem Leben queerer Menschen, dazu, wie sie ihre Sexualität und ihr Gender konstruieren und erleben, sichtbar. Die Texte eröffnen oft auch Räume für ihre Stimmen, wodurch Geschichten, Emotionen und Strategien von queeren Personen in unterschiedlichen Zeitpunkten repräsentierbar werden. Aufgrund seines nahezu besessenen Interesses an Bilder und Narrationen von Sexualität ermöglicht es der Boulevardjournalismus, Brüche sowie Verschiebungen im Gesamtdiskurs über Sexualität zu beobachten. Dabei wird auch deutlich, wie der Diskurs von großen Ereignissen wie dem Ausbruch der AIDS-Epidemie sowie dem Militärputsch 1980 in der Türkei stark beeinflusst wurde. In solchen diskursiven Ereignissen, die den Boulevardjournalismus dazu motivieren, queere Repräsentationen auf die Tagesordnung zu setzen, findet wiederum ein ähnlicher Prozess statt: Der exzessive Versuch, aufgrund der sozialen Ängste, die während diskursiver Ereignisse wie der AIDS-Krise und dem Militärputsch den Gesamtdiskurs prägen, queere Sexualitäten abwertend darzustellen, führt paradoxerweise dazu, dass queere Repräsentationen am Ende doch normalisiert werden. Am Beispiel der AIDS-Krise wurden im diachronen Schnitt die Sexualität zwischen Männern sowie schwule Beziehungen und die Räumlichkeiten der schwulen Subkultur zum ersten Mal während der AIDS-Krise derart häufig dargestellt. Dies geschah zwar in Form von abwertenden Repräsentationen, dennoch fand in diesen ein Wandel statt, der die Richtung des Diskurses veränderte. Diese Veränderung war insbesondere in den repräsentierten Stimmen der schwulen Männer zu erkennen. Während die Repräsentation des schwulen Mannes in den frühen Jahren der AIDS-Krise im Kontext der schwulen Subkultur verortet wurde, die mit Promiskuität, mit dem Tod und insbesondere mit dem „tödlichen Zirkel“ in Verbindung gebracht wurde, wies die repräsentierte Stimme der schwulen Männer in den späten Jahren der AIDS-Krise auf eine bewusste Unterscheidung zwischen schwuler Sexualität und HIV/AIDS hin. Homosexualität, die als eine hedonistische bzw. selbstzerstörerische Subjektivität konstruiert wurde, war nun nicht mehr der Grund für die Epidemie, da die Überlappung zwischen AIDS und Homosexualität in den späteren Jahren der AIDS-Krise nicht mehr präsent war. Dennoch konnte festgestellt werden, dass die repräsentierten Stimmen der schwulen Männer „Monogamie“ als Prävention von AIDS deuteten, was zeigte, dass nun eine Verschiebung der Schuld von der Homosexualität auf die Promiskuität erfolgt war. Die konträren Repräsentationen verwoben sich einerseits miteinander, andererseits ermöglichen die Grundlagen für ihre gegenseitigen Erscheinungen. In der Bild
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führten die abwertenden Repräsentationen während der AIDS-Krise zu einer Normalisierung des schwulen Mannes, wodurch sein Bild in das Wertesystem der Dominanzgesellschaft integriert wurde. In einer ähnlichen Weise entstanden normalisierende Repräsentationen von Trans* und Schwulen durch die abwertende Verkopplung von Sexarbeit und Trans* in Hürriyet. Nach dem Auftrittsverbot für Trans*-Künstler_innen rückten Deutungsmuster wie „öffentlicher Raum“ und „Sexarbeit“ in den Vordergrund, was die Berichterstattung bis zum Ende der 1990er-Jahre stark prägte. In diesem Zusammenhang deutete Trans* einerseits auf Sexarbeit, andererseits – aufgrund der illegalisierten Sexarbeit außerhalb von Bordellen – auf eine Störung der Ordnung des öffentlichen Raums hin. Die Großstadt wurde in den Texten als ein Raum konstruiert, in dem Trans* das Recht auf Selbstbestimmung gewannen. Die queere Nutzung des öffentlichen Raums, also beispielsweise die Gründung queerer Communities in einigen Wohngegenden in Großstädten wie in Istanbul, wurde gleichzeitig als ökonomischer Verfall der Nachbarschaft gedeutet. Hürriyet befürwortete in den 1980er-Jahren sogar die Vertreibung der Trans*-Communities, um die betreffenden Wohngegenden bzw. öffentlichen Räume wieder für Cisgender- bzw. heterosexuelle Einwohner_innen zugänglich zu machen. Die regelmäßig stattfindenden Polizeirazzien in den queeren Communities wurden kaum sichtbar im Mediendiskurs, was wiederum die unterschiedlichen Interessen des journalistischen Diskurses in Hürriyet und des Gegen-Diskurses der queeren Communities aufzeigte, in dem die Razzien zentral verhandelt wurden. Selbst in den Fällen, die in der Berichterstattung repräsentiert wurden, wurden die Trans*-Sexarbeiter_innen als Urheber_innen der Kriminalität bzw. Gewalt konstruiert, die die Sicherheit des öffentlichen Raums gefährdete, was die Polizeirazzien legitimieren sollte. Genau dadurch fanden wesentliche Transformationen im Verlauf des Diskurses statt. Queere Communities engagierten sich nämlich Ende der 1980er-Jahre politisch gegen die Polizeigewalt. Die bis zu dieser Zeit starke Überlappung von Sexarbeit, Trans* und Homosexualität verlor mit der beginnenden Repräsentation des Trans*-Subjekts sowie des schwulen Mannes als aktivistischer Figur an Bedeutung. Obwohl Hürriyet die politischen Aktionen der Aktivist_innen als unterhaltsam beschrieb und damit zeigte, dass sie deren politische Forderungen nicht ernst nahm, schuf die journalistische Aufmerksamkeit einen Raum für den Gegendiskurs der damaligen Zeit. Während der boulevardjournalistische Versuch, die normabweichenden Sexualitäten und Geschlechter abwertend darzustellen, also sowohl in der Türkei als auch in Deutschland oft zum Scheitern verurteilt ist, geht das umgekehrte Interesse, queere Sexualitäten „positiv“ darzustellen, mit einem Prozess einher, der das kritische Potenzial der queeren Sichtbarkeiten löscht. Durch die Normalisierung verlieren nämlich queere, emanzipatorische und kritische Bedeutungen ihren Platz in dem Bereich der Sichtbarkeit. Diskursive Prozesse wie Entpolitisierung und Entsexualisierung dienen einerseits dazu, das queere Bild in die dominanzgesellschaftliche
