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German Pages VIII, 145 [151] Year 2020
Sándor Vajna Stefanie Rothkötter Hrsg.
Produkte entwickeln mit IDE Kompakt und anschaulich
Produkte entwickeln mit IDE
Sándor Vajna • Stefanie Rothkötter (Hrsg.)
Produkte entwickeln mit IDE Kompakt und anschaulich
Hrsg. Sándor Vajna Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Magdeburg, Deutschland
Stefanie Rothkötter Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Magdeburg, Deutschland
ISBN 978-3-658-32032-4 ISBN 978-3-658-32033-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-32033-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Vieweg © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der Verlage. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Thomas Zipsner Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
V
Vorwort Liebe Leserin, lieber Leser, dieser Leitfaden beschreibt die Anwendung des Integrated Design Engineering (IDE), eines humanzentrierten, interdisziplinären und ganzheitlichen Ansatzes für die Produktentwicklung. IDE berücksichtigt den gesamten Lebenszyklus eines Produkts und umfasst die systematische Anwendung integrierter Strategien, Methoden und Werkzeuge bei der Entwicklung beliebiger Produkte und Dienstleistungen aus unterschiedlichen Disziplinen. Die Inhalte in diesem Leitfaden stammen aus dem Fachbuch gleichen Namens, das aktuell in der zweiten Auflage erschienen ist, sowie aus der industriellen Projektarbeit mit IDE und Erfahrungen aus dem IDE-Masterstudiengang an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Bei der Übernahme der Inhalte stellte sich unter anderem die Frage, wie die fast 700 Seiten umfassende Darstellung der Elemente und Eigenschaften des IDE in direkt anwendbares Wissen für den Produktentwicklungsalltag kondensiert werden könnte. Wir entschieden uns für eine kompakte und an der Praxis orientierte Darstellung der Inhalte einer Produktentwicklung, die durch eigene Anmerkungen ergänzt werden kann. Weiterführende Informationen und Details finden Sie im IDE-Buch. Hinweise dazu erscheinen in fast jedem Kapitel dieses Leitfadens. Unser Dank gilt allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge sowie Herrn Dr. Hannes Voßfeldt für das Korrektorat. Im letzten Kapitel wird die Produktentwicklung mit IDE beispielhaft anhand der Lösung eines urbanen Transportproblems beschrieben. Wir sind den Herren Markus Rothkötter und Moritz von Seyfried von der Firma Trenux aus Magdeburg sehr dankbar, dass wir dieses Anwendungsbeispiel verwenden dürfen. Für die seit Jahren so erfreuliche Zusammenarbeit mit Springer Vieweg danken wir herzlich Herrn Thomas Zipsner sowie Frau Imke Zander und Frau Ellen-Susanne Klabunde. An dieser Stelle ein Hinweis zur Gleichbehandlung: Bezeichnungen von Personen und Personengruppen sind grundsätzlich an alle Geschlechter adressiert, auch wenn wir aus redaktionellen Gründen maskuline Wörter verwendet haben. Viel Erfolg bei der Produktentwicklung mit IDE! Weinheim und Potsdam, August 2020
Sándor Vajna Stefanie Rothkötter
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Inhaltsverzeichnis Wegweiser
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Grundlagen des IDE Produktentwicklung mit IDE Was ist Integrated Design Engineering (IDE)? Humanzentrierung Regeln für Nachhaltigkeit Arbeiten mit IDE IDE-Vorgehensmodell
1 2 4 6 8 10 12
Attribute Attribute im IDE Produktgestalt Funktionalität Gebrauchstauglichkeit: Ergonomie Verfügbarkeit Produzierbarkeit Produzierbarkeit: Additive Fertigung Produzierbarkeit: Werkstoffauswahl Instandhaltbarkeit Nachhaltigkeit Wirtschaftlichkeit Erfüllungsattribute Erfüllungsattribut 1: Sicherheit Erfüllungsattribut 2: Zuverlässigkeit Erfüllungsattribut 3: Qualität
15 16 17 20 23 25 28 29 32 34 36 38 40 43 46 49
Projektorganisation Einführung Effizienzsteigerung in der Projektbearbeitung Projektstrukturierung Dynamische Navigation Kreativitätsmuster Wissensbereitstellung Teamaufbau und Arbeitsorganisation Co-Creation Störungsvermeidung in Entscheidungsprozessen
53 54 57 60 62 64 66 68 70 73
INHALTSVERZEICHNIS
VII
Methoden Einführung Zeitmanagement Arbeitsstrukturierung Galeriemethode Präsentationstechnik Morphologischer Kasten
77 78 80 82 84 86 88
Querschnittsfunktionen Bereichsintegration durch DfX und XfD Abhängigkeitsanalyse Anforderungsengineering CAx-Systeme CAx-Systeme: CAID und CAE CAx-Systeme: CAD, CAP, PDM CAx-Systeme: Optimierung Biologische Prinzipien für die Technik Szenario-Technik Marketing Wirtschaftlichkeit: Nutzwertanalyse Strukturieren von Lösungselementen Mechatronik
91 92 94 95 98 100 102 104 107 110 112 116 118 120
Aus der Praxis Einführung Lösung: Fahrraderweiterung Anforderungen ermitteln Entwicklungsaktivität einteilen Funktionen detaillieren Entwicklungsablauf gliedern Bauräume festlegen Produzierbarkeit optimieren Funktionen erweitern Benutzungsgerecht gestalten Projekte organisieren
123 124 127 128 130 132 133 134 136 137 138 140
Literaturverzeichnis
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VIII
Wegweiser In diesem Leitfaden befinden sich zahlreiche Navigationshilfen, die wie folgt gekennzeichnet sind: Zu den meisten Themen gibt es ausführlichere Informationen im IDEBuch1. Auf den betreffenden Seiten ist das jeweilige Kapitel neben dem Buch-Symbol zu sehen. Die Autorinnen und Autoren der verschiedenen Beiträge stehen neben dem Sprechblasen-Symbol. In Grau gedruckte Verweise führen an verschiedene Orte: • zu einem Eintrag in diesem Leitfaden, z. B. ►Produktgestalt • zu einem weiterführenden Kapitel im IDE-Buch, z. B. Kap. 18.1 • zu einer detaillierten Abbildung im IDE-Buch, wobei die Zahl vor dem Punkt der Kapitelnummer entspricht, z. B. Abb. 3.15. Vor jedem Themengebiet ist Platz zum Sammeln von eigenen Notizen, zum Beispiel für den Projektalltag oder für die Prüfungsvorbereitung.
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Vajna, S. (Hrsg.): Integrated Design Engineering: Interdisziplinäre und ganzheitliche Produktentwicklung. 2. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg 2020
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Grundlagen des IDE
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Vajna, S. Rothkötter (Hrsg.), Produkte entwickeln mit IDE, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32033-1_1
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GRUNDLAGEN
Kapitel 3
Produktentwicklung mit IDE
Mit Integrated Design Engineering (IDE) können beliebige Produkte aus beliebigen Disziplinen in beliebigen Kombinationen entwickelt werden. Auslöser für die Entwicklung eines Produkts mit IDE sind das Auftreten eines Kundenverlangens oder einer Gelegenheit im Markt. Die Entwicklung endet mit der Freigabe der vollständigen und konsolidierten Dokumentation des Produkts für die Produktion. Dabei werden aber die Arbeitsschritte in den weiteren Bereichen bis zur Auslieferung des Produkts an den Kunden verfolgt.
Sándor Vajna
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Die Berücksichtigung der Belange der Bereiche und Phasen nach der Produktentwicklung (vorwiegend der Produktnutzung) erfolgt einerseits durch ►Teamaufbau und Arbeitsorganisation sowie durch ►Wissensbereitstellung, andererseits durch die Herkunft der ►Attribute aus Produktion, Produktnutzung/Wartung und Produktrückführung. Alle Arbeiten im IDE sind eingebettet sowohl in die Merkmale der ►Humanzentrierung als auch in die Vorgaben und Gesetzmäßigkeiten der ►Nachhaltigkeit.
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GRUNDLAGEN
Kapitel 3
Was ist Integrated Design Engineering (IDE)? Das Integrated Design Engineering ist eine humanzentrierte, interdisziplinäre, ganzheitliche und integrierte Form der Produktentwicklung mit den folgenden Eigenschaften: Humanzentrierung: Alle Ansätze, Aktivitäten und Methoden im IDE werden aus der Sicht der daran beteiligten Akteure (Stakeholder) konzipiert und durchgeführt. Akteure sind nicht nur Kunden, Nutzer und Anbieter des Produkts, sondern auch gleichwertig die Betroffenen, die sich weder das Produkt beschaffen noch es nutzen, wohl aber durch Entwicklung, Herstellung, Nutzung und Rückführung des Produkts in allen möglichen Formen in unterschiedlichem Maß tangiert werden können. Aufgaben im IDE werden von interdisziplinären Teams bearbeitet, deren Mitglieder aus unterschiedlichen Phasen des Produktlebenszyklus stammen. Beliebige Produkte aus beliebigen Disziplinen: Im IDE können dingliche und nicht-dingliche Produkte (beispielsweise Software, Dienstleistungen usw.), diskrete oder kontinuierliche Produkte sowie beliebige Kombinationen daraus aus unterschiedlichen Disziplinen (Mechanik, Elektrik, Elektronik, Software, Mechatronik usw.) entwickelt werden, da Aktivitäten, Vorgehensweisen, Methoden und Werkzeuge für die Produktentwicklung in allen Disziplinen den gleichen Mustern folgen. Dabei spielt es keine Rolle, ob Produkte für die Konsumgüterindustrie oder die Investitionsgüterindustrie entwickelt werden. Vollständiger Produktlebenszyklus: Beim Entwickeln eines Produkts werden Gegebenheiten und Einflüsse aus und Auswirkungen auf alle Phasen des Produktlebenszyklus berücksichtigt. Die Berücksichtigung basiert auf elf verschiedenen Integrationsarten, beginnend mit der Integration der beteiligten Menschen, dann von Produkten, Prozessen, Bereichen, Wissen, Methoden und Werkzeugen. Neutrales Leistungsangebot: Produkte werden über ihr Leistungsangebot, bestehend aus dem Leistungsvermögen (was kann das Produkt?) und dem Leistungsverhalten (wie wird dieses Leistungsvermögen erbracht?) in neutraler Weise beschrieben. Dies erfolgt ohne Vorgaben von späteren Realisierungsformen über elf gleichwertige, aber nicht identische Attribute.
Sándor Vajna
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Abb. 1: Eigenschaften des Integrated Design Engineering
Attribute: Zur neutralen Beschreibung des Leistungsangebots eines Produkts dienen sechs Produktattribute, drei Erfüllungsattribute und zwei Wirtschaftlichkeitsattribute, die für das Produkt jeweils die gleiche Bedeutung, Wichtigkeit und Wertigkeit haben. Sie bilden Attributsprofile, aus der Sicht des Kunden das Solloder Zielprofil und aus der Sicht des Anbieters das Ist-Profil. Kundenverlangen: Das Kundenverlangen setzt sich zusammen aus subjektiven expliziten und impliziten Bedürfnissen, Mängeln, Erfordernissen, Notwendigkeiten, Erfahrungen, Wünschen, Gruppendruck sowie Annahmen, Erwartungen, Verständnissen usw. Der Anbieter eines Produkts muss dazu zusätzlich alle möglichen Gegebenheiten (beispielsweise gesellschaftliche, soziale, kulturelle Bedingungen sowie technische und gesetzliche Standards, Vorgaben) berücksichtigen, die aus allen Phasen des Produktlebenszyklus und der an diesem Lebenszyklus beteiligten Menschen resultieren können. IDE-Vorgehensmodell: Elf Aktivitäten dienen der Entstehung eines Produkts. Sie folgen dem TOTE-Schema (Test–Operate–Test–Exit, Kap. 1.2.3.2) und bilden selbstähnliche Muster auf jeder Ebene von Konzept, Spezifikation und Realisierung. Die Aktivitäten des Operate bestehen aus den vier Gruppen (1) Recherchieren; (2) Entwickeln, Gestalten, Integrieren; (3) Modellieren, Auslegen, Synthetisieren und (4) Komplettieren. Die Aktivitäten des Tests der (Zwischen-)Ergebnisse werden durch (5) Bewerten, Vergleichen, Auswählen durchgeführt und überwacht. Jede Aktivität ist mit geeigneten praktischen Ansätzen, Verfahren, Methoden und Werkzeugen unterfüttert. Im IDE-Vorgehensmodell gibt es keine vorgeschriebene Abfolge von Aktivitäten.
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GRUNDLAGEN
Kapitel 1.5.1 und 4
Humanzentrierung Die Humanzentrierung ist das Kernkonzept des IDE. Humanzentrierung bedeutet, den Fokus auf die Menschen zu legen, die durch den Produktlebenszyklus beeinflusst werden. Unterschiedliche Rollen der menschlichen Interessengruppen werden in Abhängigkeit von den verschiedenen Phasen des Produktlebenszyklus beschrieben. Insgesamt werden drei Interessengruppen berücksichtigt: 1. Kunden: Personen, die ein Produkt erwerben und/oder verwenden. 2. Anbieter: Personen, die an Planung, Entwicklung, Produktion und Wiederverwendung eines Produkts beteiligt sind. 3. Betroffene Personen: Personen, die direkt oder indirekt von Aktivitäten oder Auswirkungen im Zusammenhang mit dem Produkt in allen Phasen des Produktlebenszyklus beeinflusst werden können. In der Humanzentrierung werden Grundbedürfnisse, funktionale und affektive Anforderungen sowie Vorteile für die einzelnen Interessengruppen spezifiziert (►Tabelle 4.1). Diese Spezifizierungen dienen der Festlegung von Soll-Vorgaben, die ein Produkt erfüllen sollte, um den Kriterien der Humanzentrierung zu genügen. Diese Vorgehensweise ermöglicht eine ganzheitliche Betrachtung des gesamten Produktlebenszyklus und garantiert die Berücksichtigung aller Interessengruppen, die durch ein Produkt direkt oder indirekt beeinflusst werden. Der Fokus ist hierbei vorrangig auf den menschlichen Bedürfnissen („human centric“), die in weiteren Arbeitsschritten mit technischen Anforderungen wie der Produzierbarkeit und Rentabilität in Einklang gebracht werden müssen. Darüber hinaus wird beschrieben, wie die Produktattribute aus der Sicht von Kunden, Anbietern und Betroffenen abgeleitet werden können (►Tabelle 4.2). Regeln für die Humanzentrierung sollen in einem iterativen Designzyklus basierend auf dem TOTE-Schema (Kap. 1.2.3.2) sowohl in der Entwicklungsphase als auch in der Bewertungsphase zum Einsatz kommen. Die anfänglich ermittelten Anforderungen werden evaluiert und der Zyklus wird so lange durchlaufen, bis diese Anforderungen erfüllt sind.
Jacqueline Urakami
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Abb. 2: Iterativer Designzyklus zur Definition und Bewertung von Soll-Vorgaben für ein Produkt
1. Entwicklungsphase: a. Festlegung der Interessengruppen (Kunden, Anbieter, Betroffene). b. Spezifizierung der Kriterien für die Humanzentrierung für die drei Interessengruppen hinsichtlich Grundbedürfnissen, funktionalen und affektiven Anforderungen und Vorteilen. c.
Beschreibung der Produktattribute aus der Sicht der drei Interessengruppen unter Berücksichtigung der spezifizierten Kriterien für die Humanzentrierung.
d. Auf Basis der definierten Produktattribute Ableitung von humanzentrierten Soll-Vorgaben für ein Produkt. e.
Abgleich der Soll-Vorgaben mit anderweitig spezifizierten Produktattributen (beispielsweise verfügbare Technologien, Kosten und Ertrag) und gegebenenfalls Nachjustierung.
2. Bewertungsphase: Bewertung eines Produkts hinsichtlich der Einhaltung der in der Entwicklungsphase spezifizierten Soll-Vorgaben. In der Produktentwicklung sollten idealerweise Experten aus verschiedenen Fachrichtungen zusammenarbeiten, um die unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Interessen der am Produktlebenszyklus beteiligten Personengruppen bestmöglich berücksichtigen zu können.
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GRUNDLAGEN
Kapitel 5
Regeln für Nachhaltigkeit In seinem Buch2 stellt SOLTE zur Sicherung einer nachhaltigen Zukunft folgende Fragen für ein bewusstes Einkaufen: „Wo kommt das her? Wie wird das hergestellt und von wem? Wie aufwändig ist das? Kann es repariert werden? Wie viel ist Müll? Wie viel ist Verpackung? Ist der Preis billig, fair oder teuer?“ Konkrete Regeln für das nachhaltige Generieren von Produkten und Dienstleistungen, wie Materialauswahl, Langlebigkeit, Reparierbarkeit, Modularisierung usw., finden sich in Kap. 12 im IDE-Buch sowie bei der Beschreibung des Attributs ►Nachhaltigkeit. An dieser Stelle sollen allgemeingültige Regeln und Verhaltensweisen für eine nachhaltige Entwicklung zusammengefasst werden. Um eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen, muss das Verhalten von Individuen und Gesellschaften so ausgerichtet sein, dass langfristig ein menschenwürdiges Leben auf diesem Planeten mit seinen begrenzten Ressourcen für alle ermöglicht wird. Es geht dabei um gerechte Verteilung von Ressourcen, aber auch um Mitwirkungsrechte und die Zukunftsfähigkeit des „Superorganismus Menschheit“. Zentrale Frage ist dabei, wie die Gesellschaft Wohlstand oder Wohlfahrt definiert und welches Menschenbild sie sich zum Ziel und als Vorbild wählt. Dazu muss sich jeder Einzelne fragen, welche Werte dabei langfristig zum Ziel führen. Richtet er sein Verhalten und Handeln als individueller Nutzenmaximierer, als Homo oeconomicus, aus, oder sieht er sich als Teil der Natur und findet das gute Leben im Rahmen eines „menschlichen Maßes“? Neben persönlichen Verhaltensüberlegungen wurden Strategien entwickelt, die Leben und Wirtschaften in einem zukunftsfähigen Raum innerhalb ökologischer und gesellschaftlicher Leitplanken halten und somit eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen sollen. Im aktuellen marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem wird vor allem die Effizienz präferiert, um Ressourcenverbrauch vom Nutzen abzukoppeln. Man verbindet diesen Weg mit der Hoffnung, dass der „göttliche Ingenieur“ über geniale Erfindungen und Technologien ein „Weiter so“ ermöglicht.
2 3 4
Solte, D.: Wann haben wir genug? Europas Ideale im Fadenkreuz elitärer Macht. Goldegg, Berlin 2015 Braungart, M.; McDonough, W.: Einfach intelligent produzieren. Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2003 In Anlehnung an Hopwood, B.; Mellor, M.; O’Brien, G.: Sustainable development: Mapping different approaches. Sustainable Development 13(2005)1, S. 38–52
Hartwig Haase
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Eine weitere Strategie, die einerseits auf technologischen Entwicklungen fußt, sich aber andererseits natürliche Kreislaufprozesse zum Vorbild nimmt, ist die Konsistenz. Hier werden Ressourcen in geschlossenen Kreisläufen genutzt, wobei natürliche Stoffe von technischen getrennt werden (beispielsweise im Cradleto-Cradle-Ansatz3). Der Begriff und die damit verbundene Strategie Suffizienz wird leider oft ausschließlich auf das Einschränkende, den Verzicht oder gar eine neue Askese reduziert. Suffizienz kann aber auch viel umfassender als Einsicht in die Lebensklugheit des antiken Satzes „Von nichts zu viel“, als das rechte Maß, als gutes Leben, als Lebenskunst interpretiert und genutzt werden. Durch langes Abwarten und Verhandeln ist mittlerweile die Situation nicht nur im Bereich Klimawandel kritisch (Verlust von Biodiversität, Bodenfruchtbarkeit) und es verbleibt wenig Zeit für einen Kurswechsel. Das Vertrauen auf eine Strategie allein ist hier nicht ratsam, sondern alle Möglichkeiten und Ansätze sind zu nutzen und möglichst miteinander zu verzahnen. Und vor allem: Anfangen, da Konzepte noch nicht erprobt sind und Scheitern inbegriffen ist. Abb. 3 zeigt die Spannbreite vorhandener Lösungsansätze und die damit verbundene Prioritätensetzung zwischen gerechtigkeitsbezogenen und umweltbezogenen Kriterien. Sie unterstützt die Einordnung und die kritische Bewertung der verschiedenen Strategien und Konzepte im Rahmen des gesamten Nachhaltigkeitsdiskurses. Abb. 3 impliziert, dass Transformationsprozesse die Erfordernisse der Zukunft sowohl im Sinne einer gerechten wie auch umweltbeständigen Welt am vollständigsten und besten erfüllen können. Reformen und vor allem Versuche auf der Grundlage bestehender Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme können allenfalls Teilaspekte berücksichtigen und verbessern.
Abb. 3: Kartografische Verortung verschiedener Nachhaltigkeitsstrategien und -konzepte4
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GRUNDLAGEN
Kapitel 16
Arbeiten mit IDE Alle Arbeiten im IDE laufen disziplinübergreifend entsprechend den Aktivitäten des ►IDE-Vorgehensmodells in Teamarbeit als Form der Projektorganisation ab. Steuergröße für das Realisieren von Kundenverlangen oder Marktgelegenheiten ist das (sukzessive) Erfüllen des qualitativen Zielprofils aus den Attributen, welches das geforderte Leistungsangebot des Produkts in lösungsneutraler Form beschreibt (siehe Abb. 3.4). Dies erfolgt durch laufenden Abgleich des aktuellen Zielprofils mit dem kontinuierlich entstehenden quantitativen Ist-Profil der Attribute. Die Entwicklung eines Produkts ist eingeteilt in die vier Felder (1) Initialisierung, Entwicklung mit Schwerpunkt einerseits auf (2) Konzeption, Änderungen, Ergänzungen, andererseits (3) Konsolidierung der Ergebnisse und dem spätestens jetzt erforderlichen (4) Festlegen der konkreten Realisierung des Produkts und deren Dokumentation in den Produktunterlagen, die an die Produktion weitergegeben werden, Abb. 4. Die vier Felder bestimmen aber keine zeitliche Reihenfolge der Bearbeitung vorher: Beispielsweise kann es während der Produktentwicklung durch äußere Einflüsse (Änderungen von Kundenanforderungen oder aus der Um- und Mitwelt) und innere Einflüsse (Ausfall von Mitarbeitern, fehlende Kapazitäten usw.) zu Änderungen der Randbedingungen kommen. Um diese zu berücksichtigen, müssen Produkteigenschaften auf vielfältige Weise geändert werden, sodass es zu einer verschlungenen Bearbeitung kommt, Abb. 4.
Abb. 4: Netzwerk der Aktivitäten im IDE-Vorgehensmodell bei der Entwicklung eines konkreten Projekts
Sándor Vajna
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Im Folgenden werden die Inhalte der vier Felder detaillierter dargestellt. Initialisierung: Sobald im ►Marketing und Vertrieb ein Kundenverlangen erfasst oder eine Gelegenheit im Markt identifiziert wurden, die dem Anbieter als grundsätzlich interessant erscheinen, werden mit Businessplanung und ►Szenario-Technik Machbarkeit, Einsatzgebiete und Umfelder, Patentrecherchen usw. durchgeführt sowie potentielle Mitbewerber und die mögliche ►Wirtschaftlichkeit analysiert. Bei positivem Ergebnissen wird, sofern noch nicht vorhanden oder erfolgt, aus dem Kundenverlangen bzw. den Marktgelegenheiten das Leistungsangebot des Produkts erstellt und daraus das qualitative Zielprofil der Attribute abgeleitet (Abb. 3.15), das die Leitlinie für die weiteren Aktivitäten darstellt. Die dazugehörenden Anforderungen werden im ►Anforderungsengineering behandelt und auf dem Laufenden gehalten. Konzeption, Änderung, Ergänzung: Aktivitäten aus den Bereichen Gestaltung, Entwurf und Auslegung dienen zum Erstellen des Ist-Profils der Attribute entsprechend Abb. 3.17, bevorzugt mit Aktivitäten zur Ideen- und Konzeptfindung, Recherchen, Strukturieren und Beurteilen von entstehenden Teillösungen und das kontinuierliche Berücksichtigen von externen und internen Änderungseinflüssen. Teillösungen sollten offen bezüglich der späteren Realisierungsformen (►Bereichsintegration mit DfX und XfD) sein. Konsolidierung der Ergebnisse: Schwerpunkte der Aktivitäten liegen in den Bereichen Konstruktion und Detaillierung mit der zunehmenden Konkretisierung der Teillösungen bezüglich Erfüllungsart, Erfüllungsgrad und Erfüllungsgüte der gewählten Teillösungen. Hier kommen zunehmend Modellierungs-, Visualisierungs- und Simulationswerkzeuge zum Einsatz. Festlegung konkrete Realisierung: Aus dem aktuellen Stand des Zielprofils und der Bewertung der Teillösungen entsprechend des IDE-Vorgehensmodells werden die Realisierungsmöglichkeiten für die ausgewählten Teillösungen verifiziert und fixiert, sodass nun die Dokumentation für die Freigabe für die Produktion zusammengestellt werden kann.
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Kapitel 16
GRUNDLAGEN
IDE-Vorgehensmodell Das IDE-Vorgehensmodell aus Kap. 16 nutzt das TOTE-Schema (Test–Operate–Test–Exit, Kap. 1.2.3.2) als Leitlinie für die Arbeit in der Produktentwicklung. Es kann auf jede Tätigkeit in der Produktentwicklung angewendet werden und es ist an jeder Stelle ohne Vorgabe einer Bearbeitungsreihenfolge einsetzbar (es funktioniert aber genauso, wenn eine solche Reihenfolge vorgegeben wird). Das Vorgehensmodell besteht aus fünf Aktivitätengruppen. Dabei realisieren die ersten vier Gruppen die „Operate“-Funktion (O) im TOTE-Schema, die fünfte Gruppe die „Test“-Funktion (T), Abb. 5:
Abb. 5: IDE-Vorgehensmodell
1.
Recherchieren: Beschaffen von Information und Wissen für alle Aktivitäten.
2. Entwickeln: Methoden und Vorgehensweisen für das Entstehen eines Objekts in rudimentären Konkretisierungsstufen. Gestalten: Herausarbeiten der geometrisch-stofflichen Gesamtheit des Objekts auf Basis der mit Attributen formulierten Produktanforderungen. Integrieren: Vervollständigen und Zusammenführen der bisherigen Lösungen zur Darstellung von Eigenschaften und Merkmalen des Produkts. 3. Modellieren: Erstellen eines (mitwachsenden) Abbilds des entstehenden Objekts und dessen wichtigster Eigenschaften in unterschiedlichen Formaten. Auslegen: Gleiche Aktivitäten wie beim Entwickeln, aber für Konkretisierung und Dimensionierung des Objekts. Synthetisieren: Erzeugen einer höherwertigen Lösung (Synthese) aus konkurrierenden Lösungen sowie sinnvolle Reduktion der Lösungsvielfalt ohne Verlust der bisher erreichten Lösungsqualität.
Sándor Vajna
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4. Komplettieren: Ergänzungen und Abschluss des aktuellen Entwicklungsschritts. 5. Bewerten, Vergleichen, Auswählen von alternativen Ergebnissen: Beurteilung, Berechnung, Simulation, Animation, Test, Bestimmen der Wirtschaftlichkeit. Für alle Aktivitäten gibt es Unterstützungs- und Verbindungsfunktionen: • BAD (Brain-aided Design): Kreativitätstechniken zum Erfassen von Anforderungen und Wissen, Definieren von Lösungskonzepten, Vorbereiten und Durchführen der Entwicklung. • PAD (Pencil-aided Design): Erstellen, Visualisieren und Fixieren von Lösungsvarianten als Skizzen mit wesentlichen Merkmalen ohne aufwendige Modellierung, damit Konzepte auf Erfüllung von Vorgaben und Machbarkeit frühzeitig geprüft werden können. • MAD (Model-aided Design): Erstellen von physischen und virtuellen Modellen (mit ►CAx-Systemen, ►Additiver Fertigung usw.) für den Eindruck von Form, Anmutung und Dimensionen des Objekts und zur Prüfung von Haptik und Formgebung. • EAD (Evaluation-aided Design): Maßnahmen zu Verifikation und Evaluation von Ergebnissen. • RJE (Rate, judge, estimate): Einordnen von Recherche-Ergebnissen nach Brauchbarkeit, Plausibilität, Konsistenz und Kohärenz. • VCQ (Verify, quantify, check): Kontrolle und Bewertung der bisherigen Ergebnisse vor Komplettieren und Vervollständigen der Dokumentation. • CAx (Computer-aided everything): Rechnerunterstützte Systeme zur Modellierung und Simulation von Produktalternativen. Das IDE-Vorgehensmodell kann ohne Einbußen an Flexibilität und Qualität anhand des Musterablaufs in Abb. 6 bearbeitet werden. Der Musterablauf stellt zudem sicher, dass kein Bearbeitungsschritt beim Entwickeln eines Produkts vergessen wird.
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GRUNDLAGEN
Abb. 6: Neutraler Musterablauf zum Bearbeiten der Aktivitäten im IDE-Vorgehensmodell (gestrichelte Linie und J = ja; doppelte Linie und N = nein; B, V, A = Bewerten, Vergleichen, Auswählen). Für Unterstützungs- und Verbindungsfunktionen (schwarze Ellipsen) siehe vorherige Seite
Die Bearbeitung wird durch neue oder geänderte Vorgaben an die Produktentwicklung ausgelöst (Abb. 6 links oben), die mit den aktuellen Erfüllungsständen verglichen werden (Vergleich Vorgabe ↔ aktuelle Erfüllungsstände). Danach erfolgt die Priorisierung der Bearbeitungsschritte anhand des aktuellen Stands von noch offenen oder teilweise erfüllten Vorgaben. Begonnen wird mit der aktuell am höchsten priorisierten Aufgabe. Da sich diese Priorisierung bei Eingang einer neuen oder geänderten Vorgabe jederzeit ändern kann, erfolgt die Bearbeitung der Projektschritte am besten mit agilen Methoden (siehe ►Strukturierung der Produktentwicklung) oder mit der ►Dynamischen Navigation. Während der Bearbeitung aller Aktivitäten mit den jeweiligen Unterstützungsund Verbindungsfunktionen erfolgen laufend Vergleiche der Ergebnisse jedes Bearbeitungsschritts und dessen Fortschritt im Vergleich zu den jeweils geforderten Erfüllungshöhen. Die Bearbeitung endet, wenn alle Vorgaben und ihre Erfüllungshöhen erreicht worden sind und das Produkt das geforderte Leistungsangebot (Leistungsvermögen mit dem entsprechenden Leistungsverhalten, siehe ►Strukturieren von Lösungselementen) aufweist.
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Attribute
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Vajna, S. Rothkötter (Hrsg.), Produkte entwickeln mit IDE, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32033-1_2
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ATTRIBUTE
Sándor Vajna
Attribute im IDE Im IDE werden Merkmale und Eigenschaften eines Produkts mit elf Attributen aus drei Bereichen beschrieben und zu einem Attributsprofil zusammengefasst: • Die ersten drei Produktattribute sind Produktgestalt, Funktionalität und Gebrauchstauglichkeit. Das vierte Attribut hat zwei Perspektiven: Aus der Sicht des Kunden/Nutzers ist es die Verfügbarkeit des Produkts, aus der Sicht des Anbieters die Produzierbarkeit. Die nächsten beiden Produktattribute sind Instandhaltbarkeit und Nachhaltigkeit. • Die Wirtschaftlichkeitsattribute sind aus Kundensicht der Mehrwert, aus Anbietersicht die Rentabilität. • Mit den Erfüllungsattributen wird die Exzellenz des Leistungsangebots in drei Stufen gemessen. Diese sind Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität. Diese drei Attributgruppen stehen in dem in Abb. 7 gezeigten Zusammenhang.
Abb. 7: Attribute und ihr Zusammenhang (links) und ihre Darstellung im Attributsprofil (rechts; Erfüllungshöhen: Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität)
Abb. 7 zeigt rechts die Überführung der Werte der jeweiligen Erfüllungsattribute („Erfüllungshöhen“) in das Attributsprofil. Aus der Sicht des Kunden beschreibt dieses Profil den Sollzustand des angestrebten Produkts in Form einer qualitativen Beschreibung (Zielprofil), die unabhängig von möglichen Realisierungsformen ist. Aus Sicht des Anbieters beschreibt das resultierende Profil den aktuellen Istzustand des angebotenen Produkts in quantitativer Form mit konkreten Realisierungsarten (Ist-Profil). Das Zielprofil muss nicht alle Attribute umfassen, wenn für den Kunden bestimmte Attribute keine Bedeutung haben. Das Ist-Profil muss dagegen immer alle Attribute umfassen.
Martin Wiesner
Kapitel 6
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Produktgestalt Die Produktgestalt ist mehr als die Summe ihrer Bestandteile und damit auch mehr, als man physisch beschreiben kann. Vielmehr entsteht die Produktgestalt beim Betrachter als „Abbild“ durch Wahrnehmung und Verarbeitungsprozesse der Wahrnehmungsreize. Physisch beschreibbare Komponenten der Gestalt sind Form, Material, Oberfläche und Farbe5. Die reine Addition dieser Komponenten ergibt jedoch noch keine Gestalt6. Diese entsteht erst durch ein einheitliches, prägnantes Ordnungsprinzip aus den Einzelelementen. Eine der Hauptaufgaben von Produktgestaltern besteht darin, die einzelnen Gestaltmerkmale zu ordnen, um eine wahrnehmungsgerechte Produktgestalt zu erhalten, die leicht verständlich, flüssig verarbeitbar, sinnvoll und leicht erfassbar ist. Dieses Ordnen folgt dabei einem einheitlichen Prinzip (Gestaltprinzip, Formensprache oder Designsprache). Eine geordnete, wahrnehmungsgerechte Produktgestalt lässt sich nach GATZKY7 erreichen durch (1) Vereinfachung, (2) gezielte Gliederung und (3) Vereinheitlichung als essentielle Tätigkeiten des Gestaltens. Eine Analogie für diese Vorgehensweise sind die drei Siebe der Gestaltung nach MOOG8 (Abb. 8).
Abb. 8: Die drei Siebe der Gestaltung in Anlehnung an Moog8 mit den Tätigkeiten Vereinfachung, Gliederung und Vereinheitlichung nach Gatzky7
5 6 7 8
Wohlgemuth, U.: Maschinen Design: Industrieprodukte erfolgreich gestalten. Diplomica Verlag, Hamburg 2016 Heufler, G.: Design basics: Von der Idee zum Produkt. 5. Auflage. Niggli, Zürich 2016 Gatzky, Th.: Industriedesign. In: Integrated Design Engineering. Springer, 2014, S. 133–166 Moog, T.: Ordnung. Kontrast. Reduktion: Der sichere Weg zu einer guten Gestaltung. Birkhäuser, 2013
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ATTRIBUTE
Vereinfachung ist die Reduktion des Wahrnehmungsangebots auf ein als angenehm empfundenes Maß. So sollten beispielsweise Profile so ausgewählt werden, dass sie unauffällig in Erscheinung treten (z. B. geschlossene statt offene Profile). Bei der Vereinfachung durch offene Formgestaltung wird jedes einzelne Formelement vereinfacht, sodass es noch klar zu erkennen ist (auch additive Formsynthese genannt), siehe Abb. 9 Mitte. Zur Vereinfachung durch geschlossene Formgestaltung wird die Formenvielfalt durch eine geeignete Umhausung gezielt in ihrem Wahrnehmungslevel reduziert, siehe Abb. 9 rechts. Übergänge und eine klare Ausrichtung zwischen Einzelformen sind neben der Vermeidung von Formen eine weitere Möglichkeit, um höhere Einfachheit der Produktgestalt zu erreichen.
Abb. 9: Offene und geschlossene Formgestaltung zur Formberuhigung9
Bei der Gliederung werden einerseits Gestaltelemente wahrnehmungsgerecht differenziert (unterscheidbar gemacht) und einzelne Elemente hervorgehoben. Andererseits werden Gestaltelemente gruppiert, also zusammengefasst. Hierzu können die aus der Gestalttheorie stammenden Gestaltgesetze10 genutzt werden. Ein zentrales Gestaltgesetz ist das Gesetz der Prägnanz11, mit dem bedeutsame Gestaltelemente oder Produktmerkmale hervorgehoben werden. So müssen Interaktionselemente durch geeignete Kontraste als solche erkannt werden. Die Nutzung sollte zudem über Affordanzen (z. B. visuelle Metaphern) visualisiert
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10 11
Gatzky, Th.: Vorlesungs- und Übungsmaterialien zu den Lehrveranstaltungen Industriedesign/ Produktdesign und Entwurf für Ingenieurstudenten der Fakultät Maschinenbau an der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg, 2012 Koffka, K.: Principles of Gestalt psychology. Routledge / Taylor & Francis, Abingdon (UK) 2013 Prägnanz: Innerhalb gleicher oder ähnlicher Formcharaktere ordnet sich eine andersartige Form über (gleichartige Effekte lassen sich auch durch andersartige Farbe, Oberfläche oder Materialien erzeugen).
Martin Wiesner
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werden. Die Funktionsweise eines Produkts lässt sich durch Gliedern des Gesamtprodukts veranschaulichen (z. B. Farbkontraste, Oberflächenkontraste, Fugen). Die Produktkategorie kann durch Hervorhebung von Wesensanzeichen (z. B. vertraute Elemente) verkörpert werden. Auch eine angestrebte Anmutung (z. B. breit wirkende Fahrzeugfront) kann durch Hervorhebung und Kommunikation der entsprechenden Gestaltmerkmale (z. B. Kühlergrillstreben) unterstützt werden. Die Zahl der gliedernden Mittel darf an einem Produkt jedoch nicht unnötig groß sein. Dies kann durch Vereinheitlichen erreicht werden. Vereinheitlichung: Eine gute Produktgestalt muss als Einheit wahrgenommen werden. Die vorhandene Gestaltvielfalt, die durch nicht weiter vereinfachbare technische Elemente und durch notwendige Kontraste entsteht (siehe Gliederung) muss abschließend einheitlich ausgestaltet werden. Ziel ist, dass die Produktgestalt wie aus einem Guss wirkt. Hierzu ist beispielsweise die Einhaltung einer durchgängig vorherrschenden Formkategorie12, ein einheitliches Farbkonzept, ein einheitliches, ausgewogenes13 Figur-Grund-Verhältnis, einheitliche Gliederungsmaßnahmen, eine einheitliche Formsynthese14, wiederkehrende Gestaltdetails, und ein einheitliches Proportionssystem oder ein Gestaltungsraster notwendig. Eine gelungene Produktgestalt kann nur entstehen, wenn ordnende Bezüge, sinnvolle Gliederungen (Kontraste) und Vereinheitlichungen hergestellt werden, sodass eine „gegliederte Ganzheit“15 entsteht. Eine gute Produktgestalt vermeidet alles Beliebige, ist soweit vereinfacht wie irgend möglich, ist klar gegliedert und ist bis ins Detail anhand eines einheitlichen, eindeutigen Prinzips gestaltet.
12
13
14 15
Formen werden nach ZITZMANN in Kategorien unterteilt, die in sich ähnlich sind: (1) richtungslose Form (z. B. Kugel), (2) richtungsbetonte Form (Speer), (3) richtungsdifferenzierte Form (Würfel), (4) richtungsbewegte Form (Spirale). Ziel der geordneten Gestalt ist das Vermeiden der Formen-Heterogenität. Siehe: Zitzmann, L.; Harnisch, K.-A.: Dokumente zur visuell-gestalterischen Grundlagenausbildung. Hochschule für Industrielle Formgestaltung, Halle 1990 Objekte stehen mit ihrem Umfeld in Beziehung. Figur und Grund sollten so proportioniert sein, dass sie sich nicht bedrängen und kein Objekt zu dominant ist (visuelle Balance). Im Sinne der Einheitlichkeit ist ein ähnliches Verhältnis der Objekte zu ihrer Umgebung anzustreben. Unter Formsynthese wird in Abgrenzung zur Formgliederung das Zusammenführen von Einzelformen verstanden. Dies sollte nach einem einheitlichen Prinzip erfolgen. Nach SANDER kann Gestalt als „gegliederte Ganzheit“ definiert werden. Siehe: Sander, F.: Experimentelle Ergebnisse der Gestaltpsychologie. G. Fischer, Jena 1928
20
ATTRIBUTE
Kapitel 7
Funktionalität Die Funktionalität enthält als Gesamtsicht sowohl alle direkten und indirekten Funktionen, die das Produkt zur Nutzung bereithält, als auch deren Zusammenwirken. In den meisten Fällen ist es unmöglich, von einer gegebenen technischen Fragestellung direkt zu einer Lösung zu gelangen, insbesondere wenn das Problem selbst noch nicht vollständig verstanden ist. Die Funktionsbetrachtung ermöglicht es Produktentwicklern und Konstrukteuren, ausgehend vom Leistungsangebot des Produkts schrittweise Verständnis für die notwendigen Teilfunktionen zu gewinnen, für die nachfolgend Lösungen zu entwickeln sind. Das Leistungsangebot eines Systems kann als die Gesamtfunktion betrachtet werden. Um das Leistungsangebot bereitzustellen, muss ein bestimmtes Verhalten realisiert werden. Das zum Erreichen der Gesamtfunktion gewünschte Verhalten eines Systems wird durch die Transformation von Operanden (Material, Energie, Signal) beschrieben, d. h. die Transformation von Eingangsgrößen in sich davon unterscheidende Ausgangsgrößen, siehe Abb. 10. Ein Beispiel ist die Funktion „Wasser erwärmen“. Die entsprechenden Eingangsgrößen sind kaltes Wasser und thermische Energie. Die Ausgangsgröße ist warmes Wasser, welches die zugeführte Energie speichert und langsam an die Umgebung abgibt.
Abb. 10: Transformation von Energie, Stoff und Signal in einem technischen System
Das Modellieren der Funktionalität erfordert die Unterteilung (Dekomposition) der Gesamtfunktion in Teilfunktionen. Die Teilfunktionen beschreiben die zur Erfüllung der Gesamtfunktionen notwendigen einzelnen Transformationsschritte der beteiligten Operanden. Teilfunktionen folgen ebenfalls dem Ein-/Ausgabeparadigma. Die Funktionsbeschreibung beginnt mit der Definition der Gesamtfunktion. Die Gesamtfunktion wird als Blackbox dargestellt, siehe Abb. 10. Ausgehend von der Gesamtfunktion werden die wichtigsten Operanden identifiziert. Für eine Kaffeemaschine (Gesamtfunktion „Kaffee zubereiten“) wären Kaffeebohnen, Wasser und Energie eine hinreichende Konkretisierung der Eingangsgrößen.
Kilian Gericke, Boris Eisenbart
21
Ausgangsgrößen wären z. B. warmer Kaffee und warmer Kaffeesatz. Jede weitere Detaillierung findet erst nach erfolgter Dekomposition statt. Die Gesamtfunktion muss nun Schritt für Schritt detailliert und konkretisiert werden, da sie zu komplex ist, um direkt eine konkrete Lösung bzw. ein Lösungsprinzip zuweisen zu können. Die Gesamtfunktion eines Personenwagens kann beispielsweise als „Personen transportieren“ zusammengefasst werden. Die zugehörige Transformation von Operanden wäre entsprechend „Personen in Punkt A“ (Eingangsgröße) zu „Personen in Punkt B“ (Ausgangsgröße). Zur Erfüllung dieser Gesamtfunktion sind diverse Teilfunktionen erforderlich, z. B. „Personen lagern“, „Geschwindigkeit regeln“, „Fahrtrichtung regeln“ etc. Diese können wiederum weiter detailliert werden, d. h. in weitere Teilfunktionen zergliedert werden. „Personen lagern“ beinhaltet Teilfunktionen wie „Personen sichern“, „Ergonomie gewährleisten“ usw. Schnell bilden sich dadurch mehrere hierarchische Ebenen wie in Abb. 11 dargestellt. Die hierarchischen Ebenen sind dabei aber eher eine Gedankenstütze; es wird empfohlen, im finalen Modell lediglich die Teilfunktionen und die zugehörigen Operandenflüsse darzustellen. Die so erstellte Funktionsstruktur bildet nun die Funktionalität des Systems ab.
Abb. 11: Unterteilung einer Gesamtfunktion in Teilfunktionen und Verknüpfung der Flüsse der beteiligten Operanden – Funktionsstruktur16
Ziel ist es, die Gesamtfunktion ausreichend zu verfeinern, sodass den Teilfunktionen konkrete Lösungsalternativen bzw. -prinzipien zugewiesen werden können.
16
Bender, B.; Gericke, K. (Hrsg): Pahl/Beitz Konstruktionslehre: Methoden und Anwendung erfolgreicher Produktentwicklung. Springer, Heidelberg Berlin 2020
22
ATTRIBUTE
In der Regel bieten sich mehrere Lösungsprinzipien für jede Teilfunktion an, die zu alternativen Gesamt-Lösungskonzepten kombiniert werden können. Für den ersten Konkretisierungsschritt der Gesamtfunktion ist meist nur eine Unterteilung in wenige Hauptfunktionen notwendig und sinnvoll. Dies ermöglicht bereits die Suche nach Lösungsalternativen. Es empfiehlt sich, die Funktionsstruktur in zwei Schritten zu erstellen. Im ersten Schritt werden die Teilfunktionen zunächst nur aufgelistet. Im zweiten Schritt wird die logische Verknüpfung der Teilfunktionen erarbeitet, indem die Operandenflüsse modelliert werden. Hierbei ist zu bedenken, dass eine Eingangsgröße immer eine zugehörige Ausgangssgröße erfordert. Wenn einer Teilfunktion z. B. Energie oder ein Material zugeführt wird, muss auch eine entsprechende Ausgangsgröße modelliert werden. Mit zunehmendem Konkretisierungsgrad der Lösung kann das ursprüngliche Funktionsmodell um Teilfunktionen, die von der Wahl einer Realisierungsform von Hauptfunktionen abhängen, erweitert werden. Für diese ergänzten Teilfunktionen kann nachfolgend erneut die Suche nach alternativen Lösungen durchgeführt werden. Die Beschreibung der von der jeweiligen Funktion durchgeführten Transformation erfordert eine Konkretisierung des jeweiligen Operanden und der entsprechenden Aktivität. Eine Funktion sollte demnach durch ein Substantiv (welches den Operanden spezifiziert) und ein Verb (welches die Handlung spezifiziert) beschrieben werden, siehe Tabelle 1. Beispielsweise ist die Funktion eines Heizelements „elektrische Energie in thermische Energie wandeln“, die Funktion einer Antriebswelle „mechanische Energie leiten“. Tabelle 1: Operanden und Aktivitäten
Operand
Beispiel
Aktivitäten
Energie
elektrisch, mechanisch, thermisch, chemisch, nuklear, optisch ...
leiten, wandeln, speichern, vergrößern, verringern ...
Stoff
fest, flüssig, gasförmig ...
leiten, wandeln, speichern, mischen, trennen ...
Signal
analog, digital ...
leiten, eingeben, ausgeben, anzeigen, speichern, ändern ...
Harald Schaub
Kapitel 8
23
Gebrauchstauglichkeit: Ergonomie Ziel der Produkt- und Systemergonomie ist es, das jeweilige Arbeitssystem (Arbeitsmittel, Umgebung etc.) so zu gestalten, dass die jeweiligen Produkte bestimmungsgemäß effizient und effektiv angewandt werden können und die Beeinträchtigung des Nutzers möglichst minimiert wird. Um dies zu gewährleisten, müssen die Faktoren der Belastung und Beanspruchung (Workload) berücksichtigt werden (Abb. 12).
Abb. 12: Belastung und Beanspruchung (Workload)
Unter Belastung werden alle von außen auf den Menschen einwirkenden Einflussfaktoren subsumiert, welche in der Lage sind, eine Reaktion des Organismus auszulösen. Unter Beanspruchung ist jede durch einen äußeren Einflussfaktor hervorgerufene Reaktion zu verstehen. Diese kann den gesamten Körper, ein Organsystem, ein einzelnes Körperorgan oder eine isolierte Funktion eines Organs betreffen. Die Beanspruchung des Menschen muss dennoch als Ganzkörperreaktion und stets als Folge der Belastungen aus allen Lebensbereichen gesehen werden17.
17
Jex, S.: Stress and job performance: Theory, research, and implications for managerial practice. Sage, Thousand Oaks, CA 1998
24
ATTRIBUTE
Die Belastung an einem konkreten Produkt, System oder Arbeitsplatz kann • aus der Art und dem Schwierigkeitsgrad der Arbeitsaufgabe, • aus physikalischen, chemischen, biologischen Arbeitsumweltbedingungen, • aus den speziellen Vollzugsbedingungen (z. B. technische Hilfsmittel, Zeitvorgaben), • aus den sozialen Beziehungen zu Vorgesetzten und Mitarbeitern resultieren und zu einer Beanspruchung führen, die • unspezifisch (z. B. im Sinne einer allgemeinen Aktivierung bei jeder Tätigkeit, erkennbar an einer Beschleunigung von Herz- und Atemfrequenz, Erhöhung des Wachheitsgrades) und/oder • spezifisch (z. B. Schweißsekretion unter Hitzeeinwirkung, Aktivierung bestimmter Enzymsysteme bei Schadstoffexposition, spezielle Anpassungsmechanismen bei Wiederholung gleichartiger Beanspruchungen) ist. In der Norm ISO 9241-110 werden sieben Leitgedanken formuliert, die für die Gestaltung einer Mensch-System (Produkt, Maschine, System)-Schnittstelle Relevanz haben: 1.
Aufgabenangemessenheit
2. Selbstbeschreibungsfähigkeit 3. Erwartungskonformität 4. Lernförderlichkeit 5. Steuerbarkeit 6. Fehlertoleranz 7. Individualisierbarkeit
Justus Arne Schwarz
Kapitel 10
25
Verfügbarkeit Die Verfügbarkeit eines Produkts hat zwei Dimensionen: 1.
Kontinuierliche Lieferbereitschaft des Produkts, das ein Kunde während des Verkaufszeitraums auf dem Markt erwerben möchte. Dazu muss der Anbieter das Produkt rechtzeitig entwickeln, herstellen und ausliefern können. Die Verfügbarkeit muss auch dann sichergestellt werden, wenn Kundennachfrage, Prozesse in Produktentwicklung, Produktion und Distribution unsicher sind und sich mit der Zeit ändern können.
2. Verfügbarkeit nach der Ankunft des Produkts beim Kunden, d. h. die Betriebsbereitschaft des Produkts. Das bedeutet, dass das Produkt im vorgesehenen Anwendungsbereich, entsprechend den Anforderungen und während der erwarteten Lebensdauer einsatzbereit ist. Im Gegensatz zum Erfüllungsattribut ►Zuverlässigkeit berücksichtigt die Verfügbarkeit beim Kunden explizit den zeitlichen Aspekt und bezieht sich nicht nur auf die Zeit vor dem Ausfall des Produkts. Die Ursache für eine unzureichende Verfügbarkeit auf dem Markt ist, dass die Bedarfsanforderungen der Kunden die Fähigkeiten des Unternehmens übersteigen können, siehe Abb. 13. Diese Diskrepanz kann aufgrund von Unsicherheiten sowohl in Bezug auf die Nachfrage als auch auf die Entwicklungs- und Produktionskapazitäten auftreten.
Abb. 13: Treiber der Verfügbarkeit/Lieferbereitschaft
Bemühungen um ein besseres Verständnis der Kundenanforderungen, z. B. durch Quality Function Deployment (siehe ►Qualität), können genauso wie vertragliche Vereinbarungen mit Kunden dazu beitragen, die Bedarfsunsicherheit zu verringern. Techniken zur Steigerung von Innovationsfähigkeit und Leistungsfähigkeit des Produktentwicklungsprozesses wie IDE oder zum Aufbau ei-
26
ATTRIBUTE
nes zuverlässigen Produktionsprozesses durch Vereinfachung, Flexibilisierung und Effizienzsteigerung (z. B. durch Umwandlung traditioneller Fertigungstechnologien in generative Fertigungstechnologien, Kap. 9) können dazu beitragen, die Unsicherheit in Bezug auf die Kapazität zu verringern. Während der Produktentwicklung kann das Produktattribut Verfügbarkeit nur indirekt über andere Produktattribute beeinflusst werden. Verbesserungen zur Steigerung der Verfügbarkeit des Produkts am Markt sind erreichbar durch • Reduzierung der Anforderungen des Produkts an die Fähigkeiten der Produktion (Fähigkeitsanforderungen), • Erhöhung der Fähigkeiten des Unternehmens oder eine effizientere Nutzung der bestehenden Fähigkeiten oder • Reduzierung der Bedarfsanforderungen. Die Fähigkeitsanforderungen des Produkts werden durch das Produktattribut ►Produzierbarkeit erfasst. Produkte, die so konzipiert sind, dass sie einen hohen Anteil von Gleichteilen mit verwandten Produkten haben und mittels im Unternehmen bereits etablierter Fertigungstechnologien produziert werden können, führen zu einer besseren Übereinstimmung zwischen den Fähigkeitsanforderungen und den Fähigkeiten des Unternehmens. Eine Erhöhung der Fähigkeiten des Unternehmens bezieht sich sowohl auf die Fähigkeiten der Produktentwicklung als auch auf die Produktionsfähigkeiten. Bei einem begrenzten Budget gibt es deshalb einen Zielkonflikt zwischen Investitionen in Produktentwicklungskapazitäten und Investitionen in Produktionskapazitäten. Begrenzte Kapazitäten müssen effizient genutzt werden. In Bezug auf die Produktentwicklung kann dies durch Techniken wie Simultaneous Engineering oder Concurrent Engineering erreicht werden, die unter ►Effizienzsteigerung in der Projektbearbeitung erläutert werden. Ein Ansatz zur Verbesserung der Verfügbarkeit bei der Markteinführung besteht darin, die Time-to-Market zu verlängern und Lagerbestände aufzubauen. Die vorproduzierten Produkte können dann zur Verbesserung der Verfügbarkeit bei der Markteinführung verwendet werden. Dieser Ansatz ist aber ungeeignet für Märkte, in denen die Time-to-Market Teil des Wettbewerbs ist (z. B. Hightechoder Modeindustrie).
Justus Arne Schwarz
27
Die Sicherstellung der Lieferbereitschaft bleibt während des gesamten Verkaufszeitraums eine Herausforderung, falls es keine langfristigen Verträge zwischen dem Anbieter und den Kunden gibt, oder die Verträge kurzfristige Änderungen erlauben. In diesen Fällen kann die Verfügbarkeit durch die Einrichtung von Sicherheitsbeständen in der Lieferkette verbessert werden, um sich gegen die Unsicherheit der Kundennachfrage abzusichern18. Die zu befriedigende Nachfrage kann durch Preisgestaltung und durch Revenue Management gesteuert werden. Bei begrenzten Kapazitäten zielt das Revenue Management darauf ab, den Gewinn zu erhöhen, indem das Produkt dem richtigen Kundensegment, zur richtigen Zeit und zum richtigen Preis zur Verfügung gestellt wird. Dafür werden Auftragsannahmeentscheidungen basierend auf analytischen Methoden getroffen19. Die Verfügbarkeit des Produkts, während es sich im Besitz des Benutzers befindet, kann entweder durch eine Erhöhung der mittleren Zeit zwischen Ausfällen (MTBF) oder durch eine Verringerung der mittleren Reparaturzeit (MTTR) verbessert werden. • Um die MTBF zu erhöhen, können Produkte mit redundanten Komponenten verwendet werden. Die Redundanz kritischer Komponenten ermöglicht es dem Produkt, im betriebsbereiten Zustand zu bleiben, solange noch mindestens eine funktionierende Komponente vorhanden ist. Ein weiterer Hebel zur Erhöhung der MTBF sind vorbeugende Instandhaltungsmaßnahmen (siehe Kap. 11). • Ein Beispiel für eine Maßnahme zur Reduzierung des MTTR ist der Einsatz eines kontinuierlichen Überwachungssystems, das automatisch eine Meldung versendet, um sicherzustellen, dass der eigentliche Reparaturprozess schnellstmöglich beginnt. Die MTTR ist eng mit dem Produktattribut ►Instandhaltbarkeit verbunden. Ein Produkt, das den einfachen Austausch kritischer Teile als Ganzes ermöglicht, kann zu einer Reduzierung der Ausfallzeiten beitragen.
18 19
Tempelmeier, H.: Bestandsmanagement in Supply Chains. 4. Ausgabe. Books on Demand, Hamburg 2018 Talluri, K. T.; Van Ryzin, G. J.: The theory and practice of revenue management. International Series in Operations Research & Management Science 68(2004). Springer US, Boston, MA
28
ATTRIBUTE
Sándor Vajna
Produzierbarkeit Das Attribut Produzierbarkeit beschreibt, ob, wie und zu welchen Bedingungen technischer, organisatorischer und finanzieller Art ein Produkt intern mit den beim Anbieter zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und/oder extern mit bzw. bei Dritten oder in Mischformen daraus produziert werden kann, Abb. 14.
Abb. 14: Ausgewählte Einflüsse auf die Produzierbarkeit (Abstufungen: in den ersten Zeilen ist der jeweilige Einfluss negativ und wird mit den weiteren Zeilen nach unten zunehmend positiv)
Die für die Produzierbarkeit verwendeten Techniken für dingliche Produkte umfassen zahlreiche Verfahren und Betriebsmittel, mit denen ein Objekt oder ein Material durch schrittweises Verändern von Form und Stoffeigenschaften in ein geometrisch und stofflich definiertes Fertigteil überführt wird, Abb. 15.
Abb. 15: Einteilung der Fertigungsverfahren mit Beispielen (nach DIN 8580)
Tobias Ehlers, Roland Lachmayer
Kapitel 9.2
29
In den beiden folgenden Kapiteln werden die ►Additive Fertigung und die ►Werkstoffauswahl mit dem Ashby-Diagramm beschrieben. Die additive Fertigung lässt eine hohe Komplexität und Formenvarianz eines Produkts zu, benötigt sehr wenig bis keine Werkzeuge und Betriebsmittel (überschaubare Investitionen), arbeitet nach Bedarf (geringe bis kleine Lagerkosten für Bauteile), kann auch kleine Stückzahlen wirtschaftlich und schnell fertigen (kaum Rüst- und Wartezeiten, kein Werkzeugwechsel, kein Umspannen, wenig gebundenes Kapital) und ist nicht notwendigerweise ortsgebunden. Die additive Fertigung ermöglicht auf diese Weise große Freiräume für Realisierung und Individualisierung von Produkten und bildet dadurch eine sehr leistungsfähige Realisierungsoption für das IDE.
Produzierbarkeit: Additive Fertigung In der Additiven Fertigung (AF) werden Bauteile oder ganze Baugruppen, wie beispielsweise kundenindividuelle Implantate oder Werkzeuge mit integrierten Kühl- oder Schmierkanälen, basierend auf digitalen Geometriemodellen durch das schichtweise Aufbauen und Verbinden von Material hergestellt. Im Gegensatz zur konventionellen Fertigung werden keine Werkzeuge benötigt, sodass kleine Stückzahlen wirtschaftlich und schnell gefertigt werden können. Die Anwendungsgebiete der AF gliedern sich in Rapid Prototyping, Rapid Tooling, Direct Manufacturing und Additive Repair. Durch die AF ist die Reduktion des Materialeinsatzes möglich, um eine verbesserte Materialausnutzung zu erlangen und so Abfall zu minimieren. So lassen sich topologie- und gestaltoptimierte Bauteile mit bestmöglicher Materialverteilung herstellen. Auch können Geometrien mit hoher Gestaltungskomplexität und Freiheit hergestellt werden, die mit anderen Herstellungsverfahren nicht oder nur mit größerem technischem und wirtschaftlichem Aufwand herstellbar sind. Die hohe Gestaltungsfreiheit führt zu neuen Möglichkeiten für die Produktentwicklung. Diese können in Form von zehn Gestaltungszielen strukturiert werden, siehe Abb. 16. Dabei sind den einzelnen Gestaltungszielen jeweils drei konstruktive Hebel wie Freiformflächen, Hinterschnitte, bionisches Design etc. hinterlegt, mit denen diese beispielhaft umgesetzt werden können.
30
ATTRIBUTE
Abb. 16: Gestaltungsziele mit zugeordneten Hebeln und technischem Mehrwert
Zusätzlich sind in Abb. 16 die Gestaltungsziele mit den jeweiligen Nutzenversprechen verbunden, um einen konkreten Mehrwert (Nutzenversprechen) aufzuzeigen, der beim Verfolgen eines Gestaltungsziels erreicht werden kann. Somit liegt eine Verflechtung zwischen den Hebeln der AF und dem Mehrwert über die Gestaltungsziele vor. Ein Nutzenversprechen ist beispielsweise eine Gewichtsreduzierung, die durch mehrere Hebel, wie innere Strukturen, Topologieoptimierung und Dünnwandigkeit realisiert werden kann. Anhand der Verflechtung von Nutzenversprechen und konstruktiven Hebeln kann bereits jetzt geschätzt werden, ob das Bauteil additiv gefertigt werden soll. Die Prozesskette wird in die Kategorien Produktentwicklung, CAP Pre-Prozess, CAM In-Prozess, CAM Post-Prozess und Finishing eingeteilt, die jeweils aus mehreren Schritten bestehen (Ablauf und Details in Abb. 17, CAP: Computeraided Planning, CAM: Computer-aided Manufacturing). Beim Durchlaufen der Prozesskette sollten Iterationen bei Produktentwicklung und CAP Pre-Prozess vorgesehen werden. Beide können flexibel durch geeignete Methoden wie die Methode der einteiligen Maschine, den Einsatz von inneren Strukturen oder Gestaltungsrichtlinien unterstützt werden, die je nach unternehmensspezifischem
Tobias Ehlers, Roland Lachmayer
31
Abb. 17: Prozesskette der Additiven Fertigung
Entwicklungsprozess variieren. Besonders in der Produktplanung können die Methoden aus Kap. 9.2.3.2 angewendet werden. Beim Finishing richten sich Auswahl und Reihenfolge der Prozessschritte nach dem Anwendungsfall. Der Nutzen der AF für die Produktentwicklung basiert darauf, dass der Lösungsraum in der Konzeptphase durch die Potenziale der AF erst vergrößert (Design with X) und anschließend in Entwurfs- und Ausarbeitungsphase anhand von technologischen und organisatorischen Restriktionen eingeschränkt wird (Design for X, siehe ►Bereichsintegration durch DfX und XfD). Dazu wurden allgemeine Gestaltungsrichtlinien in Kap. 9.2.2 in Form eines Konstruktionskataloges aufbereitet.
32
ATTRIBUTE
Kapitel 9.3
Produzierbarkeit: Werkstoffauswahl Mit Hilfe der Arbeiten von ASHBY20 ist es möglich, anstelle einer Sammlung von Materialparametern eine spezifischere Materialauswahl zu treffen. Dies kann mit Hilfe des sogenannten Materialindex und geeigneter Diagramme erfolgen. Ein Materialindex ist eine Maßzahl für die Auswahl des am besten geeigneten Werkstoffs. Je nach Anwendungsfall soll er maximiert oder minimiert werden, beispielsweise: • Die Masse eines Zugbandes mit vorgeschriebener Festigkeit hängt von zwei Materialeigenschaften – Streckgrenze σy und Dichte ρ – in der Kombination σy/ρ ab; das ist der Materialindex für diese Komponente. • Im Gegensatz dazu ist die Masse einer Strebe, die eine Drucklast tragen muss, ohne elastisch zu knicken, proportional zur Werkstoffgruppe E¹⁄₂/ρ, sodass dies der Materialindex wird. Der Index hängt also von der Belastungsart (z. B. Zug, Druck, Biegung) und von der Anforderung an Steifigkeit oder Festigkeit ab. Auf diese Weise kann mit Hilfe des Ashby-Diagramms (Abb. 18) ein Material oder eine Materialklasse mit einer optimalen Kombination von Eigenschaften ausgewählt werden. Als Anwendungsbeispiel wird der Index M = E¹⁄₂/ρ genommen. Dies ist die minimale Masse einer Strebe, die eine Drucklast ohne Knickung tragen muss. Das Umordnen und Entnehmen von Protokollen ergibt Log(E) = 2Log(ρ) + 2Log(M). In diesem Beispiel wurde ein Programm verwendet, welches das Ashby-Diagramm mit den Achsen Log(E) und Log(ρ) erstellt. Die Gleichung beschreibt eine Familie von Linien der Steigung 2 in Abb. 18. Materialien oberhalb der Linie haben höhere Werte von M als die darunter liegenden; die oben genannten sind die beste Wahl für den konkreten Anwendungsfall einer möglichst leichten Strebe unter Drucklast. Durch Verschieben der Linie nach oben nimmt die Anzahl der Materialien oberhalb der Linie ab, wodurch die
20
Ashby, M. F.; Wanner, A.; Fleck, C.: Materials selection in mechanical design: Das Original mit Übersetzungshilfen. Spektrum Akademischer Verlag, 2006 sowie https://grantadesign.com/ industry/products/ces-selector, Zugriff am 01.07.2020
Thorsten Halle
33
Abb. 18: Schematische Darstellung der Festigkeiten über der Dichte aller Werkstoffklassen nach Ashby19. Die hier eingetragenen Geraden mit dem Anstieg 2 können mit Hilfe eines Materialindex zur gezielten Werkstoffauswahl genutzt werden.