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Kultur zu integrieren, andererseits werden die politisierenden und sexualisierenden Bedeutungen abgewertet bzw. nach außerhalb der Grenzen der Sichtbarkeit verschoben. Die Analyse zeigte zum Beispiel, wie dieser Prozess in den normalisierenden Repräsentationen von Coming-outs von Politiker_innen stattfand. Während sich Herbert Rusches Coming-out im Jahr 1985 als ein politischer Akt deuten ließ, der sich einerseits gegen die Stigmatisierung von schwulen Männern in der Zeit der AIDS-Krise, andererseits gegen ihre Unsichtbarkeit in der dominanzgesellschaftlichen Kultur richtete, wurde Guido Westerwelles Coming-out (2004) vor allem auch deswegen als „stilles Coming-out“ bezeichnet, weil es nicht zu einem politischen Statement gemacht wurde. Diese Transformation zur Entpolitisierung konnte auch bei der Berichterstattung über Klaus Wowereits Coming-out (2001) gezeigt werden, da die Repräsentation von Wowereits Homosexualität gleichzeitig als eine Distanzierung von „schwuler Politik“ konstruiert wurde. Eine derartige Transformation konnte auch in der Berichterstattung über den CSD festgestellt werden. Die karnevalisierende Repräsentation des CSD in Bild legte den Fokus auf die karnevalesken Merkmale, während der politische Inhalt oft unsichtbar gemacht wurde. Ähnliche diskursive Entwicklungen von Entsexualisierung und Entpolitisierung fanden auch in Hürriyet statt, als homoerotische Bilder des Popsängers Tarkan veröffentlicht wurden, während seine angebliche schwule Identität als eine „Privatsache“ konstruiert wurde, und als der Besuch eines schwulen Cruising-Schiffs zu einer großen Diskussion über schwulen Tourismus führte, indem die Repräsentation von Schwulen und Lesben mit dem Deutungsmuster „Profit“ in Erscheinung trat, was den Weg für die Entpolitisierung und Normalisierung der Repräsentationen eröffnete. Sowohl in der Berichterstattung in Hürriyet als auch in Bild kommen also normalisierende Prozesse als ein Ergebnis der abwertenden Repräsentationen vor sowie Prozesse wie Entpolitisierung und Entsexualisierung, die die normalisierenden Repräsentationen ermöglichen. Insbesondere in den späteren Texten sind solche Texte mit den Deutungsmustern von spätkapitalistischen Gesellschaften in Verbindung zu setzen, in denen die Repräsentation des Nicht-Repräsentierten nur in einem Kontext von Favorisierung der individuellen Erfolge sowie der Verkopplung von Vielfalt und Profit möglich gemacht wird (Ha 2005, 56-57). Dies ist wiederum mit einem Prozess verbunden, in dem queere Deutungen zugunsten der neoliberalen Gesellschaft in die dominanzgesellschaftlichen, d.h. vor allem auch normativen Repräsentationen eingebettet werden (Engel 2009). Die vorliegende Publikation hat gezeigt, dass die deutschen und türkischen Boulevardformate ständig die Grenzen der Sichtbarkeit im Bereich des Journalismus verschieben. Anstatt den Boulevardjournalismus bezüglich seiner Qualität schlicht in die U-Kultur einzuordnen und seine Potenziale zu übersehen, sollten kommunikationswissenschaftliche Herangehensweisen die vielfältigen boulevardjournalistischen Repräsentationen sowie beständige Spannungsfelder zwischen Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten als einen wesentlichen Teil der Konstruktion
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von Kategorien der Sexualität und Gender in den Blick rücken. Die typischen Merkmale des Boulevardjournalismus, wie zum Beispiel die Differenzierung zwischen „Wir“ und „Ihr“, die Skandalisierung von Sexualität, das Verschwinden der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem sowie fiktionsähnliche Narrationen, die zur Unterhaltung dienen, führen dazu, dass queere Repräsentationen ständig als eine widerständige Kategorie, als ein konstruierendes Anderes in den Texten auftauchen, das durch seine Präsenz die Grenzen der dominanzgesellschaftlichen Kultur mit gestaltet bzw. verschiebt. Zu bestimmten Zeitpunkten werden die queeren Repräsentationen als Teil eines „Wir“ konstruiert, in manchen Momenten werden queere Sexualitäten durch die Repräsentationen des Privaten skandalisiert, oder sie treten als unterhaltsam für die Dominanzgesellschaft in den Bereich der Sichtbarkeit. Diese Publikation stellt außerdem die typischen Vorstellungen von diskursiven Verläufen infrage, denn sie zeigt, dass der Diskurs bzw. die Geschichte der Repräsentationen nicht in einer evolutionären Weise von Repression zur Progression verlaufen. Es gibt Unterbrechungen, Wiederholungen, Hybridisierungen von abwertenden und normalisierenden Repräsentationen und vor allem auch Erscheinungen von Deutungen zu unerwarteten Zeitpunkten. Dies macht es problematisch, die Temporalität der queeren Repräsentationen sowie der journalistischen Konstruktion der Heteronormativität in einer linearen Weise zu interpretieren. In Bild tauchen zum Beispiel normalisierende Repräsentationen auch in den sehr früheren Texten auf bzw. sind abwertende Repräsentationen sogar noch in den Texten zu erkennen, die nach den 1990er Jahren erschienen sind. Insbesondere in den ältesten Repräsentationen von schwulen Männern, in denen die Sexualität des schwulen Mannes als ein Geheimnis gedeutet wird, dessen Entdeckung zunächst zu einer Panik führt und sich danach zu einer Art konstitutivem Anderen für die Sexualität der heterosexuellen Frau wandelt, waren normalisierende Bedeutungen in abwertenden Repräsentationen zu erkennen. In Artikelserien wie Wilde und andere Ehen (1979) war ein boulevardjournalistisches Interesse an Sexualität erkennbar, das einerseits die normabweichende Sexualität abwertete, andererseits genau diese Abweichung als eine Befreiung für die Sexualität der heterosexuellen Frau darstellte. Des Weiteren zeigten solche Artikel, die stark von der Sexwelle der 1970er Jahre geprägt sind, andere Formen von Intimitäten, die im seriösen Journalismus nicht repräsentiert werden. In einer ähnlichen Weise tauchten abwertende Repräsentationen in den Zeiten der Normalisierung von queeren Sexualitäten und Genderidentitäten wieder auf. Wie die Analyse gezeigt hat, waren Repräsentationsmuster wie die Kriminalisierung von Lesben sowie Verkopplungen wie die von AIDS und schwuler Identität auch in Texten nach den 1990er-Jahren erkennbar. Diskursive Verlaufe wurden in manchen Momenten von den sozio-politischen Entwicklungen unterbrochen. Ein gutes Beispiel dafür bildete wiederum die Berichterstattung über Bülent Ersoy. Wie die Analyse gezeigt hat, überlappte die normalisierende Repräsentation der Geschlechtsangleichung von Bülent Ersoy mit