Liste derjenigen, welche die Leistung maximieren, enger wird. Unterschiedlicher Materialindex (beispielsweise σy/ρ) kann auf die gleiche Weise verwendet werden – hier mit einer Steigung von 1 – und führt zu einer weiteren Sammlung von verwertbarem Material (Klassen). Dies ist ein einfaches Beispiel. Ein Materialindex kann sehr komplex sein und viele einzelne Materialeigenschaften kombinieren, die dann in Diagrammen mit kombinierten Eigenschaften auf den Diagrammachsen wiedergegeben werden.
34
ATTRIBUTE
Kapitel 11
Instandhaltbarkeit Die Instandhaltbarkeit technischer Objekte (Produkt, System oder Anlage) beschreibt qualitativ die Leichtigkeit, mit der Instandhaltungsarbeiten am Objekt durchgeführt werden können. Der damit verbundene Zeitbedarf beginnt mit der Ausfallerkennung und endet mit der Wiederinbetriebnahme. Die Instandhaltung selbst beschreibt alle Maßnahmen zur Beurteilung und Bewahrung des Istzustands sowie zur Wiederherstellung des gebrauchsfähigen Sollzustands von technischen Objekten. Sie bezieht sich dabei auf die gesamte Nutzungsphase und wird im IDE bereits in der Produktentwicklung festgelegt. DIN 31051 unterscheidet folgende Instandhaltungsarten: • Wartung: Maßnahmen zur Bewahrung des Sollzustands (z. B. die Verzögerung von Abnutzungserscheinungen durch den regelmäßigen Austausch von Schmierstoffen) • Inspektion: Maßnahmen zur Feststellung und Beurteilung des Istzustands sowie Einleiten von entsprechenden Maßnahmen (z. B. das Überprüfen auf Verschleiß) • Instandsetzung (Reparaturen): Maßnahmen zur Wiederherstellung des Sollzustands • Verbesserung: Maßnahmen zur Steigerung der Sicherheit, Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit und Instandhaltbarkeit eines Produkts Die optimale Instandhaltungsstrategie als zentraler Punkt der Instandhaltungsarbeit ist aus dem Zielkonflikt zwischen zu erzielender Verfügbarkeit der Anlage und dafür aufzuwendenden Instandhaltungskosten abzuleiten. Diese Strategie legt Folgendes fest: • Art und Häufigkeit der Instandhaltungsmaßnahmen (bspw. Inspektionsintervalle, Maßnahmen der vorbeugenden Wartung, Wartungsumfänge etc.), • Instandhaltungskapazitäten (Personal, Ersatzteile), Strategie für die Lagerhaltung von Ersatzteilen, Anzahl und Qualifikation der Reparaturmannschaften sowie • Reparaturprioritäten und Instandhaltungsebenen. Zur einfachen Instandhaltbarkeit muss im IDE auf die Montagegerechtheit, auf eine aufgabenbezogene Strukturierung und eine gute Demontierbarkeit der ausfallkritischen Komponenten geachtet werden. Dadurch wird eine einfache Möglichkeit zur Reparatur oder zum Austausch von Komponenten erreicht. Abb. 19 zeigt eine Übersicht über maßgebliche Stellgrößen zur guten Instand-
Frank Müller, Martin Dazer, Bernd Bertsche
35
haltbarkeit eines Produkts. Werden diese Aspekte in der Produktentwicklung berücksichtigt, ergibt sich eine Reduktion des Zeitaufwandes zur Entdeckung und Beseitigung einer Störung.
Abb. 19: Kriterien für eine gute Instandhaltbarkeit von Produkten
Weitere Anforderungen an die instandhaltungsgerechte Produktauslegung sind: Allgemein • •
•
Logistikgerechtheit
Kenntnis über das Ausfallverhalten des Objekts Zusammenarbeit mit Nutzer oder Betreiber
•
hohe Standardisierung der Komponenten zur Reduzierung der Vielfalt von vorzuhaltenden Komponenten
des Objekts hinsichtlich Anforderungen an Betrieb und Durchführung von Maßnahmen der Instandhaltung
•
einfache Durchführung von Instandhaltungsmaßnahmen ohne größere Behinderung von Nutzung oder Betrieb des Objekts
Auswertung von Erfahrungen von Nutzer oder Betreiber zur gemeinsamen Durchführung von Schwachstellenanalysen
•
ausreichende Lagerbestände und optimierte Bestellprozesse zur Vermeidung von Wartezeiten bei Instandhaltungsmaßnahmen
Instandhaltungsgerechtheit
Verschleiß-/abnutzungsarme Auslegung
•
hohe Modularisierung und Standardisierung der Komponenten des Objekts zur Reduzierung der Variantenvielfalt
•
•
gute Zugänglichkeit und gute Übersichtlich-
von Schäden und Verhinderung von Folge-
•
keit der Komponenten im Objekt leichte Demontierbarkeit instandhaltungs-
schäden durch Frühdiagnosen (z. B. Berücksichtigung von Mess- und Prüfpunkten
intensiver Komponenten
für Frühdiagnosen)
•
kunden- und nutzungsorientierte Auslegung der Zuverlässigkeit von Komponenten Möglichkeit zur frühzeitigen Erkennung
Instandhaltungsmaßnahmen und eine Instandhaltungsstrategie können über geeignete Modelle und realitätsnahe Simulationsalgorithmen vorab prognostiziert und optimiert werden. Zur Analyse komplexer Systeme eignen sich insbesondere die höheren Petrinetze (z. B. Softwarepakete REALIST21 oder SHARPE22). Einfache Systeme können auch mit weiteren Modellen abgebildet werden23.
21 22 23
Informationen zum REALIST Programmpaket unter http://www.ima.uni-stuttgart.de/realist Informationen zum SHARPE Softwarepaket unter https://sharpe.pratt.duke.edu/ Zu weitergehenden Methoden zur Berechnung reparierbarer Systeme siehe z. B. Bertsche, B.; Lechner, G.: Zuverlässigkeit im Fahrzeug- und Maschinenbau. Springer, Heidelberg 2004
36
ATTRIBUTE
Kapitel 12
Nachhaltigkeit Nachhaltigkeit ist eine Strategie zur gegenseitigen Verklammerung von Gesellschaft, Ökologie und Ökonomie mit dem Ziel, eine Entwicklung zu fördern, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht und dabei die Möglichkeiten zukünftiger Generationen nicht einschränkt24. Im IDE ist die Nachhaltigkeit zwingend, weil in der Produktentwicklung alle Voraussetzungen für ein nachhaltiges Produkt geschaffen werden. Der Einfluss und die Wirksamkeit des Produktattributs Nachhaltigkeit verlaufen parallel zum gesamten Produktlebenszyklus (Abb. 3.5). Auch in früheren Konstruktionsmethoden wurde erkannt, dass ein Produkt nicht losgelöst von seinem Umfeld und seinen Auswirkungen betrachtet werden kann. So schrieb beispielsweise HUBKA bereits im Jahr 1976 dem Konstrukteur des zu entwickelnden Produkts ein ethisches Verantwortungsbewusstsein für Gesellschaft und Ökonomie zu25. Abb. 20 zeigt mögliche Methoden zur Ermittlung der Umweltwirkung (Kap. 12.3), die im Produktentwicklungsprozess zum Einsatz kommen können. Die folgende Seite bietet einen Überblick über Nachhaltigkeitsstrategien im IDE.
Abb. 20: Methoden nachhaltiger Produktgestaltung in empfohlener Reihenfolge der Anwendung (auf Basis von Tischner26)
24 25 26
Aachener Stiftung Kathy Beys: Lexikon der Nachhaltigkeit. http://www.nachhaltigkeit.info/ artikel/definitionen_1382.htm, Zugriff am 18.01.2020 Hubka, V.: Theorie der Konstruktionsprozesse: Analyse der Konstruktionstätigkeit. Springer, Berlin Heidelberg 1976 Tischner, U. (Hrsg.): How to do EcoDesign?: A guide for environmentally and economically sound design. Verlag form, Frankfurt am Main 2000
Martin Wiesner
37
Kollaborativer Konsum
Materialeffizienz
Reduktion von physischem Besitz, um
Anregungen, um einen maximalen Pro-
Ressourcen zu schonen und eine Inte-
duktnutzen bei minimalem Ressourcen-
gration in Kreisläufe zu ermöglichen
verbrauch und Abfall zu realisieren
Nachwachsende Materialien Statt endlicher Ressourcen erneuerba-
Recycelte Materialien Einsparung endlicher Ressourcen durch
re Ressourcen verwenden und Emissi-
Verwendung von recycelten Rohstoffen
onen vermeiden
Schadstofffreie Materialien
Energieeffizienz
Erreichen der Schadstofffreiheit
Einsparung von energetischen Ressour-
entlang des gesamten Produkt-
cen und resultierend daraus Emissions-
lebenszyklus
reduzierung, insbesondere von CO2
Wasserschonung
Naturraumerhaltung
Schonender und effizienter Umgang
Beanspruchung von nur so wenig Land-
mit der lokal knappen Ressource
fläche für die Produktion wie möglich
Wasser
und schonender Umgang mit Böden
Faire Produktion
Distributionseffizienz
Einhalten von sozialen Standards und
Reduzierung von Ressourceneinsatz
Sicherheitsstandards sowie das Ermög-
und Emissionen bei der Distribution
lichen eines gerechten Einkommens
und im Handel
Langlebigkeit
Verhaltensänderung
Ermöglichen einer längeren Lebensdau-
Motivation der Nutzer zu nachhaltige-
er des Produkts (die primär der verfüg-
rem Verhalten bzw. Schaffen der dafür
baren Nutzungsdauer zugute kommt)
notwendigen Rahmenbedingungen
Kompostierbarkeit
Reparierbarkeit
Rückführung in den biologischen Kreis-
Ermöglichen längerer Produktnutzung
lauf unter Erhaltung oder Verbesserung
durch Maßnahmen von (vorbeugender)
der Bodenqualität
Instandhaltung und Reparatur
Rezyklierbarkeit Rückführung in den technischen Kreislauf, um die Ressourcen erneut, in möglichst kurzen Zyklen, nutzen zu können
38
ATTRIBUTE
Kapitel 3.2.3
Wirtschaftlichkeit Die Wirtschaftlichkeit eines Produkts teilt sich auf in den Mehrwert (Kundensicht) und die Rentabilität (Anbietersicht). Mehrwert und Rentabilität ergänzen sich und sind bei jedem Produkt vorhanden, denn erst, wenn der Anbieter eine angemessene Rentabilität erwarten kann, wird er das Produkt herstellen. Nur wenn der Kunde einen angemessenen Mehrwert vom Produkt erwarten kann, wird er es auch kaufen. Während der Mehrwert für Kunden aus der Investitionsgüterindustrie überwiegend monetär bewertet wird, spielen ideelle Gründe bei Kunden in der Konsumgüterindustrie eine immer wichtigere Rolle.
Mehrwert (Kundensicht) Der Mehrwert ist das Verhältnis zwischen dem Leistungsangebot des Produkts (Leistungsvermögen und Leistungsverhalten des Produkts) und den Aufwendungen für Beschaffung, Anwendung, Wartung und Rückführung des Produkts, siehe Abb. 21. Der Mehrwert beschreibt: • den finanziell messbaren Wertzuwachs (beispielsweise führen günstige Beschaffungskosten und niedrige Nutzungskosten in Relation zu den Einsparungen durch die Nutzung des Produkts zu einer angemessenen Wirtschaftlichkeit) und • den ideellen Wertzuwachs durch Besitz und Nutzung des Produkts, wie z. B. Prestige und Status, Lebensgefühl und eine bestimmte Präferenz (z. B. für einen bestimmten Anbieter, für ein bestimmtes Produkt oder für bestimmte Innovationen).
27
Abb. 21: Ausgewählte Komponenten des Mehrwerts für den Kunden
Sándor Vajna
39
Für die Bestimmung des Mehrwerts mit seinen teilweise monetär nicht quantifizierbaren Komponenten eignen sich beispielsweise die ►Nutzwertanalyse (zu beliebigen Zeitpunkten in der Produktentwicklung einsetzbar) und die Balanced Scorecard (Abb. 25.7).
Rentabilität (Anbietersicht) Die Rentabilität (Profitability) ist (in einem Abrechnungszeitraum) der Quotient aus erzieltem Gewinn aus dem Verkauf des Produkts in Relation zu den Aufwendungen für die Realisierung des Produkts. Für den Anbieter ist die zu erwartende Rentabilität einer der wesentlichen Gründe, sich für Entwicklung und Herstellung eines Produkts zu entscheiden. Das Bestimmen der Rentabilität eines Produkts kann mit Verfahren der Betriebswirtschaftslehre erfolgen, von denen die für das IDE wesentlichen in Kap. 25.3 aufgeführt sind, beispielsweise Kapitalwertmethode, Kosten-Nutzen-Analyse, Balanced Scorecard und die multikriterielle BAPM-Methode28. Üblicherweise muss ein Anbieter kontinuierlich neue Produkte erfolgreich in den Markt bringen, damit die Anfangsinvestition in ein Produkt (bedingt durch seine Entwicklung, Herstellung und Vertrieb) durch Gewinne anderer Produkte vorfinanziert werden kann, siehe Abb. 22.
Abb. 22: Verlauf der Rentabilität über der Zeit für den Anbieter
27
28
Affordanz: Jegliche dem Akteur (Mensch oder Tier) vom Objekt angebotene Interaktionsmöglichkeit mit dem Objekt, die sich aus den Eigenschaften des Objekts im Zusammenspiel mit den (subjektiven) Fähigkeiten des Akteurs ergibt www.bapm.de sowie Schabacker, M.: Bewertung der Nutzen neuer Technologien in der Produktentwicklung. Buchreihe Integrierte Produktentwicklung, Band 1. Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg, 2001
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ATTRIBUTE
Kapitel 3
Erfüllungsattribute Die drei Erfüllungsattribute Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität beschreiben unterschiedliche Umfänge der Erfüllung von Anforderungen und Vorgaben durch das jeweilige Produktattribut, Abb. 23. Dabei ist Sicherheit ein Fest- oder Ausschlusskriterium, denn wenn ein Produkt die Sicherheitsanforderungen und -vorgaben nicht erfüllt, kann es unter keinen Umständen verwendet werden.
Abb. 23: Erfüllungshöhen bei den Attributen Sicherheit (S), Zuverlässigkeit (Z) und Qualität (Q)
Aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen benötigt der Kunde das Zielprofil der Attribute. Ausgehend von seinen Realisierungsmöglichkeiten erzeugt der Anbieter das dazu passende Ist-Profil. Zielprofil: Das Verlangen des Kunden setzt sich zusammen aus Bedürfnissen und Erwartungen, aber auch aus Vorgaben und Präferenzen an das zukünftige Produkt (alle mit unterschiedlichem Detaillierungsgrad). Das Kundenverlangen wird mit ►Co-Creation, User Stories, Fragebögen, Nutzen- und Kriterienlisten usw. oder mit Kombinationen hieraus erfasst und konkretisiert, um das benötigte Leistungsangebot (Leistungsvermögen und Leistungsverhalten) zu erstellen. Das Leistungsangebot wird inhaltlich auf die Produktattribute abgebildet und die dafür benötigten Erfüllungshöhen im Zielprofil dokumentiert, Abb. 24. Dies kann unter Nutzung des an die aktuelle Problemstellung anzupassenden Schemas in Abb. 3.14 erfolgen.
Abb. 24: Erzeugen des realisierungsneutralen Zielprofils für ein Produkt mit dem Attribut Verfügbarkeit (V) aus Kundensicht
Sándor Vajna
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Es reicht üblicherweise aus, sich auf die qualitativen Aspekte zu konzentrieren, weil ein Kunde davon ausgehen kann, dass ein Anbieter die Anforderungen und Vorgaben an Sicherheit und Zuverlässigkeit erfüllt. Die Erfassung, Verwaltung und Aktualisierung der Anforderungen aus dem Zielprofil erfolgt mit dem ►Anforderungsengineering. Ist-Profil: Der Anbieter entwickelt entsprechend den Vorgaben verschiedene Lösungsalternativen aus seinen vorhandenen Technologien, Verfahren und Vorgehensweisen anhand von Kombinationen unterschiedlicher Erfüllungsarten, Erfüllungsgrade und Erfüllungsgüten (Abb. 25). • Die Erfüllungsart beschreibt die Art und Weise, wie eine Anforderung als Auswahl aus den vorhandenen Möglichkeiten des Anbieters realisiert werden kann. • Der Erfüllungsgrad beschreibt, mit welchem Anteil die Anforderung realisiert wurde. • Die Erfüllungsgüte beschreibt Beschaffenheit, Brauchbarkeit und Wert der Realisierung der Anforderung.
Abb. 25: Erzeugen des quantitativen Ist-Profils anhand der Möglichkeiten des Anbieters mit dem Attribut Produzierbarkeit (P). Das „Dach“ der drei Erfüllungssäulen dient zum Berücksichtigen der gegenseitigen Einflüsse von Erfüllungsart, -grad und -güte.
Jede so entstandene Lösungsalternative wird pro Attribut auf Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität bewertet. Es handelt sich hierbei um ein iteratives Vorgehen in der Produktentwicklung, das durch den Einsatz von ►CAx-Systemen für Modellierung, Berechnung, Simulation und einer Aufwandsbetrachtung entsprechend der ►Nutzwertanalyse ganzheitlich realisiert wird. Abb. 26 zeigt diesen Bewertungsprozess im Detail für vier Lösungsalternativen LA 1 bis LA 4. Die Ergebnisse der Bewertung werden in das Attributsprofil übernommen.
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ATTRIBUTE
Abb. 26: Bewertung von Lösungsalternativen (LA) und beispielhafte Überführung der Bewertungsergebnisse von LA 2 in das entsprechende Attributsprofil
Mit dem Überlappen von Zielprofil und Ist-Profil lässt sich bei gleichem Kundenverlangen ein erster Vergleich der Leistungsangebote verschiedener Produkte erstellen, Abb. 27. Im vorliegenden Beispiel ist die Qualität im Ist-Profil bis auf die Erfüllungshöhe für die Instandhaltbarkeit besser als die Vorgabe im Zielprofil. Bei der relativ geringen Erfüllungshöhe der Instandhaltbarkeit im Zielprofil kann man davon ausgehen, dass der Kunde diesem Attribut wenig Bedeutung zumisst und deswegen das angebotene Produkt wegen der ansonsten höheren Qualität kaufen wird.
Kundensicht
Anbietersicht
Abb. 27: Attributsprofile mit dem Zielprofil des Kunden bestehend aus Sicherheit , Zuverlässigkeit
Überlappung
und dem Ist-Profil des Anbieters und Qualität des Produkts
In den folgenden Kapiteln werden die Erfüllungsattribute im Detail beschrieben.
Martin Dazer, Bernd Bertsche, Sándor Vajna
Kapitel 13.1
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Erfüllungsattribut 1: Sicherheit Sicherheit beschreibt die angemessene Abwesenheit, das Vermeiden oder die Beherrschbarkeit von Risiken und Gefahrenquellen, die zum Versagen einer Produktkomponente oder des ganzen Produkts und dadurch zur Gefährdung des Nutzers oder auch anderen Personen führen können. Zentrale Kenngröße in der Sicherheitstechnik bildet das Risiko, welches sich aus der Eintrittswahrscheinlichkeit eines gefahrbringenden Ereignisses, dem daraus resultierenden Schadensausmaß sowie gegebenenfalls aus subjektiven (beispielsweise anwendungsspezifischen) Gewichtungsfaktoren zusammensetzt. Damit grenzt sich die Sicherheit von der Zuverlässigkeit, die sich nur mit der Eintrittswahrscheinlichkeit beschäftigt, ab. Produkte mit einer geringen Ausfallwahrscheinlichkeit aber extrem hohem Schadensausmaß sind demnach zwar zuverlässig, müssen aber nicht zwangsläufig auch sicher sein. Der Zusammenhang von Sicherheit und Risiko lautet wie folgt: Sicherheit = 1 – Risiko Zur Vermeidung von Personenschäden werden Risikobeurteilungen, bestehend aus Risikoanalyse und Risikobewertung, durchgeführt (Abb. 28).
Abb. 28: Ablaufschema einer Risikobeurteilung
Durch eine Systemanalyse werden im ersten Schritt der Risikoanalyse potentielle Gefährdungen identifiziert. Grundlage dafür bietet die konstruktive Gestaltung des Produkts.
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ATTRIBUTE
Für diese ermittelten Gefahren werden in der zentralen Phase der Risikoeinschätzung die Risiko-Kennzahlen bestimmt. Zur Bestimmung des Gesamtrisikos für sicherheitskritische Funktionen, z. B. das Abbremsen eines Kraftfahrzeugs, gibt die RAPEX-Methode einen Leitfaden vor29. Das Gesamtrisiko wird aus der Eintrittswahrscheinlichkeit der Gefährdung und dem Schadensausmaß bei Eintritt berechnet. Die Eintrittswahrscheinlichkeit wird unter methodischer Anleitung aus der Ausfallwahrscheinlichkeit des Ereignisses, der Exposition (Erreichbarkeit der Gefahr bzw. wie stark man der Gefahr ausgesetzt ist) und den Vermeidungsaktivitäten bestimmt. Das Schadensausmaß ergibt sich aus dem Schadensumfang und der Schwere der Verletzung. Sind Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß bestimmt, lässt sich das Risiko über einen Risikograph beurteilen, der in Abb. 29 dargestellt ist.
Abb. 29: Risikograph30. E: Ernstes Risiko; H: Hohes Risiko; M: Mittleres Risiko; N: Niedriges Risiko
Ernste Risiken entstehen bei hohen Eintrittswahrscheinlichkeiten mit gleichzeitig hohem Schadensausmaß. Gelangen Produkte mit ernstem Risiko in den Umlauf, werden z. B. im Automotive-Bereich sofort Rückrufe durch das Kraftfahrtbundesamt angeordnet. Im Gegensatz dazu ist das Risiko bei sehr geringen Eintrittswahrscheinlichkeiten als niedrig einzuordnen, auch wenn das Schadens-
29
30
Unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/ ?uri=CELEX:32010D0015&from=DE finden sich die „Leitlinien für die Verwaltung des gemeinschaftlichen Systems zum raschen Informationsaustausch „RAPEX“ gemäß Artikel 12 und des Meldeverfahrens gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2001/95/EG über die allgemeine Produktsicherheit“. Geeignet für die tägliche Arbeit ist der im Anhang 5 in der Leitlinie enthaltene „Leitfaden für die Risikobewertung von Verbraucherprodukten“. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:L:2010:022:FULL&from=PT, Tabelle 4
Martin Dazer, Bernd Bertsche, Sándor Vajna
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ausmaß sehr hoch ausfällt. Eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit mit nur geringem Schadensausmaß resultiert aber dennoch in einem hohen Risiko. Im anschließenden Risikovergleich werden die Anforderungen mit den Ist-Werten verglichen. Sind die Anforderungen nicht erfüllt, müssen entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden, um das Ist-Risiko zu senken, sodass es anforderungskonform ist. Die Maßnahmen können aus der Einteilung der Sicherheit nach DIN ISO 3100031 abgeleitet werden. Danach ist die Sicherheit in unmittelbare, mittelbare und hinweisende Sicherheit eingeteilt. • Unmittelbare Sicherheit fordert, dass vom Produkt und aus seiner Anwendung heraus keine Gefahr entstehen kann. Die Maßnahme wird also durch Änderungen am Produkt realisiert. • Ist das nicht mit angemessenem Aufwand realisierbar, muss die Sicherheit durch Hilfsmittel wie Schutzeinrichtungen erreicht werden (mittelbare Sicherheit, beispielsweise Lichtschranken an Werkzeugmaschinen). • Wenn auch dies nicht möglich ist, bleibt nur die hinweisende Sicherheit, bei der durch entsprechende Warnhinweise am Produkt oder in der Gebrauchsanleitung auf Gefahren durch dessen Beschaffung, Einsatz und Rückführung hingewiesen wird. In diesem Fall wird die Maßnahme ebenfalls durch Hilfsmittel realisiert. Hinweise reduzieren aber rein die Eintrittswahrscheinlichkeit der Gefährdung. Kommt es dennoch zu einem Versagen oder einer unsicheren Situation, ist der Anbieter gemäß Richtlinie 85/374 EEC, Artikel 1132 verantwortlich für die daraus entstandenen Schäden. Auch aus diesem Grund ist eine vollständige Produktdokumentation inklusive einer Risikobeurteilung notwendig. Diese muss intern zur Fertigungsfreigabe und extern zur Auslieferung vorliegen, um bei Fragen einer Produkthaftung eindeutig Stellung beziehen zu können.
31 32
Zu finden beispielsweise unter https://www.beuth.de/de/norm/din-iso-31000/294266968 Richtlinie 85/374 EEC, Art. 11: „Um den Entlastungsbeweis bei möglichen Produkthaftungsfällen führen zu können, müssen der Konstruktionsstand und die dazugehörenden Änderungsvorgänge mindestens 10 Jahre nach Inverkehrbringen des Erzeugnisses noch zurückverfolgt werden können.”
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ATTRIBUTE
Kapitel 13.2
Erfüllungsattribut 2: Zuverlässigkeit Zuverlässigkeit beschreibt die Fähigkeiten zur Leistungserbringung einer Produktkomponente oder eines Produkts während oder nach vorgegebenen Zeitspannen bei vorgegebenen Anwendungs- und Umgebungsbedingungen. Produkte mit hoher Zuverlässigkeit bleiben damit während ihrer vorgegebenen oder erwarteten Lebensdauer mit hoher Wahrscheinlichkeit nutzungsfähig. Für die Entwicklung hochwertiger Produkte ist die Berücksichtigung der Zuverlässigkeit während des Entwicklungsprozesses elementar. Zur Beherrschung und Sicherstellung der Zuverlässigkeit müssen sich die Erprobungs- und Absicherungsaktivitäten über den gesamten Entwicklungsprozess und die Feldeinsatzzeit und damit über den kompletten Produktlebenszyklus erstrecken, siehe Abb. 30.
Abb. 30: Zuverlässigkeitsmanagement33. Bq-Lebensdauer: Lebensdauer, bei der q % aller Bauteile ausgefallen sind; MTBF: Mean Time Between Failures; MTTF: Mean Time To Failure; FMEA: Failure Mode and Effects Analysis; FTA: Fault Tree Analysis; DRBFM: Design Review Based on Failure Mode; HALT: Highly Accelerated Life Test; DOE: Design of Experiment
33
Naunheimer, H.; Bertsche, B.; Ryborz, J.; Novak, W.; Fietkau, P.: Fahrzeuggetriebe. Grundlagen, Auswahl, Auslegung und Konstruktion. 3. Auflage. Springer, Heidelberg 2019
Martin Dazer, Bernd Bertsche, Sándor Vajna
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Zentraler Ausgangspunkt einer jeden Entwicklung ist die Definition von Zielen. Dies gilt auch für die Zuverlässigkeitsplanung. Festzulegen ist also das Zuverlässigkeitsziel auf Systemebene, aus welchem sich die Ziele für Subsysteme ableiten lassen. Datengrundlagen für die Ermittlung von Zielen können sein: • • • • •
gesetzliche Bestimmungen und Vorgaben, Platzierung am Markt bzw. Wettbewerb, Kundenanforderungen, Vorgängerprodukte, Garantie- und Kulanzkosten.
In der Konzeptions- und Entwurfsphase stehen vor allem qualitative Methoden wie die FMEA, die Fehlerbaumanalyse (FTA), Checklisten und Design-Reviews (Kap. 14.2.3 und 14.3) im Fokus, da der Reifegrad des Produkts noch zu gering ist und somit keine repräsentative Basis für quantitative Verfahren vorliegt. Ziel der qualitativen Zuverlässigkeitsmethoden ist es, mögliche Fehler oder Ausfälle sowie deren Ursache und Wirkung zu ermitteln. Zur Sicherstellung der Funktionalität werden potentiell auftretende Fehler und technische Risiken analysiert sowie die möglichen Folgen bewertet. Durch die Identifikation der Fehlerursachen können entsprechende Abstellmaßnahmen eingeleitet werden, um die Ausfallrate zu senken. Mit steigendem Reifegrad in der Ausarbeitungsphase rücken die quantitative Beschreibung und der Nachweis der Zuverlässigkeit durch Lebensdauerversuche oder Feldtests und anschließende Lebensdauerdaten-Analyse in den Vordergrund. Essentieller Bestandteil einer belastbaren Erprobung ist die Kenntnis über die Belastung des Produkts während der Phasen seiner Herstellung, Logistik und Nutzung. Fehlende oder verzerrte Informationen über die zu erwartende Belastung wirken sich direkt auf die Zuverlässigkeit und die Lebensdauer aus und führen folglich zu fehlerhaften Ergebnissen in der Lebensdauerdaten-Analyse. Ergibt die Analyse, dass ein Produkt die gestellten Anforderungen nicht erfüllt, so muss in einer Optimierungsschleife konstruktiv nachgebessert werden. Das Sicherstellen der Produktzuverlässigkeit ist somit ein Zusammenspiel von konstruktiver Auslegung sowie Erprobung und Absicherung, siehe Abb. 31. Durch die konstruktive Auslegung wird die Ist-Zuverlässigkeit des Produkts definiert, indem durch die konstruktive Gestaltung die Belastbarkeit und durch geeignete Lastannahmen die Soll-Belastung definiert wird. Durch die Methoden in der Erprobung und Absicherung wird hingegen die in das Bauteil hineinkonstruierte Zuverlässigkeit erfasst und bewertet.
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ATTRIBUTE
Abb. 31: Sicherstellen der Produktzuverlässigkeit34
Die Erhaltung der produktspezifischen Zuverlässigkeit setzt nach Beginn der Serienproduktion stabile Herstell-, Montage- und Prüfprozesse voraus. Das Zuverlässigkeitsmanagement endet nicht mit Feldeintritt des Produkts, da für Anbieter und Produzenten nach § 823 Abs. 1 BGB eine Produktbeobachtungspflicht besteht. Anbieter sind also in der Pflicht, ihre Produkte auch nach Markteintritt zu beobachten, um beispielsweise zu prüfen, ob die Produkte in den dafür vorgesehenen Einsatzbereichen verwendet oder zweckentfremdet werden. Eine Beobachtung der Feldsituation empfiehlt sich auch bei ordnungsgemäßer Verwendung durch den Endkunden, weil die Feldbelastung niemals exakt gleich am Prüfstand eingestellt werden kann. Somit können Differenzen zwischen der auf dem Prüfstand ermittelten Produktzuverlässigkeit und der realen Feldzuverlässigkeit auftreten. Durch statistische Analyse von Rückläufern werden Feldprognosen erstellt, welche der Garantiekostenabschätzung und Risikobewertung dienen.
34
Bertsche, B.; Lechner, G.: Zuverlässigkeit im Fahrzeug- und Maschinenbau. Springer, Heidelberg 2004
Martin Dazer, Bernd Bertsche, Sándor Vajna
Kapitel 13.1
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Erfüllungsattribut 3: Qualität Der Begriff Qualität kann sowohl objektive Darstellungen als auch subjektive Wertungen umfassen sowie solche Darstellungen einschließen, die entweder neutral oder wertend verwendet werden können. • Zu der objektiven Darstellung zählen Art, Beschaffenheit und Sorte eines Produkts. Diese beschreiben die Fakten absolut und neutral und enthalten keine Bewertung des Produkts. • Zu der wertenden Darstellung zählen Brauchbarkeit, Güte und Wertstufe, die abhängig vom jeweiligen Einsatzgebiet und -umfeld des Produkts sind, für das in der Regel vorformulierte Anforderungen und (Wert-) Maßstäbe vorliegen. Diese Anforderungen haben einen relativen, subjektiven und wertenden Charakter. Diese Sichtweise entspricht der Definition der DIN ISO 9000:2005, in der die Qualität die Gesamtheit von Merkmalen einer Einheit ist, mit denen bezüglich ihrer Eignung festgelegte und vorausgesetzte Erfordernisse erfüllt werden. • Zu den Darstellungen, die neutral oder wertend sein können, zählen (charakteristische) Eigenschaften und Fähigkeiten des Produkts, im IDE beide im Sinne des erwarteten Leistungsvermögens und des Leistungsverhaltens des Produkts durch seine Attribute. Qualität ist kein absoluter Wert, sondern das Verhältnis zwischen Forderungen und Erfüllung, immer abhängig vom jeweiligen Bezugsrahmen. Qualität ist auch keine physikalische Größe, sondern die Summe relevanter Merkmale und Eigenschaften in einem bestimmten Umfeld. Unternehmen platzieren sich durch Produkte von unterschiedlicher Qualität auch ganz gezielt am Markt. Die Aktivitäten zum Sicherstellen der geforderten Qualität in allen Phasen der Produktentwicklung werden unter dem Begriff Qualitätssicherung zusammengefasst, die dazu benötigten organisatorischen Maßnahmen und Hilfsmittel unter Qualitätsmanagement. Zur Sicherstellung der Qualität während des Entwicklungsprozesses werden unterschiedliche Ansätze verfolgt, die sich aber nicht gegenseitig ausschließen. In der Anwendung haben sich das Total Quality Management und der Six-Sigma-Prozess etabliert.
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ATTRIBUTE
• Das Total Quality Management (TQM) beschreibt eine Philosophie, bei der die Qualität oberstes Unternehmensziel ist. Es baut auf einem vergleichbaren, ganzheitlichen und präventiven Ansatz auf. Im TQM wird Qualität nicht nur punktuell im Nachhinein per Stichproben geprüft, sondern bereits bei der Auslegung berücksichtigt und laufend verifiziert, damit eine Kostenreduktion durch Vermindern von Nacharbeit erreicht wird. • Kernelement im Six-Sigma-Prozess ist die Beschreibung, Analyse, Optimierung und Überwachung von Produkten und Prozessen mit statistischen Methoden. Dazu wird der DMAIC-Prozess verwendet (Define, Measure, Analyze, Improve, Control). Das Ziel aller Ansätze besteht vor allem im Vermeiden von Fehlern, denn konzeptionelle und strategische Entscheidungen, die in den frühen Phasen der Produktentwicklung getroffen werden, führen zu weitreichenden Festlegungen für das restliche Produktleben. Analog können Fehler, die in den frühen Phasen gemacht werden, zu weitreichenden Schäden führen. Der Nutzen einer präventiven Qualitätssicherung besteht darin, diese Fehler möglichst früh zu entdecken, um sie frühzeitig und mit geringem Aufwand beheben zu können. Zwar sinkt die Wahrscheinlichkeit des Entdeckens von Fehlern mit dem Fortschreiten der Produktentwicklung, aber aufgrund des integrativen Ansatzes des IDE erfolgt dies in viel geringerem Maße als bei einer Produktentwicklung ohne IDE. Mit IDE steigt auch der Aufwand für die Fehlerbehebung flacher an als bei der Produktentwicklung ohne IDE (Abb. 13.19). Somit können die meisten Fehler entdeckt und mit geringem Aufwand behoben werden. Zur Fehlerentdeckung und Problemlösung haben sich vor allem die FMEA (Fehlermöglichkeits- und Einfluss-Analyse), das Ishikawa-Diagramm und das Quality Function Deployment (QFD) in der praktischen Anwendung etabliert. • FMEA ist eine präventive qualitative Methode zum systematischen Erkennen, Erfassen und Vermindern potentieller Risiken, Probleme und Fehler. Zum Erfassen des Istzustands des Produkts wird zunächst eine System- und eine Schwachstellenanalyse durchgeführt, deren Ergebnisse in ein FMEABlatt eingetragen werden. Danach erfolgen das Priorisieren und die Auswahl derjenigen Komponenten, die das höchste Risiko aufweisen, sodass potentielle Fehler analysiert und nach Einfluss und Schwere bewertet werden können. Auf dieser Basis werden Gegenmaßnahmen ausgewählt und bewertet, um danach die Maßnahmen durchzuführen.
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• Das Ishikawa-Diagramm35 in Abb. 32 kann sowohl zur systematischen Fehleranalyse als auch zur Lösungssuche dienen. Nachdem das zu lösende Problem als Ziel (am rechten Ende der „Hauptgräte“) formuliert wurde, werden von links oben und unten Ursachenpfeile angetragen und im Team bearbeitet. Die Hauptpfeile bilden die acht Einflussfaktoren Mensch, Material, Maschine (die „klassischen“ Produktionsfaktoren) sowie Methode, Umgebung, Messung, Prozesse und Management.
Abb. 32: Ishikawa-Diagramm (schräge fette Pfeile: Hauptursachen, dünne Pfeile: Nebenursachen)
• QFD liefert die Zuordnung von Eigenschaften des Produkts, die der Kunde fordert, zu Merkmalen dieses Produkts, die der Anbieter bereitstellen und beeinflussen kann, um so das Produkt dem Kundenwunsch entsprechend zu entwickeln und herzustellen. Dazu werden im QFD sechs Matrizen nacheinander bearbeitet und zum „House of Quality“36 (Abb. 33) verbunden.
Abb. 33: Schema des Quality Function Deployment mit dem „House of Quality“
35 36
Siehe z. B. Hering, E.; Triemel, J.; Blank, H. P. (Hrsg.): Qualitätssicherung für Ingenieure. VDI, Düsseldorf 1996 Siehe z. B. Hehenberger, P.: Computerunterstützte Fertigung – Eine kompakte Einführung. Springer, Heidelberg 2011
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Projektorganisation
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Vajna, S. Rothkötter (Hrsg.), Produkte entwickeln mit IDE, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32033-1_3
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PROJEKTORGANISATION
Einführung Vorab: Ein Prozess ist ein Leitfaden (oder eine Art „Kochbuch“) für die Bearbeitung einer bestimmten Aufgabe. Sobald ein Auftrag mit konkreter Aufgabenstellung aus dem Kundenverlangen und dem Umfeld des Einsatzgebiets, konkreten Anforderungen und konkreten Budgets (Arbeitskräfte, finanzieller Rahmen, Zeitrahmen) vorliegt, d. h. der Leitfaden mit konkreten Inhalten versehen wurde, wird aus dem Prozess ein Projekt. Für Entwurf und Strukturierung von Prozessen und Projekten in der IDE-Produktentwicklung gibt es unterschiedliche Organisationsformen, die sich im Wesentlichen in folgende Gruppen einteilen lassen (Abb. 34):
Abb. 34: Vorgehensweise zur Auswahl der geeigneten Projektorganisation37
1.
Prozess- und Projektformen, die eine mehr oder weniger lineare Abfolge mit klaren Regeln und Bedingungen vorgeben, wie und wann die einzelnen Aktivitäten zu bearbeiten sind (beispielsweise Wasserfallmethoden und der Stage-Gate-Prozess).
2. Flexible Formen, die mit unscharfen Bedingungen umgehen können und es damit erlauben, angemessen auf sich ändernde externe und interne Anforderungen sowie auf unvollständige Spezifikationen und verfügbare Daten zu reagieren (agile Ansätze, beispielsweise Scrum).
37
Abb. 34 entstand unter Nutzung einer Darstellung aus Ottosson, S.: Developing sustainable innovations. Tervix, Göteborg 2017
Sándor Vajna, Stig Ottosson
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3. Formen, die eine Mischung oder sogar eine Synthese der beiden ersten Gruppen sind, z. B. Dynamische Produktentwicklung (DPD) und Schlanke Produktentwicklung (Lean Product Development, LPD). 4. Formen, die mit Konfigurationen und Kombinationen von Prozess- und Projektelementen arbeiten und dadurch ein flexibles und dynamisches Reagieren auf Änderungen von Anforderungen und Umfeldern reagieren können, wie beispielsweise die ►Dynamische Navigation. In diesem Abschnitt werden weitere Methoden und Vorgehensweisen vorgestellt, mit denen das Gestalten und das Verbessern von Produktentwicklungsprozess und Projektorganisation im IDE zielführend erledigt werden können. Diese sind: • • • • • •
Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz der Projektbearbeitung Dynamische Navigation Verwendung von Mustern im Entwicklungsprozess Wissensbereitstellung Aufbau des Projektteams und Form der Arbeitsorganisation im Team Einbeziehen der Nutzer und weiterer Stakeholder in die Produktentwicklung durch Co-Creation • Behandlung und Vermeidung von Störungen im Projektablauf Abb. 35 auf der folgenden Seite vergleicht die nummerierten Prozess- und Projektformen miteinander und liefert so eine Entscheidungshilfe für deren Auswahl. Darin verwendete Abkürzungen sind: • • • • •
B2B = Business-to-Business, Investitionsgüterindustrie (1:1-Beziehung) B2C = Business-to-Customer, Konsumgüterindustrie (1:n-Beziehung) ein Kriterium wird erfüllt (J) oder nicht (N) Grad der Erfüllung: hoch (H), mittel (M) oder gering (G) Qualität der Erfüllung: sehr gut (++), gut (+), befriedigend (0), ausreichend (–), ungenügend (––) • Arbeitsformen: CE: Concurrent Engineering, I: Iteration, In: Inkrementelle Vorgehensweise, P: Parallelverarbeitung, SE: Simultaneous Engineering, Sq: Sequentielle oder serielle Verarbeitung • Arbeitsmethoden: D: Anwendung von DfX, E: Auswertung, R: Arbeiten mit Faustregeln, S: umfangreiche Simulation, St: Standardmethoden, T: häufiges Testen, V: Minimierung von Verschwendung, W: Wertstrom-Analyse
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PROJEKTORGANISATION
Abb. 35: Vergleich von unterschiedlichen Formen der Projekt- und Prozessorganisation, für darin verwendete Abkürzungen siehe vorherige Seite
Sándor Vajna
Kapitel 15.1
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Effizienzsteigerung in der Projektbearbeitung Voraussetzungen für die erfolgreiche Steigerung der Effizienz in der Projektbearbeitung sind: • interdisziplinäre Teamarbeit, • geeignete Modularisierung des Produkts und der damit verbundenen Teilaufgaben, • sauber definierte physische und logische Bauräume38 und Schnittstellen für jede Teilaufgabe während der Entwicklungsarbeit, • Bereitstellung jederzeit aktueller und fehlerfreier Informationen für alle Beteiligten beispielsweise über PDM-Systeme und • konsequenter Einsatz von ►CAx-Systemen, weil durch Parallelisierungsansätze Tätigkeiten früher durchgeführt werden, als es bei einer konventionellen Vorgehensweise der Fall ist – z. B. Simulation anstelle von Prototypenoder Versuchsteilbau und deren Test. Die Effizienz wird im Wesentlichen durch die Maßnahmen Standardisieren, Qualifizieren, Parallelisieren und Integrieren gesteigert. Standardisieren: Auf der Basis von Untersuchungen abgeschlossener und erfolgreicher Entwicklungsprojekte werden Bibliotheken mit geeigneten Prozesselementen beziehungsweise Prozessfolgen für wiederkehrende Muster von Aktivitäten (jeweils mit den dazugehörigen Vorgehensweisen, Methoden, Verfahren und Werkzeugen) festgelegt, etwa bei der Entwicklung von Produkten aus gleichen Produktklassen (siehe auch die ersten Schritte in der ►Dynamischen Navigation). Qualifizieren: Jede Aktivität sollte von Mitarbeitern mit der dafür geeigneten und angemessenen Qualifikation bearbeitet werden. Dazu sind gegebenenfalls Ausbildungsmaßnahmen erforderlich. Zusätzlich werden die Mitarbeiter dabei
38
Ein physischer Bauraum wird für den Einbau bestimmter Dinge benötigt, beispielsweise ein Bauraum für den Kofferraum eines Kfz und ein anderer Bauraum für den Kofferraumdeckel. Schnittstelle zwischen diesen Bauräumen sind im Beispiel die Abmessungen von Kofferraum und Deckel sowie gemeinsam genutzte Bauteile (hier: Scharniere) und deren Position. Bei einem logischen Bauraum sind das beispielsweise Input- und Outputdaten sowie deren Formate, Menge und zeitliches Auftreten usw.
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PROJEKTORGANISATION
von den beim Standardisieren erwähnten Bibliotheken mit Prozesselementen unterstützt. Dies alles führt zu einer Zeitverkürzung. Die Bearbeitungsreihenfolge bleibt sequentiell, wird aber mit höherer Qualität und in der Regel auch schneller durchgeführt. Dabei kann ein folgender Arbeitsschritt erst dann beginnen, wenn der vorhergehende abgeschlossen und die Freigabe für den Beginn des nächsten Schritts erteilt wurde. Parallelisieren und Integrieren: Einführen von Bearbeitungsformen mit (teil)parallelen Strukturen und geänderten Abfolgen von Aktivitäten. Geeignete Mittel der Wahl sind das Simultaneous Engineering (SE) und das Concurrent Engineering (CE). Die dabei erzielbaren Zeitverkürzungen dienen dazu, ein Produkt früher auf den Markt zu bringen, als es bei konventioneller Vorgehensweise möglich wäre. • Beim Simultaneous Engineering werden unterschiedliche und sonst zeitlich einander folgende Bearbeitungsphasen oder Bereiche (beispielsweise Produktentwicklung und Prozessplanung) teilweise zeitlich überlappt und parallel ausgeführt, wobei es in jedem Überlappungsbereich zu einem intensiven Austausch von Informationen und damit zu Abgleich und anschließender Freigabe der Ergebnisse kommt. Die überlappte Aktivität beginnt dadurch früher. Wichtigstes Kriterium für Überlappen und Parallelisieren ist die Frage, wann die Ergebnisse der vorher begonnenen Bearbeitung soweit stabil sind, dass die statistische Wahrscheinlichkeit einer Änderung und die damit verbundenen Änderungskosten geringer sind als die Kosten, die durch zu spätes Weiterarbeiten verursacht werden39. • Beim Concurrent Engineering wird eine umfangreiche Aufgabe auf mehrere Personen aufgeteilt, die von diesen parallel bearbeitet wird. Wesentliche Voraussetzung beim CE sind für die Teilaufgaben die vorab zu erfolgende Definition und Festlegung von physischen und logischen Bauräumen mit ihren jeweiligen Aufgabenumfängen und mit klaren Schnittstellen untereinander. Dann erfolgt zuerst das Aufteilen (A) der jeweiligen Aufgabe anhand der einzelnen Bauräume, danach ihre parallele Bearbeitung und zum Schluss das Zusammenführen und Konsolidieren der Ergebnisse über die vereinbarten Schnittstellen (Z & K).
39
Siehe Vajna, S.; Weber, Chr.; Zeman, K.; Hehenberger, P.; Gerhard, D.; Wartzack, S.: CAx für Ingenieure. Eine praxisbezogene Einführung (dritte und vollständig neu bearbeitete Auflage). Springer, Berlin Heidelberg 2018
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• Kombinierte Anwendung von SE und CE: Im Fall der Überlappung von Prozessplanung und Produktion wird der Durchsatz in der Produktion bereits während der Überlappungsphase hochgefahren. Diese Maßnahmen führen in Summe zu einer weiteren Zeitverkürzung. Abb. 36 zeigt die besprochenen Maßnahmen im Zusammenhang:
Abb. 36: Qualitätssteigerungen und Zeitverkürzungen durch die Maßnahmen 1: Standardisieren, 2: Qualifizieren, 3: Parallelisieren und Integrieren. Pfeile: Abgleiche im Überlappungsbereich bei SE
Diese Maßnahmen dienen sowohl zur Zeitersparnis als auch zur Steigerung der Ergebnisqualität der Produktentwicklung und damit zum Einhalten des Time-toMarket (zum richtigen Zeitpunkt auf dem Markt sein) als eines der wirksamsten Mittel zur Umsatz- und Gewinnsicherung.
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PROJEKTORGANISATION
Kapitel 15
Projektstrukturierung Die in der Einführung zu diesem Abschnitt angerissenen Formen und Methoden der Prozess- und Projektorganisation werden hier detaillierter vorgestellt. Zum Vergleich ihrer Eigenschaften wird auf Abb. 35 in der Einführung verwiesen. Bei der Wasserfallmethode wird ein Projekt in Phasen unterteilt und diese wiederum in Arbeitsschritte, die nacheinander ablaufen, wobei zu Beginn alle Anforderungen bekannt sein müssen. Die freigegebenen Ergebnisse des vorhergehenden Arbeitsschritts bilden die Ausgangsbedingungen für den aktuellen Arbeitsschritt. Ein neuer Arbeitsschritt kann nicht begonnen werden, solange der aktuell bearbeitete Schritt noch nicht abgeschlossen ist. Die Bearbeitungsreihenfolge ist rein sequentiell. Hierzu gehören alle klassischen Ansätze für Vorgehensweisen und Strukturierung der Arbeiten in der Produktentwicklung. Eine dynamischere Gestaltung der Wasserfallmethode wird in der neuen VDI-Richtlinie 2221 (2019)40 beschrieben, auf die in Kap. 1.1.2 eingegangen wird. Der Stage-Gate-Prozess (Kap. 15.3.1) ist ein sequentieller und rigider Ansatz. Eine Aufgabe wird in mehrere Phasen (Stages) unterteilt. Anforderungen und Umfelder sollten bei Aufgabenstellung zu Beginn bekannt sein. Auf jede Phase folgen Evaluationsaktivitäten (Gates), in denen über die Fortsetzung, die Rückkehr zum Beginn oder den Abbruch des Projekts entschieden wird. Ein Rücksprung an eine beliebige Stelle im Prozess ist nicht vorgesehen (Abb. 37).
Abb. 37: Stage-Gate-Prozess
Agile Methoden (z. B. Scrum, Kap. 15.3.3) verwenden autonome, sich selbst organisierende Teams, die ihr Arbeitspensum und ihre Weiterentwicklung auf der Grundlage des tatsächlichen Bedarfs verwalten. Anforderungen sollten zu
40 41
VDI-Richtlinie 2221 Blatt 1: Entwicklung technischer Produkte und Systeme – Modell der Produktentwicklung. VDI, Düsseldorf 2019 Ottosson, S.: Dynamic Product Development – Findings from Participating Action Research in a fast new product development process. Journal of Engineering Design, 7(1996)2, S. 151–169
Stig Ottosson
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Beginn vorhanden sein, können sich aber während der Bearbeitung ändern. Ergebnisse werden iterativ und inkrementell erarbeitet (Abb. 38).
Abb. 38: Arbeitsprinzipien von Scrum
Bei DPD (Kap. 1.4 und 15.4) beginnt ein Projekt mit einer Primärforderung und zwei bis drei Sekundärforderungen, für die Konzepte und Lösungen zum Erfüllen dieser Forderungen entwickelt werden. Wenn ein oder mehrere brauchbare Konzepte und Lösungen gefunden sind, werden weitere Anforderungen hinzugefügt und iterativ bearbeitet. Wesentliches Merkmal ist das vernetzte Arbeiten in Abb. 39 und die intensive Nutzung der Verfahren des Design for X, siehe ►Bereichsintegration. Die bevorzugte Organisationsform für einen IDE-Prozess oder ein IDE-Projekt ist die ►Dynamische Navigation.
Abb. 39: Vernetzte Arbeitsschritte im Dynamic Product Development nach Ottosson41
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PROJEKTORGANISATION
Kapitel 15.7
Dynamische Navigation Kaum eine Produktentwicklung verläuft so, wie sie ursprünglich einmal geplant war, da sich heute Kundenverlangen und Umfelder häufig ändern. Entsprechend muss die Produktentwicklung reagieren können, damit das Produkt trotzdem weitgehend innerhalb von Zeit- und Kostenbudgets entwickelt werden kann. Die Dynamische Navigation ermöglicht diese Flexibilität. In der Dynamischen Navigation werden Prozesse (zur Planung einer Produktentwicklung) und Projekte (zur Durchführung der Produktentwicklung anhand des aktuellen Auftrags) aus kleinen Einheiten, den Prozesselementen (Abb. 40), aufgebaut. Solche Prozesselemente finden sich beispielsweise auch in der VDIRichtlinie 2221 aus dem Jahr 2019. Sie werden zuerst anhand der aktuellen Auftragsdaten konfiguriert und danach entsprechend der Aufgabenstellung kombiniert. Im IDE entstehen die Prozesselemente aus den Aktivitätengruppen des ►IDE-Vorgehensmodells.
Abb. 40: Grundstruktur eines Prozesselements
Unternehmensspezifische Prozesselemente werden anhand von Analysen typischer Prozesse im Unternehmen ermittelt und in einer Bibliothek gespeichert. Die im Unternehmen zugelassenen Methoden, Verfahren, Werkzeuge, Hilfsmittel usw. werden den jeweiligen Prozesselementen zugeordnet. Ihre Kombination
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kann entweder anhand von Erfahrungen aus vorherigen Prozessen und Projekten oder mit dem ►Morphologischen Kasten erfolgen. Die rechnerunterstützte Modellierung eines Prozesses in der Planungsebene kann mit handelsüblicher Software für das Projektmanagement erfolgen. Eine Software zum vereinfachten Aufbau grafischer Darstellungen ohne logische Verknüpfung der Elemente ist dafür nicht geeignet. Erforderlich ist auch, dass diese Software die Kombinationen dokumentiert und den so entstehenden Prozess simulieren kann (Abb. 41).
Abb. 41: Vereinfachte Darstellung der dynamischen Navigation (ERP = Enterprise Resource Planning)
Kommt es mit einem konkreten Auftrag zur Durchführung der Produktentwicklung, werden die Auftragsdaten sowie eventuelle Zeit- und Kostenbudgets in den Prozess eingespeist und dieser als Projekt in der Ausführungsebene gestartet. Wesentlich dabei ist, dass die gewählte Software bei der Projektbearbeitung ein Monitoring in Echtzeit durchführen und das Überschreiten von Grenzwerten beispielsweise bei der Bearbeitungsdauer melden kann. In einem solchen Fall wird auf der Planungsebene der Prozess mit den aktuellen Projektdaten erneut simuliert und so lange verändert, bis • die Vorgaben durch Änderungen der Prozesskonfiguration erreichbar sind, • eine (mit dem Auftraggeber abgestimmte) Änderung von Auftragsdaten/ Produkteigenschaften zum Erreichen der Vorgaben führt oder • dem Auftraggeber anhand der aktuellen Prozessdokumentation dargestellt werden kann, dass seine Vorgaben mit den gewünschten Änderungen nicht eingehalten werden können. Danach kann das Projekt in der Ausführungsebene mit den nun geänderten Daten aus dem Prozess weitergeführt werden.
64
PROJEKTORGANISATION
Kapitel 15.5
Kreativitätsmuster Im Entwicklungsprozess durchläuft eine Produktidee verschiedene Stadien der zunehmenden Detaillierung, um von einer ersten Eingebung über Konzepte und Prototypen zu einem gebrauchstauglichen, herstellbaren und wettbewerbsfähigen Produkt zu gelangen. Dieser Prozess wird in Produktentwicklungsmodellen traditionell in Phasen entlang eines zeitlichen Verlaufs beschrieben. Alternativ ist es aber auch möglich, die Produktentwicklung anhand von grundlegenden Mustern zu beschreiben, die dem Entwicklungsteam immer wieder begegnen. Eines der bekanntesten Muster ist die zunehmende Konkretisierung von Ideen, wie sie beispielsweise im Design Squiggle42 dargestellt ist, in dem sich aus einem anfänglichen Wirrwarr der Möglichkeiten eine Designlösung herauskristallisiert (Abb. 42 links). Diese 2D-Visualisierung lässt sich auch in den dreidimensionalen Raum übertragen. Dabei wird aus der Linie ein Pfad, den das Entwicklungsteam in einer hügeligen Landschaft43 voller möglicher Konzepte und Lösungsmöglichkeiten geht (Abb. 42 rechts). So kann die parallele Bearbeitung vieler Konzepte mit unterschiedlichen Detaillierungsgraden erfasst werden.
Abb. 42: Übertragung des allgemeinen Designprozesses (links, nach Newman42 und Sanders44) in eine 3D-Landschaft (rechts)
Anhand der Landschaftsdarstellung können darüber hinaus weitere Muster im Produktentwicklungsprozess veranschaulicht werden, unter anderem der Gegensatz zwischen Divergenz und Konvergenz45. Mit diesen Begriffen werden Denkund Handlungsweisen beschrieben, die einerseits zur Erweiterung des Betrachtungshorizonts und zur Entstehung vieler Alternativlösungen beitragen (Divergenz) und andererseits eine Fokussierung und Entscheidung für Alternativen herbeiführen (Konvergenz), wie in Abb. 43 links gezeigt.
Stefanie Rothkötter
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Abb. 43: Visuelles Verständnis von Kreativitätsmustern in der Produktentwicklung
Sobald ein Entwicklungsteam identifiziert hat, welcher dieser gegensätzlichen Modi im aktuellen Projektstadium benötigt wird, kann es gezielt entsprechende Kreativmethoden auswählen. Beispielsweise eignen sich Werkzeuge der Ideengeneration für divergente Phasen, während die Konzeptbewertung beispielsweise mittels einer ►Nutzwertanalyse konvergente Phasen unterstützt. Ein weiteres wesentliches Paar von Mustern ist der Gegensatz zwischen kumulativer Entwicklung und konzeptioneller Umorientierung46: Die kumulative Entwicklung bezeichnet eine inkrementelle, iterative Verfeinerung von Produktkonzepten, wohingegen bei der konzeptionellen Umorientierung ein oft schlagartiger Wechsel in eine neue Richtung stattfindet (Abb. 43 rechts). Dem Richtungswechsel geht meist eine Eingebung wie der sprichwörtliche „Geistesblitz“ voraus. Die Kenntnis dieser Muster kann das Team dabei unterstützen, Produktideen einzuordnen und den eigenen Entwicklungsprozess nachzuvollziehen.
42 43 44
45 46
Newman, D.: The Process of Design Squiggle. 2002. https://thedesignsquiggle.com, Zugriff am 21.07.2020 Vajna, S.; Clement, S.; Jordan, A.; Bercsey, T.: The Autogenetic Design Theory. An evolutionary view of the design process. Journal of Engineering Design 16(2005)4, S. 423–440 Sanders, E. B.-N.: Is sustainable innovation an oxymoron? In P. Stebbing and U. Tischner (Hrsg.): Changing paradigms: Designing for a sustainable future. Birkhäuser – De Gruyter, Basel 2019 Simonton, D. K.: Creativity as blind variation and selective retention. Is the creative process Darwinian? Psychological Inquiry (1999), S. 309–328 Crilly, N.: The structure of design revolutions. Kuhnian paradigm shifts in creative problem solving. Design Issues 26(2010)1, S. 54–66
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PROJEKTORGANISATION
Kapitel 17.3
Wissensbereitstellung Wissen ist (neben Mensch, Maschine, Material, Finanzmitteln und Information) der sechste Produktionsfaktor, dem 60 % bis 80 % der betrieblichen Gesamtwertschöpfung zugerechnet werden47. Der Erfolg des IDE beruht wesentlich auf dem Wissen, den Erfahrungen, der Kreativität und der Kompetenz der am Projekt arbeitenden Menschen, die für die ganzheitliche und integrierte Entwicklung ihr jeweiliges Wissen aus allen Phasen des Produktlebenszyklus miteinander teilen und nutzen. Voraussetzung dafür ist die gemeinsame Wissenskultur (Abb. 44).
Abb. 44: Elemente der Wissenskultur im IDE
Wissen existiert nur im Kopf des Menschen. Soll es von einem Menschen (Sender) zu einem anderen Menschen (Empfänger) weitergegeben oder auf einem externen Medium (Buch, Speicher usw.) gespeichert werden, kann Wissen nur über seine Bestandteile beschrieben werden (Kap. 17): • darin enthaltene Daten und Informationen, beispielsweise Ausgangssituation, Umfelder, gefordertes Leistungsangebot, • Regeln und Metaregeln (Regeln zur Anwendung von Regeln), Voraussetzungen, welche die Regeln und Metaregeln zur Durchführung benötigen und wie Daten und Informationen miteinander zusammenhängen und • welche Ergebnisse entstehen können, beispielsweise das neue Produkt mit dem geforderten Leistungsangebot.
47
Spath, D. (Hrsg.): Wissensarbeit: Zwischen strengen Prozessen und kreativem Spielraum. Gesellschaft für Industrielle Informationstechnik und Organisation mbH, Berlin 2011; Jaspers, W.: Faktor Wissen in der heutigen Zeit immer wichtiger. https://www.businesswissen.de, Zugriff am 08.07.2020
Sándor Vajna
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Vertraut der Empfänger dem Sender und empfindet er die empfangenen Inhalte als wahr und für sich nützlich, dann führt das Zusammenspiel von Daten, Informationen, Regeln und Metaregeln beim Empfänger zu neuem Wissen. Deswegen setzen sich die Inhalte von Lehrbüchern, Gebrauchsanweisungen, Produktbeschreibungen usw. immer aus diesen vier Komponenten zusammen. Gerade eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ist im IDE-Team beim Teilen des Wissens wichtig. • Damit ein Wissensgeber sein Wissen weitergibt, muss er dem Empfänger vertrauen können, dass dieser das erworbene Wissen im beabsichtigten Kontext nutzt und dadurch dem Wissensgeber kein Nachteil entsteht. Schließlich erwartet der Geber auch eine bestimmte Kompensation für die Weitergabe. • Beim Nehmer beruht die Akzeptanz des übertragenen Wissens auf dem Vertrauen, dass der Geber angemessenes, korrektes und nur solches Wissen weitergibt, das dem Nehmer in seiner Arbeit nützt. Dafür muss der Nehmer den Geber als ausreichend kompetent für die Wissensweitergabe einschätzen. Im IDE wird ein Produkt entwickelt, vorhandenes Wissen genutzt und bei der Entwicklung neues Wissen erzeugt. Zur Nutzung dieses Wissens für zukünftige Entwicklungen muss es gespeichert werden. Dazu eignen sich beispielsweise Projekttagebücher, die Dokumentation von Ideen und Konzepten entlang bekannter ►Kreativitätsmuster, Besprechungsprotokolle und Nutzungsanleitungen. Wissen kann auch in externen Rechnersystemen, beispielsweise in Systemen des Produktdatenmanagements (PDM-Systeme, siehe ►CAD, CAP, PDM) oder in Archivierungssystemen, gespeichert und verwaltet werden. Neben den oben beschriebenen Formen sind dabei auch weitere Formen möglich, beispielsweise Templates, Stücklisten-ähnliche Strukturen, Vorgehensmuster, Best Practices, Algorithmen sowie Programmsysteme. Zudem lassen sich die in solchen Systemen vorhandenen Klassifizierungs- und Suchalgorithmen auf Wissen und Dokumente anwenden, um vorhandene Daten, Informationen und Regeln im jeweils gesuchten Kontext auffinden zu können. In allen diesen Dokumenten sollten alle Ergebnisse und Erkenntnisse in Form von Daten, Informationen, Regeln und Metaregeln erfasst und nachvollziehbar beschrieben werden. Zur Verdeutlichung zeigt Abb. 45 links auf der folgenden Seite eine Passage aus einem Lehrbuch über das strategische Denken48 im Original und rechts nach der Aufgliederung der Inhalte.