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der Zeit des Militärregimes der 1980er Jahre. Eine vorübergehende Normalisierung der Repräsentation fand statt, indem die Regulierung der Stimmen in den Texten einerseits die Anerkennung von Ersoys Stimme sowie eine Selbstdefinition ermöglichte und andererseits eine Integration der Repräsentation in das Wertesystem sowie die Normativitäten der Dominanzgesellschaft darstellte. Dieser normalisierende Verlauf des Diskurses war deswegen nur vorübergehend, weil er drastisch unterbrochen wurde, als die neue Regierung nach dem Militärputsch 1980 Auftrittsverbote für Trans*-Sänger_innen und -Künstler_innen, darunter auch Ersoy, beschloss. Die Analyse zeigte, dass nach dem Verbot in der Berichterstattung ausschließlich Subjektpositionen zum Sprechen kamen, die als „Expert_innen“ bezeichnet wurden. Ärzt_innen, Jurist_innen sowie Theolog_innen diskutierten in diesen Texten, ob Ersoy als eine Frau gesehen werden müsse oder als ein Mann. Eines der wichtigsten Ergebnisse bezüglich der queeren Temporalitäten ist, dass die Identitäten zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Weisen adressiert wurden; ihre mediale Konstruktion scheint im zeitlichen Verlauf Veränderungen durchlaufen zu haben. Insbesondere die Texte, in denen Subjekte zum Sprechen kamen, sind von großer Bedeutung, da sie uns einige Hinweise darauf geben, wie die Identitäten in ihren Zeitfenstern konstruiert wurden. Selbstverständlich können die boulevardjournalistischen Texte nicht den Charakter des Gesamtdiskurses in vollem Umfang widerspiegeln, dennoch bieten sie aufgrund ihrer Verwobenheit mit der Populärkultur einen Eindruck davon, welchen dominanzgesellschaftlichen Deutungen sexuelle und geschlechtliche Identitäten unterworfen waren. In den frühen Texten sowohl in Bild als auch in Hürriyet schien zum Beispiel das schwule Subjekt zunächst über kein Gesicht bzw. keinen Namen zu verfügen. Das Schwulsein wurde in solchen Texten als Ursache von Verwirrung, Panik oder Angst bei der heterosexuellen Mehrheit gedeutet. Der schwule Mann war entweder ein „Perverser“, wie in Hürriyet, oder seine Sexualität war ein Geheimnis, wie in Bild, dessen Enthüllung zu Enttäuschung und Panik führte. Obwohl in den Texten von ihm gesprochen wurde, waren seine Stimme oder sein Gesicht in den Texten nicht anwesend. Diese (Un-)Sichtbarkeit ist wiederum schwer von den zeitlichen Kontexten zu trennen. Zu einer Zeit, in der Coming-out noch keine große Rolle bei LSBTI*-Personen und -Bewegungen spielte, als sich offen als schwul zu bekennen nicht als ein wesentliches Moment der Subjektivierung gesehen wurde, ähnelte auch die schwule Sichtbarkeit in den journalistischen Repräsentationen einem Geist ohne Namen und Gesicht, worüber ohne seine Präsenz gesprochen wurde. Selbst wenn in den frühen Texten Subjekte zum Sprechen kamen, konstruierten sie ihre Sexualität und Gender anders als heutige sexuelle und geschlechtliche Identitäten. Beispielsweise definierten Figuren wie „Frauen in Männerkleidern“ in Hürriyet ihre Entscheidung, Männerkleider zu tragen, nicht als eine Form queerer Identität, sondern sie begriffen sich als heterosexuelle Frauen, die sich als Selbstschutz gegen sexuelle Belästigung durch Männer als Männer kleideten. Auf der anderen Seite sahen Intersex-Personen, die durch operative Handlungen zu Män-
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nern wurden, die Geschlechtsangleichung als einen Vorteil, weil sie damit als Männer am Arbeitsmarkt teilnehmen konnten. Des Weiteren waren selbst in den 1980er Jahren die Grenzen zwischen Homosexualität und Trans* in Hürriyet unklar. Die für das heutige Dispositiv als Trans* erscheinenden Figuren definierten sich selbst als „eşcinsel“, also als homosexuell. Diese unterschiedlichen Subjektivierungen, mit ihren Narrationen, Selbstnarrationen und den Geschehen, in denen sich befanden, zeigen, dass das Dispositiv der Sexualität stets zeitlich gebunden ist. Des Weiteren machen es solche Unterschiedlichkeiten schwierig, die früheren queeren Narrationen, Definitionen, Selbstdefinitionen und Begrifflichkeiten unter heutigen Kategorien der LSBTI* aufzulisten. Genauso problematisch ist es, die früheren Repräsentationen von Identitäten als Ursprung heutiger Identitäten bzw. als prämoderne oder primitive Versionen der heutigen sexuellen Kategorien zu betrachten. Anstatt den Wandel als eine lineare Entwicklung zu erklären und diesbezüglich Identitäten aus unterschiedlichen Zeitfenstern als Mitglieder einer gemeinsamen LSBTI* Community zu verstehen, die sich immer und überall, früher oder später zu den heutigen Kategorien umwandeln, muss die Analyse die Aufmerksamkeit eher auf den temporären, befristeten Charakter jeglicher sexueller Kategorien verschieben. Die Kategorien der sexuellen und geschlechtlichen Identitäten sind also stets an ihre Zeitlichkeit gebunden; das heißt vor allem auch, dass die Kategorien stets vorübergehend sind. Selbst die heutigen Kategorien Sexualität und Gender sind nicht das endgültige Ergebnis einer langen Progression. Ähnlich wie Kategorien der Vergangenheit, die uns heute prämodern und problematisch erscheinen, werden auch heutige Kategorien im zeitlichen Verlauf ihre Bedeutung verlieren. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass sich die Kategorien, Identitäten sowie Repräsentationen von Sexualität und Gender dauernd bewegen. Diese zeitliche Bewegung richtet sich weder zur Progression noch zu einem endgültigen Schlusspunkt. Dennoch war eine Gemeinsamkeit zu erkennen. Die Analyse der diskursiven Verläufe in Bild und Hürriyet zeigte, dass die Identitäten und Repräsentationen, obwohl sie an unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich in Erscheinung getreten sind, aufgrund ihrer Begegnung mit der Macht sowie mit der Gewalt ähnliche queere Deutungen produzierten. In Anlehnung an Love (2009) interpretierte ich die an unterschiedlichen Orten und Zeiten vorgekommenen Geschehen und Identitäten, über die von Bild und Hürriyet berichtet wurde, als Repräsentationen von geteilten Erfahrungen der Isolation und Gewalt. Genau diese geteilte Erfahrung der Isolation und Gewalt deutet diese Identitäten, Repräsentationen und Geschehen als queer. Unter Gewalt ist hier auch die diskursive Gewalt zu verstehen, darunter die falschen Repräsentationen, Skandalisierungen, abwertenden Darstellungen sowie die Berichterstattungen, in denen Subjekte zum Schweigen gebracht werden – also die typischen Merkmale des Boulevardjournalismus. Die geteilten Erfahrungen von diskursiver Gewalt machen vollkommen unterschiedliche Geschehen wie die Veröffentlichung der homoerotischen Bilder des Popsängers Tarkan (2001) oder den
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Prozess gegen Marion Ihns (1973) zu ähnlichen Erscheinungen. Obwohl es also schwierig ist, diese Repräsentationen unter die gleichen Kategorien von Sexualität und Gender einzuordnen, deuten sie aufgrund ihrer Begegnung mit der diskursiven Konstruktion der Heteronormativität trotzdem auf ähnliche queere Erfahrungen. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit beruht auf dem synchronen Vergleich zwischen Bild und Hürriyet, wodurch die unterschiedlichen Charaktere der sozio-historischen Kontexte erkennbar wurden. Der geschichtliche Verlauf der queeren Bewegungen in Europa und Nordamerika, der oft mit Bezug auf die als „Brüche“ für eine universale LSBTI*-Bewegung dargestellten Ereignisse wie die Stonewall-Unruhen, die AIDS-Krise sowie die Verabschiedung des gleichgeschlechtlichen Eherechts erzählt wird, verliert in einem solchen synchronen Vergleich seine Bedeutung. Denn die Geschichten der journalistischen Diskurse in der Türkei und Deutschland weisen auf unterschiedlichere Brüche hin. Der Militärputsch 1980 stellte zum Beispiel in der Türkei einen viel wesentlicheren Bruch dar als die AIDS-Epidemie und transformierte den journalistischen Diskurs über queere Subjekte viel deutlicher. Auf der anderen Seite scheint eine diskursive Explosion über die Sexualität, die in den 1970er Jahren zu einer vielfältigen Repräsentation queerer Sexualitäten führte und die aufgrund der AIDS-Epidemie drastisch ihre Richtung änderte, nur in Bild ein Fall zu sein. Natürlich ist es keine große Überraschung, dass zwei Zeitungen aus zwei Ländern zwei unterschiedliche Geschichten aufzeigen. Dennoch werden diese unterschiedlichen diskursiven Verläufe der jeweiligen sozio-historischen Kontexte oft übersehen, indem nur der euroamerikanische Verlauf wiederholend als universal dargestellt wird. Diese Arbeit stellte eine solche Darstellung infrage, indem sie den journalistischen Diskurs sowie die queeren Repräsentationen aus der Türkei in die Analyse miteinbezogen hat. Bedeutsam zu erwähnen ist, dass solche Vergleiche zwischen westlichen und östlichen Kontexten oft dazu genutzt werden, um eine Hierarchie bzw. Dichotomie zwischen Osten und Westen aufzubauen. Während der Westen als ein Ort dargestellt wird, in dem die sexuelle Freiheit sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter garantiert werden, kommt der Osten oft mit Bezug auf Unterdrückung sowie Löschung der Sexualität in den öffentlichen Diskursen vor. Ein Vergleich der boulevardjournalistischen Diskurse unterminiert jedoch eine derartig dichotome Darstellung der Welt. Wie ich in dieser Arbeit gezeigt habe, konnte der geschichtliche Verlauf der Berichterstattung der Bild-Zeitung, also einer westlichen Zeitung, nicht als Beispiel einer Berichterstattung aufgezeigt werden, die frei von diskriminierender Sprache wäre. Im Gegenteil produzierte die Bild-Berichterstattung sehr viele diskriminierende Repräsentationen, in denen queere Identitäten skandalisiert, falsch oder feindlich repräsentiert, stumm bzw. unsichtbar gemacht wurden. Es soll jedoch nicht behauptet werden, dass eine diskriminierende Sprache bzw. Repräsentation in der Berichterstattung in Hürriyet nicht zu sehen wäre. Ähnlich abwertende Repräsentationen wie in Bild waren auch in Hürriyet zu erkennen. Dennoch zeigte ein Vergleich zwischen den beiden Zeitungen, dass der journalisti-
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sche Diskurs in der Türkei, also einem Land, das einen Teil des Orients darstellt, eine Vielfalt von queeren Repräsentationen produziert hat. Die Annahme, dass der Orient die queeren Sichtbarkeiten löscht bzw. dass queere Sichtbarkeiten in den „anderen Ecken der Welt“ keine Möglichkeit haben, in den Bereich des Sagbaren und Sichtbaren einzutreten, stimmt zumindest für das Beispiel von Hürriyet, nicht. Des Weiteren taucht in dem zeitlichen Wandel des journalistischen Diskurses in der türkischen Zeitung eine Vielfalt von queeren Repräsentationen auf, die man nicht schlicht als unterdrückt bzw. abgewertet bezeichnen kann. Ebenfalls bedeutsam ist, dass in dem untersuchten Zeitraum in der türkischen Zeitung viel mehr Texte entdeckt wurden als in der deutschen Zeitung Bild. Selbst in den Zeiten der politischen Unterdrückung in der Türkei waren queere Repräsentationen in den Texten zu erkennen. Die Analyse hat zum Beispiel gezeigt, dass es selbst in den Zeiten des Militärregimes nach dem Putsch von 1980, sowie nachdem eine islamisch-konservative Partei, also die AKP, an die Macht kam, ein journalistisches Interesse an queeren Sexualitäten und Genderidentitäten gab. In dem zeitlichen Verlauf der Berichterstattung über Bülent Ersoy gab es sogar normalisierende Repräsentationen von Trans*, die mit der Zeit des Militärputschs in der Türkei überlappten. Während in Hürriyet solche normalisierenden Repräsentationen schon in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren vorkamen, fand der Normalisierungsprozess der Repräsentationen von Trans*-Menschen in Bild erst ab den 1990er Jahren statt. Am Beispiel der Berichterstattung in Hürriyet zeigt sich die Schwierigkeit, eine Korrelation zwischen politischer Unterdrückung von queeren Personen und der Löschung von queeren Deutungen zu identifizieren. Die vorliegende Analyse zeigt, dass in Zeiten politischer Unterdrückung, wenn z.B. die türkische Regierung in den frühen 1980er Jahren Trans*-Künstler_innen verbot, auf die Bühne zu treten, der journalistische Diskurs diese Unterdrückung einerseits widerspiegelte, indem die Subjekte in den Texten zum Schweigen gebracht bzw. queere Repräsentationen skandalisiert wurden. Andererseits entstand wiederum genau durch diesen Versuch, queere Deutungen zu unterdrücken, eine Vielzahl von Texten, in denen es um Geschehen um queere Personen ging und die so einen Raum für queere Repräsentationen eröffneten. Beispielweise umfassten die vielen Texte über Bülent Ersoy, die ab dem Militärputsch versuchten, ihre Trans*Identität abzuwerten, widersprüchliche Deutungen, die Bülent Ersoy zu einer queeren Figur verwandelten, die die Grundlagen jeglicher Art von sexuellen und geschlechtlichen Kategorien erschütterten. Wie ich in dieser Arbeit gezeigt habe, repräsentierte sie in den früheren 1980er Jahren eine Figur, die gleichzeitig auf eine Frau, einen homosexuellen Mann, eine Person mit „künstlichen Geschlechtsorganen“, eine Irre, eine Hausfrau, eine gläubige muslimische Sängerin hinwies. Solche Widersprüche erschienen oft in demselben Zeitfenster, sogar in demselben Diskursfragment. Die Annahme, dass Konservatismus bzw. die politische Unterdrückung von queeren Personen in Ländern wie der Türkei mit einem Prozess einherginge, der
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jegliche Ausdruckformen von queerer Erfahrungen nicht erlauben würde, die queere Sichtbarkeit in der dominanzgesellschaftlichen Kultur löschen sowie den Repräsentationen der Sexualität keinen Raum geben würde, ist fraglich, wenn man die Berichterstattung der Hürriyet als Grundlage nimmt. Die typischen Merkmale des Boulevardjournalismus, die Sexualität skandalisieren, die das Private in die Öffentlichkeit verschieben, ermöglichen auch in Zeiten der politischen Unterdrückung Spielräume für die Produktion queerer Deutungen. Es ist von großer Bedeutung, dass sowohl kommunikationswissenschaftliche als auch queertheoretische Ansätze ihre Aufmerksamkeit von euroamerikanischen Kontexten auf die „anderen“ Kontexte, wie zum Beispiel auf den Kontext der Türkei verschieben. Erst dadurch wird nämlich die Universalität der westlichen Epistemologie der Sexualität fraglich. Des Weiteren werden auch die Prozesse der Globalisierung und Verwestlichung deutlich, die einerseits zur Verbreitung der westlichen Epistemologie führen, andererseits die lokalen Kategorien entweder löschen oder zu den westlichen Kategorien in Widerspruch setzen. Der geschichtliche Verlauf der Berichterstattung der Hürriyet diente in diesem Sinne als ein gutes Beispiel dafür, um zu beobachten, wie sich die Kategorien Sexualität und Gender durch Verwestlichung sowie durch den Blick auf Europa verwandelten. Die früheren Kategorien, die nicht über Definitionen und Begrifflichkeiten verfügten, die also auf die Zeit vor der Gründung einer politischen LSBTI*-Bewegung in der Türkei zeigten, prägten die queeren Repräsentationen in Hürriyet. Die Texte von Hürriyet, insbesondere bis zu den späten 1980er Jahren, eröffnen Räume für Kategorien und Repräsentationen, die in Bild kaum existieren. Repräsentationen wie „Erkek Fatma“ oder „Travesti“ weisen auf ein unterschiedliches Dispositiv hin. Auf der anderen Seite sind die für heutige Epistemologie als sehr rigide wahrgenommenen und voneinander streng getrennten Kategorien wie „schwul“ und „transgender“ sowie „heterosexuelle Frau“ und „butch“ in den früheren queeren Repräsentationen in Hürriyet miteinander verschmolzen. Erst durch den Vergleich mit „Europa“, der auch bei der Entstehung einer queeren politischen Figur in der Türkei eine Rolle spielte und der wiederholt den Westen als Vorbild zeigte, trennten sich die Kategorien, d.h. vor allem auch die Repräsentationsmuster voneinander. Ab diesem Zeitpunkt wurden zum Beispiel der schwule Mann und die Trans*-Sexarbeiter_in nicht mehr durch die gleiche Kategorie repräsentiert. An dieser Stelle ist es wesentlich zu erwähnen, dass auch die Veränderung solcher Kategorien, die durch Verwestlichung sowie Begegnung mit den europäischen Kategorien stattfand, nicht als eine Progression zu bezeichnen ist, die in einer linearen Weise von der Unterdrückung zur Befreiung laufen würde. Die Veränderung der Kategorien und Begrifflichkeiten der Sexualität in sich kann nämlich nicht eine Progression aufzeigen. Die diskursive Transformation geht nicht stets mit einem Prozess einher, der zu einer gerechten Sichtbarkeit der queeren Subjekte führt. Ein weiteres Problem der Annahme, dass Verwestlichung eine Progression darstellt, ist, dass sie den Westen und seine Kultur als befreit von jeglicher Form