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PROJEKTORGANISATION
Kapitel 15.6.2
Abb. 45: Zusammensetzung der Inhalte eines Lehrbuchs48 aus Daten und Informationen, Regeln und Metaregeln sowie dem Ergebnis in Form von Daten und Informationen
Teamaufbau und Arbeitsorganisation Für die Bearbeitung von IDE-Projekten kommt nur die Projektorganisation mit einem Projektteam in Frage. Die Anzahl der Mitglieder im Team sollte ungerade sein, damit es bei Abstimmungen nicht zu Pattsituationen kommen kann, und im Regelfall innerhalb der Führungsspanne von fünf bis neun Mitgliedern liegen (Abb. 15.22). Je nach gewählter Bearbeitungsform (beispielsweise ►Co-Creation) kommen temporär weitere Mitglieder dazu. Das Kernteam soll so zusammengesetzt werden, dass darin Wissen und Kompetenzen zu allen Attributen und allen Phasen des Produktlebenszyklus vertreten sind, also aus den Bereichen Marketing und Vertrieb, Industriedesign, Produktentwicklung, Ergonomie, Produktion, Instandhaltung, Nachhaltigkeit, aus Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität sowie Betriebswirtschaft. Somit ergänzen sich die einzelnen Wissens- und Kompetenzprofile der Teammitglieder für die ganzheitliche Vorgehensweise.
48
Rothschild, W. E.: Putting it all together – A guide to strategic thinking. American Management Association, 1976, S. 25
Sándor Vajna
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Ob das Projektteam einen hauptamtlichen Projektleiter hat, einen nebenamtlichen oder diese Aufgabe nach dem Rotationsprinzip weitergereicht wird, ist die Entscheidung der Teammitglieder. Die Bearbeitung selbst erfolgt mit den Aktivitäten, Methoden und Werkzeugen des ►IDE-Vorgehensmodells. Damit wird sichergestellt, dass alle Aufgaben bearbeitet und erledigt werden. Die Organisation der Bearbeitung entspricht dem Vorgehensmuster aus Abb. 46.
Abb. 46: Vorgehensmuster bei der Projektarbeit im IDE
Nach dem Start des IDE-Projekts erfolgt die Abstimmung aller Beteiligten über die grundsätzlichen Dinge des Projekts (großer Kreis mit schwarzem Rand). Die Arbeit erfolgt überwiegend als parallele Arbeit aller Teammitglieder mit oder ohne Bildung von Teil-Teams mit ihren jeweiligen Abstimmungstreffen (kleine graue Kreise). Wann immer Bedarf besteht, stimmen sich alle Beteiligten ab (großer Kreis mit grauem Rand). Kommt es zu einer grundlegenden Änderung von Anforderungen, Vorgaben oder des Umfelds, werden die aktuellen Aktivitäten angehalten und dokumentiert. Es erfolgt erneut eine Abstimmung aller Beteiligten über die nun geänderte Situation und eine angepasste Planung des Projekts (großer Kreis mit schwarzem Rand). Art und Anzahl der Teamsitzungen zwischen Projektbeginn und Projektende werden nach Abstimmungsbedarf vereinbart. Zum Ende des Projekts erfolgen Schlusspräsentation und Übergabe der Ergebnisse an den Auftraggeber. Projektteam und Auftraggeber können sich auch zeitlich auf Abstimmungstreffen verständigen, zu denen bestimmte Leistungen zu liefern sind. Diese Zeitpunkte können entweder als Meilensteine (Kap. 15.3.2) oder als Gates (Stage-Gate-Prozess, Kap. 15.3.1) definiert werden.
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PROJEKTORGANISATION
Kapitel 15.9
Co-Creation Co-Creation (CC) hilft bei der Findung und Erforschung von Lösungen in der Produktentwicklung und ist in allen Entwicklungsphasen anwendbar (Abb. 47). Die größten Nutzen und Wirkungen werden in den frühen Phasen erzielt, weil hier Bedürfnisse der späteren Benutzer antizipiert und mögliche Nutzungsszenarien generiert werden können. Gleiches gilt für das Erforschen des impliziten Wissens von Personen und für das vertiefte Verständnis ihrer Wünsche, Träume und Erwartungen an das Produkt.
Abb. 47: Co-Creation innerhalb des IDE-Produktlebenszyklus. M = Herstellungstechniken und -werkzeuge, T = Erzähltechniken und -werkzeuge zum Formulieren von Erwartungen, E = Aktivitäten zum Umsetzen
CC bedeutet Zusammenarbeit von Produktentwicklern, Experten aus verschiedenen Disziplinen, zukünftigen Benutzern und weiteren Stakeholdern, um ein gemeinsames Problemverständnis zu erlangen und daraus einen ganzheitlichen Ansatz abzuleiten. Freiheit und Breite von CC erlauben den Beginn der Entwurfsarbeiten, ohne vorher zu wissen, wie die Ergebnisse sein werden (z. B. Produkt, Dienstleistung, System usw.).
Abb. 48: Co-Creation in frühen Phasen
Juan Carlos Briede-Westermeyer, Elizabeth B.-N. Sanders, Bélgica Pacheco-Blanco
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Vor der Anwendung von CC ist es wichtig, dass die für Entwicklung und Leitung des CC verantwortliche Person sich als Moderator sieht und nicht als Experten des gemeinsamen Arbeitsprozesses. Vielmehr sollen alle Stakeholder beteiligt und darin unterstützt werden, geplante Ziele in einer entspannten und den Kreativitätsfluss fördernden Atmosphäre zu erreichen. Zum Gewährleisten der aktiven und engagierten Beteiligung der Teilnehmer enthält CC die Aktivitäten Machen (M, making), Erzählen (T, telling) und Umsetzen (E, enacting). Mit diesen Aktivitäten wird sichergestellt, dass Wissen und Erfahrungen zum gemeinsamen Verständnis des Problems geteilt werden (Abb. 48). Nachdem die Teilnehmer ausgewählt und ihre Alltagsaktivitäten untersucht wurden, folgen die Identifikation und anschließende Priorisierung von Fragestellungen, bevor die kritische Aktivität ausgewählt wird. Dann werden Lösungsideen durch die Aktivitäten Machen, Erzählen und Umsetzen generiert. Alle Ideen werden gemeinsam getestet und bewertet (Abb. 49).
Abb. 49: Co-Creation in den frühen Phasen der Produktentwicklung (Fuzzy Front End, FFE)
Die folgenden Schritte eignen sich zur Umsetzung von Co-Creation: 1.
Wählen Sie Ihre Teilnehmer aus: Laden Sie die späteren Nutzer, die von der Nutzung (möglicherweise) Betroffenen und die Entwickler für die Umsetzung des Entwurfs ein. Es ist wichtig, dass die Vielfalt der Teilnehmer die mehrdimensionale Komplexität der zu behandelnden Aufgabe abdeckt.
2. Erkunden Sie die alltäglichen Aktivitäten Ihrer Teilnehmer: Besuchen Sie diese in ihren Umfeldern und beobachten Sie, wie sie dort leben und arbei-
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PROJEKTORGANISATION
ten. Finden Sie heraus, was in ihren alltäglichen Aktivitäten funktioniert und was nicht. 3. Identifizieren Sie die Probleme Ihrer Teilnehmer: Diskutieren Sie mit den Teilnehmern über deren wichtigste Probleme oder Herausforderungen in ihrem Leben. Lernen Sie ihre Träume und Bedürfnisse für die Zukunft und das, was sie darüber denken, kennen. 4. Priorisieren Sie die Probleme Ihrer Teilnehmer: Arbeiten Sie mit den Teilnehmern daran, ihre unerfüllten Bedürfnisse und Träume zu priorisieren. 5. Wählen Sie die wichtigsten problematischen Aktivitäten aus: Vor dem Beginn der nächsten Bearbeitungsphase binden Sie Ihre Teilnehmer in die Auswahl der nun zu bearbeitenden alltäglichen Aktivitäten oder Träume für die Zukunft ein. 6. Erleichtern Sie den Teilnehmern die Generierung von Ideen: Setzen Sie zum Wecken der Kreativität der Teilnehmer Aktivitäten ein, die das Machen, Erzählen und Umsetzen von Ideen ermöglichen. Fördern Sie ihre Phantasie zum Entwickeln solcher Ideen, welche ihre Probleme lösen oder ihnen helfen, ihre Träume zu verwirklichen. 7. Testen und validieren Sie die Ideen als Konzepte: Überführen Sie Ideen in Konzepte und stellen Sie Prototypen her. Motivieren Sie die Teilnehmer zum Testen der Prototypen, damit sie diese in weiteren Schritten auf der Grundlage ihrer Eindrücke verfeinern. Diskutieren Sie mit ihnen die vielversprechendsten Konzepte, um zu erfahren, was sie darüber denken und fühlen. Da die Zusammenarbeit mit Kunden bzw. späteren Benutzern und das gemeinsame Generieren von Ideen stets notwendige Aktivitäten während der Entwicklung im IDE sind, begleitet Co-Creation alle IDE-Aktivitäten vom Fuzzy Front End bis zur Produktionsfreigabe des Produkts.
Julie Le Cardinal
Kapitel 15.8
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Störungsvermeidung in Entscheidungsprozessen Ein Produktentwicklungsprojekt ist üblicherweise ein komplexes System, bei dem viele Interessengruppen zusammenarbeiten müssen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Die Arbeit in einem Produktentwicklungsprojekt ist durch kontinuierliche Entscheidungsfindung innerhalb des Projektteams gekennzeichnet. Aufgrund der Tatsache, dass in Entwicklungsprojekten viele verschiedene und divergierende Anforderungen und Einflüsse gleichzeitig berücksichtigt werden müssen, sind solche Entscheidungen von komplexer Natur, was unter anderem auch die Zusammenarbeit von Experten aus verschiedenen Bereichen erfordert. Die Auswahl ungeeigneter Teammitglieder (in Bezug auf Fähigkeiten, Wissen, Verhalten usw.) erhöht die Gefahr schlechter, unreflektierter und falscher Entscheidungen, wobei solche Entscheidungen in der Regel zu Störungen im Projektablauf führen. Daher ist die Auswahl geeigneter Mitglieder (Akteure) für das Projektteam entscheidend für den Erfolg des Projekts und damit für die Entwicklungsqualität des Produkts selbst. Zur Lösung solcher Entscheidungsfragen steht mit SACADO49 ein systemischer Ansatz zur Verringerung der Risiken bei der Entscheidungsfindung hinsichtlich der Wahl der Akteure für ein Projekt zur Verfügung. SACADO unterstützt die Wahl des richtigen Akteurs, um Entscheidungen sowohl in der Konzeption des Projekts als auch in seinem Ablauf zu verbessern. Zudem hilft es, die dabei gewonnenen Erkenntnisse für weitere Projekte zu nutzen. SACADO besteht aus zwei Elementen zum Unterstützen der Auswahl-Entscheidung bezogen auf Akteure: • Vorgehensweise für das Finden eines geeigneten Akteurs, damit Störungen im Projektablauf vermieden werden können (Abb. 50), • Entscheidungsformular für die Auswahl eines Akteurs, das sowohl den Auswahlprozess als auch das Befolgen der Vorgehensweise unterstützt und
49
Abkürzung von „Système d’Aide au Choix d’Acteur et aux Décisions d’Organisation“ (Unterstützungssystem zur Auswahl von Akteuren und zur Unterstützung von Entscheidungen in Organisationen)
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PROJEKTORGANISATION
durch Bewertungsschritte die weitere Verwendung von Arbeitsergebnissen und getroffenen Entscheidungen ermöglicht.
Abb. 50: Vorgehensweise zur Auswahl eines Akteurs und Einflüsse auf die Auswahl50
Die Bearbeitung folgender Fragen ist das Hauptelement der Vorgehensweise: 1.
Welche Aufgaben in welchem Umfeld soll der zu wählende Akteur erfüllen?
2. Was sind seine erforderlichen Fähigkeiten und Kompetenzen? 3. Welche Fähigkeiten und Kompetenzen sind bei den einzelnen Kandidaten vorhanden? 4. Welcher der Kandidaten bietet den besten Kompromiss aus Fähigkeiten und Kompetenzen in Bezug auf Qualität, Kosten und Zeit? 5. Welches sind die Risiken (in Bezug auf Qualität, Kosten und Zeit), die der auszuwählende Akteur für das Projekt verursachen könnte? 6. Gibt es ein Verfahren zum Kontrollieren der ausgewählten Person in Bezug auf diese Risiken oder einen bei Bedarf einzuführenden Aktionsplan zur Risikobeseitigung?
50
Mekhilef, M.; Stal Le Cardinal, J.: A pragmatic methodology to capture and analyse decision dysfunctions in development projects. Technovation 25(2005)4, S. 407–420
Julie Le Cardinal
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Zur Unterstützung der Entscheidungsträger beim Befolgen der Vorgehensweise sollten die folgenden und wesentlich das Projekt charakterisierenden Daten gesammelt und wie folgt strukturiert werden: • Projektkontext, • Auftraggeber mit Auftragszeitpunkt (Datum) und Auftragnehmer (Datum), • durchzuführende Aufgaben, quantifiziert in Bezug auf Qualitätsziele, Kosten und Zeit, • für diese Aufgaben erforderliche Kompetenzen (Wissen, Know-how und Einstellung), • in Frage kommende Akteure, der ausgewählte Akteur sowie die Begründung seiner Auswahl, • Risikoabschätzung auf der Grundlage der Kompetenzen und Fähigkeiten des gewählten Akteurs im Verhältnis zu den erforderlichen Kompetenzen einerseits und den zu bearbeitenden Aufgaben andererseits, wobei die Aufgaben als Aktionsplan beschrieben werden. Für jedes Risiko und für jede Aktion werden der verantwortliche Akteur und die jeweiligen Fertigstellungstermine angegeben. • eine quantifizierte Bewertung der Ergebnisse aller durchgeführten Maßnahmen mit möglichen Lücken in Bezug auf Qualität, Kosten und Zeit Diese Daten können mit einem Entscheidungsformular strukturiert erfasst werden (Abb. 15.35). Dieses Formular ermöglicht es auch, solche Funktionsstörungen zu analysieren, die bei früheren Entscheidungen aufgetreten sind. Um einen Gesamteindruck von den Funktionsstörungen im Auswahlprozess eines Akteurs zu erhalten, empfiehlt es sich, die hier beschriebene Analyse auch auf die Analyse aller Störungen während einer bestimmten Zeit oder in einem bestimmten Projektumfang auszudehnen und daraus mögliche Wiederholungsmuster oder Typologien abzuleiten. Die Untersuchung aller Projekte eines Unternehmens oder zumindest eines Teils davon ermöglicht es, die wichtigsten und einflussreichsten Kategorien von Störungen zu bestimmen, die den Problemen im Zusammenhang mit der Projektorganisation im Unternehmen entsprechen.
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Methoden
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Vajna, S. Rothkötter (Hrsg.), Produkte entwickeln mit IDE, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32033-1_4
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METHODEN
Einführung Für die Produktentwicklung existieren unterschiedlichste Methodensammlungen, beispielsweise das Normenwerk des DIN51, die Richtlinien des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI)52, die Einheitsblätter des VDMA53 oder Publikationen aus der Praxis und von Forschungsinstitutionen. Auswahl und Anwendung dieser Methoden sind dabei immer von der aktuellen Aufgabe abhängig. Bei der Produktentwicklung mit IDE werden in allen Aktivitäten eine Vielzahl und Vielfalt von Methoden und Werkzeugen eingesetzt, die ausführlich in den Kapiteln des IDE-Buchs und anwendungsorientiert in den Kapiteln dieses Leitfadens beschrieben werden. Auf der Basis von Ergebnissen und Erkenntnissen aus vielen industriellen Produktentwicklungen mit IDE entstand die in Abb. 52 dargestellte Zuordnungsmatrix von Methoden und Werkzeugen an das ►IDE-Vorgehensmodell, deren Strukturierung in Abb. 51 vorgestellt wird.
Abb. 51: Struktur der Zuordnungsmatrix in Abb. 52
Aus dieser Vielfalt werden folgende Methoden zur Unterstützung der eigenen Arbeit und ihre jeweilige Anwendung näher beschrieben: • Management der Arbeitszeit und der Arbeitsstrategie (Zeitmanagement) • Arbeitsstrukturierung mit Mind Maps sowie Aufgaben- und Terminlisten • Galeriemethode zum gleichwertigen Einbinden aller Mitglieder des IDETeams in den kreativen Lösungsfindungsprozess • Techniken für eine informative und überzeugende Präsentation • Morphologischer Kasten zur Konfiguration und Kombination von Teillösungen zu einer Gesamtlösung.
51 52 53
https://www.din.de, Zugriff am 12.07.2020 https://www.vdi.de/richtlinien, Zugriff am 12.07.2020 https://www.vdma.org/v2viewer/-/v2article/render/15252708, Zugriff am 12.07.2020
Sándor Vajna
Abb. 52: Zuordnung von Methoden und Werkzeugen an das ►IDE-Vorgehensmodell
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METHODEN
Zeitmanagement Das Management der eigenen Arbeitszeit (Zeitmanagement) hat die gleichen Ziele und Auswirkungen wie die ►Dynamische Navigation und das Planen von Produktionsprozessen am Ende der Produktentwicklung (Kap. 2.2.8). Bei beiden entsteht zunächst ein Plan zur Bearbeitung der anstehenden Aufgaben. Durch Umstrukturierung der Bearbeitung, durch Freiräume und Pufferzeiten wird die Flexibilität geschaffen, auch bei sich ändernden Zielen befriedigende Ergebnisse zu erreichen, ohne sich dabei selbst zu überfordern. Ziel des Zeitmanagements ist es, proaktiv die zur Verfügung stehende Zeit zu gestalten und dadurch zu beherrschen. Dabei sollte man die eigene Leistungs- und die Konzentrationskurve kennen (Abb. 53), um die richtigen Prioritäten zu setzen sowie Störungen und „Zeitfresser“ zu reduzieren (Abb. 54).
Abb. 53: Leistungskurve und Konzentrationskurve nach REFA54
Damit Zeit für spontane Dinge (Ideen, Kreativität) und für die Reaktion auf Störungen bleibt, werden nur etwa 60 % der Arbeitszeit verplant, während 40 % als Erholungszeit, Freiraum und als Puffer vorgehalten werden, damit Arbeitszufriedenheit und Leistungsniveau erhalten bleiben. Täglich sollte ein Zeitbereich als ungestörte „stille Stunde“ ohne fest geplanten Inhalt vorgesehen werden. Ergänzend zum Zeitplan wird eine Maßnahmenliste mit offenen Punkten und zu erledigenden Aufgaben geführt. Maßnahmenliste und Zeitplan werden immer dann aktualisiert, wenn entweder eine Aufgabe abgeschlossen wurde oder eine neue Aufgabe zu bearbeiten ist. Die Inhalte der Maßnahmenliste werden anhand des Verhältnisses von Aufwand zum Erledigen der Aufgabe und Nutzen für einen selbst laufend priorisiert. Diese erfolgt nach der angestrebten Qualität der Erledigung einer Aufgabe. Diese kann perfekt, gut (aber nicht perfekt) im Sinne der 80:20-Regel und ausreichend (Minimalaufwand) sein.
Sándor Vajna
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Abb. 54: Typische Zeitfresser mit möglichen Ursachen und Maßnahmen zur Abhilfe54
Für die tägliche Zeitplanung werden die aktuellen Aufgaben zusammengestellt. Ein realistischer Tagesplan enthält nur so viele Aufgaben, wie an diesem Tag erledigt werden können. Dabei kann nach der ALPEN-Methode sortiert werden: • A: Auflisten aller geplanten Aktivitäten (Aufgaben, Termine, Routinetätigkeiten, unerledigte Dinge) • L: Schätzen der Länge der Bearbeitung für jede Aktivität • P: Reservieren von Pufferzeit für Unvorhergesehenes • E: Treffen von Entscheidungen zu Prioritäten, Kürzungen und Delegation von Aufgaben an andere, denn Aufgaben sollten von den Personen durchgeführt werden, die sie am besten bewältigen können. Die Priorisierung kann mit einer ABC-Analyse55 erfolgen. Unangenehme Aufgaben sollten dabei als erste erledigt werden, damit nach ihrer Erledigung der psychologische Druck weicht. Die Bearbeitung nachfolgender Aufgaben fällt dadurch leichter. • N: Am Ende einer Arbeitsphase bzw. eines Arbeitstags erfolgt die Nachkontrolle und eine kritische Bilanz der Ergebnisse. Dabei können noch unerledigte Aufgaben neu priorisiert und auf den Folgetag vorgetragen werden.
54 55
Seiwert, L.: Mehr Zeit für das Wesentliche. Moderne Industrie Landsberg, 1987 Krieger, W.: Stichwort ABC-Analyse. In: Gabler Wirtschaftslexikon, Springer Gabler Verlag. http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/76978/abc-analyse-v8.html, Zugriff am 10.07.2020
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METHODEN
Arbeitsstrukturierung Für eine effiziente Durchführung von Aufgaben mit Hilfe von Strukturierungsmethoden haben sich die hier dargestellten Methoden als hilfreich erwiesen. In der Mind Map56 (Gedankenlandkarte) werden Beziehungen zwischen verschiedenen Begriffen grafisch dargestellt. Das Thema der Mind Map wird in der Mitte der Darstellung positioniert. Daran werden verschiedene Hauptstränge (Äste) mit weiteren Verästelungen angebracht. Auf oder an die Äste werden Schlüsselwörter und Kernbegriffe notiert. Mit Farben, Schraffuren, Skizzen und Stickern können Gedankengänge verdeutlicht und optisch hervorgehoben werden (Abb. 55).
Abb. 55: Grundstruktur und Elemente einer Mind Map
Die Mind Map stimuliert mit den grafischen und textuellen Darstellungen gleichzeitig verschiedene Areale in beiden Gehirn-Hemisphären. Dies führt zu schnellerer Wahrnehmung und Rezeption sowie zur besseren Vernetzung des Themas im Gehirn. Eine Mind Map eignet sich besonders, um neue Informationen aufzuarbeiten und zu vernetzen, deren Struktur noch unbekannt ist (etwa beim Brainstorming). Besonders vorteilhaft ist dabei der freie grafische Aufbau, der es jedem Anwender erlaubt, zu jedem Zeitpunkt der Erstellung an einer beliebigen Position etwas nachzutragen. Bei der Erstellung einer Mind Map gilt Folgendes:
Sándor Vajna
Medium
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Vorgehen und Inhalte
Qualität der Darstellung
• Papier • Inhalte von Hand • Inhalte erkennbar (stets Querformat) erstellen darstellen • Größe mindestens A2 • Bleistift und Radier• eindeutige Erkennbar• Papier leicht transporgummi (leichte Ändekeit der Inhalte tierbar und überall rung von Inhalten) vor künstlerischer nutzbar • Texte, Symbole, Ausgestaltung Skizzen Die Ergebnisse aus einer Anwendung der Mind Map können beispielsweise als Grundlage für das ►Strukturieren von Lösungselementen in Einflussnetzwerken verwendet werden.
Termin- und Aufgabenlisten werden im Wesentlichen zur Planung und Darstellung von Projekten (auch beim eigenen ►Zeitmanagement) sowie zum Informationsaustausch verwendet. Darin können Arbeitsvorgänge nicht nur zeitlich verfolgt, sondern auch erforderliche Arbeitskräfte und Geräte zugeordnet werden. Das Ziel der Listendarstellung ist daher vorwiegend die Erstellung einfach zu lesender und handhabbarer Vorgaben für die ausführenden Stellen. Termin- und Aufgabenlisten werden häufig mit Programmen für Textverarbeitung und Tabellenkalkulation erstellt. Termin- und Aufgabenlisten enthalten üblicherweise folgende Informationen: • • • • • • •
56
Nummer des Vorgangs Vorgangsbeschreibung Beginn des Vorgangs mit Soll- und Istdatum Ende des Vorgangs mit Soll- und Istdatum ausführende Stelle(n) zu verwendende Werkzeuge und Hilfsmittel Ablageorte für Dokumentation
Schmitz, R.; Spilker, U.; Schmelzer, J. A.: Strategische Verhandlungsvorbereitung. Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler, Wiesbaden 2006
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METHODEN
Galeriemethode Die Galeriemethode57, 58 kombiniert individuelle Arbeit mit Gruppenarbeit. Ihr Kennzeichen ist die schriftliche Diskussion, die in der Stille und ohne Wortwechsel stattfindet. Diese Methode kann immer dann eingesetzt werden, wenn es darum geht, alle Mitglieder des IDE-Teams gleichermaßen in den Lösungsfindungsprozess einzubinden und dabei die komplette Kreativität und alles Wissen des Teams zu nutzen, ohne dass die aktiveren und/oder dominanteren Teammitglieder durch ihr Engagement oder ihre Interessenslage andere Mitglieder in deren Kreativität und beim Erbringen ihrer Beiträge behindern. Zur Durchführung werden zuerst in einer Metaplanabfrage so viele Themen identifiziert, wie es Teammitglieder gibt. Diese Strukturierung sollte nicht länger als 30 Minuten dauern. Die gefundenen Themen werden oben auf große Bögen (Formate A2 oder A1) geschrieben oder als Karten gepinnt und die Bögen wie in einer Galerie aufgehängt. • Jedes Teammitglied stellt sich vor einen Bogen und entwirft in Einzelarbeit und in einem festen Zeitraum (20 bis 30 Minuten) mögliche Konzepte/Lösungen in schriftlicher Form oder in Skizzenform und hängt sie unter das Thema. Diese Arbeit findet ohne Diskussionen in völliger Stille statt. • Nach dem ersten Durchgang können alle Lösungen im Team präsentiert und diskutiert werden, sodass jedes Teammitglied alle Lösungen erfassen und daraus Anregungen für seine eigene Arbeit ziehen kann. Dieser Schritt sollte nicht mehr als 20 Minuten dauern. Alternativ wird auf die Diskussion verzichtet und gleich die zweite Runde begonnen. Vorteilhaft hierbei ist, dass sich Lösungen individueller entwickeln können. Nachteilig sind mögliche Lösungsentwicklungen, die nicht mehr kompatibel zu anderen Lösungen sein können. • Zu Beginn der zweiten Runde rücken alle Teammitglieder einen Bogen weiter und erarbeiten wieder in der Stille Konzepte und Lösungen als Weiterentwicklung der vorgefunden Lösungen und hängen diese unter den Ergebnissen der ersten Runde auf. Vorteil ist, dass die vorgefundene Lösung nun aus der Sicht eines anderen Teammitglieds bearbeitet wird und dadurch weitere Facetten bekommt, was gerade beim IDE mit Teammitgliedern aus unterschiedlichen Phasen des Produktlebenszyklus von Bedeutung ist. Es ist aber auch möglich, dass jeder Mitarbeiter an „seinen“ Bogen zurückkehrt und aufbauend auf der Diskussion die eigenen Lösungen weiterentwickelt. Das führt
Sándor Vajna
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einerseits zu in sich homogeneren Lösungen. Andererseits wird dabei auf die kreativen Impulse der anderen Teammitglieder verzichtet und es kann zu inkompatiblen Lösungen kommen. • Die Bearbeitung endet, wenn alle Teammitglieder alle Bögen bearbeitet haben. In der Abschlussdiskussion sollten die erarbeiteten Lösungen beurteilt und konsolidiert werden. • Ob sich Einzelarbeiten vor den Bögen und Gruppendiskussion abwechseln oder nicht, liegt in der Entscheidung des Teams. Es sind auch Mischformen möglich, bei denen die erste Hälfte der Bearbeitung ohne Zwischendiskussionen erfolgt. Wenn die Lösungen zu konvergieren beginnen, sind Zwischendiskussionen hilfreich, weil dadurch die Konvergenz verstärkt werden kann. Vorteile der Galeriemethode sind das intuitive Arbeiten in der Gruppe ohne Diskussionen, die Erkennbarkeit der individuellen Leistung jedes Teammitglieds, die kontinuierliche gegenseitige Beeinflussung und Verbesserung der Lösungen sowie dokumentationsfähige, gut auswertbare und archivierbare Unterlagen.
Abb. 56: Arbeiten mit der Galeriemethode
57 58
Pahl, G.; Beitz, W.: Konstruktionslehre. 3. Auflage. Springer, Heidelberg 1993 Schäppi, K.; Andreasen, M.; Kirchgeorg, M.; Radermacher F. R. (Hrsg.): Handbuch Produktentwicklung. Hanser, München 2005
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METHODEN
Präsentationstechnik Bei der Präsentation ist die vortragende Person der entscheidende Faktor für den Präsentationserfolg. Sie sollte pünktlich erscheinen und die Präsentationshilfsmittel beherrschen. Ein Vortrag sollte zu den angegebenen Zeiten beginnen und enden. Genauso wichtig ist ein klares Vortragsziel sowie die Auswahl der richtigen Medien, ein zum Vortrag passendes Umfeld und eine an das Publikum angepasste Rhetorik. Zur Unterstützung des Transports der Informationen zum Publikum dienen Medien, Rhetorik und nonverbale Mittel. Bei einem Vortrag werden in der Regel Folien projiziert, die nach folgenden Regeln aufgebaut werden sollten: Inhalte • Informationsvermittlung • nur Kernaussagen (kein Fließtext) • Bilder • Videoclips
Animationen
Lesbarkeit
Anzahl Folien
• pro 2 Minuten • nicht zu viele • Mindestgröße eine Folie • hilfreich beim der Schriftart: • max. Anzahl = Aufbau kom16 Punkt Dauer Vortrag plexer Grafiken • geringer Grad in Minuten und Texte der Schwärzung • einfacher Hintergrund
Die Rhetorik dient dazu, die Konzentration der Zuhörer zu halten und sie mit den präsentierten Inhalten zu fesseln. Dafür gibt es verbale und nonverbale Mittel. Für die verbalen Mittel gilt Folgendes: Sprache • klar und einfach • Hauptsätze • Dialekt nur als Merkmal einer Betonung
Stimmführung • nicht monoton • Betonung entsprechend der Bedeutung • Atempausen gemäß der Interpunktion
Verhalten • frei reden, nicht ablesen • keine Effekthascherei
Interaktion • direkte Ansprache des Fragenden • kurze und präzise Antwort • Beispiele aus dem Umfeld der Zuhörer
Sándor Vajna
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Für die nonverbalen Mittel gilt: Körperhaltung • aufrecht stehen • locker bleiben, nicht verkrampfen
Blickkontakt • stets mit Publikum • nicht mit den Folien
Gestik
Mimik
• Unterstützung • Unterstützung von Aussagen von Aussagen • muss zu Aus• passend zum sagen passen, Kulturkreis des sonst unglaubPublikums würdig
Eine Präsentation kann nach der K-A-U-B-Formel59 strukturiert werden (Abb. 57): • Kontaktphase (K): Kontaktaufnahme zu den Zuhörern • Aufmerksamkeitsphase (A): „Abholen“ der Zuhörer, Nennen von Vortragsthemen und Vortragszielen, Hinweis auf die geplante Dauer des Vortrags • Unterrichtung (U): Abarbeiten der einzelnen Themen der Reihe nach, ohne Themen zu vermischen • Bekräftigung (B): Alle wichtigen Punkte werden am Schluss wiederholt, damit die Zuhörer den Gesamtzusammenhang des Vortrages erkennen können und weil sie sich an das zuletzt Gesagte am besten erinnern
Abb. 57: Spannungsbogen in einem Vortrag (K, A, U, B: Elemente der K-A-U-B-Formel und ihre Anwendungszeitpunkte)
59
Seiwert, L.: Mehr Zeit für das Wesentliche. Moderne Industrie Landsberg, 1987
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METHODEN
Morphologischer Kasten Der Morphologische Kasten nach ZWICKY60 ist ein Hilfsmittel zur Konfiguration und Kombination von Teillösungen zu einer Gesamtlösung, die im IDE ein dingliches oder nicht-dingliches Artefakt oder Kombinationen daraus (Kap. 15.7) sein kann. Der Morphologische Kasten besteht üblicherweise aus einer zweidimensionalen oder (in Einzelfällen) aus einer räumlichen Matrix. Die allgemeine Vorgehensweise gliedert sich in folgende Schritte61: 1.
Formulierung einer spezifischen Fragestellung. Diese wird soweit verallgemeinert, wie es möglich und vorteilhaft scheint.
2. Analyse der verallgemeinerten Fragestellung in Hinsicht auf alle für die Lösung wesentlichen Parameter Schematische Ableitung sämtlicher Lösungen anhand dieser Parameter (jede Kette ergibt eine Möglichkeit) Aussortieren von Unvereinbarem oder von Lösungen, deren Realisierung fundamentale physikalische Gesetze im Wege stehen 3. Bestimmung der idealen Leistung oder des Ideal-Werts aller Lösungen, gefolgt von einer realistischen Schätzung der praktischen Leistung nach Berücksichtigung von Unwirksamkeiten und Verlusten Vergleich aller Teillösungen eines Merkmals bezüglich ihres relativen Werts in Hinsicht auf die Erfordernisse Wahl der Lösungen, welche am besten geeignet sind, diese Erfordernisse zu erfüllen 4. Detaillierte Analyse, Entwurf und Konstruktion der gewählten Lösung. Dies erfordert meist eine zusätzliche Analyse von einigen Lösungen der ursprünglichen allgemeinen Fragestellung.
60 61
Zwicky, F.: Entdecken, Erfinden, Forschen im morphologischen Weltbild. München 1966, Glarus 1989 Unter Verwendung von Material aus www.zwicky-stiftung.ch, Zugriff am 01.07.2020
Sándor Vajna
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In der konkreten Durchführung werden gemäß den Schritten 1 und 2 die Fragestellung formuliert, verallgemeinert und die daraus resultierenden Merkmale der benötigten Lösung zusammengestellt. Das Zusammenspiel dieser Merkmale entspricht dem Leistungsangebot eines Produkts im IDE, wobei der Morphologische Kasten sowohl auf das Leistungsvermögen und das Leistungsverhalten des Produkts angewendet werden kann. Im ersten Teilschritt von Schritt 3 wird die Matrix aufgebaut, indem die Merkmale in die erste Spalte eingetragen werden. Für jedes Merkmal werden alternative Teillösungen entwickelt und zellenweise in die Zeile des jeweiligen Merkmals eingetragen (Konfiguration). In einer Zelle (die auch als Bauraum betrachtet werden kann) stehen die Beschreibung der jeweiligen Teillösung, Angaben über Schnittstellen zu anderen Teillösungen (beispielsweise Gestalt, Material-, Energie- und Signalflüsse, zeitliche, qualitative und quantitative Vorgaben) sowie eine Wertigkeit. Eine Wertigkeit kann aus Kunden- und/oder Anbietersicht erstellt werden. Im letzteren Fall spielen dabei beispielsweise die Produzierbarkeit einer Teillösung oder ihre Wirtschaftlichkeit eine Rolle. Im zweiten und dritten Teilschritt von Schritt 3 werden die Teillösungen jeweils pro Merkmal, d. h. in einer Zeile, priorisiert. Im Schritt 4 werden nun einzelne Teillösungen aus jeder Zeile (im ersten Durchgang die jeweils besten Teillösungen) miteinander verbunden (Kombination), aber nur, wenn die Schnittstellen der jeweils beteiligten Teillösungen zueinander passen. Sollte dies nicht zutreffen, dann ist diese Kombination nicht möglich. Es kann dann entweder die fragliche Teillösung soweit verändert werden, dass die Schnittstellen passen, oder es wird eine andere Teillösung ausgewählt. Das sollte für mehrere mögliche Kombinationen durchgeführt und deren jeweilige Gesamtwertigkeiten durch Aufsummierung (und gegebenenfalls Synthese) der einzelnen Wertigkeiten bestimmt werden. Danach erfolgt der Vergleich der so entstandenen Kombinationen anhand ihrer Wertigkeit. Die Handhabung der Zellen in einem Morphologischen Kasten ist auch vergleichbar mit den Prozesselementen in der ►Dynamischen Navigation.
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METHODEN
Die beiden Abbildungen zeigen die Arbeit mit dem Morphologischen Kasten anhand der Konfiguration eines Tintenstrahldruckers62.
Abb. 58: Aufstellen eines Morphologischen Kastens mit vier alternativen Teillösungen. Die Zahl in einer Zelle hinter der Beschreibung ist die Wertigkeit dieser Zelle.
Abb. 59: Erstellen von zwei Kombinationsalternativen
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Das Beispiel verwendet unter anderem Material aus www.ibim.de/techniken, Zugriff am 01.07.2020
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Querschnittsfunktionen
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Vajna, S. Rothkötter (Hrsg.), Produkte entwickeln mit IDE, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32033-1_5
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Kapitel 14
Bereichsintegration durch DfX und XfD Design for X (DfX) und X for Design (XfD) ermöglichen die Integration von Bereichen des Produktlebenszyklus, gekennzeichnet mit „X“ als Platzhalter. Damit wird sichergestellt, dass Wissen und Informationen in Form von Ergebnissen, Entscheidungen, Auswirkungen und Einflüssen von der Produktentwicklung in alle anderen Bereiche des Produktlebenszyklus und zurück fließen können, damit nicht nur die Vorgaben der Kunden (manifestiert im Zielprofil der Attribute) realisiert werden, sondern auch das daraus resultierende Produkt sinnvoll und wirtschaftlich erzeugt, verteilt, benutzt und rückgeführt werden kann. Beim Design for X beginnen die Entscheidungen zur späteren Realisierung des Produkts in der Phase von Entwurf/Auslegung. Ab hier wird die entstehende Lösung kontinuierlich an die Möglichkeiten der nachgelagerten Bereiche im Produktlebenszyklus angepasst, indem deren Vorgaben (beispielsweise verfügbare Produktionstechnologien) berücksichtigt werden. Dies kann zu Einschränkungen von Lösungsvielfalt und Lösungsgüte führen, weil nur solche Lösungen verwendet werden dürfen, die in den nachgelagerten Bereichen auch realisiert werden können. Bei DfX sind die nachgelagerten Bereiche die Auftraggeber für die Produktentwicklung (Abb. 60).
Abb. 60: Methodische Bereichsintegration mit DfX
Beim X for Design stellen die anderen Bereiche ihre Realisierungsmöglichkeiten als Leistungsangebot vor Beginn der Produktentwicklung zur Verfügung. Die Produktentwicklung kann entweder diese bei der Konkretisierung der Lösung berücksichtigen oder stattdessen Anforderungen formulieren, die zu einer Änderung der Realisierungsmöglichkeiten führen können (beispielsweise die Vergabe der Produktion an Dritte). Entscheidungen zur konkreten Realisierung eines Produkts müssen erst in der Prozessplanung, also zum spätestmöglichen Zeitpunkt, fallen. In XfD ist die Produktentwicklung der Auftraggeber für alle ande-
Sándor Vajna
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ren Bereiche (Abb. 61). Dieser Ansatz unterstreicht die Rolle der Produktentwicklung als wesentliche Innovationsquelle des Unternehmens.
Abb. 61: Methodische Bereichsintegration mit XfD
Es gibt zahlreiche DfX-Methoden, von denen einige in Abb. 62 dargestellt sind.
Abb. 62: Auswahl von DfX-Methoden in der Produktentwicklung63
Bis auf die beiden Methoden Design for Safety (DfSA) und Design for Sustainability (DfSu) können alle DfX auf XfD umgestellt werden. • Das Realisieren des Attributs Sicherheit (DfSa) stellt sicher, dass das Produkt Kunden, Nutzern und Betroffenen keinen Schaden zufügen kann. Sicherheit ist ein Festkriterium, dem sich Konzeption und Realisierung des Produkts
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Ottosson, S.: Developing and managing innovation in a fast changing and complex world – Benefiting from dynamic principles. Springer, London 2018
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Sándor Vajna
unterzuordnen haben. Das Ergebnis des Prozesses DfSa ist ein Produkt, das aufgrund seiner Entwicklung sicher ist („safe by design“). Der umgedrehte Ansatz SafD ist nicht möglich, da er nur Realisierungsbeispiele liefern kann. • Anforderungen aus dem Sicherstellen und Bewahren der Nachhaltigkeit während Entstehung, Nutzung und Rückführung des Produkts (DfSu) resultieren aus den planetaren und den sozialen Grenzen, die in Verbindung mit einer vernünftigen Wirtschaftlichkeit in allen Phasen des Produktlebens immer einzuhalten sind. Diese Grenzen schränken die Möglichkeiten jeder Fachdisziplin ein. Das Ergebnis von DfSu ist ein Produkt, das aufgrund seiner Entwicklung nachhaltig ist („sustainable by design“). Der umgedrehte Ansatz SufD kann auch nur Realisierungsbeispiele liefern.
Abhängigkeitsanalyse Während der Produktentwicklung im IDE kann zu einem bestimmten Zeitpunkt die Frage auftreten, welche der geplanten Aktivitäten oder Lösungselemente aus einer Menge von Alternativen zuerst bearbeitet werden soll oder wie die beste Reihenfolge der Bearbeitung aussehen kann. Antworten darauf kann eine Abhängigkeitsanalyse geben. Die zu untersuchenden Elemente werden untereinander in die erste Spalte einer Matrix und spaltenweise nebeneinander in die erste Zeile eingetragen (Abb. 63 links).
Abb. 63: Aufbau der Abhängigkeitsmatrix
Es wird der Einfluss der Elemente in der ersten Spalte („von“) auf die Elemente in den weiteren Spalten („auf“) geprüft. Bei einer Beeinflussung wird in den Schnittpunkt von beeinflussendem und abhängigem Element der Wert „1“ eingetragen, sonst der Wert „0“. Es ist auch möglich, statt der binären Wahl den Grad der Beeinflussung durch Werte beispielsweise von 1 (geringe Beeinflussung) bis
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Beate Bender
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3 (hohe Beeinflussung) zu erfassen. Die Addition der Werte einer Zeile zeigt an, wie stark das Element dieser Zeile andere Elemente beeinflusst. Die Addition der Werte einer Spalte zeigt an, wie sehr das Element in der Spalte von anderen Elementen abhängig ist (Abb. 63 rechts). Zur Priorisierung der Bearbeitung der Elemente wird eine zweite Matrix aufgebaut, in der die Anzahl von Zeilen und Spalten der Anzahl von Zahlen zwischen 0 bis zur maximalen Zahl der Beeinflussungen/Abhängigkeiten entspricht. Diese wird in vier Quadranten eingeteilt (Abb. 64 links). Darin werden für jedes Element seine Beeinflussungs- und Abhängigkeitswerte eingetragen, sodass nun eine Bearbeitungsreihenfolge der Elemente vorliegt (Abb. 64 rechts).
Abb. 64: Aufbau der Priorisierungsmatrix
Im konkreten Fall sollte mit der Bearbeitung von Element E4 (Beeinflussung B=5, Abhängigkeit A=4) begonnen und dann das Elemente E3 (B=3, A=3) bearbeitet werden, gefolgt vom Element E5 (B=4, A=2) und E2 (B=2, A=4). Die Elemente E6 und E1 können zu späteren Zeitpunkten bearbeitet werden.
Anforderungsengineering Beim Entwickeln von Produkten werden definierte Ziele verfolgt, die nicht ausschließlich aus den Kundenanforderungen bestehen. Wichtige Ziele ergeben sich auch aus anderen, der Entwicklung vor- und nachgelagerten Lebenszyklusphasen wie beispielsweise der Marktsituation, dem Herstellungsprozess, dem Einkauf, der Entsorgung oder der Aufarbeitung des Produkts (siehe auch Abb. 2.4). Darüber hinaus müssen die Auftraggeber- bzw. Kundenanforderungen mit Hilfe des Know-hows des Anbieters so konkretisiert und ergänzt werden, dass sie als Vorgabe für die Entwicklung eines vollständigen Produkts geeignet sind. Der Abgleich zwischen den Zielen, den Anforderungen und den tatsächlichen Eigenschaften des Produkts findet im Rahmen der Validierung und Verifikation statt (Abb. 65).
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Abb. 65: Weiterentwicklung von Zielsystem und Anforderungsbasis in der Produktentwicklung
Das Ermitteln und Nachverfolgen der Anforderungen an das Produkt stellt somit eine Querschnittsaufgabe dar, die beginnend mit dem Ermitteln des initialen Zielsystems über den gesamten Produktentwicklungsprozess weitergeführt werden muss64. Aus dem initialen Zielsystem, dessen Einzelziele noch widersprüchlich untereinander sein können, wird eine initiale Anforderungsliste abgeleitet, deren Anforderungen untereinander konsistent sein müssen. Dabei müssen alle relevanten Stakeholder aus allen Lebenszyklusphasen einbezogen werden.
Abb. 66: Hilfsmittel in verschiedenen Lebenszyklusphasen zur Identifikation von Anforderungen
Die Ableitung der initialen Anforderungsliste erfolgt häufig im Kontext des Lasten-/Pflichtenheftprozesses. Der Prozess transformiert die aus Sicht des Kunden formulierten Anforderungen und Wünsche an das Produkt mit Hilfe des gewählten Lösungskonzepts des Auftragnehmers in ein für den Auftragnehmer spezifisches Lastenheft. Die Checkliste zur Ermittlung von Anforderungen (Abb. 67) soll dabei helfen, die initialen Anforderungen an das zu entwickelnde Produkt möglichst vollständig zu erfassen.
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Im IDE entspricht das initiale Zielsystem bzw. Lastenheft dem Zielprofil der Attribute (Kundensicht). Aus der initialen Anforderungsbasis entstehen Pflichtenheft und Ist-Profil der Attribute. Bender, B.; Gericke, K. (Hrsg.): Pahl/Beitz Konstruktionslehre: Methoden und Anwendung erfolgreicher Produktentwicklung. Springer, Heidelberg Berlin 2020
Beate Bender
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Konzept Stoff • Ein- und Ausgangsprodukte: chemische und physikalische Eigenschaften • Hilfsstoffe • vorgeschriebene Werkstoffe (Nahrungsmittelgesetz u. ä.) • Materialfluss und -transport Energie • Leistung • Verlust • Wirkungsgrad • Zustandsgrößen: Druck, Temperatur • Erwärmung • Kühlung • Anschlussenergie • Speicherung • Arbeitsaufnahme • Energieumformung Signal • Ein-/Ausgangssignale • Anzeigeart • Betriebsgeräte • Überwachungsgeräte • Signalform Geometrie • Abmaße • Durchmesser • Bauraum • Anzahl • Anordnung • Anschluss • Erweiterung Mechanik • Gewicht • Last • Kräfte: statisch, dynamisch • Reibung • Wärmespannung • Stabilität • Festigkeit: Verformung, Steifigkeit • Kinematik: Bewegungsart und -richtung, Beschleunigung, Geschwindigkeit • Kinetik: Federeigenschaften, Resonanzen
Elektrik/Elektronik • Nennspannung • Nennströme • Netzschwankungen • Sicherung • Schirmung • Filterung • EMV • Anschluss • Verdrahtung • Isolation • Luft-/Kriechstrecken • Stecker • Modulordnung • Funktionsgruppen • SMD-Bauteile • Zugänglichkeit • Austausch Software • Integration • Schnittstellen • Updates • Hardware • Testbarkeit • Notbetrieb Sicherheit • Sicherheitstechnik: unmittelbar, mittelbar, hinweisend • Betriebssicherheit • Arbeitssicherheit • Umweltsicherheit • Gefährdungspotential • Grenzrisiko • Risikobewertung
Produktlebensphasen Einkauf • Make-or-BuyStrategie • A-Lieferanten • Local Content • Katalogbaugruppen • operativer/strategischer Einkauf • Datenaustausch
Instandhaltung • Wartungsfreiheit bzw. Anzahl und Zeitbedarf der Wartung • Inspektion • Austausch und Instandsetzung • Reinigung • Schmierung • Einsatzort
Fertigung • Einschränkung durch Produktionsstätte • größte herstellbare Abmessung • bevorzugtes Fertigungsverfahren • Fertigungsmittel • mögliche Qualität und Toleranzen
Recycling • Wiederverwendung • Entsorgung • Endlagerung • Beseitigung • Schad- und Gefahrstoffe • recyclingkritische Stoffe • Zugänglichkeit • Lösbarkeit
Kontrolle • Mess- und Prüfmöglichkeit • besondere Vorschriften (z. B. TÜV, DIN, ISO)
Transport • Begrenzung durch Hebezeuge • Bahnprofil • Transportwege nach Größe und Gewicht • Versandart und -bedingungen • Lieferzeit
Montage • besondere Montagevorschriften • Zusammenbau • Einbau • Baustellenmontage • Fundamentierung • Werkzeuge • Hilfsstoffe • Sicherheitsdatenblätter
Gebrauch • Geräuscharmut • Verschleißrate • Anwendung und Absatzgebiet • Einsatzort (z. B. schwefelige Atmosphäre, Tropen, ...) • Feuchtigkeit • Dienstleistung
Ergonomie • Mensch-MaschineBeziehung • Anzeige und Bedienelemente: Bedienungsart, Übersichtlichkeit, Beleuchtung Organisation • anthropometrische Maße Planung Nachhaltigkeit • Bedienkräfte • max. zulässige • Öko-Bilanz • taktile Kodierung Herstellkosten • Energieeffizienz • Haptik • Werkzeugkosten • Systemkosten • Investition Industrial Design Markt • Amortisation • Bedeutung • Wettbewerber • Ende der • ästhetische • Kundensegmente Entwicklung Funktionen • Kundenverhalten • Anzeichenfunktionen • Liefertermin und -bedürfnisse • Netzplan für • Symbolfunktionen • marktüblicher Zwischenschritte • ProduktwiederStandard • Pönalen erkennungswert • Verkaufszahlen • Farbgebung • Unternehmens• Trends • Sinus-Milieu Know-how
Abb. 67: Checkliste zur Ermittlung von Anforderungen65
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Kapitel 18.1
CAx-Systeme CAx (mit „x“ als Platzhalter für Buchstaben, die ein Anwendungsgebiet näher beschreiben) ist der Dachbegriff für unterschiedliche Systeme zur Rechnerunterstützung in der Produktentwicklung. Die Anwendung von CAx-Systemen unterstützt Produktentwickler im IDE in allen Phasen der Produktentwicklung, die relevanten Entscheidungen über ein Produkt zum jeweils bestgeeigneten Zeitpunkt zu treffen, da mit CAx-Systemen verschiedene Produktalternativen sehr realitätsnah ausgelegt, berechnet und simuliert werden können. In diesem Abschnitt werden verschiedene Formen der Rechnerunterstützung für die Produktentwicklung erläutert. Auf die Möglichkeiten bei CAID und CAE, CAD, CAP und PDM sowie die Optimierung wird in den folgenden Abschnitten eingegangen. Diese Unterstützung hat die in Abb. 68 dargestellte Struktur.
Abb. 68: Struktur der Systeme zur Rechnerunterstützung in der Produktentwicklung
• Aktivitäten in der Produktentwicklung werden beim ►IDE-Vorgehensmodell beschrieben, deren Management im Abschnitt ►Projektstrukturierung und der Aufbau des Projektteams im Abschnitt ►Teamaufbau und Arbeitsorganisation. • Im digitalen Zwilling, dem vollständigen und ganzheitlichen 3D-Modell des entstehenden Produkts, legen alle Anwendungen ihren Datenbestand als (Partial-)Modelle ab. Der digitale Zwilling begleitet das Produkt während des
Sándor Vajna
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ganzen Produktlebens. Er bildet zu jedem Zeitpunkt den aktuellen Zustand des Produkts (wie wurde es entwickelt, wie geliefert und installiert, wie aktualisiert usw.), seine Entstehungsgeschichte sowie die damit verbundenen Strukturen, Prozesse, Berechnungen und Simulationen digital ab. • Das gemeinsame Wissensarchiv umfasst die in Kap. 17 dargestellten unterschiedlichen Wissensarten und Wissensstrukturen (siehe auch ►Wissensbereitstellung). • Das Produktdatenmanagement-System (PDM) stellt den kontrollierten Fluss aller Informationen und Dokumente in und aus dem IDE während des gesamten Produktlebenszyklus sicher. Bei der Freigabe für die Produktion werden diese Dokumente vom PDM-System an das ERP-System (Enterprise Resource Planning) übergeben. Das PDM-System kann auch das digitale Archiv verwalten, selbst wenn Teile davon nicht digitalisiert sind (Kap. 18.5). Abb. 69 zeigt die Flüsse der wichtigsten Informationen und Dokumente in der Produktentwicklung.
Abb. 69: Informations- und Dokumentenflüsse in der Produktentwicklung
Für die Arbeit mit CAx-Systemen gilt grundsätzlich, dass im Vorfeld klar sein muss, was an welchem System modelliert werden soll und was nicht, da bestimmte Arbeiten besser mit anderen Techniken als der Rechnerunterstützung erledigt werden können, beispielsweise mit BAD, PAD und MAD (Abb. 15.16 und 16.2). Zu klären ist auch, wie die Arbeitsergebnisse von einem System zur Weiterbearbeitung an ein anderes System ohne Informationsverlust weitergegeben werden können.
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Kapitel 18.1.1
CAx-Systeme: CAID und CAE Für die Rechnerunterstützung bei Auslegung und Simulation von Produkten kommen vor allem CAID-Systeme (CAID: Computer-aided Industrial Design) und CAE-Systeme (CAE: Computer-aided Engineering) in Betracht. CAID-Systeme dienen der Visualisierung von Ideen und Produkten. Sie sind auf die Bedürfnisse von Industriedesignern abgestimmt und kommen vor allem in den Phasen der Gestaltung, des Strak66 sowie von Entwicklung und Auslegung zum Einsatz. Wird nicht das physische Produkt, sondern lediglich dessen digitales Modell benötigt (beispielsweise für Renderings oder Animationen) sind CAID-Systeme die beste Wahl für die Modellierung. CAID-Systeme arbeiten mit professionellen Werkzeugen zur Flächenmodellierung mit NURBS und bieten so deutliche Vorteile gegenüber CAD-Systemen in der Erstellung krümmungsstetiger Flächen. Die Modellierung an CAID-System kann zudem ohne konkrete Maßangaben erfolgen. Prinzipiell kommen sie in folgenden Bereichen zum Einsatz: • • • •
Digitale Formgestaltung und Freiformflächenmodellierung Visualisierung und Animation von Produkten Prototypenerstellung mittels additiven Fertigungstechniken Erzeugen von Strakflächen
Kennzeichnend für CAID-Systeme ist, dass sie weniger auf technische Detaillierung, sondern auf Flächenqualität und Ästhetik fokussiert sind. Daher bieten sie zahlreiche Möglichkeiten, Flächen direkt zu manipulieren und jederzeit hinsichtlich ihrer ästhetischen Eigenschaften zu untersuchen. Die einzelnen Werkzeuge bieten dazu eine Vielfalt möglicher mathematischer Beschreibungen an, die hier in Reihenfolge ihrer möglichen Genauigkeit aufgeführt werden, nämlich Polygonmodellierung, Subdivision-Surface-Modellierung, T-Spline-Modellierung sowie NURBS-Modellierung (Kap. 18.1.1). CAID-Systeme arbeiten hauptsächlich mit dem direkten Modellieren (siehe dazu auch ►CAD, CAP, PDM). CAE-Systeme bestehen aus Anwendungen zu Berechnung, Simulation und Bewertung von Belastungsfällen, Zusammenwirken von Komponenten in einem Bauteil, Strömungsverhalten usw. und dem daraus resultierenden Verhalten des Produkts. Dabei ist das Ziel die Vorhersage von Produkteigenschaften, damit ver66
Ein Strak ist die genaue geometrische Darstellung der sichtbaren Flächen unter Berücksichtigung aller technischen und formalästhetischen Anforderungen. https://media.daimler.com/ marsMediaSite/de/instance/ko/Glossar-Wichtige-Design-Fachbegriffe.xhtml?oid=40651441
Andreas W. Achatzi, Fabian Pilz, Martin Wiesner
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schiedene Alternativen bewertet und miteinander verglichen werden können. Das führt nicht nur zum rechtzeitigen Erkennen notwendiger Änderungen, sondern auch zur Reduktion von Entwicklungszeiten und Entwicklungskosten, da die Notwendigkeit für das Testen von realen Prototypen verringert wird. Das Besondere an Simulationen im CAE ist die Möglichkeit, umfangreiche und komplexe Produkte und Systeme weitgehend und mit in der Regel ausreichender Genauigkeit zu berechnen. Zu den gebräuchlichsten Anwendungen gehören FEM-Systeme zur strukturmechanischen Simulation und Bewertung (FEM: Finite-Elemente-Methode), CFDSysteme für strömungstechnische Probleme (CFD: Computational Fluid Dynamics) sowie MKS für die Simulation von Bewegungen und des dynamischen Verhaltens (MKS: Mehrkörpersystem): • Die FEM ist ein numerisches Verfahren zur Analyse von Festigkeits- und Steifigkeitsproblemen. Grundlage der FEM ist die Diskretisierung, welche eine Geometrie durch ein Netz aus endlichen Elementen abbildet und berechenbar beschreibt. Die Knoten des Netzes dienen als Ansatzpunkte für partielle Differentialgleichungen, welche in Näherungsform gelöst werden. Dabei werden beispielsweise Verzerrungen von Punkten, Spannungen oder Reaktionskräfte ermittelt. Anhand von Übergangsbedingungen zwischen den Elementen wird gewährleistet, dass die Summe der Berechnungsergebnisse aller Punkte das Verhalten des gesamten Bauteils wiedergibt. • CFD behandelt die numerische Strömungsmechanik. Strömungen werden anhand partieller Differentialgleichungen beschrieben. So werden für Zielwerte numerische Näherungslösungen ermittelt, indem (wie bei FEM) die Berechnungen bzw. Gleichungen auf einzelne endliche Elemente bezogen werden. Rechnerunterstützt können komplexe Gleichungen aufgestellt und bearbeitet werden. Für Modellierung und Aufbereitung der zu untersuchenden Fälle bieten sich CAD-Systeme mit entsprechenden Modulen, für Simulationen spezielle CAE-Systeme an. • MKS ist ein Modell zur Beschreibung von Systemen von überwiegend technischen Körpern, wie beispielsweise Maschinen oder Roboter. Grundlegend dabei ist die Betrachtung von massebehafteten Körpern, die über Koppelelemente verbunden sind. Über diese Koppelelemente werden Kräfte und Momente übertragen, die an diskreten Punkten der Körper angreifen. Nötig dazu sind Parameter über die Körper wie deren räumliche Lage, Geschwindigkeit oder Masse, welche in Bewegungsgleichungen eingesetzt werden. Bei Simulationen werden so kinematische und kinetische Probleme untersucht.
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Kapitel 18.1.2 und 18.1.4
CAx-Systeme: CAD, CAP, PDM Für die Rechnerunterstützung bei Konstruktion und Detaillierung von Produkten kommen vor allem CAD-Systeme (CAD: Computer-aided Design) in Betracht, während CAP-Systeme (CAP: Computer-aided Planning) zum Aufbereiten des Produkts für die Produktion dienen. CAD-Systeme bestehen aus leistungsfähigen räumlichen Geometriemodellierern, die neben direkten Modellierungsmodulen Parametrik-, Feature-, 2D-, Optimierungs- und Wissensmodule enthalten. CAD-Systeme kommen in den Phasen Entwicklung und Auslegung sowie Konstruktion und Detaillierung für den Aufbau und die Weiterentwicklung des 3D-Geometriemodells zum Einsatz. Es gibt unterschiedliche Modellierungstechniken, die teilweise gleichzeitig beim Modellieren verwendet werden können: 1. Direktes Modellieren: Erzeugen von Modellen ohne die Verwendung von Parametern oder Referenzen zwischen Modellelementen. Beim direkten Modellieren werden Geometrieelemente direkt dimensioniert und verformt. Typischer Anwendungsfall ist der Aufbau des 3D-Geometriemodells in Entwurf und Auslegung sowie Konstruktion und Detaillierung. 2. Skizzenbasiertes Modellieren mit 3D-Generierung: Auf der Arbeitsebene wird zunächst eine zweidimensionale Skizze erzeugt, aus der durch Translation entlang beliebiger Leitlinien, Rotation und äquidistanter Verdickung dreidimensionale Volumina (beschrieben durch ihre geschlossene Oberfläche, B-Rep) und, durch Hinzufügen von Materialeigenschaften, Körper entstehen. 3. Parametrisches Modellieren: Dimensionen und Topologien (beispielsweise Maße und Schalter, die festlegen, ob bestimmte Teile des Geometriemodells vorhanden sein sollen oder nicht) werden über im Vorhinein definierte Parameter beschrieben. Durch diese Modellierungsart können Bauteiländerungen und Varianten ohne Bearbeitung des eigentlichen Geometriemodells nach vorher festgelegten Regeln erstellt werden. Diese Modellierungsart kommt vor allem bei der Erstellung von Baureihen und Normteilen zum Einsatz, in dem das Grundgerüst des Modells wenig Veränderungen ausgesetzt ist. 4. Featurebasiertes Modellieren beruht auf der Vergabe von nichtgeometrischen Informationen (beispielsweise Materialeigenschaften, Fertigungs-
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informationen, logistische Informationen) an Geometriemodelle oder an geometrieverändernde Funktionen. So können einer Bohrung Fertigungsinformationen hinzugefügt werden, auch wenn diese erst in der Fertigungsplanung verwendet werden. Weiterhin ist es möglich, Features für den Eigenbedarf zu erstellen („user-defined features“). Jedes 3D-Geometriemodell besitzt eine Entstehungshistorie, wodurch jeder Abschnitt der Modellierung verändert werden kann.
Abb. 70: Prozessplanung und Produktionssteuerung. PDM: Produktdatenmanagement. ERP: Enterprise Resource Planning. MES: Manufacturing Execution System (Produktionsleitsystem). Nach Vajna et al.67
CAP-Systeme unterstützen die Prozessplanung am Ende der Produktentwicklung. Hier geht es um Prüfung der einzelnen Produktkonzepte auf Produzierbarkeit und die Vorbereitung der notwendigen Produktionsschritte. Zum Zeitpunkt der Freigabe für die Fertigung müssen alle das Produkt und seine Leistung beschreibenden technischen, logistischen und administrativen Informationen und Dokumente vorliegen, damit es vollständig und fehlerfrei hergestellt werden kann68.
67
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Vajna, S.; Weber, Chr.; Zeman, K.; Hehenberger, P.; Gerhard, D.; Wartzack, S.: CAx für Ingenieure. Eine praxisbezogene Einführung (dritte und vollständig neu bearbeitete Auflage). Springer, Berlin Heidelberg 2018 Diese Aussage gilt für jedes Produkt, unabhängig davon, ob es sich dabei um ein dingliches Produkt, ein virtuelles Produkt, eine Software, eine Dienstleistung (im weitesten Sinne) oder um (fast beliebige) Kombinationen daraus handelt (vergleiche auch Kap. 2).
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Kapitel 18.1.3
Nachdem in den Phasen und Bereichen vor der Prozessplanung die Leistungsfähigkeit des Produkts und seines Verhaltens über seine Attribute beschrieben wurde (Leitfrage: Was ist zu tun?), werden in der Prozessplanung die technologisch sinnvollen und möglichen Arbeitsprozesse festgelegt, die Bearbeitungsmaschinen zugeordnet und die Daten aufbereitet, die zur Steuerung der Bearbeitungsmaschinen und zum Erzielen einer bestimmten Verarbeitungsqualität erforderlich sind (Leitfrage: Wie und womit können die Vorgaben in der Fertigung umgesetzt werden?). PDM-Systeme (Produktdatenmanagement) erzeugen, ändern, versionieren und archivieren alle Änderungszustände von Produktstrukturen in der Produktentwicklung entlang des Produktlebenszyklus, genauso wie das Management von Produktdokumenten und Prozessdaten (beispielsweise Workflows) sowie von Ideen, Konzepten und Entwürfen. Zu CAx-Systemen existieren leistungsfähige Schnittstellen. ERP-Systeme (Enterprise Resource Planning) umfassen die Planung aller Betriebsmittel eines Unternehmens, im Wesentlichen die Unterstützung von Materialwirtschaft, Produktion und Distribution.