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der Homo- und Transphobie impliziert. Diese Annahme wiederum ist, wie ich am Beispiel der Berichterstattung in Bild gezeigt habe, falsch. Auf der anderen Seite sollte dies auch nicht dazu führen, die früheren Repräsentationen der sexuellen Vielfalt in dem Kontext der Türkei nostalgisch zu betrachten. Wie ich gezeigt habe, traten „Erkek Fatma“s oft in einem kriminellen Kontext in den Vordergrund, Genderambiguität sowie Männer, die Männer begehren, wurden pathologisiert, und der Begriff „Travesti“ bezog sich immer auf Sexarbeit. Eine queer-kritische Kommunikationswissenschaft muss sowohl die Gewalt, die solche Repräsentationen ausüben, in den Vordergrund rücken, als auch darauf aufmerksam machen, dass der Boulevardjournalismus auch in den sogenannten progressiven Ländern diskursive Gewalt an queeren Personen ausübt. Die synchrone Dimension der Analyse hat auch die Unterschiede der journalistischen Merkmale beider Zeitungen sichtbar gemacht. Diese Unterschiede sind vor allem bezüglich der Narrationen zu eruieren. Parallel zu den typischen Merkmalen der Boulevardpresse wie Metaphern, Ironie und Übertreibungen rekonstruiert Bild die Ereignisse, von denen berichtet wird, mit tradierenden Merkmalen einer fiktiven bzw. literarischen Erzählung. Dialoge zwischen Subjekten, die Beschreibung der Emotionen von Subjekten, die detaillierte Rekonstruktion von Szenen, der Fokus auf Gegenstände, die für das Ereignis keine Relevanz haben, sowie die Konstruktion von Figuren wie der femme fatale, die aus der Tradition der literarischen Erzählungen stammen, führen dazu, dass die Texte ähnlich wie fiktionale Prosa funktionieren. Dieses Ergebnis war für die Analyse deswegen von großer Bedeutung, weil es dadurch möglich wurde zu untersuchen, welche Momente eines Ereignisses mit welchen Kommunikationsstrukturen in den Vordergrund gerückt wurden. Diesbezüglich konnte beispielsweise festgestellt werden, dass Bild insbesondere in dem Repräsentationsmuster „Kriminalisierung“ oftmals, um die Ursachen einer kriminellen Tat zu erklären, Szenen aus der Vergangenheit rekonstruierte, die auf ein Scheitern in der Entwicklung einer heterosexuellen Subjektivierung deuteten. Durch diese Strategie verschob sich der Fokus von dem eigentlichen Ereignis auf die queere Subjektivität, was zu einer Überlappung zwischen der queeren Subjektivität und Kriminalität führte. In dem Repräsentationsmuster „Erotisierung der Lesbe“ diente die Sprache bei der Rekonstruktion von intimen Szenen, die wiederum keine hohe Relevanz für das berichtete Ereignis hatten, ähnlich wie in der filmischen Narration dazu, die Lesbe als Ziel eines erotisierenden Blicks zu konstruieren. Ebenfalls war die Präsenz der_des Journalist_in als Erzähler_in der Geschichte insbesondere in Interviews erkennbar. Als Erzähler_in verkörperte der_die Journalist_in die moralischen Werte der Gesellschaft und, wie die Analyse zeigte, gestaltete die Struktur der Texte so, dass sich Leser_innen mit ihr oder ihm identifizieren. Obwohl Metaphern, Ironie sowie Übertreibungen auch in Hürriyet zu sehen sind, unterscheidet sich die Narration grundsätzlich von der der Bild, deren Berichterstattung viel stärker von Merkmalen fiktiver Narration geprägt ist. Im Unterschied zur Bild-Berichterstattung dominiert in Hürriyet also der Anspruch, die Realität
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wiederzugeben, und zwar durch die Repräsentation von Stimmen, die bestimmte Institutionen vertreten. Dieses Ergebnis ermöglichte es, eine Analyse der Intertextualität durchzuführen, die auf der Rekontextualisierung von Texten aus unterschiedlichen Subjektpositionen sowie Institutionen beruhte. Von Interesse war dabei zu untersuchen, wie Hürriyet durch die Regulierung sprechender Subjekte die Repräsentationsmuster konstruierte. Wie zuvor erwähnt, konnten dadurch der Verlauf der Repräsentationen sowie die Brüche, die den Verlauf der Repräsentationen verändern, aufgezeigt werden. Normalisierung trat in Hürriyet insbesondere dadurch in Erscheinung, dass diejenigen Subjektpositionen in der Narration zum Sprechen kamen, die eine Anerkennung sowie Integration der Repräsentation von queeren Subjektivitäten reklamierten. Durch die gleiche Narration, also durch Regulierung der sprechenden Subjekte, wurden auch abwertende Repräsentationen erzeugt. In solchen Repräsentationen konnte beobachtet werden, dass der Wahrheitscharakter eines Diskurses Subjektpositionen wie „Expert_innen“ zugeschrieben wurde. Die Texte können insofern als heteronormative gedeutet werden, als dass ausschließlich Stimmen von „Expert_innen“ repräsentiert wurden, während das queere Subjekt, obwohl von ihm die Rede war, nicht zum Sprechen kam. Eine Ähnlichkeit zwischen den Narrationen der beiden untersuchten Zeitungen bestand darin, dass die Rolle des_der Journalist_in bzw. Autor_in als Repräsentant_in der moralischen Werte erkennbar war. Die repräsentierte Position veränderte sich wiederum in dem diachronen Schnitt von der Abwertung hin zur Normalisierung. Die vorliegende Publikation hat versucht, die Schnittstelle zwischen Kommunikationswissenschaften, Diskursanalyse und Queer-Studien zu füllen. Die Arbeit ist auch ein Beispiel dafür, wie die Werkzeuge der Diskursanalyse für die Analyse größerer Zeiträume sowie Vergleiche zwischen unterschiedlicheren soziopolitischen Kontexten verwendet werden können. In künftigen Studien wäre es sinnvoll, die komplexe Dekodierung der Bedeutungen mittels Rezeptionsanalyse zu unterstützen. Wie werden die boulevardjournalistischen Texte von queeren Personen gelesen? Die Analyse bestimmter Brüche in diskursiven Verläufen, wie zum Beispiel dem Militärputsch von 1980 in der Türkei oder der AIDS-Krise wäre noch interessanter, wenn sie anhand der Personen, die in den Texten zum Sprechen kamen, mit Oral History kombiniert würde. Schließlich ist eine Verschiebung der Aufmerksamkeit innerhalb kommunikationswissenschaftlicher sowie queertheoretischer Ansätze auf als „Orient“ sowie „globaler Süden“ betrachtete Weltregionen von großer Bedeutung. Die eurozentrische Epistemologie muss weiter infrage gestellt werden, indem Narrationen, Wissen und Begrifflichkeiten aus „den anderen Regionen“ stärker zirkuliert werden.