CAx-Systeme: Optimierung Das Zusammenspiel von CAD-Systemen mit CAE-Systemen bildet die Voraussetzung für die Optimierung eines Produkts. Grundsätzlich können solche Optimierungen in allen Phasen des IDE erfolgen. Sie sind aber während der Entwicklung eines Produkts zwingend notwendig, damit die beste (und nicht nur die nächstbeste) Lösung für jede einzelne geforderte Eigenschaft des Produkts gefunden wird. Eine Auswahl möglicher Optimierungsverfahren zeigt Abb. 71.
Abb. 71: Mögliche Optimierungsverfahren
Andreas W. Achatzi, Fabian Pilz, Martin Wiesner
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Für das IDE haben sich Optimierungsverfahren mit Evolutionären Algorithmen69, die auf der Basis der biologischen Evolution arbeiten, als besonders leistungsfähig erwiesen, da diese u. a. in der Lage sind, gleichzeitig mehrere Kriterien zu optimieren (multikriterielle Optimierung). Das in Abb. 72 dargestellte Verfahren zeigt ein im IDE bewährtes System (siehe auch Abb. 18.8). Grundsätzlich dient im IDE die neutrale Beschreibung des Leistungsangebots des Produkts durch Attribute als Ausgangsbasis für die Optimierung. Derzeit können mit diesem System Optimierungen von Geometrie, Material und Herstellungsverfahren des Produkts durchgeführt werden. Folgende Methoden finden derzeit Anwendung: • Parameteroptimierung: Die das Produkt beschreibenden Parameter dienen als Designvariablen, die im Laufe der Optimierung mit einem entsprechenden Algorithmus variiert werden, um verschiedene Zustände des Produkts zu erhalten und evaluieren zu können. Dabei können geometrische Parameter, die die Form und Topologie beeinflussen, oder physikalische Parameter, wie beispielsweise Materialkonstanten, eingesetzt werden. • Genetische Algorithmen bilden die Evolution nach, indem sie Populationen von verschiedenen Lösungen erzeugen und diese über Generationen hinweg mittels einer Fitnessfunktion verbessern. Dafür werden die Parameter
Abb. 72: Evolutionäre Optimierung mit Geometriemodellierung, Evaluation und Optimierung
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Hierzu gehören die Genetischen Algorithmen und die Evolutionsstrategien.
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
der Lösung in einen Genotyp codiert (im IDE die Attribute für das neutral beschriebene Leistungsangebot des Produkts). Auf den Genotyp werden drei evolutionäre Operatoren angewendet. Diese Operatoren sind: • Selektion: Lösungen werden anhand ihrer Fähigkeiten und der Umgebungsbedingungen ausgewählt und in die nächste Generation übernommen. • Rekombination: Neue Lösungen werden durch die Kombination zweier oder mehrerer Lösungen erzeugt. • Mutation: Neue Lösungen werden durch spontane und zufällige Änderungen im Genotyp erzeugt. • Geometriemodell: Im Geometriemodelliermodul (üblicherweise ein CADSystem) wird die Startgeneration erzeugt. Diese besteht aus mehreren Versionen (Individuen) des zu optimierenden Modells, die durch Parameter mit jeweils unterschiedlichen Werten generiert wurden. • Evaluationsmodul: Im Evaluationsmodul (üblicherweise ein CAE-System) wird die aktuelle Leistungsfähigkeit der Individuen berechnet. Bei strukturmechanischen Aufgaben kommt dafür ein FEM-System, bei strömungstechnischen Problemen ein CFD-System und bei Bewegungssimulationen ein MKS-System zum Einsatz (►CAID und CAE). Dazu werden die im vorigen Modul generierten aktuellen 3D-Modelldaten in das CAE-System importiert, die Geometrie mit einer endlichen Anzahl von Elementen vernetzt und anschließend die Berechnung durchgeführt. • Optimierungsmodul: Hier werden die Berechnungsergebnisse aus dem Evaluationsmodul bewertet und in entsprechende aktuelle Werte der Fitnessfunktion umgewandelt, die mit der Zielfunktion verglichen wird. Aufgrund dieser Bewertung wird hier festgelegt, welche Individuen mit welcher Wahrscheinlichkeit selektiert, mutiert oder rekombiniert werden. Die davon betroffenen Parameter werden geändert und in einer Zwischendatei an das Geometriemodelliermodul zum Erstellen des aktualisierten Modells übergeben. Wenn das Ergebnis noch nicht den Zielvorgaben entspricht, wird der Optimierungsverlauf wiederholt.
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Kapitel 1.7
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Biologische Prinzipien für die Technik Mit dem IDE können beliebige Arten von Produkten entwickelt werden, deren Bestandteile aus unterschiedlichen Disziplinen stammen können. Mit der neutralen Formulierung des erforderlichen Leistungsangebots durch die Attribute des IDE wird sichergestellt, dass keine Vorfixierung auf bestimmte Lösungen erfolgt (Kunde und Nutzer können natürlich bestimmte Lösungsformen fordern oder ausschließen). Lösungen können im Wesentlichen aus den Disziplinen der Mechanik, Hydraulik, Pneumatik, Elektrik, Elektrotechnik, Optik, Biologie und Software stammen. So lassen sich beispielsweise für eine bestimmte Funktion viele verschiedene, im Ergebnis aber gleichwertige Lösungen in allen diesen Disziplinen oder in Kombinationen daraus finden. Bei dem Ermitteln von Art, Grad und Güte der Erfüllung (Abb. 3.17) sollte diese Vielfalt bewusst mit verwendet werden. Im Folgenden werden mit der Bionik und der Autogenetik zwei Disziplinen vorgestellt, die unterschiedliche Aspekte der biologischen Evolution zum Vorbild für technische Lösungen nehmen. Die Bionik überträgt die Ergebnisse der biologischen Evolution, beispielsweise das Auslegen von technischen Tragwerken analog zur Gestaltung von Baumästen oder das Nutzen des Effekts, dass Bäume immer im Gleichgewicht zu stehen versuchen. Dieser Effekt eignet sich beispielsweise für Brücken. Die Bestandteile solcher Brücken stehen wie Waagen im Gleichgewicht und benötigen keine aufwendige Spannkonstruktion. Die in Abb. 73 gezeigte Szabadság Híd (Freiheitsbrücke) in Budapest besteht aus zwei Balkenwaagen, jeweils im Gleichgewicht, die an den Brückenköpfen beweglich fixiert sind, sodass kleine Auf- und Abbewegungen der beiden Waagen möglich sind. Das Zwischenelement sorgt für die Verbindung und gegenseitige Abstützung der Waagen.
Abb. 73: Zwei Balkenwaagen der Szabadság Híd (Freiheitsbrücke) in Budapest70
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Ein weiterer Anwendungsfall der Bionik ist das Gestalten von Kerbkonturen zur Spannungsminimierung mit der Methode der Zugdreiecke, siehe Abb. 74. Bei dieser Methode werden anstelle eines Viertelkreises als Übergang in einer rechtwinkligen Kerbe gleichschenklige Dreiecke („Zugdreiecke“) verwendet.
Abb. 74: Zugdreiecksmethode zum Verringern von Kerbspannungen nach Mattheck71 (Abbildung auf der Basis von www.planet-wissen.de)
Hierbei überbrückt ein rechtwinkliges und gleichschenkliges Dreieck den Kerbgrund. Das zweite gleichschenklige Dreieck setzt in der Mitte der Hypotenuse des ersten Dreiecks an. Dann wird ein Halbkreis um den Schnittpunkt der Hypotenuse mit der Kerbwandung geschlagen. Aus dem Abstand zwischen dem unteren und dem oberen Schnittpunkt des Halbkreises ergibt sich die Hypotenuse des zweiten Dreiecks. Je nach zur Verfügung stehendem Bauraum können weitere Dreiecke hinzugefügt werden. Über die Verbindungen der einzelnen Hypotenusen wird der resultierende Verlauf der Kerbkontur erzeugt. Die Autogenetische Konstruktionstheorie (AKT, Kap. 1.7) überträgt Verfahren und Prozesse der biologischen Evolution in die Produktentwicklung, die damit zu einer evolutionären multikriteriellen Optimierung wird. Solche Optimierungen können allerdings ohne eine geeignete Rechnerunterstützung kaum durchgeführt werden (Kap. 1.7.4). • Bei jedem Lösungselement des Leistungsvermögens des Produkts werden diejenigen Parameter erfasst, mit denen Eigenschaften des Lösungselements beschrieben werden (beispielsweise bei Festigkeitsfragen Form, Dimensionen und Material der Wandungen eines Bauteils oder bei strömungstechnischen Problemen Form und Dimensionen eines Kanals).
70 71
Abbildung unter Nutzung eines Bildes aus www.karpat-medence.hu Mattheck, C.: Verborgene Gestaltgesetze der Natur. Verlag Forschungszentrum Karlsruhe, 2006, S. 323
Sándor Vajna
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• Die Vorgaben an das Leistungsvermögen werden anhand der Parameter in einer Zielfunktion zusammengeführt. Die Zielfunktion ist dynamisch, da sie sich bei Änderungen des Zielprofils der Attribute oder bei der Änderung weiterer Vorgaben jederzeit selbst verändern kann. • Die evolutionäre Optimierung findet im invertierten Lösungsraum statt, der nur durch die Gesetze der Naturwissenschaften begrenzt ist, in dem die o. a. Disziplinen für mögliche Lösungen berücksichtigt sind und in dem Vorgaben als verbotene Bereiche („Tabuzonen“) modelliert werden, siehe Abb. 75. • Die Lösungselemente werden vor jedem Durchlauf durch die evolutionären Operatoren entsprechend den Unterschieden zwischen Fitness- und Zielfunktion verändert. • Ergebnis einer Optimierung ist das aktuelle Leistungsvermögen als Fitnessfunktion. Konvergieren Ziel- und Fitnessfunktion nicht mehr, ist das Optimierungsziel erreicht.
Abb. 75: Invertierter Lösungsraum der AKT mit Tabuzonen. Die evolutionären Operatoren zur Evolution von Lösungen sind Replikation, Rekombination, Mutation, Gentransfer und Selektion (Kap. 1.7.1); die Vorgehensweisen der Optimierung sind Suchen, Variieren, Vergleichen und Bewerten.
Bei der AKT entsteht nicht eine einzige Lösung, sondern immer eine Menge von gleichwertigen, aber nicht gleichartigen Lösungspopulationen. Alle Lösungen bieten trotz der Unterschiede zwischen ihnen stets die beste Lösung unter den gegebenen Vorgaben und Randbedingungen, aus denen der Produktentwickler die für ihn zum aktuellen Zeitpunkt am besten geeignete Lösung auswählt.
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Kapitel 20
Szenario-Technik Die Szenario-Technik ist eine Methode der Zukunftsvorausschau, durch deren Anwendung verschiedenartige Zukunftsbilder generiert werden können. Die Zukunftsbilder dienen als Grundlage der Erkennung und sukzessiven Erschließung von Geschäftschancen und Technologiefeldern. Somit dient die Szenario-Technik als Werkzeug der strategischen Planung. Durch die Betrachtung von mehr als einer alternativen Zukunft wird ein ergebnisoffener Umgang mit der Zukunft ermöglicht. Zur Ableitung von Szenarien stehen verschiedene Methoden zur Verfügung. Das Vorgehensmodell der agilen strategischen Planung beschreibt sieben Schritte, die zunächst in einer vorgeschriebenen Reihenfolge durchlaufen werden (notwendige Transitionen). Durch Anpassung der gewählten Annahmen werden Teilschritte wiederholt, um das Ergebnis zu schärfen und neue Erkenntnisse einzubringen (optionale Transitionen). 1. Aufgabenanalyse: Definieren Sie die Aufgabenstellung Ihres SzenarioProjekts (beispielsweise abgeleitet aus dem Kundenverlangen, Einsatzumfeldern und Randbedingungen) und dabei insbesondere den Zeithorizont der Betrachtung sowie alle nötigen internen und externen Stakeholder! 2. Einflussanalyse: Sammeln Sie alle Einflussfaktoren Ihrer Aufgabenstellung! Wo möglich quantifizieren Sie die Einflussfaktoren durch eindeutige Deskriptoren. Bewerten Sie alle Einflussfaktoren paarweise auf ihren gegenseitigen Einfluss und bestimmen Sie die 10–15 resultierenden Treibergrößen anhand des Systems Grids (Abb. 20.4). 3. Ableitung von Projektionen: Definieren Sie für die identifizierten Treibergrößen (Schlüsselfaktoren) alternative messbare Projektionen! 4. Konsistenzbewertung: Bewerten Sie die Projektionen der Schlüsselfaktoren jeweils paarweise auf ihre Konsistenz/Widerspruchsfreiheit! 5. Szenario-Entwicklung: Ein Szenario enthält von jedem Schlüsselfaktor exakt eine Projektion. Über deren Bewertungen berechnen Sie die Konsistenzsumme und wählen 3–5 möglichst unterschiedliche Szenarien mit der höchsten Summe aus.
Iris Gräßler, Henrik Thiele, Philipp Scholle
111
Abb. 76: Vorgehensmodell der agilen strategischen Planung
6. Ableitung von Konsequenzen: Formulieren Sie die Szenarien in Prosaform aus und setzen Sie Schwellwerte, wie beispielsweise einen Ölpreis von über 100 $ pro Barrel WTI, für das Eintreten der jeweiligen Szenarien! 7. Transfer: Untersuchen Sie die beschriebenen Szenarien im Kontext von disruptiven Ereignissen, wie beispielsweise einem pandemiebedingten Lockdown! Auf dieser Basis korrigieren Sie Ihre Annahmen und passen diese anhand der optionalen Transitionen an. Die ermittelten und überprüften Szenarien dienen Ihnen nachfolgend als Ausgangspunkt für die Produktentwicklung. Beobachten Sie die Entwicklung der Einflussfaktoren Ihrer Aufgabenstellung genau, um Ihre Strategie zu ändern, falls die Schwellwerte Ihres Szenarios dauerhaft überschritten werden.
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Kapitel 21
Marketing Arbeiten Sie abteilungsübergreifend. Nur ganzheitliche Ideen unter Berücksichtigung von ethischen und moralischen Aspekten, in die alle in einem Unternehmen vertretenen Funktionsbereiche eingebunden sind, führen zum Erfolg des Unternehmens.
1. Der Kunde Der Kunde (die Zielgruppe) steht immer im Vordergrund. Beantworten Sie deshalb folgende Fragen: • • • • •
Was will der Kunde? Welche Bedürfnisse hat er kurz-, mittel- und langfristig? Wie sieht der Markt des Kunden aus? Wer sind seine Mitbewerber und welche Stärken und Schwächen haben sie? Kann ich mit meinem Produkt oder meiner Dienstleistung die Bedürfnisse des Kunden erfüllen? • Welcher Maßnahmen bedarf es hierzu? • Wer sind meine Mitbewerber? Weitere Maßnahmen sind: • Durchführen einer SWOT-Analyse (Stärken-Schwächen-Analyse, Punkt 5, Kap. 2.2.3) • Setzen Sie sich klare Ziele! • Erstellen und verfolgen Sie Ihre Marketingstrategie! • Machen Sie Ihren bestehenden Kunden glücklich und nutzen Sie ihn als Referenz!
2. Erarbeiten Sie mit der Marketingabteilung das Marketingkonzept Das Marketingkonzept – im Folgenden am Beispiel des erfolgreichen Verkaufs von Schrauben erklärt – ist das Herzstück des Marketings. Es muss optimal auf die Zielgruppe ausgerichtet sein und möglichst viele Interessenten ansprechen. Marktforschung: Wer soll die Schrauben kaufen? Definition der Zielgruppe.
Hanns-Joachim Schweizer
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Ein gut ausgearbeitetes Marketingkonzept beginnt immer mit der Zielgruppe. Die erste Frage ist daher: Wer braucht Schrauben und welche? Bevor Sie jedoch Ihr Marketingkonzept erstellen, befragen Sie Handel, Industrie, Bauunternehmen und Heimwerker, welche Schrauben in welcher Qualität, Größe, Beschaffenheit etc. benötigt werden = Marktforschung. Das Befragungsergebnis werten Sie aus und richten Produktion und Vertrieb darauf aus. Die Zielgruppe muss Bedarf für die Schrauben haben. Ihre Zielgruppe ist das Wichtige, danach folgen Ziele, Strategie und Marketingkonzept! Marketingziele: Umsatz, Gewinn, Marktanteil, Zielgruppe, Bekanntheit Nachdem Sie nun Ihre Zielgruppe und deren Bedürfnisse kennen, müssen Sie sich Gedanken machen, wer Ihre Konkurrenz ist, welche Ziele Sie kurzfristig erreichen möchten und wie Sie sich von der Konkurrenz abheben können; d. h. Marktanalyse durchführen und Marketingziele sowie Marketingstrategie festlegen. Alle drei Elemente sind wichtige Bestandteile des Marketingkonzepts. • Fragen Sie sich, wie Sie sich am besten positionieren, um nicht einen großen Anteil vom Umsatz an den Wettbewerb zu verlieren. • Im Rahmen der Marktanalyse haben Sie sich als Ziel gesetzt, insgesamt 1 Mio. € Umsatz und 200.000 € Gewinn zu machen. Da im Jahr 2019 bei der Herstellung von Schrauben und Nieten lt. der Recherche (Statista) 3,8 Mrd. € Umsatz erzielt wurden, erscheint die 1 Mio. ein realistisches Ziel zu sein (0,0263 %). • Ihre eigene Marktrecherche hat ergeben, dass die Schrauben der Mitbewerber eine niedrigere Festigkeitsklasse als Ihre haben. Somit haben Sie hier einen Wettbewerbsvorteil. Das Motto der Marketingstrategie: Wir liefern bessere Qualität zu fairen Preisen.
3. Die vier Elemente des Marketing-Mix (4P) Nachdem Sie Ihre Zielgruppe kennen, ein optimales Produkt dafür geschaffen, Ziele gesetzt und sich klar positioniert haben, geht es an die Ausarbeitung des Marketingkonzepts. Sie definieren die für Ihre Zielgruppe relevanten Marketinginstrumente: Produktpolitik, Preispolitik, Distributionspolitik und Kommunikationspolitik (Kap. 21.1).
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Abb. 77: Die vier Elemente des Marketing-Mix: Product, Place, Price, Promotion (4P)
Beschreiben Sie, welche Marketinginstrumente Sie wie und wann einsetzen. Sie müssen die Budgets für die Maßnahmen einplanen. In unserem Beispiel entscheiden Sie sich für folgenden Marketing-Mix: • Produkt: Die Schraubenvarianten haben Sie definiert. • Place (Distributionspolitik): Der Verkauf erfolgt über das Internet aus dem 50-Quadratmeter-Büro. Zusätzlich machen Sie Telefonverkauf. • Price: Die Qualitätsschrauben verkaufen Sie in Packungen von 10, 50, 100 und 1.000 Stk./Packung. Der Preis liegt je nach Abnahmemenge zwischen 0,05 € und 0,50 €. Sie fertigen die Qualitätsschrauben in Deutschland in einer Garage. Die Herstellkosten liegen bei 0,01 €. • Promotion (Kommunikationspolitik): Sie werben im Internet, in Fachzeitschriften und Baumärkten.
4. Festlegen von Vertriebskanälen (Sales Channels)
Abb. 78: Mögliche Vertriebskanäle zwischen Produzent und Konsument sowohl bei Investitionsgütern als auch bei Konsumgütern
Hanns-Joachim Schweizer
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5. Durchführen einer Stärken-Schwächen-Analyse (SWOT-Analyse) Zu der SWOT-Analyse gehört das Ausloten von Wachstumsmöglichkeiten des Unternehmens unter Beachtung von • Stärken und Schwächen (Strengths and Weaknesses, intern): Betrachtung erfolgsrelevanter Faktoren relativ zur Konkurrenz • Chancen und Gefahren (Opportunities and Threats, extern): wirtschaftliches Umfeld, demographische Entwicklung, Markttrends, Aktivitäten der Konkurrenz, Vertriebswege, politische/gesetzliche Entwicklungen. Mit der SWOT-Analyse können wichtige Entwicklungen, die Einfluss auf die Entwicklung des Unternehmens haben, vorausgesehen werden. Praxisbeispiel: Ein Kosmetikhersteller hatte ein Produkt auf dem Markt, das eine signifikante Umsatzeinbuße verzeichnete und zum Verlustbringer wurde. Das Marktpotential war aber hoch. Das Produkt kam auf den Prüfstand. Die SWOTAnalyse ergab folgendes Profil: Stärken • Marke gut • Kompetenz vorhanden • gutes Distributionsniveau
Schwächen • Wachstumsverlust • Imageverlust
Gefahren • weiterer Verlust an Relevanz • marginaler Player • angreifbar gegenüber Wettbewerb
Auf der Basis dieser Analyseergebnisse und durch Befragen von Konsumenten entstand ein runderneuertes Produkt, das besonders gut an die Markterfordernisse bezüglich der Eigenschaften „pflegend“ und „leicht“ angepasst wurde. Dieses Produkt führte zu der erfolgreichsten Produkteinführung des Unternehmens. In Folge stiegen Umsatz und Gewinn deutlich an.
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Kapitel 25
Wirtschaftlichkeit: Nutzwertanalyse Gängige Maßnahmen zum Ermitteln der Wirtschaftlichkeit eines Produkts sind die Lebenszykluskostenrechnung, die Kapitalwertmethode und BAPM72 in Verbindung mit der Balanced Scorecard, siehe Kap. 25. Diese Verfahren werden üblicherweise am Ende einer Produktentwicklung angewendet, wenn die wesentlichen Eigenschaften des Produkts fertig vorliegen. Während der Entwicklung eines Produkts kann es aber häufig notwendig werden, verschiedene Lösungsalternativen auf ihre Nutzbarkeit zu überprüfen, um damit beispielsweise das Einhalten der Vorgaben des Attributs ►Gebrauchstauglichkeit zu verifizieren oder während der Arbeit mit dem ►IDE-Vorgehensmodell die Aktivitäten der Tätigkeitsgruppe Bewerten, Vergleichen, Auswählen von alternativen Ergebnissen durchzuführen. Von den in Kap. 25 vorgestellten Verfahren zum Bestimmen der Wirtschaftlichkeit ist die Nutzwertanalyse nach ZANGENMEISTER73 für die o. a. Fragen am besten geeignet. Bei der Nutzwertanalyse bilden die erwünschten Eigenschaften der gesuchten Lösung ein multidimensionales Zielsystem, in dem diese Eigenschaften entsprechend den Präferenzen des Nutzers aufgeführt und danach auf ihren Nutzen für den konkreten Anwendungsfall bewertet werden. Die Nutzwertanalyse liefert immer eine subjektive Reihenfolge, die nicht nur von den festgelegten Eigenschaften der Lösungsalternativen, sondern auch von der Zusammensetzung des bewertenden Personenkreises abhängig ist. Die Nutzwertanalyse kann mit wenig Aufwand zu beliebigen Zeitpunkten beim Konkretisieren von Lösungen in der Produktentwicklung eingesetzt werden. Zunächst werden die zu bewertenden Eigenschaften der Lösungsalternativen festgelegt. Die Eigenschaften müssen nicht in Geldeinheiten bewertbar sein, sondern können auch Qualitätsaspekte wie etwa die Gebrauchstauglichkeit betreffen. Eigenschaften können entsprechend ihrer Bedeutung gewichtet werden (müssen
72
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Benefit Asset Pricing Model (BAPM®). www.bapm.de sowie Schabacker, M.: Bewertung der Nutzen neuer Technologien in der Produktentwicklung. Buchreihe Integrierte Produktentwicklung, Band 1. Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, 2001 Zangenmeister, C.: Nutzwertanalyse in der Systemtechnik. Wittemann-Verlag, München 1976; Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort „Nutzwertanalyse“, Gabler-Verlag, Wiesbaden 1994 sowie Springer Gabler Verlag, https://wirtschaftslexikon.gabler.de, Zugriff am 30.06.2020
Sándor Vajna
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aber nicht). Dazu werden ihnen Gewichtungsfaktoren zugeordnet. Bei der Gewichtung hat es sich bewährt, mit einer Prozentskala zu arbeiten, bei der die Summe aller Gewichte 100 % beträgt. Danach werden die einzelnen Eigenschaften der jeweiligen Lösungsalternative bewertet. Dazu können beliebige Zahlenbereiche verwendet werden. Die Bewertung reicht von 0 Punkte (nicht erfüllt) bis zu einem Maximalwert (sehr gut erfüllt). Dabei haben sich Bandbreiten 0 bis 10 oder eine an Schulnoten angelehnte Skala von 1 bis 6 bewährt. Die jeweilige Summe der gewichteten Ergebnisse pro Lösungsalternative ergibt die Reihenfolge der Lösungsalternativen. Die Bewertung kann entweder vom IDE-Team gemeinsam durchgeführt werden (im Falle von ►Co-Creation natürlich mit dem späteren Nutzer zusammen) oder von einer Gruppe der späteren Nutzer. Bewertungen von Einzelpersonen sollten in jedem Fall vermieden werden, um von allen Mitgliedern des Teams bzw. der Gruppe akzeptierte und dadurch belastbare Ergebnisse zu erhalten. Es kann auch eine parallele Bewertung vom Team und von der Nutzergruppe erfolgen. Der Vergleich der Ergebnisse beider Gruppen liefert dann Hinweise für mögliche Nachjustierungen in der Produktentwicklung. Abb. 79 zeigt ein Beispiel für eine Nutzwertanalyse mit vier Lösungsalternativen (LA). Hierbei ist die LA 2 die beste Alternative, da ihre Gesamtpunktzahl mehr als ein Viertel höher ist als die der zweitplatzierten LA 1. Allerdings schneidet LA 3 bei der am höchsten gewichteten Eigenschaft E 5 bei sonst eher mittelmäßigen Ergebnissen am besten ab. In diesem Fall sollte geprüft werden, ob (nicht zu aufwendige) Veränderungen an E 2 und E 4 das Ergebnis für LA 3 soweit verbessern könnten, dass es die beste Lösungsalternative wird.
Abb. 79: Nutzwertanalyse der Lösungsalternativen LA 1, LA 2 LA 3 und LA n mit einer Bewertungsbandbreite von 0 bis 10 Punkten
118
QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Strukturieren von Lösungselementen Das geforderte Leistungsangebot des späteren Produkts, bestehend aus Leistungsvermögen und Leistungsverhalten, wird im IDE in neutraler Form mit dem Soll- oder Zielprofil der Attribute beschrieben. Das Sollprofil kann nach Abb. 3.15 erzeugt werden oder beispielsweise auch als Lastenheft (►Anforderungsengineering) vorliegen. Für die Auswahl von Art, Grad und Güte der Erfüllungen durch den Anbieter ist es dabei hilfreich, möglichst frühzeitig geeignete Lösungselemente des späteren Produkts zu finden, zu strukturieren und sie in brauchbaren Formen zueinander in Beziehung zu setzen. Für das Modellieren des Leistungsvermögens des Produkts eignen sich • Strukturen, die sich aus einzelnen Attributen ergeben können und die mögliche Konfigurationen der jeweiligen Elemente modellieren, beispielsweise aus dem Attribut Produktgestalt Gestaltgrundelemente (Gebrauchsgestalt und Funktionsgestalt, Abb. 6.2), aus dem Attribut Funktionalität eine Funktionsstruktur wie in Abb. 80 gezeigt (Kap. 7.3), aus dem Attribut Produzierbarkeit einzelne (mögliche) Fertigungsschritte, aus dem Attribut Instandhaltbarkeit die einzelnen Arbeitsschritte für dessen Realisierung usw. • vordefinierte Lösungselemente unterschiedlicher Komplexität74, die mit verschiedenen Strategien konfiguriert und kombiniert werden können (beispielsweise mit einem ►Morphologischen Kasten).
Abb. 80: Funktionsstruktur einer Modell-Klebepistole (MK) mit Materialfluss Signalfluss und Energiefluss (HK: Heißkleber)
,
Sándor Vajna
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Sobald Konzeption, Konfiguration und Kombination der Lösungselemente konvergieren, können für alle Arten von Strukturen Abhängigkeits- oder Einflussnetzwerke75 aufgestellt werden, um die (Wechsel-)Wirkungen der Elemente einer Lösungsalternative sichtbar zu machen (Abb. 81).
Abb. 81: Einflussnetzwerk für die Sicherheit eines Aufzugs75, hier in einer ersten Ausführung mit Angaben der Einflussrichtung von einem Objekt auf ein anderes Objekt
Das Leistungsverhalten des Produkts kann beispielsweise über die Nutzungsprozesse des entstehenden Produkts, die der Anbieter bereitstellen will (Ist-Prozesse), modelliert werden. Das Vorgehen entspricht dem Ansatz der ►Dynamischen Navigation. • Jedes Element zum Sicherstellen des Leistungsvermögens hat ein eigenes Verhalten. Alle diese Elemente werden im ersten Schritt als Prozesselemente für den Ist-Prozess definiert und anhand ihrer Erfüllungen konfiguriert.
74 75
Geeignete Elemente aus den Disziplinen Mechanik, Hydraulik und Pneumatik finden sich bspw. in Roth, K.: Konstruieren mit Konstruktionskatalogen, Band I und II. Springer, Heidelberg 1994 Dünser, T.: Unterstützung der Zielorientierung und -formulierung in der Entwicklung komplexer Produkte – am Beispiel einer neuen Aufzugstechnologie. Dissertation ETH Zürich, 2004
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QUERSCHNITTSFUNKTIONEN
Kapitel 23
• Die so entstandenen Prozesselemente werden anwendungsgerecht zu einem Netzwerk kombiniert (beispielsweise mit dem Morphologischen Kasten) und dieses wird simuliert. Diese Simulation liefert die erste Version des Leistungsverhaltens. • Die Übereinstimmung des vom Kunden geforderten Leistungsverhaltens (Zielprozess) mit dem angebotenen Leistungsverhalten des Anbieters (IstProzess) kann sowohl durch unterschiedliche Konfigurationen einzelner Prozesselemente als auch durch geänderte Kombinationen der Prozesselemente erreicht werden. Damit ist auch die flexible und zeitnahe Berücksichtigung von geänderten Kundenvorgaben und veränderten Umfeldern möglich.
Mechatronik Die Entwicklung eines mechatronischen Produkts oder Systems stellt aufgrund der Beteiligten aus den unterschiedlichen Disziplinen der Mechatronik sowie aufgrund der Interaktion von heterogenen, disziplinenspezifischen Methoden und Lösungen einen komplexen Vorgang dar. Die Mechatronisierung von Produkten bzw. der mit ihnen realisierten Prozesse ist dann besonders erfolgversprechend, wenn damit die Präzision, Geschwindigkeit, Flexibilität, Zuverlässigkeit, Reproduzierbarkeit, Prozessfähigkeit oder Sicherheit der Prozesse selbst bzw. ihrer Ergebnisse im Vergleich zu konventionellen Lösungen (z. B. mechanischen Lösungen mit manueller Steuerung) signifikant gesteigert werden kann. Bei besonders komplexen oder sehr schnellen Prozessen kann die Mechatronisierung sogar eine Notwendigkeit für ihre Realisierung bedeuten. Beispiele dafür sind Assistenzsysteme in PKWs, Autopiloten in Flugzeugen oder Automatisierungssysteme für komplexe Fertigungsprozesse, wie sie in Werkzeugmaschinen oder Fertigungsanlagen zum Einsatz kommen. Hohe Skalierungsfaktoren wie etwa hohe Durchsatzmengen von Fertigungsanlagen oder hohe Stückzahlen von Motoren tragen dazu bei, dass bereits kleine relative Verbesserungen hoch rentabel sein können. Ziele der Mechatronisierung sollten daher hinterfragt werden. Typische Fragen sind etwa: • Enthalten Anforderungen an das Leistungsverhalten des Produkts Inhalte, die nicht mehr auf rein mechanischem Weg realisiert werden können?