Literatur
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Bild, Im Namen des Volkes: zwei lesbische Frauen sollen sterben, 27.01.1973, 12. Bild, Es war im Wald... Ein Kerl... Ich konnte nur schreien... Seitdem bin ich lesbisch, 29.01.1973, 14. Bild, Die schwarze Inge liebte wie ein Mann – zärtlich und aggressiv, 30.01.1973, 7. Bild, Die Freundin war eifersüchtig, da musste sie sterben, 31.01.1973, 7. Bild, Ein kleiner Junge muß sterben, weil seine Mutter eine Freundin hat, 01.02.1973, 7. Bild, Als die Frau des Professors ihrer jungen Putzfrau verfiel, 02.02.1973, 2. Bild, Die Frau im Domino-Kostüm stach sechsmal zu, 03.03.1973, 7. Bild, Im Schlafzimmer hat der Staat künftig nichts mehr zu suchen, 08.06.1973, 2. Bild, Der Mord-Geheimnis der lesbischen Frauen, 20.08.1974, 1. Bild, Ihns-Prozeß: Für ein Stück Kuchen vergwaltigt, 20.08.1974, 2. Bild, Liebe und Haß der lesbischen Frauen, 21.08.1974, 1. Bild, Lesbische Frauen: Haß und Liebe, 21.08.1974, 10. Bild, Marion Ihns: Meine schlimmen Erlebnisse mit sechs Männern, 22.08.1974, 1 & 6. Bild, Wie Judy und Marion „heirateten“, 23.08.1974, 7. Bild, Die sieben Mordpläne der lesbischen Frauen, 27.08.1974, 1. Bild, Mordprozeß, 27.08.74, 8. Bild, Alle reden von lesbischen Frauen aber wer war Herr Ihns?, 29.08.1974, 5. Bild, Nimm die Axt, sagten die lesbischen Frauen zum Mörder, 30.08.1974, 1. Bild, Der Mörder klimperte mit seinen Ketten und schwieg, 30.08.1974, 2. Bild, Mein Mann war homosexuell unsere Ehe war glücklich, 19.06.1976, 10. Bild, Wie kaputt ist Elton John?, 09.11.1976, 12. Bild, Tuntenball: Die ganzen Stöckelschuhe hin, 13.11.1978, 5. Bild, Erste lesbische Ehe der Welt kaputt, 20.11.1978, 18. Bild, Mann wird Frau – auch im Paß, 20.11.1978, 18. Bild, Noch lachen die Zorros, 14.06.1979, 7. Bild, Queen Politiker Thorpe frei, 23.06.1979, 1. Bild, Ein Pianist liebte nur Männer..., 28.06.1979, 10. Bild, Kann Lesbierin eine gute Ehefrau werden?, 13.07.1979, 7. Bild, Homolulu – kein Druckfehler sondern ein heißes Thema, 25.07.1979, 2. Bild, Berliner Pfarrer bekennt..., 28.07.1979, 4. Bild, Zwei Männer, die sich lieben und eine Frau, 31.07.1979, 7. Hürriyet, Erkek diye yakalanan çocuk yankesici..., 17.04.1969, 7. Hürriyet, İki kız kardeş iki erkek kardeş oldu, 16.05.1969, 1. Hürriyet, Cinsiyet değiştirme operatörleri toplandı, 30.07.1969, 3. Hürriyet, Amerikan polisi, erkek zannettiği kızı erkekler koğuşuna hapsetti, 23.08.1969, 3. Hürriyet, B. Almanya’da yeni kanuna göre zina suç sayılmıyor, 02.09.1969, 3. Hürriyet, Kızlararası güzellik yarışmasını, 12.09.1969, 3.
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286 | Queere (Un-)Sichtbarkeiten
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290 | Queere (Un-)Sichtbarkeiten
Bild, Grabmord-Prozeß: Warum Deborah ihrer Chefin sexuell hörig wurde, 30.04.1998, 6. Hürriyet, Yardım edilmezse, fuhuş yapar AIDS bulaştırırım, 14.03.1991, 23. Hürriyet, Homoseksüel barına bomba: 7 yaralı, 16.03.1991, 21. Hürriyet, Kraliçe erkek çıktı, 01.06.1991, 3. Hürriyet, Öpüşme merakı ve işte sonucu, 06.06.1991, 1. Hürriyet, Beğenenler de var, 08.06.1991, 13. Hürriyet, Bunların hepsi erkek, 21.06.1991, 1. Hürriyet, Dönmeler tiyatrosu, 21.06.1991, 22. Hürriyet, Konuşursam bakanlar yanar, 22.06.1991, 1. Hürriyet, Sisi: Konuşursam bazı Bakanlar yanar, 22.06.1991, 16. Hürriyet, Lezbiyenlerin gazabına uğradı, 06.05.1992, 2. Hürriyet, İşte hamile erkek, 29.05.1992, 1&26. Hürriyet, Eşcinsellik kongresine valilik izin vermedi, 02.07.1993, 29. Hürriyet, Eşcinseller, kongre yerine tatil yapacak, 03.07.1993, 3. Hürriyet, Diskotekte eşcinsel avı, 04.07.1993, 38. Hürriyet, k.d lang fırtınası, 11.07.1993, 4. Hürriyet, Çift cinsiyetli gencin dramı, 11.07.1993, 31. Hürriyet, Eşcinsellik tecih mi, hastalık mı? 12.07.1993, 6 Hürriyet, Homoseksüellik geni bulundu, 21.07.1993, Letzte Seite Hürriyet, Madonna‘nın yeni arkadaşı, 25.07.1993, 4. Hürriyet, Tevfik‘in işi 2 aya kadar bitecek, 07.04.1996, 1&33. Hürriyet, Şoför sapık ilişki kurbanı, 28.04.1996, 3 Hürriyet, Her yabancı bir risk!,10.05.1996, 18. Hürriyet, Yeni evliler, 20.05.1996, 20. Hürriyet, Eşcinsellik izleyicinin yorumu, 25.05.1996, 21. Hürriyet, Habitat yolları kapadı, 26.05.1996, 28. Hürriyet, Habitat paniği, 27.05.1996, ? Hürriyet, Habitat II için sergi, 27.05.1996, 21. Hürriyet, Eşcinsel alemi sabaha kadar sürdü, 01.07.1997, 21. Hürriyet, Gençlik yıllarımda erkek fahişeydim, 10.07.1997, 4. Hürriyet, Hamam filmine mütevazı bir katkı, 05.11.1997, 25. Hürriyet, Osmanlı‘da hamam tarifesi, 09.11.1997, 1. Hürriyet, O hamamlar ki bir zamanlar tellak tarifeleri bile vardı, 09.11.1997, 20. Hürriyet, Clinton – eşcinsel alışverişi, 10.11.1997, 22. Hürriyet, Moda dünyasını sarsan cinayet, 16.07.1997, 1. Hürriyet, FBI eşcinsel katili arıyor, 17.07.1997, 5. Hürriyet, Versace‘de satış patlaması, 19.07.1997, 4. Hürriyet, En küçük protestocu, 19.07.1997, 20. Hürriyet, Durdurulmazsa yine öldürecek, 22.07.1997, 17. Hürriyet, Evet biseksüelim, 23.07.1997, 5. Hürriyet, Versace‘yi öldürdüğü silahla kendini öldürdü, 25.07.1997, 3.