Klaus Zeman
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• Soll ein Produkt deutlich verkleinert werden (Miniaturisierung, räumliche Integration)? • Wie können bei einem Produkt bei vorgegebenem Raumangebot neue oder erweiterte Funktionen, besondere Eigenschaften oder ein besonders niedriger Preis durch funktionelle Integration bzw. Mechatronisierung erreicht werden, um es damit von konkurrierenden Produkten abzuheben und auf dem Markt besonders attraktiv zu machen? • Soll ein Leistungsverhalten ermöglicht werden, das Werkstoffe mit flexiblen beziehungsweise einstellbaren Materialeigenschaften (intelligente Werkstoffe, auf Englisch: „smart materials“) benötigt (beispielsweise ein einstellbarer E-Modul, der durch Aktoren, die auf der Oberfläche des Bauteils befestigt sind, gezielt beeinflusst werden kann)? • Wenn mechanische Funktionen durch elektrische oder Software-Funktionen übernommen werden sollen, müssen Art und Anzahl der nun erforderlichen Komponenten geklärt werden (Platzbedarf? Montagefähigkeit?). Welcher Energiebedarf ist erforderlich und wo werden Sensoren, Aktoren und Energiequellen platziert? Kann die Energiequelle eine Standardlösung sein oder muss eine Sonderlösung zum Einsatz kommen? • Wie sehen die gegenseitigen Beeinflussungen der neuen Teillösungen aus? Ist die jeweilige Erfüllung der Attribute Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität weiterhin gegeben? • Wie soll die Schnittstelle zum Benutzer aussehen? Welche Eingriffe sollen ermöglicht, welche verhindert werden? • Welche Betriebsarten sollen für die zu erwartenden Betriebszustände vorgesehen werden? • Wie sieht die wirtschaftliche Bilanz einer Mechatronisierung eines Produkts aus? Mechatronische Produkte können mit den Attributen, Methoden und Vorgehensweisen im IDE entwickelt werden. Besondere Belange bei der Entwicklung mechatronischer Produkte werden in der VDI-Richtlinie 2206 behandelt76.
76
VDI-Richtlinie 2206: Entwicklungsmethodik für mechatronische Systeme. VDI, Düsseldorf 2004
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Aus der Praxis
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Vajna, S. Rothkötter (Hrsg.), Produkte entwickeln mit IDE, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32033-1_6
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AUS DER PRAXIS
Einführung Wie sieht eine Produktentwicklung mit IDE in der Praxis aus? Im nun folgenden Anwendungsbeispiel kommen Organisationsformen, Vorgehensweisen, Methoden und Werkzeuge, die in den vorherigen Abschnitten beschrieben wurden, zum praktischen Einsatz. Als Ausgangspunkt dient die Fragestellung des urbanen Lastentransports. Zum Alltagsleben in der Stadt gehören viele überwiegend mittlere Transportwege – sei es der kurze Einkauf oder der Ausflug mit Freunden zum See. Menschen leben zunehmend in Städten und somit ist gerade die innerstädtische Mobilität eine der drängenden Fragen der Zukunft. In diesem Zusammenhang besteht ein Kundenverlangen nach einem möglichst einfachen, vielseitigen, effizienten und nachhaltigen Transport von Lasten im täglichen Leben, für Beruf und Freizeit. Auch der Transport von Kindern und Haustieren gehört zu den Herausforderungen im Stadtverkehr. Abb. 82 zeigt mögliche Nutzeranforderungen in diesem Kontext.
Abb. 82: Mögliche Anforderungen an ein urbanes Transportmittel (Schriftgröße und Farbe symbolisieren die Wichtigkeit des Begriffs)
Sándor Vajna
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Abb. 83: Lösungsalternativen für den urbanen Transport (Farben symbolisieren verschiedene Lösungskategorien)
Um für die Zielgruppe von Nutzen zu sein, kann ein potentielles Produkt in vielerlei Hinsicht Leistungen erbringen (Leistungsvermögen, ►Strukturieren von Lösungselementen), unter anderem: • Nachhaltigkeit (Lebensdauer 10–15 Jahre) und gute Gebrauchstauglichkeit, wobei ein Mehrwert aus der vielfältigen Nutzbarkeit, dem guten Gewissen aus der nachhaltigen Lösung und einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis entsteht, • die Möglichkeit, Großeinkäufe im Supermarkt wie auch kleinere Einkäufe bei Lebensmittelgeschäften in der Nachbarschaft zu machen, • die Erfüllung eines Transportbedarfs im Beruf beispielsweise bei Handwerkern, die ihr Werkzeug mitführen, • einen möglichst geschützten Transport bei schlechtem Wetter. Auch bezüglich des Leistungsverhaltens (►Strukturieren von Lösungselementen) gibt es Anforderungen an ein potentielles Produkt in diesem Kontext:
126
AUS DER PRAXIS
• Die Lösung sollte unter beliebigen Bedingungen möglichst einfach, intuitiv, komfortabel und fehlertolerant genutzt werden können. • Die Lösung sollte flexibel bezüglich Zeit und Ort verwendet werden können, um eine hohe Unabhängigkeit in der Anwendung zu ermöglichen. • Die Lösung sollte möglichst ohne Eingriffe in die in der Kundengruppe vorhandenen Szenarien und Vorgehensweisen auskommen. Hierzu gehören beispielsweise kein oder ein nur geringer zusätzlicher Platzbedarf und Wartungsaufwand. Basierend auf diesen Erfordernissen kann ein Zielprofil aus Kundensicht erstellt werden (Kap. 3.4.1). Aus dem Verlangen nach hoher ►Gebrauchstauglichkeit für einen breiten Nutzerkreis ergibt sich beispielsweise ein hoher Anspruch an die ►Funktionalität in vielfältigen Einsatzgebieten sowie an eine ansprechende, auf die Nutzer fokussierte ►Produktgestalt. Aus der Kundensicht spielt das Attribut ►Produzierbarkeit keine Rolle, dafür aber eine ganzjährige ►Verfügbarkeit des Produkts. Da das Zielprofil lösungsneutral formuliert wird, lassen sich daraus wie in Abb. 83 gezeigt vielerlei Lösungsalternativen ableiten, um als Ausgangspunkt für eine weitere Produktentwicklung mit IDE zu dienen. Denkbare Produkte könnten eine individuelle oder gemeinschaftliche Nutzung erlauben und auf verschiedensten Wegen als dingliche Produkte (z. B. Mietroller) oder nichtdingliche Produkte (z. B. eine Versand-Dienstleistung) realisiert werden.
Einblicke in die konkrete Umsetzung einer Lösung für die innerstädtische Mobilität gibt auf den folgenden Seiten das Entwicklungsteam der Trenux GmbH Magdeburg, das sich von 2018 bis 2020 mit der Entwicklung der Lösungsalternative einer Fahrraderweiterung beschäftigt und diese über mehrere Stufen zur Marktreife gebracht hat. Die dabei gezeigten Entwicklungstechniken und -dokumente erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sind vielmehr als exemplarische Darstellung zu verstehen.
Markus Rothkötter, Moritz von Seyfried
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Lösung: Fahrraderweiterung Die von den Nutzern gewünschten Eigenschaften eines Transportmittels für den urbanen Lastentransport umfassen sechs Hauptaspekte (Abb. 84): Das Transportmittel soll jederzeit unabhängig verfügbar und in vielen Alltagssituationen flexibel nutzbar sein sowie eine große Transportkapazität bereitstellen. Bei Nichtbenutzung soll es jedoch platzsparend gelagert werden können. Während der Nutzung soll es zudem kosteneffizient und umweltschonend sein. Bis zur Erfindung des Lufttaxis werden in Städten hauptsächlich folgende Transportmittel verwendet, die allerdings den Ansprüchen der Nutzer nur bedingt gerecht werden:
Auto
ÖPNV
Fahrrad
Abb. 84: Anforderungsprofile von Auto, ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr) und Fahrrad
Abb. 84 verdeutlicht, dass das Fahrrad in der betrachteten Nutzungssituation als das bestgeeignete Transportmittel erscheint. Diese Annahme lässt sich mit den realen Nutzungszahlen des Fahrradmonitors77 untermauern, aus dem hervorgeht, dass fast jeder zweite Deutsche wöchentlich Fahrrad fährt und die Zahl der Lastenradfahrenden sich von 2017 auf 2019 verdoppelt hat. In der Studie wird aber von vielen Befragten die fehlende Transportkapazität als Grund genannt, warum das Auto in einigen Bereichen bevorzugt wird. Die Erweiterung der Transportkapazität des Fahrrads ist somit als einer der Schlüsselfaktoren für die Erschließung eines vielversprechenden Kundensegments identifiziert und bildet den Kern der geplanten Produktentwicklung.
77
Repräsentative Umfrage des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (2019), erscheint alle zwei Jahre, https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Artikel/StV/Radverkehr/ fahrradmonitor-2019.html
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AUS DER PRAXIS
Anforderungen ermitteln Um Eckpunkte des zu entwickelnden Konzeptes basierend auf Kundenverlangen, Gelegenheit im Markt und bestehenden Standards benennen zu können (siehe Abb. 2.4), werden die Eigenschaften etablierter Produkte bezüglich der unterscheidenden Anforderungen und ihres Leistungsvermögens analysiert: Fahrradtaschen
Fahrradanhänger
Lastenrad
flexibel nutzbar hohe Transportkapazität kompakt lagerbar
Abb. 85: Analyse bestehender Produkte hinsichtlich der Anforderungen
Im direkten Vergleich in Abb. 85 zeigt sich, dass jedes Konzept einen entscheidenden Nachteil hat, sonst die Anforderungen aber sehr gut erfüllt. Somit gilt es, die Nachteile zu eliminieren und die Vorteile zu erhalten, um die Nutzungsanforderungen bestmöglich zu erfüllen. Das Zielkonzept als Ausgangspunkt der Entwicklung soll somit eine Erweiterung für das bestehende Fahrrad sein, welche die Kompaktheit von Fahrradtaschen mit der Ladekapazität eines Anhängers und der konstanten Verfügbarkeit eines Lastenrades vereint. Aus dem Zielkonzept soll nun eine konkrete Funktions- und Anforderungsliste destilliert werden, die mit klar formulierten Vorgaben den Rahmen für eine strukturierte und zielgerichtete Entwicklung bildet. Da die Nutzer im IDE im Mittelpunkt stehen, werden in einem ersten Schritt verschiedene Nutzungsszenarien wie der Transport von Ausrüstung oder Einkäufen in Form einer User Story durchgespielt. Ein entscheidendes Element ist beispielsweise die zu erwartende Beladung während der Nutzung, da daraus Schlüsselanforderungen wie die Dimensionierung der Ladefläche abgeleitet werden können. Aus Nutzungsszenarien abgeleitete Anforderungen können schnell und effizient eingegrenzt werden, indem bestehende Standards aktiv gesucht und identifiziert werden. So sind beispielsweise die Maße einer Getränkekiste, die oft Teil eines Einkaufs ist, zur Verwendung im System der EPAL-Paletten (Europaletten) genormt. Auf diese Weise können Anforderungen mit quantifizierbaren Werten versehen werden.
Markus Rothkötter, Moritz von Seyfried
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Die Wahl der Methode zum Finden von Anforderungen und Funktionen (z. B. User Story, Mind Map, Funktionsstruktur) sollte dabei so wenig wie möglich eingeschränkt werden, um eine maximale Kreativität zu gewährleisten. Entscheidend für eine zielgerichtete Entwicklung ist die Dokumentation der Erkenntnisse in klarer und nachprüfbarer Form, idealerweise in einer formalisierten Anforderungs- bzw. Funktionsliste. Für schlecht quantifizierbare Anforderungen bzw. Funktionen bietet es sich an, die Beschreibung als Kombination aus Substantiv und Verb zu formulieren, z. B. „Lasten transportieren“. Für den hier dargestellten Entwicklungsverlauf wurde auf diese Weise das Entwicklungsziel als ein Fahrradanhänger definiert, der im ungenutzten Zustand über das Hinterrad klappt, werkzeuglos an das Fahrrad an- und abkuppelt, eine Ladefläche für zwei Getränkekisten (40 x 60 cm) bereitstellt, mit Reflektoren entsprechend der Straßenverkehrsordnung (StVO) versehen ist und im Fahrverhalten die DIN 15918 zu Fahrrädern und Fahrradanhängern erfüllt, die unter anderem einen maximalen Lenkeinschlagwinkel von 40° benennt.
Abb. 86: Impressionen aus der Entwicklung mit Vordruck für eine Anforderungsliste
Ziel ist es, für jedes Bauteil bzw. jede logische Gruppe innerhalb des Konzeptes eine entsprechende Anforderungsliste zu führen. Diese dient als ständiges Referenzdokument während der Entwicklung. Oft ergeben sich im Entwicklungsverlauf geänderte Anforderungen – mit Hilfe einer formalisierten Liste ist es möglich, konkret zu entscheiden, wie mit diesen Änderungen umgegangen wird und ob eine Ergänzung gegenüber der Ausgangssituation gerechtfertigt ist (►Anforderungsengineering). Während der Formalisierung muss auch eine Priorisierung und Aufteilung auf die Entwicklungsphasen erfolgen, wie auf der nächsten Seite dargestellt. Dafür ist eine Kategorisierung jedes einzelnen Eintrags der Anforderungsliste als Festforderung, Mindestforderung oder Wunsch unverzichtbar (Abb. 86).
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AUS DER PRAXIS
Entwicklungsaktivität einteilen Die Entwicklung gliedert sich in Detaillierungsphasen, in denen jeweils ein unterschiedlicher Fokus gesetzt wird. Mit jeder Phase können Risiken reduziert, Unsicherheiten eliminiert und weitere Anforderungen realisiert werden. Bevor an eine ausführliche Entwicklung gedacht wird, sollte zuerst geprüft werden, ob die Grundannahmen für die wichtigsten Anforderungen valide sind. Mit Skizzen und Entwürfen lassen sich Ideen festhalten und Konzepte verfeinern.
Ideenfindung
Initialprototyp
Konzeptprototyp
Der Initialprototyp aus Holz bildete die Basis zur Prüfung von Grundfunktionsweise und -mechanismus des Anhängers. Auf einfache Weise wurde die Funktion des Produkts abgebildet und die Prüfung der Maße sowie eine erste optische Prüfung an Fahrrädern ermöglicht.
Mit dem Design- und Funktionsprototyp wurde eine erste technische Umsetzung des Konzeptes realisiert. In frühen Kundenvorstellungen konnte Feedback eingeholt werden. Der Prototyp wurde öffentlich vorgestellt und mit dem Preis einer internationalen Fahrradmesse ausgezeichnet.
Markus Rothkötter, Moritz von Seyfried
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verstaut
aufgeklappt
Die Aufteilung von Arbeitspaketen erfolgt entsprechend der Anforderungsliste nach der Prämisse: von grob nach fein, von unabhängig zu abhängig. Die Entwicklung sollte also mit Aspekten beginnen, die von wenigen Kriterien abhängig sind, und mit den Details aufhören, die von vielen Kriterien abhängig sind.
Fertigungsprototyp
Nullserie
Beim Fertigungsprototyp lag der Fokus der Auslegung noch nicht auf der Produktion als Serienmodell. Diese Ausführung des Anhängers wurde jedoch bereits fertigungsgerecht für die Maschinen lokaler Hersteller konstruiert und umgesetzt.
Die Nullserie bildete den letzten Schritt vor der eigentlichen Serienfertigung. Anhand dieses Prototyps wurde der Formenbau für das Serienmodell finalisiert. Außerdem erfolgte die Prüfung der Maßhaltigkeit und Qualität extern produzierter Bauteile.
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AUS DER PRAXIS
Funktionen detaillieren Während auf den bisherigen Seiten der Anhänger und sein Entwicklungsprozess stets in ihrer Gesamtheit betrachtet wurden, soll nun das Augenmerk auf die konkrete Entwicklung der ►Funktionalität in einzelnen Bereichen gerichtet werden. Dazu werden folgende Bereiche betrachtet, die charakteristisch für den Einsatz verschiedener Entwicklungstechniken sind:
S. 134 Das Zentralteil ist das Herzstück der Faltmechanik. Es handelt sich hierbei um ein einfaches Bauteil, das viele Funktionen übernimmt und in verschiedenen Ausprägungen innerhalb eines definierten Bauraums entwickelt wurde.
S. 136 Am Seitenkasten findet zwar kaum Nutzerinteraktion statt, dafür ist dieses Element die wichtigste Schnittstelle am Anhänger. Als Verbindung zahlreicher Bauteile unterliegt es starken Belastungen bei gleichzeitig hohen Anforderungen an den Leichtbau.
S. 138 Die Schnellkupplung sorgt für die Anbindung zum Fahrrad. Dieses Bauteil vereint die Funktionen des Ankuppelns und Verriegelns und ist damit ein sicherheitskritisches Element mit viel Nutzerinteraktion, bei dem die Gebrauchstauglichkeit essentiell ist.
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Entwicklungsablauf gliedern Bei Entwicklung und Konstruktion eines beweglichen Mechanismus mit vielen Abhängigkeiten zwischen den Bauteilen bietet eine Top-Down-Modellierung große Vorteile. Durch die Aufteilung in mehrere Stufen werden unabhängige und abhängige Modellierungselemente der Bauteile (Dimensionen, Schnittstellen, Konturen) voneinander getrennt und so Concurrent Engineering ermöglicht. 1. Bauräume, Schnittstellen In dieser ersten Ebene werden nur die Elemente festgelegt, die Bauräume begrenzen („envelope modelling“) bzw. die Bauraum-übergreifende geometrische Abhängigkeiten aufweisen. Der Aufbau erfolgt mit einfachen Skizzen und Flächen ohne Detailgestaltung („skeletal modelling“). Erste kinematische Bewegungssimulationen sind hier ebenfalls möglich („layout modelling“). 2. Ausmodellierung Die Dateien dieser Ebene erben für jedes Bauteil die im Skelett definierten begrenzenden Geometrien. In Abhängigkeit davon und basierend z. B. auf der Resilient Modelling Strategy78 werden alle Elemente innerhalb eines Bauraums modelliert. Bei starken Abhängigkeiten über Bauräume hinweg können zwei Körper auch per MultiBody-Modelling detailliert werden. 3. Repräsentation In diese letzte Ebene werden die Anschlussstellen aus Ebene 1 und die Körper aus Ebene 2 vererbt. Es ergibt sich die finale Bauteilrepräsentation, die bei Bedarf durch Oberflächentexturen optisch erweitert und z. B. mit vormodellierten Standardbauteilen in Baugruppen zusammengesetzt werden kann.
78
Schematischer Aufbau einer CAD-Datei, die robust gegenüber Änderungen ist, siehe z. B. https:// community.sw.siemens.com/s/article/seu13-122-a-resilient-modeling-strategy-richard-gebhard
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AUS DER PRAXIS
Bauräume festlegen Die auf der vorherigen Seite beschriebene Strukturierung der Entwicklung ermöglicht es, modular zu denken und verschiedene Ausprägungen von Bauteilen parallel zu entwerfen (siehe auch ►Effizienzsteigerung in der Projektbearbeitung) und bei Bedarf flexibel auszutauschen. Diese Möglichkeit wird nun anhand des Zentralteils der Faltmechanik gezeigt. In der ersten Stufe erfolgt die Begrenzung des Bauraums in verschiedene Richtungen, u. a. durch den Gepäckträger des Fahrrads, den Beginn der Ladefläche und die Flächen angrenzender Bauteile (Abb. 87).
Abb. 87: Begrenzungsflächen und vorgesehene Bohrungen für das Zentralteil
Außerdem werden Schnittstellen definiert durch die Bohrungen für Bauteile, die das Zentralteil umschließen bzw. von ihm umschlossen werden, sowie für die Auflageflächen, auf denen sich die Seitenarme des Anhängers im ausgeklappten Zustand abstützen. In der zweiten Stufe können nun verschiedene Formgebungsvarianten z. B. für die Verwendung unterschiedlicher Fertigungsverfahren entworfen werden. In diesem Fall kam die Fertigung als Rohrlaserteil79 oder Blechbiegeteil in Frage.
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Variante I: Rohrlaserteil
Variante II: Blechbiegeteil
in einem Arbeitsgang auf einer Maschine vollautomatisiert fertigbar; damit kosteneffizient mit geringer Ausschussquote
Freiheit bei der Formgebung, die sich hauptsächlich aus den Funktionsflächen ergibt; damit hohes Leichtbaupotenzial
wenige Optimierungsmöglichkeiten der Formgebung in Bezug auf Leichtbau und Kraftfluss, da kein Material außerhalb des Halbzeuges entsprechend dem Kraftfluss hinzugefügt werden kann
Arbeitsgänge auf verschiedenen Maschinen erforderlich (häufig: erst Flachbettlasern, dann Gesenkbiegen)
geringe Verbreitung des Rohrlaserverfahrens Gewählt, da Toleranzanforderung an Konzentrizität der Bohrungen und Kosteneffizienz erfüllt
Modell
79
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gefertigtes Bauteil
Biegemaschinen laufen trotz CNCSteuerung zum Großteil nicht vollautomatisch und damit weniger kosteneffizient, zusätzlich Gefahr von Ausschuss durch falsche Biegereihenfolge Nicht gewählt, da Toleranzanforderung an Konzentrizität der Bohrungen nicht mit Winkelgenauigkeiten der Biegemaschinen vereinbar
Von der gewählten Variante werden in der dritten Stufe die geometrischen Informationen für das Bauteil übernommen. Auf ihrer Grundlage können CAD-Modelle, technische Zeichnungen, Datenexporte für die Fertigung und nicht zuletzt fotorealistische Darstellungen oder technische Illustrationen beispielsweise für das Marketing in einer frühen Produktphase erstellt werden.
Rohrlaser: CNC-gesteuerte Maschine, die eine 2,5D-Kontur aus Hohlprofilen schneiden kann
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AUS DER PRAXIS
Produzierbarkeit optimieren Hier zeigen drei Iterationen des Seitenkastens, wie eine Baugruppe schrittweise angepasst wurde, um Anforderungen an die ►Produzierbarkeit zu erfüllen.
Konzeptprototyp: In der ersten technischen Umsetzung liegt der Fokus auf der Gestaltung der Bereiche, die Teil der Klappmechanik und damit der Hauptfunktion sind. Deren Formgebung orientiert sich dabei hauptsächlich an den funktionalen Flächen und dem Verlauf des erwarteten Kraftflusses.
Fertigungsprototyp: Während der folgenden Iteration liegt besonderes Augenmerk auf der Gestaltung des Bügels zur Begrenzung der Ladefläche. Die notwendige Stabilität sowie zusätzliche Freiheit in der Formgebung wird dadurch erreicht, dass die Baugruppe um ein weiteres Kantteil erweitert wird.
Nullserie: In der Nullserie umschließen die äußeren Bauteile das innere Bauteil und bilden eine Schnappverbindung, sodass der Zusammenbau im Schweißverfahren ohne den Bau einer eigenen Montagevorrichtung möglich ist. Dies reduziert die Komplexität und Kosten des Schweißvorgangs deutlich und verbessert den Kraftfluss bei gleichzeitig reduzierter Belastung der Schweißverbindungen.
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Funktionen erweitern Nachdem die Funktion des Anhängers als flexible Fahrraderweiterung sichergestellt ist, können aufbauend weitere Zusatzprodukte entwickelt werden. Zur Identifizierung dieser Potenziale und Verbesserung des Kunden- bzw. Marktverständnisses kann beispielsweise ein Business Model Canvas verwendet werden. Im Zuge der Nutzertests in frühen Prototypenstadien zeigte sich, dass ein vielfacher Wunsch und damit wichtiger Baustein für die Komplettierung des Nutzungsszenarios die Verwendung des Anhängers als eigenständiger Handwagen ist. Mithilfe eines ►Morphologischen Kastens wurden hierzu Lösungen erarbeitet. In diesem Beispiel beinhaltet jede Spalte des Kastens verschiedene Lösungsprinzipien in Kategorien wie „Material“, „Aufbewahrung“ und „Montage“.
Abb. 88: Morphologischer Kasten für die Erweiterung des Anhängers zum Handwagen
Basierend auf dem Kundenwunsch wurde so ein Zusatzset entwickelt, das einen montierbaren Handgriff und Ständer umfasst. Auf diese Weise kann der Nutzer in wenigen Schritten eine Umrüstung für die Verwendung ohne Fahrrad vornehmen.
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AUS DER PRAXIS
Benutzungsgerecht gestalten Anhand der Schnellkupplungen, mit denen der Anhänger mit dem Fahrrad verbunden wird, lässt sich die Optimierung der ►Gebrauchstauglichkeit und des Bedienerlebnisses im Laufe der Entwicklung nachvollziehen.
Iteration: Fertigungsprototyp
Iteration: Nullserie
Fokus: ►Funktionalität Überprüfung der grundlegenden Funktion bzw. Fertigung
Fokus: ►Gebrauchstauglichkeit Optimierung des Konzeptes in Hinblick auf Ergonomie und Sicherheit
Funktionsweise: Eine Rolle wird in eine Aussparung eines Hohlprofils geführt und durch eine Schubhülse mit einem translatorischen Freiheitsgrad darin eingeschlossen.
Funktionsweise: Die Rolle wird durch ein kugelförmiges Bauteil ersetzt und die eckige Schubhülse in ein Rohr abgewandelt, sodass ein rotatorischer Freiheitsgrad hinzukommt.
Nachteile: • rein translatorische Verriegelung kann sich während der Fahrt durch unabsichtlichen Kontakt öffnen • rechteckiger Querschnitt ergonomisch ungeeignet • Einrastwinkel ist vorgegeben und erfordert damit eine exakte Positionierung beim Ankuppeln
Verbesserung: • translatorisch-rotatorische Verriegelung kann nur durch bewusste Interaktion geöffnet werden • runder Querschnitt bietet optimale Ergonomie und reduziert Wahrnehmungskomplexität • Kugelausführung ermöglicht ein vereinfachtes Ankuppeln durch variablen Einrastwinkel
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Zur verbesserten Kommunikation des Benutzungskonzeptes bietet es sich an, eine möglichst universell verständliche Anleitung dort zu platzieren, wo sie während der Benutzung zur Hilfe genommen werden kann. In diesem Fall lässt sich dies mit einfachen Piktogrammen bewerkstelligen (Abb. 89 links).
Abb. 89: Kommunikation mittels Piktogrammen und farbigen Interaktionselementen
Entscheidend für die Kommunikation des Bedienkonzeptes ist die gute Erkennbarkeit von Interaktionselementen (►Produktgestalt). Aus diesem Grund sind alle Interaktionselemente in einer einheitlichen Signalfarbe wie in den Beispielen in Abb. 89 gehalten, um diese sofort optisch hervorstechen zu lassen. Durch die Gummierung aller Oberflächen der Interaktionselemente ergibt sich nicht nur eine haptische Unterscheidungsmöglichkeit, sondern auch eine verbesserte Griffigkeit. Da bei Faltmechanismen die Klemmgefahr ein Risiko darstellt, kommunizieren optische und haptische Hervorhebungen eindeutig, welche Bereiche für eine sichere Bedienung verwendet werden können. Ein besonderes Maß an Sicherheit lässt sich erreichen, wenn ein Mechanismus nach dem Konzept Design for Safety entworfen wird (siehe auch ►Bereichsintegration durch DfX und XfD). Für den Anhänger bedeutet dies beispielsweise, dass durch eine erzwungene zweihändige Bedienung eine Klemmgefahr nur bei groben Bedienfehlern besteht. Die bewusste Dimensionierung des zur Bedienung notwendigen Kraftaufwands anhand von bekannten Richtwerten erlaubt es zudem, eine kontrollierte Interaktion mit dem Produkt zu erzeugen.
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AUS DER PRAXIS
Projekte organisieren Wie schon bei der Erstellung der Anforderungsliste angemerkt, ist die Formalisierung und Strukturierung von einigen Teilen des Entwicklungsprozesses essentiell, um eine arbeitsgerechte Dokumentation zu führen. Nur auf einer solchen Grundlage lassen sich Entwicklungsprozesse effizient gestalten. Gerade das Zusammenführen von digitalen Dokumenten, die mit einer Fülle an Meta-Daten zahlreiche Strukturierungen zulassen, und analogen Dokumenten, die kontinuierlich digitalisiert werden müssen, ist eine besondere Herausforderung in der ►Wissensbereitstellung. Als Basis sind immer folgende Anforderungen zu sehen: einfach zugänglich, einfach erweiterbar, und einfach strukturierbar. Ein besonders wichtiger Teil der Strukturierung ist die Vergabe von eindeutigen Namen für Bauteile und Bauräume. In diesem Bereich gibt es viele verschiedene Herangehensweisen. Für diese Entwicklung hat sich ein Parallelnummernsystem bewährt, das einen einzigartigen, identifizierenden Teil und einen klassifizierenden Teil besitzt (Abb. 90).
TRE5300 - 069 - 01 - 00 (Biegung 1)
TRE5300 - 069 - 01 - 00 (Biegung 2)
TRE5401 - 023R - 01 - 00 (R: rechts)
TRE5400 - 093R - 02 - 00 (R: rechts) TRE5300 - 069 - 01 - 00 (Segment 3)
Abb. 90: Parallelnummernsystem
Die Verwaltung weiterer Meta-Daten wie z. B. der Fertigungsart sollte einem PDM-System80 überlassen werden und nicht im Bauteilnamen verwendet werden (►CAD, CAP, PDM). Auf diese Weise ist es möglich, Bauteile unabhängig von der Struktur zu identifizieren. Dies ist von Vorteil, da gerade die Struktur bzw. Hierarchie häufigen Veränderungen während des Entwicklungsprozesses unterliegt, z. B. durch eine Abwandlung der Montagereihenfolge. Um eine konsequente Verwendung dieses Systems zu ermöglichen, sollten von Anfang an gut zugängliche grafische Darstellungen mit entsprechenden Kennzeichnungen der Bereiche bzw. Bauteile erstellt werden.
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Neben einer guten Übersicht über die Bauteile und Bauräume spielt die Archivierung von Wissen eine große Rolle, da auf diese Weise redundante Entwicklungsarbeit vermieden und frühere Arbeitsschritte nachvollzogen werden können. Ein einfaches Mittel dafür ist beispielsweise das Vorhalten von Vordrucken, die es erlauben, wichtige Informationen zu erhaltenen Probebauteilen und Freigabemustern gemeinsam mit diesen zu lagern. Für eine korrekte Zuordnung von analogen Dokumenten während der Digitalisierung ist es lohnenswert, Skizzen o. ä. bereits bei der Erstellung mit einem standardisierten Stammdatensatz zu versehen. Beispiele für Vordrucke zeigt Abb. 91.
Abb. 91: Vordrucke für das Archivieren von Probebauteilen und Ideenskizzen
Generell gilt: Je einfacher ein Werkzeug zu nutzen bzw. zu lernen ist, desto besser integriert es sich in den Entwicklungsalltag, sodass es mehr Nutzen als Aufwand schafft. Gerade für den Bereich der Software-Werkzeuge sollte hier auf Markdown81-Editoren und Flat-File-CMS82 verwiesen werden, die es mit einer flachen Lernkurve und geringem Wartungsaufwand erlauben, gut formatierte und einfach zugängliche Dokumentationen zu führen. Für das Aufzeichnen von Arbeitsabläufen eignet sich die Spezifikationssprache BPMN83, auf deren Basis Arbeitsschritte grafisch in Prozessdiagrammen beschrieben werden können und so zu einer kontinuierlichen Standardisierung beigetragen wird (Abb. 15.30).
80
81 82
83
Produktdatenmanagement: rechner- bzw. servergestützte Programme, in denen alle Dateien zum Produkt und Entwicklungsprozess strukturiert und katalogisiert werden können, siehe auch VDIRichtlinie 2219: Informationsverarbeitung in der Produktentwicklung – Einführung und Betrieb von PDM-Systemen. VDI, Düsseldorf 2016 Markdown: einfache Markup-Sprache, die in einem beliebigen Texteditor geschrieben werden kann und programmunabhängig zu lesen ist Content Management System, dessen Struktur nicht auf einer Datenbank beruht, sondern auf der Ordner- und Dateistruktur des Dateisystems des Computers basiert. Zum Verwalten der Inhalte sind somit keine speziellen Kenntnisse notwendig. Business Process Model and Notation
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AUS DER PRAXIS
So sieht das Ergebnis der Produktentwicklung im Einsatz aus:
Gepäckträger
Markus Rothkötter, Moritz von Seyfried
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Handwagen
Anhänger
Gute Fahrt!
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