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292 | Queere (Un-)Sichtbarkeiten
Bild, Superstar Elli maxelt mit Mann und Frau, 16.02.2004, 4. Bild, Grausame Domina, 09.07.2004, 11. Bild, Ist moderne Kunst pervers? 16.07.2004, 6. Bild, Westerwelle liebt diesen Mann, 21. Juli 2004, 1. Bild, An Merkels 50. Geburtstag lüftet Westerwelle sein größtes Geheimnis, 21.07.2004, 2. Bild, Wie schwul ist Deutschland?, 22.07.2004, 1. Bild, Wer ist der Mann, den Westerwelle liebt? 22.07.2004, 10. Bild, Über 1 Mio. bei Schwulen-Parade, 22.07.2004, 10. Bild, Homosexuelle sind die besseren Männer, 22.07.2004, 10. Bild, Wird man schwul geboren?, 22.07.2004 Bild, Politiker wollen Homo-Kunde an Schulen, 02.08.2004, 1. Bild, Homo-Kunde, 02.08.04, 2. Bild, Warum mich der schwule Ballettmeister jagte, 01.03.2007, 10. Bild, Frau Abgeordnete jetzt Mann, 05.03.2007, 2 Bild, Nick feuert ihren Liebhaber, 05.03.2007, 5. Bild, Hier feiert Westerwelle..., 05.03.2007, 24. Bild, Mein anderes Leben als Mann 07.03.2007, 7. Bild, Lesben-Amok, 17.03.2007, 7. Bild, Die geheimen Sex-Fantasien, 23.03.2007, 15. Bild, Schock-Beichte, 24.03.2007, 1. Bild, Ich wollte die Frau nur noch küssen, 24.03.2007, 13. Bild, Ich bin der Ehemann von Superstar Marc, 31.03.2007, 4. Bild, Ich liebe eine Frau! 04.07.2007, 1. Bild, CDU Ministerin liebt eine Heilpraktikerin, 04.07.2007, 2. Bild, Homosexualität kein sofortiger Scheidungsgrund, 25.07.2007, 12. Bild, Türke macht Theater mit schwulen Landsleuten, 02.05.2008, 8. Bild, Obama outet sich als Sex and the City, 04.05.2008, 20. Bild, Bush und Abbas Hand in Hand, 19.05.2008, 1. Bild, Udo Walz heiratet seinen Carsten noch schneller, 22.05.2008, 7. Bild, Daum geht auf Schwule los, 24.05.2008, 1. Bild, Daum Attacke gegen Schwule, 24.05.2008, 19. Bild, Mahmal für Homosexuelle, 28.05.2008, 3. Bild, Diese beiden demonstrieren ihre Liebe, 18.05.2010, 3. Bild, Wirbel um schwule Flagge, 04.06.2010, 7. Bild, Moderne Schwulen-Rezidenz, 14.06.2010, 3. Bild, Normal ist anders, 18.06.2010, ?. Bild, Die Party der schrillen Bengel, 19.06.2010, 8. Bild, Big Brother Star... 21.06.2010, 9. Hürriyet, Travestilerden kelepçeli protesto, 01.04.2000, 39. Hürriyet, Annem lezbiyen olsa bana söyler, 04.04.2000, 21. Hürriyet, Gay‘ler er meydanına giremez, 08.04.2000, 6.
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294 | Queere (Un-)Sichtbarkeiten
Hürriyet, Tarkan’dan polise teşekkür ziyareti, 16.06.2001, 3. Hürriyet, Gay’ler de papaz oluyor, 17.06.2001, 27. Hürriyet, Özel hayat tartışması, 18.06.2001, 35. Hürriyet, Benim çıplak fotoğrafımı bulsa onu da yayınlar, 24.06.2001, 4. Hürriyet, Müslüman eşcinseller ABD‘de dernek kurdu, 26.06.2001, 6. Hürriyet, Paris Belediye Başkanı eşcinsel yürüyüşünde, 26.06.2001, 6. Hürriyet, Kemal nasıl Leyla oldu, 30.06.2001, 1. Hürriyet, Ahdım vardı erkek olarak ölmeyecektim, 30.06.2001, 13. Hürriyet, Eşcinsel papaz kadın oldu, 11.07.2001, 1. Hürriyet, Eşcinsel papazdan cemaata: Bana artık Christina diyin, 11.07.2001, 5. Hürriyet, Spermsiz bebek çağı, 11.07.2001, 5. Hürriyet, Sisi taciz atışında, 14.07.2001, 11. Hürriyet, Kadınlar erkeksiz yapamaz, 14.07.2001, 6. Hürriyet, Erkeksiz kadın tartışması, 15.07.2001, 2. Hürriyet, Türk gay’leri turlayacaklar, 19.07.2001, 1. Hürriyet, Türk gay’ler pembe turlar başlıyor, 19.07.2001, 6. Hürriyet, Önce kovmuş sonra törenle karşılamıştık, 19.07.2001, 6. Hürriyet, Travesti isyanı, 19.07.2001, 3. Hürriyet, Transseksüel yenge hesap veriyor, 21.07.2001, 3. Hürriyet, Lezbiyenlerden Romeo ve Juliet, 25.07.2001, 4. Hürriyet, Almanya‘da eşcinsel evliliklerde patlama, 27.07.2001, 4. Hürriyet, İran‘dan kaçan travesti anlatıyor, 29.07.2001, 1. Hürriyet, Erkeklerin bile fantezisini süsler, 29.07.2001, 17. Hürriyet, İranlı travesty, 29.07.2001, 1. Hürriyet, Şehvet adamları örgütünün lideriydim, 29.07.2001, 14. Hürriyet, Turizme 1 milyonluk hançer, 30.07.2001, 18-19. Hürriyet, Gay‘le evlenene oturma izni, 31.07.2001, 1. Hürriyet, Gay‘lerle evlenenlere Alman vatandaşlığı, 31.07.2001, 19. Hürriyet, Gay kütüphanesi kuruluyor, 09.03.2003, 7. Hürriyet, Travestilere sığınma evi, 13.03.2003, 4. Hürriyet, Travestiyi erkekliğe döndüren aşk teklifi, 16.03.2003, 7. Hürriyet, 1 Mayıs coşkusuna deprem engeli, 02.05.2003, 7. Hürriyet, ‚Lezbiyen‘ diyen komşuya dava, 08.05.2003, Hürriyet, t.A.T.u‘yu Çeşme‘de beş bin kişi izleyecek, 11.05.2003, 1. Hürriyet, Klibi polis bastı, 17.05.2003, 1. Hürriyet, Tatunun menajeri tutuklandı, 17.05.2003, 2. Hürriyet, İlk travesti dedektifin babası, 17.05.2003, 1. Hürriyet, İlk travesti dedektifi yarattı, 17.05.2003, 15. Hürriyet, Lezbiyenlikle suçlandı 138 teklif aldı, 19.05.2003, 3. Hürriyet, Tatu edebsizlik yaparsa bant girecek, 21.05.2003, 1&2. Hürriyet, Çocuklar ucuz kurtuldu, 25.05.2003, 1&7. Hürriyet, İran’ın da transseksüeli var, 01.10.2004, 42.
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296 | Queere (Un-)Sichtbarkeiten
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Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) Oktober 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
Sonja Hnilica, Elisabeth Timm (Hg.)
Das Einfamilienhaus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2017 Juli 2017, 176 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3809-7 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3809-1
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